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German Pages 1086 Year 2018
Regulierender Staat und konfliktschlichtendes Recht Festschrift für Matthias Schmidt-Preuß zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Markus Ludwigs
Duncker & Humblot . Berlin
Regulierender Staat und konfliktschlichtendes Recht Festschrift für Matthias Schmidt-Preuß zum 70. Geburtstag
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1389
Regulierender Staat und konfliktschlichtendes Recht Festschrift für Matthias Schmidt-Preuß zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Markus Ludwigs
Duncker & Humblot · Berlin
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Vorwort Am 1. September 2018 vollendet Matthias Schmidt-Preuß sein 70. Lebensjahr. Aus diesem Anlass widmen ihm Freunde, Kollegen und Schüler, Wegbegleiter seines langjährigen erfolgreichen Wirkens in Theorie und Praxis, diese Festschrift. Ihnen allen ist es ein Anliegen, dem Jubilar hiermit eine besondere Freude zu bereiten. Matthias Schmidt-Preuß wurde im Jahr 1948 in Heidelberg geboren. Nach dem Abitur 1967 in Kassel studierte er, gefördert durch die Studienstiftung des deutschen Volkes, von 1967 bis 1971 Rechtswissenschaften in Tübingen, Gießen und Marburg. Das erste juristische Staatsexamen legte der Jubilar im Februar 1972 mit der Bestnote ab. 1976 folgte die Promotion (s.c.l.) bei Peter Häberle in Marburg mit einer Dissertation zum Thema „Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen“. Die bis heute vielzitierte Schrift fragt nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines staatlichen Lohn- und Preisstopps. Dazu untersucht SchmidtPreuß die ökonomischen Wirkungszusammenhänge und stellt als Anschauungsmaterial das US-amerikanische System staatlicher Lohn- und Preisdirigismen dar. Befruchtet wurde die Arbeit durch ein, wiederum von der Studienstiftung des deutschen Volkes unterstütztes, Aufbau- und Ergänzungsstudium der Volks- und Betriebswirtschaftslehre in Bonn sowie einen Studien- und Forschungsaufenthalt an der Harvard University im Rahmen eines Charles W. Holtzer Fellowships. Nach dem im Jahr 1978 erfolgreich abgeschlossenen zweiten juristischen Staatsexamen zog es den Jubilar zunächst in die Praxis, genauer in das Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi). Dort war er in den Jahren 1979 bis 1988 zunächst als Referent im Kartellreferat und sodann als Kabinettreferent des Ministers tätig. Im BMWi lernte er die praktischen Grundlagen einer durch die soziale Marktwirtschaft geprägten Wirtschaftsordnung kennen. Seine spätere Forschung hat aus dieser Zeit wichtige Impulse erfahren. Zugleich pflegte Schmidt-Preuß stets die Verbindung zur Wissenschaft, indem er kontinuierlich publizierte und Vorträge hielt. Auf dieser Grundlage beschritt er 1988 den Weg zurück aus der Praxis an die Universität. Gefördert durch ein DFG-Stipendium verfasste der Jubilar in den Jahren 1989 bis 1992 die von Walter Schmitt Glaeser in Bayreuth betreute und bei Duncker & Humblot veröffentlichte Habilitationsschrift zum Thema „Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht. Das subjektive öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis“. Darin entwarf er mit der Konfliktschlichtungsformel eine Neukonzeption des traditionell bipolaren subjektiven öffentlichen Rechts für die komplexen multipolaren Konfliktfälle, in denen sich private Träger kollidierender Interessen gegenüberstehen. Die nachhaltige Rezeption der von ihm entwickelten Konfliktschlichtungsformel in Wissenschaft und Praxis führte zu einer 2005 erschienenen Zweitauflage.
VI
Vorwort
Nur kurze Zeit nach der Habilitation im Jahr 1992 eröffneten sich zeitgleich Möglichkeiten zur Übernahme eines Lehrstuhls an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Schmidt-Preuß entschied sich für die Annahme des Rufes nach Erlangen und bekleidete dort von 1993 bis 2002 als Ordinarius einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht. Im Jahr 1996 folgte sein vielbeachtetes Dresdner Staatsrechtslehrerreferat über „Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung“. Darin konzipierte er die gesteuerte Selbstregulierung und kreierte die Zugriffsoption des Staates als unverzichtbares Element zur Vermeidung staatlicher Kontrollverluste. Neben dem subjektiven öffentlichen Recht eröffnete sich damit gleichsam ein zweiter Kernbereich seiner wissenschaftlichen Arbeit, der ihn bis heute nicht mehr losgelassen hat. Nachdem Schmidt-Preuß der Erlanger Fakultät von 1999 bis 2002 zunächst als Prodekan und dann als Dekan gedient hatte, folgte er 2002 dem Ruf an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Hier erschloss sich ihm mit dem Regulierungsrecht eine dritte Domäne, der fortan sein wissenschaftliches Herzblut gelten sollte. Mit großer Leidenschaft und Begeisterung arbeitete er sich in die interdisziplinären Materien des Energie- und Telekommunikationsrechts ein, um zu ihrer wissenschaftlichen Durchdringung maßgeblich beizutragen. Aus der Fülle an Aktivitäten in diesem Bereich seien neben zahlreichen diskussionsprägenden Abhandlungen vor allem seine Funktion als Mitherausgeber der Zeitschrift „Recht der Energiewirtschaft (RdE)“ und des Handbuchs „Regulierung in der Energiewirtschaft“ (2. Aufl. 2016) sowie die Mitbegründung der Wissenschaftlichen Vereinigung für das gesamte Regulierungsrecht im Jahr 2013 hervorgehoben. Dass sich sein Wirkungskreis nicht allein auf den nationalen Rechtsraum beschränkt, dokumentieren Auslandsvorträge u. a. in Moskau, Peking, Sankt Petersburg, Straßburg und Tokio. Darüber hinaus blieb auch der Kontakt in die Praxis stets erhalten. Seine Expertise als Sachverständiger vor Ausschüssen des Deutschen Bundestages sowie als Prozessvertreter und Gutachter ist stets gefragt. Besonderes Engagement widmete Schmidt-Preuß der Etablierung des Regulierungsrechts in der Juristenausbildung. Die hervorragend besuchten Schwerpunktveranstaltungen zum Energie- und Telekommunikationsrecht begeisterten aufgrund der lebendigen Stoffvermittlung zahlreiche Jahrgänge Bonner Studierender und legten nicht selten die Grundlage für eine berufliche Zukunft in diesem dynamischen Berufsfeld. Eine Vielzahl exzellenter und vom Jubilar mit bewundernswerter – wenngleich bisweilen an Belastungsgrenzen gehender – Verve betreuten Qualifikationsschriften dokumentieren seine besondere Qualität als akademischer Lehrer. Dabei zeichnet ihn die Hingabe aus, mit der er sich eben nicht nur der eigenen wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch den Anliegen seiner Schülerinnen und Schüler widmet. Seit 2011 erfolgt die Publikation einschlägiger Dissertationsschriften vielfach in der von Schmidt-Preuß mitbegründeten Reihe zum „Kartell- und Regulierungsrecht“ im Nomos Verlag. Trotz formeller Beendigung des Beamtenverhältnisses am 28. Februar 2017 befindet sich der Jubilar weiterhin im „Unruhestand“. So bestreitet er etwa an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Uni-
Vorwort
VII
versität Bonn mit ungebrochener Begeisterung die regulierungsrechtlichen Veranstaltungen, immerhin ein Deputat von sieben Semesterwochenstunden. Seine wissenschaftliche Neugier ist unerschöpflich. Mit dem Titel dieser Festschrift „Regulierender Staat und konfliktschlichtendes Recht“ werden die drei skizzierten Kernthemen von Schmidt-Preuß adressiert. Folgerichtig finden sich auf den nachfolgenden Seiten viele Beiträge, die hierzu einen spezifischen Bezug aufweisen. Daneben wurden bewusst weitere Gebiete aufgenommen, um dem breiten Œuvre des Geehrten gerecht zu werden. Zugleich spiegelt das vorliegende Werk seinen Lebensweg in personeller Hinsicht wider, finden sich hierin doch neben renommierten Professorinnen und Professoren auch nicht minder namhafte Praktikerinnen und Praktiker aus Behörden, Gerichten und Anwaltschaft. Es bringt auch die besondere Verbundenheit zum Ausdruck, die ihn seit seiner Habilitationsschrift mit dem Verlag Duncker & Humblot verbindet. Autorinnen und Autoren, Herausgeber und Verlag danken Matthias SchmidtPreuß für vielfältige Begegnungen und persönliche Gespräche. Sie alle freuen sich auch in Zukunft auf mannigfaltige Denkanstöße aus seiner Feder und wünschen ihm, seiner Frau Brigitte und Sohn Christian viele weitere gemeinsame Jahre! Würzburg, im Juli 2018
Markus Ludwigs
Inhaltsverzeichnis .................................................................
9
A. Staats- und Verwaltungsrecht Richard Bartlsperger Das Verwaltungsrecht als rechtswissenschaftliches Problemfeld . . . . . . . . . . . .
3
Max-Emanuel Geis Privatrechtliche Qualitätssicherungsverfahren im Verwaltungsrecht . . . . . . . . .
21
Jörg Gundel Grundrechtsfähigkeit für ausländische Staatsunternehmen? – Überlegungen aus Anlass des BVerfG-Urteils zum beschleunigten Atomausstieg . . . . . . . . . .
33
Felix Hardach Gesetzesbegründungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
53
Christian Hillgruber Asylrecht und Flüchtlingsschutz – grenzenlose Garantien? . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Peter M. Huber Keine Grundrechtsfähigkeit öffentlich beherrschter Unternehmen . . . . . . . . . .
87
Friedhelm Hufen Nudging – oder: Wohin und wie weit darf der Staat seine Bürger schubsen?
99
Josef Isensee Nahrung als Thema des Verfassungsrechts. Grundrechtsrelevanz und Sicherstellungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
Wolfgang Kahl Verfahrensvorschriften als subjektive öffentliche Rechte – Eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
Michael Kloepfer Bundesverfassungsgericht und Verfassungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . .
161
X
Inhaltsverzeichnis
Wolfgang Löwer Zur geschichtlichen Entwicklung der Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
Hartmut Maurer Aktuelle Probleme des Bundestagswahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
Christoph Moench Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Atomausstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215
Ingolf Pernice Stärkung der Demokratie in der Digitalen Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Ralf P. Schenke Die Kernbrennstoffsteuer – Blick zurück und nach vorn . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
Wolf-Rüdiger Schenke Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland . . .
273
Foroud Shirvani Sozialbindung des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
Udo Steiner Das Bundesverfassungsgericht und das deutsche Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . .
319
B. Deutsches und Europäisches Wirtschaftsrecht Ulrich Battis Zur Zukunft der Rüstungsexportkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
335
Martin Burgi Der sog. Grundsatz der Selbstorganschaft als Privatisierungsgrenze . . . . . . . . .
343
Matthias Herdegen Die Reform der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion: vor einem Systemwechsel bei Risiko und Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Jens Koch Öffentlich-rechtliche Informationsrechte versus aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
367
Matthias Ruffert Verfassungsrechtliche Zukunftsfragen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
387
Inhaltsverzeichnis
XI
Franz Jürgen Säcker Begrenzung der Übermacht im Vertragsrecht durch iustitia correctiva oder durch Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
Reiner Schmidt Leistungsbilanzausgleich im rechtlosen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
419
Rupert Scholz Rekommunalisierung und private Wettbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
433
Achim Schunder Der Kampf um die Sonntagsladenöffnung – die (unheilige) Allianz zwischen Kirchen und Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
453
Rudolf Streinz Europarechtliche Vorgaben für die autonome Sportgerichtsbarkeit – Folgen des Falles Claudia Pechstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
463
Winfried Wegmann Der Deutsche Corporate Governance Kodex. Gesteuerte Selbstregulierung im Aktienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
477
C. Kartell- und Regulierungsrecht Florian Bien Kollidierende Privatinteressen in der Fusionskontrolle. Fusionskontrollrechtlicher Drittschutz aus der Perspektive der Schmidt-Preuß’schen Konfliktschlichtungsformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
523
Wolfgang Durner Mitnutzungsanspruch und Streitbeilegung nach § 77d und § 77n TKG . . . . . .
545
Klaus Ferdinand Gärditz Effektiver Rechtsschutz im TK-Entgeltgenehmigungsverfahren: Intertemporale Konfliktschlichtung im Prozess zwischen Verfassungs- und Unionsrecht . . .
561
Hubertus Gersdorf Frauenförderung als Element des Regulierungsrechts am Beispiel der Frauenquote für die Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
585
Annegret Groebel Vergleich der institutionellen Vorschläge im Connectivity Package („TK-Review-Paket“) und dem Clean Energy Package („Winterpaket“) . . . . . . . . . . . .
605
XII
Inhaltsverzeichnis
Iris Henseler-Unger Regulierung und Transparenz – Ein Spannungsfeld. Mit besonderem Bezug zu den von der BNetzA regulierten Bereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
639
Jochen Homann Zum Verhältnis von Ökonomie und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
657
Jürgen Kühling Gemeinwohlverwirklichung im Wettbewerb in den Netzwirtschaften – ein Vergleich nach 20 Jahren Regulierung durch die Bundesnetzagentur . . . . . . . .
671
Markus Ludwigs Konvergenz oder Divergenz der Regulierung in den Netzwirtschaften – Zur Herausbildung allgemeiner Grundsätze im Recht der Regulierungsverwaltung
689
Sebastian Merk Grenzen der Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
713
Andreas Mundt Verbraucherschutz durch das Bundeskartellamt – Bewährte und neue Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
725
Karsten Otte Nachträgliche Beschwerde gegen Entgeltgenehmigungen? . . . . . . . . . . . . . . . .
737
Wulf-Henning Roth Das Unternehmen als „wirtschaftliche Einheit“ im europäischen und deutschen Kartelldeliktsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
749
D. Energie- und Umweltrecht Ulrich Büdenbender Die Rechtsfolgen unwirksamer Preisanpassungsklauseln in der Elektrizitätsund Gaswirtschaft nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes mit dogmatischer Bewertung im Lichte der Rechtsgeschäftslehre . . . . . . . . . . . . . .
785
Peter Franke Netzregulierung und Kraftwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
809
Hans D. Jarass Neues zur Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Anlagenzulassung im Immissionsschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
835
Martin Kment Das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis zwischen Energiewirtschaft und Raumordnung – Der Kompetenzstreit um die Erdverkabelung . . . . . . . . .
847
Inhaltsverzeichnis
XIII
Torsten Körber Digitalisierung als Herausforderung und Chance für Energiewirtschaft und Energierecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
865
Gunther Kühne Die Abänderbarkeit (energie-)regulierungsrechtlicher Behördenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
879
Gösta Christian Makowski Energie × Miete – Das Mietrecht als Instrument zur Steigerung der Energieeffizienz von Gebäuden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
891
Jochen Mohr Prinzipien und System der Entgeltregulierung am Beispiel der Stromnetzentgeltverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
911
Hans-Christoph Pape Zum Aspekt der Wirtschaftlichkeit in der neuen Ordnung der kerntechnischen Entsorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
935
Kai Uwe Pritzsche Ersatzversorgungssituationen, Anschlussnutzungsverträge und Notstromentnahme im Übertragungsnetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
951
Oliver Remien Anlagengenehmigung und Umweltschädigung im internationalen Zivilrechtsfall – § 14 BImSchG und das Internationale Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
985
Peter Salje Regulierung und Privatrecht. Privatrechtliche Instrumentarien und der Beitrag des EEG 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009 Hartmut Weyer Die Bedeutung des Grundsatzes der Belastungsgleichheit für Umlagen . . . . . . 1037 Schriftenverzeichnis von Matthias Schmidt-Preuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1057 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1069
A. Staats- und Verwaltungsrecht
Das Verwaltungsrecht als rechtswissenschaftliches Problemfeld Von Richard Bartlsperger, Erlangen Der Beitrag soll dem Jubilar in lebendig gebliebener Erinnerung an die gemeinsamen Jahre an der Erlanger Juristenfakultät gewidmet sein. Freilich, eine Themenwahl mit Bezug zum Werk des Jubilars konnte nicht leicht fallen, da dieses neben einigen je für sich bedeutsamen Abhandlungen zu staatsrechtlichen Fragen seine thematische Ausrichtung weitestgehend in spezifischen Bereichen des Verwaltungsrechts gesucht und zunehmend einen besonderen Schwerpunkt auf dem Gebiet von Energiepolitik, Energiewirtschaft und Energieumweltrecht gesetzt hat. Aber dabei treten denn auch Charakteristika zutage, die eine prinzipielle rechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermögen. Objektiv wahrnehmbar erscheint eine Nähe zu zeitgeschichtlichen Tendenzen innerhalb der Staatsrechtslehre sowie von Seiten sachlich interessierter Fachdisziplinen, angesichts einer unter den gegenwärtigen Bedingungen wieder verstärkt vergegenwärtigten und gewichteten Wirklichkeitsbezogenheit und realen Bewirkungsfunktion der Verwaltung das während seiner neueren Ideengeschichte rechtdogmatisch und rechtswissenschaftlich überkommene und etablierte Verwaltungsrecht methodisch einer sozialwissenschaftlichen Systembildung und wissenschaftstheoretisch einem Rechtsrealismus, einem dementsprechenden sogenannten steuerungswissenschaftlichen Ansatz zu öffnen.1 Eine solche „neue“ methodische und wissenschaftstheoretische Sicht von Verwaltung und Verwaltungsrecht besagt und bedeutet, die Verwaltungsrechtswissenschaft von einer „anwendungsbezogenen Interpretationswissenschaft“ zur „rechtsetzungsorientierten Handlungs- und Entscheidungswissenschaft“ zu entwi1 Zu der betreffenden sogenannten Steuerungstheorie im Bereich von Verwaltung und Verwaltungsrecht Schuppert, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundlagen, 1993, S. 65 ff., ders., Verwaltungswissenschaft – Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungsrechtslehre, 2000, Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 18 ff., in der 2. Aufl. 2006, S. 18 ff. und 277 ff., ders., Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 18 ff., Scherzberg, in: Trute u. a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 837 (862 ff.), Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012, § 1, S. 1 Rn. 14 ff., Franzius, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, a.a.O., S. 178 ff. sowie eine weitere Erörterung und die Nachw. bei Hilbert, Systemdenken in Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft, 2015, S. 233 ff.; siehe auch Rottmann, Bemerkungen zu den „neuen“ Methoden der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Christensen u. a. (Hrsg.), Rechtstheorie in praktischer Absicht, 2008, S. 207 ff.
4
Richard Bartlsperger
ckeln.2 Eine Akzentsetzung in dieser Richtung lässt sich wohl auch in dem vom Jubilar dezidiert vertretenen rechtsdogmatischen Konzept vom „subjektiven öffentlichen Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis“ erkennen.3 Danach soll im Falle von verwaltungsrechtlichen Regelungen zu bipolar gegenüberstehenden Privatinteressen ein betreffendes subjektives öffentliches Recht von Beteiligten sich nicht unmittelbar gegen den Staat richten; vielmehr soll dieser von betreffenden Beteiligten aufgrund des einschlägig angenommenen gesetzlichen Konfliktschlichtungsprogramms lediglich in der Rechtstellung eines Pflichtsubjekts in Anspruch genommen werden können.4 Erklärtermaßen haben die so gesehenen Entstehungsbedingungen einer subjektiv-rechtlichen Konfliktschlichtung unter den Beteiligten eine „Ordnungsnorm“ zur Voraussetzung, die in ihrer genuinen Rechtsfunktion primär einen objektiven Realisierungscharakter besitzt, das betreffende gesetzliche Konfliktschlichtungsprogramm als den „Sachmaßstab zu dem Ausgleich der kollidierenden Privatinteressen“ konstituiert und diesen Ausgleich in seiner realen Ordnungsfunktion „steuert“.5 Auch die genannten eindrucksvoll zahlreichen Beiträge im Werk des Jubilars zum neuen Energierecht werden, wenngleich aus dem gegebenen Anlass ob ihres sehr spezifischen Fachgegenstandes wohl verständlicherweise nicht genauer besehen, mit der angesprochenen steuerungsfunktionalen Entwicklung von Verwaltung und Verwaltungsrecht sowie mit dem dementsprechend vertretenen steuerungswissenschaftlichen Ansatz der Verwaltungsrechtslehre, mit dessen methodischen und wissenschaftstheoretischen Konsequenzen, in Verbindung zu bringen sein. Allein schon thematisch erkennbar treten die unter den Gegenwartsbedingungen von Verwaltungsgesetzgebung und Verwaltungstätigkeit für diese in weiten Bereichen und in bestimmender Weise zu beobachtenden und kennzeichnend gewordenen Erscheinungen einer rechtsrealistischen Seite bzw. einer überhaupt prinzipiell rechtsrealistischen Funktion des Verwaltungsrechts sowie eines dementsprechend realwissenschaftlichen Funktionswandels der Verwaltung zutage. Es handelt sich hier um Anzeichen dafür, dass sich im positiven Verwaltungsrecht und in der Verwaltungstätigkeit ein Wandel in dieser funktional realitätsbezogenen Richtung ergeben und dass infolgedessen die anwendungsbezogene Rechtsdogmatik des Verwaltungsrechts dementsprechend die Züge einer realitätsbestimmten und realitätswirksamen Rechtskunde, Rechtserfahrung und Rechtsklugheit angenommen hat. Das Folgeproblem einer solchen zu beobachtenden Entwicklung des positiven Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtsdogmatik ist die aus fachspezifisch methodischer und wissenschaftstheoretischer Sicht zu stellende Frage nach dem Verbleib einer Rechtswissenschaft im Bereich von Verwaltung und Verwaltungsrecht, einer „bloßen Rechtswissenschaft“, welcher die systematische Kenntnis des in der Idee verfassungsstaatlicher Ordnung auf „unwandelbaren Prinzipien“ a priori beruhenden Verwaltungs2
Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 19. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht – Das subjektive öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis, 1992. 4 Schmidt-Preuß (Fn. 3), S. 212. 5 Schmidt-Preuß (Fn. 3), S. 212 ff. und 247 ff. 3
Das Verwaltungsrecht als rechtswissenschaftliches Problemfeld
5
rechts obliegt.6 Elemente einer realwissenschaftlichen Methode und Wissenschaftstheorie machen das Verwaltungsrecht und die Verwaltungsrechtslehre nicht zum ersten Mal in deren Ideengeschichte zu einem rechtswissenschaftlichen Problemfeld. Bezeichnend und zutreffend erscheinen unter den solcherart angenommenen Gegenwartsbedingen der Verwaltungsrechtslehre die epochal schon frühzeitig getroffenen warnenden Beurteilungen, durch die Heranziehung zur „technischen Bewältigung konkreter ,Pannen‘“ und durch eine solche „Überanstrengung des Rechts“ sei „das Verwaltungsrecht zum Schrecken der Juristen geworden.“7 I. Die Verwaltungsrechtslehre als wissenschaftstheoretisches und methodisches Problemfeld 1. Auch schon ohne die aktuelle Verstrickung der Verwaltungsrechtswissenschaft in den angesprochenen, aus einem prinzipiellen „neuen“ wissenschaftstheoretischen und methodischen Anspruch konzipierten und artikulierten steuerungswissenschaftlichen Ansatz ist die im Verlaufe der Entwicklung öffentlicher Verwaltung und unter den Gegenwartsbedingungen sich verstärkt bemerkbar machende und als solche wahrgenommene realwissenschaftliche Funktion von Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtslehre ein zeitgeschichtliches Thema der sie betreffenden Fachdisziplinen. Namentlich aus speziell rechtswissenschaftlicher Sicht handelt es sich um eine die Verwaltungsrechtslehre von Anfang an ideengeschichtlich begleitende Problematik wissenschaftlicher Systembildung; nur ist die betreffende Thematik in wissenschaftstheoretischer Hinsicht jeweils anders aufgegriffen, beurteilt und zu lösen versucht worden. In bemerkenswerter und eindrucksvoller Weise sind sogar in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der ersten Phase der unter dem Grundgesetz entstehenden Verwaltungsrechtslehre, Forderungen erhoben worden, im Unterschied zu der seit der spätkonstitutionellen Epoche sich etablierenden „juristischen Theorie“ der Verwaltungsrechtswissenschaft zu einer „Verwaltungsreform“ durch „Erneuerung der Verwaltungswissenschaft“ zu gelangen.8 Im Rückblick auf die ideengeschichtliche Entwicklung der Verwaltungsrechtswissenschaft hat sich das seinerzeitige Postulat dagegen gerichtet, dass das bürgerliche Recht „der geistige Steinbruch für die Ver-
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Zugrundegelegt sind hier das Begriffsverständnis und die Begriffsverwendung von Rechtsdogmatik und „Rechtswissenschaft“, wie diese in der „Rechtslehre“ des transzendentalphilosophischen Idealismus, in dessen praktischer Vernunftidee vom Recht, verstanden werden (Kant, Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, hier: Philosophische Bibliothek Band 360, hrsgg. von Ludwig, 3. Aufl. 2009, S. 37, § A); zur erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Definition des dabei verwendeten Begriffs einer „natürlichen Rechtslehre“ siehe auch a.a.O., S. 46, § B.I. 7 Siehe bei Werner, DVBl. 1959, 527 (528). 8 Siehe die dezidierte und nachdrückliche Argumentation bei Nass, Verwaltungsrechtsreform – Durch Erneuerung der Verwaltungswissenschaft, 1950, insb. S. 8 f., 18 f. und 48 f.
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Richard Bartlsperger
waltungsrechtler“ bleibe9 und dass das Erstarren in juristischen Prinzipien „zu einer verwalterischen Pseudojurisprudenz“ führe;10 stattdessen sollte sich der „große Gedanke einer verwaltungswissenschaftlichen Gerechtigkeitslehre“ entwickeln bzw. erneuern, welche die „technischen und juristischen Einzelheiten zu einer geistigen, moralischen und praktischen Einheit zusammenfasse“.11 In der Folgezeit unter der entwickelten verfassungsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes vermochte jedenfalls eine prinzipielle Kritik gegenüber der „inneren“ juristischen Systembildung bzw. gegenüber einem wahrgenommenen liberalstaatlichen Formalismus im Verwaltungsrecht angesichts und wegen der Entwicklung zum sozialstaatlichen Wohlfahrtsstaat Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.12 Geraume Zeit vorausgegangen war bekanntlich die in der Verwaltungswirklichkeit nicht mehr zu übersehende Entstehung und dann auch ideengeschichtliche Vergegenwärtigung leistender Verwaltung und wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge öffentlicher Verwaltung, welche die überkommenen Formen des Verwaltungsrechts wissenschaftstheoretisch und methodisch als inkongruent erscheinen lassen konnten.13 Aber einer daraus begründeten Systemkritik am überkommenen Verwaltungsrecht sowie an der entsprechenden Begriffsund Systembildung der Verwaltungsrechtslehre konnte mit guten Gründen entgegengehalten werden, dass jene neuen Erscheinungen in den realwissenschaftlichen Voraussetzungen der Verwaltung sowie die dementsprechend anderen Aufgaben der Verwaltung und die veränderten Handlungsformen des Verwaltungsrechts zwar deren „äußeres System“ zweck- und aufgabenorientierter Begriffe und Einteilungen beträfen und insofern eine wichtige „heuristische, hermeneutische und kritische Funktion“ erfüllten, dass aber deshalb ein „Neubau“ des „inneren“ verwaltungsrechtlichen Systems, „als Auswechslung seiner tragenden begrifflichen und institutionellen Fundamente verstanden,“ weder erforderlich noch auch nur möglich gewesen sei.14 Die vergleichsweise rechtskonstruktiv tiefstgreifende zeitgeschichtliche Veränderung im Bereich von Verwaltung und Verwaltungsrecht speziell im Hinblick auf deren realwissenschaftliche Voraussetzungen und den angesprochenen dementsprechenden steuerungswissenschaftlichen Ansatz hat sich wohl sicherlich mit den legislativen Inkorporierungen planerischer Normstrukturen in das Verwaltungsverfahrensrecht und in das materielle Verwaltungsrecht vollzogen.15 An zeitlich erster Stel9
Nass (Fn. 8), S. 9. Nass (Fn. 8), S. 48. 11 Nass (Fn. 8), S. 49. 12 Badura, Verwaltungsrecht im liberalen und im sozialen Rechtsstaat, 1966, S. 22 f. 13 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Erster Band – Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1973, S. 35 f.; schon vorher ders., Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938 und ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959. 14 Bachof, VVDStRL 30 (1972), 193 (228 ff.). 15 Grundsätzlich dazu Stolleis, Handbuch des öffentlichen Rechts, Vierter Band, 2012, S. 265 ff., und Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, Sechstes Kapitel, Rn. 25 ff. 10
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le war dies in der schon an vorkonstitutionelle baurechtliche Steuerungsinstrumente anknüpfenden gemeindlichen Bauleitplanung geschehen16 sowie dann in den sachgebiets- bzw. vorhabenspezifischen Fachplanungen, vor allem in deren letztverbindlichen Planfeststellungen zur Vorhabenzulassung17 und schließlich in der ebenfalls schon in einem vormals bereits in einer speziellen und spezifischen reichsrechtlichen Einrichtung erdachten und praktizierten, nunmehr aber generell auf eine gesamtplanerische Landesplanung in den Flächenstaaten ausgerichteten Raumordnung.18 Indessen auch bei jener Begründung und Entwicklung von öffentlicher Planung und des Planungsrechts kann und konnte die sogenannte „innere“ rechtsdogmatische und rechtswissenschaftliche Begriffs- und Systembildung von den „äußeren“ realwissenschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen der betreffenden öffentlichen Planung getrennt werden.19 Eine von dieser aus rechtswissenschaftlicher Sicht grundsätzlich behauptungsfähigen Beurteilung abweichende besondere Problematik kann auf jenen neuen planungsrechtlichen Aufgaben- und Funktionsbereichen in der Verwaltung, vornehmlich in der Bauleitplanung und im Fachplanungsrecht, lediglich darin gesehen werden, dass die zum zeitgeschichtlichen Erscheinungsbild der Verwaltungsrechtslehre ohnedies schon gehörende besondere literarische Nacherzählungskultur gegenüber einer auf der anderen Seite nicht minder ausgeprägten Selbstreferenz und wissenschaftlichen Selbstermächtigung der gerichtlichen Praxis zu einer „Marginalisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft“ zu führen und sie nur mehr „als eine schlechte Kopie der Praxis“ erscheinen zu lassen droht.20 Aber die in der Rechtsprechungs- und Verwaltungspraxis sowie in der verwaltungsrechtlichen Literatur bislang aufgearbeitete planungsrechtliche Dogmatik erscheint keineswegs auch schon rechtswissenschaftlich in einem Zustand, der in normstruktureller und rechtskonstruktiver Hinsicht sowie nicht zuletzt unter den einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht auch noch grundlegender Korrekturen zugänglich wäre und bedürfte.21 Jedenfalls haben auch die Institutionalisierung einer Planungs16 Zu dieser Oldiges, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 2017, Abschnitt IV, Baurecht – B. Bauleitplanung und Bodennutzung, Rn. 22 ff., Stüer, Der Bebauungsplan – Städtebaurecht in der Praxis, 2015 und ders., Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 2015, Teil A. 17 Kühling, Fachplanungsrecht, 2000, Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 2015, Teil D. 18 Koch/Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 5. Aufl. 2009, §§ 1 – 10, Steiner, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Fn. 16, Abschnitt VI. Raumordnungs- und Landesplanungsrecht. 19 Nachw. dazu Fn. 14. 20 Hilbert (Fn. 1), S. 143; dort (a.a.O., S. 229 ff.) auch generell zur anwendungsbezogenen Verwaltungsrechtsdogmatik als einer „Gemeinschaftsleistung“ von Wissenschaft und Praxis. 21 Dazu mag verwiesen werden auf die normstrukturelle und verfassungsrechtlich begründete Kritik an den in Rechtsprechung und Schrifttum einhellig vertretenen Auffassungen zum subjektiven Rechtsstatus Betroffener sowie zu Optimierungs- und Vorrangregelungen in der planungsrechtlichen Abwägung bei Bartlsperger, in: Erbguth u. a. (Hrsg.), Abwägung im Recht, 1996, S. 79 ff., bei dems., Planungsrechtliche Optimierungsgebote, DVBl. 1996, S. 1 ff. und in: Blümel (Hrsg.), Planungsrechtliche Optimierungsgebot, Speyerer For-
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verwaltung sowie die Veränderungen bzw. die Neukonstituierung des Verwaltungsrechts durch finale Normstrukturen eines Planungsrechts in den genannten Verwaltungsbereichen die betreffende „innere“ juristische Begriffs- und Systembildung in der Verwaltungsrechtslehre nicht beseitigt oder auch nur grundlegend verändert. Die insofern gewiss eingetretenen und mit in den Vordergrund gerückten steuerungswissenschaftlichen Elemente in der Verwaltung haben sicherlich deren Gegenwartsaufgaben in beträchtlichem Umfang realwissenschaftlich verändert bzw. erneuert: aber die neuen planungsspezifischen Rechtsstrukturen haben deswegen nicht auch an die wissenschaftstheoretisch und methodisch spezifisch juristische Funktions- und Konstruktionsweise der Verwaltungsrechtslehre gerührt. 2. Was nicht zuletzt die gegenständliche Thematik einer wissenschaftstheoretischen und methodischen Relevanz des die Verwaltung und das Verwaltungsrecht generell und in bestimmten Bereichen besonders prägenden Wirklichkeitsbezogenheit und realwissenschaftlichen Bewirkungsfunktion angeht, so muss auffallen, dass die Verwaltungsrechtslehre schon seit jener ihrer bekannten und nachwirkenden rechtswissenschaftlichen Begründung im ideengeschichtlichen Zusammenhang der spätkonstitutionellen Verfassungsepoche und in ihrer weiteren Ideengeschichte bis heute eher beiseite steht, wenn es in Bezug auch auf eine solche wissenschaftstheoretische Problematik um die innerhalb der Staatsrechtslehre von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an entstandenen sowie bis heute vergegenwärtigten und als aktuell erachteten methodischen Verwicklungen geht.22 Ungeachtet des fachspezifisch generell besonderen Charakters des Verwaltungsrechts sowie der genannten, im Verlaufe realer Entwicklungen in der Verwaltung neu entstandenen Angelegenheiten, der dazu spezifisch ergangenen gesetzlichen Regelungen und der gefundenen rechtsdogmatischen Lösungen erscheint die wissenschaftstheoretische und methodische Situation der Verwaltungsrechtswissenschaft im Grunde als keine andere denn als diejenige der Staatsrechtswissenschaft. Weder stellt und beantwortet sich im Verwaltungsrecht und im Staatsrecht die rechtstheoretische Rechtsbegründungsfrage, ob das, was die Gesetze sagen und was als statutarisches Recht angesehen werden kann, „auch Recht sei“ und „warum man überhaupt, Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne“, anders noch sind die schon angesprochenen Voraussetzungen rechtswissenschaftlicher Begriffs- und Systembildung prinzipiell andere.23 Aber bemerkenswerterweise steht die Verwaltungsrechtslehre seit ihrer beschungsberichte 157, 1996, S. 1 ff. und bei dems., in: Erbguth u. a. (Hrsg.), Planung – Festschrift für Hoppe, 2000, S. 127 ff. 22 Zum staatsrechtlichen Methodenstreit in der spätkonstitutionellen Epoche und Entstehungszeit der Verwaltungsrechtswissenschaft Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, S. 305 ff. und 348 ff., zum methodologisch positionsbestimmend, grundlegend gewordenen und nachwirkenden sogenannten Weimarer ,Methodenstreit der Staatsrechtslehre Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band, 1999, S. 153 ff. sowie Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der staatsrechtslehre und Weimarer Republik, 1987. 23 Zu den betreffenden Voraussetzungen von „Rechtswissenschaft“ siehe die Nachw. in Fn. 6.
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kannten, gemeinhin als ideengeschichtlich maßgeblich und nachhaltig angesehenen rechtswissenschaftlichen Begründung in der ausgehenden spätkonstitutionellen Verfassungsepoche24 bis heute beiseite, wenn es innerhalb der Staatsrechtslehre um die von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an gestellte Thematik von deren Wissenschaftstheorie und Methode gegangen ist,25 um den in der neueren Ideengeschichte derselben beherrschend gewordenen Methodenstreit, der im sogenannten Weimarer Methodenstreit der Staatsrechtslehre ausgetragen worden ist26 und dessen Verwicklungen bis heute vergegenwärtigt und als aktuell betrachtet werden. In der Verwaltungsrechtslehre ist ein eigener methodischer Weg eingeschlagen worden, auf dem die in der Staatsrechtslehre spezifisch geführten Kontroversen um die prinzipiellen Rechtsbegründungsfragen und um die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Staatsrechtswissenschaft gar nicht aufgegriffen und die Auseinandersetzungen mit dem juristischen Formalismus erst gar nicht geführt werden. Vielmehr wird dem Rechtspositivismus auf eine dem Verwaltungsrecht spezifische Art ein eigenes institutionelles Rechtsdenken entgegengestellt, das die Rechtsnormen zum einen in ihren kulturellen Sinnzusammenhängen, als jeweiliges Sinnganzes und in ihren tragenden allgemeinen Rechtsgedanken begreifen sowie zum anderen als rechtliche Bewältigung der betreffenden Wirklichkeit und als Regelung sozialwissenschaftlicher Interessenkonstellationen verstehen und anwenden will.27 Dabei wird das Recht unbeschadet seiner Normativität sowie einer im wissenschaftstheoretischen und methodischen Sinne „juristischen“ Begriffs- und Systembildung auch als ein „Stück der Wirklichkeit“ verstanden, ohne es der Wirklichkeit zu unterwerfen und an die Stelle seiner „Geltung“ die „Faktizität“ zu setzen. Insofern erfolgt auch eine deutliche Klarstellung und Abgrenzung gegenüber einer erkenntnistheoretischen Entzauberung der Normativität des Rechts durch einen sozialwissenschaftlichen Rechtsrealismus und nicht zuletzt gegenüber einer als politische Philosophie zeitgeschichtlich einflussreichen materialistischen Rechtsauffassung.28
24 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band 1895, 3. Aufl. 1923 und Zweiter Band 1895/96, 2. Aufl. 1914/17, 3. Aufl. 1924. 25 Ausgehend von der ideengeschichtlichen Grundlegung des sogenannten staatsrechtlichen Positivismus bei v. Gerber, Über öffentliche Rechte, 1852, Abdr. 1913 und ders., Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, 1865, 2. Aufl. 1869, 3. Aufl. 1880; dazu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, S. 330 sowie Bartlsperger, in: Appel u. a. (Hrsg.), Öffentliches Recht im offenen Staat (Festschrift Wahl), 2011, S. 51 ff. und ders., in: Heckmann (u. a.) (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit im Wandel (Festschrift Württemberger), 2013, 129 (170 ff.). 26 Zum sogenannten Weimarer Methodenstreit der Staatsrechtslehre Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band, 1999, S. 153 ff. sowie Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987. 27 Siehe bei Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts (Fn. 13, S. 164 ff.) und bei Paust, Die institutionelle Methode im Verwaltungsrecht, 1972, insb. S. 4 ff. 28 Dazu Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1361, 1998, S. 62 ff. und gleiche in diese Richtung gehende politische Philosophien vom Recht.
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Schon in der angesprochenen, als ideengeschichtlich maßgeblich bekannten Begründung der Verwaltungsrechtswissenschaft hat das „Rechtsinstitut“ mit seinem erörterten spezifisch methodischen Sinne eine eigene und hervorgehobene Explikation erfahren als das „Hilfsmittel der Rechtswissenschaft zur Beherrschung der Fülle von Stoff, welche die Rechtsbeziehungen der von ihr beobachteten Rechtssubjekte darbieten“ und als gegenständliches Spezifikum der Verwaltungsrechtswissenschaft, die es „mit rechtlich bedingten Erscheinungen der öffentlichen Gewalt im Verhältnis zwischen Staat und Untertanen“ zu tun habe.29 Im Unterschied zu der allenthalben und stets gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen sowie methodischen Ideengeschichte und Gegenwartssituation der Staatsrechtslehre ist es also für die wissenschaftstheoretische und methodologische Selbstvergewisserung der Verwaltungsrechtswissenschaft von Beginn an charakteristisch gewesen und bestimmend geblieben, das Verwaltungsrecht in seiner Wirklichkeitsund Praxisorientierung zu begreifen und in der methodisch spezifischen Figur eines Rechtsinstituts zu verstehen sowie auf diese Weise die kulturellen Bezüge und die realen Voraussetzungen und Aufgaben des Rechts in einer betreffenden institutionellen Methode der Verwaltungsrechtslehre zu erfassen und zu bewältigen, ohne dadurch die normativen Bedingungen des Verwaltungsrechts zu verleugnen und die Verwaltungsrechtswissenschaft in eine sozialwissenschaftliche Methode und wissenschaftstheoretisch in einen Rechtsrealismus zu führen. Damit ist also zugleich und aus aktueller Sicht auf der anderen Seite in der wissenschaftstheoretischen und methodologischen Ideengeschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft eine deutliche prinzipielle Abgrenzung und Distanzierung erkennbar gegenüber den angesprochenen, seit geraumer Zeit forciert auftretenden Tendenzen bzw. Positionen eines wie auch immer wissenschaftstheoretisch mehr oder weniger verstehbaren und eindeutigen steuerungswissenschaftlichen Ansatzes, im Verwaltungsrecht nicht nur oder überhaupt nicht nach normativen Handlungs- und Entscheidungsfaktoren der Rechtsauslegung und Rechtmäßigkeit zu verfahren, sondern sozialwissenschaftlichen, jedenfalls wie auch immer realwissenschaftlichen Kriterien der Sachrichtigkeit und Gemeinwohlförderung zu folgen.30 Eine in der bezeichneten Weise prinzipielle Umorientierung der Verwaltungsfunktionen zur Seite von deren realwissenschaftlichen Aufgaben und Zwecken hin sowie eine in der Konsequenz hieraus grundlegend „neue“ steuerungswissenschaftliche Idee nicht nur der Verwaltung, sondern auch des Verwaltungsrechts bewegen sich in einem wissenschaftstheoretisch und methodisch fundamentalen, überhaupt 29 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band (Fn. 24), 3. Aufl., S. 113 ff. („Das Verwaltungsrechtinstitut und die Scheidung vom Zivilrecht“). Siehe auch die in der nachfolgenden wissenschaftlichen Entwicklung der Verwaltungsrechtslehre verwendete institutionelle Titelgebung bei Fleiner, Institution des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. 1928. 30 Nachw. dazu bei Gelegenheit einer aktuellen Thematisierung von legislativem, praktischem und wissenschaftlichem Systemdenken im Verwaltungsrecht bei Hilbert (Fn. 1), S. 233 ff.; zu ausgewählten Problemen und zu betreffender Kritik an jenem steuerungswissenschaftlichen Ansatz siehe bei dems., a.a.O., S. 237 f.
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nicht disponiblen oder auch nur relativierbaren Gegensatz zur erörterten, ideengeschichtlich nachweislichen, verfolgbaren und etablierten „juristischen“ Idee der Verwaltungsrechtswissenschaft. Im Grunde ist es überhaupt die Idee der Verwaltungsrechtswissenschaft, die auf dem Spiele steht und einer nachdrücklichen Vergegenwärtigung bedarf.
II. Die Verwaltungsrechtswissenschaft – ihre Idee 1. Das zeitgeschichtliche Erscheinungsbild der ideengeschichtlich überkommenen und etablierten Verwaltungsrechtslehre vermag ein eingehenderes Interesse augenscheinlich und verständlicherweise jedenfalls insofern auf sich zu ziehen, als es um das Verhältnis institutioneller Verwaltungsrechtswissenschaft auf der einen Seite zur rechtssetzenden Gewalt im Verwaltungsrecht, vor allem aber zur Verwaltungspraxis auf der anderen Seite geht.31 Offenbar hat die institutionalisierte Verwaltungsrechtswissenschaft ein beträchtliches Wirkungsfeld und ein gewichtiges Maß an Einfluss verloren nicht nur auf dem Gebiet der anwendungsbezogenen Verwaltungsrechtsdogmatik, sondern auch im rechtswissenschaftlichen Systemdenken angesichts einer neuerdings zunehmend beobachteten sogenannten „vorwissenschaftlichen Begriffsbildung“ schon in der Rechtssetzung zum Verwaltungsrecht,32 vor allem aber gegenüber einer in ausgeprägter Selbstreferenz agierenden und zur wissenschaftlichen Selbstermächtigung neigenden Rechtsprechung und Praxis auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts.33 Solche gewiss zutreffenden Beobachtungen zum Zustand des Begriffs- und Systemdenkens im Verwaltungsrecht verlangen indessen auch selbst einige weitere kritische Beurteilungen, was die ihnen zugrundeliegenden Vorstellungen zur wissenschaftstheoretischen Funktion und Bedeutung der Verwaltungsrechtswissenschaft sowie zu deren Stellung gegenüber der Rechtssetzung und der Rechtspraxis angeht. 2. Im Rahmen der angesprochenen aktuellen Beobachtungen und Beurteilungen zum „Systemdenken in Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft“ muss eine in dem Zusammenhang gemachte Annahme auffallen und verwundern, dass es 31 Eine umfangreiche Thematisierung findet sich in der Darstellung und Erörterung bei Hilbert (Fn. 1). 32 Zur sogenannten „vorwissenschaftlichen Begriffsbildung“ siehe die Beobachtung und Begriffsverwendung in der erkenntnistheoretisch und wissenschaftstheoretisch spezifischen Rechtstheorie des sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus bei Lask, Rechtsphilosophie (1905), hier in: Lask, Gesammelte Schriften in drei Bänden, hgg. von Herrigel, 1923, I. Band, S. 315 sowie vorausgehend Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 3. Aufl. 1915, S. 418 und ders., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. und 7. Aufl. 1926, S. 84. Zum Verhältnis von „Rechtssystem und wissenschaftlichem System“ Hilbert (Fn. 1), S. 132 ff. 33 Zu einer sogenannten „Ergänzungshypothese“ im Verhältnis von wissenschaftlicher und praktischer Seite im verwaltungsrechtlichen Begriffs- und Systemdenken Hilbert (Fn. 1), S. 144 f. sowie zur beobachteten „Gemeinschaftsleitung“ von Wissenschaft und Praxis im Verwaltungsrecht ders., a.a.O., S. 229 ff. und Schmidt-Aßmann, (Fn. 2), S. 3 f.
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als eine „weitere Ausprägung der praxisorientierten Rechtswissenschaft“ anzusehen sei, wenn hierüber seit nunmehr über zwei Dekaden auch unter dem Etikett des sogenannten steuerungswissenschaftlichen Ansatzes diskutiert werde.34 Einer solchen Assoziation liegt eine erstaunliche Vermischung von prinzipiell unterschiedlichen und gegensätzlichen wissenschaftstheoretischen sowie methodologischen Voraussetzungen bei der Beschäftigung mit Verwaltung und Verwaltungsrecht zugrunde. Auf der einen Seite hat eine am zeitgeschichtlichen Erscheinungsbild der Verwaltungsrechtswissenschaft kennzeichnende und bemerkte Rechtssetzungs- und Praxisorientierung als solche noch keineswegs selbstredend etwas zu tun mit einem wissenschaftstheoretisch prinzipiellen Rückzug oder mit einer wissenschaftstheoretisch prinzipiellen Aufgabe der Normativität im Verwaltungsrecht zugunsten eines Rechtsrealismus desselben. Auf der anderen Seite würde der sogenannte steuerungswissenschaftliche Ansatz zu Verwaltung und Verwaltungsrecht sein prinzipielles wissenschaftstheoretisches Anliegen verfehlen, wenn er sich anstelle seines verfolgten Rechtsrealismus lediglich mit der Forderung nach einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtslehre begnügen würde. Der im sogenannten steuerungswissenschaftlichen Ansatz mit wissenschaftstheoretischer Absicht und aus wissenschaftstheoretischen Gründen mehr oder weniger konsequent sowie klar gesehene und verlangte Rechtsrealismus von Verwaltung und Veraltungsrecht ist etwas prinzipiell ganz anderes als das zeitgeschichtlich beobachtete Phänomen einer in ihrer normativen Funktion praxisorientierten Verwaltungsrechtslehre sowie eines von praktischer und wissenschaftlicher Seite gemeinschaftlich geleisteten Begriffs- und Systemdenkens im Verwaltungsrecht. Überhaupt scheint in der Thematisierung des Verhältnisses von „Rechtssystem und wissenschaftlichem System“35 sowie in der dabei behaupteten kategorialen Unterscheidung des rechtspraktischen vom rechtswissenschaftlichen Systemdenken im Verwaltungsrecht eine ideelle, wissenschaftstheoretisch und methodisch substantielle Vorstellung von dem zu fehlen, was gerade das wissenschaftliche Begriffs- und Systemdenken im Unterschied zu demjenigen bloß anwendungsgezogener Rechtsdogmatik, einer bloßen Rechtskunde vom positiven Recht, ausmacht. Sicherlich können Rechtssetzung und Rechtspraxis auf der einen Seite sowie die Rechtswissenschaft auf der anderen Seite dadurch unterschieden werden, dass lediglich der Rechtssetzung und der betreffenden Rechtspraxis Verbindlichkeit und Bindungswirkung zukommt und dass nur von der Rechtspraxis ein dementsprechender rechtlicher Geltungsanspruch für sich behauptet werden kann. Aber damit wird überhaupt nicht der Frage nachgegangen, worin auf der anderen Seite, auf Seiten der Verwaltungsrechtswissenschaft überhaupt die erkenntnistheoretische Voraussetzung und die wissenschaftstheoretische Sinnhaftigkeit praktischer Wissenschaft im Unterschied zur bloßen Praxis des rechtlichen Entscheidens und Handelns besteht.
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Hilbert (Fn. 1), S. 233 ff. Dazu die Erörterung bei Hilbert (Fn. 1), S. 132 ff.
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3. Die Antwort auf die Frage nach dem, was die Verwaltungsrechtswissenschaft im Unterschied zur Rechtspraxis bzw. zur bloßen anwendungsbezogenen Rechtsdogmatik und Rechtskunde ausmacht, und worin demzufolge überhaupt das Vermögen der Verwaltungsrechtswissenschaft zu einer rechtswissenschaftlichen Begriffs- und Systembildung im Verwaltungsrecht begründet ist, bedarf einer rechtstheoretisch fundamentalen Positionsbestimmung und Vorstellung zur Möglichkeit und Voraussetzung praktischer Wissenschaft überhaupt. Sie kann nur in der Erkenntnistheorie des transzendentalen Idealismus, in deren Kritik praktischer Vernunft, speziell in deren praktischer Vernunftphilosophie vom Recht gefunden werden.36 Danach ist die Verwaltungsrechtswissenschaft wie jede praktische Wissenschaft dadurch gekennzeichnet, dass ihre Lehren nicht nur aus Aggregaten bestehen, dass sie vielmehr eine systematische Einheit bilden und demzufolge nicht ohne eine einheitsstiftende Idee denkbar sind.37 Die betreffende, im Bereich praktischer Wissenschaft mögliche Begriffs- und Systembildung gilt einem Inbegriff von Sätzen bzw. Lehren, die zusammengenommen als ein Ganzes betrachtet werden können und eine geordnete Struktur bilden.38 Mit anderen Worten kann keine praktische Wissenschaft zustande gebracht werden, ohne dass hierbei eine Idee zugrunde gelegt wird.39 Jener in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie des transzendentalen Idealismus zugrunde gelegte, für den Bereich von dessen praktischer Philosophie und speziell des Rechts gültige Wissenschaftsbegriff ist denn auch imstande, das in seinen Voraussetzungen und in seiner Bedeutung zu erklären, was in der Ideengeschichte der Verwaltungsrechtslehre anlässlich von deren bekannter, als maßgeblich betrachteter Grundlegung im Ausgang der spätkonstitutionellen Verfassungsepoche geschehen ist sowie eine Verwaltungsrechtswissenschaft noch heute gerade unter dem Bedingungen der Gegenwart wissenschaftstheoretisch und methodisch bestimmt.40 Es ist die Grundlegung einer spezifisch juristischen Methode, einer rechtswissenschaftlichen Begriffsund Systembildung im Bereich von Verwaltung und Verwaltungsrecht sowie die Ausbildung einer solchen Verwaltungsrechtswissenschaft aus der schon damals, wenn auch erst unter den verfassungsgeschichtlichen Bedingungen des Spätkonstitutionalismus vergegenwärtigten Idee verfassungsstaatlicher Ordnung, jedenfalls einer schon spezifisch rechtsstaatlichen Verwaltung. Jene Entwicklung ist in mehr oder weniger als solche bekannten Schriften erfolgt und kann in ihrer Bedeutung als Ideewerdung der Verwaltungsrechtswissenschaft nicht nochmals nachdrücklich 36
Zur praktischen Vernunftidee vom Recht Nachw. in Fn. 6. Wunderlich, Kant-Lexikon (hrsgg. von Willascheck u. a.), Band 3, 2015, S. 2670. 38 Wunderlich, (Fn. 37), S. 2671 f. 39 Wunderlich, (Fn. 37), S. 2672. 40 Zur Begründung der Verwaltungsrechtslehre als Verwaltungsrechtswissenschaft im „Deutschen Verwaltungsrecht“ von Otto Mayer (Fn. 24). Aus einer reichen Literatur dazu Dennewitz, Die Systeme des Verwaltungsrechts 1948, S. 122 ff., Heyen, Otto Mayer – Studien zu den geistigen Grundlagen seiner Verwaltungsrechtswissenschaft, 1981 und Hueber, Otto Mayer – Die „juristische Methode“ im Verwaltungsrecht, 1982. Ferner zu Otto Mayer bei E. Kaufmann, VerwArch 30 (1925), 40 ff. 37
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genug vergegenwärtigt und in Erinnerung gebracht werden, ungeachtet des Risikos auch einer Legendenbildung.41 4. Die ideengeschichtliche und spezifisch verwaltungsgeschichtliche Voraussetzung überhaupt für die über das neunzehnte Jahrhundert hin sich vollziehende und letzten Endes entstandene „juristische“ Idee einer Verwaltungsrechtswissenschaft ist selbstredend die Ablösung der sogenannten landesherrlichen Policeyverwaltung und der entsprechenden Policeywissenschaft in deren historischem, epochal bestimmtem und bezeichnetem Sinne gewesen sowie die bekanntermaßen im Zuge erster rationaler Staatsreformen und infolge frühkonstitutioneller Auffassungen und Entwicklungen im Staatsrecht entstandene staatswissenschaftliche Methode.42 Die Annahme eines eigenständigen Rechtsgebiets vom öffentlichen Recht, d. h. auch vom Verwaltungsrecht, verbindet sich erst mit der um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erfolgenden wissenschaftstheoretischen Entwicklung des staatsrechtlichen Positivismus.43 Speziell bemerkenswert ist dabei im Hinblick auf die ideengeschichtliche Genese des Verwaltungsrechts und seiner Idee die Begriffsentwicklung des subjektiven öffentlichen Rechts, obgleich nicht eindeutig und abschließend erkennbar ist, ob jene damalige Grundlegung „öffentlicher Rechte“ neben deren staatsorganisationsrechtlicher Bedeutung spezifisch auch bereits für das individualrechtliche Verhältnis der Einzelnen zum Staat erfolgt und gerade auch schon als eine ideengeschichtliche Voraussetzung für die „juristische“ Idee vom Verwaltungsrecht gewesen war.44 Jene ideengeschichtlich ursprüngliche, zu Beginn der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre entstandene Begriffsbildung subjektiver öffentlicher Rechte hat eine nachhaltige, spezifisch rechtswissenschaftliche Entfaltung erst in der bekannten, auf staatstheoretischer Grundlage entstandenen Lehre betreffender gesetzlicher Statusverleihungen gegenüber dem Staat gefunden.45 Ein unmittelbarer Einfluss auf die ideengeschichtliche Entwicklung der Idee einer Verwal41 Zur Gefahr einer ideengeschichtlichen Legendenbildung, vornehmlich zum Ende jener Entwicklung in Otto Mayers Deutschem Verwaltungsrecht Heyen, (Fn. 40), S. 1. 42 Dennewitz (Fn. 40), S. 12, 29 ff., 41 ff., 47 ff., Stolleis, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Veraltungsrechts, Band I, 2006, § 2 Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft, Rn. 8 ff. bzw. 26 ff., insb. zu den betreffenden staatswissenschaftlichen Arbeiten bei v. Mohl. 43 Dennewitz, (Fn. 40), S. 82 ff., Feist, Die Entstehung des Verwaltungsrechts als Rechtsdisziplin, 1968, S. 135 ff., Stolleis, (Fn. 42), S. 88 ff. und ders., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, S. 381 ff. Grundlegend die beiden Werke v. Gerbers, Über öffentliche Rechte (1852), Abdr. 1913 sowie Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts (1865), 2. Aufl. 1869 und 3. Aufl. 1880. Zu Werk und Bedeutung v. Gerbers siehe bei Bartlsperger, in: Appel u. a. (Hrsg.), Öffentliches Recht im offenen Staat (Festschrift Wahl), 2011, S. 23 (33 ff.) m. Nachw. sowie vor allem ders., in: Baumeister u. a. (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz (Festschrift Schenke), 2011, S. 17 ff. 44 Bartlsperger, Das subjektive öffentliche Recht als Apriori des Verfassungsstaates, (Fn. 43), S. 28. 45 Sogenannte Statuslehre bei Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte (1892), 2. Aufl. 1905; dazu bei Bartlsperger, (Fn. 43), S. 33 ff.
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tungsrechtswissenschaft dagegen ist nicht feststellbar. Überhaupt ist es fraglich, betrifft allerdings auch nur eine hier nicht weiter erörterungsbedürftige Thematik, ob von der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre und im Zusammenhang mit deren erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischen und methodischen Verwicklungen überhaupt Wirkungen auf die während jener Epoche in Verwaltung und Verwaltungsrecht sich vollziehende Herausbildung einer Idee der Verwaltungsrechtswissenschaft ausgegangen sind. Nicht nur die sukzessive partikularstaatliche Entstehung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit ab 186346 ist ein fachspezifisch verwaltungsrechtlicher Vorgang gewesen. Bemerkenswert ist vor allem, dass, wie allerdings während der Ideengeschichte der Verwaltungsrechtslehre lange Zeit allenfalls beiläufig vergegenwärtigt, schon etwa gleichzeitig mit der Entstehung des staatsrechtlichen Positivismus sowie mit dem Beginn der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, also beträchtliche Zeit vor dem dann erst zum Ende des Jahrhunderts mit nachhaltiger Wirkungsgeschichte entstandenen „Deutschen Verwaltungsrecht“, eine systembegründende Idee der Verwaltungsrechtslehre aufgrund von praktischen Beobachtungen und Erfahrungen aus der Feder eines Praktikers der württembergischen Verwaltung entstanden war.47 In prinzipieller wissenschaftstheoretischer Abwendung von der erwähnten, die frühkonstitutionelle Verwaltung bestimmenden staatswissenschaftlichen Methode ist dabei der Verwaltung erstmals in gleicher Weise wie der Justiz zuerkannt worden, dass sie ebenso „Gesetzesvollzieherin“ und „im Rechtsstaat durchdrungen vom Recht“ ist und dass das öffentliche Recht im objektiven Sinne, insbesondere welches die Verwaltung betrifft, „im Rechtsstaate die Garantie eines gewissen unverletzbaren Kreises der individuellen Berechtigung und ihrer lebendigen Betätigung“ kennt.48 Damit war die Verwaltung in eine Beziehung zum Recht gebracht und einer rechtlichen Untersuchung zugänglich gemacht;49 das Verwaltungsrecht überhaupt ist auf diese Weise als ein System rechtlicher Grundsätze und Einrichtungen begriffen worden gemäß dem rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt und Gesetzesvorrang sowie entsprechender subjektiver öffentlicher Rechte der Einzelnen.50 Allerdings ist die von da an ideengeschichtlich vorgezeichnete weitere Entwicklung der Verwaltungsrechtslehre zur wirkungsgeschichtlich nachhaltigen Idee einer Verwaltungsrechtswissenschaft noch einmal unterbrochen worden durch eine erneute Behauptung einer staatswis46
Dazu Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtslehre, 1880. Friedrich Franz Mayer, Grundzüge des Verwaltungs-Rechts und -Rechtsverfahrens, 1857 und ders., Grundsätze des Verwaltungsrechts, 1862. Dazu Fricker, ZgStW 20 (1864), 602 ff., Dennewitz (Fn. 40), S. 66 ff., Heyen, Der Staat 22 (1983), S. 25 (27), Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee (Fn. 1), S. 2, Stolleis (Fn. 42), S. 86 sowie vor allem und speziell Ishikawa, Friedrich Franz von Mayer, 1922; bei dem Letzteren, S. 23 ff. weitere Nachw. zur Würdigung der ideengeschichtlichen Bedeutung der verwaltungsrechtlichen Arbeiten des 1866 in den württembergischen Personaladel erhobenen Friedrich Franz v. Mayer. 48 Friedrich Franz Mayer, Grundzüge, (Fn. 47), S. 1 f. bzw. 7. 49 Friedrich Franz Mayer, Grundzüge, (Fn. 47), S. 64, ff., und 73 ff. 50 Ishikawa (Fn. 47), S. 191 ff. 47
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senschaftlichen Methode der Verwaltung51 sowie durch die sukzessive vorgängigen landesgesetzlichen Regelungen einer Verwaltungsgerichtsbarkeit.52 Aber die Idee von einer unter einer seinerzeit konstitutionellen Ordnung gewaltenteilend sowie rechtsstaatlich gebundenen und kontrollierbaren Verwaltung war in der Welt, um dann auch zu einer begriffs- und systembildenden Verwaltungsrechtswissenschaft zu führen und nicht zuletzt in wissenschaftstheoretischer und methodischer Hinsicht das Verwaltungsrecht als Gegenstand der Rechtswissenschaft anstelle nur einer Realwissenschaft von der Verwaltung zu behaupten sowie in seiner „juristischen“ Geltung gegenüber einer wie auch immer theoretisch beurteilten Faktizität zu begründen und zu gewährleisten. Es waren schon die ideengeschichtlichen Voraussetzungen vorhanden für eine dann mit dem bekannten „Deutschen Verwaltungsrecht“ im Jahre 1895 nachhaltig begründete Verwaltungsrechtswissenschaft und deren spezifisch rechtswissenschaftliche Begriffs- und Systembildung im Verwaltungsrecht.53 5. Im thematischen Rahmen der hier aufgegriffenen Frage nach der Ideewerdung sowie nach der spezifischen Entwicklung und Behauptung von Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtslehre gegenüber deren ideengeschichtlich staatswissenschaftlicher Ausgangslage und gegenüber den angesprochenen zeitgeschichtlichen Tendenzen eines Rechtsrealismus in der Verwaltung erscheint es gerechtfertigt, eine Vergegenwärtigung und Erörterung der spezifisch juristischen Methode jenes „Deutschen Verwaltungsrechts“ von 1895 hintanzustellen. Die Thematik, in welcher wissenschaftstheoretischen und methodischen Beziehung jene nachhaltig wirksam gewordene verwaltungsrechtliche Begriffs- und Systembildung zu den methodischen Verwicklungen in der neueren Ideengeschichte der Staatsrechtslehre gestanden hat, ist für die Begriffs- und Systembildung der Verwaltungsrechtslehre gewiss auch von grundlegender Bedeutung und dementsprechend schon mehr oder weniger ergiebig erörtert worden.54 Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zum begriffsjuristischen Formalismus des die spätkonstitutionelle Epoche bestimmenden staatsrechtlichen Positivismus.55 Auch erscheint es im gegenständlichen, thematisch vorrangigen Zusammenhang kaum relevant und im Übrigen offensichtlich auch schwer beurteilbar, ob und gegebenenfalls in welcher Weise die in jenem Werk selbst angesprochene angebliche Nähe zur Staatsrechtlehre bzw. Staatauffassung der geschichtsphilosophi51 So Ishikawa (Fn. 47), S. 22 zur Wiederkehr der staatswissenschaftlichen Methode in der „Verwaltungslehre“ Lorenz von Steins (1866/68). 52 Dazu Nachw. Fn. 46. Ferner zur Entwicklungsepoche des Verwaltungsrechts nach 1871 Feist (Fn. 43), S. 127 f., 148 ff. und 172 ff., Dennewitz (Fn. 40), S. 55 ff. und 60 ff., Stolleis (Fn. 25), S. 384 ff. 53 Fleiner (Fn. 29), S. 43 f. 54 Heyen (Fn. 40), S. 180 ff., Hueber (Fn. 40), S. 15 ff. und namentlich bezüglich des Verhältnisses bzw. der Distanz zur Methode des staatsrechtlichen Positivismus ders., S. 18 ff. 55 Hueber, (Fn. 40), S. 18 ff., 155 und 158, Vesting, in: Trute u. a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 233/240 ff.; bezeichnend für die schwierige methodologische Einordnung jenes Werkes ist die Beurteilung, dass es sich um den Fall einer „historisch-realistischen Konstruktionsjurisprudenz“ handele (Heyen, (Fn. 40), S. 192).
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schen Vernunftmetaphysik auch wirklich besteht.56 Die ideen- und wirkungsgeschichtlich prägende und nachhaltige Bedeutung jenes „Deutschen Verwaltungsrechts“ von 1895 liegt für das Verwaltungsrecht vielmehr in dessen Grundlegung bzw. in dessen damaliger Weiterentwicklung und Präzisierung zu seiner rechtsstaatlich normativen Idee sowie für die Verwaltungsrechtslehre in der Klarstellung ihrer wissenschaftstheoretisch „juristischen“ Funktion. Erklärtermaßen hat die ideengeschichtliche Wirkungsentfaltung jenes Werkes in dem rechtswissenschaftlichen Nachweis gelegen, dass das Verwaltungsrecht seine Voraussetzung in der Idee vom Verfassungsstaat hat, von einer staatsrechtlichen Ordnung, die „einer Volksvertretung Anteil gibt an der Staatsgewalt durch Mitwirkung bei der Gesetzgebung“ und in welcher die „verfassungsmäßige Trägerschaft der obersten Gewalt“ sowie das „Ganze der staatlichen Tätigkeit sich in der Dreiteilung von Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung darstellt.57 Es ist also die Idee der gewaltenteilend rechtsstaatlichen Ordnung des Verfassungsstaates, die unbeschadet ihrer damals verfassungsgeschichtlich erst spätkonstitutionellen Verwirklichung der Verwaltungsrechtswissenschaft in deren neuerer Ideengeschichte ihre spezifisch normative Idee gegeben hat. Freilich handelt es sich dabei um eine ideelle Voraussetzung jener Verwaltungsrechtswissenschaft, die in ihrer Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte erst nochmals ein Verständnisproblem aufgegeben hat und insofern einer deutlichen Klarstellung bedarf. Es geht um das gerade unter der die gesamte Rechtsordnung weitgehend und intensivst durchdringenden Verfassungsordnung des Grundgesetzes diskutierte Verhältnis von aktuellem Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht, genauer um die Frage nach der Eigenständigkeit von Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft gegenüber dem geschichtlichen Verfassungsrecht. Aktuell ausgelöst hat diese Thematik der zur Rechtssituation unter dem Grundgesetz plakativ geäußerte Satz „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“.58 Aber sie geht zurück auf die im Vorwort zur dritten Auflage jenes „Deutschen Verwaltungsrechts“ 1923 nach dem Verfassungsumbruch zur republikanischen Verfassungsordnung nicht minder plakativ geprägte Sentenz „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht.“59 Im Hinblick auf die hier anstehende und erörterte Frage nach der wissenschaftstheoretischen und methodischen Grundlegung der Verwaltungsrechtswissenschaft in der Idee verfassungsstaatlicher Ordnung handelt es sich lediglich um ein 56
Zu jener Thematik „Otto Mayer und Hegel“ siehe Hueber, (Fn. 40), S. 160 ff. Otto Mayer (Fn. 24), Erster Band, 3. Aufl. 1923, S. 1 f. Die besagte verfassungsstaatliche Ideengebung des Verwaltungsrechts war nicht dadurch ausgeschlossen, dass seinerzeit noch die spätkonstitutionelle staatsrechtliche Ordnung, d. h. eine rechtsstaatlich geprägte monarchische Verfassungsordnung, bestanden hat; Heyen (Fn. 40), S. 129 f. sowie zu den seinerzeit von Otto Mayer vorgefundenen staatsrechtlichen Voraussetzungen des Verfassungsstaates Stolleis (Fn. 42), Rn. 60 ff. 58 Werner, DVBl. 1959, 527 ff. 59 Zu der betreffenden Thematik Bachof (Fn. 14), S. 195 f. und 204 f., Möllers, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006, § 3 Methoden Rn. 13 sowie Michael und Wollenschläger, Verfassung im Allgemeinen Verwaltungsrecht, VVDStRL 75 (2016), S. 131 ff. bzw. S. 187 ff. 57
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Scheinproblem. Denn es geht insofern gar nicht um die anwendungsbezogene rechtsdogmatische Frage nach der rechtskonkretisierenden Abhängigkeit des Verwaltungsrechts vom spezifisch einschlägigen geschichtlichen Verfassungsrecht; dieses normativ sukzessive Abhängigkeitsverhältnis ist unter verfassungsstaatlichen Voraussetzungen ohnedies selbstverständlich. Vielmehr ist es die Grundlegung konstruktiver Abhängigkeit der rechtswissenschaftlichen Begriffs- und Systembildung im Verwaltungsrecht von der Idee verfassungsstaatlicher Ordnung als solcher, in welcher jenes „Deutsche Verwaltungsrecht“ zu Recht seine ideengeschichtlich bahnbrechende und nachhaltige Bedeutung hat. Es ist jene vorstehend schon erörterte, ideengeschichtlich bereits vorher erkannte und publizierte,60 aber dann auf die dargelegte Weise in eine rechtswissenschaftliche Form gebrachte wissenschaftstheoretische Grundlegung der Verwaltungsrechtswissenschaft in der Idee des Verfassungsstaats als solcher, die das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht ausmacht und bestimmt, nicht mehr, aber auch nicht weniger. In diesem Verständnis des Verwaltungsrechts aus der Idee vom Verfassungsstaat als solcher hat denn auch jene erwähnte, im Jahre 1923 geprägte Sentenz „Verwaltungsrecht besteht, Verfassungsrecht vergeht“ ihren Sinn und ihre Bedeutung, wonach die rechtswissenschaftliche Begriffs- und Systembildung im Verwaltungsrecht jedenfalls nicht vom geschichtlich konkreten Verfassungsrecht abhängt. Damit ist in jenem „Gründungsbuch des Verwaltungsrechts“61 ausdrücklich bekundet worden, dass es die Idee verfassungsstaatlicher Ordnung als solche ist, in welcher die Verwaltungsrechtswissenschaft ihre ideelle Grundlage hat. Selbstredend ist diese in wissenschaftstheoretischer Hinsicht eine normative Grundlage aufgrund der apriorisch normativen Idee vom Verfassungsstaat. Die Veraltungsrechtswissenschaft hat ihren „staatswissenschaftlichen Ballast“ abgeworfen.62 Indessen ist nicht zu vergessen und nicht zu bestreiten, dass die Verwaltung über jener Errungenschaft ihrer juristischen Methode, ihrer rechtswissenschaftlichen Begriffs- und Systembildung, auch eine staatwissenschaftliche Seite hat und dass sie die anderen, auf sie bezogenen Wissenschaften braucht.63 Der eingangs im Hinblick auf aktuelle Tendenzen angesprochene sogenannte steuerungswissenschaftliche Ansatz64 mag darin seine wissenschaftstheoretische Rechtfertigung suchen wollen. Nur bleibt hiermit eine fundamentale wissenschaftstheoretische Problematik um die Verwaltungsrechtswissenschaft verbunden. Um deren wissenschaftstheoretischem und methodischem rechtswissenschaftlichen Charakter gerecht zu werden, ist denn auch festzuhalten versucht worden, dass die betreffenden sozialwissenschaftlichen Steuerungsvorstellungen die „Grenzen des Konzepts“ erkennen und die „bleibende Bedeutung des Rechts“ respektieren müssen, ein sozial60
Nachw. in Fn. 47. Stolleis (Fn. 42), Rn. 60. 62 Stolleis (Fn. 42), Rn. 58. 63 Bachof (Fn. 14), S. 217 f., 220 und 222. 64 Nachw. Fn. 1.
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technisches Missverständnis des Verwaltungsrechts zu vermeiden und die Leistungsgrenzen aller Steuerungsvorstellungen gegenüber dem Verwaltungsrecht im Blick zu behalten hätten.65 Es erscheint jedoch prinzipiell fragwürdig, ob dies angesichts des eigenständigen wissenschaftstheoretischen Anspruchs jenes steuerungswissenschaftlichen Konzepts zu gewährleisten ist; jedenfalls von Seiten der betreffenden, ebenfalls zu einem sozialwissenschaftlichen Steuerungsansatz gelangenden, in einer materialistischen Rechtsauffassung gründenden politischen Philosophie66 ist es auch gar nicht zu erwarten. Der erkenntnistheoretisch und wissenschaftstheoretisch prinzipiell realwissenschaftliche Charakter des steuerungswissenschaftlichen Ansatzes richtet sich prinzipiell gegen eine in der Idee normative Rechtswissenschaft und setzt die „Faktizität“ gegen eine „Geltung“ des Rechts. III. Rechtswissenschaft gegen Realwissenschaft – Rechtsgeltung gegen Faktizität 1. Der steuerungswissenschaftliche Ansatz zu Verwaltung und Verwaltungsrecht richtet sich in seiner erkenntnistheoretisch wissenschaftstheoretischen Sinngebung prinzipiell gegen eine normativistische Deutung von Recht und Rechtswissenschaft; er erkennt das Recht ausschließlich als eine soziale Tatsache und beurteilt die Rechtswissenschaft als eine Realwissenschaft, speziell als eine Sozialtechnologie.67 In deren wissenschaftstheoretischer Funktion hat das Recht keine normative, sondern eine faktische Geltung.68 Anstelle der normativen, im verfassungsstaatlichen Sinne rechtsstaatlichen Idee von Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft tritt „eine anzustrebende adäquate Ordnung des sozialen Lebens, die unter dem Einfluss praktischer Entscheidungen in dauernder Entwicklung begriffen ist.“69 In erkenntnistheoretischer Hinsicht überträgt das wissenschaftstheoretisch steuerungswissenschaftliche Modell die Erklärungsweise der Naturwissenschaften auf den Bereich des Rechts.70 Anstelle einer normativistischen Rechtswissenschaft tritt das naturalistisch-empirische Programm einer Sozialwissenschaft, speziell einer auf den Bereich der Gesellschaft gerichteten politischen Ökonomie.71 Es handelt sich um ein mit der normativen Idee der Rechtswissenschaft, speziell auch mit der normativen Idee einer verfassungsstaatlich rechtsstaatlichen Verwaltungsrechtswissenschaft prinzipiell unvereinbares wissenschaftstheoretisches Konzept; dieses richtet sich mit einem wissenschaftstheoretischen Ausschließlichkeitscharakter gerade direkt gegen die Normativität des Rechts und kann deshalb auch gar nicht mit 65 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee (Fn. 1). S. 21 f. und 24 ff. 66 Fn. 28. 67 Albert, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, 1993, S. 7, 10 ff und 12 ff. 68 Albert (Fn. 67), S. 19 ff. 69 Albert (Fn. 67), S. 35. 70 Albert, Traktat über rationale Praxis, 1978, S. 62 ff. und 65 ff. 71 Albert (Fn. 70), S. 63.
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der Verwaltungsrechtslehre als ein methodisches Element derselben verbunden werden, wie dies bei Anhängen eines sogenannten steuerungswissenschaftlichen Ansatzes im Rahmen des Verwaltungsrechts angenommen werden mag. Indes wird mit dem sogenannten steuerungswissenschaftlichen Ansatz die Rechtswissenschaft überhaupt verlassen und ein Rechtsrealismus an deren Stelle gesetzt. 2. In der Sache nicht zuletzt gehört der für das Verwaltungsrecht angenommene bzw. geforderte sogenannte steuerungswissenschaftliche Ansatz in die zeitgeschichtliche Ideenwelt einer spezifisch sozialwissenschaftlichen Rechtstheorie sowie einer aus materialistischer Gesellschafts- und Staatskritik begründeten politischen Philosophie. Der erstere theoriengeschichtliche Zusammenhang besteht mit der sogenannten Systemtheorie, die das Recht allein unter dem positivistischem Gesichtspunkt einer Stabilisierung sozialer Verhaltenserwartungen begreift.72 Schließlich wird die sozialwissenschaftliche Steuerungstheorie von jener zeitgeschichtlich präsenten politischen Philosophie in Anspruch genommen, die dem juristischen Normativismus mit der politökonomischen Kritik entgegentritt, dass Recht und Rechtswissenschaft der Gegenwart sowie die Idee des Staates sich aus der Selbststabilisierung der bürgerlichen Gesellschaft erklärten73 und dass an deren Stelle ein sozialwissenschaftlicher Rechtsdiskurs und ein deliberatives Politiksystem zu treten hätten.74 Auch für Verwaltung und Verwaltungsrecht bedeutete dies, dass an die Stelle der „Geltung“ des Rechts die „Faktizität“ eines aus einem Rechtsdiskurs entstehenden Rechtsrealismus zu treten hätte. In der objektiven Konsequenz bewegt sich das in aktuellen Tendenzen dem Verwaltungsrecht angesonnene Konzept eines sogenannten steuerungswissenschaftlichen Ansatzes im wissenschaftstheoretischen Bereich eines prinzipiellen erkenntnistheoretischen Rechtsrealismus bzw. einer politischen Philosophie von der Faktizität des Rechts.
72 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981 und ders., Legitimation durch Verfahren, 1969; dazu Habermas, (Fn. 28), S. 70 ff. 73 Habermas, (Fn. 28), S. 64 ff. 74 Habermas, (Fn. 28), S. 90 ff. und 305 f.
Privatrechtliche Qualitätssicherungsverfahren im Verwaltungsrecht Von Max-Emanuel Geis, Erlangen I. Einleitung Die Beschäftigung mit Mechanismen der Selbstregulierung gehört im Œuvre des Jubilars zu den bestimmenden Elementen. Die Sicherung von Qualität – sei es von Produkten, sei es von Dienstleistungen, sei es schließlich von Prozessabläufen in Organisationen – kann theoretisch einmal durch öffentlich-rechtliche, subordinationsrechtliche Kontrollmechanismen verwirklicht werden (klassischerweise durch das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt1). Die Alternative ist, in einschlägigen Handlungsfeldern den beteiligten privaten Akteuren die Möglichkeit einzuräumen, erforderliche Regeln selbst aufzustellen und damit die Regulierung dem Markt zu überlassen, was einen hoheitlichen Zugriff des Staate entbehrlich macht. Dieser Ansatz ist ein zutiefst liberaler Gedanke; er geht letztlich auf drei Wurzeln zurück, die freilich eng ineinander verflochten sind. 1. Historisch-politische Wurzel Eine wesentliche Wurzel ist die Renaissance des Marktdenkens in der westlichen Welt ab Anfang der 80er Jahre (Neoliberalismus),2 das in Deutschland durch den Regierungswechsel zur konservativ-liberalen Koalition Kohl 1982 repräsentiert wird. Dies führte zu einem flächendenkenden Umbau von öffentlichen Einrichtungen in privatrechtliche Unternehmensformen, sei es durch formale Privatisierung (die öffentliche Hand bleibt maßgeblicher Anteilshalter), sei es durch materielle Privatisierung (Verlagerung auf „echte“ staatsferne Organisationen).3 Privatisierung wurde zum Allheilmittel hochstilisiert, um die wirtschaftliche Stagnation am Ende der sozialliberalen Regierung Schmidt und die stark gestiegene Staatsquote zu senken. Durch den Entfall starrer haushaltsrechtlicher Bindungen (etwa die Möglichkeit der Thesaurierung von Erträgen), die Implementation betriebswirtschaftlichen Den1
Vgl. Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 9 Rn. 51 ff. Europäisches Paradigma: der Thatcherismus; amerikanisches Pendant: Reaganomics. Aus dem unübersehbaren Schrifttum zusammenfassend: Willgerodt, ORDO 57 (2006), 47 ff. m.w.N. 3 Zu den verschiedenen Ebenen der Privatisierung vgl. statt vieler Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 71 ff.; Geis, Kommunalrecht, 4. Aufl. 2017, S. 203 ff. 2
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kens, die Einführung eines gewinnorientierten Managements im Bereich der Erfüllung öffentlicher Aufgaben4 und nicht zuletzt bessere Vergütungsmöglichkeiten für das Leitungspersonal durch ansehnlich dotierte Angestelltenverträge statt „kärglicher“ Beamtengehälter sollte Effizienzverlusten bürokratischer Systeme entgegengewirkt werden.5 Eine spezielle Variante sind die Public Private Partnerships („PPP“) ab den späten 80er Jahren, die den langsamen Übergang von der reinen Organisationsprivatisierung in eine materielle kennzeichnen und darauf abzielen, privates fachliches Knowhow für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben nutzbar zu machen).6 Vor allem auf kommunaler Ebene verströmten diese Modelle Musik in den Ohren von Bürgermeistern und Kämmerern, da sich die chronisch klammen Gemeinden davon maßgebliche Entlastung versprachen, entfiel doch damit das Vorhalten defizitärer öffentlicher Einrichtungen. Staatstheoretisch wird diese Entwicklung durch den Rückzug des Staates aus der öffentlichen Daseinsvorsorge und den Wandel zum „Gewährleistungsstaat“7 umschrieben, forciert nicht zuletzt durch das privatisierungsfreundliche EU-Recht.8 2. Die steuerungswissenschaftliche Wurzel Diese Entwicklung traf zeitlich parallel auf die Botschaften der sog. Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, die ihren Niederschlag v. a. in dem dreibändigen Handbuch „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ gefunden hat: Der zentrale – aus der empirischen Sozialwissenschaft importierte – Gedanke ist, dass die traditionelle staatliche Steuerung durch rechtliche, subordinativ angelegte Ge- und Verbote nur noch bedingt geeignet ist, den immer komplexeren und ausdifferenzierteren Gesellschaftsstrukturen gerecht zu werden; statt dessen wird auf die Errichtung von „GovernanceStrukturen“ gesetzt, in denen verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure auf
4 Vgl. statt vieler Schliesky, in: Mann/Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, 2011, § 47 Rn. 4; Knauff, in: Schmidt/Wollenschläger (Hrsg.), Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2015, § 6 Rn. 10, 12 f.; Alfen/Fischer, in: Weber/ Schäfer/Hausmann (Hrsg.), Public Private Partnership, 2006, S. 3. 5 Allerdings ging die Staatsquote, die 1975 ihren Spitzenwert von 48,8 % erreicht hat, auch nach dem Regierungswechsel 1982 nicht zurück und erreichte durch die Zusatzbelastungen der Wiedervereinigung (Treuhand) 1995 sogar das Allzeithoch von 54,7 %. In jüngster Zeit bewegt sie sich bei 44,2 % (Quelle: BMF, Monatsbericht November 2017), womit sie im europäischen Mittelfeld liegt. 6 Exemplarisch Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz v. 3. 8. 1994 (BGBl. I, 243), zul. geändert durch Art. 20 des Gesetzes vom 14. 8. 2017 (BGBl. I, 3122); Gesetz zur Beschleunigung der Umsetzung Öffentlich Privater Partnerschaften und zur Verbesserung gesetzlicher Rahmenbedingungen für Öffentlich Private Partnerschaften v. 1. 9. 2005 (BGBl. I, 2676). 7 Die Literatur ist fast unüberschaubar. Statt vieler Franzius, Der Staat 45 (2006), 547 ff.; Schuppert, Der Gewährleistungsstaat – ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005. 8 Franzius, Gewährleistung im Recht: Grundlagen eines europäischen Regelungsmodells öffentlicher Dienstleistungen, 2009; Krausnick, Staat und Hochschule im Gewährleistungsstaat, 2011, S. 28.
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unterschiedlichen Ebenen zur Regelung kollektiver Sachverhalte zusammenwirken.9 Je nach Aufgabenfeld geht dabei die Dominanz des privaten Handelns soweit, dass sich der Staat aus dem aktiven Bereich ganz auf die Funktion als „Gewährleistungsstaat“ zurückzieht, der nur dann tätig wird (bzw. werden muss), wenn die private Selbstregulierung versagt oder Unwuchten aufweist. Dem entspricht der vor allem in den letzten Jahrzehnten starke Trend von der vorherrschenden (formalen) Organisationsprivatisierung über die funktionale Privatisierung hin zur materiellen Privatisierung.10 3. Die systemtheoretische Wurzel Abstrakt überhöht werden diese Ansätze schließlich durch die systemtheoretischen Modelle sich selbst regulierender, „autopoietischer“ Systeme, wie sie von Niklas Luhmann und Günther Teubner beschrieben wurden:11 Idealerweise steuert sich das System selbst und reagiert bei Störungen durch eigene Wiederherstellungsmechanismen. In leicht modifizierter Weise heißt das: Es wird darauf vertraut, dass die Selbstregulierungskräfte funktionieren, und nur dann und gelegentlich, wenn das System zu entgleisen droht, eines Impuls von außen bedarf, um wieder in die Spur zu finden. All dies gehört mittlerweile zum öffentlich-rechtlichen Standardfundus. Der Jubilar hat indes von Anfang der wissenschaftlichen Grundlegung dieser Entwicklung an wesentlichen Anteil, namentlich durch sein Referat „Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung“ auf der Dresdener Staatsrechtslehrertagung 1996 (zusammen mit Udo Di Fabio), aber auch durch viele weitere einschlägige Publikationen maßgeblich beigetragen.12 Er hat seinerzeit die Entwicklung prägnant als Prinzipienwende von imperativer Gestaltung hin zu gesellschaftlicher Selbstregulierung bezeichnet. Er hat allerdings auch betont, dass aus Gründen der demokratischen Legitimation zwingend eine Zugriffsoption des Staates verbleiben müsse, die im Fall der gesellschaftlich-selbstregulativen Schlechterfüllung – wie Schmidt-Aßmann es formuliert hat – eingreifen müsse. 9 Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 21 und passim. 10 Exemplarisch der europaweite Streit um die Privatisierung der Wasserversorgung oder die Privatisierung des Universitätsklinikums Gießen/Marburg durch Verkauf an die Rhönkliniken AG. 11 Luhmann, Soziale Systeme, 1984; Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 21 ff. 12 Exemplarisch Schmidt-Preuß, Selbstregulierung und Privatisierung in der Abfallpolitik. 2001; ders., in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. 2, 2. Aufl. 2010, § 55, S. 2887 ff.; ders., in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, S. 69 ff.; ders., P. Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, 2005, S. 19 ff.
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War in den neunziger Jahren der Anwendungsbereich der Selbstregulierung noch fast ausschließlich auf die Gebiete Wirtschaft und Umwelt gerichtet, geriet kurz vor der Jahrtausendwende auch der Hochschulbereich in die Fänge der Selbstregulierung, im Rahmen der forcierten Implementation des Prinzips „Wettbewerb“ im Hochschulbereich.13 II. Referenzbereiche 1. Wirtschaft und Umwelt a) Beispiel 1: Duales System Deutschland (DSD) Eines der ersten Selbstregulierungsmodelle war das Duale System Deutschland (DSD), das von der im September 1990 gegründeten „Der Grüne Punkt, Duales System Deutschland, Gesellschaft für Abfallvermeidung und Sekundärrohstoffgewinnung GmbH“ getragen wird. In der Politik herrschte am Anfang der 90er Jahre Einigkeit, dass zur Müllvermeidung im Getränkebereich Mehrwegsysteme und eine Wertstofftrennung zum Recycling eingeführt werden sollten; dies sollte durch eine Rückgabe-/-nahmepflicht bez. der Verpackungen über den Handel an die Hersteller erfolgen; diese Leitgedanken sollten sich im Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz von 1996 niederschlagen. Damit wollte die freie Wirtschaft, namentlich ein Verbund in Deutschland tätiger Unternehmen der Lebensmittel- und Verpackungsbranche (z. B. Remondis und VEOLIA), den restriktiven Regelungen zuvorkommen, die ein besonderes Interesse an der Abwendung der in den Entwürfen zur Verpackungsverordnung vorgesehenen Rücknahmepflichten hatten. So wurde das DSD als quasi zweites Entsorgungssystem zusätzlich und parallel („dual“) zum bestehenden öffentlich-rechtlichen Abfallbeseitigungssystem aufgebaut. Im Mittelpunkt der Aufgabentätigkeit des DSD steht die Realisierung der getrennten Sammlung, Sortierung und Verwertung der mit dem Grünen Punkt versehenen Verbrauchspackungen in privater Verantwortung.14 Hierbei werden genannte Tätigkeiten auf der Grundlage privatrechtlicher Verträge von privaten oder kommunalen Entsorgungsunternehmen im Auftrag des DSD ausgeführt. Ziel des Dualen Systems ist eine verbesserte Abfallvermeidung mit geschlossenen Stoffkreisläufen. Diese soll anhand marktwirtschaftlich kooperativer Lösungen gebildet und von der Verpackungsverordnung – durch bspw. die Setzung von Erfassungs- und Verwertungsvorgaben – begleitet werden.15 Die zunächst freiwillige Partizipation an einem Dualen 13 Vgl. etwa ein Gutachten der Monopolkommission; dazu ausf. Geis, VVDStRL 69 (2009), 364 (366 f.); Bumke, ebd., 407 ff. 14 Schmidt-Preuß, Selbstregulierung und Privatisierung in der Abfallpolitik, S. 3. 15 Finckh, Regulierte Selbstregulierung im Dualen System, S. 25, 27, m.w.N.; Di Fabio, NVwZ 1995, 1 (3). Zu rechtlichen Schwierigkeiten im Hinblick auf das neue Verpackungsgesetz (VerpackG) siehe Brandt, NuR 2017, 305 ff.
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System wurde für Hersteller und Vertreiber, die erstmalig Verkaufspackungen, die beim Endverbraucher typischerweise anfallen, in den Verkehr bringen, zur Pflicht. Die Möglichkeit, die Rücknahme der Verpackungen selbst zu regeln, entfiel somit. Neben dem DSD stehen mittlerweile weitere neun Systembetreiber eines Dualen Systems zur Auswahl.16 Auch folgen 26 europäische Länder dem Vorbild des Dualen Systems unter dem Dachverband PRO EUROPE, um eine nachhaltige Ressourcenwirtschaft anzustreben.17 b) Beispiel 2: Umwelt-Audit-Verfahren Das Umweltaudit-Verfahren (auch Öko-Audit genannt) entstammt ursprünglich dem amerikanischen Rechtskreis, der von jeher durch privatrechtliches Marktdenken geprägt war: So kam es im Laufe der 70er Jahre in den USA zu umweltbezogenen Prüfungen aufgrund der Securities and Exchange Commission (SEC), die ähnlich einem „financial audit“ eine Bestandsaufnahme des Umweltschutzes in einem Unternehmen durchführen ließ und Informationspflichten für Aktiengesellschaften festlegte, wenn Umweltschutzaspekte betroffen waren. Die SEC prägte den Begriff des „environmental-audit“. Ziel des Öko-Audits ist die Einhaltung und Verbesserung umweltschutzrelevanter Qualitätsstandards durch innerbetriebliche Fortentwicklung umfassender Qualitätsmanagementsysteme und Umweltverantwortlichkeitsstrukturen, die durch einen unabhängigen Umweltgutachter überprüft und sichergestellt werden, der seinerseits durch periodische staatliche Zulassung vom Staat überwacht wird (§ 28 UAG).18 Es stellt daher den Prototyp eines privaten Qualitätssicherungsverfahrens dar, das im Laufe der Zeit immer weiter ausdifferenziert und im Anwendungsbereich ausgedehnt worden ist. aa) EMAS (Eco-Management and Audit Scheme) Im europäischen Raum wurde das Konzept durch die EG-UmwAuditVO v. 29. März 1993 übernommen.19 Organisationen, die an EMAS teilnehmen wollen, haben eine Umwelterklärung zu veröffentlichen, in der sie etwa über die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen ihres Geschäftsgebarens auf die Umwelt, ihre diesbezüglich avisierten Umweltziele und die bereits erreichten Umweltleistungen berichten. Die abzugebende Umwelterklärung wird von einem unabhängigen Umweltgutachter, der einer staatlichen Überwachung unterliegt, auf ihre Richtigkeit 16
Hierzu gehören die BellandVision GmbH, ELS Europäische LizenzierungsSysteme GmbH, INTERSEROH Dienstleistungs GmbH, Landbell AG, NOVENTIZ Dual GmbH, Reclay Vfw GmbH, Recycling Kontor Dual, Veolia Umweltservice Dual GmbH und ZENTEK GmbH & Co. KG. 17 Vgl. dazu http://www.pro-e.org, zuletzt abgerufen am 12. 2. 2018. 18 Köck, VerwArch 87 (1996), 644 ff.; Eifert, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2013; Michael, in: Ehlers/ Fehling/Pünders (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 3, 3. Aufl. 2012, § 16 Rn. 33. 19 VO (EWG), Nr. 1836/93, ABl. L 168.
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hin überprüft und ist jährlich zu aktualisieren. Spätestens alle drei Jahre überprüft der Umweltgutachter im Rahmen der sog. Revalidierung des firmeninternen Umweltmanagementsystem die Einhaltung der Umweltpolitik und der gesetzlichen Regelungen (eine Auswirkung des Compliance-Gedankens) sowie eine sog. „solidierte Umwelterklärung“. Branchen, die diese Überprüfung durch den Umweltgutachter erfolgreich durchlaufen, können sich in das EMAS-Register eintragen lassen (in Deutschland wird dies bei den zuständigen Industrie- und Handelskammern sowie den Handwerkskammern geführt) und dürfen das EMAS-Logo für ihren betrieblichen Umweltschutz führen; Hauptzweck ist der damit im Wettbewerb dienliche Imagegewinn.20 Durch die EMAS II-Verordnung vom 200121 wurde der Anwendungsbereich von ursprünglich nur gewerblichen Unternehmen auf alle Arten von Organisationen (Gesellschaften, Körperschaften, Betriebe, Unternehmen, Behörden oder eine Einrichtung bzw. Teile oder Kombination hiervon, mit oder ohne Rechtspersönlichkeit, öffentlich oder privat, mit eigenen Funktionen und eigener Verwaltung) ausgedehnt. Die Umwelterklärung wird an die Einhaltung der Industrienorm ISO 14001 geknüpft. Auch können Unternehmen mit verschiedenen Standorten nunmehr in einem einheitlichen Verfahren evaluiert werden. Eine weitere Novelle (EMAS III) vom 11. Januar 2010 (1221/ 2009/EG) schuf Lockerungen für kleine und mittlere Unternehmen: Der Erklärungsabgabeturnus wurde auf zwei Jahre, die Gutachtervalidierung auf einen Vier-JahresZeitraum verlängert. Die Anforderungen an den Inhalt der Umwelterklärung wurden konkretisiert, die Mitgliedstaaten aktiv für die Verbreitung in die Pflicht genommen. Die Novellierung der ISO 14001:2015 führte schließlich zu einer weiteren umfassenden Ausdifferenzierung der zu erfüllenden Kern-Indikatoren (EMAS IV- VO 2017/ 1505 v. 28. August 2017). bb) Umsetzung in Deutschland Hauptinstrument für die Umsetzung der EMAS-Verordnungen auf der deutschen Ebene ist das Umweltauditgesetz (UAG) v. 7. Dezember 199522. Dieses installiert ein gemischt öffentlich/privatrechtliches Zulassungs- und Aufsichtssystem, das die freiberuflich tätigen Umweltgutachter in die Pflicht nimmt. Das erinnert ein bisschen an den guten alten Bezirkskaminkehrer, nur dass dieser Beliehener ist, der Umweltgutachter aber nicht mehr. Und das zeichnet auch den Grundkonflikt dieser Entwicklung nach: Wer kein Jünger der Neuen deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft ist, kann sich die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben nur in den Kategorien der Beleihung vorstellen.
20
Michael (Fn.18), Rn. 31. VO (EG) Nr. 7612/2001, ABl. L 114. 22 (BGBl. I, 1591), zul. geändert durch Art. 13 des Gesetzes vom 27. 6. 2017 (BGBl. I, 1966). 21
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c) Genehmigungsfreistellung Ein weiteres Beispiel der Verlagerung auf private Kontrollinstanzen ergibt sich aus den Deregulierungsansätzen im Baurecht: Namentlich die in den meisten Bundesländern mögliche Baugenehmigungsfreistellung lässt die klassische Baugenehmigungspflicht für solche Vorhaben entfallen, die mit den Bestimmungen eines qualifizierten Bebauungsplans (§ 30 BauGB) übereinstimmen. Eine präventive Kontrolle erfolgt also nicht, vielmehr folgt die Konstruktion einer etwas perfiden Vorstellung, die den Nachbarn quasi zum privaten Bauordnungsamt umfunktioniert. Wer je Häuslebauer war, weiß, dass dann die Überwachung wesentlich effektiver und gnadenloser funktioniert als durch staatliche Behörden. Dass die Konstruktion für den Bauherren zudem höchst ambivalent ist, weil er keine Baugenehmigung erhält, die nach Bestandskraft legalisierende Wirkung erzeugt, sondern Rechtsbehelfe Dritter bis zum Eintritt einer Verwirkung gewärtigen muss, stimmt nicht wirklich lustig. Schon hier zeigt sich massiv: Privatisierung kann zwar durchaus zur Flexibilisierung führen, ist aber unweigerlich mit Einbußen im Rechtsschutz verbunden; rechtliche Flexibilisierung in Verbindung mit Rechtsschutzabbau ist aber nicht selten der erste Schritt zur Korruption. 2. Hochschulbereich Auch im Hochschulbereich gibt es Felder, die mit unterschiedlich intensiver Wirkung neoliberale Ansätze aufgegriffen haben. Dazu gehört zum einen die Verleihung von privatrechtlichen Gütesiegeln, die besondere Qualitätsanforderungen attestieren. Dabei reicht die Skala von rein affirmativen Siegeln bis hin zu solchen, an deren Existenz konkrete rechtliche Folgen geknüpft werden, a) Audit: Familiengerechte Hochschule Zur ersteren Gruppe gehören Attestate als Instrument zur Implementierung und Weiterentwicklung familiengerechter Arbeits- und Studienbedingungen. Das Auditzertifikat „Familiengerechte Hochschule“ wurde bis 2016 von der gemeinnützigen Hertie-Stiftung, seit 2016 von der berufundfamilie Service GmbH (unter Schirmherrschaft des BM FamSenFraJu und des BMWi) vergeben23 und soll attestieren, dass im Rahmen einer systematischen Prozesssteuerung der familienfreundlichen Arbeitsgestaltung hoher Stellenwert eingeräumt wird (etwa: flexible Arbeitszeiten, Home-Office-Möglichkeit, Vor-Ort-Betreuung von Vorschulkindern durch hochschuleigene Kitas u. ä.) und dadurch die Attraktivität von Arbeitgeber und -platz deutlich gesteigert wird. Angesicht der Tatsache, dass man sich als Nachwuchswissenschaftler/-in biologisch bedingt zugleich häufig in der Familiengründungsphase bewegt, sind solche Attestate daher nicht uninteressant. 23 http://www.berufundfamilie.de/auditierung-unternehmen-institutionen-hochschule/ab lauf-einfuehrung-audit-berufundfamilie, zul. abger. am 14. 2. 2018.
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b) DHV-Gütesiegel: faire und transparente Berufungsverfahren Verwandt damit ist auch die Erteilung des DHV-Gütesiegels: „Faire und transparente Berufungsverfahren“, das ebenfalls einen wichtigen Teilbereich des Qualitätsmanagements an Hochschulen abdeckt. Hier werden anhand eines ausführlichen Fragebogen typische Entscheidungsfaktoren geprüft, z. B.: Wie lange dauert ein Berufungsverfahren im Durchschnitt?; Wer führt die Verfahren?; Gibt es durchgängige Ansprechpartner?; Wie zügig erfolgt das Berufungsangebot?; Gibt es Dual-Carrier-Optionen?; Bestehen Richtlinien für Tenure-Track-Optionen? etc.24 Das Gütesiegel wird zunächst für drei Jahre vergeben und kann nach einer Re-Auditierung für drei oder fünf Jahre verlängert werden. Obwohl seine Verleihung keine unmittelbare Rechtswirkung hat, kann es doch die Entscheidung über eine Rufannahme wesentlich beeinflussen. Aufgrund des Charakters als öffentlichkeitswirksame Selbstverpflichtung wird zugleich eine imagefördernde kontinuierliche Praxis der Hochschule sichergestellt. c) Das Akkreditierungssystem Dagegen handelt es sich bei der sog. Akkreditierung von Studiengängen um einen Fall einer echten Verfahrensprivatisierung. Im Zuge der Bologna-Reform wurde sie als System der Qualitätssicherung für die konsekutiven Bachelor/Master-Studiengänge eingeführt, um ein System der Vergleichbarkeit der Studiengänge in ganz Europa zu sichern zusammen mit der Einführung des European Credit Transfer System (ECTS), bei dem für die erfolgreiche Ableistung einer bestimmten Arbeitseinheit (Modul) eine bestimmte Anzahl an Punkten im Studiengang zu erbringen sind.25 Dadurch sollten gleich eine ganze Reihe von Zielen verfolgt werden: Der Wechsel von einem staatlichen Genehmigungssystem hin zu einer privaten Zertifizierung setzt die Forderung nach Dezentralisierung (Subsidiaritätsgedanke) ebenso um wie er die Autonomie der Hochschulen (durch Zurücknahme der ministerialen Kontrolle) stärken soll.26 Auch soll dadurch das Ziel einer allgemeinen Deregulierung angestrebt werden.27 Das Modell wurde aus dem US-amerikanischen Hochschulsystem übernommen. Allerdings ist das Hochschulsystem im Gegensatz zu Europa dort rein privatrechtlich organisiert; Qualitätskontrolle findet daher durch den Markt statt, nicht durch staatliche Präventivkontrolle. Die hybride Kombination beider Systeme ist nicht durchweg geglückt und führt zu rechtlichen Friktionen.
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Ausf. www.hochschulverband.de/cms1/guetesiegel.html, zul. abger. am 14. 2. 2018. Für den Erwerb eines Bachelorgrades (BA) 180 ECTS, für einen (konsekutiven) Mastergrad (MA) insgesamt 240 ECTS. 26 Zur Genese Geis, OdW 2016, 193 ff.; Mager, OdW 2017, 237 ff., jew. m.w.N. 27 Der Befund ist hier allerdings ambivalent: Zwar fallen gesetzliche Regelungen weg, im Gegenzug werden sie jedoch durch umfangreiche Kriterienkataloge in Qualitätshandbüchern u. ä. ersetzt. 25
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Organisatorisch wurde durch nordrhein-westfälisches Landesgesetz v. 15. Februar 2005 ein Akkreditierungsrat als Stiftung des öffentlichen Rechts, dessen 18 Mitglieder wie folgt von der HRK/KMK benannt und bestellt werden: vier Vertreter von Hochschulen, vier Ministerialvertreter, fünf Vertreter aus der beruflichen Praxis, zwei Studierende, zwei internationale Experten/-innen, ein/-e Vertreter/-in der Akkreditierungsagenturen. Durch Beschluss der KMK vom 15. Dezember 2005 haben die Länder via Verwaltungsvereinbarung ihre Aufgaben nach § 9 Abs. 2 Hochschulrahmengesetz (gemeinsame Sorge für Gleichwertigkeit, einander entsprechende Studien- und Prüfungsleistungen und Studienabschlüsse) auf diese Stiftung übertragen. Der Akkreditierungsrat akkreditiert seinerseits Akkreditierungsagenturen (regelmäßig gemeinnützige Vereine),28 die dadurch berechtigt werden, das Qualitätssiegel des Akkreditierungsrats zu vergeben: Grundlage des Verfahrens sind die „Ländergemeinsamen Strukturvorgaben der Kultusministerkonferenz“ (2003), die 2007 von der KMK verabschiedeten „Kriterien für die Akkreditierung von Akkreditierungsagenturen“, die „Allgemeinen Regeln zur Durchführung von Verfahren zur Akkreditierung und Reakkreditierung von Studiengängen“ (AkkR 2007) sowie die „Kriterien für die Akkreditierung von Studiengängen“ (AkkR 2008). Bei allen handelt es sich notabene nicht um Rechtsnormen, was an ihrer faktischen Verbindlichkeit nichts ändert. Bei seiner Einführung enthusiastisch als Schritt in die Zukunft gefeiert, fällt die Beurteilung mittlerweile deutlich kritischer aus.29 An erster Stelle stehen die massiven Kosten für die Hochschulen, die zu Zeiten ministerieller Genehmigungen nicht anfielen: So belaufen sich die reinen Kosten für die Tätigkeit der Agenturen (insb. die Zusammenstellung von Gutachtergruppen, Begehungen und Anfertigungen von Abschlussberichten) bei der Begutachtung einzelner Studiengänge (sog. ProgrammAkkreditierung) im Durchschnitt 15.000 – 18.000 E. Dazu kommen die internen Kosten durch Inanspruchnahme der Verwaltung zur Erhebung abgefragter Daten, zur Herstellung von Ausgangslageberichten, Betreuung der Gutachtergruppen vor Ort, die ebenfalls im fünfstelligen Bereich angesetzt werden können. Die Alternative einer Systemakkreditierung, die der Hochschule insgesamt ein leistungsfähiges System des Qualitätsmanagements bescheinigt und einzelne Programm-Akkreditierungen entbehrlich macht, beläuft sich nach Schätzungen durchschnittlich auf 60.000 E. Mittlerweile haben vier Landesrechnungshöfe die Konstruktion der Programmakkreditierungen untersucht und sind zu deutlich negativen Urteilen gelangt.30 Daneben wird der Rückstau der Verfahren moniert (so waren in Hamburg 2016 erst 18 % der einschlägigen Studiengänge akkreditiert), auch das Eigeninteresse der Agenturen an einer Vermeidung negativer Akkreditate ist nicht zu unterschätzen (Problem des 28 Derzeit AAG, ACQUIN, AHGPS, AKAST, AQ Austria, AQAS, ASIIN, evalag, FIBAA, ZEvA. 29 Vgl. dazu die Verhandlungen des 12. Deutschen Hochschulrechtstages in Köln; die Beiträge sind in OdW 2017, Heft 4 erschienen (herunterladbar unter www.ordnungderwissen schaft.de). 30 Janz, OdW 2017, 247 ff.
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Agency Capture31: Die akkreditierende Stelle wird es aus eigenem Interesse vermeiden, ein schlechtes oder gar vernichtendes Urteil zu fällen, um nicht einen professionellen Kunden zu verlieren). Schließlich vertrat das ganz überwiegende Schrifttum – entgegen der in den Gesetzgebungsmaterialien geäußerten Meinung32 – die (traditionelle) Auffassung, dass die Tätigkeit der privaten Akkreditierungsagenturen nur im Wege einer Beleihung möglich sei.33 Fast zwangsläufig landete dieser Streit – über einen Vorlagebeschluss des VG Arnsberg – beim Bundesverfassungsgericht, das in einer vielbeachteten Entscheidung das geltende Akkreditierungssystem für verfassungswidrig einstufte, allerdings mit z. T. anderer als der erwarteten Begründung:34 Ein Akkreditierungserfordernis sei ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in den Bereich forschungsbasierter Lehre (Art. 5 Abs. 3 GG), auch als Vorstufe staatlicher Genehmigungen – wie bei privaten Hochschulen. Solche Eingriffe könnten zum Zweck der Qualitätssicherung in der Lehre gerechtfertigt sein; in Systemen der Qualitätssicherung sei die Wissenschaftsfreiheit prozedural und organisatorisch zu sichern: Allerdings seien externe Qualitätssicherungssysteme nicht per se grundrechtswidrig (damit entfällt das zwingende Erfordernis einer Beleihung!35); zur Vermeidung wissenschaftsinadäquater Steuerungspotentiale sei jedoch eine angemessene Beteiligung der Wissenschaft insb. an der Festlegung der Bewertungskriterien unabdingbar. Auch verstoße das Modell in weiten Bereichen gegen das Erfordernis hinreichender gesetzgeberischer Entscheidungen zu den Bewertungskriterien, den Verfahren und der Organisation der Akkreditierung und zur hinreichenden Beteiligung der Wissenschaft (Wesentlichkeitstheorie); so fehlten Regelungen über die Berufsrelevanz der Abschlüsse, die fachlich-inhaltlichen Mindeststandards, das Verfahren der Akkreditierung, die Rechtsform der Akkreditierungsentscheidungen (von der die Art des Rechtsschutzes maßgeblich abhänge), die Folgen fehlender Umsetzung von Akkreditierungsauflagen, den zeitlichen Abstand der Re-Akkreditierung sowie die fachlichen Anforderungen an Gutachter und die Zusammensetzung der Gutachtergruppen. Außerdem könne die Geltung des AkkStiftG NRW in anderen Bundesländern nicht durch einen bloßen Beschluss der KMK herbeigeführt werden; erforderlich sei hierfür der Abschluss eines Länderstaatsvertrags mit anschließender Umsetzung in den einzelnen Landeshochschulgesetzen.
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Zu diesem Ansatz der Neuen Politischen Ökonomie etwa Laffont/Tirole, The Quarterly Journal of Economics, Vol. 106, No. 4 (1991), 1089 ff. m.w.N. 32 Nachw. bei Erichsen, in: Bretschneider/Wildt (Hrsg.), Handbuch Akkreditierung von Studiengängen, 2005, S. 112 (118); Pautsch, WissR 38 (2005), 200 (215). 33 Lege, JZ 2005, 698 (702); Mann/Immer, RdJB 2007, 334 (342 ff.); Heitsch, DÖV 2007, 770 (778); ders., WissR 42 (2009), 136 (138 f., 143); Wilhelm, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragen der Akkreditierung, 2009, S. 182 ff.; Merschmann, NVwZ 2011, 847 (848). 34 BVerfG B. v. 17. 2. 2016 – 1 BvL 8/10 = BVerfGE 141, 143 ff. 35 Dazu auch Geis, OdW 2016, 193 (196 f.).
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Bedingt durch die o. a. Kritik hatte sich allerdings das Land Nordrhein-Westfalen schon vor der Entscheidung für eine Rückkehr zum Beleihungssystem entschieden (§ 72a HG NRW). Auch der neugefasste Staatsvertrag sieht eine grundlegende Änderung vor: Die Agenturen liefern nur mehr eine gutachterliche Stellungnahme, auf deren Basis die Akkreditierung vom Akkreditierungsrat als hoheitlicher Akt vorgenommen wird (oder nicht).36 Damit ist zumindest in diesem Bereich die privatrechtliche Qualitätssicherung wieder zurückgebaut worden; ein Traum – aber kein wirklich schöner – verblasst. d) Gütesiegel der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) Eine besondere Entwicklung ergibt sich im Bereich der Psychologie, das als Studium stark nachgefragt ist. Allerdings ist mangels gesetzlicher Regelung durchaus umstritten, welche Qualifikationen das Berufsbild des „Psychologen“ voraussetzt (anders etwa als für die Bezeichnung des „Psychotherapeuten“, für den aber ein Abschluss als „Psychologe“ Voraussetzung ist). Strittig ist zum einen, ob ein Abschluss als Bachelor genügt, zum anderen, ob Abschlüsse von Fachschulstudiengängen eine hinreichende Qualifikation vermitteln. Dies führt zu einer deutlichen offenen Flanke. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) als Fachverband vertritt – sicherlich nicht zu Unrecht – die Auffassung, dass die Kriterien der Akkreditierungsverfahren nicht geeignet sind, ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Qualität sicherzustellen, um die attraktive Berufsbezeichnung eines Psychologen zu fixieren. Nach – durchaus umstrittener – Auffassung ist als Voraussetzung für ein konsekutives Masterstudium (das dem früheren Diplom gleichartig ist), ein wissenschaftlich basiertes Bachelorstudium notwendig. Die DGPs sieht hierfür bestimmte inhaltliche Mindestleistungen in den einzelnen Teilfächern vor, um die entsprechenden Akkreditierungsverfahren, in denen keine einheitlichen Standards gelten, zu ergänzen und zu verhindern, dass Personen mit unzureichenden Bachelorausbildungen sich für einen Master in Psychologie zu bewerben. Bezeichnenderweise wird um den Inhalt des Faches „Psychologie“ nicht primär vor den Verwaltungsgerichten, sondern vor den Zivilgerichten gestritten, im Rahmen von Verfahren gegen unlauteren Wettbewerb durch irreführende Berufsbezeichnungen.37 Als Antwort hat die DGPs ein freiwillig zu erwerbendes Qualitätssiegel entwickelt, mit dem die Erfüllung der Mindestanforderungen eines wissenschaftsbasierten Bachelor-Studiums zertifiziert wird (herunterladbar unter www.dgps.de).
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Bartz/Lantermann, OdW 2017, 255 ff.; Neuhaus/Grünewald, OdW 2017, 263 ff. Vgl. OLG Karlsruhe, U.v. 7. 9. 2007 – 4 U 24/07 = GRUR-RR 2008, 17, sowie LG Oldenburg, U. v. 25. 9. 2008/23. 10. 2008 – 15 O 1295/09 – juris einerseits, OLG München, U. v. 11. 5. 2017 – 6 U 4436/16 andererseits. 37
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III. Fazit Unter dem Strich ergibt sich ein ambivalentes Bild: Während von Seiten der EU unter dem Segel der Dienstleistungsfreiheit nach wie vor auf die Privatisierungsschiene gesetzt wird, zeigt sich in der Praxis zunehmend die Erkenntnis, dass Privatisierung durchaus nicht per se den Königsweg zur Lösung aller Probleme darstellt. Vor allem scheint das Dogma, dass durch private Selbstregulierung sowohl stets kostengünstigere als auch ausgewogenere Lösungen erzeugt werden können, als nicht wirklich verifizierbar. Dies bestätigen Entwicklungen zurück zu einem öffentlichrechtlichen Rechtsregime im Bereich der Rekommunalisierung.38 Vor allem aber ist auffällig, dass Privatisierungen namentlich im Bereich der Daseinsvorsorge im Zweifel immer zu Lasten des Rechtschutzes gehen. Daher fällt das Fazit geteilt aus: Handelt es sich nur um imageprofilierende Maßnahmen ohne eigentliche Rechtswirkungen, sind selbstregulierende Mechanismen unproblematisch. Steuern sie jedoch die Grundrechtsausübung resp. -verwirklichung, bestätigt sich nur die alte Erkenntnis: Der Staat kann – und darf – sich letztlich seinen Aufgaben durch die sprichwörtliche „Flucht ins Privatrecht“ nicht entziehen.
38 Dazu etwa Libbe/Hanke/Verbücheln, Rekommunalisierung – Eine Bestandsaufnahme, 2011; Bauer/Büchner/Hajasch, Rekommunalisierung öffentlicher Daseinsvorsorge, 2012.
Grundrechtsfähigkeit für ausländische Staatsunternehmen? – Überlegungen aus Anlass des BVerfG-Urteils zum beschleunigten Atomausstieg Von Jörg Gundel, Bayreuth I. Einleitung Am 7. Dezember 2016 hat das BVerfG seine lange erwartete Entscheidung1 über die Verfassungsbeschwerden gegen das im Jahr 2011 ergangene Gesetz zum beschleunigten Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie2 erlassen. Dass das Urteil diese Regelung als in Teilbereichen ausgleichspflichtige Inhaltsund Schrankenbestimmung des Eigentums eingestuft und damit den Gesetzgeber zur Schaffung von Kompensationen verpflichtet hat3, konnte nicht wirklich überraschen: Die Neuregelung bedeutete schließlich eine Straffung und Verschärfung des ursprünglichen Atomausstiegs des Jahres 20024, dessen Gestaltung insbesondere in Bezug auf die zulässigen Restnutzungszeiten der Anlagen – übersetzt in die neue Währung der Reststrommengen5 – gerade darauf ausgerichtet worden war, die Auslösung von Entschädigungsansprüchen durch eine in zeitlicher Hinsicht verhältnismäßige Ausgestaltung zu vermeiden6. 1 BVerfG, 6. 12. 2016 – 1 BvR 2821/11 (E.ON), 1 BvR 321/12 (RWE) u. 1 BvR 1456/12 (Vattenfall), BVerfGE 143, 246 = NJW 2017, 217 m. Bespr. Froese, S. 444 ff. = DVBl. 2017, 113 m. Anm. Frenz = ZUR 2017, 161 m. Anm. Ziehm. 2 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes v. 31. 7. 2011, BGBl. I S. 1704. 3 Tz. 310 ff. des Urteils (Fn. 1); zu diesen Fragen, die hier nicht vertieft werden sollen, s. in Reaktion auf das Urteil z. B. Berkemann, DVBl. 2017, 793 ff.; Froese, NJW 2017, 444 ff.; Roller, ZUR 2017, 277 ff.; Schmitt/Werner, NVwZ 2017, 21 ff.; Shirvani, DÖV 2017, 281 (285 ff.). 4 Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität v. 22. 4. 2002, BGBl. I S. 1351. 5 s. die mit dem Gesetz v. 22. 4. 2002 (Fn. 4) angefügte Anlage 3 zu § 7 Abs. 1a AtG; zur Bedeutung dieser Verselbständigung der Reststrommengen als Bezugsgröße s. Tz. 310 ff. des Urteils (Fn. 1). 6 Die Restlaufzeiten im Ausstiegsgesetz von 2002 waren so ausgelegt, dass sie den Betreibern aller Anlagen die Amortisation ihrer Investitionen und die Erzielung eines angemessenen Gewinns ermöglichen sollten, s. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 14/6890 v. 11. 9. 2001, S. 15 f.: „Die nachträgliche Befristung von Genehmigungen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht (insbesondere im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes) so ausgestaltet, dass die von dieser Regelung betroffenen Unternehmen nicht unverhältnismäßig
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Eine Überraschung hielt die Entscheidung allerdings in Bezug auf den Beschwerdeführer Vattenfall bereit, der als Tochtergesellschaft eines (ausländischen) Staatsunternehmens nach dem bisherigen Stand der Erkenntnis7 nicht als Grundrechtsträger nach deutschem Verfassungsrecht einzustufen war8 – ebenso wie der Kraftwerksbetreiber EnBW, der als einziger deutscher Betreiber auf eine Verfassungsbeschwerde verzichtet und dies mit dem Verweis auf seine staatlichen Eigentümer9 und die daraus folgende Grundrechtsunfähigkeit begründet hatte10. Noch am Tag vor der Urteilsverkündung war in der sachverständigen Tagespresse festgehalten worden, dass die Zuerkennung von Grundrechtsschutz in diesem Fall eine Überraschung bedeuten würde;11 am nächsten Tag war die Überraschung Realität, weil auch die Verfassungsbeschwerde Vattenfalls als zulässig behandelt wurde12. Nach diesem Ergebnis stellt sich die Frage, ob EnBW mit dem Verzicht auf eine eigene Verfassungsbeschwerde einen Fehler begangen hat; vorwerfbar wäre dies allerdings kaum, nachdem das
belastet werden. Die Regelungen zur Beendigung der Nutzung von Kernkraftwerken vor Ablauf der technisch-wirtschaftlichen Nutzungsdauer stellen sicher, dass den Betreibern die Amortisation ihrer Investitionen ermöglicht wird und darüber hinaus ein angemessener Gewinn erzielt werden kann.“ 7 So im Ausgangspunkt die Leitentscheidung BVerfG, 2. 5. 1967 – 1 BvR 578/63, BVerfGE 21, 362; für das Privateigentum von Gemeinden kategorisch BVerfG, 8. 7. 1982 – 2 BvR 1187/ 80, BVerfGE 61, 82 (108 f.) – Sasbach: „Art. 14 als Grundrecht schützt nicht das Privateigentum, sondern das Eigentum Privater“; zur Entwicklung der Rechtsprechung s. Harks, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 107 (mit dem Hinweis auf S. 119, dass diese Fragen in Bezug auf ausländische Staatsunternehmen in jüngerer Zeit immer wieder im Energiesektor relevant geworden sind, nachdem hier verschiedene Staatsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten in Deutschland tätig sind); speziell für Energieversorger mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung BVerfG (K), 16. 5. 1989 – 1 BvR 705/88, NJW 1990, 1783 = JZ 1990, 335 m. Anm. Kühne – HEW; BVerfG (K), 18. 5. 2009 – 1 BvR 1731/05, NVwZ 2009, 1282 = JZ 2009, 1069 m. Anm. Kühne – Mainova. 8 Eine Grundrechtsträgerschaft in diesem Fall verneinend z. B. Kahl/Bews, Jura 2014, 1004 (1009); Bruch/Greve, DÖV 2011, 794 (796); auch die Bundesregierung hatte vor dem BVerfG insoweit die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht, Tz. 131 f. des Urteils (Fn. 1). 9 Das Unternehmen gehört nach dem – kurz vor der Katastrophe von Fukushima erfolgten – Rückkauf der von EdF gehaltenen Anteile durch das Land Baden-Württemberg zu je 47 % dem Bundesland und dem Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke (OEW), kleinere Beteiligungen werden von anderen öffentlich-rechtlichen Trägern gehalten; s. nur FAZ Nr. 299 v. 24. 12. 2015, S. 27: „EnBW-Eigner ziehen Notbremse bei Atom-Altlasten – EnBW und OEW lösen Aktionärsvereinbarung auf“. 10 Das Unternehmen hat allerdings festgehalten, dass es die Ausstiegsregelung ebenfalls als verfassungswidrig ansieht, und die Erwartung geltend gemacht, im Fall eines Erfolgs der Verfassungsbeschwerden gegenüber den Beschwerdeführern nicht benachteiligt zu werden, s. FAZ Nr. 176 v. 31. 7. 2012, S. 13: „EnBW klagt nicht gegen Atomausstieg“. 11 FAZ Nr. 284 v. 5. 12. 2016, S. 17. 12 Tz. 184 – 202 des Urteils (Fn. 1).
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BVerfG kurz zuvor noch seine gefestigte Rechtsprechung13 bestätigt hatte, nach der inländische Staatsunternehmen nicht grundrechtsfähig sind.14 Tatsächlich legt die Begründung der Entscheidung aber auch nahe, dass sie sich auf Staatsunternehmen aus anderen EU-Mitgliedstaaten beschränkt, also weder Unternehmen inländischer öffentlich-rechtlicher Träger15 noch solche in der Hand von Drittstaaten16 erfasst. Die Reichweite dieser Weichenstellung soll im Folgenden ausgelotet werden. Das BVerfG betont zwar, dass es sich um einen Ausnahmefall handele17, was aber die Frage nicht erübrigt, unter welchen Voraussetzungen die Lösung übertragbar ist. So stellt sich z. B. die Frage der Grundrechtsfähigkeit des Übertragungsnetzbetreibers TenneT, der durch die im Zuge der Energiewende statuierten Netzausbaupflichten erheblich belastet wird und deshalb zeitweise um seine Zertifizierung als zugelassener Netzbetreiber fürchten musste18, allerdings im Besitz des seinerseits in niederländischem Staatsbesitz befindlichen Netzbetreibers TenneT BV steht und bisher ebenfalls davon ausgehen musste, nicht grundrechtsfähig zu sein19. Die möglichen Konsequenzen reichen aber über solche Parallelkonstellationen hinaus, nachdem inzwischen schon weitreichende Schlüsse aus der Entscheidung gezogen werden: So findet sich etwa in der Kontroverse um die türkische Staatspropaganda zum Verfassungsreferendum im Frühjahr 2017 die unter Bezug auf das Atomausstiegs-Urteil begründete Annahme, dass sich ausländische Staatsorgane in Deutschland selbst dann
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So zunächst für eine im Alleineigentum der öffentlichen Hand stehende Aktiengesellschaft BVerfG, 7. 6. 1977 – 1 BvR 108, 424/73 u. 226/74, BVerfGE 45, 63 (79 ff.) – Stadtwerke Hameln AG; im Anschluss für Gesellschaften mit privater Minderheitsbeteiligung BVerfG (K), 16. 5. 1989 – 1 BvR 705/88, NJW 1990, 1783 = JZ 1990, 335 m. Anm. Kühne – HEW; BVerfG (K), 18. 5. 2009 – 1 BvR 1731/05, NVwZ 2009, 1282 – Mainova. 14 BVerfG (K), 6. 9. 2016 – 1 BvR 1305/13, RdE 2016, 515; diese Festlegung entspricht der Position zur Grundrechtsbindung solcher Unternehmen, s. BVerfG, 22. 2. 2011 – 1 BvR 699/ 06, BVerfGE 128, 226 (244 ff.) – Fraport; BVerfG (K), 19. 7. 2016 – 2 BvR 470/08, NJW 2016, 3153 (3154) m. Anm. Kottmann = DVBl. 2016, 1597 m. Anm. Penz – Freizeitbad. 15 Tz. 187 ff. des Urteils beschreiben die bisher für inländische juristische Personen und die von ihnen beherrschten Privatrechtssubjekte geltende Grundrechtslage, ohne Zweifel an der Fortgeltung erkennen zu lassen; Tz. 194 geht ausdrücklich von der „fehlenden Grundrechtsfähigkeit“ der vom Bund, einem Land oder einer Kommune gehaltenen juristischen Person des Privatrechts aus. Zum Versuch der Rechtfertigung der daraus resultierenden speziellen „Inländerdiskriminierung“ s. u. bei Fn. 25. 16 Zur Konzentration der Begründung auf die Niederlassungsfreiheit des EU-Rechts, die Drittstaaten-Unternehmen nicht zukommt, s. noch u. III. 1. bei Fn. 35 und IV. 1. bei Fn. 81. 17 Von den „besonderen Umstände[n] des Falls“ spricht u. a. Tz. 196 des Urteils (Fn. 1). 18 Die Zertifizierung gem. § 4a EnWG, die im Jahr 2012 zunächst wegen unzureichender finanzieller Leistungsfähigkeit für die Errichtung der Offshore-Windpark-Anbindungen verweigert worden war, wurde schließlich doch erteilt, Beschluss BK6 – 12 – 047 der BNetzA v. 3. 8. 2015. 19 Zur Frage der Grundrechtsfähigkeit der in Deutschland tätigen Übertragungsnetzbetreiber s. z. B. Riemer, Investitionspflichten der Betreiber von Elektrizitätsübertragungsnetzen, 2017, S. 297 ff.
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auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen könnten, wenn sie in staatlicher Eigenschaft handeln20. II. Die Infragestellung der Geltung des Grundrechtsausschlusses für ausländische Staatsunternehmen Die maßgebliche Passage des Urteils beginnt mit einem Bezug auf die Begründungsansätze für den vom BVerfG bisher in ständiger Rechtsprechung vertretenen Ausschluss des Grundrechtsschutzes für inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts und die von ihnen beherrschten Privatrechtssubjekte; es folgt die Einschränkung, dass diese Gründe für ausländische Staatsunternehmen „nicht uneingeschränkt“ gälten21. Tatsächlich verfängt das bekannte Konfusionsargument, nach dem der Staat keinen Grundrechtsschutz gegen sich selbst vorsehen könne, bei Emanationen fremder Staaten nicht, weil diese selbst nicht Verpflichtete der Grundrechte des Grundgesetzes sind.22 Dieses Argument war für sich genommen aber ohnehin nie ausreichend, weil etwa im Bundesstaat den Einrichtungen der Länder und den Kommunen mit dieser Begründung der Grundrechtsschutz gegen Maßnahmen des Bundes nicht versagt werden könnte. Es bleibt danach das durchschlagende Durchgriffsargument, nach dem der Grundrechtsschutz juristischer Personen nur im Interesse der hinter diesen Einheiten stehenden natürlichen Personen gewährleistet wird23; dieses personale Substrat fehlt auch, wenn hinter dem betroffenen Unternehmen nicht etwa ein deutsches Bundesland, sondern ein fremder Staat steht.24 Das BVerfG sieht diesen Einwand in der hier 20
So Gounalakis, Auch Erdogan hat Grundrechte – Repräsentanten ausländischer Staaten können sich in Deutschland auf die Meinungsfreiheit berufen, in FAZ Nr. 88 v. 13. 4. 2017, S. 7; anders zu Recht BVerfG (K), 8. 3. 2017 – 2 BvR 483/17, DVBl. 2017, 570 = EuGRZ 2017, 303: „Soweit ausländische Staatsoberhäupter oder Mitglieder ausländischer Regierungen in amtlicher Eigenschaft und unter Inanspruchnahme ihrer Amtsautorität in Deutschland auftreten, können sie sich nicht auf Grundrechte berufen.“ s. auch OVG Münster, 29. 7. 2016 – 15 B 876/16, NVwZ 2017, 648 (649): „die Möglichkeit ausländischer Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder zur Abgabe politischer Stellungnahmen im Bundesgebiet [ist] nicht grundrechtlich fundiert […].“ Zum Status fremder Staatsoberhäupter nach der EuGH-Rechtsprechung s. noch u. Fn. 66. 21 Tz. 191 des Urteils (Fn. 1). 22 Tz. 192 des Urteils (Fn. 1); darauf abstellend auch Kloepfer, DVBl. 2011, 1437 (1439). 23 Begründet durch Günter Dürig, s. etwa BayVBl. 1959, 201 (202). 24 s. für den Fall der deutschen Tochtergesellschaft der schwedischen Vattenfall BVerfG (K), 21. 12. 2009 – 1 BvR 2738/08, BVerfGK 16, 449 = NVwZ 2010, 373 (374) = RdE 2010, 92: „Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich zwar um eine inländische juristische Person, die ihren Sitz im Inland hat […]. Die Anteile an der Beschwerdeführerin werden jedoch letztlich vollständig vom schwedischen Staat gehalten. Hiernach könnte die Bildung und Betätigung der Beschwerdeführerin ebenso wenig als Ausdruck der freien Entfaltung natürlicher Personen angesehen werden, wie dies grundsätzlich bei juristischen Personen der Fall
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behandelten Entscheidung durchaus, meint aber, dass von deutschen öffentlichrechtlichen Trägern beherrschte Einheiten zumindest dadurch geschützt seien, dass diese Träger sie im Rahmen ihrer staatsorganisationsrechtlichen Stellung verteidigen könnten; dazu heißt es: „Die hinter ihnen stehenden Hoheitsträger können sich mittels der zur Wahrung innerstaatlicher Kompetenzen vorgesehenen Schutzmechanismen gegen vermeintlich verfassungswidrige Einschränkungen ihrer wirtschaftlichen Betätigung zur Wehr setzen“.25 Dies fehle bei ausländischen Staatsunternehmen, was für eine Kompensation durch die Gewährung von Grundrechtsschutz spreche. Dieses Argument bleibt aber zum einen sehr abstrakt – es ist nicht erkennbar, welche Rechtspositionen etwa Baden-Württemberg zum Schutz der Interessen von EnBW hätte geltend machen können, nachdem die Kompetenzwidrigkeit des angegriffenen Gesetzes nicht ernsthaft behauptet werden kann; der Wechsel von der Grundrechtsebene auf das Feld der Kompetenzen dürfte rechtlich regelmäßig ins Leere führen, so dass allenfalls die schwache Alternative der politischen Einflussnahme im Raum steht26. Zum anderen nimmt der Vergleich nicht wahr, dass dieselbe Alternative des Schutzes durch den staatlichen Träger des Unternehmens auch dann besteht, wenn dieser nicht ein deutsches Bundesland oder eine Kommune, sondern ein fremder Staat ist: Dieser kann zwar keine bundesstaatsrechtliche Position geltend machen; er kann seine Interessen27 aber als Völkerrechtssubjekt mit den Instrumenten des Völkerrechts verteidigen28, so dass insofern keine grundsätzlich unterschiedliche Schutzbedürftigkeit des Unternehmens erkennbar ist. Dem entspricht, dass das BVerfG bisher auch fremden Staaten den Status als Grundrechtsträger abgesprochen hat29 ; auch hier ist angesichts der völkerrechtlichen Stellung des Rechtsträgers ein ist, die vollständig von einem deutschen Hoheitsträger beherrscht werden.“ (Die Frage wurde freilich nicht abschließend entschieden, weil die Verfassungsbeschwerde als jedenfalls unbegründet angesehen wurde). 25 Tz. 194 des Urteils (Fn. 1). 26 Im unmittelbaren Vergleichsfall des zumindest teilweise von einem Bundesland getragenen Unternehmens EnBW (s. o. Fn. 9) kann der Verweis auf innerstaatliche Einflussmöglichkeiten zumindest prima facie einleuchten; bei kommunalen Unternehmen geht der Bezug auf solche Möglichkeiten des Trägers gegenüber dem Bundesgesetzgeber dagegen schon im Ansatz ins Leere, ähnlich Roller, ZUR 2017, 277 (285 f.); Shirvani, DÖV 2017, 281 (283). 27 Zu diesen völkerrechtlich wehrfähigen Interessen gehört nicht nur der Schutz der (staats-)eigenen Unternehmen, sondern auch das Auslandsvermögen der eigenen Staatsangehörigen, das mit dem Instrument des diplomatischen Schutzes gegen einen Zugriff des Gaststaats verteidigt werden kann; s. dazu Gundel, ArchVR 51 (2013), 108 ff. 28 Der Einsatz dieser Instrumente ist allerdings suspendiert, solange – wie es vorliegend der Fall ist, dazu noch u. V. – das unmittelbar betroffene Unternehmen die InvestitionsschutzSchiedsgerichtsbarkeit nach der ICSID-Konvention (Convention on the Settlement of Investment Disputes between States and Nationals of Other States, 4 ILM [1965], 532 = BGBl. 1969 II S. 371) in Anspruch nimmt, s. Art. 27 ICSID-Konvention; dazu noch u. Fn. 95. 29 Zum grundsätzlichen Ausschluss der Grundrechtsfähigkeit fremder Staaten, die insoweit als ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts behandelt werden, s. BVerfG (K), 8. 2. 2006 – 2 BvR 575/05, NJW 2006, 2907 (Argentinien); die Prozessgrundrechte kön-
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kompensatorisches grundrechtliches Schutzbedürfnis nicht erkennbar, ohne dass die Frage in den bisher ergangenen Entscheidungen diskutiert worden wäre. Als durchschlagend sieht wohl auch das BVerfG diese Erwägungen nicht an, weil im Anschluss die Feststellung folgt, dass dennoch auch im Fall ausländischer Staatsunternehmen das personale Substrat fehle.30 Die Ausführungen haben damit gewissermaßen die Funktion einer Lockerungsübung gegenüber der bisherigen Rechtsprechung; das spiegelt sich im Zwischenergebnis der Argumentation wider, in dem das BVerfG eine „insoweit offene Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG“31 annimmt und damit Spielraum für ein abweichendes Ergebnis im betroffenen Fall begründet. III. Determinierung durch Vorgaben des Europarechts? 1. Die Zuerkennung der nationalen Grundrechtsfähigkeit als Konsequenz der Niederlassungsfreiheit? Dieses abweichende Ergebnis wird im Anschluss zentral mit Bezug auf angenommene europarechtliche Vorgaben begründet32. Dieser Ansatzpunkt erinnert zwar an die Erkenntnis des BVerfG, dass die in Art. 19 Abs. 3 GG angelegte Schutzverweigerung für alle ausländischen juristischen Personen mit Europarecht nicht vereinbar ist;33 diese auf einen Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) abstellende Rechtsprechung betrifft allerdings gerade nicht den Fall der Staatsunternehmen, weil hier ja bisher gerade die Gleichbehandlung mit inländischen Staatsunternehmen bestand, denen ebenfalls die Grundrechtsfähigkeit versagt bleibt34. Das BVerfG stellt im vorliegenden Fall nun auf die Niederlassungsfreiheit ab, die nach dem Text des Art. 54 Abs. 2 AEUV unzweifelhaft auch juristischen Personen des öffentlichen Rechts zusteht35 ; weshalb die Nichteröffnung der Gesetzesverfasnen aber auch fremde Staaten mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen, s. ausdrücklich BVerfG (K), 20. 9. 2006 – 2 BvR 799/04, BVerfGK 9, 211 = WM 2006, 2084 (Argentinien); im Anschluss BVerfG (K), 15. 12. 2008 – 2 BvR 2495/08, BVerfGK 14, 524 = IPRax 2011, 389 (Russische Föderation); dazu auch noch u. Fn. 63. 30 So Tz. 195 des Urteils (Fn. 1) unter Wiederholung der „Sasbach-Formel“ (Fn. 7). 31 Tz. 196 des Urteils (Fn. 1). 32 Tz. 196 ff. des Urteils (Fn. 1). 33 s. BVerfG, 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 = JZ 2011, 1112 m. krit. Anm. Hillgruber – Cassina; dazu Ludwigs, JZ 2013, 434 ff.; Strohmayr, in: Becker/Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 3, 2014, S. 143 ff.; Gundel, in: Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz, 2014, § 2 Rn. 41 f.; präzisierend im Anschluss noch BVerfG (K), 4. 11. 2015 – 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56/12, NJW 2016, 1436; kritisch dazu Karpenstein, EuZW 2016, 361 f. 34 Dazu Gundel, in: Grabenwarter (Fn. 33), § 2 Rn. 43. 35 s. z. B. EuGH, 14. 4. 2016 Rs. C-522/14 (Sparkasse Allgäu), EuZW 2016, 463 m. Anm. Musil; dazu Michel, Europe 6/2016, 25; weiter z. B. zur Unvereinbarkeit nationaler Goldenshare-Regelungen, die den Einfluss fremder Staatsunternehmen beschneiden sollen, mit der
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sungsbeschwerde allerdings eine Einschränkung dieser Freiheit darstellt, erschließt sich nicht ganz, zumal ein Eingriff in die Niederlassungsfreiheit selbst mit der Verfassungsbeschwerde nicht gerügt wurde und nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG auch nicht rügefähig wäre36. Das BVerfG postuliert an diesem Punkt eine Notwendigkeit verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes37, die tatsächlich nicht besteht: Ein gesetzlicher Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit könnte ohne weiteres als Verstoß gegen diese Gewährleistung vor den Fachgerichten geltend gemacht werden und wäre von diesen angesichts des Vorrangs des EU-Rechts zu sanktionieren.38 An späterer Stelle geht das BVerfG dann im Zusammenhang der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zwar auf die Alternative fachgerichtlichen Rechtsschutzes ein und meint, dass ein sinnvoll zu stellender Feststellungsantrag nicht erkennbar sei.39 Das ist für die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nachvollziehbar, weil das Fachgericht sogleich mit der Notwendigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG konfrontiert wäre40, obwohl auch in solchen Fällen die Verwaltungsgerichte in jüngerer Zeit entsprechende Feststellungsanträge als zulässig ansehen und zum Ausgangspunkt von Vorlagen machen41, und auch das BVerfG schon auf die Möglichkeit der verwaltungsgerichtlichen Freiheit des Kapitalverkehrs: EuGH, 2. 6. 2005 Rs. C-174/04 (Kommission/Italien), Slg. 2005, I-4933 = EuZW 2005, 438 m. Anm. Kilian; EuGH, 14. 2. 2008 Rs. C-274/06 (Kommission/ Spanien), Slg. 2008, I-26* (abgek. Veröff.); dazu Kauff-Gazin, Europe 4/2008, 17 f. 36 s. z. B. – dort zur Warenverkehrsfreiheit – BVerfG (K), 4. 11. 2015 – 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56/12, NJW 2016, 1436 (1438), Tz. 19 ff. mit der abschließenden Feststellung Tz. 21, dass dieses Ergebnis „nicht unter Rückgriff auf den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit überspielt werden“ könne. 37 Tz. 200 des Urteils (Fn. 1): Danach „wäre der Beschwerdeführerin Vattenfall nach geltendem deutschen Prozessrecht ohne die Möglichkeit der Gesetzesverfassungsbeschwerde keinerlei Rechtsschutzmöglichkeit gegen die mit der 13. AtG-Novelle verbundenen Beeinträchtigungen eröffnet […].“ 38 Auf den ausreichenden Schutz durch die Grundfreiheiten stellen v. a. die Stimmen ab, die eine Ausweitung des nationalen Grundrechtsschutzes auf Unionsbürger und (private) juristische Personen aus anderen Mitgliedstaaten als nicht geboten ansehen; so insbes. Störmer, AöR 123 (1998), 541 ff.; dazu Gundel, in: Grabenwarter (Fn. 33), § 2 Rn. 40 f. 39 Tz. 208 des Urteils (Fn. 1). 40 Das BVerwG hatte hier in der Vergangenheit bereits den Verwaltungsrechtsweg verneint, weil der Streit um die Verfassungsmäßigkeit eines formellen Gesetzes als verfassungsrechtliche Streitigkeit i.S.v. § 40 VwGO einzuordnen sei, so BVerwG, 3. 11. 1988 – 7 C 115.86, BVerwGE 80, 355 (358); für die Frage der Europarechtswidrigkeit kommt diese Einordnung nicht in Betracht. 41 s. den anhängigen Vorlagebeschluss VG Bremen, 9. 7. 2015 – 5 K 171/13 (Juris) zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Bremer Hafenbetriebsgesetzes, soweit dieses den Umschlag von Kernbrennstoffen ausschließt; Ausgangspunkt waren vom VG als zulässig behandelte Feststellungsklagen von Transportunternehmen, die mit dem Argument der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes die Feststellung begehrten, dass der Umschlag weiter erlaubnisfrei zulässig ist; zur im Hintergrund stehenden Frage einer Verletzung der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für das Atomrecht gem. Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG s. Moench, in: Raetzke (ed.), Nuclear Law in the EU and Beyond, 2014, S. 419 ff.; Schwarz, NordÖR 2012, 331 ff.; ders., DÖV 2012, 457 ff.
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Feststellungsklage zur inzidenten Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen verwiesen hat, um die Zulässigkeit von Gesetzesverfassungsbeschwerden zu verneinen42. Diese Schwankungen lassen sich in Bezug auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen noch dadurch erklären, dass die Zumutbarkeit des Umwegs über die Fachgerichte jeweils eine Frage des konkreten Falls ist43. In Bezug auf Verstöße gegen EU-Recht stellt sich dieses Konkurrenzproblem aber von vornherein nicht, weil das verfassungsrechtliche Verwerfungsmonopol nicht für gesetzliche Verstöße gegen EU-Recht gilt44; dementsprechend sind solche Feststellungsklagen z. B. gegen die vollzugszuständigen Behörden zur inzidenten Prüfung gesetzlicher Verstöße gegen EU-Recht in der deutschen Rechtspraxis durchaus geläufig45. Dass der Niederlassungsfreiheit gegenüber gesetzlichen Verbotsregelungen nur mit dem Instrument der Gesetzesverfassungsbeschwerde in Verbindung mit der Gel-
42 s. z. B. BVerfG (K), 16. 7. 2015 – 1 BvR 1014/13, NVwZ-RR 2016, 1 (2) zu einer Verfassungsbeschwerde gegen Bestimmungen des Hessischen Spielhallengesetzes: „In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage nach § 43 VwGO statthaft ist, wenn die Feststellung begehrt wird, dass wegen Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit einer Rechtsnorm kein Rechtsverhältnis zu dem anderen Beteiligten begründet ist“. 43 s. BVerfG (K), 16. 7. 2015 – 1 BvR 1014/13, NVwZ-RR 2016, 1 (2): Die Zulässigkeit der Gesetzesverfassungsbeschwerde komme angesichts der Möglichkeit der fachgerichtlichen Feststellungsklage „nur dann in Betracht, wenn der Sachverhalt allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, deren Beantwortung weder von der näheren Sachverhaltsermittlung noch von der Auslegung und Anwendung von Vorschriften des einfachen Rechts durch die Fachgerichte, sondern allein von der Auslegung und Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe abhängt“. 44 Nur sehr vereinzelte Stimmen in der deutschen Literatur wollen hier das Verwerfungsmonopol analog anwenden, so z. B. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. A. 2011, S. 243 ff. (in der 4. A. 2015 entfallen); zuletzt ausführlich Karaosmanog˘ lu, Die Nichtanwendung deutscher unionsrechtswidriger Gesetze, 2017; mit EU-Recht vereinbar wäre diese Lösung nicht, st. Rspr. seit EuGH, 9. 3. 1978 Rs. 106/77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629; in jüngerer Zeit z. B. EuGH, 19. 11. 2009 Rs. C-314/08 (Filipiak), Slg. 2009, I-11049, Tz. 81; EuGH, 22. 6. 2010 Rs. C-188/10 u. C-189/10 (Melki u. Abdeli), EuR 2012, 200 m. Anm. Gundel, Tz. 44 ff.; anders Karaosmanog˘ lu, S. 225 ff., der die entgegenstehende EuGHRechtsprechung zu leichthändig als ultra vires ergangen und damit unbeachtlich ansieht. 45 s. z. B. zur Zulässigkeit des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt in § 68 LFGB das Ausgangsverfahren zu EuGH, 19. 1. 2017 Rs. C-282/15 (Queisser Pharma), ZLR 2017, 209 m. Anm. Gundel (Vorlagebeschluss VG Braunschweig, 27. 5. 2015 – 5 A 67/13, LMuR 2015, 142); hier hatte der Kläger des Ausgangsverfahrens die Feststellung beantragt, dass seine Produkte genehmigungsfrei vertrieben werden könnten, weil der gesetzliche Genehmigungsvorbehalt wegen Verstoßes gegen EU-Recht unanwendbar sei. Aus Sicht des EU-Rechts sind solche inzidenten Prüfungsmöglichkeiten durch die Fachgerichte auf der einen Seite durch Art. 19 Abs. 1 EUV geboten, auf der anderen Seite aber auch ausreichend, s. z. B. EuGH (GK), 13. 3. 2007 Rs. C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271, Tz. 37 ff., 41 (dort zu einem gesetzlichen Verbot der Werbung für nicht im Inland zugelassenes Glücksspiel).
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tendmachung nationaler Grundrechte Geltung verschafft werden könnte46, ist jedenfalls eine eher befremdliche Vorstellung47, die auch mit den Prämissen von Vorrang und unmittelbarer Wirkung des EU-Rechts schwer in Einklang zu bringen ist48 : Die Grundfreiheiten als in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht benötigen danach keine Doppelung durch nationale Grundrechtspositionen, um sich durchzusetzen. Aus dem Blickwinkel der EU-Grundfreiheiten ist die Eröffnung der Verfassungsbeschwerde vielmehr ein zusätzliches prozessuales Instrument, dessen Versagung nach der Praxis des EuGH nicht direkt an der Grundfreiheit, sondern an der Rechtsschutzgarantie des Art. 47 GRC und der Gewährleistung effektiven und gleichwertigen Schutzes europarechtlicher Positionen durch das nationale Verfahrensrecht gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV gemessen wird49. Nach diesem Maßstab ist effektiver Schutz durch den Zugang zu den Fachgerichten gewährleistet – insoweit genießt die Niederlassungsfreiheit gegenüber dem deutschen Gesetzgeber prozessual wohl sogar leichter zugänglichen Schutz als die deutschen Grundrechte50 –, und auch 46 Tatsächlich nimmt das BVerfG einen solchen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit an, s. Tz. 200 des Urteils (Fn. 1): Mit der Verpflichtung zur frühzeitigen Abschaltung der Anlagen werde „insoweit die weitere Ausübung der Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen […]“. 47 Sie hat u. a. zur Konsequenz, dass das BVerfG inzident das Vorliegen eines Eingriffs in die Niederlassungsfreiheit prüfen muss (s. das Zitat in Fn. 46), weil sich daraus dann die Verpflichtung zur Gewährung des nationalen Grundrechtsschutzes ableitet. Konsequent wird dann in Tz. 201 eine Rechtfertigung des in der Versagung der Grundrechtsfähigkeit liegenden Eingriffs in die Niederlassungsfreiheit geprüft und recht knapp verneint, weil ja auch im Tatbestand der Niederlassungsfreiheit kein Unterschied zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Einheiten gemacht werde – dass der Charakter der Grundrechte nach deutschem Verfassungsverständnis, der in Tz. 195 noch aufscheint, hier sehr wohl einen Unterschied begründen könnte, wird nicht erwogen, womit das BVerfG die grundsätzliche Bedeutung seiner eigenen Rechtsprechung zu gering gewichtet. 48 Eine insoweit sinnvolle Vorlage an den EuGH wird in der Entscheidung nicht erwogen; nachdem das BVerfG anderweitigen nationalen Rechtsschutz als unmöglich ansieht und die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit nach dem Gang der Begründung entscheidungserheblich ist (s. o. Fn. 47), wäre sogar die Annahme einer Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV konsequent. 49 s. stellvertretend EuGH (GK), 13. 3. 2007 Rs. C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271, Tz. 37 ff., 65, 82; zu dieser Leitentscheidung s. Anagnostaras, 33 ELRev. (2008), 586 ff.; Arnull, 44 CMLRev. (2007), 1763 ff.; Van Waeyenberge/Pecho, CDE 2008, 123 ff.; zu den Anforderungen z. B. Gundel, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. A. 2014, § 27 Rn. 49 ff. Dem BVerfG ist zuzugeben, dass ein Strang der EuGHRechtsprechung Verfahrensrechte nicht über Art. 4 Abs. 3 EUV, sondern direkt aus den Grundfreiheiten ableitet, s. z. B. EuGH, 5. 2. 2004 Rs. C-95/01 (Greenham und Abel), Slg. 2004, I-1333 = ZLR 2004, 193 m. Anm. Streinz, Tz. 35; dabei handelt es sich aber, soweit ersichtlich, um Rechte im Verwaltungsverfahren, nicht dagegen um die Rechtsschutzgarantie. 50 Dieser aus dem Verwerfungsmonopol für verfassungswidrige Gesetze folgende Befund ist nicht ungewöhnlich, s. den Sachverhalt von EuGH (GK), 26. 1. 2010 Rs. C-118/08 (Transportes Urbanos), Slg. 2010, I-635 für eine Regelung des spanischen Staatshaftungsrechts, die bei der staatshaftungsrechtlichen Geltendmachung der Verletzung von EU-Recht
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gleichwertiger Schutz ist gegeben, weil auch inländischen Staatsunternehmen das Instrument versagt bleibt. Insofern besteht auch im Ergebnis ein Unterschied zu den Anforderungen an die verfassungsprozessuale Behandlung von materiell privaten juristischen Personen aus anderen Mitgliedstaaten51, weil inländischen Staatsunternehmen ebenfalls kein Grundrechtsschutz eingeräumt wird. 2. Anerkennung staatlicher Einheiten als Träger der EU-Grundrechte? Auf die Frage einer Grundrechtsträgerschaft nach EU-Recht ist das BVerfG nicht eingegangen; nach seiner bisherigen, durch das Urteil nicht in Frage gestellten52 Grundposition war das auch nicht notwendig, weil die EU-Grundrechte ebenso wie die Grundfreiheiten53 nicht mit der Verfassungsbeschwerde rügefähig sind.54 Bei einer Prüfung der Frage hätte es die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs der GRC allerdings nach den Maßstäben der EuGH-Rechtsprechung bejahen müssen, nachdem es den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit als eröffnet angesehen hat: Einschränkungen der Grundfreiheiten lösen danach den EU-Grundrechtsschutz aus55, so dass sich auch auf dieser Ebene die Frage der Grundrechtsträgerschaft staatlicher Einheiten stellt. die Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz verlangte, dies bei der Geltendmachung von Verfassungsverstößen aber nicht forderte; die Begründung für das unterschiedliche Regime, wonach der Primärrechtsschutz bei Verfassungsverstößen beschwerlicher sei – nämlich das Verwerfungsmonopol des nationalen Verfassungsgerichts auslöse –, hat der EuGH nicht akzeptiert. 51 s. zur Cassina-Entscheidung o. Fn. 33. 52 Tatsächlich prüft das BVerfG die Niederlassungsfreiheit in der Begründetheit nicht; diese dient nur als „Türöffner“ für die Begründung der Grundrechtsfähigkeit nach nationalem Recht. 53 s. o. Fn. 36. 54 Auch hier bestehen in der Literatur inzwischen abweichende Ansichten, die aus dem Grundsatz der Gleichwertigkeit ableiten, dass auch die EU-Grundrechte mit der Verfassungsbeschwerde rügefähig sein müssten, so z. B. Griebel, DVBl. 2014, 204 ff.; ähnlich Bäcker, EuR 2015, 389 (410 ff.), der die Prüfung der EU-Grundrechte durch das BVerfG auch als Strategie zu dessen Selbstbehauptung gegenüber dem EuGH empfiehlt. Der EuGH hat diesen Ansatz bisher allerdings nicht aufgenommen, sondern prüft im Gegenteil, ob solche verfassungsgerichtlichen Kompetenzansprüche die effektive Durchsetzung des EU-Rechts behindern, s. EuGH, 11. 9. 2014 Rs. C-112/13 (A/B), EuZW 2014, 950 m. Anm. Öhlinger; dazu de Visser, 52 CMLRev. (2015), 1309 ff.; s. auch Gundel, EWS 2016, 2 (3 f.); Komárek, in: de Vries/Bernitz/Weatherill (eds.), The EU Charter of Fundamental Rights as a Binding Instrument, 2015, S. 75 ff. 55 Zur Geltung der EU-Grundrechte bei Einschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten s. im Anschluss an die Vor-GRC-Rechtsprechung EuGH, 30. 4. 2014 Rs. C390/12 (Pfleger), EuZW 2014, 597, Tz. 57 m. Bespr. Wollenschläger S. 577 ff.; EuGH, 11. 6. 2015 Rs. C-98/14 (Berlington Hungary), RIW 2015, 828, Tz. 74; EuGH (GK), 21. 12. 2016 Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), NJW 2017, 1723 m. Anm. Gundel = EuZW 2017, 229 m. Anm. Franzen, Tz. 62 ff.; anders insbes. Huber, EuR 2008, 190 (196 ff.); ders., NJW 2011, 2385 ff., der die Formulierung in Art. 51 Abs. 1 GRC als Einschränkung des Anwendungsbereichs des EU-Grundrechtsschutzes versteht; zur Kontroverse auch schon Cremer, NVwZ 2003, 1452 ff.
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Zur Stützung des Ergebnisses des BVerfG hätte dieser Bezug möglicherweise auch nahegelegen, weil die Anerkennung staatlicher Einheiten als Grundrechtsträger auf EU-Ebene vom Gericht erster Instanz v. a. in Bezug auf Drittstaaten-Einheiten seit einiger Zeit propagiert wird.56 Als zentrales Argument führt das Gericht hierfür an, dass die Grundrechtsträgerschaft staatlicher Einheiten durch die Texte nicht ausgeschlossen werde57. Tatsächlich fehlt in der Grundrechtecharta eine allgemeine Bestimmung zu den Grundrechtsträgern; aus deutscher Sicht ist dieses Wortlautargument dennoch kaum überzeugend, weil sich die Grenzen der Grundrechtsträgerschaft aus der Funktion dieser Kategorie als Instrument zum Schutz des Einzelnen gegen den Staat bzw. die Hoheitsgewalt ergeben. Auf EU-Ebene ist die Frage aber tatsächlich weniger eindeutig gelagert, weil die nationalen Vorverständnisse zur Grundrechtsträgerschaft sehr unterschiedlich ausfallen: Während in der deutschen Diskussion die grundrechtsfunktionsbezogene Argumentation der BVerfGRechtsprechung prägend ist58, wird umgekehrt im französischen Verfassungsrecht im Anschluss an eine Leitentscheidung des Conseil constitutionnel aus dem Jahr 198659 von der grundsätzlichen Grundrechtsfähigkeit öffentlich-rechtlicher Einheiten ausgegangen.60 Der EuGH hat die Frage für das EU-Recht noch nicht ausdrücklich entschieden61, sondern sich in seinen Rechtsmittelentscheidungen zu den Urteilen des Gerichts bisher auf eine Aussage zu den Verteidigungsrechten und dem Anspruch auf effektiven 56
Erstmals EuG, 29. 1. 2013 Rs. T-496/10 (Bank Mellat/Rat), Tz. 35 ff.; EuG, 5. 2. 2013 Rs. T-494/10 (Bank Saderat Iran/Rat), Tz. 33 ff.; weiter dann z. B. EuG, 18. 9. 2014 Rs. T-262/ 12 (Central Bank of Iran/Rat), Tz. 67 ff. 57 s. stellvertretend für die recht eindimensionale Argumentation EuG, 25. 3. 2015 Rs. T563/12 (Central Bank of Iran/Rat), Tz. 49: „das Unionsrecht [enthält] keine Vorschrift […], die einer Berufung juristischer Personen, die Regierungsorganisationen oder staatliche Einrichtungen sind, auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten entgegenstehen würde.“ Zur Behandlung des Einflusses der EMRK s. noch u. Fn. 71. 58 s. für eine aktuelle Skizze des Meinungsbilds Baldegger, Menschenrechtsschutz für juristische Personen in Deutschland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten, 2017, S. 109 ff. 59 CC, 25.-26. 6. 1986 No 86 – 207 DC – Loi autorisant le Gouvernement à prendre diverses mesures d’ordre économique et social, Rec. S. 61, zur Eigentumsgarantie der Menschenrechtserklärung von 1789: „… cette protection ne concerne pas seulement la propriété privée des particuliers mais aussi, à un titre égal, la propriété de l’Etat et des autres personnes publiques“; s. als Kontrast dazu die exakt entgegengesetzte Aussage des BVerfG zu Art. 14 GG, o. Fn. 7. 60 s. dazu m.w.N. Gundel, in: Grabenwarter (Fn. 33), § 2 Rn. 26; monographisch Maetz, Les droits fondamentaux des personnes publiques, 2011. 61 Zuvor hatte EuGH, 28. 11. 2013 Rs. C-348/12 P (Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft Co.), Tz. 50 f. nur festgehalten, dass die Grundrechtsfähigkeit jedenfalls keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV ist – was unzweifelhaft zutrifft, nachdem dieser Klageart nicht die Funktion einer Verfassungsbeschwerde zukommt; s. m.w.N. Gundel, in: Grabenwarter (Fn. 33), § 2 Rn. 36. Das EuG hat dies allerdings etwas voreilig als Bestätigung seiner Position eingeordnet, s. EuG, 16. 7. 2014 Rs. T-578/ 12 (National Iranian Oil Company/Rat), Tz. 32; ähnlich Kühling, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, 2017, Bd. 1, Art. 16 GRC Rn. 5.
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gerichtlichen Rechtsschutz beschränkt, auf die „sich jede natürliche Person und jede Einrichtung berufen [kann], die vor den Unionsgerichten eine Klage erhebt“62. Das entspricht in Bezug auf diese Grundrechte der bisherigen Rechtsprechung und im Grundsatz auch der Position des BVerfG, das den Prozessgrundrechten ebenfalls Geltung für alle Streitparteien zuerkennt.63 Daneben prüft der EuGH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit64, allerdings entsprechend seiner allgemeinen Arbeitsweise als eigenständigen Punkt65 und nicht in Bezug auf ein bestimmtes Grundrecht, so dass auch hier keine eindeutige Festlegung erfolgt, Staatsunternehmen aus Drittstaaten aber auch nicht rechtlos gestellt sind. Auf der anderen Seite steht allerdings die strikte Unterscheidung von Staatsfunktionen und persönlichen Rechten, die den EuGH zu der Erkenntnis geführt hat, dass Staatsoberhäupter anderer Mitgliedstaaten sich für ihre Einreisewünsche nicht auf die Unionsbürgerfreizügigkeit berufen können66 ; ähnlich wurde festgehalten, dass ein Mitgliedstaat sich für Äußerungen nicht auf die Meinungsfreiheit seiner Bediensteten berufen kann67. Auch hat der Gerichtshof jüngst entschieden, dass der Gleichheitssatz auf die unterschiedliche Behandlung von Drittstaaten durch die EU nicht anwendbar ist.68 Selbst wenn sich aber die Anerkennung der Grundrechtsfähigkeit öffentlich-rechtlicher Einheiten auf der Ebene des EU-Rechts in der vom Gericht praktizierten pauschalen Form durchsetzen sollte, hätte dies keinen unmittelbaren Einfluss auf das deutsche Verfassungsrecht, das in der Definition der Grundrechts62 So in der Rechtsmittelentscheidung zur Rs. Mellat (Fn. 56) EuGH, 18. 2. 2016 Rs. C176/13 P (Rat/Bank Mellat), Tz. 49; wiederholt in der Rechtsmittelentscheidung zur Rs. Saderat (Fn. 56) durch EuGH, 21. 4. 2016 Rs. C-200/13 P (Rat/Bank Saderat), Tz. 47. Die Verfahrensgrundrechte kommen nach der EuGH-Rechtsprechung selbst den EU-Organen zu, so EuGH, 2. 12. 2009 Rs. C-89/08 P (Kommission/Irland u. a.), Slg. 2009, I-11245, Tz. 53: „Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens muss jeder Partei eines Verfahrens, mit dem der Gemeinschaftsrichter befasst wird, unabhängig von ihrer rechtlichen Eigenschaft zugutekommen. Die Gemeinschaftsorgane können sich daher ebenfalls darauf berufen, wenn sie Parteien in einem solchen Verfahren sind.“ (dort zu einer – vom EuGH aus diesem Grund aufgehobenen – „Überraschungsentscheidung“ des EuG zu Lasten der EU-Kommission). 63 s. zuletzt BVerfG, 16. 12. 2014 – 1 BvR 2142/11, BVerfGE 138, 64 = DVBl. 2015, 429 (begründete Verfassungsbeschwerde einer Enteignungsbehörde wegen Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG); dazu Berkemann, DÖV 2015, 393 ff.; s. auch schon Fn. 29. 64 s. z. B. EuGH (GK), 1. 3. 2016 Rs. C-440/14 P (National Iranian Oil/Rat), EuZW 2016, 343 m. Anm. Hoffmann, Tz. 77 ff. 65 Dazu m.w.N. Gundel, ZHR 180 (2016), 323 (328). 66 So zum Fall eines Einreiseverbots der Slowakei für den ungarischen Staatspräsidenten, der an der Einweihung eines Denkmals teilnehmen wollte: EuGH, 16. 10. 2012 Rs. C-364/10 (Ungarn/Slowakische Republik), Tz. 45 ff.; dazu Bachoué Pedrouzo, JDI 2014, 1195 ff.; Delzangles, RTDE 2013, 201 ff.; Kecsmar, RevMC 2014, 479 ff.; Kovar, in: Mélanges Flauss, 2014, S. 471 ff.; Rossi, 50 CMLRev. (2013), 1451 ff.; Simon, Europe 12/2012, 13 f. 67 s. EuGH, 17. 4. 2008 Rs. C-470/03 (A.G.M.-COS.MET), Slg. 2007, I-2749, Tz. 72: Danach kann ein Mitgliedstaat sich nicht auf die Meinungsfreiheit seiner Beamten berufen, um negative Äußerungen über Importprodukte zu rechtfertigen. 68 EuGH, 21. 12. 2016 Rs. C-272/15 (Swiss International Air Lines), Tz. 20, 25 ff.; dazu Simon, Europe 2/2017, 13.
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träger in den Grenzen von Mindesteffektivität und Gleichwertigkeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) frei bleibt. IV. Grundrechtsschutz aufgrund von Vorgaben der EMRK? 1. Öffentlich beherrschte Einheiten als Träger der EMRK-Menschenrechte? In einem weiteren Ansatz knüpft das BVerfG an die Gewährleistungen der EMRK an: Die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR „legen ebenfalls nahe, der Beschwerdeführerin Vattenfall eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit gegen die 13. AtG-Novelle zu eröffnen“69. In dem kurzen Abschnitt sind zwei Probleme zu bewältigen: Zum einen müsste Vattenfall als Träger der Gewährleistungen der EMRK anzusehen sein, zum anderen müsste die EMRK zugunsten solcher Träger innerstaatlichen Rechtsschutz gegen Gesetze vorgeben (dazu sogleich unter 2.). In den knappen Ausführungen wird in Bezug auf den ersten Punkt nicht erkennbar, dass die EGMR-Rechtsprechung zur Grundrechtsträgerschaft grundsätzlich dem (bisherigen) restriktiven Ansatz des BVerfG entspricht; dabei wird diese Grundrechtsträgerschaft in der Praxis des EGMR im Rahmen der Feststellung der Beschwerdeberechtigung (Art. 34 EMRK) geprüft70, womit aber – wie bei der Verfassungsbeschwerde auch – zugleich über die Berechtigung nach materiellem Recht entschieden wird71. So verneint der EGMR in ständiger Rechtsprechung z. B. die Beschwerdeberechtigung nationaler Gebietskörperschaften72 ; auch er sieht als unerheblich an, ob „priva-
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Tz. 202 des Urteils (Fn. 1). Dazu z. B. Grabenwarter/Pabel, EMRK, 6. A. 2016, § 17 Rn. 5; Lindermuth, in: Kahl/ Raschauer/Storr (Hrsg.), Grundsatzfragen der europäischen Grundrechtecharta, 2013, S. 111 (114 f.); Gundel, in: Grabenwarter (Fn. 33), § 2 Rn. 29. 71 Unzutreffend erscheint daher die Annahme des EuG, dass diese Rechtsprechung bei einer Bestimmung der Grundrechtsträger nach EU-Recht trotz Art. 52 Abs. 3 GRC, der einen Gleichlauf der Auslegung der GRC mit den entsprechenden Bestimmungen der EMRK normiert, außer Betracht bleiben könne; so aber EuG, 6. 9. 2013 verb. Rs. T-35/10 u. T-7/11 (Bank Melli Iran/Rat), Tz. 67; EuG, 18. 9. 2014 Rs. T-262/12 (Central Bank of Iran/Rat), Tz. 69 mit dem Argument, dass diese Rechtsprechung nicht die materielle Grundrechtsträgerschaft behandle, sondern die Beschwerdeberechtigung nach Art. 34 EMRK und damit eine prozessuale Bestimmung betreffe, die von der GRC nicht in Bezug genommen wird; wie hier der in EuGH, 21. 4. 2016 Rs. C-200/13 P (Rat/Bank Saderat), Tz. 41 ff. wiedergegebene Vortrag des Rats, auf den der EuGH allerdings nicht eingegangen ist. 72 EGMR (2. Sektion), 23. 10. 2010 – Dösemealti Belediyesi ./. Türkei, NVwZ 2011, 479; zuvor schon EGMR (4. Sektion), 3. 2. 2004 – Regierung der Autonomen Gemeinschaft Baskenland ./. Spanien; EGMR (1. Sektion), 7. 6. 2001 – Danderyds Kommun ./. Schweden; EGMR (4. Sektion), 1. 2. 2001 – Ayuntamiento de Mula ./. Spanien, Rec. 2001-I, S. 523; EGMR (3. Sektion), 23. 11. 1999 – Section de commune d’Antilly ./. Frankreich, Rec. 1999VIII, S. 435; dieser Ausschluss kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass ein privater Kläger (in nach nationalem Recht zulässiger Weise) in Prozessstandschaft die Rechte der Gemeinde geltend macht, s. EGMR (2. Sektion), 26. 8. 2003 – Breisacher ./. Frankreich, 70
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ter“ Grundbesitz der Körperschaft betroffen ist73. Selbst die Ausnahmetrias des BVerfG74 findet Entsprechungen, weil der EGMR öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten75 und öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften76 die Beschwerdeberechtigung zuspricht. Die einzige in die Gegenrichtung weisende Entscheidung ist im Jahr 2007 zur Beschwerde einer in vollständigem Staatsbesitz stehenden iranischen Reederei ergangen77; hier hatte der EGMR zugunsten der Zulässigkeit der Beschwerde und damit der Grundrechtsfähigkeit darauf abgestellt, dass die Gesellschaft weder Aufgaben der Daseinsvorsorge erfülle noch bei ihrer kommerziellen Tätigkeit mit besonderen Rechten ausgestattet worden sei. Die angeführten Merkmale weisen dabei zwar Berührungspunkte zur EuGH-Rechtsprechung zur Reichweite des Staatsbegriffs auf78; im Ergebnis erscheint die Entscheidung aber doch fragwürdig, weil der Eindruck bleibt, dass der EGMR sich vor allem durch die privatrechtliche Rechtsform des Beschwerdeführers hat leiten lassen79. Diese in der Hand des jeweiligen Staates liegende Organisationsentscheidung kann aber für den Schutz durch die EMRK nicht maßgebend sein80.
Rec. 2003-X, S. 385; s. zu dieser Rechtsprechung Turgis, in: Mélanges Flauss, 2014, S. 765 ff.; kritisch Maetz, Les droits fondamentaux des personnes publiques, 2011, S. 263 ff. 73 s. für die Enteignung „privaten“ Grundeigentums von Gebietskörperschaften EGMR (2. Sektion), 18. 5. 2000 – Hatzitakis, Gemeindeverwaltungen von Thermaikos und Mikra ./. Griechenland; zum deutschen Parallelfall der Sasbach-Entscheidung s. o. Fn. 7. 74 Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, Universitäten und Kirchen, s. den Bezug in Tz. 189 des Urteils (Fn. 1). 75 s. EGMR (2. Sektion), 23. 9. 2003 – Radio France u. a. ./. Frankreich, Rec. 2003-X, S. 437 = Medialex 2004, 52 m. Anm. Zeller; im Anschluss daran EGMR (1. Sektion), 7. 12. 2006 – Österreichischer Rundfunk ./. Österreich; EGMR (2. Sektion), 29. 3. 2011 – RTBF ./. Belgien. 76 EGMR, 9. 12. 1994 – Saints Monastères ./. Griechenland, Série A, No 301-A = ÖJZ 1995, 428; s. auch noch EGMR (4. Sektion), 23. 9. 2008 – Ahtinen ./. Finnland, NVwZ 2009, 897, § 42 zu „den Grundsätzen der Autonomie und der Unabhängigkeit der Kirche (…), die unter anderem in der Charta der Grundrechte der EU garantiert sind.“ 77 EGMR (3. Sektion), 13. 12. 2007 – Islamic Republic of Iran Shipping Lines ./. Türkei. 78 s. EuGH, 12. 7. 1990 Rs. C-188/89 (Foster/British Gas), Slg. 1990, I-3313, Tz. 20; auch der EuGH stellt dort für die Zuordnung privater Unternehmen zum Staat auf eine Einbindung in die Erfüllung öffentlicher Aufgaben und die Ausstattung mit Sonderrechten ab; allerdings handelte es sich dort um ein auch materiell privates Unternehmen. 79 Denn „privat-kommerziell“ genutztes Eigentum einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft wird nach der EGMR-Rechtsprechung nicht geschützt, s. o. Fn. 72; in späteren Entscheidungen hat der EGMR die Beschwerdefähigkeit privatrechtlicher Unternehmen in staatlicher Hand dann mit einzelfallbezogener Begründung wieder abgelehnt, s. EGMR (3. Sektion), 15. 11. 2011 – Transpetrol ./. Slowakei; EGMR (2. Sektion), 9. 4. 2013 – Zavasta It Turs ./. Serbien; zum Stand der Rechtsprechung zuletzt Marquis, La qualité pour agir devant la Cour européenne des droits de l’homme, 2017, S. 69 ff. 80 Ähnlich Grabenwarter/Pabel (Fn. 70), § 17 Rn. 5, S. 129; Röben, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2. A. 2013, Kap. 5 Rn. 48; Stieglitz, Allgemeine Lehren im
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Auch das BVerfG lässt offen, ob und wie diese von ihm in Bezug genommene81 Entscheidung des EGMR – von einer „Rechtsprechung“ kann man angesichts der fehlenden Bestätigung durch Folgeentscheidungen kaum sprechen – in das deutsche Verfassungsrecht zu übernehmen wäre. Seine im Schwerpunkt auf das Unionsrecht gestützte Argumentation zeigt an, dass das Gericht die Ausnahme von seiner bisherigen Rechtsprechung jedenfalls zunächst nur auf Staatsunternehmen aus anderen EU-Mitgliedstaaten bezieht. 2. Innerstaatlicher Rechtsschutz gegen Gesetze als Vorgabe aus Art. 13 EMRK? Auch im Abschnitt zur EMRK scheint wieder als Argumentationspunkt auf, dass Rechtsschutz gegen Gesetze nur durch das BVerfG möglich sei; allerdings ersetzt diese Erwägung zu den Anforderungen der Beschwerdegarantie des Art. 13 EMRK nicht die Voraussetzung der Grundrechtsträgerschaft nach EMRK-Maßstäben, weil Art. 13 EMRK als akzessorische Gewährleistung die Möglichkeit einer Verletzung von Garantien der EMRK verlangt;82 die Berufung auf die Niederlassungsfreiheit des EU-Rechts kann dieses Erfordernis nicht überbrücken. Das BVerfG meint zwar, dass der Beschwerdeführer Vattenfall „vertretbar behaupten“ könne, Opfer einer Verletzung der Eigentumsgarantie nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK geworden zu sein; es bezieht diese bloße „Vertretbarkeitsprüfung“ aber wohl auch auf die Frage einer Trägerschaft der EMRK-Rechte, die damit letztlich offengelassen wird. Das entspricht nicht der EGMR-Rechtsprechung, die in Bezug auf die Beschwerdeberechtigung gemäß Art. 34 EMRK eine Vollprüfung vornimmt83 ; die Beschränkung auf die vertretbare Behauptung einer Rechtsverletzung betrifft nicht die Fähigkeit, Rechtsträger zu sein, sondern die nachgelagerte Frage der tatsächlichen Verletzung eines solchen Rechts. Hinzu kommt, dass der EGMR aus Art. 13 EMRK nie die Vorgabe einer innerstaatlichen Normenkontrolle von Gesetzen zur Wahrung der EMRK-Rechte abgeleitet hat,84 weil damit weitreichende strukturelle Konsequenzen für das Verhältnis zwi-
Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 2002, S. 39 f. 81 Tz. 202 des Urteils (Fn. 1). 82 Die Verletzung eines Konventionsrechts muss danach – nur, aber immerhin – „vertretbar behauptet“ werden, s. m.w.N. Gundel, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/1, 2010, § 146 Rn. 170. 83 s. zu Art. 34 EMRK o. bei Fn. 70; der EGMR wird damit eine Verletzung von Art. 13 EMRK nicht zugunsten eines Beschwerdeführers feststellen, über dessen Beschwerdefähigkeit nicht zuvor positiv entschieden wurde; dementsprechend begnügt sich auch das BVerfG bei Verfassungsbeschwerden öffentlich beherrschter Einheiten nicht mit der vertretbaren Behauptung der Grundrechtsträgerschaft. 84 Dazu m.w.N. Gundel, in: Merten/Papier (Fn. 82), § 146 Rn. 178.
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schen EMRK und nationaler Rechtsordnung verbunden wären85 ; durch Art. 13 EMRK geboten ist nur ein Rechtsbehelf gegen Anwendungsakte, der aber gleichfalls nicht die Inzidentkontrolle des angewandten Gesetzes verlangt.86 Nur für Rechtsnormen untergesetzlichen Rangs nimmt der EGMR die Notwendigkeit der zumindest inzidenten Überprüfbarkeit an87. Dem entspricht, dass die Möglichkeit der Gesetzesverfassungsbeschwerde auch unter den EMRK-Vertragsstaaten weiter die Ausnahme bleibt, obwohl hierin nach den Prämissen des BVerfG ein struktureller Verstoß gegen die Konvention liegen müsste; das BVerfG geht auf diese – für seinen Sachverhalt relevante – Unterscheidung zwischen gesetzlichen und untergesetzlichen Rechtsnormen in der EGMR-Rechtsprechung nur ganz andeutungsweise mit der nicht näher eingeordneten Aussage ein, dass Art. 13 EMRK „nicht zu einem Rechtsbehelf gegen ein Gesetz“ zwinge88, jedoch die Eröffnung einer Beschwerdemöglichkeit fordere. Die in der Entscheidung des BVerfG damit nur sehr grob skizzierten Ansatzpunkte aus der EMRK haben aber wohl auch keine tragende Funktion für die Weichenstellung zur Gewährung des Grundrechtsschutzes; darauf weist schon die einleitende Bemerkung des Abschnitts hin, wonach die Rechtsschutzeröffnung durch die EMRK (nur) nahegelegt werde.89 Insbesondere der Fall von Drittstaatsunternehmen, die sich nicht auf die Grundfreiheiten des EU-Rechts berufen können, bleibt damit offen.
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Eine solche Vorgabe würde im Ergebnis bedeuten, dass die EMRK ihre unmittelbare Anwendbarkeit in den Vertragsstaaten und zudem Übergesetzesrang in den nationalen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten verlangen müsste, weil sich nur so systematisch der innerstaatliche Rechtsschutz gegen Verletzungen durch nationale Gesetze durchsetzen ließe. Die vom BVerfG angedeutete Lösung, diesen Schutz durch parallele Verfassungsgarantien zu ermöglichen, also die Eigentumsgarantie aus Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls i.V.m. Art. 13 EMRK durch Art. 14 GG i.V.m. der Verfassungsbeschwerde zu spiegeln, kann nur funktionieren, wenn die jeweilige nationale Rechtsordnung ein entsprechendes Grundrecht und zu dessen Schutz die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde vorsieht; der Weg ist danach für die deutsche Rechtsordnung gangbar – dazu Gundel, in: Merten/Papier (Fn. 82), § 146 Rn. 179 mit Fn. 704 –, die Auslegung des Art. 13 EMRK muss aber auch auf die Struktur anderer Vertragsstaaten Rücksicht nehmen. 86 Dazu pointiert Sudre, Droit international et européen des droits de l’homme, 13. A. 2016, S. 675, Rn. 434: „En bref, l’article 13 garantit un recours permettant de critiquer les modalités d’application de la législation interne mais non le contenu de la loi“. 87 Zum Ausschluss der Anwendung auf Gesetze s. z. B. EGMR (GK), 19. 10. 2005 – Roche ./. Großbritannien, Rec. 2005-X, S. 87, § 137; w. Nachw. bei Gundel, in: Merten/Papier (Fn. 82), § 146 Rn. 178; im Kontrast dazu für die Anwendung auf konventionswidrige untergesetzliche Rechtsnormen EGMR, 28. 5. 1985 – Abdulaziz, Cabales u. Balkandali ./. Großbritannien, Série A, No 94, §§ 92 f. = EuGRZ 1985, 567. 88 Tz. 202 des Urteils (Fn. 1). 89 s. o. bei Fn. 69.
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V. Der internationale Investitionsschutz als Alternative und Konkurrenz zum nationalen Grundrechtsschutz Bekanntlich hat Vattenfall sich nicht auf die unsichere Option der Verfassungsbeschwerde beschränkt, sondern daneben90 ein Investitionsschutz-Schiedsverfahren auf Grundlage des Energiecharta-Vertrages91 gegen die Bundesrepublik eingeleitet,92 das nach den ICSID-Regeln geführt wird93. Die staatliche Eigenschaft des Klägers hat in diesem Zusammenhang anders als im Bereich des Grund- und Menschenrechtsschutzes keine Bedeutung, weil die Ratio des internationalen Investitionsschutzes darauf ausgerichtet ist, ausländische Investitionen unabhängig von ihrer privaten oder staatlichen Herkunft vor dem Zugriff des Gaststaates zu schützen.94 Sofern der Investor die Möglichkeit der ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit in Anspruch nimmt, muss sein Heimatstaat auf den Einsatz anderer völkerrechtlicher Druckmittel verzichten95 ; diese Sperre greift allerdings nicht mehr, wenn ein Schiedsurteil zu seinen Gunsten ergangen ist und der Gaststaat dessen Durchführung verweigert. Die Konkurrenz durch diese Schutzalternative wird in der Entscheidung des BVerfG mit keinem Wort angesprochen; sie mag aber unausgesprochen auch eine Rolle für die Entscheidung des BVerfG gespielt haben, Vattenfall grundrechtlichen Schutz zuzuerkennen. Teils wird jedenfalls angenommen, dass die Erfolgsaussichten dieses Schiedsverfahrens durch die Anerkennung der Grundrechtsfähigkeit einge90
Zum Verhältnis beider Verfahren zueinander s. u. bei Fn. 97 ff. Vertrag über die Energiecharta, ABl. EG 1994 L 380/3; ABl. EG 1998 L 69/5; 34 ILM (1995), 381 m. Einführung Wälde, S. 360 ff., sowie BGBl. 1997 II S. 5; zu Entstehungsgeschichte und Funktion dieses Abkommens s. Gundel, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. 1, 3. A. 2014, Einl. D Rn. 303 ff.; Germelmann, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, EnCharta Rn. 4 ff. (88. EL 2016); zur umstrittenen Frage, ob solche Verfahren auch innerhalb der EU, d. h. von Investoren aus anderen EU-Mitgliedstaaten genutzt werden können (sog. Intra-EU-Verfahren), s. den Vorlagebeschluss BGH, 3. 3. 2016 – I ZB 2/ 15, EuZW 2016, 512 m. Anm. Kottmann, beim EuGH anhängig als Rs. C-284/16 (Achmea/ Slowakei). 92 Das Verfahren ist weiter anhängig als ICSID Case No. ARB/12/12; zu ihm Gundel, EnWZ 2016, 243 ff.; Dederer, in: Raetzke/Feldmann/Frank (Hrsg.), Aus der Werkstatt des Nuklearrechts, 2016, S. 119 ff. 93 Art. 26 Abs. 4 EnCV lässt klagenden Investoren hier die Wahl zwischen einem Verfahren beim Investitionsschutz-Schiedsgericht der Weltbank (ICSID, s. o. Fn. 28), einem autonomen Schiedsverfahren nach den UNCITRAL-Schiedsregeln oder einem Verfahren vor dem Schiedsinstitut der Handelskammer Stockholm; dazu Gundel, in: Säcker (Fn. 91), Einl. D Rn. 336 ff.; Germelmann, in: Danner/Theobald (Fn. 91), Rn. 117. 94 s. z. B. Konrad, in: Bungenberg/Griebel/Hobe/Reinisch (eds.), International Investment Law, 2015, S. 545 ff.; Ludwigs, NVwZ 2016, 1 (5); weiter die Beiträge in der speziell staatlichen Investoren gewidmeten Ausgabe der ICSID Review, s. Blyschak, 31 ICSID Review (2016), 5 ff.; Poulsen, 31 ICSID Review (2016), 12 ff.; Feldman, 31 ICSID Review (2016), 24 ff. 95 Art. 27 ICSID-Konvention (s. o. Fn. 28); zum Zusammenhang von Investitionsschutz und diplomatischem Schutz durch den Heimatstaat s. Gundel, ArchVR 51 (2013), 108 (129 ff.). 91
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schränkt worden seien96. Zwingend ist diese Konsequenz nicht, nachdem das BVerfG die Ansprüche ja im Ergebnis weitgehend abgewiesen hat und die InvestitionsschutzSchiedsgerichtsbarkeit nicht zur Voraussetzung hat, dass kein innerstaatlicher Rechtsschutz verfügbar ist; den Investoren wird vielmehr im Grundsatz eine ggf. zusätzlich zum (und unabhängig vom) Rechtsschutz im Inland97 bestehende Rechtsschutzmöglichkeit eingeräumt98. Auch sind unterschiedliche Maßstabsnormen anzuwenden, so dass auch eine vom nationalen Verfassungsgericht als (weitgehend) verfassungsmäßig eingestufte Regelung durch das Schiedsgericht als Verletzung der Investitionsschutz-Standards eingeordnet werden kann.99 Die daraus ggf. resultierende „Privilegierung“ des ausländischen Investors gegenüber dem inländischen Grundrechtsträger ist dabei keine Neuerung des modernen Investitionsschutzrechts100, sondern findet sich schon in den traditionellen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts, die einen unabhängig von der innerstaatlichen Rechtslage zu gewährleistenden fremdenrechtlichen Mindeststandard101 vorgeben. Die Gewährung des nationalen Grundrechtsschutzes durch das BVerfG kann diese Position nicht verdrängen; richtig ist aber sicher, dass eine prozessuale Schlechterstellung des ausländischen Investors gegenüber inländischen Beschwerdeführern aus der externen Perspektive des Schiedsgerichts besonderen Erklärungsbedarf begründet hätte, der nun nicht anfällt102. 96
So Däuper, NuR 2017, 169 (172). Eine Verpflichtung zur vorherigen Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe besteht nach dem EnCV grundsätzlich nicht; bei den parallel vor dem BVerfG und dem ICSIDSchiedsgericht anhängig gemachten Verfahren liegt auch Identität im Sinne einer anderweitigen Rechtshängigkeit nicht vor, weil weder das Klageziel noch die anwendbaren Maßstabsnormen übereinstimmen, s. zum Problem Audit, in: Leben (dir.), Droit international des investissements et de l’arbitrage transnational, 2015, S. 941 (957 ff.); Cuendet, in: de Nanteuil (dir.), L’accès de l’investisseur à la justice arbitrale, 2015, S. 107 (117 ff.). 98 Das Investitionsschutzrecht kennt allerdings das Instrument der „Fork in the road“Klauseln, nach denen der Investor zwischen innerstaatlichem und schiedsgerichtlichem Rechtsschutz wählen muss, s. dazu z. B. Markert, Streitschlichtungsklauseln in Investitionsschutzabkommen, 2010, S. 223 ff. Eine solche Wahlpflicht sieht auch Art. 26 Abs. 2 lit. b EnCV vor, wenn eine Vertragspartei bei der Ratifikation eine entsprechende Erklärung abgibt; Deutschland hat diese Möglichkeit allerdings nicht wahrgenommen. 99 Dazu zuletzt das ICSID-Schiedsurteil v. 4. 5. 2017, ICSID Case No. ARB/13/36, Eiser Infrastructure Ltd. u. a. /. Spanien, §§ 372 f., zum Vorbringen des beklagten Königreichs Spanien, das sich auf die Billigung seiner Gesetzgebung durch das Tribunal Constitucional berufen hatte; s. auch Gundel, EnWZ 2016, 243 (250). 100 Die durch das Vattenfall-Verfahren und die TTIP-Verhandlungen belebte Kontroverse um die Legitimität der Investitionsschutz-Schiedsgerichtsbarkeit kann an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden; dazu z. B. m.w.N. Gundel, EnWZ 2016, 243 (248 ff.). 101 Zum fremdenrechtlichen Mindeststandard s. z. B. Tomuschat, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/2, 2009, § 178; Dolzer/Kreuter-Kirchhof, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. A. 2016, § 6 Rn. 42 ff.; Franke, Der personelle Anwendungsbereich des internationalen Investitionsschutzrechts, 2013, S. 34 ff. 102 Zu diesem möglichen Subtext der Weichenstellung des BVerfG s. auch Shirvani, DÖV 2017, 281 (283). 97
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Akut wird damit allerdings das Problem der Koordinierung der parallelen Verfahren zur Vermeidung doppelter Entschädigungspflichten, wenn das Schiedsgericht dem Kläger weitergehende Ansprüche zusprechen sollte. Den Weg der einfachen Verrechnung wird das Schiedsgericht dabei nicht gehen können, weil die vom BVerfG als verfassungsrechtlich geboten angesehenen Ausgleichsleistungen nicht feststehen, sondern durch den Gesetzgeber festzulegen sind;103 sollte das Schiedsgericht vor dieser Umsetzung zum Ergebnis einer weitergehenden Entschädigungspflicht gelangen, müsste es wohl eine Anrechnung der erst später festgesetzten nationalen Entschädigungen vorbehalten. VI. Ergebnisse Die Lehre vom notwendigen personalen Substrat des Grundrechtsschutzes erscheint überzeugender, als es das BVerfG in der hier behandelten Entscheidung selbst annimmt104 : Grundrechte sind keine beliebigen Verteidigungsinstrumente, die bei Bedarf auch Staaten oder staatlichen Institutionen zur Verfügung gestellt werden können; ihre spezifische Funktion ist der Schutz des Einzelnen gegen die Hoheitsgewalt. Diese Einordnung verdient auch in der noch nicht entschiedenen Diskussion um die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte auf Staatsunternehmen oder Staaten Beachtung, auch wenn das Grundverständnis in den Mitgliedstaaten hier sehr unterschiedlich ist105. Sofern man diese Grundannahme zur besonderen Funktion der Grundrechte teilt, besteht aus dieser Sicht die erhebliche Gefahr, dass durch die hier behandelte Entscheidung des BVerfG – auch wenn sie ausdrücklich als situationsbezogene Einzelfallentscheidung ausgewiesen wurde – bisher klar gezogene Grenzlinien verschwimmen: Die Existenz des Präzedenzfalls lässt sich nicht ignorieren, und auch die Diskussion darüber, weshalb sein Ergebnis nicht auf andere Konstellationen übertragbar sein sollte, wird sich nicht unterbinden lassen. Angesichts der Eingriffsintensität der Energiewende und der starken Präsenz von – inländischen wie ausländischen – staatlich beherrschten Unternehmen im Energiesektor sind gerade in diesem Bereich entsprechende Folgestreitigkeiten absehbar.
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Tz. 399 des BVerfG-Urteils (Fn. 1) mit der Setzung einer Frist für den Erlass der Neuregelung bis zum 30. 6. 2018; zu den verschiedenen Alternativen Roller, ZUR 2017, 277 (286 f.). 104 s. o. Fn. 47. 105 s. dazu o. Fn. 58 ff.
Gesetzesbegründungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Felix Hardach, Berlin I. Gesetzesbegründungen 1. Einführung Dieser Beitrag verbindet einen Schwerpunkt der Forschung und Lehre des Jubilars – das Staatsrecht – mit einer Tätigkeit, die in Verbindung mit seinem früheren Wirkungskreis im Bundeswirtschaftsministerium steht – dem Verfassen von Begründungen zu Gesetzesvorlagen der Regierung. Das Grundgesetz erwähnt bzw. fordert Gesetzesbegründungen nicht ausdrücklich. Sie werden im Gesetzgebungsverfahren teilweise implizit vorausgesetzt, wenn in Art. 76 Abs. 2 Satz 1, 2 bzw. Abs. 3 GG davon die Rede ist, dass der Bundesrat zum Gesetzesvorhaben Stellung nimmt bzw. die Bundesregierung ihre Auffassung darlegt.1 Ergiebiger sind die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane: Gesetzesvorlagen der Bundesregierung müssen eine Begründung zum Gesetzentwurf haben.2 In § 43 GGO ist der Inhalt der Begründung vorgegeben. In ihr sind etwa die Zielsetzung des Gesetzentwurfs und seiner Einzelvorschriften darzulegen3 und Änderungen zur geltenden Rechtslage.4 Auch für Gesetzesvorlagen, die aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden, ist eine (kurze) Begründung vorgesehen.5 In der Geschäftsordnung des Bundesrates kommt die Begründung nur am Rande vor, wenn ein Ausschuss dem Bundesrat die Änderung oder Ablehnung einer Vorlage empfiehlt.6 In der Literatur wird gefordert, zwischen der „Gesetzesbegründung“ und der Begründung von Gesetzesvorlagen zu trennen, da sonst der Eindruck entstünde, die Begründung der Vorlage habe eine Sonderstellung gegenüber anderen Gesetzesmaterialien (wie den Dokumenten der Ausschüsse von Bundestag und Bundesrat, der Stel1
Vgl. Waldhoff, in: Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 75 (88). § 42 Abs. 1 Satz 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO). 3 § 43 Abs. 1 Nr. 1 GGO. 4 § 43 Abs. 1 Nr. 11 GGO. 5 §§ 76 Abs. 2, 96 Abs. 3 GOBT. 6 § 26 Abs. 3 Satz 2, siehe auch zur Veröffentlichung von Ausschuss-Begründungen § 44 Abs. 3, § 45 f Abs. 2 BRGO. 2
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lungnahme des Bundesrats oder der Gegenäußerung der Bundesregierung).7 Wenn daher im Folgenden von der Gesetzesbegründung die Rede ist, sind damit nicht nur die Begründungen der Gesetzesvorlagen, sondern alle Gesetzesmaterialien, die über die Gründe für das Gesetz oder seine einzelnen Normen Auskunft geben, gemeint. Die Gesetzesbegründung steht in einem Spannungsverhältnis dazu, dass der Zweck des Gesetzes „aus den getroffenen Regelungen selbst ohne weiteres erkennbar sein“ sollte und sich „oft auch bereits aus der Bezeichnung“ ergibt.8 Diese zitierte Stelle aus dem Handbuch der Rechtsförmlichkeit bezieht sich darauf, dass ein Paragraf, der die Zweckbestimmung des Gesetzes erklärt, entbehrlich sein soll. Gemeint ist also, dass der Zweck des ganzen Gesetzes ohne weiteres erkennbar sein soll, nicht unbedingt Sinn und Zweck jeder einzelnen Regelung. Jedoch gilt idealerweise, dass der Sinn und ein für den Gesetzgebungsprozess hinreichendes Verständnis von der Auslegung einer Regelung aus dieser selbst ersichtlich sein sollen. Daher besteht der Besondere (auf die einzelnen Regelungen bezogene) Teil der Gesetzesbegründungen meist überwiegend aus bloßen Wiedergaben des Gesetzestexts und nur in geringerem Maß aus Aussagen, die darüber hinausgehen. Eine effiziente Herangehensweise könnte darin bestehen, dass der Besondere Teil einer Gesetzesbegründung nicht zu jedem Satz des Gesetzesentwurfs Stellung nimmt, sondern nur zu denen, zu denen es wirklich etwas zu sagen gibt. Dies ist jedoch nicht üblich. 2. Die Gesetzesbegründung als „Wille des Gesetzgebers“ Aus der Gesetzesbegründung erhofft man sich Hinweise für die Auslegung einzelner Normen. Dies läuft auf die Ermittlung des „Willens des Gesetzgebers“ hinaus. Im 19. Jahrhundert sind über das Ziel der Gesetzesauslegung die „subjektive Theorie“ und die „objektive Theorie“ entwickelt worden: Die subjektive Theorie zielt auf die Erforschung des historisch-psychologischen Willens des Gesetzgebers ab, die objektive auf die Erschließung eines dem Gesetz selbst innewohnenden Sinnes.9 Heutzutage geht man davon aus, dass beide methodischen Gesichtspunkte bei der Auslegung zu berücksichtigen sind.10 Wenn Wortsinn und Systematik des Gesetzes verschiedene Auslegungen des Gesetzes zulassen, dann liegt die Frage nahe, welche der Auslegungen der Regelungsabsicht des Gesetzgebers am besten entspricht.11 7
von Buch, ZRP 1973, 64; siehe auch Waldhoff, in: FS für Isensee, 2007, S. 325 (329). BMJ, Handbuch der Rechtsförmlichkeit, BAnz Nr. 160a v. 22. 10. 2008, Rn. 362. 9 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1995, S. 137; Fleischer, in: ders. (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 1 (5 ff.). 10 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1995, S. 137 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 429 f.; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, Rn. 248; Fleischer, in: ders. (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 1 (9 ff.); aus verfassungsrechtlicher Perspektive Waldhoff, in: Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 75 (86 ff., 90 ff.). 11 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1995, S. 149. 8
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Das BVerfG hat zu diesem Methodenstreit früh erklärt: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.“12 In einem gewissen Kontrast zu dieser Aussage steht, dass das BVerfG sich auch bei älteren Gesetzen durchaus ausführlich mit der Entstehungsgeschichte auseinandersetzt und sie nicht nur zur Bestätigung, sondern auch gleichwertig mit anderen Aspekten als Grundlage einer Auslegung heranzieht.13 Bei der Suche nach dem „Willen des Gesetzgebers“ ist zu beachten, dass staatliche Organe keinen „psychischen Willen“ haben, sodass ihr Wille eine Fiktion ist, die auf einen objektiven Sinnbezug des Staatshandelns gerichtet ist.14 Wenn es nicht um die Rechtfertigung des Gesetzeswerks als solches, sondern den Sinn einzelner Normen geht, stammen die konkretesten Aussagen zur Regelungsabsicht in den meisten Fällen aus der Gesetzesbegründung eines Regierungsentwurfs.15 Diese Begründungen werden wie der Entwurf selbst von Ministerialbeamten oder bisweilen sogar im Wege des „Outsourcings“ von Forschungsinstituten oder Anwaltskanzleien erstellt, die nicht die Eigenschaft als „der Gesetzgeber“ für sich in Anspruch nehmen können.16 Bundestag und Bundesrat legen nur Begründungen vor, wenn die Gesetzesinitiative von ihnen stammt oder soweit im parlamentarischen Verfahren Änderungen des Vorschlags der Bundesregierung vorgeschlagen werden.17 Soweit Bundestag und Bundesrat einen Vorschlag der Bundesregierung annehmen, äußern sie sich nicht dazu, ob der Gesetzgeber den Gesetzesvorschlag aus denselben Gründen angenommen hat, aus denen die Bundesregierung ihn unterbreitet hat. Die protokollierten Redebeiträge von Abgeordneten äußern sich meist nur zur allgemeinen Stoßrichtung 12 BVerfG v. 21. 05. 1952 – 2 BvH 2/52 – BVerfGE 1, 299 (312); BVerfG v. 15. 12. 1959 – 1 BvL 10/55 – BVerfGE 10, 234 (244). Stärkeres Interesse für die Regelungsabsichten des Gesetzgebers bei neuen Regelungen, das letztlich doch wieder relativiert wird, bei BVerfG v. 11. 06. 1980 – 1 PBvU 1/79 – BVerfGE 54, 277 (297 f.). 13 Sachs, DVBl 1984, 73 (78, 81 f.); Fleischer, in: ders. (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 1 (11). 14 Waldhoff, in: FS für Isensee, 2007, S. 325 (331); Dolzer, DÖV 1985, 9 (16). 15 Fleischer, in: ders. (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 1 (14 f.). 16 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1995, S. 149 f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 431. 17 Dazu, dass auch bei Begründungen zu parlamentarischen Änderungen regelmäßig die Ministerien Entwürfe liefern, siehe Seibert, in: Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 111 (124).
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eines Gesetzes, nicht zur Auslegung einzelner Normen.18 Nach der sog. „Paktentheorie“ billigt das Parlament, das bei der Beratung und Beschlussfassung keine eigenen Vorstellungen dokumentiert, denjenigen Sinn, den die Verfasser des Entwurfs in der Begründung des Regierungsentwurfs kundgetan haben.19 Dagegen wird eingewandt, dass sich das Parlament nicht notwendigerweise Sinn und Begründung einer Norm in Gestalt ihres Entwurfs zu eigen macht, wenn es ein Gesetz beschließt.20 Auch wenn dann eine gewisse Unsicherheit besteht, ob man es tatsächlich mit dem „Willen des Gesetzgebers“ zu tun hat, taugt die Begründung dann aber trotzdem als Hinweis auf die historisch intendierte Auslegung.21 Diese Zurechnung findet natürlich dort ihre Grenze, wo es um Vorgänge geht, bei denen unklar ist, ob der Gesetzgeber im Sinne des gesamten Parlaments, dessen Wille maßgeblich ist, von ihnen überhaupt Kenntnis hatte.22 Es heißt oft, dass die Begründungen an die jeweils anderen Beteiligten am Gesetzgebungsverfahren adressiert und somit staatsinternes Kontrollmittel seien.23 Die Gesetzesbegründung ist jedoch nicht auf diese staatsinterne Funktion beschränkt, weil in sie auch Aussagen aufgenommen werden, die bewusst auf den Horizont der Anwender ausgerichtet sind.24
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Fleischer, in: ders. (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 1 (14). Fleischer, in: ders. (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 1 (15); Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 432 mit Fn. 48. 20 Waldhoff, in: FS für Isensee, 2007, S. 325 (329); von Buch, ZRP 1973, 64. 21 Waldhoff, in: FS für Isensee, 2007, S. 325 (329 f.). 22 BVerfG v. 6. 11. 2012 – 2 BvL 51/06 – BVerfGE 132, 334 (352 Rn. 56) zu Diskussionen vorbereitender Gremien einzelner Fraktionen. 23 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987, S. 13, 15; Waldhoff, in: FS für Isensee, 2007, S. 325 (329). 24 Seibert, in: Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 111 (112 f.). Beispiel: Nach § 11 des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes erhalten Luftfahrzeug-Betreiber auf Antrag eine Zuteilung von kostenlosen Emissionsberechtigungen, die sich in der ersten „Zuteilungs-Runde“ nach ihrer Transportleistung (Produkt aus Flugstrecke und Nutzlast) im Basisjahr 2010 richtete. Wenn in der Begründung zum Gesetzentwurf erwähnt wird, dass die Nachweise, die die Behörde laut Gesetz zur Prüfung der Richtigkeit der Transportleistungs-Angaben anfordern kann, etwa Flugpläne sein können (BT-Drs. 17/5296, S. 50), dann richtet sich dies in erster Linie an die Rechtsanwender. Wenn hingegen davon die Rede ist, dass die Europäische Kommission „zugesagt [hat] zu prüfen, ob es in Folge des Ausbruchs des Vulkans Eyjafjallajökull im Jahr 2010 zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Fluggesellschaften hinsichtlich künftiger kostenloser Zuteilungen kommen wird und daher ggf. weiterer Handlungsbedarf besteht“ (BT-Drs. 17/5296, S. 49), dann war diese Aussage in der Tat in erster Linie für den politischen Prozess des Gesetzgebungsverfahrens bestimmt, nicht unbedingt nur für Bundestag und Bundesrat, sondern auch für die anzuhörenden Verbände. 19
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II. Die Rolle von Gesetzesbegründungen in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen Wie erwähnt, wird auf Gesetzesbegründungen zurückgegriffen, um eine Rechtsnorm auszulegen, soweit Wortlaut und Systematik nicht eindeutig sind. Auch Änderungen des Grundgesetzes selbst haben Gesetzesbegründungen, die zur Auslegung herangezogen werden.25 Es gibt aber auch spezifisch verfassungsrechtliche Verwendungen von Gesetzesbegründungen. 1. Gesetzesbegründung gibt Auskunft über Ziel und Zweck Gesetze müssen mit den Grundrechten konform sein. Insbesondere müssen Eingriffe in Grundrechte verhältnismäßig sein. Sie müssen ein legitimes Ziel verfolgen. Gesetzliche Ungleichbehandlungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG müssen einen sachlichen Grund haben. In der verfassungsrechtlichen Prüfung verdeutlicht die Gesetzesbegründung, welches Ziel der Gesetzgeber mit einem Grundrechtseingriff verfolgte26 bzw. welcher Grund ihn zu einer Ungleichbehandlung bewogen hat27, jeweils soweit dies nicht aus der Regelung selbst erkennbar ist.28 An der Gesetzesbegründung lässt sich auch festmachen, dass eine Maßnahme eine berufsregelnde Tendenz hat und somit einen Eingriff in die Berufsfreiheit darstellt..29 2. Bestimmtheit Ferner ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip das Gebot der hinreichenden Bestimmtheit von Rechtsvorschriften.30 Es besagt, dass Bürger die Rechtsfolgen der an sie gerichteten Gesetze zuverlässig erkennen können müssen, um ihr Verhalten danach einrichten zu können.31 Für diesen Grundsatz reicht aus, dass sich mit Hilfe juristischer Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften des Gesetzes, der Berücksichtigung des Normzusammenhangs sowie der Gesetzesbegründung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwen25 BVerfG v. 13. 04. 2017 – 2 BvL 6/13 – NVwZ 2017, 1037 (1039 Rn. 73 f.); BVerfG v. 07. 03. 2017 – 1 BvR 1314/12 u.a. – NVwZ 2017, 1111 (1114 Rn. 104). 26 Siehe z. B. BVerfG v. 18. 10. 2016 – 1 BvR 354/11 – NVwZ 2017, 549 (551 Rn. 54); BVerfG v. 16. 6. 2011 – 1 BvR 2394/10 – NJW 2011, 2782 (Rn. 11). 27 BVerfG v. 17. 12. 2014 – 1 BvL 21/12 – BVerfGE 138, 136 (138 Rn. 8, 223 Rn. 224); BVerfG v. 15. 12. 2015 – 2 BvL 1/12 – BVerfGE 141, 1 (43 Rn. 102). 28 Siehe dazu Waldhoff, in: Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 75 (80 ff.). 29 BVerfG v. 5. 11. 2014 – 1 BvF 3/11 – BVerfGE 137, 350 (377 Rn. 70 f.). 30 Siehe nur BVerfG v. 26. 09. 1978 – 1 BvR 525/77 – BVerfGE 49, 168 (181); Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 14. Aufl., 2016, Art. 20, Rn. 82. 31 Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 7. Aufl., 2014, Art. 20, Rn. 129; Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, GG, Lfg. 48, November 2006, Art. 20, Kap. VII, Rn. 58.
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dung der Vorschrift gewinnen lässt.32 Ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot kann also dadurch verhindert werden, dass sich aus der Gesetzesbegründung eine Konkretisierung einer offen formulierten Norm ergibt.33 Es kann auch ausreichen, dass im Gesetzestext auf eine trennscharfe Präzisierung verzichtet wird und nur in der Gesetzesbegründung exemplarisch Beispiele aufgeführt sind, die zur Orientierung dienen können.34 Dies ist nicht selbstverständlich: Von den Bürgerinnen und Bürgern, die sich über den Inhalt von Gesetzen informieren, werden nur die wenigsten die Gesetzesbegründung lesen. Daher sind für sie Regelbeispiele im Gesetzestext hilfreicher als exemplarische Beispiele in der Begründung. Auch gibt es nach der Methodenlehre keine Garantie, dass das Gesetz tatsächlich im Sinne der Begründung ausgelegt wird. Es genügt für den Bestimmtheitsgrundsatz jedoch, dass sich die Bedeutung der Vorschrift durch Auslegung ermitteln lässt, und dies lässt sich mit der Begründung erreichen. Eine Gesetzesbegründung kann also unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes eine Norm vor der Verfassungswidrigkeit „retten“. Allerdings kann die Klarheit, die die Gesetzesbegründung mitunter schafft, für den Bestand des Gesetzes auch negative Folgen haben: Eine eindeutige Begründung kann eine abweichende verfassungskonforme Auslegung hindern und so dazu beitragen, dass die Norm für unvereinbar mit dem GG erklärt wird.35 III. Begründungspflichten 1. Grundsätzlich keine Begründungspflicht Im Folgenden soll es darum gehen, ob die Gesetzesbegründung „optional“ ist oder ob in bestimmten Fällen eine Pflicht zur Begründung besteht. Die Gesetzesbegründung ist grundsätzlich nicht verfassungsrechtlich geboten, wie kürzlich in der Entscheidung zum „Atomausstieg“ bekräftigt.36 Dieser Grundsatz wird griffig auf die Formel „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“37 gebracht. Das Grundge32
Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Lfg. 48, November 2006, Art. 20, Kap. VII, Rn. 61. BVerfG v. 11. 07. 2013 – 2 BvR 2302/11 u. a. – BVerfGE 134, 33 (82 Rn. 113); implizit BVerfG v. 8. 12. 2015 – 1 BvR 1864/14 – NJW 2016, 1229 (Rn. 6) und BVerfG v. 20. 04. 2016 – 1 BvR 966/09 – BVerfGE 141, 220 (340 Rn. 321). 34 BVerfG v. 20. 03. 2013 – 2 BvF 1/05 – BVerfGE 133, 241 (266 Rn. 72). 35 BVerfG v. 14. 04. 2010 – 1 BvL 8/08 – BVerfGE 126, 29 (47 Rn. 50). 36 BVerfG v. 6. 12. 2016 – 1 BvR 2821/11 u. a. – NJW 2017, 217 (228 Rn. 278); siehe auch BVerfG v. 27. 05. 1992 – 2 BvF 2/88 u. a. – BVerfGE 86, 148 (241); a.A. Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987, S. 95 ff., 214 ff., der eine solche Pflicht aus dem Demokratieprinzip und anderen Verfassungsgrundsätzen herleitet, und Pestalozza, NJW 1981, 2081 (2086); gegen diese Herleitung von Begründungspflichten für den Gesetzgeber Waldhoff, in: FS für Isensee, 2007, S. 325 (330 ff.). 37 Geiger, in: Berberich/Holl/Maaß (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 131 (141); Waldhoff, in: FS für Isensee, 2007, S. 325; BVerfG v. 14. 02. 2012 – 2 BvL 4/10 – BVerfGE 130, 263 (301 Rn. 164), das diesen Grundsatz in der besagten Entscheidung jedoch einschränkt. 33
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setz schreibt grundsätzlich nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen ist.38 Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Anforderungen des Grundgesetzes nicht verfehlt werden.39 Dies gilt, obwohl Gesetzesbegründungen in den oben genannten Geschäftsordnungen vorgeschrieben sind, denn ein Verstoß gegen die Geschäftsordnung macht Gesetze nicht unwirksam, soweit darin nicht zugleich ein Verstoß gegen die Verfassung liegt.40 Es kommt auch nicht vor, dass es für ein Gesetz überhaupt keine begründenden Gesetzesmaterialien gibt, sondern eher, dass die Gründe für bestimmte Entscheidungen des Gesetzgebers nicht aus der Begründung hervorgehen. Weiterhin schadet es auch nicht, wenn in der Gesetzesbegründung Rechtsauffassungen zum Ausdruck kommen, die das BVerfG nicht teilt, etwa dass eine Regelung als klarstellend bezeichnet wird, die nach Ansicht des BVerfG konstitutiv ist.41 Von dem Grundsatz, dass eine Gesetzesbegründung verfassungsrechtlich nicht geboten ist, macht das BVerfG jedoch Ausnahmen, die im Folgenden dargestellt sind.42 2. Fallgruppen von Begründungspflichten a) Besoldung, aber nicht Existenzminimum Beamte des Bundes und der Länder haben Anspruch auf eine Besoldung. Für diese besteht die Anforderung, dass das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln ist (Art. 33 Abs. 5 GG). Aus dieser Vorschrift folgt das Alimentationsprinzip, das den Dienstherrn verpflichtet, Beamte sowie ihre Familien lebenslang angemessen zu alimentieren und ihnen nach ihrem Dienstrang, nach der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung und nach der Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards 38
BVerfG v. 6. 12. 2016 – 1 BvR 2821/11 u. a. – NJW 2017, 217 (228 Rn. 279). BVerfG v. 6. 12. 2016 – 1 BvR 2821/11 – NJW 2017, 217 (228 Rn. 279). 40 BVerfG v. 14. 10. 1970 – 1 BvR 307/68 – BVerfGE 29, 221 (234); Pieroth, in: Jarass/ Pieroth (Hrsg.), GG, 14. Aufl., 2016, Art. 40, Rn. 12; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Lfg. 50, Juni 2007, Art. 40 Rn. 57. 41 BVerfG v. 20. 09. 2016 – 1 BvR 1387/15 – NVwZ 2017, 705 (707 Rn. 40); BVerfG v. 2. 05. 2012 – 2 BvL 5/10 – BVerfGE 131, 20 (37 f. Rn. 67 ff.); Gesetzesänderungen als „Klarstellungen“ zu bezeichnen, ist einerseits eine bewusste Strategie, um zu behaupten, das Geregelte habe immer schon gegolten, Schnapp, JZ 2011, 1125 (1126 f.); Seibert, in: Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 111 (122); andererseits liegt es in der Natur der Sache, dass Ministerialbeamtinnen und -beamte, die die von ihnen als richtig angesehene Gesetzesauslegung in den Gesetzestext übernehmen wollen, dies als Klarstellung ansehen. 42 Siehe auch die Fallgruppen-Übersichten bei Waldhoff, in: FS für Isensee, 2007, S. 325 (327 ff.); von Arnim, DÖV 2016, 368 (369 f.). 39
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einen angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren.43 Bei der praktischen Umsetzung der aus Art. 33 Abs. 5 GG resultierenden Pflicht zur amtsangemessenen Alimentierung besitzt der Gesetzgeber einen weiten Entscheidungsspielraum.44 Die materielle Kontrolle beschränkt sich dabei im Ergebnis auf die Frage, ob die Bezüge der Beamten – anhand einer ambitionierten Gesamtschau verschiedener Kriterien – evident unzureichend sind.45 Ergibt die Gesamtschau, dass die als unzureichend angegriffene Alimentation grundsätzlich als verfassungswidrige Unteralimentation einzustufen ist, bedarf es der Prüfung, ob dies im Ausnahmefall verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann, und hier kommt die Begründungspflicht ins Spiel: „Der Gesetzgeber ist gehalten, bereits im Gesetzgebungsverfahren die Fortschreibung der Besoldungshöhe zu begründen. Die Ermittlung und Abwägung der berücksichtigten und berücksichtigungsfähigen Bestimmungsfaktoren für den verfassungsrechtlich gebotenen Umfang der Anpassung der Besoldung müssen sich in einer entsprechenden Darlegung und Begründung des Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren niederschlagen. Eine bloße Begründbarkeit genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Prozeduralisierung. Der mit der Ausgleichsfunktion der Prozeduralisierung angestrebte Rationalisierungsgewinn kann – auch mit Blick auf die Ermöglichung von Rechtsschutz – effektiv nur erreicht werden, wenn die erforderlichen Sachverhaltsermittlungen vorab erfolgen und dann in der Gesetzesbegründung dokumentiert werden (…). Die Prozeduralisierung zielt auf die Herstellung von Entscheidungen und nicht auf ihre Darstellung, das heißt nachträgliche Begründung (…).“46
Diese Argumentation erscheint stimmig, wirft aber auch die Frage auf, warum dieser Rationalisierungsgewinn durch Prozeduralisierung in diesem Sonderfall erforderlich ist, den meisten anderen Fällen aber nicht. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Gesetzesbegründungspflicht im Besoldungsrecht beruht darauf, dass die Angemessenheit der Alimentation von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig ist und es eine „objektiv richtige“ Alimentation weder als Betrag, der einen bestimmten Mindestlebensstandard erlaubt, noch als bestimmtes Verhältnis zu Gehältern für vergleichbare Positionen im privaten Sektor gibt. Die Tiefe des Begründungserfordernisses hängt nach dem BVerfG aber auch wieder davon ab, in welchem Umfang die Besoldung gekürzt wurde.47 In einer Entscheidung zur sächsischen Beamtenbesoldung hat der Zweite Senat des BVerfG sich mit der Frage befasst, ob es mit Art. 33 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar war, dass eine Angleichung an das West-Besoldungsniveau für die höheren Besoldungsgruppen später erfolgte als für die niedrigeren. Die 43 BVerfG v. 17. 11. 2015 – 2 BvL 19/09 u. a. – BVerfGE 140, 240 (278 Rn. 72); siehe dazu Brinktrine, ZG 2015, 201 (203 ff., 220 ff.). 44 BVerfG v. 17. 11. 2015 – 2 BvL 19/09 u. a. – BVerfGE 140, 240 (278 f. Rn. 73); BVerfG v. 11. 06. 1958 – 1 BvR 1/52 – BVerfGE 8, 1 (16, 22 f.); BVerfG v. 14. 02. 2012 – 2 BvL 4/10 – BVerfGE 130, 263 (294 Rn. 148). 45 BVerfG v. 17. 11. 2015 – 2 BvL 19/09 u. a. – BVerfGE 140, 240 (279 Rn. 75). 46 BVerfG v. 17. 11. 2015 – 2 BvL 19/09 u. a. – BVerfGE 140, 240 (296 Rn. 113). 47 BVerfG v. 17. 11. 2015 – 2 BvL 19/09 u. a. – BVerfGE 140, 240 (310 f. Rn. 154).
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Prüfung des BVerfG lief letztlich darauf hinaus, ob es für die ungleiche Behandlung der Fallgruppen im Besoldungsrecht einen vernünftigen, einleuchtenden Grund gab. Das BVerfG ging aufgrund der Gesetzesmaterialien (Regierungsbegründung und Plenarprotokoll) davon aus, dass eine verzögerte Besoldungsanhebung der höheren Gruppen einzig und allein dazu dienen sollte, Einsparungen zu erzielen, was es letztlich nicht als tragfähigen Grund ansah.48 Der Gesetzgeber konnte sich daher nicht darauf berufen, dass eine Neubewertung der Ämter oder eine grundlegende Neuregelung des Besoldungssystems Gegenstand der Gesetzesänderung gewesen und ihm daher ein besonders weiter Gestaltungsspielraum einzuräumen sei.49 Diese Entscheidung ist letztlich weniger spektakulär als die oben genannte. Wenn sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, dass der Gesetzgeber einen bestimmten Zweck verfolgt hat, ist es einleuchtend, dass er sich später im verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht auf einen anderen, tragfähigeren Zweck berufen kann. Eine andere Herangehensweise wählte jedoch der Erste Senat in einer Frage, bei der es auch um die Bestimmung von Leistungen zum Lebensunterhalt, aber auf existenziellerem Niveau ging: Bei Entscheidungen zu der Frage, ob Leistungen des Sozialrechts dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum genügten, betonte der Erste Senat, dass sich die aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung bezögen, sondern auf dessen Ergebnisse.50 Er führte aus: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs.1 GG bringt für den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten im Verfahren mit sich; entscheidend ist, ob sich die Höhe existenzsichernder Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lässt. Das Grundgesetz enthält in den Art. 76 ff. GG zwar insofern Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren, die auch die Transparenz der Entscheidungen des Gesetzgebers sichern. Das parlamentarische Verfahren mit der ihm eigenen Öffentlichkeitsfunktion (vgl. BVerfGE 119, 96 [128]) sichert so, dass die erforderlichen gesetzgeberischen Entscheidungen öffentlich verhandelt (Art. 42 Abs. 1 Satz 1GG) und ermöglicht, dass sie in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert werden (vgl. BVerfGE 70, 324 [355]; in Abgrenzung zur Bundesversammlung BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 10. Juni 2014 – 2 BvE 2/09 -, juris, Rn. 100). Die Verfassung schreibt jedoch nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen ist, sondern lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber insofern auch nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestim48 BVerfG v. 23. 05. 2017 – 2 BvR 883/14 u. a. – ZBR 2017, 340 (348 Rn. 90 f., 349 Rn. 100 f.). 49 BVerfG v. 23. 05. 2017 – 2 BvR 883/14 – ZBR 2017, 340 (348 Rn. 89); ähnlich BVerfG v. 17. 01. 2017 – 2 BvL 1/10 – NVwZ 2017, 392 (397 Rn. 38); zu nachgeschobenen Begründungen siehe Waldhoff, in: Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 75 (79 f.). 50 BVerfG v. 18. 07. 2012 – 1 BvL 10/10 u. a. – BVerfGE 132, 134 (162 Rn. 70); BVerfG v. 23. 07. 2014 – 1BvL 10/12 u. a. – BVerfGE 137, 34 (73 f. Rn. 77).
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Felix Hardach mung des Existenzminimums vorzunehmen; darum zu ringen ist vielmehr Sache der Politik (vgl. BVerfGE 113, 167 [242]). Entscheidend ist, dass die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden.“51
Der Erste Senat führte weiter aus, das Grundgesetz schreibe keine bestimmte Methode zur Bestimmung des Existenzminimums vor,52 die materielle Kontrolle der Höhe von Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz beschränke sich darauf, ob die Leistungen evident unzureichend seien.53 Jenseits dieser Evidenzkontrolle prüft der Erste Senat, ob die Art und die Höhe der Leistungen sich mit einer Methode erklären lassen, nach der die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt werden und nach der sich die Berechnungsschritte mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses Verfahrens im Rahmen des Vertretbaren bewegen.54 Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich ist.55 Trotz des unterschiedlichen Gegenstands der Entscheidungen zum Besoldungsund Sozialrecht wird deutlich, dass der Erste Senat den Versuch des Zweiten, durch Begründungspflichten einen Rationalisierungsgewinn herbeizuführen, grundsätzlich ablehnt. Sowohl die Verfahrensanforderungen des Zweiten Senats als auch die Methodenkontrolle des Ersten zielen jedoch darauf ab, angemessenen verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutz zu ermöglichen, obwohl das Grundgesetz keine Maßstäbe liefert, anhand derer die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes unmittelbar beurteilt werden kann.56 Für Sonderfälle behält sich das BVerfG daher einen prozeduralen Kontrollzugriff vor, der einerseits den Gesetzgeber vor dezisionistischen Übergriffen des BVerfG auf das Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens verschonen, andererseits aber verhindern soll, dass der Grundrechtsschutz leerläuft.57
51 BVerfG v. 23. 07. 2014 – 1BvL 10/12 u. a. – BVerfGE 137, 34 (73 f. Rn. 77); BVerfG v. 18. 07. 2012 – 1 BvL 10/10 u. a. – BVerfGE 132, 134 (162 f. Rn. 70). 52 BVerfG v. 23. 07. 2014 – 1 BvL 10/12 u. a. – BVerfGE 137, 34 (73 f. Rn. 78); BVerfG v. 18. 07. 2012 – 1 BvL 10/10 u. a. – BVerfGE 132, 134 (162 f. Rn. 71); BVerfG v. 20. 10. 2009 – 1 BvL 1/09 – BVerfGE 175 (225 Rn. 139). 53 BVerfG v. 23. 07. 2014 – 1 BvL 10/12 u. a. – BVerfGE 137, 34 (75 Rn. 81); BVerfG v. 18. 07. 2012 – 1 BvL 10/10 u. a. – BVerfGE 132, 134 (162 f. Rn. 78); so bereits BVerfG v. 20. 10. 2009 – 1 BvL 1/09 u. a. – BVerfGE 125, 175 (225 f. Rn. 241). 54 BVerfG v. 18. 07. 2012 – 1 BvL 10/10 u. a. – BVerfGE 132, 134 (165 f. Rn. 79); BVerfG v. 23. 07. 2014 – 1BvL 10/12 u. a. – BVerfGE 137, 34 (76 Rn. 84); BVerfG v. 20. 10. 2009 – 1 BvL 1/09 u. a. – BVerfGE 125, 175 (226 Rn. 143). 55 BVerfG v. 20. 10. 2009 – 1 BvL 1/09 u. a. – BVerfGE 125, 175 (226 Rn. 142); kritisch jedoch Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (383 ff.). 56 Britz, Die Verwaltung 2017, 421 (428). 57 Britz, Die Verwaltung 2017, 421 (430).
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b) Abgaben aa) Obergrenze der Gesamtsteuerbelastung In einem Beschluss zum Steuerrecht aus dem Jahr 2006 setzte sich das BVerfG (Zweiter Senat) mit der Frage auseinander, ob sich aus den Grundrechten eine absolute Obergrenze für die Belastung mit Einkommen- und Gewerbesteuer ableiten lässt. Die besonderen Schwierigkeiten bestanden darin, dass einerseits eine Steuerobergrenze für den Gesetzgeber zugleich mittelbar eine Ausgaben- und Aufgabenbeschränkung bedeuten kann, obwohl die Finanzverfassung keine materiellen Steuerbelastungsgrenzen erwähnt.58 Andererseits verbietet die Gewährleistung einklagbarer, auch den Gesetzgeber bindender Grundrechte es nach Ansicht des Senats, speziell für das Steuerrecht die Kontrolle anhand verfassungsrechtlicher Grenzen dem Bundesverfassungsgericht gänzlich zu entziehen.59 In diesem Zusammenhang sieht der Zweite Senat auch in der Rechtsprechung des Ersten Senats, eine Verletzung des Eigentumsgrundrecht durch Steuern erst dann anzunehmen, wenn sie eine erdrosselnde Wirkung haben, einen übermäßigen Rückzug der verfassungsgerichtlichen Kontrolle.60 Der Senat sah es als (in der betreffenden Entscheidung nicht einschlägige) Möglichkeit an, in Situationen zunehmender Steuerbelastung der Gesamtheit oder doch einer Mehrheit der Steuerpflichtigen, insbesondere etwa dann, wenn eine solche Belastung auch im internationalen Vergleich als bedrohliche Sonderentwicklung gekennzeichnet werden kann, vom Gesetzgeber die Darlegung besonderer rechtfertigender Gründe zu fordern, nach denen die Steuerlast trotz ungewöhnlicher Höhe noch als zumutbar gelten dürfe.61 bb) Rechtfertigung nichtsteuerlicher Abgaben Nichtsteuerliche Abgaben bedürfen mit Blick auf die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung (Art. 104a ff. GG) und zur Wahrung der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen (Art. 3 Abs. 1 GG) einer über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgehenden besonderen sachlichen Rechtfertigung.62 Dieses Rechtfertigungserfordernis betrifft Grund und Höhe der Abgabe.63 Ihre Zwecke müssen von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen werden.64 Die 58
BVerfG v. 18. 01. 2006 – 2 BvR 2194/99 – BVerfGE 115, 97 (115 Rn. 45). BVerfG v. 18. 01. 2006 – 2 BvR 2194/99 – BVerfGE 115, 97 (116 Rn. 46). 60 BVerfG v. 18. 01. 2006 – 2 BvR 2194/99 – BVerfGE 115, 97 (113, Rn. 38, 116 Rn. 46), mit Verweis auf BVerfG v. 8. 4. 1997 – 1 BvR 48/94 – BVerfGE 95, 267 (300 Rn. 131). 61 BVerfG v. 18. 01. 2006 – 2 BvR 2194/99 – BVerfGE 115, 97 (116 Rn. 46). 62 BVerfG v. 7. 11. 1995 – 2 BvR 413/88 u. a. – BVerfGE 93, 319 (342 f. Rn. 151); BVerfG v. 16. 09. 2009 – 2 BvR 852/07 – BVerfGE 124, 235 (244 Rn. 18); BVerfG v. 6. 11. 2012 – 2 BvL 51/06 u. a. – BVerfGE 132, 334 (349 Rn. 48). 63 BVerfG v. 19. 03. 2003 – 2 BvL 9/98 u. a. – BVerfGE 108, 1 (17 Rn. 54); BVerfG v. 6. 11. 2012 – 2 BvL 51/06 – BVerfGE 132, 334 (349 Rn. 48). 64 BVerfG v. 19. 3. 2003 – 2 BvL 9/98 u. a. – BVerfGE 108, 1 (19 f. Rn. 63 f.); BVerfG v. 6. 11. 2012 – 2 BvL 51/06 – BVerfGE 132, 334 (350 Rn. 50). 59
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Klarheit der Abgabenzwecke kann sich durch Auslegung des Gesetzes, etwa aus Wortlaut oder Systematik ergeben.65 Teilweise spricht das BVerfG davon, dass legitime Gebührenzwecke nach der tatbestandlichen Ausgestaltung der konkreten Gebührenregelung von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen werden müssen.66 Diese Formulierung läuft lediglich auf eine besondere Ausprägung des Bestimmtheitsgrundsatzes hinaus.67 In der oben behandelten Fallgruppe des Besoldungsrechts ist nicht vorstellbar, dass der Gesetzgeber schon durch den Gesetzestext Aufschluss über Ermittlung und Abwägung der Faktoren gibt, die für die Entwicklung der Besoldungshöhe maßgeblich sind. Demgegenüber lässt sich bei nichtsteuerlichen Abgaben grundsätzlich schon durch den Erhebungstatbestand ihr Zweck deutlich machen. In manchen Konstellationen von nichtsteuerlichen Abgaben stößt es jedoch an Grenzen, allein aus dem Gebührentatbestand die gesetzgeberische Entscheidung für einen legitimen Zweck zu bestimmen. Bei den zitierten Entscheidungen zu Rückmeldegebühren an Universitäten bestand etwa Unklarheit darüber, welche individuell zurechenbaren öffentlichen Leistungen damit gedeckt werden sollten. Wenn Wortlaut und Systematik des Gesetzes keine ausreichende Klarheit über den Abgabenzweck bringen, sind entsprechende Hinweise in der Gesetzesbegründung die einzige Möglichkeit, den Anforderungen des BVerfG Genüge zu tun. In den Entscheidungen zu Rückmeldegebühren hat das BVerfG mögliche Gebührenzwecke nicht anerkannt, wenn sie sich weder aus dem Wortlaut noch aus der ursprünglichen Gesetzesbegründung herleiten ließen.68 Das BVerfG betonte hier neben der Normenklarheit auch das Prinzip der Normenwahrheit: Wähle der Gesetzgeber einen im Wortlaut eng begrenzten Gebührentatbestand, könne nicht geltend gemacht werden, er habe noch weitere, ungenannte Gebührenzwecke verfolgt.69 Bei der Fallgestaltung der Rückmeldegebühren dürfte es praktisch gesehen möglich sein, die verfassungsrechtlichen Probleme durch eine klarere Gestaltung des Wortlauts des Gebührentatbestands zu vermeiden.70 In seiner Entscheidung zum niedersächsischen „Wasserpfennig“ gewinnt das BVerfG die Zwecke der Abgabe, die Abschöpfung des durch die Wasserentnahme entstehenden 65 Siehe die Entscheidungen zu Rückmeldegebühren im Studium: BVerfG v. 6. 11. 2012 – 2 BvL 51/06 – BVerfGE 132, 334 (350 Rn. 50, 353 Rn. 58) – Berliner Rückmeldegebühr; BVerfG v. 17. 01. 2017 – 2 BvL 2/14 – NVwZ 2017, 696 (697 Rn. 65, 698 Rn. 71 ff.) – Brandenburger Rückmeldegebühr. 66 BVerfG v. 19. 3. 2003 – 2 BvL 9/98 u. a. – BVerfGE 108, 1 (18 Rn. 63); für Steuern BVerfG v. 6. 03. 2002 – 2 BvL 17/99 – BVerfGE 105, 73 (112 Rn. 161). 67 Waldhoff, in: FS für Isensee, 2007, S. 325 (328). 68 BVerfG v. 17. 01. 2017 – 2 BvL 2/14 – NVwZ 2017, 696 (699 Rn. 82); BVerfG v. 6. 11. 2012 – 2 BvL 51/06 – BVerfGE 132, 334 (355 Rn. 62); BVerfG v. 17. 07. 2003 – 2 BvL 1/99 – BVerfGE 108, 186 (220 f. Rn. 132 f.); hierzu wirft Schiller, NVwZ 2003, 1337 (1340 f.) die Frage auf, ob die Messlatte für den Gesetzgeber nicht etwas zu hoch gelegt sei. 69 BVerfG v. 17. 01. 2017 – 2 BvL 2/14 – NVwZ 2017, 696 (697 Rn. 65); BVerfG v. 6. 11. 2012 – 2 BvL 51/06 – BVerfGE 132, 334 (350 Rn. 50). 70 Siehe den Verweis auf die Regelungen anderer Bundesländer in BVerfG v. 17. 01. 2017 – 2 BvL 2/14 – NVwZ 2017, 696 (699 f. Rn. 91 f.).
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Vorteils und das Lenkungsziel einer sparsamen Verwendung des Wassers, aus den Gesetzesmaterialien.71 In dieser Konstellation erscheint es nicht möglich, allein im Gesetzeswortlaut deutlich zu machen, dass eine Abgabe der Vorteilsabschöpfung und Lenkung zur sparsamen Verwendung dient, so dass es erforderlich ist, diese Zwecke in den Gesetzesmaterialien darzustellen. Die Rechtfertigung der nichtsteuerlichen Abgaben wird hier daher als Fallgruppe einer Gesetzesbegründungspflicht (anstatt lediglich als besondere Ausprägung des Bestimmtheitsgrundsatzes) behandelt, da zumindest in einigen Fällen von Abgaben der Gesetzgeber ohne entsprechende Hinweise in der Gesetzesbegründung seiner Pflicht zur Verdeutlichung des Abgabenzwecks nicht genügen kann.72 Der Kontrolle der nichtsteuerlichen Abgaben dient auch der Grundsatz der Vollständigkeit des Haushaltsplans.73 Eine weitere Verfahrenspflicht zur Begrenzung des Ausmaßes nicht steuerlicher Abgaben ist die Pflicht, Sonderabgaben in angemessenen Zeitabständen zu überprüfen, ob sie wegen veränderter Umstände zu ändern oder aufzuheben sind, und die Sonderabgaben haushaltsrechtlich zu dokumentieren.74 c) Länderfinanzausgleich Zum Länderfinanzausgleich hat das BVerfG einerseits eine Entscheidung getroffen, die eine Begründungspflicht zu einem Aspekt ausdrücklich ablehnt: Der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet, die Gründe für die Wahl des konkreten Wertes der Einwohnerwertung darzulegen, er übe anders als eine Verwaltungsbehörde kein gesetzesgebundenes Ermessen aus.75 An anderer Stelle der Entscheidung fordert das BVerfG einen sachbezogenen gleichen Maßstab für die Berücksichtigung der Haushaltsnotlage von Bundesländern. Es wäre in dem Verfahren hilfreich gewesen, wenn die unterschiedliche Höhe von Hilfen für Länderhaushalte im Gesetzgebungsverfahren begründet worden wäre, doch zieht das BVerfG auch von sich aus objektiv denkbare Maßstäbe heran.76 In einer Entscheidung über Sonderlasten einzelner Länder, die durch Bundesergänzungszuweisungen mitfinanziert wurden, sah das BVerfG jedoch eine den Ausnahmecharakter ausweisende Begründungspflicht des Gesetzge71 BVerfG v. 20. 1. 2010 – 1 BVR 1801/07 u. a. – NVwZ 2010, 831 (833 Rn. 27 ff.). In der „klassischen“ Entscheidung zum hessischen und baden-württembergischen Wasserpfennig thematisiert das BVerfG hingegen die Erkennbarkeit des gesetzgeberischen Abgabezwecks noch nicht, BVerfG v. 7. 11. 1995 – 2 BvR 413/88 u. a. – BVerfGE 93, 319 (344 ff. Rn. 162 ff.). 72 Ein Beispiel ist auch die Versteigerung von Emissionsberechtigungen im Emissionshandelssystem, die als nichtsteuerliche Abgabe der effizienten Verteilung der Berechtigungen dient. Ohne Diskussion, ob gerade der Gesetzgeber diesen Lenkungszweck erkennbar gemacht hat BVerwGE 144, 248 (261 f. Rn. 42 f.). 73 BVerfG v. 7. 11. 1995 – 2 BvR 413/88 u. a. – BVerfGE 93, 319 (343 Rn. 153). 74 BVerfG v. 17. 07. 2003 – 2 BvL 1/99 – BVerfGE 108, 186 (217 Rn. 122 f.); BVerfG v. 16. 09. 2009 – 2 BvR 852/07 – BVerfGE 124, 235 (244 Rn. 28); BVerfG v. 18. 05. 2004 – 2 BvR 2374/99 – BVerfGE 110, 370 (392 f. Rn. 107 ff.). 75 BVerfG v. 27. 05. 1992 – 2 BvF 2/88 u. a. – BVerfGE 86, 148 (241 Rn. 336). 76 BVerfG v. 27. 05. 1992 – 2 BvF 2/88 u. a. – BVerfGE 86, 148 (273 Rn. 419 f.).
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bers für diese Finanzierung.77 Der Hintergrund der Begründungspflicht – ebenso wie der Forderung, dass die Sonderlasten tatbestandlich im Maßstäbegesetz zu berücksichtigen sind – ist das föderative Gleichbehandlungsgebot. Es solle sichergestellt werden, dass die ausgewiesenen und benannten Sonderlasten bei allen lastenbetroffenen Ländern berücksichtigt würden, dass die berücksichtigten Sonderlasten in angemessenen Abständen auf ihren Fortbestand überprüft würden und dass die Kontrolle durch Gerichtsbarkeit und Öffentlichkeit einen deutlich greifbaren Anknüpfungspunkt gewinne.78 d) Staatsverschuldung Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG lautete bis zu seinem Wegfall zum 1. August 2009: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.“ Das BVerfG hat dazu entschieden, der Gesetzgeber habe eine Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren, dass, aus welchen Gründen und in welcher Weise er von der Befugnis des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 GG Gebrauch mache.79 Dies trage dazu bei, die Inanspruchnahme der Ausnahmebefugnis zu erhöhter Kreditaufnahme trotz des Fehlens eindeutiger materiell-rechtlicher Vorgaben auf Ausnahmefälle zu beschränken und so ihren Ausnahmecharakter zu sichern; die Unbestimmtheit des materiellen Maßstabs finde damit „ein Stück weit“ ihren Ausgleich in formell-verfahrensmäßigen Anforderungen.80 Es sei dazu keine bestimmte Form zu verlangen, die Darlegungen könnten durch „jegliche Stellungnahmen und Erklärungen der an der Haushaltsgesetzgebung beteiligten Organe im Gesetzgebungsverfahren, auch in den Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates erfolgen“.81 Die Darlegungen müssten allerdings erkennbar machen, dass „die parlamentarische Mehrheit mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes die Verantwortung auch für die Begründung der erhöhten Kreditaufnahme übernimmt“.82 IV. Fazit Die zitierten Fallgruppen haben gemeinsam, dass das BVerfG die Frage einer Begründungspflicht durch den Gesetzgeber dort aufgeworfen und teilweise bejaht hat, wo dem Gesetzgeber nach tradierter Dogmatik nur wenige rechtsstaatliche Grenzen 77
BVerfG v. 11. 11. 1999 – 2 BvF 2/98 u. a. – BVerfGE 101, 158 (224 f. Rn. 299). BVerfG v. 11. 11. 1999 – 2 BvF 2/98 – BVerfGE 101, 158 (225 Rn. 291); BVerfG v. 24. 06. 1986 – 2 BvF 1/83 – BVerfGE 72, 330 (405 f. Rn. 196). 79 BVerfG v. 17. 01. 1989 – 2 BvF 1/82 – BVerfGE 79, 311 (344 Rn. 94). 80 BVerfG v. 17. 01. 1989 – 2 BvF 1/82 – BVerfGE 79, 311 (344 f. Rn. 94). 81 BVerfG v. 17. 01. 1989 – 2 BvF 1/82 – BVerfGE 79, 311 (345 Rn. 96). 82 BVerfG v. 17. 01. 1989 – 2 BvF 1/82 – BVerfGE 79, 311 (345 Rn. 96). 78
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gesetzt sind.83 Es ist kein Zufall, dass es immer um Geld geht. Für die Frage, welche Höhe die Finanzströme vom Bürger zum Staat, vom Bund zu den Ländern, zwischen den Ländern und vom Staat zu den Bürgern haben dürfen oder müssen, kann das Grundgesetz keine konkreten Vorgaben liefern. Insbesondere lassen sich aus der Verfassung keine Beträge herleiten.84 Die Versuche des BVerfG, trotzdem Maßstäbe für eine verfassungsgerichtliche Kontrolle zu entwickeln, werden in der Literatur teilweise als zu übergriffig gegenüber dem Gesetzgeber kritisiert.85 Da andererseits beim Geld bekanntlich die Freundschaft aufhört, würde es der Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Finanzströme für Bürgerinnen und Bürger wie Bundesländer nicht gerecht, wenn die der Materie geschuldete geringe Aussagekraft der verfassungsrechtlichen Normen zu einer Rücknahme der verfassungsrechtlichen Kontrolle auf Extremfälle führen würde. Ein Problem ist, dass dieser Kontrollanspruch dazu führt, dass das BVerfG recht „freischwebend“ Maßstäbe für die verfassungsrechtliche Prüfung entwickeln muss, von denen sich schwer sagen lässt, ob der eine (Gesetzesbegründungspflicht) mehr vom Grundgesetz gewollt ist als der andere (Methodenkontrolle). Der Wunsch nach gerichtlicher Kontrolle in den Bereichen ohne klare im Grundgesetz formulierte Maßstäbe bringt daher eine gewisse Akzeptanz neuer Rechtsfortbildungen des BVerfG mit sich. Eine Gesetzesbegründung, die die Rechtsprechung des BVerfG berücksichtigt, ist auf den ersten Blick schnell geschrieben.86 Der Kontrollmaßstab der Begründungspflicht verheißt daher einerseits Respekt vor dem demokratisch gewählten Gesetzgeber, birgt aber andererseits auch das Risiko, zur bloßen Formalie auszuarten. Allerdings sind die Anforderungen, z. B. ein umfassendes Konzept für eine Reform der Beamtenbesoldung vorzulegen, den Abschöpfungs- oder Lenkungszweck einer nichtsteuerlichen Abgabe zu erläutern oder den Ausnahmecharakter der Sonderlast eines Landes zu begründen, doch so anspruchsvoll, dass es verfassungsrechtlich zu83 Vgl. Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), 49 (64); Britz, Die Verwaltung 2017, 421 (430); Stuttmann, NVwZ 2015, 1007 (1013); von Arnim, DÖV 2016, 368 (370 f.). 84 Für das menschenwürdige Existenzminimum im Sozialrecht Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (384); BVerfG v. 20. 10. 2009 – 1 BvL 1/09 – BVerfGE 175 (225 f. Rn. 142). 85 Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (383 ff.); siehe zum früheren Streit, ob das BVerfG zu Recht die steuerliche Berücksichtigung eines familiären Existenzminimums aus der Verfassung hergeleitet hatte, Schneider, NJW 1999, 1303 ff.; kritisch zu der Beamtenbesoldungs-Rechtsprechung Hebeler, ZBR 2015, 289 (292, 294). 86 Die Entscheidung BVerfG v. 17. 01. 2017 – 2 BvL 2/14 – NVwZ 2017, 696 (699 f. Rn. 82 und 91 f.) zeigt hier zweierlei: Einerseits war der Versuch des Landes Brandenburg, seine Rückmeldegebühren-Regelung nachträglich auf dem Begründungsweg als Reaktion auf die entsprechenden BVerfG-Urteile zu Baden-Württemberg und Berlin zu retten, nicht erfolgreich. Andererseits wären mit einem von Anfang an umfassenderen Konzept auch sehr viel höhere Gebühren, die einen größeren Teil der gegenüber den Studierenden erbrachten Leistungen abgedeckt hätten, verfassungsrechtlich möglich gewesen.
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mindest sehr riskant wäre, sie mit „zurechtgebogenen“ Begründungen erfüllen zu wollen, und daher tatsächlich konzeptionelle Überlegungen des Initiators eines Gesetzgebungsprozesses erforderlich sind. Es wird sich erweisen, ob die Pflicht zu einer „gerichtsfesten“ Begründung den erhofften Rationalisierungsgewinn in der Sache bringt. Auch außerhalb der vom BVerfG anerkannten Begründungspflichten kann es für die verfassungsrechtliche Beurteilung eines Gesetzes entscheidend sein, wenn mögliche verfassungsrechtliche Probleme, etwa in Bezug auf den Zweck von Grundrechtseingriffen oder hinsichtlich der Bestimmtheit, sachgerecht in der Gesetzesbegründung behandelt werden. Es ist daher zu begrüßen, dass diesen naturgemäß eher im Schatten stehenden Materialien in letzter Zeit wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil wird.
Asylrecht und Flüchtlingsschutz – grenzenlose Garantien? Von Christian Hillgruber, Bonn I. Einleitung: Deutschland im Herbst 2015 Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise erklärt die Bundeskanzlerin in einem Zeitungsinterview vom 11. September 2015 – zur Abwehr von lauter werdenden Forderungen nach Zurückweisung der täglich zu Tausenden nach Deutschland strömenden Flüchtlinge an der Grenze zu Österreich –: „Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze“.1 Diese apodiktische Feststellung wird in den folgenden Wochen und Monaten zum Mantra all derjenigen, die der Bundeskanzlerin in ihrer Flüchtlingspolitik folgen. Wir wissen heute dank der akribischen Recherche eines Journalisten, dass dessen ungeachtet noch am folgenden und übernächsten Tag ernsthaft erwogen worden ist, ja fast schon beschlossene Sache war, nicht nur, wie tatsächlich geschehen, wieder Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze einzuführen, sondern dort ankommende Flüchtlinge auch im Fall eines Asylgesuchs zurückzuweisen.2 Dass es zur Grenzschließung nicht gekommen ist, ist also nicht auf eine konsequent durchgehaltene humanitäre Grundsatzentscheidung zurückzuführen – der „humanitäre Imperativ“ ist als kohärentes Movens und erklärendes Narrativ der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin erst nachträglich unterlegt worden – sondern einfach das Ergebnis eklatanter politischer Handlungsschwäche. Man fürchtete „böse Bilder“ und hegte (europa-)rechtliche Bedenken: „[K]einer der Beteiligten wollte in dieser Lage eine so rechtlich umstrittene wie unpopuläre Entscheidung treffen. […] Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will.“3 1 Alexander, Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik. Report aus dem Innern der Macht, 2017, S. 15. Schon am Abend des 4. 9. 2015, als sie die Entscheidung treffen sollte, die in Budapest festsitzenden Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen, hatte die Bundeskanzlerin beim Festakt zum 70jährigen Bestehen der CDU NRW erklärt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wer vor Not, vor politischer Verfolgung flieht, da haben wir die Verpflichtung, auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonventionen, unseres Asylrechts und des Artikels 1 unseres Grundgesetzes Hilfe zu leisten, ob es uns passt oder nicht!“; zitiert nach R. Alexander, aaO, S. 54. 2 Alexander (Fn. 1), S. 11 – 26. Unklar ist lediglich, ob die Zurückweisung alle Flüchtlinge oder nur die aus sicheren Herkunftsstaaten betreffen sollte; siehe Alexander, aaO, S. 19 f. 3 Alexander (Fn. 1), S. 26.
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Das ist, man muss es so deutlich formulieren, politisches Versagen: „Böse Bilder“ muss man als verantwortlicher Regierungschef aushalten können, und eine Garantie dafür, dass eine getroffene politische Entscheidung von großer Tragweite einer gerichtlichen ex-post-Kontrolle standhält und nicht kassiert wird, kann ex ante niemand geben. Aber das Risiko, dass ein Aufnahmestopp von den Gerichten kassiert worden wäre, hätte bei realistischer Betrachtung als gering eingeschätzt werden können: Weder Verwaltungsgerichte noch das Bundesverfassungsgericht hätten die politische Verantwortung für einen weiteren ungebremsten Flüchtlingsstrom übernehmen können und wollen und wären daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Bundesregierung nicht in den Arm gefallen. Die Flüchtlingskrise ist – aufgrund der Schließung der Balkanroute und des Flüchtlingsdeals der EU-Mitgliedstaaten mit der Türkei – in ihren Auswirkungen auf Deutschland provisorisch eingedämmt; die Zahlen der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge bewegen sich gegenwärtig auf einem zu bewältigenden Niveau. Die Flüchtlingskrise ist aber, darüber besteht Einigkeit, weit davon entfernt, gelöst zu sein. Sie kann sich jederzeit wieder verschärfen, und dafür müssen Deutschland und Europa auch normativ gerüstet sein. Daher muss die Frage beantwortet werden, ob Asylrecht und Flüchtlingsschutz wirklich schrankenlose Garantien sind, Deutschland und Europa tatsächlich alle hier um Schutz nachsuchenden Personen aufnehmen müssen oder ob die humanitären Verpflichtungen Grenzen haben, und wenn ja, wo diese liegen. Das neue Mantra der deutschen Politik lautet: „Eine Situation wie die des Spätsommers 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen.“4 Doch die Wiederholung eines solchen Szenarios lässt sich nicht allein durch Beschwörung vermeiden. Dafür bedarf es vielmehr neben zahlreichen kurz-, mittel- und langfristigen politischen Gegenmaßnahmen, die verhindern, dass sich Menschen weiterhin in so großer Zahl aufgrund höchst prekärer Lebensumstände in ihren Heimatländern auf die Flucht begeben und nach Europa, insbesondere Deutschland, streben, auch einer normativen Vergewisserung darüber, welche Ansprüche Flüchtlinge nach deutschem, europäischem Recht sowie Völkerrecht geltend machen können. Sollten diese Ansprüche gegenwärtig tatsächlich unbeschränkt sein, gilt es, sie durch Rechtsänderung auf ein solches Maß zu reduzieren, dass die aufnehmenden europäischen Staaten durch ihre Erfüllung nicht überfordert und destabilisiert werden.
4 Bundeskanzlerin Merkel auf dem CDU-Parteitag im Dezember 2016, zitiert nach Alexander (Fn. 1), S. 277.
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II. Fiat asylum, pereat res publica? Von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. zu Art. 16a GG 1. Obergrenze „Null“ Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. garantierte seit 1949 ohne jede ausdrückliche Einschränkung5 das Asylrecht für politisch Verfolgte. Die Garantie war die Antwort der Väter und Mütter des Grundgesetzes auf die Erfahrung bereitwilliger Aufnahme vom NS-Regime Verfolgter in einigen europäischen Nachbarstaaten und vor allem in den USA, für die man dankbar war, und ebenso auf ihre Zurückweisung an der Grenze, namentlich der Schweiz – eine Praxis, die man für die Bundesrepublik Deutschland durch verfassungsrechtliche Selbstverpflichtung kategorisch ausschließen wollte. Dieses generöse Versprechen6 war im Zeitpunkt seiner Abgabe allerdings auch wohlfeil. Niemand rechnete mit einem größeren Andrang; wer wollte schon in einem Land Zuflucht suchen, das durch den Krieg verwüstet und durch die begangenen ungeheuren Verbrechen moralisch vollständig diskreditiert war? Das aber sollte sich im Lauf der Jahrzehnte grundlegend ändern. Die Bundesrepublik Deutschland, wirtschaftlich prosperierend und politisch längst eine stabile Demokratie, wurde auch für Asylsuchende und Flüchtlinge zum gelobten Land. Die Zahl der Asylbewerber, die 1972 gerade einmal gut 5.000 betragen hatte, stieg seit Ende der 1980er Jahre kontinuierlich an und erreichte 1992, nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien, einen Höchststand von mehr als 430.000.7 Die Ausgaben für Flüchtlinge verdoppelten sich. Das für die Durchführung der Asylanerkennungsverfahren zuständige Bundesamt war mit der Bearbeitung der Vielzahl der Asylanträge, die Kommunen mit der Unterbringung und Versorgung völlig überfordert. Die sich angesichts der außerordentlich niedrigen Anerkennungsquote (unter 5 %)8 an die zumeist erfolgende Ab5
Hermann von Mangoldt hatte in der 23. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 19. 11. 1948 (Der Parlamentarische Rat. Akten und Protokolle, Bd. 5/2, 1993, 603 (612)) ausdrücklich betont: „Nimmt man eine solche Beschränkung auf, dann kann die Polizei an der Grenze machen, was sie will. Es ist dann erst eine Prüfung notwendig, ob die verfassungsmäßigen Voraussetzungen des Asylrechts vorliegen oder nicht. Diese Prüfung liegt in Händen der Grenzpolizei. Damit wird das Asylrecht vollkommen unwirksam.“ 6 Carlo Schmid machte in der ersten Lesung im Hauptausschuss (18. Sitzung vom 4. 1. 1948, Der Parlamentarische Rat. Akten und Protokolle, Bd. 14/1, 1993, 532 (540)) geltend, Asylgewährung sei „immer eine Frage der Generosität, und wenn man generös sein will, muß man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben“. 7 Angaben des Statistischen Bundesamtes. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass in der letztgenannten Zahl auch Asylbewerber erfasst wurden, die nicht neu in die Bundesrepublik eingereist, sondern lediglich einen Asylfolgeantrag gestellt hatten. 8 Berücksichtigt man allerdings auch anderweitige Fluchtgründe als politische Verfolgung, soweit sie ebenfalls einen humanitären völkerrechtlichen Schutzstandard begründen (Eigenschaft als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG; subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylVfG; Abschiebungsschutz) liegt die „Gesamtschutzquote“ deutlich höher, 2014 bei 31,5 %. Siehe BAMF: „Das Bundesamt in Zahlen 2014“ – Modul Asyl vom 10. 4. 2015.
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lehnung der Asylanträge anschließenden Gerichtsverfahren dauerten sehr lange, und führten auch dann, wenn die Asylbegehren rechtskräftig abgelehnt wurden, häufig aufgrund rechtlicher oder faktischer Hindernisse nicht zu Abschiebungen, nicht selten – nach einer Folge von sog. Kettenduldungen – sogar zu dem von den Asylbewerbern erstrebten permanenten ausländerrechtlichen Status.9 Darüber machte sich in der Bevölkerung, die eine massenhafte missbräuchliche Inanspruchnahme des politisch Verfolgten vorbehaltenen Asylrechts durch wirtschaftlich motivierte Flüchtlinge10 argwöhnte, zunehmend Unmut breit, der sich teilweise in offener Fremdenfeindlichkeit und sogar in Gewalttätigkeiten bis hin zu Morden und Mordversuchen artikulierte und zum Aufkommen rechter Protestparteien wie der „Republikaner“ führte. Die Stimmung war explosiv11, und politisch wuchs der Druck, durch Grundgesetzänderung die Zahl derjenigen, die in Deutschland Asyl nachsuchen konnten, drastisch zu reduzieren, um eine weitere politische Radikalisierung zu verhindern. Schon machte das Wort vom „Staatsnotstand“ (Bundeskanzler Helmut Kohl) und von der „Unregierbarkeit“ die Runde.12 Um diesen wirklichen oder vermeintlichen Notstand zu beheben, sollte die Verfassung geändert werden. Die Notwendigkeit dazu ergab sich aus Sicht der Befürworter daraus, dass allein die Stellung eines Asylantrags zu einem unmittelbar aus Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. folgenden Recht auf Einreise und einem vorläufigen – bis zum Abschluss des Asylverfahrens bestehenden – Bleiberecht führte.13
9 Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Art. 16a (Stand: März 2007) Rn. 6. 10 Bade, APuZ 25/2015, 3 (6 f.) erklärt den Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ schlicht für denunziatorisch. Das ist unzutreffend. Er bringt lediglich zum Ausdruck, dass in diesem Fall wirtschaftliche und soziale Beweggründe, der Wunsch nach einem besseren Leben, das Begehren, in Deutschland Aufenthalt nehmen zu können, begründen. Das ist verständlich, hat aber eben nichts mit dem Asylrecht i.S.d. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F., Art. 16a Abs. 1 GG n.F. zu tun. Wenn Bade sodann beklagt, dass es für diese Flüchtlinge „keine andere Zuwanderungsmöglichkeit […] als diesen Weg durch ein Asylverfahren“ gegeben habe (aaO, S. 7), so verkennt er, dass alle Staaten über die Zulassung von Arbeitsmigration nach anderen Kriterien entscheiden als über die Gewährung von Schutz vor politischer Verfolgung, nämlich nicht nach humanitären, sondern nach eigennützigen, und insofern ihren eigenen wirtschaftlichen Vorteil, nicht den der potentiellen Zuwanderer im Sinn habend, es sei denn dieser deckt sich mit ersterem. 11 Siehe dazu, wenn auch mit anderer Akzentuierung, Gaserow, Asylkompromiss von 1992. Lichterketten und SPD-Asylanten, zeit online vom 6. 12. 2012: „Aus einem Zusammenspiel von realer Überforderung, bürokratischem Chaos und fremdenfeindlichen Ressentiments war Anfang der neunziger Jahre, kurz nach der Wiedervereinigung, mittels politischer Instrumentalisierung und medialer Skandalisierung ein explosives Gemisch entstanden.“ 12 Siehe dazu Der Spiegel 45/1992 vom 2. 11. 1992, S. 18 f., 24 ff.: „Das ist der Staatsstreich“ und „Tips zum Verfassungsbruch“; Bade, APuZ 25/2015, 3 (5). 13 Randelzhofer (Fn. 9), Rn. 6; dort auch zu den Folgewirkungen. Siehe ferner BT-Drucks. 12/4152, S. 3. BVerfGE 56, 216, 238 erklärte es für mit Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. für nicht vereinbar, „daß die Ausländerbehörden ihrerseits gegen Asylsuchende vor Durchführung des
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Pläne, die Verfassung zu ändern, um so die Möglichkeit, in Deutschland Asyl zu beantragen, einzuschränken14, stießen allerdings politisch auch auf heftigen Widerstand. Die Debatte um die Änderung des Asylrechts sollte eine der schärfsten, polemischsten und folgenreichsten Auseinandersetzungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte werden.15 Hunderttausende demonstrierten für ein „Händeweg vom Asylgrundrecht“.16 Nach der sog. „Petersburger Wende“ der SPD verständigten sich CDU/CSU, SPD und FDP auf den sog. Asylkompromiss, der eine Verfassungsänderung einschloss. Die schließlich zustande gekommene und mit Wirkung zum 1. Juni 1993 in Kraft getretene Verfassungsänderung17 erschien „den einen als rettende Reform, den anderen als das Ende des grundgesetzlich verbrieften Asylrechts“.18 Jedenfalls erreichte die Verfassungsänderung zunächst das mit ihr verfolgte Ziel: Die Zahl der Asylsuchenden ging in den Folgejahren stark zurück (auf unter 20.000 im Jahr 2007). Mit Art. 16a GG ist es zu einer weitreichenden Beschränkung der Möglichkeit der Geltendmachung des Asylrechts in Deutschland durch das Konzept der sog. sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten gekommen. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG erklärt alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften (jetzt: Europäischen Union) zu sog. sicheren Drittstaaten – Staaten, in denen Menschen effektiv vor politischer Verfolgung in ihren Herkunftsländern geschützt werden –, in die von dort kommende Asylbewerber deshalb unverzüglich zurückgewiesen werden können, und ermächtigt den Gesetzgeber, weitere Staaten, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskon-
Anerkennungsverfahrens aufenthaltsbeendende Maßnahmen ergreifen und dabei Asylbegehren als offensichtlich rechtsmißbräuchlich außer acht lassen.“ 14 Die rechtspolitischen Vorschläge reichten von einem einfachen bzw. qualifizierten Gesetzesvorbehalt, unter den das Grundrecht auf Asyl zu stellen sei, über eine Umwandlung desselben in eine bloß institutionelle Garantie ohne subjektives Recht bis zu dessen vollständiger Abschaffung; Überblick über und Bewertung der Änderungsvorschläge bei Randelzhofer (Fn. 9), Rn. 8 – 11. 15 Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, 2001, S. 299. 16 Siehe dazu Gaserow, Asylkompromiss von 1992. Lichterketten und SPD-Asylanten, zeit online vom 6. 12. 2012. 17 Das Bundesverfassungsgericht bestätigte bei einer im Rahmen von Verfassungsbeschwerden durchgeführten Inzidentkontrolle die Verfassungskonformität des neuen Art. 16a GG mit knapper Begründung und ohne jede Einschränkung. Der verfassungsändernde Gesetzgeber sei auch in der Gestaltung und Veränderung von Grundrechten, soweit nicht die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG berührt sind, rechtlich frei und gebe dem Bundesverfassungsgericht den Maßstab vor (BVerfGE 94, 49, LS 1 b), 85). Das Asylgrundrecht gehöre nicht zum Gewährleistungsinhalt von Art. 1 Abs. 1 GG. Sei der verfassungsändernde Gesetzgeber aber nicht daran gehindert, das Asylgrundrecht als solches aufzuheben, ergebe sich ohne weiteres, dass die Regelung des Art. 16a GG sich innerhalb der Grenzen einer zulässigen Verfassungsänderung halte (BVerfGE 94, 49, 103 f.). 18 Franßen, DVBl. 1993, 300 bezeichnete den neuen Art. 16a GG denn auch als „Grundrechtsverhinderungsvorschrift“.
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vention und der EMRK sichergestellt ist, zu solchen Drittstaaten zu erklären.19 Wer aus einem sicheren Drittstaat kommt, kann sich nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG nicht auf das Grundrecht auf Asyl berufen. Damit wird der aus einem sicheren Drittstaat einreisende Ausländer aus dem persönlichen Geltungsbereich des Grundrechts auf Asyl ausgeschlossen. Da Deutschland ausschließlich von sicheren Drittstaaten umgeben ist, kann auf dem Landweg kein einziger Mensch Deutschland erreichen, für den das Asylrecht nach Art. 16a Abs. 1 GG gilt. Hier gilt gewissermaßen die Obergrenze Null. In der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 konnte daher das Asylgrundrecht des Grundgesetzes in Wahrheit gar keine Rolle spielen. Wer – aus welchen Gründen auch immer – seine außereuropäische Heimat verlassen hatte und sich aufmachte, auf der Balkanroute nach Deutschland zu gelangen, war unter keinen Umständen asylberechtigt und wäre daher jedenfalls nach der nationalen Rechtslage gemäß § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG an der Grenze zurückzuweisen gewesen. 2. Der Vorbehalt des Möglichen Der verfassungsändernde Gesetzgeber wollte ersichtlich eine enge Beschränkung des Kreises der Asylberechtigten erreichen. Hätte er dabei nicht das Konzept der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten verfolgt, so hätte er entweder das Asylrecht unter Gesetzesvorbehalt gestellt oder als subjektives Individualrecht gänzlich abgeschafft. Ein grenzenloses Aufnahmeversprechen wollte er jedenfalls definitiv nicht mehr länger geben. Es ist überdies auch fraglich, ob das Asylgrundrecht jemals ein solches beinhaltet hat. Das Asylgrundrecht hat nämlich den Charakter eines Leistungsrechts. Es will Schutz vor politischer Verfolgung im Herkunftsland gewährleisten, und diese Gewährleistung beinhaltet für politische Verfolgte staatliche Leistungen, deren wichtigste die Erlaubnis des Aufenthalts im Bundesgebiet (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), zumindest bis zum Wegfall des Asylgrunds, ist (zu Widerruf und Rücknahme der Asylberechtigung und der Flüchtlingseigenschaft siehe § 73 AsylG). Hinzu treten insbesondere Sozialleistungen, wie die nach dem SGB II (siehe § 7 Abs. 1 SGB II) oder XII (siehe § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII), ferner der Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt sowie sämtliche vermögenswerte Vorteile. Grundrechtliche Leistungsrechte stehen, anders als Abwehrrechte, stets „unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise 19
Gemäß Art. 16a Abs. 3 GG können zudem gesetzlich sog. sichere Herkunftsstaaten identifiziert werden, in denen aufgrund der Rechtslage und der tatsächlichen Situation angenommen werden kann, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Diese Vermutung der Nichtverfolgung kann nur durch substantiierten gegenteiligen Tatsachenvortrag entkräftet werden. Das BVerfG deutet Art. 16a Abs. 3 GG als eine Beschränkung lediglich des verfahrensbezogenen Gewährleistungsinhalts des Asylgrundrechts, nicht seines personellen Geltungsbereichs; BVerfGE 94, 115, 132 f.
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von der Gesellschaft beanspruchen kann“.20 Die staatlichen Ressourcen sind endlich, und auch im Staatsrecht gilt: impossibilium nulla obligatio. Der grundrechtsverpflichtete Staat kann nur Unterlassen unbegrenzt versprechen und erfüllen, Meinungsäußerungen nicht zu untersagen oder zu sanktionieren, nicht in die Wohnung einzudringen, nicht zu foltern, etc., aber nicht positives Tun. Hier stößt er immer unwillkürlich an Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Man kann diese Grenze als solche nicht ernstlich in Abrede stellen, man kann und muss nur fragen, wo genau diese Grenze verläuft. Sie dürfte verfassungsunmittelbar kaum exakt bestimmt werden können. Dies zu beurteilen, dürfte vielmehr in erster Linie Sache des eigenverantwortlichen Gesetzgebers sein, der bei seiner Haushaltswirtschaft auch andere Gemeinschaftsbelange außer den berechtigten Anliegen politisch Verfolgter zu berücksichtigen und zudem gemäß Art. 109 Abs. 2 GG den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen hat. Keine Verfassungsbestimmung, auch nicht die – nach der Rechtsprechung des BVerfG gar nicht änderungsfeste – Asylrechtsgarantie darf isoliert interpretiert werden, denn die Verfassung stellt eine Sinneinheit dar, und schon gar nicht so ausgelegt werden, dass sie den Staat als Garanten aller Grund- und Menschenrechte systematisch überfordert. Eine solche Überforderung könnte im Fall eines Massenzustroms nicht nur vorübergehend durch eine Vielzahl von auch unberechtigten Asylbegehren und damit verbundenen vorläufigen Bleiberechten und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eintreten, sondern unter Umständen auch dauerhaft durch eine allzu große Zahl Asylberechtigter. Davor schützt indes die Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich Art. 16a Abs. 2 GG, der alle Asylsuchenden, die aus sicheren Drittstaaten kommen, und das sind alle, die Deutschland auf dem Landweg erreichen, von der grundrechtlichen Asylberechtigung in Deutschland ausschließen. III. Die europäische Perspektive: Das Gemeinsame Europäische Asylsystem Das nationale Recht einschließlich des Verfassungsrechts wird aber mittlerweile durch Europarecht überlagert und teilweise verdrängt. Das ist dem Text des Grundgesetzes nicht zu entnehmen21, aber Folge des vom Grundgesetz akzeptierten, ja ge20 So BVerfGE 33, 303, 333 bereits für bloße Teilhaberechte wie das Recht auf Teilhabe an den universitären Ausbildungskapazitäten. 21 Dass die grundgesetzliche Regelung des Art. 16a GG auch aus deutscher Perspektive nicht notwendig das letzte Wort ist, deutet immerhin die Öffnungsklausel des Art. 16a Abs. 5 GG an, die zur Beteiligung am Abschluss völkerrechtlicher Abkommen, die abgrenzende Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen und aufenthaltsbeendenden Maßnahmen treffen, ermächtigt. Damit wird auch die Möglichkeit begründet, eine vom deutschen Asyl(-grund-)recht abweichende internationale Zuständigkeit Deutschlands für Asylbegehren zu begründen. Art. 16a Abs. 5 GG bildete die verfassungsrechtliche Rechtsgrundlage für die Beteiligung Deutschlands am Schengener Durchführungsabkommen und dem Übereinkommen von 1990. Die Vorschrift ist aber aufgrund der Verlagerung der Zuständigkeiten für Asyl und Zuwan-
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wollten Prozesses der europäischen Integration (vgl. Präambel, Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG). Mit dem zum 12. Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag von 1997 ist die Kompetenz für asylrechtliche Regelungen auf die Europäische Union übergegangen. Auf dieser Basis hat die Union eine in verschiedenen Rechtsakten konkretisierte gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz entwickelt, in deren Rahmen „jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll“ (Art. 78 Abs. 1 Satz 1 AEUV). Diese Politik zielt auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, das die Festlegung gemeinsamer Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Antrags auf Asyl oder subsidiären Schutz zuständig ist, einschließt. Dies regelt die sog. Dublin-III-VO.22 Durch die Zuständigkeitsregelungen dieser VO kann abweichend vom Grundgesetz und dem deutschen Asylgesetz eine Zuständigkeit Deutschlands sowohl ausgeschlossen wie auch begründet werden. Ist danach ein anderer Mitgliedstaat der EU für die Prüfung eines internationalen Schutzbegehrens zuständig, wird dieses in Deutschland auch dann nicht durchgeführt, wenn sich aus Art. 16a GG oder einfachgesetzlich etwas anderes ergäbe. Umgekehrt kann Deutschland nach den Bestimmungen der Verordnung, etwa bei Familienangehörigen (vgl. Art. 8 – 10 Dublin-III-VO), auch dann zuständig sein, wenn der Schutzsuchende die Außengrenze der Europäischen Union auf dem Landweg überschritten hat und damit auf seinem Weg nach Deutschland notwendig einen sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 GG passiert hat. In einem solchen Fall ist von der Einreiseverweigerung oder Zurückschiebung auch bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat abzusehen (§ 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG). Gleichwohl wäre Deutschland auch nach den europäischen Zuständigkeitsregelungen allenfalls für die Prüfung der Schutzbegehren eines kleinen Bruchteils der seit 2015 massenhaft nach Deutschland strömenden Flüchtlinge zuständig gewesen; denn Asylsuchende haben kein Recht darauf, den Mitgliedstaat, in dem sie Asyl beantragen wollen, frei zu wählen; vielmehr gilt grundsätzlich das „Verursacherprinzip“, dem zufolge die Zuständigkeit bei dem Mitgliedstaat liegt, in den sie als erstes eingereist sind und in dem sie sich aufgehalten haben, also regelmäßig bei den Mitderung von den Mitgliedstaaten der EU auf diese selbst weitgehend bedeutungslos geworden (siehe nur Maaßen, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2013, Art. 16a Rn. 109). 22 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 6. 2013 (ABl. EU Nr. L 180 vom 29. 6. 2013, S. 31 ff.) zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III). Die Kommission hat am 4. 5. 2016 den Vorschlag für eine Dublin-IV-VO vorgelegt, COM(2016) 270 final, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/home-af fairs/sites/homeaffairs/files/what-we-do/policies/european-agenda-migration/proposal-imple mentation-package/docs/20160504/dublin_reform_proposal_en.pdf.
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gliedstaaten an der Außengrenze der Europäischen Union (siehe Art. 13 Dublin-IIIVO). Diese Staaten, insbesondere Griechenland und Italien, waren und sind aber durch diese Regelung, die ihre primäre Prüfungszuständigkeit begründet, systematisch überfordert. Sie haben darauf, nachdem ihre Hilferufe jahrelang geflissentlich überhört worden sind, durch rechtswidrige Formen der Selbsthilfe reagiert, die das Dublin-System unterlaufen. Sie verzichten – im kollusiven Zusammenwirken mit den Flüchtlingen, die dort gar nicht bleiben wollen – auf deren Registrierung und lassen sie bis zum Zielstaat ihrer Wahl weiterreisen, was im europäischen (Schengen-) Raum ohne Binnengrenzen faktisch kein Problem ist. Dass hunderttausende Flüchtlinge seit dem Spätsommer 2015 über die Balkanroute wunschgemäß nach Deutschland kommen konnten und hier erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz stellten23, war überhaupt nur möglich, weil viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union an der EU-Außengrenze ihren Verpflichtungen nach dem Schengener Grenzkodex24 nicht nachgekommen sind; denn Drittstaatsangehörige dürfen danach nur dann in einen EU-Mitgliedstaat einreisen, wenn sie – bei Flüchtlingen kaum denkbar – ein Visum besitzen oder wenn sie ebendort nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO internationalen Schutz beantragen. Tun sie dies nicht, so sind sie grundsätzlich (vorbehaltlich Art. 5 Abs. IV Schengener Grenzkodex) an der Grenze zurückzuweisen (Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 5 Abs. 1 Schengener Grenzkodex). Die stattdessen praktizierte Übung des „Durchwinkens“ bis zum Zielstaat Deutschland war offensichtlich rechtswidrig.25 Ob Deutschland darauf – nach vorübergehender Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen an der Grenze zu Österreich – mit Zurückweisungen hätte reagieren können oder gar müssen, ist umstritten.26 23 Dieser Umstand begründete nach Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO – vorbehaltlich Art. 20 IV Dublin-III-VO – eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Einleitung des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung zuständigen Mitgliedstaats und eine subsidiäre Auffangzuständigkeit Deutschlands nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO. 24 Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15. 3. 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen. 25 Bestätigt durch Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 26. 7. 2017, Jafari – Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs (Österreich) – Rechtssache C-646/16 – Rn. 59 – 102; Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 26. 7. 2017, A.S. gegen Republik Slowenien – Vorabentscheidungsersuchen der Vrhovno sodisˇcˇ e Republike Slovenije – Rechtssache C-490/16 – Rn. 36 – 42. 26 Siehe dazu – bejahend – Peukert/Hillgruber/Foerste/Putzke, ZAR 2016, 131 – 136; dies war im weiteren Verlauf der Flüchtlingskrise auch der Rechtsstandpunkt der Bundesregierung, siehe Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, 20. 1. 2016, BT-Drucks. 18/7311, S. 3, 5: „Eine Zurückweisung ist im Rechtsrahmen der Dublin-III Verordnung und des § 18 AsylG zulässig.“ Deshalb hatte sie zeitgleich mit der Einführung von Binnengrenzkontrollen an der Grenze zu Österreich am 13. 9. 2015 auch entschieden, „dass Maßnahmen der Zurückweisung an der Grenze mit Bezug auf um Schutz nachsuchende Drittstaatsangehörige derzeit nicht zur Anwendung kommen“ (ebd., S. 2), was die Möglichkeit zur Ergreifung solcher Maßnahmen implizit offenhält. Der EuGH (siehe Urteil des Gerichtshofs (Große Kam-
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Dem Problem der systematischen Überforderung einzelner Mitgliedstaaten der Europäischen Union soll von Rechts wegen durch Solidarität der Union begegnet werden. Art. 80 AEUV bestimmt die Geltung des Grundsatzes „der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“, auch in finanzieller Hinsicht. Was dieser vage Grundsatz konkret bedeuten soll, darüber streiten die Mitgliedstaaten, je nach Interessenlage, bis heute. Das Dublin-System, schon zuvor fragil, brach in der großen Flüchtlingskrise des Jahres 2015 faktisch zusammen – ob es damit auch de jure hinfällig geworden war, blieb streitig. Eine Einigung über die angestrebte Dublin-Reform, die am Verursacherprinzip nichts ändern würde, aber einen Solidaritätsmechanismus, der zu einer gerechten Lastenverteilung innerhalb der EU führt, einführen soll, steht noch aus. Die sog. Massenzustromrichtlinie27 sieht einen Mechanismus einer EU-weit koordinierten Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen jenseits des Dublin-Systems vor. Die Mitgliedstaaten geben dabei an, wie viele Personen sie jeweils freiwillig aufnehmen. Die Aktivierung dieses Mechanismus setzt einen mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Ratsbeschluss voraus. Obwohl das ursprünglich angepeilte Ziel, eine verbindliche Aufnahmequote für die EU-Mitgliedstaaten vorzuschreiben, fallengelassen wurde, es vielmehr beim Grundsatz der Freiwilligkeit blieb, so dass die Mitgliedstaaten danach weiterhin selbst ihre Aufnahmekapazität bestimmen, konnte man sich in der großen Flüchtlingskrise nicht auf die Anwendung dieser Richtlinie verständigen. Von den beiden relocation-Programmen des Jahres 201528, die, gestützt auf die Rechtsgrundlage des Art. 78 Abs. 3 AEUV, eine Umsiedelung von insgesamt mer) vom 26. 7. 2017, Jafari – Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs (Österreich) – Rechtssache C-646/16 – Rn. 100) hält die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO für eine Option zur Milderung der Belastungen eines Mitgliedstaats an der EU-Außengrenze durch eine außergewöhnlich hohe Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger. Ob das Selbsteintrittsrecht wirklich eine Entlastungsfunktion für solche strukturellen Überforderungskonstellationen haben soll, erscheint allerdings durchaus zweifelhaft. 27 Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. 7. 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, ABl. EU L 212/12. 28 Am 20. 7. 2015 wurde eine Entschließung der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten über die Umsiedlung von 40.000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, aus Griechenland und Italien angenommen. Siehe dazu auch den Beschluss (EU) 2015/1523 des Rates vom 14. 9. 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland, ABl. EU L 239/146. Am 22. 9. 2015 nahm der Rat den Willen und die Bereitschaft der Mitgliedstaaten zur Kenntnis, sich an der Umsiedlung von 120.000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, zu beteiligen; vgl. dazu den Beschluss (EU) 2015/1601 vom 22. 9. 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen
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160.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland in andere EU-Staaten vorsehen, die bis zum 26. September 2017 abgeschlossen sein sollte, sind – bei formellen Zusagen der Mitgliedstaaten für ein gutes Viertel dieses Kontingents – deutlich weniger als ein Fünftel umgesetzt, d. h. in absoluten Zahlen bisher noch keine 28.000 Personen tatsächlich umgesiedelt worden.29 Die europaweite Verteilung einer begrenzten Anzahl von Flüchtlingen („Relocation“), auf die sich die EU 2015 durch einen Mehrheitsbeschluss des Rates30 als vorläufige Maßnahme verständigte, kommt also kaum voran. Dass und wie aus diesem selbst notleidenden Notfallmechanismus ein funktionierender ständiger Umverteilungsmechanismus werden soll, ist angesichts der Haltung der Mitgliedstaaten, die im Regelfall zwischen Hinhaltetaktik und Obstruktion angesiedelt ist, schwer vorstellbar. Doch selbst wenn eine faire Verantwortungsteilung zwischen den Mitgliedstaaten gelänge, indem das gegenwärtige Zuständigkeitssystem durch einen korrigierenden Umverteilungs- und Zuweisungsmechanismus ergänzt würde, der automatisch aktiviert wird, wann immer Mitgliedstaaten eine – gemessen an ihrer Bevölkerungszahl und wirtschaftlichen Leistungskraft – unverhältnismäßig hohe Zahl von Asylbewerbern zu bewältigen haben31, so könnte damit zwar die relative Überlastung einzelner Mitgliedstaaten verhindert werden, aber nicht ein Kollaps des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems als Ganzes. Bei einem Massenansturm kann aber irgendwann auch die Europäische Union insgesamt absolut überfordert sein. Das kollektive Schutzversprechen der am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) beteiligten Mitgliedstaaten, „jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt“ (Hervorh. v. Verf.), zu prüfen (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-V0)32, bleibt bisher unangetastet. Der Passus „einschließlich an der Grenze“ signalisiert in diesem Zusammenhang, Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland, ABl EU L 248/80. Die gegen diesen, auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützten Beschluss erhobene Nichtigkeitsklage der Slowakei und Ungarns hat der EuGH (Große Kammer) mit Urteil vom 6. 9. 2017 – Rechtssache C-643/15 und C-647/15 – als unbegründet zurückgewiesen. 29 Die Unterstützung des Emergency Relocation Mechanism der EU durch die Mitgliedstaaten (Stand: 6. 9. 2017), abrufbar unter: https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/ files/what-we-do/policies/european-agenda-migration/press-material/docs/state_of_play_-_relo cation_en.pdf. Zwischenzeitlich sind 54.000 noch nicht zugewiesene Plätze aus der 120.000 Personen umfassenden Entscheidung des Rates vom 22. 9. 2015 für die Zwecke einer legalen Zulassung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei in die EU verfügbar gemacht worden. 30 Tschechien, Ungarn, Rumänien und die Slowakei stimmten dagegen; Finnland enthielt sich der Stimme. 31 Siehe dazu den Vorschlag der Kommission für eine Dublin-IV-Verordnung, Chapter VII, Art. 34 – 43, COM(2016) 270 final, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/ho meaffairs/files/what-we-do/policies/european-agenda-migration/proposal-implementation-pa ckage/docs/20160504/dublin_reform_proposal_en.pdf, S. 4. 32 Siehe dazu Urteil des EuGH (Große Kammer) vom 26. 7. 2017, Jafari – Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs (Österreich) – Rechtssache C-646/16 – Rn. 96.
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dass eine Zurückweisung in einen Staat, in dem Verfolgung herrscht oder kein hinreichender Schutz besteht, ausgeschlossen sein soll. Damit will man ersichtlich den Verpflichtungen aus dem Refoulement-Verbot des Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention vollumfänglich entsprechen.33 Die Europäische Union will also tatsächlich allen rechtmäßig Schutzsuchenden aus Drittstaaten offenstehen (vgl. Art. 78 Abs. 1 Satz 1 AEUV). Jedem Flüchtling wird die Gewähr geboten, dass sein Antrag von einem der Mitgliedstaaten der EU geprüft wird.34 Übernimmt sich die Europäische Union damit aber nicht selbst? Erfüllt sie damit wirklich zwingende völkerrechtliche Verpflichtungen, die ihren Mitgliedstaaten nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder der Europäischen Menschenrechtskonvention obliegen? IV. Die völkerrechtliche Perspektive: Die Schutzverpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention Die „Magna Charta des internationalen Flüchtlingsrechts“ ist die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951. Sie schützt – seit der Ausdehnung des persönlichen Anwendungsbereichs der Konvention durch das New Yorker Protokoll von 1967 – alle Personen, die aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Meinung, sich außerhalb des Landes ihrer Staatsangehörigkeit befinden und außerstande oder aufgrund besagter Furcht nicht willens sind, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen, insbesondere vor Aus- oder Zurückweisung in ein Land, in dem ihm Verfolgung aus den oben genannten Fluchtgründen droht (Art. 33 GFK). Die genaue Reichweite dieses Grundsatzes des non-refoulement ist aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht eindeutig zu entnehmen. Insbesondere war lange umstritten, ob das – unter ordre-public-Vorbehalt stehende (siehe Abs. 2) – Verbot des Art. 33 GFK auch die Abweisung an der Grenze erfasst. Die Entstehungsgeschichte spricht gegen diese Annahme35, und so wurde denn auch anfänglich nahezu einhellig die
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Dazu hat sie sich auch in Art. 18 GRCh verpflichtet. Siehe bereits Präambel des Dublin-Übereinkommens (DÜ) von 1990, ferner Denkschrift der Bundesregierung zum DÜ, BT-Drucks. 12/6485, S. 13 unter A.I. 35 Siehe dazu näher Weis, BYIL (30) 1953, 478 (481 – 483), der aber bereits den Weg zur Anerkennung des Prinzips geebnet sah, „that a State shall not refuse admission to a refugee, i. e. that it shall grant him at least temporary asylum – pending his settlement in a country willing to grant him residence – if non-admission is tantamount to surrender to the country of persecution“ (483); ders., AJIL 48 (1954), 193 (196, 198 f.); Robinson, Convention Relating to the Status of Refugees. Its History, Contents and Interpretation, 1953, Art. 33, S. 163; Kälin/Caroni/Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating To The Status of Refugees And Its 1967 Protocol, A Commentary, 2011, Art. 33 Rn. 19. Auch der Wortlaut 34
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Auffassung vertreten, Art. 33 GFK erfasse nur Flüchtlinge, die – legal oder illegal – Zutritt zum Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats erlangt haben, hindere die Vertragsstaaten aber nicht daran, ihnen an der Grenze den Zutritt zu verweigern.36 Dies wird heute aber – jedenfalls in der Literatur, das Staatenverhalten ist weniger klar – überwiegend37 anders gesehen. Insbesondere38 mit Rücksicht auf die humanitäre Zielsetzung der Konvention39 und nachfolgende Praxis40 wird auch eine Abweisung an der Grenze für unzulässig erachtet, sofern sie den Flüchtling der befürchteten Verfolgung aussetzen würde. Auf diesem Standpunkt steht ersichtlich auch das europäische Recht. Die Unzulässigkeit einer Abweisung eines Flüchtlings an der Grenze hat die praktische Konsequenz, dass ihm jedenfalls vorläufig, das heißt bis zur abschließenden, die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes gemäß Art. 16 Abs. 1 GFK einschließenden Prüfung der Begründetheit der geltend gemachten Furcht vor Verfolgung der Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Zufluchtsstaats, und sei es auch nur im
spricht eher dagegen; siehe dazu näher Kau, Ein Recht auf Migration. Die Migrationskrise aus der Perspektive des Völkerrechts, Manuskript, S. 9 m. Fn. 45. 36 Robinson (Fn. 35), S. 163, der diese Konsequenz allerdings kritisierte: „In other words, if a refugee has succeeded in eluding the frontier guards, he is safe; if he has not, it is his hard luck. It cannot be said that this is a satisfactory solution of the problem of asylum.“ 37 Beispielhaft Lauterpacht/Bethlehem, in: UNHCR (Hrsg.), Refugee Protection in International Law, 2013, 87 (113 – 115). Siehe aber Grahl-Madsen, Commentary on the Refugee Convention 1951: Articles 2 – 11, 13 – 37, Nachdruck 1997, Art. 33 Anm. 3, der allerdings einräumt: „There may, however, be borderline cases in both the figurative and the literal sense of the word.“ Dies soll insbesondere bei auf das eigene Territorium zurückgezogenen Grenzposten gelten: „And if the frontier control post is at some distance (a yard, a hundred meters) from the actual frontier, so that anyone approaching the frontier control point is actually in the country, he may be refused permission to proceed farther inland, but he must be allowed to stay in the bit of the territory which is situated between the actual frontier line and the control post, because any other course of action would mean a violation of Article 33 (1).“ 38 Zum Teil wird auch darauf abgestellt, dass ein Flüchtling, der einen Grenzposten des Staates erreicht hat, bei dem er Zuflucht sucht, bereits das Land der Verfolgung verlassen habe. Er befinde sich jetzt bereits unter der effektiven Kontrolle des Zufluchtsstaates; so Kälin/Caroni/Heim (Fn. 35), Rn. 106. Dies überzeugt allerdings nicht: Rückkehr („return“) ist etwas anderes als „Nichtzulassung“ („non-admittance“). Auch die Formulierung „to the frontiers of territories“ bzw. „sur les territoires“ deutet in eine andere Richtung; so auch Grahl-Madsen (Fn. 37), Anm. 3. 39 Siehe nur Hailbronner/Thym, JZ 2016, 753 (754): „Es widerspricht dem Schutzgedanken des Asylrechts, jemanden durch eine Abweisung an den Grenzen der Verfolgung preiszugeben.“ 40 Sie hat allerdings ganz überwiegend nur den Charakter verbaler Bekundung. Siehe insbesondere Art. 3 Abs. 1 der „Declaration of Territorial Asylum“ der Generalversammlung vom 14. 12. 1967 (Res. 2312 (XXII)): „Ausländer, die sich auf das Recht auf Schutz vor Verfolgung berufen können, dürfen an der Grenze nicht in einen Verfolgerstaat zurückgewiesen und dorthin weder ausgewiesen noch abgeschoben werden.“ Siehe ferner die Stellungnahmen des Exekutivausschusses des UNHCR seit 1977; Nachweise bei Kälin/Caroni/Heim (Fn. 35), Rn. 107.
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Grenzbereich bzw. in einer grenznahen Transitzone, gestattet werden muss, auch wenn er in diesem Fall rechtlich noch nicht als eingereist gilt.41 Die Genfer Flüchtlingskonvention ist individualrechtlich konzipiert. Sie geht von individuellen Notlagen, mithin „von einem einzelfallbezogenen Fluchttatbestand aus, und kann für solche Situationen hinreichenden Schutz gewähren. Für Massenfluchtbewegungen bietet dieses Instrument hingegen keine geeignete Antwort.“42 Bei der Ausarbeitung der Konvention wurde das Problem eines Massenzustroms thematisiert und – außerhalb des Vertragstextes – Einigkeit darüber erzielt, dass die Verpflichtungen (aus Art. 33 GFK) für daraus entstehende Sondersituationen nicht gelten sollten.43 Das Szenario eines unvorhersehbaren oder jedenfalls unvorhergesehenen Massenandrangs von Flüchtlingen, auf das die GFK einerseits anwendbar sein könnte, mit denen der avisierte Zufluchtsstaat aber andererseits überfordert sein müsste, ist durch den Wegfall der zeitlichen Grenze („Events occuring before 1 January 1951“) in Art. 1 A Abs. 2 GFK und der Option ihrer Anwendung nur auf wegen europäischer Ereignisse geflohene oder fliehende Personen aufgrund des Protokolls von 1967 tatsächlich möglich geworden. Ungeachtet des ursprünglich auf der Konferenz der Bevollmächtigten 1951 bestehenden Konsenses, dass ein Massenzustrom nicht Regelungsgegenstand sein sollte, und trotz Anerkennung der Tatsache, dass ein Massenzustrom unzumutbare Belastungen für einzelne Länder mit sich bringen kann, die durch in internationaler Soli41 Siehe dazu auch Art. 43 und Erwägungsgrund 38 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 6. 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie), ABl. EU L 180, 60. 42 So zutreffend Hilpold, migraLex 2016, 58, der daraus aber – anders als hier vertreten – keine Rechtsfolgen für die Reichweite der Verpflichtungen aus der GFK ziehen will, sondern bei Massenfluchtbewegungen lediglich eine gerechte Lastenverteilung, die aber nicht erzwingbar ist, zu einer „faktischen Vorbedingung“ für die Funktionsfähigkeit erklärt (59 m. Fn. 6): Die GFK sei „grundsätzlich auch für Massenfluchtphänomene anwendbar“, müsse aber „auf der faktischen Ebene“ bei solchen Herausforderungen versagen (60). 43 Protokollarisch festgehalten auf der Konferenz der Bevollmächtigten, Statement of the President UN Doc. A/CONF. 2/SR.35 (1951), S. 21: „Baron van BOETZELAER (Netherlands): ,[…] the Netherlands Government attached very great importance to the scope of the provision now contained in article 33. The Netherlands could not accept any legal obligations in respect of large groups of refugees seeking access to its territory. […] In order to dispel any possible ambiguity and to reassure his Government, he wished to have it placed on record that the Conference was in agreement with the interpretation that the possibility of mass migrations across frontiers or of attempted mass migrations was not covered by article 33. There being no objection, the PRESIDENT ruled that the interpretation given by the Netherlands representative should be placed on record‘.“ Siehe zu den Hintergründen Kälin/Caroni/Heim (Fn. 35), Rn. 133. An dieser Rechtsüberzeugung der Konventionsstaaten änderte sich auch 1967 nichts. Vielmehr erachtete die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer „Declaration on Territorial Asylum“ vom 14. 12. 1967 (Res. 2312 (XXII)), die als Ausdruck gemeinsamer Rechtsüberzeugung der Staaten gelten kann, eine Ausnahme vom Prinzip des non-refoulement („nur“) „aus übergeordneten Gründen der inneren Sicherheit und zum Schutz der Bevölkerung, wie im Fall eines Massenzustroms von Flüchtlingen“ (Art. 3 Abs. 2) für zulässig.
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darität erfolgende Verantwortungs- und Lastenteilung auf ein zumutbares Maß reduziert werden sollten44, vertritt der UNHCR die Auffassung, dass Staaten, die der erste Zufluchtsort sind, gehalten seien, auch massenhaft Zuflucht suchende Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen zumindest temporär Schutz bieten müssten, weil der Grundsatz des non-refoulement einschließlich der Nichtabweisung an der Grenze auch in einem solchen Extremfall skrupulös zu beachten sei.45 Dies entspricht auch der wohl überwiegenden Auffassung in der einschlägigen Literatur.46 Richtig ist, dass es in der Konvention keinen unmittelbaren textlichen Anknüpfungspunkt für die ursprünglich unzweifelhaft gewollte Ausnahme eines Massenzustroms gibt. Namentlich Art. 33 Abs. 2 GFK erfasst nur Gefahren für die nationale Sicherheit des Zufluchtsstaats, die von dem einzelnen Flüchtling ausgehen, nicht aber solche, die mit deren schierer Zahl verbunden sind.47 Dies sollte aber einen eng gefassten Ausnahmetatbestand vom im Übrigen absoluten Verbot des refoulement nicht kategorisch ausschließen, wenn dies zur Wahrung elementarer staatlicher Interessen notwendig erscheint und eine Abwendung eines nationalen Notstandes durch solidarische Hilfeleistung und Übernahme von Flüchtlingen durch dritte Staaten nicht möglich ist.48 Die begrenzte staatliche Aufnahme44 So dem Sinne nach auch bereits der 4. Erwägungsgrund der Präambel zur GFK: „Considering that the grant of asylum may place unduly heavy burdens on certain countries, and that a satisfactory solution of a problem of which the United Nations has recognized the international scope and nature cannot therefore be achieved without international co-operation“. 45 Nachweise bei Kälin/Caroni/Heim (Fn. 35), Rn. 135. Hilpold, migraLex 2016, 58 (62) vertritt die Auffassung, dass das non-refoulement-Gebot „auf jeden Fall grundsätzlich nicht mit Kapazitätsargumenten durchbrochen werden darf“. Die Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. 7. 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. EG L 212/12 vom 7. 8. 2001), könnte so interpretiert werden, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich auch im Fall eines Massenzustroms zu einer zumindest vorübergehenden Aufnahme von Flüchtlingen für rechtlich verpflichtet halten. Der Erwägungsgrund 10 dieser Richtlinie lässt aber offen, ob eine solche Verpflichtung aus Art. 33 GFK folgt. 46 Kälin/Caroni/Heim (Fn. 35), Rn. 135 f. 47 Insofern richtig Eggli, Mass Refugee Influx and the Limits of Public International Law, 2002, S. 171 – 172. Immerhin reflektiert diese Einschränkung „die Überzeugung, dass auch der Flüchtlingsschutz gegenüber grundlegenden öffentlichen Interessen keinen absoluten Vorrang genießt. […] Nach der Regelungssystematik des Art. 33 GFK wäre ein Vorbehalt folgerichtig, weil es wenig einleuchtet, eine Gefährdung durch kriminelle Flüchtlinge als Einschränkungsgrund anzuerkennen, die Existenzgefährdung eines Staates aber nicht zu berücksichtigen“ [Hailbronner/Thym, JZ 2016, 753 (754)]. 48 So auch Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, 2005, S. 357. Gegen jede Ausnahme auch bei Massenzustrom dagegen Lauterpacht/Bethlehem (Fn. 37), 119 – 121; ebenso kritisch Hilpold, migraLex 2016, 58 (61): „Die Zulassung einer solchen Ausnahme wäre angesichts des Gewichts der hier infrage kommenden Rechte und der Schwierigkeit, das Konzept des Massenzustroms verbindlich zu definieren, viel zu heikel.“
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kapazität ist ein legitimer Gesichtspunkt, um das Ausmaß der Verpflichtungen aus der Konvention zu begrenzen. Die Grenze der Belastbarkeit muss sachgerecht festgelegt werden. Sonderbelastungen, die noch nicht die Zumutbarkeitsgrenze überschreiten, müssen ob des humanitären Anliegens hingenommen werden. Aber die Erschöpfung der endlichen Ressourcen eines Staates und drohende schwerwiegende gesellschaftliche Verwerfungen rechtfertigen einen Aufnahmestopp. Mag der erste Fall schon unter Berufung auf den Rechtsgrundsatz Impossibilium nulla est obligatio zu bewältigen sein, so verdient doch auch der zweite Gesichtspunkt unter dem Aspekt der inneren Sicherheit, die nicht destabilisiert werden darf, die Anerkennung als berechtigtes fundamentales gegenläufiges nationales Interesse. Voraussetzung für einen solchen Ausnahmefall ist, „that the circumstances in the country of destination were so fragile, or the number of asylum-seekers so massive in relation to adjudicative and reception sources, that the orderly assessment of claims would have exposed the receiving state to an unacceptable risk“.49 Gewiss, geübte internationale Solidarität und eine gerechte Lastenteilung zwischen mehreren, Flüchtlinge aufnehmenden Staaten helfen Situationen zu vermeiden, in denen ein primärer Zufluchtsstaat allein überfordert wäre.50 Aber die Konvention verzichtet darauf, „einen Rechtsrahmen für eine geordnete Kooperation vorzugeben“51, und die Erfahrung der Jahre 2015 und 2016 lehrt, dass sich Solidarität nicht einmal im engeren homogeneren europäischen Rahmen erzwingen lässt. Hält man eine solche implizite Ausnahme im Fall des Massenzustroms – auch im Licht nachfolgender Praxis der Konventionsstaaten – für kein mögliches Auslegungsergebnis52, so ist sie im Wege der Revision zum expliziten Bestandteil des Vertragstextes zu machen.53 Alles andere wäre juristisch unredlich, und würde die Glaubwürdigkeit und Unverbrüchlichkeit des Flüchtlingsrechts in Frage stellen54; 49 Hathaway (Fn. 48), S. 360. Dass viele derjenigen, die den Flüchtlingsstatus für sich reklamieren, diesen tatsächlich nicht beanspruchen können, weil sie nicht befürchten müssen, in ihrem Heimatland verfolgt zu werden, ändert nichts an einer möglichen Überforderung durch einen Massenzustrom, weil und soweit jedes einzelne Begehren zunächst auf seine Validität („well-founded fear“) geprüft werden muss und gegen eine Ablehnung gerichtlicher Rechtsschutz gemäß Art. 16 Abs. 1 GFK in Anspruch genommen werden kann. 50 Siehe zu Reaktionsmöglichkeiten in einem solchen Notfall nach europäischem Recht Art. 78 Abs. 3 AEUV. 51 Hailbronner/Thym, JZ 2016, 753 (755). 52 So Hilpold, migraLex 2016, 58 (66): „Das bestehende Recht bietet somit keine adäquaten Lösungsansätze in Hinblick auf die gegenwärtige Flucht- und Migrationsproblematik.“ 53 Für eine enge „derogation clause“ de lege ferenda auch Durieux/McAdam, IJRL 16 (2004), 4 (23); diese soll aber den Zufluchtsstaat zur Zulassung der Flüchtlinge verpflichten, zunächst aber zu nichts anderem. Erst allmählich, mit Zeitablauf sollen die übrigen Rechte der Konvention von den Flüchtlingen erworben werden. Für eine Konditionierung des Abweisungsverbots an der Grenze mit einer verbindlichen Lastenteilung Coleman, EJML 5 (2003), 23 – 68. 54 Treffend der Vertreter Frankreichs Rochefort am 30. 11. 1951: „Liberalism which was blind to the facts of reality could only beat the air“; zitiert nach Hathaway (Fn. 48), S. iv.
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denn ein solcher Massenzustrom wird von den allermeisten Staaten als für sie nicht akzeptabel und zumutbar angesehen und muss faktisch zum vollständigen Kollaps des Schutzsystems führen. Das spezifische Flüchtlingsschutzrecht der Genfer Konvention wird durch den allgemeinen Menschenrechtsschutz ergänzt, wie er sich in der Folgezeit international etabliert hat.55 Obwohl dieser flüchtlingsunspezifisch ist, kann er unter Umständen sogar weitergehende Schutzwirkungen entfalten als die Genfer Konvention. Dies gilt insbesondere für Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in der – mehr als fragwürdigen – Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Danach vermittelt diese Vorschrift einen dem refoulement-Verbot vergleichbaren menschenrechtlichen Ausweisungs- und Zurückweisungsschutz, nach neuester Rechtsprechung sogar exterritorial, der zudem schlechterdings abwägungsresistent ist und insbesondere keinen ordre-public-Vorbehalt nach Art des Art. 33 GFK enthält. Dies führt zu nicht hinnehmbaren weitreichenden Beschränkungen der Handlungsfreiheit der Konventionsstaaten gegenüber aus Seenot geretteten Flüchtlingen.56 Hier wäre eine Rechtsverwahrung durch die Konventionsstaaten dringend notwendig. Sie könnten und müssten dieser ihrem Willen bei Vertragsschluss widersprechenden Auslegung durch eine den Gerichtshof bindende Interpretationsvereinbarung (vgl. Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVK) entgegentreten. V. Fazit: Das Gebot normativer Ehrlichkeit Flüchtlingsschutz ist ein wichtiges humanitäres Anliegen der Staatengemeinschaft. Es kann aber keinen absoluten Vorrang vor elementaren Staateninteressen beanspruchen.57 Auch wenn Staaten humanitäre Ziele verfolgen, kommen spätestens bei der Festlegung der zur Zielverwirklichung zu übernehmenden Verpflichtungen auch die durchaus legitimen Eigeninteressen der Vertragsstaaten ins Spiel. Das Ziel der Auslegung und Anwendung eines völkerrechtlichen Vertrages, der dem Schutz von Flüchtlingen dient, kann daher sinnvollerweise nicht einfach in der Optimierung des Flüchtlingsschutzes liegen, sondern nur in einer fairen Ausbalancierung des humanitären Grundanliegens mit berechtigten gegenläufigen öffentlichen Interessen.58
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307).
Siehe dazu näher Edwards, International Journal of Refugee Law (2005) 17, 293 (304 –
56 Siehe EGMR, Große Kammer, Fall Hirsi Jamaa und andere gegen Italien, BeschwerdeNr. 27765/09, Urteil vom 23. 2. 2012, §§ 146 – 158 und dazu mit Recht sehr kritisch Kau, in: Uhle (Hrsg.), Migration und Integration. Die Migrationskrise als Herausforderung des Rechts, 2017, S. 19 (41 – 50). 57 So auch Hailbronner/Thym, JZ 2016, 753 (754). 58 Siehe Harvey, Refuge (Canada’s Journal on Refugees) 2001 (Vol 19), 94 – 99: „The 1951 Convention relating to the Status of Refugees reflects a compromise between the state imperative of migration control and humanitarian concerns.“ Auch Shacknove, IJRL 5 (1993), 516
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Man kann sich nicht wirklich darüber streiten, dass es sowohl für einen einzelnen europäischen Staat wie auch für die Europäische Union insgesamt eine Obergrenze der Belastbarkeit gibt; man kann sich nur ernsthaft darüber streiten, wo sie genau verläuft. Sicherlich stellt es ein Dilemma dar, „konkrete Zahlen und Größenordnungen nennen zu müssen, bei deren Überschreiten die Möglichkeiten der EU und ihrer Mitgliedstaaten erschöpft sind“, und es trifft zu, „dass die präzise Benennung einer konkreten Zahl letztlich immer angreifbar ist und in Zweifel gezogen werden kann. Für den Raum der Europäischen Union dürften solche Festlegungen kaum einfacher sein als für einzelne Mitgliedstaaten“.59 Aber es gibt keine überzeugende Alternative dazu. Das gegenwärtig geltende, unbegrenzte Schutzversprechen der EU für alle Schutzbedürftigen (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO) ist nicht haltbar. Es wird bereits durch die fehlende Bereitschaft der nicht unmittelbar betroffenen Mitgliedstaaten zur solidarischen Lastenteilung dementiert. Man sollte – auch als Staat und Staatengemeinschaft – nichts versprechen, was man im Ernstfall gar nicht einlösen will oder kann. Andernfalls diskreditiert und destabilisiert man das Recht. Unrealistisches Recht kann auf Dauer keinen Bestand haben. Wer Unmögliches zu leisten sich vornimmt, wird nichts zum Guten wenden, sondern notwendig scheitern. Es ist daher ehrlicher und vorzugswürdiger, die Grenzen der Fähigkeit und Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen offenzulegen und zu deklarieren. Die Festlegung einer maximalen jährlichen Obergrenze, die sich etwa an den verfügbaren Kapazitäten für die Prüfung von Schutzbegehren orientiert, die nicht bereits wegen offensichtlicher Unbegründetheit an der Grenze oder in Transitzonen rasch abgelehnt werden können, sollte daher für Europa und seine Mitgliedstaaten nicht länger tabu sein. Sie bildet vielmehr im Fall eines Massenzustroms die richtige Mitte zwischen unsolidarischer Verweigerung auch zumutbarer Hilfeleistung und maßloser Hilfsbereitschaft, die zu praktischer Selbstüberforderung führen muss.
(517) ist zutreffend der Ansicht, Flüchtlingspolitik sei „at least one part State interest and at most one part compassion“. 59 Kau (Fn. 56), S. 44.
Keine Grundrechtsfähigkeit öffentlich beherrschter Unternehmen Von Peter M. Huber, Karlsruhe/München Zwei Juristen, drei Meinungen – dieses Bonmôt trifft auf Matthias Schmidt-Preuß und mich nicht zu. Schon unsere fast zeitgleich entstandenen Habilitationsschriften weisen eine besondere Nähe auf.1 Deutlich unterschiedlicher Auffassung waren wir nur einmal, als es im Zusammenhang mit dem Atomausstieg um die Grundrechtsfähigkeit öffentlicher und gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen ging, was die Mehrheit der Energieversorgungsunternehmen waren.2 Da diese Frage das Bundesverfassungsgericht erst in den letzten Jahren intensiver beschäftigt hat und da sie mit dem Urteil des Ersten Senats vom 6. Dezember 2016 noch einmal eine spezielle Wendung genommen hat,3 lohnt sich insoweit eine kurze Bestandsaufnahme und Vergewisserung. I. Die Frage der Grundrechtsfähigkeit im Lichte der jüngeren Rechtsprechung Öffentliche Unternehmen können in öffentlich-rechtlicher oder in privatrechtlicher Form geführt werden. Während die öffentlich-rechtliche Form des Regieund Eigenbetriebs bzw. der rechtsfähigen Anstalt (z. B. Art. 89 BayGO) mit Blick auf Art. 19 Abs. 3 GG kaum Probleme aufwirft, hat vor allem die Einordnung von juristischen Personen des Privatrechts, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist, seit Inkrafttreten des Grundgesetzes Schwierigkeiten bereitet. Angesichts der Ausrichtung von Art. 19 Abs. 3 GG am personalen Substrat der juristischen Person und angesichts der Tatsache, dass dieser Vorschrift weniger ein an die Rechtsform anknüpfendes „dualistisches Zuordnungsprinzip“4 zugrunde liegt, als eine am materiellen Recht ausgerichtete funktionale Leitidee, verbietet sich insoweit eine pauschale Zuordnung. Deshalb kann auch nicht die Privatrechtsform an sich, sondern 1 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht. Das subjektive öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis, 1992; 2. Aufl. 2005; P. M. Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht. Schutzanspruch und Rechtsschutz bei Lenkungs- und Verteilungsentscheidungen der öffentlichen Verwaltung, 1991. 2 Schmidt-Preuß, in: Bayer/Huber (Hrsg.), Rechtsfragen des Atomausstiegs, 2000, S. 41 (43 f.). 3 BVerfGE 143, 246 – Atomausstieg. 4 So Schmidt-Aßmann, FS Niederländer, 1991, S. 383 (386).
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nur ihre Funktion im Einzelfall Anknüpfungspunkt für die Zuerkennung oder Vorenthaltung von Grundrechtsschutz sein.5 1. Eigengesellschaften Grundrechtsbindung und mangelnde Grundrechtsberechtigung sind nach der im Kern zutreffenden Konfusionsthese grundsätzlich zwei Seiten einer Medaille.6 Deshalb kann sich die öffentliche Hand, der Staat, angesichts der ihm zukommenden Formenwahlfreiheit mit der Wahl privatrechtlicher Handlungsformen nicht seiner – handlungsformunabhängigen, insbesondere grundrechtlichen (Art. 1 Abs. 3 GG) – Bindungen entledigen.7 Ebenso wenig kann er sich durch die Wahl der Organisationsform für seine Aufgabenerfüllung den Grundrechtsschutz erschließen.8 Für eine grundrechtliche Absicherung des Staatshandelns in Privatrechtsform ist unter dem Grundgesetz daher i. d. R. kein Raum. Da eine Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf öffentliche Unternehmen dazu führen kann, dass die Grundrechtsbindung des Staates und seiner Trabanten in Frage gestellt wird, kommt sie deshalb grundsätzlich nicht in Betracht. Vor diesem Hintergrund ist eine Grundrechtsfähigkeit von Eigengesellschaften, also von Unternehmen in Privatrechtsform, die sich zu 100 % in der Hand einer juristischen Person des öffentlichen Rechts befinden, zu verneinen.9 Da die Erstre5 A. A. mit dem Plädoyer, die rechtliche Verselbständigung der juristischen Person ernst zu nehmen, und grundsätzlicher Skepsis gegenüber der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft Kingreen, JöR 65 (2017), 1 (29 f., 39); Wißmann, JöR 65 (2017), 41 (52 f.); Kulick, JöR 65 (2017), 57 (71 ff.). 6 Ehlers, in: ders./Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 3 Rn. 93; P. M. Huber, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1997, S. 70. Die Plausibilität dieses Ergebnisses mag auch ein Blick auf das Unionsrecht bekräftigen, dem eine ganz ähnliche (materielle) Betrachtungsweise des Staates bzw. der öffentlichen Gewalt geläufig ist. So bejaht der EuGH eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien trotz belastender Doppeloder Drittwirkung (gegenüber Privatpersonen kommt eine horizontale Wirkung grundsätzlich nicht in Betracht; EuGHE 1987, 3969, 3985 f. – Kolpinghuis; 1990, I-4135, 4158 – Marleasing; 1994, I-3325, 3355 – Faccini Dori; Streinz, Europarecht, 10. Aufl. 2016, Rn. 492, 495), wenn von ihr lediglich Eigengesellschaften der öffentlichen Hand betroffen werden; EuGHE 1986, 732 ff. – Marshall – öffentliches Unternehmen der Daseinsvorsorge in Großbritannien. 7 BVerfGE 128, 226, 244 f. – Fraport; BVerfG, NJW 2016, 3153 (3154) – Watzmanntherme; BGHZ 29, 76, 80; 36, 91, 96; 52, 325, 328 – zu Art. 3; BVerwG, NVwZ 1991, 59; Ehlers (Fn. 6), § 3 Rn. 93; P. M. Huber (Fn. 6), S. 70; a. A. Badura, FS Schlochauer, 1981, S. 3 (11, 21); Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl. 1985, S. 119. 8 BVerfGE 45, 63, 80; BVerfG, NJW 2016, 3153 (3154) – Watzmanntherme; SchmidtAßmann, FS Niederländer, 1991, S. 383. 9 BVerfGE 128, 226, 245 f. – Fraport; BVerfG, Urt. vom 7. 11. 2017 – 2 BvE 2/11 –, juris – Rn. 270 ff. – DB und BaFin; NVwZ-RR 2016, 242 f.; NJW 2016, 3153 (3154) – Watzmanntherme; NVwZ 2017, 53 (55); BVerwGE 113, 208, 211; v. Arnauld, DÖV 1998, 437 (443); Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 71; W. Rüfner, in: Isensee/ Kirchhof, HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 196 Rn. 134; Ehlers, Gutachten E für den 64. DJT (2002), S. E 39; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 33. Aufl. 2017, Rn. 204 f.; differen-
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ckung des Grundrechtsschutzes auf juristische Personen nur insoweit gerechtfertigt ist, als deren Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung natürlicher Personen ist,10 ein solcher Durchgriff auf hinter dem Unternehmen stehende Grundrechtsträger bei Eigengesellschaften jedoch ausscheidet, ist für eine Grundrechtserstreckung insoweit kein Raum. Dementsprechend heißt es im Urteil des Zweiten Senats zur Deutschen Bahn und BaFin vom 7. November 2017: „Für öffentliche Unternehmen in Privatrechtsform, die vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand stehen, ist anerkannt, dass die Grundrechtsbindung nicht nur den oder die Träger des jeweiligen Unternehmens trifft, sondern das Unternehmen selbst. Dies entspricht dem Charakter eines solchen Unternehmens als verselbständigter Handlungseinheit und stellt eine effektive Grundrechtsbindung unabhängig davon sicher, ob, wieweit und in welcher Form der oder die Eigentümer gesellschaftsrechtlich auf die Leitung der Geschäfte Einfluss nehmen können und wie – bei Unternehmen mit verschiedenen öffentlichen Anteilseignern – eine Koordination der Einflussrechte verschiedener öffentlicher Eigentümer zu gewährleisten wäre. Aktivitäten öffentlicher Unternehmen bleiben unabhängig von der Ausgestaltung der gesellschaftsrechtlichen Einflussrechte eine Form staatlicher Aufgabenwahrnehmung, bei der die Unternehmen selbst unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind.“11
Das liegt – ungeachtet des Art. 87e Abs. 3 S. 1 GG – etwa für die Deutsche Bahn AG auf der Hand.12 Konsequenterweise können auch eine oder mehrere13 juristische Personen des öffentlichen Rechts, die selbst nicht grundrechtsfähig sind, einer von ihnen gehaltenen juristischen Person des Privatrechts keine Grundrechtsfähigkeit vermitteln.14 2. Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen Differenziert zu beantworten ist die Frage nach der Grundrechtsberechtigung sog. gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen, d. h. von Unternehmen, die sowohl öffentliche als auch private Anteilseigner aufweisen.15
zierend mit unterschiedlichen funktionalen Schwerpunktsetzungen Möstl, Grundrechtsbindung öffentlicher Wirtschaftstätigkeit, 1999, S. 144 f.; Wirth, Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung öffentlicher und gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen am Beispiel der Deutschen Post AG unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Folgeprobleme der Postreform II, 2000, S. 39 ff. 10 BVerfGE 21, 362, 369; 61, 82, 101; 68, 193, 205 f.; BVerfG, NJW 1990, 1783 – HEW. 11 BVerfG, Urt. vom 7. 11. 2017 – 2 BvE 2/11 –, juris – Rn. 242 – DB und BaFin unter Hinweis auf BVerfGE 128, 226, 245 f. – Fraport. 12 BVerfG, Urt. vom 7. 11. 2017 – 2 BvE 2/11 –, juris – Rn. 270 ff. – DB und BaFin; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rn. 62 ff. 13 Sog. gemischt-öffentliche Unternehmen, siehe Mann, Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 2002, S. 12. 14 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 72. 15 Überblick bei Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000, S. 136 ff.
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Die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verneint eine Grundrechtsberechtigung gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen dann, wenn diese von der öffentlichen Hand beherrscht werden.16 Das ist in der Regel der Fall, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen (vgl. §§ 16, 17 AktG).17 Dass es insoweit auf die „Beherrschung“ des Unternehmens durch Träger öffentlicher Gewalt ankommt, begründet das Fraport-Urteil des Ersten Senats vom 22. Februar 201118 damit, dass die Beherrschung stets das Unternehmen insgesamt erfasse und daher nur einheitlich beantwortet werden könne. Zwar seien gemischt-wirtschaftliche Unternehmen als verselbständigte Handlungseinheiten tätig; die Grundrechtsbindung der hinter den Unternehmen stehenden öffentlichen Anteilseigner sei jedoch ungeeignet, die Grundrechtsbindung der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen und ihrer Tätigkeit als solcher zu ersetzen und mache sie daher nicht überflüssig. Die Grundrechtsbindung eines Trägers könne zudem nicht quotenweise realisiert werden. Schließlich seien die Einwirkungsrechte der Anteilseigner auf die laufende Geschäftsführung gesellschaftsrechtlich vielfach beschränkt, so dass – insbesondere im Aktienrecht (vgl. etwa § 119 Abs. 2 AktG) und unter Berücksichtigung des Mitbestimmungsrechts – eine Grundrechtsbindung selbst durch die Mehrheit der Anteilseigner vielfach nicht durchsetzbar sei. Überdies wäre die Geltendmachung von Grundrechten über den Umweg der Einwirkungsrechte, zumal wenn an einem Unternehmen mehrere öffentliche Anteilseigner beteiligt sind, vom Verfahren und Zeitaufwand her zu schwerfällig, um einen effektiven Grundrechtsschutz sicherzustellen.19 Das gilt auch mit Blick auf gemischt-wirtschaftliche Unternehmen.20 In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Nichts anderes hat für gemischtwirtschaftliche Unternehmen, an denen sowohl private als auch öffentliche Anteilseigner beteiligt sind, zu gelten, wenn diese von der öffentlichen Hand beherrscht werden (…). Auch bei gemischtwirtschaftlichen Unternehmen erfasst die Frage der Grundrechtsbindung das jeweilige Unternehmen insgesamt und kann nur einheitlich beantwortet werden. Sie sind gleichfalls als verselbständigte Handlungseinheiten tätig. Das Kriterium der Beherrschung mit seiner Anknüpfung an die eigentumsrechtlichen Mehrheitsverhältnisse stellt nicht auf konkrete Einwirkungsbefugnisse hinsichtlich der Geschäftsführung ab, sondern auf die Gesamtverantwortung für das jeweilige Unternehmen. Anders als in Fällen, in denen die öffentliche Hand nur einen untergeordneten Anteil an einem privaten Unternehmen hält, handelt es sich dann grundsätzlich nicht um private Aktivitäten unter Beteiligung des Staates, sondern um staatliche Aktivitäten unter Beteiligung von Privaten. Für sie gelten unabhängig von ihrem Zweck oder Inhalt die allgemeinen Bindungen staatlicher Aufgabenwahrnehmung. Bei der Entfaltung dieser Aktivitäten sind die
16 Vgl. BVerfGE 56, 54, 79 f.; 128, 226, 245 ff. – Fraport; BVerfG, NJW 1990, 1783 – HEW; NVwZ 2009, 1282; NJW 2016, 3153 (3154) – Watzmanntherme. 17 BVerfGE 128, 226, 246 f. – Fraport. 18 Dazu Masing, FS Bryde, 2013, S. 409 ff.; Schaefer, Der Staat 51 (2012), 251 ff. 19 BVerfGE 128, 226, 246 – Fraport. 20 BVerfG, NJW 2016, 3153 (3154) – Watzmanntherme.
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öffentlich beherrschten Unternehmen unmittelbar durch die Grundrechte gebunden und können sich umgekehrt gegenüber Bürgern nicht auf eigene Grundrechte stützen.“21
Die Grundrechtsbindung der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen und ihre fehlende Grundrechtsberechtigung gelten unabhängig von den gewählten Handlungsformen und den Zwecken, zu denen sie tätig werden.22 Sobald der Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt eine Aufgabe an sich ziehen, sind sie bei deren Wahrnehmung an die Grundrechte gebunden. Dies gilt auch, wenn sie insoweit auf das Zivilrecht zurückgreifen. Für die in der fachgerichtlichen Rechtsprechung früher verbreitete Auffassung, wonach die in privatrechtlichen Handlungsformen jenseits des sog. Verwaltungsprivatrechts fiskalisch tätige öffentliche Hand grundsätzlich keiner Grundrechtsbindung unterliege,23 so dass sie auch grundrechtsberechtigt sein könne, ist daher kein Raum.24 3. Widersprüche in der Rechtsprechung? Die geschilderte Rechtsprechung scheint in einem gewissen Widerspruch zu älteren Judikaten zu stehen. So hatte die 3. Kammer des Ersten Senats einem Energieversorgungsunternehmen, das sich zu 72 % im Eigentum der Freien und Hansestadt Hamburg befand, im HEW-Beschluss vom 16. Mai 198925 die Berufung auf Grundrechte zwar ebenfalls verweigert, jedoch nicht auf die Beherrschung, sondern auf das nach dem hier Ausgeführten irrelevante Argument abgestellt, die Tätigkeit des Unternehmens diene der „Wahrnehmung gesetzlich zugewiesener und geregelter Aufgaben der Daseinsvorsorge“. In der Tat stützt sich der HEW-Beschluss nicht auf die Mehrheitsbeteiligung der öffentlichen Hand; es spricht jedoch einiges dafür, dass das Gericht auch damals in der 72 %igen Kapitalbeteiligung des Landes zumindest ein entscheidendes Kriterium für die Vorenthaltung des Grundrechtsschutzes gesehen hat. In einem Beschluss vom 18. Mai 2009, in dem es um die Grundrechtsfähigkeit eines zu 75,2 % im Eigentum der Stadt Frankfurt/M. befindlichen Stromversorgungsunternehmens, einer Holding, ging, hat die 1. Kammer des Ersten Senats dies ausdrücklich bestätigt: „Das BVerfG hat (…) die Frage, ob sich ein mehrheitlich in öffentlicher Hand befindliches Stromversorgungsunternehmen auf materielle Grundrechte berufen kann, bereits ausdrücklich verneint“, und sodann festgestellt, dass es jedenfalls in diesem Fall keinen Anlass gebe, von dieser Rechtsprechung abzuweichen: 21 BVerfG, Urt. vom 7. 11. 2017 – 2 BvE 2/11 –, juris – Rn. 43 – DB und BaFin unter Hinweis auf BVerfGE 128, 226, 246 f.; BVerfG, Urt. vom 6. 12. 2016 – 1 BvR 821/ 11 u. a. –, juris – Rn. 204. 22 BVerfG, NJW 2016, 3153 (3154 f.) – Watzmanntherme. 23 Vgl. BGHZ 36, 91, 93 f.; BGH, NJW 1977, 628; NJW 2004, 1031; NVwZ 2004, 377; vgl. auch BVerwG, NVwZ 2013, 597 Ls. 24 BVerfG, NJW 2016, 3153, 3155 – Watzmanntherme; BGH, NJW 2015, 2892. 25 BVerfG, NJW 1990, 1783 – HEW.
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Peter M. Huber „Denn die Bf. zu 1 wird von einer vollständig im Besitz der Bf. zu 2, einer Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts, stehenden Gesellschaft mit qualifizierter Mehrheit von über 75 % des Grundkapitals (vgl. § 179 II AktG) beherrscht und unterliegt daher in noch höherem Maße als die seinerzeitige Bf. dem bestimmenden Einfluss eines Hoheitsträgers.“26
Für die Deutsche Telekom AG haben Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht die Grundrechtserstreckung mit der ausschließlich privatwirtschaftlichen Tätigkeit und Aufgabenstellung (Art. 87 f Abs. 2 GG) des Unternehmens begründet.27 Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 14. März 2006 insbesondere deren Beherrschung durch den Bund verneint: „Die Grundrechtsfähigkeit der Beschwerdeführerin entfällt nicht deswegen, weil der Bund an dieser Anteile hält. Ein beherrschender Einfluss des Bundes auf die Unternehmensführung der Beschwerdeführerin, der die Beschwerdefähigkeit in Zweifel ziehen könnte, war schon auf Grund der Regelungen in § 3 des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost (…) und in § 32 der Satzung der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost (…) ausgeschlossen und ist nach der Privatisierung erst recht nicht begründet worden“.28
Letzteres trifft jedenfalls heute zu. Im Übrigen können die konkurrierenden Ansätze – soweit sie vom Gericht überhaupt so gemeint waren – als überholt gelten. II. Einordnung der Rechtsprechung 1. Kritik im Schrifttum Zu Recht, denn die Erfüllung öffentlicher oder im öffentlichen Interesse liegender Aufgaben ist angesichts der Definitionsmacht des Staates über die Staatsaufgaben kein taugliches Kriterium für die Grundrechtserstreckung, weil der Staat sonst über die Grundrechtsträgerschaft disponieren könnte.29 Käme es tatsächlich auf die zu erfüllende Aufgabe an, müsste im Übrigen jede Aufgabenerfüllung im öffentlichen Interesse unter besonderen öffentlichen-rechtlichen Restriktionen erfolgen,
26
BVerfG, NVwZ 2009, 1282 – Energieversorgungs-Holding Frankfurt/M.; krit. Kühne, JZ 2009, 1071 (1071 ff.); s. auch VerfGH Berlin DÖV 2005, 515. 27 BVerfGE 115, 205, 227 f.; BVerwGE 114, 160, 189; 118, 352, 359; BVerwG, NVwZ 2004, 742 f.; allgemein Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 469 f.; Möstl (Fn. 9), S. 138 ff. mit der Forderung nach einer durch Gesetz, Vertrag oder Satzung spezifizierten Bindung an die öffentliche Aufgabe, S. 177 ff. 28 BVerfGE 115, 205, 227 f.; vgl. dazu Deutsche Telekom AG, Jahresabschluss und Lagebericht zum 31. 12. 2007, S. 7, der einen der Bundesrepublik Deutschland zuzurechnenden Kapitalanteil von 31,7 % ausweist. 29 Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 198 ff.; etwas anderes gilt, wenn man die Erfüllung rein wirtschaftlicher Angelegenheiten durch den Staat für unzulässig hält; dann muss jedes gemischt-wirtschaftliche Unternehmen einer öffentlichen Aufgabe dienen, und die Frage der Grundrechtsträgerschaft stellt sich nicht, Weiß, Privatisierung von Staatsaufgaben, 2002, S. 280 ff.; siehe auch P. M. Huber, FS Badura, 2004, S. 897 (904).
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unabhängig davon, ob der Staat daran beteiligt ist oder nicht.30 Das beträfe, zu Ende gedacht, selbst die Lebensmittelversorgung durch den Einzelhandel.31 Ein Teil des Schrifttums hat daher mit der Rechtsprechung schon immer dafür plädiert, gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen die Grundrechtsberechtigung ab einer Beteiligungsquote der öffentlichen Hand von in der Regel 50 % + x zu versagen.32 Teile des Schrifttums gingen jedenfalls bis vor kurzem davon aus, dass gemischtwirtschaftliche Unternehmen im gleichen Umfang am Grundrechtsschutz partizipieren wie sonstige juristische Personen des Privatrechts,33 und begründen dies mit dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit, der Notwendigkeit eines umfassenden Grundrechtsschutzes der privaten Anteilseigner34 und teilweise auch mit Argumenten aus der längst versunkenen Privatisierungsdebatte: Wenn sich der Staat schon aus seiner Erfüllungsverantwortung zurückziehe und auf die Beteiligung Privater setze, etwa auf sog. Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP), dann sei es kontraproduktiv und widersprüchlich, den dermaßen aktivierten Privaten den Grundrechtsschutz vorenthalten zu wollen.35 Lediglich für marginale (Alibi-)Beteiligungen soll etwas anderes gelten.36 Vereinzelt wird darüber hinaus aber auch die Idee eines reduzierten Grundrechtsschutzes ventiliert, der in dem Maße abnehmen soll, in dem die Staatsbeteiligung wächst.37 Die Auffassung hat freilich wenig Gefolgschaft gefunden, weil sie das kaum rationalisierbare Problem einer gleitenden Abschichtung grundrechtlicher Schutzgehalte und der dabei anzulegenden Schwellenwerte aufwirft, und ist im Fraport-Urteil ausdrücklich zurückgewiesen worden: „Schon grundsätzlich kann eine Grundrechtsbindung nicht quotenweise realisiert werden“.38
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Schmidt-Aßmann, in: FS Niederländer, 1991, S. 383 (394). Kritisch gegen die Ambivalenz des Kriteriums der öffentlichen Aufgabe Gersdorf (Fn. 15), S. 138 f.; Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 321. 32 Vgl. nur Badura, DÖV 1990, 353 (354); Zeidler, VVDStRL 19 (1961), S. 252 f. 33 v. Arnauld, DÖV 1998, 437 (442 f.); Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 109; H. H. Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968, S. 234 f.; Koppensteiner, NJW 1990, 3105 (3109); Kulick, JöR 65 (2017), 57 (79 ff.); Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (88); Püttner (Fn. 7), S. 120 f.; Schmidt-Aßmann, FS Niederländer, 1991, S. 383 (393 f.); Wirth (Fn. 9), S. 69 f. 34 Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, S. 85; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 5, 63; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 1169 f. 35 Kingreen, JöR 65 (2017), 1 (39); Schaefer, Der Staat 51 (2012), 251 (266 ff.); Wißmann, JöR 65 (2017), 41 (53). 36 Schmidt-Aßmann (Fn. 34), S. 5, 63. 37 Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 66 Fn. 142; Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1977, S. 155 f.; Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, 1969, S. 92 f.; Storr (Fn. 29), S. 227 ff., 243 ff. 38 BVerfGE 128, 226, 246 – Fraport; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 73; Windhorst, VerwArch 2004, 377 (396); Kämmerer (Fn. 27), S. 467 f. 31
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2. Würdigung Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verdient ungeteilte Zustimmung. Von der Überlegung ausgehend, dass negatorischer Grundrechtsschutz vor allem dort gefordert ist, wo der Staat mit seiner überlegenen Rechts- und Wirtschaftsmacht die Freiheitsrechte des Einzelnen bedroht, wird man in der staatlichen Beherrschung einer juristischen Person durch Träger öffentlicher Gewalt das entscheidende Kriterium dafür sehen müssen, ob sie ein Instrument des Verwaltungshandelns oder der Grundrechtsentfaltung ist.39 Soweit der Rechtsprechung vorgeworfen wird, dass sie die grundrechtlichen Schutzbedürfnisse der Anteilseigner stiefmütterlich ignoriere40 oder die Voraussetzungen einer effektiven Wahrnehmung der Gewährleistungsverantwortung unterminiere, vermag das nicht zu überzeugen.41 Diese Einwände reduzieren die Problematik öffentlich beherrschter Unternehmen unzulässigerweise auf das bipolare Rechtsverhältnis zwischen den privaten Anteilseignern und dem Staat.42 Nur insoweit ließe sich davon sprechen, dass die Grundrechtsberechtigung des gemischt-wirtschaftlichen Unternehmens Legislative und Administration disziplinieren könne.43 Das verfehlt jedoch die Funktion eines öffentlich beherrschten Unternehmens. Dessen Gründung erfolgt nicht zur Förderung privater Unternehmensinteressen, sondern zur Erfüllung bestimmter (Verwaltungs-)Aufgaben gegenüber Dritten – insbesondere der Daseinsvorsorge. Das öffentliche beherrschte Unternehmen steht deshalb typischerweise in einem multipolaren (Verwaltungs-)Rechtsverhältnis, an dem außer dem Verwaltungsträger, dem Unternehmen und seinen (privaten) Anteilseignern auch Dritte beteiligt sind: die Kunden, Konkurrenten etc. Das gilt selbst für den Betrieb eines Spaßbades.44 Wem in diesem Geflecht an rechtlich geschützten Interessen der Schutz der Grundrechte zuteilwerden soll, und wer durch sie gebunden wird, lässt sich nicht an der bloßen Beteiligung Privater festmachen, sondern bedarf einer wertenden Gesamtbetrachtung,45 die der unverfügbaren Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) ebenso Rechnung tragen muss wie den grundrechtlichen Schutzbedürfnissen der Beteiligten. 39 Ackermann, JöR 65 (2017), 113 (139 f.); Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 77; Erichsen/Ebber, Jura 1999, 373 (377); Haverkate, VVDStRL 46 (1988), 217 (226 ff.); Mann (Fn. 13), S. 13; Windhorst, VerwArch 2004, 377 (394 ff.). 40 Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, S. 131 f.; Ehlers, (Fn. 6), § 3 Rn. 94; ders., JZ 1990, 1089; Koppensteiner, NJW 1990, 3105 (3113); Lerche, FS Winkler, 1997, S. 581 (594 Anm. 43); Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (87); Schmidt-Aßmann, FS Niederländer, 1991, S. 383 (395 f.); ders., BB 1990, Beilage Nr. 34, 1 (10 ff.). 41 Masing, FS Bryde, 2013, S. 409 ff. 42 Zu den nicht im wirtschaftlichen Kalkül reflektierten Interessen, Ackermann, JöR 65 (2017), 111 (135 ff.). 43 Schmidt-Aßmann, FS Niederländer, 1991, S. 383 (395). 44 BVerfG, NJW 2016, 3153 ff. – Watzmanntherme. 45 Für eine Gewichtung auch Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 13. Aufl. 2017, § 34 Rn. 17; Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 45.
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Dabei hilft ein Blick auf die Lehre vom Verwaltungsprivatrecht durchaus weiter. Sie hat schon in den 1950er Jahren herausgearbeitet, dass es für die Grundrechtsgebundenheit des Staates in all seinen Erscheinungsformen angesichts der ihm zukommenden Formenwahlfreiheit nicht entscheidend darauf ankommen kann, ob er eine öffentliche Aufgabe in den Formen des öffentlichen oder des privaten Rechts erfüllt, ob er dies selbst macht oder sich dazu Privater bedient. Das gilt nicht nur für Eigengesellschaften, sondern auch für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen im Rahmen der sog. Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP).46 Denn diese unterscheiden sich von den Eigengesellschaften der öffentlichen Hand doch nur dadurch, dass letztere zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben auch auf private Investoren zurückgreifen. Ein Blick auf die grundrechtstypische Gefährdungslage spricht zudem für die Schutzbedürftigkeit der Dritten (Kunden, Konkurrenten), nicht für die der privaten Teilhaber. Während Bürger, Kunden und Konkurrenten auf die Wahl der sie (negativ) betreffenden Handlungsformen des Staates i. d. R. keinen Einfluss haben, also auch nicht darauf, ob der Staat seine Aufgaben mittels einer Öffentlich-Privaten-Partnerschaft erfüllt, und ihre grundrechtliche Schutzbedürftigkeit deshalb auch nicht davon abhängen kann, gilt es im Hinblick auf die privaten Teilhaber an einem von der öffentlichen Hand beherrschten Unternehmen nach dem schutzgutspezifischen Mehrwert zu fragen. Dieser ist so sicher nicht, beteiligen sich die Privaten doch freiwillig an der staatlichen Aufgabenerfüllung. Sie wissen um die mangelnde Grundrechtsfähigkeit des staatlich beherrschten Unternehmens, ordnen sich dem staatlichen Direktionsrecht und den grundrechtlichen Bindungen des Staates jedoch um ökonomischer oder sonstiger Vorteile willen sehenden Auges unter.47 Damit stellt sich die Frage, ob die letztlich privilegierende Verbindung mit dem Staat überhaupt jene Distanz zulässt, die notwendige Voraussetzung für die Zuerkennung von Grundrechtsschutz ist, und ob die eigentliche Grundrechtsverwirklichung nicht vielmehr darin gesehen werden muss, dass sich die privaten Anteilseigner als Gesellschafter eines öffentlich beherrschten Unternehmens auf Grund einer autonomen Entscheidung an der Ausübung öffentlicher Gewalt beteiligen und insoweit auch den Verzicht auf die überschießende grundrechtliche Absicherung ihres Engagements in Kauf nehmen. Wenn dies richtig ist, dann stellt die Auferlegung besonderer gesellschaftsrechtlicher Bindungen, wie etwa in §§ 394 f. AktG oder in §§ 53 f. HGrG, mit Blick auf
46 Roellecke, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Band I, 2002, Art. 19 I–III Rn. 132: Das Staatsorganisationsrecht hat immer Vorrang. 47 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 199 Rn. 62: Mit Blick auf die DB: „Das Staatsunternehmen zehrte als Parasit von den Grundrechten der Privaten, die es eigentlich zu achten hätte.“; Roellecke, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Band I, 2002, Art. 19 I–III Rn. 132. Das gilt grundsätzlich auch bei einer nachträglichen Beteiligung der öffentlichen Hand, die sich für die Altgesellschafter als „Eingriff“ darstellen kann; offen Erichsen/Ebber, Jura 1999, 373 (377).
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öffentlich beherrschte Unternehmen ebenso wenig einen Grundrechtseingriff dar wie ihre optimierende Auslegung.48 3. Beherrschung Dreh- und Angelpunkt der Grundrechtsfähigkeit von Unternehmen mit Beteiligung der öffentlichen Hand ist die Beherrschung. Eine öffentliche Beherrschung liegt in der Regel vor, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen.49 Ob man in besonderen Fällen auch auf andere Kriterien – z. B. gesetzliche, satzungsrechtliche oder individualvertragliche Einflussmöglichkeiten50 – zurückgreifen kann, hat das Fraport-Urteil offen gelassen, und dürfte nicht von vornherein ausgeschlossen werden können.51 So hat etwa die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) die Grundrechtsfähigkeit der Deutschen Telekom AG wegen des dem Bund seinerzeit noch zustehenden Kapitalanteils von 31,7 % verneint und Rundfunkaktivitäten unter Beteiligung der Deutschen Telekom AG nur zugelassen, soweit deren Einfluss auf die Programmgestaltung ausgeschlossen war. Es liegt auf der Hand, dass dies mit Art. 1 Abs. 3 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG in Konflikt geraten kann.52 III. Grundrechtsfähigkeit im Interesse ausländischen Investitionsschutzes Einen besonderen Spin hat die Debatte über die Grundrechtsfähigkeit öffentlich beherrschter Unternehmen jüngst im Zusammenhang mit dem Atomausstieg erhalten. Hier hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 6. Dezember 2016 zum Atomausstieg die Grundrechtsberechtigung des vollständig im Eigentum des Königreichs Schweden stehenden Energieversorgers Vattenfall be48 P. M. Huber/Fröhlich, in: Hopt/Wiedemann (Hrsg.), Großkommentar zum AktG, 40. EL., Dez. 2014, Vorb. §§ 394, 395 Rn. 26; a. A. Mann, Die Verwaltung 35 (2002), 463 (482). 49 BVerfGE 128, 226, 246 f. – Fraport; BVerfG, NJW 1990, 1783 – HEW; BVerfG-K NJW 2009, 3644. 50 Im unionalen Wettbewerbsrecht gilt als öffentliches Unternehmen nach Art. 2 Abs. 1 lit. b) TransparenzRL jedes Unternehmen, „auf das die öffentliche Hand auf Grund Eigentums, finanzieller Beteiligung, Satzung oder sonstiger Bestimmung, die die Tätigkeit des Unternehmens regeln, unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann“, RL 2006/111/EG der Kommission vom 16. 11. 2006 über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen sowie über die finanzielle Transparenz innerhalb bestimmter Unternehmen, ABl. Nr. L 318 S. 17; Klotz, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV, 7. Aufl. 2015, Art. 106 AEUV Rn. 7 ff.; Schmidt, Die Verwaltung 28 (1995), 281 (299). 51 BVerfGE 128, 226, 247 – Fraport; vgl. allgemein P. M. Huber (Fn. 6), S. 70; ders., Staatswissenschaften und Staatspraxis, 8 (1997), 423 (435); Storr (Fn. 29), S. 243 ff. 52 KEK 319 v. 11. 4. 2006 – De Luxe, Ziff. 4; KEK 321 v. 11. 4. 2006 – De Luxe; P. M. Huber, FS Bethge, 2009, S. 497 (500).
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jaht. Zwar fehle es auch in Fällen ausländischer staatlicher Rechtsträgerschaft an den hinter dem Unternehmen stehenden Grundrechtsträgern, die gegen hoheitliche Übergriffe zu schützen und deren Möglichkeiten einer freien Mitwirkung und Mitgestaltung im Gemeinwesen zu sichern letztlich Sinn von Art. 19 Abs. 3 GG sei. Andererseits passe die sog. Konfusionsthese bei einer von einem ausländischen Staat gehaltenen juristischen Person des Privatrechts nicht. Eine solche juristische Person des Privatrechts verfüge weder unmittelbar noch mittelbar über innerstaatliche Machtbefugnisse. Sie befinde sich zudem insofern in einer spezifischen Gefährdungssituation, als sie – falls ihr die Berufung auf die Grundrechte völlig versagt bliebe – im Gegensatz zu allen anderen Marktteilnehmern gegenüber staatlichen Eingriffen und wirtschaftslenkenden Maßnahmen, die unmittelbar durch Gesetz erfolgten, rechtsschutzlos gestellt wäre. Angesichts dieser besonderen Umstände sei Art. 19 Abs. 3 GG mit Blick auf die unionsrechtlich geschützte Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUVauszulegen. Auf diese Weise könnten auch Brüche zwischen der deutschen und der europäischen (Teil-)Rechtsordnung vermieden werden: „Der Beschwerdeführerin Vattenfall kann hier mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit ausnahmsweise die Erhebung der Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 14 GG eröffnet werden.“53
Es handelt sich hier m. a. W. um nichts anderes als um eine Ausnahme, die die Regel bestätigt.
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BVerfGE 143, 246, 316 Rn. 195 ff. – Atomausstieg.
Nudging – oder: Wohin und wie weit darf der Staat seine Bürger schubsen? Von Friedhelm Hufen, Mainz I. Ein denkwürdiges Zeichen der Zeit Die Erkenntnis, dass Menschen sich nicht immer nach den Gesetzen der Vernunft verhalten, hat Richard Thaler den Nobelpreis für Ökonomie eingetragen. Die Erkenntnis, dass sich Menschen von Verfassungs wegen unvernünftig verhalten dürfen, wäre den (leider immer noch nicht existierenden) Nobelpreis für Rechtswissenschaften wert. Preiswürdig jedenfalls ist der Beitrag, den Matthias Schmidt-Preuß zur verfassungsrechtlichen Klärung des immer aktuellen Spannungsverhältnisses von Selbstregulierung und staatlicher Lenkung, von autonomer Interessenwahrnehmung und Lösung von Interessenkollisionen, zur Verteidigung von pluralistischen und liberalen gegenüber autoritären und paternalistischen Konzepten geleistet hat. Thaler und die von ihm inspirierten Vertreter des „sanften Paternalismus“ der Verhaltensökonomie dagegen schlagen vor, Menschen durch nudging (zu Deutsch: Schubsen oder stupsen) in die richtige Richtung zu schieben. Gemeint ist damit eine Methode, das Verhalten des Menschen auf vorhersehbare Weise zu beeinflussen, ohne auf Gebote und Verbote zurückzugreifen.1 Akteure, Ziele und Instrumente sind vielfältig. Sie reichen von harmlosen Formen wie dem intensiver werdenden Fiepen bei nicht angelegtem Sicherheitsgurt und das belohnende „Smiley“ in der Tempo 30Zone über gezielte Beeinflussung wie die prominente Platzierung von Salat und die Zurückdrängung der Pommes frites am Mensabuffet, über die Empfehlung fleischloser Tage und Belohnung für die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen, alle möglichen Warnhinweise und steuerliche Anreize und Vorschlägen für umweltbewusstes Verhalten und rechtzeitige Altersvorsorge, die Einführung einer Fett- oder Zuckersteuer bis hin zu drastischen Horrorbildern auf Zigarettenschachteln und vielleicht demnächst auf Weinflaschen2. In anderen Staaten schon Wirklichkeit und bei uns zumindest ernsthaft diskutiert werden Verbote von XXL-Softdrink Bechern, Automaten mit verzögerter Abgabezeit von ungesunden Snacks, die Aufforderung zur Einnahme von resistenzsteigernden Vitaminen bis hin zur Vergabe von Fitness-Trackern 1 Der Ursprung liegt wohl im Werk von Thaler/Sunstein, Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness, 2008. 2 Eppelsheim, Alkohol ist kein Sanitäter, FAZ, 29. 06. 2014.
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zur Messung der täglich bewältigten Treppenstufen oder gar Vorschlägen der „Chemoprävention“3. Helfen direkte Gebote und Verbote nicht, so soll wenigstens durch Prämien und Vorteile sicherheitsbewusstes Verhalten wie das Helmtragen beim Fahrrad- oder Skifahren belohnt und Unvernunft durch massive Nachteile bei Prämien, Schadensersatzsummen bestraft werden. Unabhängig von solchen Beispielen spielt sich nudging nicht nur „fern in Amerika“ ab. Immerhin existiert im Kanzleramt eine Projektgruppe, die die Möglichkeiten des Einsatzes der Verhaltensökonomik für eine Beeinflussung der Bevölkerung zum gesünderen Leben, zum Verbraucherschutz und zum umweltbewussten Verhalten studiert.4 Öffentliche Akteure, also Staat, öffentliche Körperschaften und Medien sind in vielfältiger Weise an dieser Beeinflussung beteiligt. Damit ist „nudging“ kein Begriff, sehr wohl aber ein Thema des Verfassungsrechts. Zwar gibt es keinen grundrechtlichen Schutz vor aufgedrängten Meinungen, vor Konfrontationen und „schlechtem Gewissen“. Aber es gibt sehr wohl einen Schutz gegen Bevormundung, unbewusste Beeinflussung, staatliche Eingriffe in den Wettbewerb und überzogenen Paternalismus.5 Übergreifend stellt sich daher zunächst die Frage, ob das Konzept der „sanften Verhaltenssteuerung“ als solches zentralen verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht (II.). Weitere Aufgabe ist die Differenzierung und die Zuordnung zum gängigen Instrumentarium des Verfassungs- und Verwaltungsrechts (III.). Erst danach kann es um eine Prüfung einzelner Grundrechtsprobleme gehen (IV.). II. Die Grundidee des nudging und die anthropologischen Grundlagen der Verfassung So unterschiedlich in den Anwendungsfeldern und Einsatzformen, so einheitlich ist die Grundidee des „nudging“: Sie zielt auf Lenkung des Menschen im Unterbewussten auf ein bestimmtes als „vernünftig“ vorgegebenes Ziel. So beruht das Konzept auf der Unterstellung, der Staat solle oder müsse eingreifen, um die Menschen auf den richtigen Weg zu lenken, da sie selbst unfähig seien, das für sie Bessere zu erkennen und zu verwirklichen. Historisches Vorbild ist letztlich der spätabsolutis-
3 So hat lt. H. Kaulen, FAZ, 08. 09. 2010 ein gewisser Darryl Francis vom Imperial College in London vorgeschlagen, dass jeder Kunde in Fast Food-Restaurants neben Ketchup, Mayonnaise oder Salz auf Nachfrage ein Tütchen mit cholesterinsenkenden Tabletten erhalten solle. 4 Plickert, Die Macht des „Nudging“ ist nicht unbegrenzt, FAZ 20. 2. 2017; Gigerenzer/ Reisch, FAZ 25. 11. 2015, S. 18. 5 Dazu Klimpel, Bevormundung oder Freiheitschutz? Kritik und Rechtfertigung paternalistischer Vorschriften über das Leben, den Körper und die Sexualität im deutschen Recht, 2003.
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tische Wohlfahrtsstaat,6 in dem der Staat nicht nur für die innere und äußere Sicherheit sowie die Infrastruktur verantwortlich ist, sondern im umfassenden Sinne „Daseinsvorsorge“ für seine Untertanen betreibt. Hier geht es – anders als bei den Vätern westlicher Verfassungskultur – nicht um pursuit of happiness, also individuelle Verwirklichung des Glücks, sondern um die öffentliche Gewährleistung von letztlich vorgegebener „happiness“ als solche. Lorenz von Stein hat für dieses Denken den Begriff des „sozialen Königtums“ geprägt.7 Kehrseite des Prinzips ist der betreuungsbedürftige Bürger, der nicht selbst in der Lage ist, sein Lebensrisiko zu tragen und sich mit seiner Familie einzurichten. Aus verfassungsrechtlicher Sicht fragwürdig sind bereits die anthropologischen Grundannahmen, die hinter diesem Konzept stehen, denn sie kollidieren fundamental mit dem anthropologischen Leitbild der Verfassung,8 ja mit der Menschenwürde, die bei aller Vielfalt und Unbestimmtheit des Begriffs jedenfalls auch die Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Individualität des Menschen schützt9 und dem Staat insbesondere den Zugriff auf das Unterbewusste im Menschen verwehrt10. Das Menschenbild des Grundgesetzes nimmt den Menschen in seiner Individualität zwischen den Polen Selbstbestimmung und Gemeinschaftsbezug ernst.11 Auch liegt das Konzept des nudging quer zu einer demokratischen und republikanischen Ordnung, die kein vorgegebenes „Richtig“ und „Falsch“ und keine für alle verbindlichen Maßstäbe der Vernunft kennt, sondern darauf angelegt ist, solche Ergebnisse im ständigen Diskurs und auf Konflikt der Meinungen, Interessen und Positionen zu ermitteln. Geht es um die Kategorie „gut“ und „böse“, so sind zugleich die Gewissensfreiheit (Art. 4 GG)12 und die ethische Neutralität des Staates angesprochen13. III. Einzelne Bereiche und Instrumente Im Hinblick auf eine konkrete verfassungsrechtliche Betrachtung ist zu Recht angemerkt worden, dass es beim „nudging“ weder um ein neues noch um ein hinrei6 Kritisch Saint-Paul, The tyranny of utility, 2011; aus rechtswiss. Sicht Wolff, RWiss 2015, 194; Holle, ZLR 2016, 596; Kolbe, Freiheitsschutz vor staatlicher Gesundheitssteuerung. Grundrechtliche Grenzen paternalistischen Staatshandelns, 2016. 7 von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850). 8 Holle, ZLR 2016, 596; Welter, Ein Schubs in die Unfreiheit, FAS 15. 10. 2017. 9 Zur Selbstbestimmung als Element der Menschenwürde Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 6. Aufl. 2017, § 10 Rn. 2. 10 Dieser Aspekt war zentral bei der Ablehnung des sog. „Lügendetektors“ im Strafprozess (BGHSt 5, 322, 335; BVerwG, NStZ 2011, 474; allg. Spranger, JZ 2009, 1033). 11 So die klassische Definition BVerfGE 4, 7; dazu Hufen, StaatsR II, § 10 Rn. 16; gegen eine Verortung des Problems bei der Menschenwürde Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, 2012, S. 18. 12 Skeptisch auch insofern Volkmann (Fn. 11), S. 18. 13 Insofern auch Volkmann (Fn. 11), S. 20.
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chend präzise umschriebenes Phänomen geht.14 Vielmehr handelt es sich nur um einen aktuellen – um nicht zu sagen: modischen – Sammelbegriff für verschiedene Handlungsformen und Handlungsziele, die sorgfältig zu differenzieren und in Bezug zum herkömmlichen Instrumentarium der Rechts- und Handlungsformen zu setzen sind. 1. Nicht Teil des Themas: „Privates Nudging“ Auszuklammern ist zunächst das „private Nudging“ durch Werbung, Beratung und Wettbewerb. Wirtschaftliche Anreize, Angebote, die Erweckung und Beförderung privater Wünsche und Bedürfnisse sind das Lebenselixier einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung; sie befördern den Wettbewerb und sind letztlich auch grundrechtlich durch Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit und Gleichheit im Wettbewerb verfassungsrechtlich geschützt. Grenzen sind u. a. durch das Wettbewerbs- und Lauterkeitsrechts markiert. Unbestreitbar ist allerdings, dass es auch im privaten Sektor bedenkliche Formen indirekter Beeinflussung im Unterbewusstem gibt, dass Menschen freiwillig ihre Selbstbestimmung und den Schutz persönlichster Daten opfern,15 um wirkliche oder scheinbare Vorteile etwa bei Versicherungsprämien und bei „Schnäppchen“ zu erreichen, bei denen aber letztlich immer nur der Anbieter der Gewinner ist. Diese aber sind nicht Thema dieser auf das „öffentliche nudging“ begrenzten Abhandlung. Eine öffentliche Verantwortung wird allerdings begründet, wenn der Staat sich zur Information oder Beeinflussung des Bürgers privater Vermittler bedient – so etwa in der Internetplattform „Klarheit und Wahrheit im Lebensmittelrecht“ – , die letztlich nach denselben Maßstäben zu beurteilen ist wie ein staatliches Informations- und Warnungshandeln selbst.16 2. Abgrenzung zu Geboten und Verboten Ausgeklammert bleiben auch die traditionsreichsten Formen staatlicher Beeinflussung der Gesellschaft, direkte Gebote und Verbote. Zu beachten ist aber, dass Gebote und Verbote gegen Produzenten, Werbetreibende usw. durchaus ein bestimmtes Verhalten Dritter zum Ziel haben oder sich sogar als mittelbare Eingriffe erweisen können. So dienen Werbeverbote für Tabak und Alkohol gerade der (negativen) Beeinflussung der Konsumenten. Mit Abstandsgeboten und Verbundverboten für Spielhallen im Glücksspielstaatsvertrag soll gezielt das Verhalten von potentiell Suchtge14
Kühl, Staatlich finanzierte Bewertungsportale Privater – Lebensmittelklarheit.de aus lebensmittel- und verfassungsrechtlicher Perspektive, 2017, S. 30. 15 Lt. Zeitungsmeldungen bezuschusst die AOK den Kauf und den Einsatz einer AppleWatch, um Leistungsdaten der Versicherten ermitteln zu können, Die WELT, 06. 08. 2015. 16 Ausf. dazu Kühl (Fn. 14).
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fährdeten beeinflusst werden. Das ist zumindest in die Verhältnismäßigkeitsprüfung solcher Maßnahmen einzubeziehen. 3. Abgrenzung zur bloßen Information Nicht zum Thema gehört ferner nicht auf Beeinflussung zielende bloße Information. Die Grenzen sind allerdings auch hier fließend. Neutrale Information und subtile Beeinflussung sind schwierig zu trennen. So unterscheidet Holle17 zwischen informativen, edukativen, befähigenden und manipulativen Formen des nudging, bezieht die Information also mit ein. Beide sind rechtlich als Realakte einzuordnen und enthalten auch keine Regelung im klassischen Sinne. Gleichwohl ist die subtile Beeinflussung durch „nudging“ zu Recht als eine Form verhaltensbasierter Regulierung18 bezeichnet worden. Das hat erhebliche Konsequenzen – nicht zuletzt im Hinblick auf die grundrechtliche Beurteilung. Ist die Information zugleich auf die Beeinflussung des Adressaten ausgerichtet, so gelten dieselben Regelungen wie für sonstige Formen der Beeinflussung. Das ist etwa bei Bewertungen, Warentests, „Smileys“ und deren Gegenteil der Fall. Wie das ganze Informationsverhalten des Staates müssen sie auf angemessener Sachaufklärung beruhen, wahrheitsgemäß sein und dürfen persönliche und geschäftliche Geheimnisse nicht oder nur unter gesetzlich bestimmten Voraussetzungen preisgeben. 4. Einsatzgebiete Für die verbleibenden Formen des nudging sind im Wesentlichen folgende Einsatzgebiete zu nennen: Ein seit langem bekanntes und heute weitgehend durchnormiertes Gebiet betrifft das Lebensmittelrecht und den Verbraucherschutz in diesem Bereich. Ziel ist die Beeinflussung des Menschen im Sinne gesunder Ernährung. Instrumente sind Warnhinweise, Verbraucherplattformen, aber auch die vieldiskutierte „Nährstoffampel“. Probleme ergeben sich daraus, dass im Einzelfall höchst umstritten sein kann, was für den Einzelnen „gesunde Ernährung“ und ein gesundes Lebensmittel ist. So hätten Obstsäfte wegen eines hohen Zuckergehalts bei einer „Ampel“ schlechte Karten. Auch drohen mit der Verbraucherbeeinflussung teilweise gravierende Eingriffe in die Rechte Dritter, also Hersteller, Inverkehrbringer usw. (dazu unten IV). Gesundheit und Sicherheit im weiteren Sinne sind auch angesprochen, wenn es um vorsichtiges Verhalten und Prävention beim allgemeinen Gesundheitsschutz19, im Straßenverkehr und in der Freizeitgestaltung geht. Diese überschneiden sich naturgemäß mit dem Verbraucherschutz im Bereich der Lebensmittel, greifen aber über 17
Holle, ZLR 2016, 596. Reisch/Sandrini, Nudging in der Verbraucherpolitik. Ansätze verhaltensbasierter Regulierung, 2015. 19 Marckmann, EthikMed 2010, 207 ff. 18
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diese hinaus, wie etwa die energischen „Runter vom Gas“-Kampagnen an Autobahnen und Aufforderungen zu Vorsorgeuntersuchungen zeigen. Von zunehmender Bedeutung ist drittens der Bereich finanzieller Vorsorge, insbesondere die Alterssicherung, bei denen die Adressaten u. a. – abweichend von den Probanden der klassischen Versuchsreihen der Verhaltensökonomie – dazu gebracht werden sollen, auf aktuellen Konsum zu verzichten, um bei Notfällen oder im Alter besser abgesichert zu sein. Ein weiteres Einsatzfeld ist die Anleitung des umweltbewussten und nachhaltigen Verhaltens. Hierunter fallen die schon zitierten Anleitungen zur Mülltrennung, die Verleihung des „blauen Engels“ und vergleichbarer Prädikate an wirklich oder vermeintlich umweltfreundliche Produkte und Verfahren. 5. Anreiz, Warnung und Bestrafung Positiv und auch negativ aus der Sicht des Einzelnen können die angekündigten Folgen eines bestimmten Verhaltens sein. Die Mittel lauten Anreiz, Belohnung, Prämien und Steuervorteile einerseits und Warnung, Abschreckung, Zuschläge auf Gebühren und Beiträge oder Sondersteuer andererseits. Besonders beliebt ist die Forderung nach Gesundheitsabgaben und Sondersteuern auf schädliche Lebensmittel,20 riskante Verhaltensweisen und umweltbelastende Produkte. Aber auch die staatlich angeordnete „Schockwerbung“ auf Zigarettenschachteln gehört in diese Gruppe. Begründet werden solche Maßnahmen nicht nur mit der Wirkung auf den Einzelnen, sondern auch mit der wirklichen oder vermeintlichen Belastung der Solidargemeinschaft. Auch wird ein sozialer Druck erzeugt: Der drohende Zeigefinger erreicht auch Dieselfahrer, Schnellfahrer, Skifahrer und Glücksspieler. Gesundheit wird vom individuell erwünschten Zustand zum öffentlichen Gut („public health“). Wer sich an diesem öffentlichen Gut vergeht, wird mit höheren Abgaben belastet und sozial verfemt. Bevorzugte Objekte sind neben Tabak und Alkohol gesättigte Fettsäuren, Salz und Zucker. Die erhöhten Steuereinnahmen sollen für die Verbilligung gesunder Lebensmittel verwendet werden. 6. Rechtsformen Nudging selbst ist keine eigene Rechtsform, es spielt sich zumeist in der „großen Auffangkategorie“ des tatsächliches Verwaltungshandelns/Realakts ab. In der Sache handelt es sich mehr oder weniger weiche Formen von Regulierung und Steuerung.21 Die angebotenen Anreize, Sanktionen und Nachteile sind dann allerdings wieder in die gewöhnlichen Kategorien des Verwaltungsakts, des Abgabenbescheids, des Steuergesetzes usw. einzuordnen. 20 So durch den Geschäftsführer der deutschen Diabetes-Gesellschaft Garlichs, FAZ, 16. 05. 2012. S. M2; ähnl. Kloepfer, Leserbrief FAZ, 22. 04. 2015, S. 16. 21 Dazu Volkmann (Fn. 11), S. 13 ff.
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IV. Konkrete Grundrechtsprobleme 1. Schutzbereiche möglicherweise betroffener Grundrechte Ob und ggf. welche verfassungsrechtliche Bedenken gegen das „nudging“ bestehen, lässt sich nicht abstrakt, sondern nur an Hand der Vielfalt von Einzelmaßnahmen bestimmen. Dabei ist zwischen den Grundrechtspositionen der eigentlichen Adressaten der Einflussnahme und den Rechten Dritter, also z. B. den Rechten von Herstellern und Inverkehrbringern von Produkten, zu unterscheiden. Aus grundrechtlicher Sicht unbedenklich sind alle Formen staatlicher Information und neutraler Beratung, die die Entscheidungsbasis des Menschen verbreitern und ihn zum selbstbestimmten Handeln befähigen. Probleme entstehen erst, wenn es um gezielte Beeinflussung im Sinne einer aufgedrängten Fürsorge geht.22 Dann sind keiner geringeren Grundrechte als das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und – wenn es um die Erhebung und Weitergabe personenbezogener Daten geht – das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen. Diese Grundrechte basieren auf dem Prinzip der Selbstverantwortung und gewährleisten auch und gerade das Recht, Informationen nicht zur Kenntnis zu nehmen oder zu verdrängen, nicht vernünftig zu sein; ja für erwachsene Menschen sogar das Recht auf Selbstgefährdung und Selbstschädigung. Werden mit dem „nudging“ Nachteile und Vorteile verbunden, so kommen die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit (geschützt durch Art. 2 Abs. 1 GG), bei ethischen Bewertungen auch die Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) ins Spiel. Schließlich ist auch der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 GG) zu beachten, denn Ungleichbehandlungen bei Anreizen und Nachteilen wollen verfassungsrechtlich begründet sein. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Grundrechte Dritter, die durch öffentliches „nudging“ betroffen sein können. In vielen Fällen wird hier möglicherweise in persönliche oder geschäftliche Geheimnisse (Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 GG; Art. 12 GG) eingegriffen. Die Gleichheit des Wettbewerbs (Art. 3 GG) wird gezielt beeinflusst; im äußersten Fall kann das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (Art. 14 GG) betroffen sein. Auch europäische Grundfreiheiten (Dienstleistungsfreiheit, freier Marktzugang usw.) dürfen nicht außer Betracht bleiben.23 2. Nudging als Grundrechtseingriff Wie das physische Schubsen ein Eingriff in die körperliche Integrität ist, so kann das mentale Schubsen ein Eingriff in die mentale Integrität des selbstbestimmten Menschen und damit ein Grundrechtseingriff sein. Immer ein Eingriff ist das „obligatorische nudging“, also z. B. eine obligatorische Beratungspflicht vor Aufnahme einer grundrechtlich geschützten Tätigkeit. Eingriffscharakter tragen auch negative 22 23
Dazu ausführlich Holle, ZLR 2016, 596. Ausführlich dazu Kühl (Fn. 14), S. 179 ff.
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Anreize, wie Zusatzabgaben auf Nikotin, Alkohol, Zucker oder Fett oder Prämiennachteile in der Krankenversicherung. Wie vielfältig hier die Einwirkungsformen sind, zeigt der Fall, in dem es um das Mitverschulden eines „helmlosen“ Radfahrers an seiner Unfallverletzung ging.24 Auch positive Einwirkungen und Anreize können – so paradox es klingt – zu Eingriffen und Ungleichbehandlungen führen, so etwa, wenn einem Konsumenten ein ungeeignetes Kraftfahrzeug, eine überzogene Solaranlage oder eine unrentable Geldanlage zur Altersversorgung nahe gelegt werden. Lange bevor das Thema „nudging“ eine Rolle spielte, war die Frage des Grundrechtseingriffs Dritter durch Verbraucherbeeinflussung umstritten. Diese Diskussion kann hier nur angedeutet werden. Jedenfalls dürfte die frühere Auffassung des BVerfG, dass es sich bei bloßen Information und Produktkritik aus der Sicht der Produzenten nicht um Grundrechtseingriffe handle,25 heute als überwunden gelten.26 Warnmitteilungen und konkrete Produktkritik sind jedenfalls dann rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in die Freiheit des Wettbewerbs und wohl auch in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, wenn bestimmte Produkte und Produzenten benannt und damit gezielt auf das Konsumverhalten Einfluss genommen wird. 3. Rechtfertigung von Eingriffen Wie in anderen Bereichen ist nicht jeder Eingriff in Grundrechte durch „nudging“ sogleich verfassungswidrig und damit grundrechtsverletzend. Eingriffe können vielmehr gerechtfertigt sein. Kennzeichnend erscheint zunächst, dass aus grundrechtsdogmatischer Sicht die mögliche Rechtfertigung für Eingriffe in Rechte Dritter weit ausführlicher diskutiert worden ist, als diejenige einer Beeinflussung der Betroffenen selbst. Wird ein direkter oder indirekter Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht festgestellt, so ist immerhin festzuhalten, dass die allgemeinen Regeln: Einhaltung der Zuständigkeitsgrenzen, angemessene Sachaufklärung, Grundrechtsschutz im Verfahren, Gesetzesvorbehalt und Verhältnismäßigkeit uneingeschränkt gelten. Reine Kompetenzvorschriften, die Staatsaufgabe Öffentlichkeitsarbeit oder allgemeine Schutzpflichten für Leben, Gesundheit und Altersvorsorge reichen nicht aus, um konkrete Eingriffe zu rechtfertigen.27 Leicht zu begründen sind Einflussnahmen auf das Verhalten, soweit gefährdete Dritte geschützt werden. Mahnungen an den Autobahnen („Runter vom Gas“, „rechts vorbei ist ganz daneben“ usw.) sind zwar ebenso nervtötend wie vermutlich nutzlos, 24
OLG Schleswig, 5. 6. 2013, BeckRS 2013, 10226; dazu die scharfe Kritik von Born, NJW Editorial, Heft 31/2013. 25 BVerfGE 105, 253, 265 – Glykolwein. 26 Ausf. dazu Hufen, Staatsrecht II, § 35 Rn. 51; Martini/Kühl, JA 2014, 1221; Ossenbühl, NVwZ 2011, 1357; Schoch, in: Dix u. a. (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2013, S. 117; Wilkat, Bewertungsportale im Internet, 2013; Schoene, ZLR 2013, 65; Wolf, Der Schutz des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses, 2015; Wollenschläger, VerwArch 2011, 20. 27 Holle, ZLR 2016, 596.
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aber im Interesse der Verkehrssicherheit und damit Dritter gerechtfertigt – vom „Klassiker Schutz gegen Passivrauchen“ einmal ganz abgesehen. In einigen Fällen stellt sich allenfalls die Frage der Verhältnismäßigkeit. So ist es zweifelhaft, ob der Staat ein Recht zur Schockwerbung28 und zur Erzeugung überzogener Ängste hat. Der Schutz vor Selbstgefährdung ist dagegen sehr viel schwerer zu begründen. Zwar hat das BVerfG es als legitimes Staatsziel bezeichnet, den Einzelnen davor zu bewahren, sich selbst leichtfertig einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen. Bei näherem Hinsehen waren in diesen Fällen aber stets Jugendliche betroffen, so im Fall „Sonnenstudioverbot für Minderjährige“29 und beim Schutz vor Pornografie30, oder es ging um wahrhaft nicht repräsentative Einzelfälle, wie der voreiligen Entscheidung über eine Geschlechtsumwandlung31. Im Übrigen ist es aber höchst zweifelhaft, ob der Staat befugt ist, erwachsene Menschen im Wege echter Grundrechtseingriffe vor Unvernunft und Selbstgefährdung zu bewahren, und der jüngste Beschluss des BVerfG zum Glücksspielstaatsvertrag ist alles andere als ein Beispiel geglückter Grundrechtsinterpretation32. Nicht ungefährlich ist auch die Argumentation mit den Kosten für die Solidargemeinschaft, weil der Sozialstaat die meisten Lebensrisiken vergesellschaftet hat und damit nahezu jede Freiheitsbeschränkung mit dem Schutz ebendieser Solidargemeinschaft rechtfertigen könnte. Ähnliches gilt für die Sichtweise, die Gesundheit als öffentliches Gut sieht.33 Alles in Allem bestehen erhebliche Zweifel, ob die eingreifende Verhaltenssteuerung bei erwachsenen Menschen verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.34 Das gilt erst recht, wenn diese Einflussnahme vermittels eines weiteren Eingriffs erfolgt, wie dies etwa die Erhebung von Abgaben und anderen Sanktionen der Fall wäre. Die Einführung einer Zuckersteuer und vergleichbare Maßnahmen wären – auch wenn man die Maßstäbe des BVerfG zur Lenkungssteuer35 anwendet – verfassungsrechtlich bedenklich, weil schon der Zweck verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt wäre. Je mehr die Freiheit zur Selbstbestimmung beeinträchtigt wird, desto höher sind jedenfalls die Anforderungen an die Rechtfertigung. Im Hintergrund steht ein grundsätzliches Verbot der Erziehung erwachsener Menschen durch den „pädagogi-
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So zu Recht Degenhardt, Kolumne in NJW 2016, Heft 16. BVerfG, NJW 2012, 1063. 30 BVerfGE 83, 130 – Jugendschutz vor pornografischem Roman. 31 BVerfGE 60, 123, 132. 32 BVerfG, NVwZ 2017, 1111; krit. H.-P. Schneider, NVwZ 2017, 1073; Hufen, StaatsR II, § 35 Rn. 56. 33 Klement, in: Spiecker, gen. Döhmann/Wallrabenstein (Hrsg.); Schriften zur Gesundheitspolitik und zum Gesundheitsrecht, Band 20, S. 105; Holle, ZLR 2016, 596; Buyx/Huster, EthikMed 2010, 155 ff. 34 Degenhardt, Kolumne in NJW 2016, Heft 16. 35 Zuletzt BVerfGE 137, 350 ff. 29
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schen Sozialstaat“. Die Schulpflicht endet im freiheitlichen Rechtsstaat mit der Schule. Das gilt auch und erst recht, wenn mit der Verhaltenssteuerung durch nudging Eingriffe in Grundrechte Dritter betroffen sind. Wichtiges Referenzgebiet für diese Frage ist das Lebensmittelrecht, dessen gesetzliche Grundlagen für eingreifende Verbraucherinformationen, Produktkritik, Bewertungsportale usw. auch für die Diskussion um das „nudging“ einzuhalten sind. Die damit verbundenen schwierigen Grundrechtsprobleme sind zumindest im Bereich des Verbraucherschutzes im Lebensmittelrecht dank exemplarischer Anwendungsfälle heute weitgehend geklärt. Eingriffe durch Warnungen, Produktkritik und Ähnliches dürfen jedenfalls nur durch die jeweils zuständigen Behörden auf gesetzlicher Grundlage36 und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Der Versuch des Gesetzgebers, in Gestalt von § 40 Abs. 1a LFBG eine solche Rechtsgrundlage zu schaffen, wurde bereits gerichtlich als verfassungswidrig eingestuft.37 Damit ist auch ein verfassungsrechtlicher Rahmen für andere Bereiche gekennzeichnet, in der es um „nudging zu Lasten Dritter“ geht.38 V. Ausblick: Gegen die Spirale der Unmündigkeit Suchtgefahren sind ein besonders „beliebter“ Begründungsansatz nicht nur für Verbote und Einschränkungen von Spielhallen, sondern auch von direktem und indirektem nudging („Glücksspiel kann süchtig machen“). Die Protagonisten vergessen dabei jedoch, dass auch nudging süchtig machen kann: Der Mensch gewöhnt sich daran, vor jeglichen Gefahren und Nachteilen für Gesundheit, Familie, wirtschaftliche Entwicklung usw. bewahrt zu werden. So kommt es zu einer Unmündigkeitsspirale: Nudging macht unmündig und muss dann noch durch intensiveres nudging korrigiert werden. Im Ergebnis brauchen wir anstelle des (gar nicht so sanften) staatlichen Paternalismus eine Verhaltensökonomik, die die Freiheit wieder als eigenständigen Wert anerkennt; auch wenn die Menschen dann die Freiheit haben, Fehler zu begehen und unvernünftig zu leben. Nudging kommt also nur als Hilfe zur Selbsthilfe in Betracht.39 Entsprechend ist der Arbeitsauftrag der eingangs genannten Arbeitsgruppe im Kanzleramt – falls diese noch existiert – zu modifizieren. Der Staat muss die Bürger wettbewerbsfähig machen, aber er darf sie nicht entmündigen.
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Dazu Geldermann/Hammer, VerwArch. 2013, 64. VGH Mannheim, NVwZ 2013, 1022; Alternativvorschlag bei Möstl/Becker/Holle/ Hufen/Leible/Rathke/ Schroeder/Streinz, ZLR 2017 H 4 , 535. 38 Dazu Martini/Kühl, JA 2014, 1221; Kühl (Fn. 14); Möstl, Lebensmittel und Recht 2014, 77; Schoch, in: Dix u. a. (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2013, S. 117; Gundel, ZLR 2013, 662. 39 Brüning, DÖV 2014, 908. 37
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Wenn es ein Leitmotiv im wissenschaftlichen Schaffen von Matthias SchmidtPreuß gibt, dann dieses!
Nahrung als Thema des Verfassungsrechts Grundrechtsrelevanz und Sicherstellungsauftrag Von Josef Isensee, Bonn I. Spurensuche „Unser täglich Brot“, um das die Christenheit im Vaterunser-Gebet bittet, ist eine elementare Bedingung menschlichen Lebens, die des rechtlichen Schutzes bedarf. Wenn es überhaupt ein „natürliches“ Menschenrecht gibt, das der biologischen Natur des Menschen entspricht, dann das Menschenrecht auf Nahrung. Wer die Grundlagen des Lebens entzieht, entzieht das Leben selbst „You take my life / When you do take the means whereby I live“, klagt Shylock.1 Das Menschenrecht auf Nahrung ist die Voraussetzung für die Innehabung und Ausübung aller anderen Rechte. Dennoch gehört dieses Recht nicht zu den geläufigen Themen der Menschen- und Grundrechte. Es hat bislang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden, vielleicht deshalb, weil es derart naheliegt, dass man es leicht übersieht. Ein Menschenrecht auf Nahrung2 findet sich nicht unter den klassischen Menschenrechten liberaler Observanz. Deren Themen waren der Schutz von Freiheit und Eigentum des Individuums vor dem Zugriff der Staatsgewalt und die Gleichheit aller vor dem Gesetz. In den klassischen Menschenrechten verbanden sich aufklärerische Ideale mit politischen und wirtschaftlichen Interessen eines wohletablierten Bürgertums. In der liberalen Vorstellungswelt sorgte ein jeder selbst für seine Ernährung. Biologische Bedürfnisse passten nicht in das Pathos der Freiheit. Das erhabene Selbstbild spürte weder Hunger noch Durst. Schiller spottete über eine solche Vorstellung von der Würde des Menschen: „Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, / Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“3 Die realen Bedürfnisse des Daseins rücken in das Blickfeld der zweiten Generation der Menschenrechte, der sozialen, die sich auf die Teilhabe an den Lebensgütern beziehen. Prototypisch sind die sozialen Rechte auf Arbeit, auf Wohnung und anderen Lebensbedarf. Im Schatten dieser „Rechte auf …“ findet sich in den Menschen1
Shakespeare, The Merchant of Venice, IV, 1. Zur Terminologie: „Menschenrechte“ sind überstaatliches Recht, entweder überpositives Naturrecht oder (positives) Völkerrecht. „Grundrechte“ dagegen sind (positives) staatliches Recht. Näher Isensee, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa (= HGR), Bd. II, 2006, § 26 Rn. 5 ff. 3 Schiller, Würde des Menschen (1797). 2
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rechtstexten des Völkerrechts auch ein Recht auf Nahrung.4 Doch dieses Recht bringt es nicht zu jener Prominenz wie das Recht auf Arbeit, jedenfalls nicht in jenen Gesellschaften, die nicht unter dem Mangel an Nahrung leiden. Deutschland aber litt nach dem zweiten Weltkrieg unter diesem Mangel. Die Lebensmittel wurden rationiert, und die Zuteilung stand unter Zwangsverwaltung. Ihr wuchs die Macht zu, den Unbotmäßigen durch Entzug der Lebensmittelkarte zu disziplinieren und dem Hunger auszuliefern. Auf eine solche Wucherung der Staatsgewalt antwortete das Recht auf Nahrung. Im Jahr 1948 berief sich der Badische Staatsgerichtshof in einem obiter dictum auf „das elementare Menschenrecht auf Nahrung“, „welches als ein ungeschriebenes, von keinem Rechtssatz aufzuhebendes Grundrecht allen Verfassungen innewohnt und auch in der Bad. Verf. anklingt, wenn sie ein menschenwürdiges Dasein zum Ziel des Wirtschaftslebens erhebt (Art. 43 S. 2).“5 Am Trauma des willkürlichen Entzugs der Lebensmittelkarte entzündete sich das naturrechtliche Denken, das ohne positivrechtliche Grundlage auf ein Menschenrecht zurückgriff.6 Das Recht auf Nahrung beschäftigte den Parlamentarischen Rat. Der Vorsitzende des Grundsatzausschusses Hermann von Mangoldt brachte das Thema in die Beratungen des Parlamentarischen Rates ein,7 indem er auf eine einschlägige Passage des UNO-Kommissionsentwurfs der Menschenrechte hinwies8 sowie auf einen Aufsatz Ernst Forsthoffs, der die Androhung des Entzugs der Lebensmittelkarte oder des Wohnrechts bei Nichtbefolgung behördlicher Anordnungen als „Erpressung der Verwaltung“ brandmarkte: „Ein wirksamer Schutz des einzelnen gegen die Übermacht der modernen Verwaltung verlangt die grundrechtliche Sicherung des gleichen Anspruchs aller auf Teilhabe an den Leistungen der Verwaltung zur Ermöglichung einer 4 Übersicht über die völkerrechtlichen Quellen eines „Menschenrechts auf Nahrung“: Härtel, in: FS Hufen, 2015, S. 23 (25 ff.). 5 Gegen dieses Menschenrecht verstieß laut Urteil vom 27. 11. 1948 die Vollmacht des Leiters des Arbeitsamtes, säumigen Meldepflichtigen die Lebensmittelkarte zu versagen. Allerdings entzog sich die Anordnung der Nachprüfung, weil sie auf Recht der französischen Militärregierung zurückging (Bad. Staatsgerichtshof Freiburg Brsg., VerwRspr 1 [1949], 249 [250 f.]). Der (ungenau) zitierte Art. 43 Abs. 1 der Verfassung von (Süd-)Baden aus dem Jahre 1947 lautet: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechen. Das Ziel ist die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern. Die grundsätzliche Freiheit von Landwirtschaft, Industrie, Handel, Handwerk und Gewerbe wird gewährleistet.“ 6 Die Naturrechts-Renaissance der Nachkriegszeit wirkt nach in der Annahme eines ungeschriebenen Grundrechts auf Nahrung durch Buchsbaum, Ursprünglich ungeschriebenes Recht und ungeschriebenes Verfassungsrecht in der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte der Bundesrepublik Deutschland, 1958, S. 94. Zur schwindenden Bedeutung der NaturrechtsRenaissance für die allgemeine Dogmatik des ungeschriebenen Verfassungsrechts Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 5, 115 ff. 7 Vors. Hermann v. Mangoldt (CDU) in der 27. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 1. 12. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/ II, 1993, S. 779 f. 8 Art. 25 Abs. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. S. u. II.
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menschenwürdigen Existenz (Wohnung, Kleidung, Nahrung usw.), verlangt weiter einen Rechtssatz, der die Androhung des Entzugs dieser Leistungen als Mittel des Verwaltungszwangs schlechthin ausschließt.“ Der Bonner Verfassungsentwurf aber lasse hier den Einzelnen im Stich.9 Der Ausschuss war sich einig, dass die Verwaltung um der Menschenwürde willen niemanden, auch nicht den illegalen Zuwanderer, verhungern lassen dürfe, und verständigte sich darauf, in den Grundrechtskatalog eine entsprechende Schranke der zulässigen Freiheitseingriffe aufzunehmen: „Keinesfalls darf das Mindestmaß der zum Leben notwendigen Nahrung, Kleidung und Wohnung verweigert werden.“10 Die Bestimmung sollte negativ verstanden werden als Schutz vor Verwaltungsmaßnahmen, nicht positiv als Gewährung des Existenzminimums; Letzteres würde nicht in „unseren Duktus hineinpassen“.11 Das Argument war freilich in sich widersprüchlich, weil das zu wahrende Mindestmaß für den von öffentlichen Leistungen Abhängigen gerade in Leistungsansprüchen hätte bestehen müssen. Das erklärt das Scheitern des Vorschlags. Der Hauptausschuss entschied, den Vorschlag eines „Grundrechts auf Bezugsschein“ abzulehnen. Er war prinzipiell abgeneigt, Rechte einzuführen, die unerfüllbare Erwartungen wecken und Enttäuschungen auslösen würden.12 Im Übrigen erschien angesichts der geltenden Regelungen des Fürsorgerechts eine verfassungsrechtliche Gewähr des Existenzminimums nicht als erforderlich.13 Damit erledigte sich das Projekt eines eigenen Grundrechts auf Nahrung im Grundgesetz. Es findet sich auch nicht in den vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen, obwohl sich diese – im Unterschied zum Grundgesetz – „sozialen“ (Leistungs-)Grundrechten öffnen. Immerhin enthalten sie allgemeine Rechte auf die subsidiäre Gewähr des notwendigen Lebensunterhalts aus öffentlichen Mitteln.14
9 Der Vors. v. Mangoldt zitiert den Artikel von Forsthoff in der Zeitung „Das andere Deutschland“ vom 15. 10. 1948 (Fn. 7, S. 780 f.). Zuvor schon hatte der Abg. Theodor Heuss (FDP), freilich noch ohne Resonanz, dem Entzug der Lebensmittelkarte das „natürliche Recht des Menschen, sich zu ernähren“ entgegengestellt und raisoniert, ob es so etwas wie ein Naturrecht des Menschen gebe (8. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen [Fn. 7], Bd. 5/I, 1993, S. 216). 10 Art. 2 Abs. 3 S. 2 Fassung vom 1. 12. 1948 (Fn. 7), S. 784. Die vorausgehende Debatte a.a.O., S. 781 ff. 11 Der Parlamentarische Rat (Fn. 7), S. 781. 12 So der Vors. Carlo Schmid (SPD) in der 42. Sitzung des Hauptausschusses am 18. 12. 1949 (Der Parlamentarische Rat [Fn. 7], Bd. 14/II, 2009, S. 1297 ff.). 13 Abg. Ferdinand Kleindienst (CSU), Der Parlamentarische Rat (Fn. 7), Bd. 14/II, 2009, S. 1299. – Die Ablehnung des Art. 2 Abs. 3 S. 2 erfolgte mit Stimmengleichheit 10 gegen 10 Stimmen in der 42. Sitzung des Hauptausschusses am 18. 1. 1949 (a.a.O., S. 1297 ff.). Der Antrag des Abg. Heinz Renner (KPD), das Mindestmaß des zum Leben Notwendigen durch Gesetz zu garantieren, wurde mit 6 gegen 1 Stimmen abgelehnt (a.a.O., S. 1303 f.). 14 Art. 28 Abs. 3 S. 2 HessVerf v. 1946; Art. 58 Abs. 1 BremVerf v. 1947. Vgl. auch Art. 168 Abs. 3 BayVerf v. 1946 („Recht auf Fürsorge“); Art. 14 Abs. 2 Verf. des Landes Baden („Anspruch auf Schutz und Hilfe durch Staat und Gemeinden“).
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Was nicht eigens als subjektives Grundrecht ausgewiesen ist, kann Gegenstand einer objektiven Gewährleistung sein, zumal einer Staatsaufgabe. Darauf weisen einschlägige Kompetenztitel des Grundgesetzes hin, zumal „Sicherung der Ernährung“.15 Die Bayerische Verfassung erteilt dem Staat den generellen Sicherstellungsauftrag, „[d]ie geordnete Herstellung und Verteilung der wirtschaftlichen Güter zur Deckung des notwendigen Lebensbedarfes der Bevölkerung“ zu überwachen.16 Die Verfassung von Rheinland-Pfalz weist der Wirtschaft die Aufgabe zu, „durch Nutzung der natürlichen Hilfsquellen und durch Entwicklung der Produktionstechnik für alle Glieder des Volkes die zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse erforderlichen Sachgüter zur Verfügung zu stellen“. Dem Staat aber fällt die Aufgabe zu, die Wirtschaft zu beaufsichtigen.17 Die Frage bleibt, ob ein subjektives Recht auf Nahrung nicht einschlussweise im Grundgesetz enthalten ist. Doch bevor diese Frage untersucht werden kann, richtet sich der Blick auf die menschenrechtlichen Vorgaben des Völkerrechts und auf das bestehende Wirtschaftssystem, innerhalb dessen Produktion und Verteilung von Nahrung erfolgen. II. Ein Menschenrecht auf Nahrung im Völkerrecht 1. Völkerrechtliche Deklaration Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet wurde, berührt das Thema Nahrung, wenn sie jedem das „Recht auf einen Lebensstandard [zuspricht], der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen“ (Art. 25 Abs. 1). Die Nahrung ist also Bestandteil eines ganzen Pakets von schönen Verheißungen. Die Erklärung der Menschenrechte beansprucht keine rechtliche Verbindlichkeit, vielmehr bezeichnet sie sich in ihrer Präambel „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“.18 Mehr will sie nicht sein, und mehr kann sie in der Vagheit ihrer Glücksversprechen auch nicht werden. Zwar mögen einzelne Faktoren zu Völkergewohnheitsrecht erstarkt sein, doch das Recht auf den beschriebenen Lebensstandard ist es jedenfalls nicht.
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Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG. Art. 152 S. 1 BayVerf. 17 Art. 51 Abs. 1 RheinlPfalzVerf v. 1947. 18 Zur mangelnden Verbindlichkeit Tomuschat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. XI, 3. Aufl. 2012, § 208 Rn. 8. – Dagegen spricht Nettesheim der Erklärung mittelbare Rechtswirkung zu (in: HGR, Bd. VI, 2009, § 173 Rn. 47 ff.). 16
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Die Verheißungen werden verdeutlicht im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966:19 „Art. 11 (1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, und erkennen zu diesem Zweck die entscheidende Bedeutung einer internationalen, auf freier Zustimmung beruhenden Zusammenarbeit an. (2) In Anerkennung des grundlegenden Rechts eines jeden, vor Hunger geschützt zu sein, werden die Vertragsstaaten einzeln und im Wege internationaler Zusammenarbeit die erforderlichen Maßnahmen, einschließlich besonderer Programme, durchführen a) zur Verbesserung der Methoden der Erzeugung, Haltbarmachung und Verteilung von Nahrungsmitteln durch volle Nutzung der technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse, durch Verbreitung der ernährungswissenschaftlichen Grundsätze sowie durch die Entwicklung oder Reform landwirtschaftlicher Systeme mit dem Ziel einer möglichst wirksamen Erschließung und Nutzung der natürlichen Hilfsquellen; b) zur Sicherung einer dem Bedarf entsprechenden gerechten Verteilung der Nahrungsmittelvorräte der Welt unter Berücksichtigung der Probleme der Nahrungsmittel einführenden und ausführenden Länder.“
Wie in der Allgemeinen Erklärung erscheint die Nahrung im ersten Absatz als unselbständiger, integraler Bestandteil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard. Im zweiten Absatz bildet es aber ein eigenes Thema, als „grundlegendes“ Recht, vor Hunger geschützt zu sein. Redaktionell geht Art. 11 vom Recht eines jeden aus. Doch in der Sache werden Aufgaben der Vertragsstaaten ausformuliert, die eine Ausübung dieses Rechts ermöglichen; es geht also in erster Linie nicht um das Recht als solches, sondern um dessen Voraussetzungen. Diese lassen sich nur herstellen, wenn alle Staaten gemeinsame Sache im Dienst des Individuums machen und nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse zusammenarbeiten. Das Recht des Individuums besteht vornehmlich im gesicherten Zugang zur Nahrung; die Möglichkeit des Empfangs der Nahrung ergibt sich daraus in der Regel von selbst. Gegenstand der Garantie ist sowohl die ausreichende Quantität der Nahrung als auch deren angemessene, zuträgliche Qualität. Die Implikationen des Rechts aus Art. 11 werden vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen im Einzelnen aufgedeckt und erläutert:20 Das Menschenrecht des Art. 11 sei untrennbar mit der naturgegebenen Würde der menschlichen Person und mit der sozialen Gerechtigkeit verbunden. Es fordere wirtschafts-, umwelt- und 19 Weitere völkerrechtliche Bestimmungen, die ein Recht auf Nahrung beinhalten: Art. 12 Abs. 2 UN-Frauenrechtskonvention, Art. 24 Abs. 2 lit. c) und f) sowie Art. 27 Abs. 3 UNKinderrechtskonvention, Art. 25 S. 3 lit. f) und Art. 28 UN-Behindertenrechtskonvention. 20 Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, 20. Tagung 1999, Sachfragen im Zusammenhang mit der Durchführung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, E/C. 12/1999/5, 12. 5. 1999 (im Folgenden zitiert: General Comment).
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sozialpolitische Maßnahmen auf einzelstaatlicher wie auf internationaler Ebene, die auf Beseitigung der Armut und auf die Verwirklichung „aller Menschenrechte für alle“ gerichtet seien.21 Der Wesensgehalt des Rechts beinhalte „die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, die keine schädlichen Stoffe enthalten und die innerhalb einer bestimmten Kultur akzeptabel sind, in ausreichender Menge und Qualität, um die individuellen Ernährungsbedürfnisse zu befriedigen; sowie den Zugang zu diesen Nahrungsmitteln in einer nachhaltigen Weise und ohne Beeinträchtigung des Genusses anderer Menschenrechte.“22 Das Menschenrecht auf Nahrung ist nicht self-executing. Es gibt dem Individuum kein Recht, auf das es sich selber und unmittelbar berufen könnte. Adressaten sind die Vertragsstaaten, die durch geeignete Maßnahmen schrittweise für die volle Verwirklichung sorgen müssen. Das Menschenrecht verpflichtet auf drei Ebenen: - Als Achtungspflicht verbietet es dem Staat, den Zugang zur Nahrung zu verhindern (staatsrechtliches Pendant: die Abwehrfunktion der liberalen Grundrechte). - Als Schutzpflicht verlangt es, dass der Staat den Zugang vor Übergriffen Dritter absichert (staatsrechtliches Pendant: die Schutzfunktion der liberalen Grundrechte). - In seiner Erfüllungspflicht hat der Staat den Zugang und die Nutzung zu erleichtern sowie notfalls die Nahrung zu gewähren (staatsrechtliches Pendant: Staatsaufgabe zur Sicherstellung und soziales Grundrecht).23 Zur Erfüllung ihrer Pflicht haben die Staaten das Höchstmaß ihrer verfügbaren Ressourcen auszuschöpfen und sich notfalls um internationale Hilfe zu bemühen. Die übrigen Vertragsstaaten haben Hilfe zu leisten.24 Das Menschenrecht auf Nahrung steht also unter dem Vorbehalt einer erfolgreichen internationalen Zusammenarbeit, aber auch einer guten „Regierungs- und Verwaltungsführung“, zu der eine unabhängige Gerichtsbarkeit gehört.25 Schon letztere Voraussetzung ist in den meisten Staaten nicht erfüllt. Vom guten Willen der Vertragsstaaten hängt es ab, ob, wieweit und in welcher Form sie das Programm ausführen. Sie behalten sich vorsorglich in demselben Vertragsdokument das Recht auf Selbstbestimmung vor, über ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden (Art. 1 Abs. 1) und damit von sich aus darüber zu befinden, was es inhaltlich mit diesem „Recht eines jeden“ auf sich hat und welche Verbindlichkeit dieses Recht erlangen soll.
21
General Comment (Fn. 20), Nr. 4. General Comment (Fn. 20), Nr. 8. 23 General Comment (Fn. 20), Nr. 15. 24 General Comment (Fn. 20), Nr. 17, 36. 25 General Comment (Fn. 20), Nr. 23, 32. 22
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Im Übrigen zeigt sich hier das Dilemma, das für alle sozialen Rechte typisch ist.26 Die „Gewähr ausreichender Ernährung“ setzt das Vorhandensein ausreichender Ressourcen voraus und die Befugnis des Staates, über diese zu verfügen. Das versteht sich für alle Staaten und unter jedweden Bedingungen nicht von selbst. Wo nichts ist, hat selbst der noch so vertragstreue Staat sein Recht verloren. Im Übrigen unterscheiden sich die Vertragsstaaten nicht nur im Niveau ihres Wohlstandes, sondern auch im Niveau ihrer Bereitschaft, völkerrechtliche Verpflichtungen ernst zu nehmen und sich staatsrechtlich gegenüber den eigenen Bürgern durch Anerkennung subjektiver Leistungsrechte zu binden. Die interpretatorischen Versuche, den sozialen Rechten des Internationalen Paktes rechtspraktische Relevanz zu erschließen, sind wirkungslos, wo die realen und die rechtlichen Voraussetzungen bei den Vertragsstaaten fehlen. Wo sie aber vorhanden sind, erweisen sie sich als überflüssig. Letzteres gilt für Deutschland. 2. Transformation in deutsches Recht Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist Bestandteil des deutschen Rechts geworden. Doch ein Recht auf Nahrung, das den Namen und Rang eines Grundrechts verdient, ist damit nicht eingeführt worden. Die Transformation in innerstaatliches Recht, auf welchen der vom Grundgesetz vorgesehenen Wegen auch immer, führt ihr nicht einen Grad an normativer Wirkkraft zu, den sie als bloße Empfehlung von Haus aus gar nicht beansprucht. Das gilt nicht ohne Weiteres für den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Dieser hat über das deutsche Zustimmungsgesetz im Jahre 1976 innerstaatliche Geltung als einfaches Bundesgesetz erlangt.27 Das Menschenrecht auf Nahrung ist eine Norm unter vielen. In seiner Abstraktheit tritt es hinter den einschlägigen konkreten Normen zurück, die seine Thematik vollständig abdecken. Es bezeichnet eine objektive Staatsaufgabe, mit der kein subjektives Recht korrespondiert. Was die ursprüngliche Rechtsquelle des Völkerrechts nicht bietet, wächst dem Menschenrecht auf Nahrung durch die Transformation in innerstaatliches Recht nicht von selber zu. Auch Verfassungsrang ergibt sich auf diesem Wege nicht von selbst. In der Verfassungsinterpretation regen sich allerdings Bemühungen, den völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien Einlass in das Grundgesetz zu verschaffen über sein Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG). Das Bekenntnis wird als dynamische Verweisung auf die unaufhaltsam wachsende, disparate Menge von „Menschenrechten“ im positiven 26
Murswiek, in: HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 192 Rn. 55 ff.; Depenheuer, in: HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 269. 27 Art. 59 Abs. 2 GG. Als einfaches Recht wird der Pakt zitiert in BVerfGE 132, 134 (161 f.). Allgemein Vöneky, in: HStR, Bd. XI, 3. Aufl. 2013, § 236 Rn. 14 ff., 26 f.
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Völkerrecht verstanden,28 sei es in Bausch und Bogen, sei es als Kern, sei es als Mindeststandard.29 Doch das Bekenntnis gilt nicht den positivrechtlichen Regelungen in ihrem jeweiligen Stand, sondern der naturrechtlichen Idee der Menschenrechte, die allen positivrechtlichen Ausprägungen vorhergeht, denen des Völkerrechts wie den „nachfolgenden“ Grundrechten des Grundgesetzes.30 Das Menschenrecht auf Nahrung ginge den einfachen Bundesgesetzen vor, wenn es als eine allgemeine Regel des Völkerrechts ausgewiesen werden könnte (Art. 25 GG). Verfassungsrang erlangte es damit freilich nicht.31 Doch die Qualität der Allgemeinen Regel des Völkerrechts kommt ihm nicht zu. Diese bezieht sich allein auf Völkergewohnheitsrecht. Dazu ist selbst unter den Vertragsstaaten der substantielle Konsens zu gering. Nur wenige nehmen den Pakt juristisch so ernst wie Deutschland. In vielen Staaten fehlen die organisatorischen Voraussetzungen einer „guten Regierungs- und Verwaltungsführung“, ohne die sich das Menschenrecht nicht verwirklichen lässt. Wo der reguläre Einlass zum Grundgesetz für das internationale Recht verschlossen bleibt, wächst das Bedürfnis nach einem heimlichen Zugang. Als solcher bietet sich die völkerrechtsfreundliche Auslegung an, die, an den Verfahrens- und Inhaltskautelen einer Verfassungsrevision vorbei, den klandestinen Verfassungswandel nach moralischer wie politischer Neigung des jeweiligen Interpreten, zumal des Bundesverfassungsgerichts, gestattet.32 Doch eine solche Diffusion der Rechtssphären verträgt sich nicht mit dem Anspruch des Grundgesetzes auf Selbstand und Textklarheit.33
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Zu dieser Tendenz Klein, in: FS Riedel, 2013, S. 117 ff. Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Stand 2004, Art. 1 Abs. 2 Rn. 30 ff.; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 6. Aufl. 2012, Art. 1 Rn. 44. Tendenziell auch BVerfGE 111, 307 (329); 128, 326 (367). Kritik: Hillgruber, in: GS Blumenwitz, 2008, S. 123 (124 ff.); Isensee, AöR 138 (2013), 325 (342 ff.). 30 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Abs. 2 Rn. 18; Hillgruber (Fn. 29), S. 139; Isensee, AöR 138 (2013), 325 (343). 31 BVerfGE 6, 309 (363); 111, 307 (318); Talmon, JZ 2013, 12 (15 f.); Isensee, AöR 138 (2013), 325 (344 ff.). Für Verfassungsrang: Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1963, S. 4; Cremer, in: HStR, Bd. XI, 3. Aufl. 2013, § 235 Rn. 27. – Zur Streitfrage, ob aus einer objektiven allgemeinen Regel des Völkerrechts innerstaatliche subjektive Impulse über Art. 25 S. 2 GG fließen können, Cremer a.a.O., § 235 Rn. 31 ff. 32 Auf „eine Verfassungsänderung ohne Verfassungstextänderung“ hofft Härtel (Fn. 4), S. 32. Vedder postuliert, dass die allgemeinen UN-Menschenrechtspakte durch völkerrechtsfreundliche Auslegung „mittelbarer Verfassungsrang“ zuerkannt werde (HGR, Bd. VI/2, 2009, § 174 Rn. 163). – Allgemein zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung: BVerfGE 111, 307 (318); 128, 326 (366); Tomuschat, in: HStR, Bd. XI, 3. Aufl. 2013, § 226 Rn. 36 ff.; Jestaedt, in: HStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 264 Rn. 78 ff. 33 Allgemein: Isensee, AöR 138 (2013), 325 (342 ff.); Jestaedt (Fn. 32), § 264 Rn. 43 ff.; Grundsatzkritik am blinden Vertrauen der Verfassungsinterpreten in die größere Güte des Völkerrechts: Talmon, JZ 2013, 12 (12 ff., 20 f.). 29
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Fazit: Das völkerrechtliche Menschenrecht auf Nahrung geht nicht in das deutsche Verfassungsrecht ein und zeugt kein korrespondierendes deutsches Grundrecht. III. Vorgaben des bestehenden Wirtschaftssystems Auf dem Gebiet der Ernährung hängen Inhalt und Umfang der Staatsaufgaben wie auch Inhalt und Reichweite der Grundrechte ab von dem bestehenden Wirtschaftssystem. Dieses ist Voraussetzung der Verfassung, soweit sie sich nämlich aus Vorgaben der Realität und aus politischer Entscheidungen ergibt. In bestimmtem Maße ist es aber auch Werk der Verfassung, soweit diese nämlich die politischen Entscheidungen steuert. Die denkbaren Wirtschaftssysteme sollen durch die Modelle der Marktwirtschaft und der Planwirtschaft repräsentiert werden. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob die Versorgung über den Markt oder durch staatliche Lenkung erfolgt. 1. Marktwirtschaft Im marktwirtschaftlichen System liegen Erzeugung, Handel und Vertrieb von Nahrungsmitteln in privater Hand. Der Verbraucher versorgt sich auf dem Markt nach Bedarf und Geschmack im Rahmen seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten. Das rechtliche Medium ist der privatrechtliche Vertrag. Dessen Fundament, die Privatautonomie, wird grundrechtlich sanktioniert durch die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und, soweit professionelle Anbieter beteiligt sind, durch die Freiheit des Berufs (Art. 12 Abs. 1 GG).34 Dieses Grundrecht sowie die Garantie des Privateigentums (Art. 14 Abs. 1 und 2 GG) schützen die landwirtschaftliche Urproduktion, die Weiterverarbeitung und den Handel. Der Staat gewährleistet die rechtlichen Rahmenbedingungen des Marktes, indem er die privatrechtlichen Handlungsformen bereitstellt, ein Mindestmaß an Redlichkeit und Verhandlungsgleichgewicht der Vertragspartner absichert und für Rechtssicherheit und Marktvertrauen sorgt. Er überlässt den Lebensmittelmarkt nicht vorbehaltlos dem freien Spiel der Kräfte. Vielmehr schützt er die Volksgesundheit vor den Gefahren, die von minderwertigen und schädlichen Lebens- und Genussmitteln ausgehen. Er fördert Qualität und Transparenz des Angebots, obwohl er grundsätzlich die Priorität des Marktes achtet. Ihm verbleibt die Letztverantwortung für „die Sicherung der Ernährung“, die sich – dem Subsidiaritätsprinzip gemäß – aktualisiert, wenn der Markt seine Versorgungsaufgabe nicht hinlänglich oder überhaupt nicht erfüllt, so im Fall einer Naturkatastrophe oder eines Notstands anderer Art, der Versorgungsengpässe oder gar Hungersnot auslösen könnte. Der an die Grundrechte der Marktteilnehmer gebundene Rechtsstaat dosiert seine Interventionen nach dem Übermaß-
34 Zur grundrechtlichen Fundierung der Privatautonomie Isensee, in: HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 50 ff.
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verbot, so dass die Regulierung der Verteilung in Staatsregie vorgeht.35 Zur legitimen Vorsorge für den Notfall gehört die Anlage einer Nahrungsreserve. Der Auftrag, die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen, findet sein Pendant in den Sicherstellungsaufträgen für die Energieversorgung36 und für das Gesundheitswesen.37 Beide gründen in dem Staatszweck, die elementaren Bedingungen des Lebens und der Gesundheit subsidiär zu gewährleisten, für den Fall, dass die primär berufenen privaten Leistungserbringer versagen. Das Marktmodell setzt voraus, dass jedermann über hinreichende Mittel verfügt, um sich auf dem Markt zu versorgen. Wo es an dieser Voraussetzung mangelt, leistet der Sozialstaat Kompensation durch Sozialhilfe. Er sichert den Mindeststandard eines menschenwürdigen Unterhaltsbedarfs. Das Thema Nahrung ist nicht nur eine Frage des Überlebens, sondern auch und vornehmlich eine des guten Lebens, nicht nur des Verzehrs, sondern auch des Genusses. Daher darf das Thema nicht einseitig von der Mindestversorgung her allein als soziales Thema gesehen werden; es ist nicht minder ein kulinarisches Thema. Wo Freiheit sich mit Wohlstand verbindet, können sich Speise und Trank aus den Niederungen der biologischen Notwendigkeit zu höchsten Höhen und Feinheiten der Kultur erheben, künstlerisches Raffinement annehmen und gerade zu Kultobjekt werden. Soweit sich hier überhaupt eine Staatsaufgabe abzeichnet, dann nicht die der Versorgungssicherheit, sondern die der Kulturförderung. 2. Planwirtschaft Im planwirtschaftlichen Modell tritt der Staat an die Stelle des Marktes, die hoheitliche Zuteilung an die Stelle des vertraglichen Leistungsaustauschs, der nach allgemeinen, objektiven Kriterien zugemessene Bedarf an die Stelle der Willkür des Verbrauchers. Der Staat, der die Nahrungsgüter verteilen will, muss sich zuvor die Verfügung über die Verteilungsmasse verschaffen und Produktion, Import, Export und Handel nach seinem Plan regulieren, falls er sie nicht von vornherein in eigener Regie übernimmt. Während im Marktmodell Anbieter und Verbraucher, grundrechtlich gesehen, sich auf gleicher Ebene begegnen – beide sind Grundrechtsträger, die zum vertraglichen Ausgleich ihrer gegenläufigen Interessen kommen müssen –, besteht im planwirtschaftlichen Modell das Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen dem Verteiler Staat als Grundrechtsadressaten und dem Verbraucher als Grundrechtsträger. Die iustitia commutativa der Marktwirtschaft wird abgelöst durch die iustitia distributiva 35 Beispiel einer grundrechtlichen Steuerung und Dosierung im Rahmen der Marktwirtschaft Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, S. 77 ff. Dogmatik der Regulierung: ders., VVDStRL 56 (1997), S.160 ff. 36 Schmidt-Preuß, in: HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 93 Rn. 26 ff., 40 ff. Allgemein zur Kategorie des Sicherstellungsauftrags Butzer, in: HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 74 Rn. 1 ff., 24 ff., 38 ff. 37 Axer, in: HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 95 Rn. 5, 7 ff., 45 f.
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des Verteilerstaates. Die Macht über die Verteilung der Lebensmittel ist Macht über Leib und Leben. Sie hält den Verbraucher in Abhängigkeit und kann missbraucht werden, um ihn allseits gefügig zu machen, zu belohnen und zu bestrafen.38 Der Entzug der Lebensmittelkarte kann ein Todesurteil bedeuten oder die soziale Degradierung zum Bettler. Falls eine Planwirtschaft rechtsstaatlich organisiert ist, zielt das grundrechtliche Interesse des Verbrauchers nicht auf die Abwehr lästiger Eingriffe des Staates (status negativus), sondern auf möglichst günstige Teilhabe an staatlichen Leistungen (status positivus). Der grundrechtliche Sicherungszweck liegt nicht bei den Freiheits-, sondern bei den Gleichheitsrechten. Diese müssen sich als Maßstäbe für die Verteilung knapper Güter bewähren. Während der Markt das Knappheitsproblem unter den Bedingungen der Freiheit in einer unabsehbaren Vielzahl von Einzelentscheidungen bewältigt, muss der Staat der Planwirtschaft den Mangel nach zentralem Programm verwalten und die Güter nach verallgemeinerungsfähigen Kriterien zuteilen. Das bedeutet nicht, dass jeder die gleiche Portion von Lebensmitteln erhält, sondern jeder die Portion, die seinem Bedarf entspricht, so jedenfalls das Ideal der iustitia distributiva. Die Rationierung der Lebensmittel im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit hat die Differenzierungsschemata von Normalverbrauchern und Selbstversorgern hervorgebracht und diese wiederum modifiziert durch Zulagen für Schwerarbeiter und für Kranke, Prämien für politisch Privilegierte und vieles mehr. Doch wo in der Diktatur ein Machtspruch genügt, um den Verteilungsmodus festzulegen, erheben sich im Rechtsstaat hochkomplizierte Verteilungsprobleme, wenn sich grundrechtssensible Sonderbedürfnisse melden, die sich nicht standardisieren lassen: Rücksichten auf Gesundheitsverträglichkeit und Krankheit, auf religiöse Speiseregeln (koscheres Essen), auf kulinarische und auf asketische Neigungen. Die Differenzierungen können zum progressus in infinitum führen. Selbst eine perfekte, effiziente, rechtsstaatlich enthemmte Diktatur, wie weiland das NS-Führerregime und die anschließende Besatzungsherrschaft oder das sowjetsozialistische System der DDR, kann nicht verhindern, dass sich neben dem System der regulierten Verteilung ein Schwarzer Markt bildet, eine Untergrundökonomie heimlicher Tauschgeschäfte, an der jedoch nur teilnimmt, wer marktgängige Ware, harte Währung oder begehrenswerte Dienstleistung einbringen kann. Das Marktmodell erspart sich diese Schwierigkeiten. Es unternimmt erst gar nicht den Versuch, der iustitia distributiva zu genügen, weil es auf die iustitia commutativa setzt. Unter einer freiheitlichen Verfassung lässt sich die Planwirtschaft auf dem Gebiet der Ernährung allenfalls als Notlösung bei Versorgungsengpässen vor den Freiheitsrechten rechtfertigen. Doch Notlösungen neigen dazu, sich zum Dauerzustand zu verfestigen, weil jedes Zwangsregime seine Nutznießer hat, nicht zuletzt die Staatsorganisation, die einen außerordentlichen Zuwachs an Lenkungs-, Verteilungs38 Die französische Militärregierung sanktionierte nach 1945 die versäumte Meldepflicht beim Arbeitsamt durch den Entzug der Lebensmittelkarte. Dazu Bad. Staatsgerichtshof, VerwRspr 1 (1949), 249 (250 f.).
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und Erziehungsmacht erfährt und diese ungern aufgibt. Sie kann sich nicht auf die Lehre von der Neutralität des Grundgesetzes in Fragen der Wirtschaftsordnung berufen. Denn diese Lehre zerschellt an den liberalen Grundrechten, zumal der Berufsfreiheit, der Eigentumsgarantie und der Koalitionsfreiheit.39 Die folgende Grundrechtsdiskussion geht vom Marktmodell als Normalität aus, genauer: von der sozialen Marktwirtschaft. IV. Staatsaufgaben – Kompetenzen – Grundrechte Die „Sicherung der Ernährung“ ist das ausdrückliche Thema einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG).40 Mittelbar relevant sind Kompetenzen, welche die Produktion von Lebensmitteln und den Handel mit ihnen betreffen, so die „Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung“, die „Ein- und Ausfuhr land- und forstwirtschaftlicher Erzeugnisse“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG), ,,das Recht der Lebensmittel einschließlich der ihrer Gewinnung dienenden Tiere“, das Recht der Genussmittel, Bedarfsgegenstände und Futtermittel sowie der „Schutz beim Verkehr mit land- und forstwirtschaftlichem Saat- und Pflanzgut, Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG), die „Verbesserung der Agrarstruktur“ (Art. 91a Abs. 1 Nr. 2 GG). Die Kompetenznormen verteilen die Staatsaufgaben auf die beiden bundesstaatlichen Handlungsebenen. Sie regeln, ob der Bund oder die Länder sie wahrnehmen. Die Kompetenztitel setzen Staatsaufgaben voraus und lassen den Rückschluss zu, dass korrespondierende Staatsaufgaben bestehen, dass also das jeweilige Tätigkeitsfeld dem Staat überhaupt zugänglich und nicht von vornherein verschlossen ist.41 Thematisch einschlägige Staatsaufgaben, die den Kompetenzen zugrunde liegen, bestehen darin, die rechtlichen Rahmenbedingungen des Marktes zu gewährleisten, die nach Menge und Güte ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln für den Fall sicherzustellen, dass der Markt versagt, und die Sicherheit der Lebensmittel zu überwachen, also Gefahren für die Gesundheit zu bannen. Der Staat trifft gesetzliche Vorkehrungen für Fälle des internen wie des äußeren Notstandes, für Katastrophen, Seuchen, Versorgungsengpässe; er legt Lebensmittelreserven an.42 Staatsaufgaben bilden ein Handlungspotential, das sich in unterschiedlichem Maße aktualisiert, wie es das Gemeinwohl erheischt, ob und wieweit konkrete Leis39 Zu der Streitfrage: BVerfGE 4, 7 (17 f.); 7, 377 (400); 14, 19 (23); 30, 292 (315); 50, 290 (336 ff.); Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen (Fn. 35), S. 81 ff.; Rupp, in: HStR, Bd. IX, 1. Aufl. 1997, § 203 Rn. 14 ff.; Schmidt, in: HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 92 Rn. 14 ff.; P. Kirchhof, HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 169 Rn. 1 ff., 4 ff; Scholz, a.a.O., § 175 Rn. 23 ff. 40 Die Bayerische Verfassung nennt „Einrichtungen zur Sicherung der Ernährung“ als Angelegenheiten, die in den eigenen Wirkungskreis der Gemeinden fallen (Art. 83 Abs. 1 BayVerf). 41 Isensee, in: HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 73 Rn. 20; ders., a.a.O. § 133 Rn. 38 ff. 42 Dazu Härtel (Fn. 4), S. 30 f.; Axer (Fn. 37), § 95 Rn. 5.
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tungsverpflichtungen bestehen, aber auch ob und wieweit staatliches Handeln auf rechtliche Grenzen stößt. Als solche Grenzen kommen vornehmlich Abwehrrechte der Akteure auf dem Markt der Nahrungsmittel in Betracht: der Anbieter und der Nachfrager, der Produzenten, der Händler, der Konsumenten. Die Freiheitsrechte leisten dem staatlichen Eingriff Widerstand und setzen ihn unter Rechtfertigungszwang. Gründe, die Einschränkungen der freien Berufsausübung der Anbieter rechtfertigen können, sind etwa Transparenz und Funktionsfähigkeit des Marktes sowie der Schutz der Gesundheit des Verbrauchers. Solange und soweit der Markt aus sich heraus den Erfordernissen des Gemeinwohls genügt, reduzieren sich die Staatsaufgaben auf eine Gewährleistungsverantwortung.43 Die Staatsaufgaben auf dem Felde der Ernährung erweisen sich als Sicherstellungsauftrag.44 Staatsaufgaben auch in der Form des Sicherstellungsauftrags und Kompetenznormen sind objektives Recht. Sie geben dem Einzelnen keinen Anspruch darauf, dass sie zu seinen Gunsten ausgeübt werden.45 Ein solcher Anspruch könnte sich nur aus einem Grundrecht ableiten oder durch ein einfaches Gesetz begründet werden.46 V. Ernährung des Einzelnen als grundrechtliches Thema Die Grundrechte können in dreierlei Funktion betroffen sein:47 - als Abwehrrecht des Einzelnen, das seine Selbstbestimmung vor staatlichen Eingriffen schützt, - als Schutzpflicht des Staates, Leben, Gesundheit, Freiheit des Einzelnen vor Gefährdung und Übergriffen Dritter zu sichern, - als Anspruch auf staatliche Leistungen. 1. Abwehr staatlicher Eingriffe Jedermann genießt die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), sich mit Nahrung zu versorgen und nach seinen Möglichkeiten und Neigungen zu entscheiden, was und wieviel er verzehrt, ob er lediglich Hunger und Durst stillt oder feineren Regungen seines Geschmacks folgt, ob er seinem Appetit nachgibt oder fastet, ob er sich mit Hausmannskost begnügt und artig isst, was auf den Tisch kommt, oder sich an den Kultgerichten der haute cuisine labt, ob er sich gesundheitlichen Rücksichten, 43 Dazu Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (170 ff., 194 ff., 221 ff.). Exempel der Energieversorgung: ders. (Fn. 36), § 93 Rn. 26 ff., 40 ff. 44 Butzer (Fn. 36), § 74 Rn. 59 ff. 45 Allgemein zu den Kategorien der Kompetenz und der Staatsaufgabe: Isensee (Fn. 41), § 73 Rn. 12 ff., 19 ff.; ders. (Fn. 41), § 133 Rn. 38 ff. 46 Härtel will aus Art. 2 Abs. 2 GG das einklagbare Grundrecht deduzieren, dass der Staat die Grundversorgung mit Lebensmitteln sicherstellt (Fn. 4, S. 30 f.). 47 Analog die Distinktionen im General Comment (Fn. 20), Nr. 15. S. o. II/l.
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Geboten der Sparsamkeit, kosmetischen Idealen, religiösen Reinheitsgeboten unterwirft. Zuweilen werden Bedenken dagegen angemeldet, jedwede menschliche Lebensregung und Betätigungsform in den Schutzbereich des Grundrechts einzubeziehen, und wird gefordert, die Allgemeine Handlungsfreiheit auf einen engeren Bereich der Persönlichkeitsentfaltung zu beschränken.48 Das könnte auch den Ausschluss der individuellen Entscheidung über die Ernährung bedeuten. Doch das Bundesverfassungsgericht verwirft die Bedenken,49 und das zu Recht, weil die Grundrechte auf umfassenden Freiheitsschutz angelegt sind, und die Allgemeine Handlungsfreiheit die Lücken füllt, welche die besonderen Freiheitsgarantien belassen.50 Freilich ist das seinem Schutzbereich nach weiteste aller Freiheitsgrundrechte am ehesten staatlichen Einschränkungen zugänglich. Jede Einschränkung der Freiheit bedarf eines hinreichend bestimmten, förmlichen Gesetzes als Grundlage. Sie darf nur zu einem legitimen Ziel erfolgen. Ein solches ist der Schutz der Volksgesundheit im Allgemeinen, der Schutz der Jugend, überhaupt der Schutz Dritter, nicht aber der Schutz des Einzelnen vor seiner eigenen Dummheit, wenn und soweit er Herr seiner Sinne und der Selbstbestimmung fähig ist. Grundsätzlich ist es dem Gesetzgeber verwehrt, den Menschen vor sich selbst zu schützen,51 zu „gesunder“ Kost zu zwingen und zu „gesundem“ Leben zu erziehen, vor Trunksucht, Völlerei, Magerkeitswahn zu bewahren, ihm übermäßigen Fleisch- und Alkoholgenuss zu verbieten und wenigstens zeitweise vegetarische Enthaltsamkeit zu verordnen („Veggie Day“).52 Eine generelle Regulierung des Verzehrs ließe sich auch nicht aus dem Zweck rechtfertigen, der Krankenversicherung Kosten zu ersparen. So weit geht die Solidarpflicht nicht.53 Der freiheitliche Staat nimmt den Menschen, wie er ist, in seinen Neigungen und Gewohnheiten, mögen sie auch töricht, leichtsinnig und gesundheitsschädlich erscheinen. Ein jeder darf für die eigene Person Risiken übernehmen, soweit er nicht andere oder die Allgemeinheit in Mitleidenschaft zieht.54 Ein legitimes Ziel allein reicht nicht aus, um einen Eingriff in den Schutzbereich des Freiheitsgrundrechts zu rechtfertigen. Der Eingriff muss auch im Hinblick auf das Ziel tauglich, angemessen, „verhältnismäßig“ und von den verschiedenen zieltauglichen Mitteln das schonendste sein. So rechtfertigt der Schutz der Volksgesund48 Sondervotum des Richters Grimm, BVerfGE 80, 164 ff. Weitere Nachw. bei Scholz, AöR 100 (1975), 80 ff. 49 BVerfGE 80, 137 (153 f.) – Reiten im Walde. 50 Cornils, in: HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 168 Rn. 1 f., 60 ff. 51 v. Münch, in: FS Ipsen, 1977, S. 113 ff.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1991, S. 111 ff.; Isensee, in: HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 244 ff.; Bethge, HStR, Bd. IX, 5. Aufl. 2011, § 203 Rn. 151. 52 Für ein „Recht auf Rausch“ aus Art. 2 Abs. 1 GG: Bethge (Fn. 51), § 203 Rn. 151. 53 Streitig. Dazu Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2009, S. 136 ff.; MüllerTerpitz, in: HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 147 Rn. 98. 54 Müller-Terpitz (Fn. 53), § 147 Rn. 98.
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heit zwar das vollständige Verbot von Rauschgiften, nicht jedoch das Verbot aller virtuell gesundheitsschädlichen Reizmittel wie Tabak und Alkohol, deren Konsum in unserer Kultur „eingebürgert“ ist. Der Schutz der Passivraucher ist ein legitimes Ziel, um das Rauchen in bestimmten öffentlichen Räumen zu verbieten,55 nicht jedoch innerhalb von Privatwohnungen. Ein umfassendes Rauchverbot oder die Einführung der Prohibition scheiterten am Grundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit.56 Die grundrechtliche Freiheit deckt auch die Verweigerung der Nahrung. Der Hungerstreik ist ein mögliches Mittel, öffentlichkeitswirksamen Protest zu bekunden und, ein freilich unkonventionelles Mittel, seine Meinung zu äußern. Dass der Hungernde seine Gesundheit nachhaltig schädigen könnte, rechtfertigt nicht die zwangsweise Zuführung von Nahrung. Die Zwangsernährung greift nicht nur in die Freiheit, sondern auch in die körperliche Unversehrtheit ein und stößt auf zusätzlichen grundrechtlichen Widerstand.57 Das gilt auch dann, wenn es sich um einen Strafgefangenen handelt. Der Anstaltsträger darf sich nicht ohne Weiteres über die freie Willensbestimmung des Gefangenen hinwegsetzen, solange er deren noch fähig ist. Das Strafvollzugsgesetz sieht unter dieser Voraussetzung zwar keine Verpflichtung der Vollzugsbehörde vor, eine Zwangsernährung durchzuführen. Doch es erklärt diese für zulässig bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen oder bei (Ansteckungs-)Gefahr für die Gesundheit anderer Personen, falls die Maßnahmen für die Beteiligten zumutbar sind und nicht mit erheblicher Gefahr für Leben und Gesundheit des Gefangenen verbunden sind.58 Sobald der Lebensmüde die freie Willensbestimmung verloren hat, lebt die grundrechtliche Pflicht des Anstaltsträgers zur künstlichen Nahrungszufuhr auf. Die grundrechtliche Staatsabwehr schlägt um in eine staatliche Leistungspflicht.59 Zur grundrechtlichen Freiheit gehört es, die künstliche Lebensverlängerung, mit ihr die Nahrungszufuhr, abzulehnen und darüber eine Patientenverfügung zu treffen. Umstritten ist jedoch, ob zur grundrechtlichen Freiheit auch die künstliche Lebensverkürzung durch Nahrungsverweigerung gehört. Das hängt davon ab, ob ein „Grundrecht auf Suizid“ anerkannt wird oder nicht.60 Wenn nicht, so kann das staatliche Recht die Befugnis oder sogar die Pflicht zur Zwangsernährung statuieren. Wenn ein solches Recht aber besteht, so darf sich der Staat nur aus gewichtigen Gründen darüber hinwegsetzen und die Ernährung durchführen, so in Fällen, in denen der Betreffende sein Bewusstsein verloren hat oder wenn der freiwillige Hungertod zur 55
BVerfGE 121, 317 (344 ff.). Bethge (Fn. 51), § 203 Rn. 151. 57 Qualifikation der Zwangsernährung als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit: Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 194; Isensee (Fn. 51), § 191 Rn. 245; Fink, in: HGR, Bd. IV, 2011, § 88 Rn. 36. 58 § 101 Abs. 1 StVollzG. 59 Isensee (Fn. 51), § 191 Rn. 245. 60 Dazu Hillgruber (Fn. 51), S. 78 ff.; Müller-Terpitz (Fn. 53), § 147 Rn. 38 f.; Bethge (Fn. 51), § 203 Rn. 152. 56
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politischen Demonstration angeblichen Unrechts dienen soll.61 So oder so stößt die Polizei auf keine grundrechtliehen Bedenken, wenn sie jeden Selbstmordversuch als Unglücksfall nach § 323c StGB und als Störung der öffentlichen Sicherheit ansieht und helfend eingreift.62 Der konträre Eingriff zur Zwangsernährung ist der Zwangsentzug der Nahrung. Dieser wie jene rühren an die grundrechtliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit. Der Entzug kann das Recht auf Leben antasten: Tötung durch Aushungerung. Das ungeheuerliche Beispiel ist die 1932/33 in der Sowjetunion von Stalin im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft („Entkulakisierung“) organisierte große Hungersnot, die das freie Bauerntum als soziale Klasse beseitigen sollte und dazu führte, dass es auch physisch vernichtet wurde: mehr als sechs Millionen Opfer, davon vier Millionen in der Ukraine.63 Ein Verbrechen solchen Ausmaßes setzt den totalitären Staat voraus. Für einen Rechtsstaat liegt sie jenseits des Denkmöglichen. 2. Staatlicher Schutz vor privaten Übergriffen Die Grundrechte wehren nicht nur ungerechtfertigte Eingriffe des Staates ab. Sie bieten auch Sicherheit vor den Übergriffen Privater in die Grundrechtsgüter Freiheit und Eigentum, Leben und Gesundheit. Der Staat erfüllt seine grundrechtliche Verpflichtung nicht allein dadurch, dass er sich der nicht rechtfertigungsfähigen eigenen Eingriffe enthält (status negativus), sondern auch dadurch, dass er Schutz vor illegitimen Eingriffen anderer gewährleistet (status positivus). Die grundrechtlichen Konstellationen unterscheiden sich dadurch, dass der Staat an sich über legitime Zwangsgewalt verfügt, aber in ihrer Ausübung durch die Grundrechte und andere rechtsstaatliche Vorkehrungen beschränkt ist, dem Privaten dagegen Zwang versagt ist, so dass jede Zwangsmaßnahme von vornherein illegitim ist (von Notwehr- und Notstandslagen abgesehen, in denen staatliche Hilfe nicht bereitsteht).64 Das gilt auch für den Zwang bei Auswahl, Zufuhr und Entzug der Nahrung. Die grundrechtliche Schutzpflicht aktualisiert sich, wenn Eltern ihrer Verantwortung nicht genügen, weil sie nicht für die angemessene und hinreichende Ernährung des Kindes sorgen. Hier ist das staatliche Wächteramt gefordert, Abhilfe zu schaffen.65 Zur staatlichen Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit gehört die Sorge für die hygienische Qualität der Lebensmittel und für die Transparenz von potentiell 61
Bethge (Fn. 51), § 203 Rn. 153. Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 230; Schönenbroicher/Heusch, Ordnungsbehördengesetz Nordrhein-Westfalen, 2014, § 1 Rn. 61. 63 Werth, in: Courtois et al. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, 4. Aufl. 1998, S. 45 (165 ff., 178 ff.). 64 Zur Unterscheidung der Abwehr- von der Schutzfunktion Isensee (Fn. 51), § 191 Rn. 1 ff., 47 ff., 217 ff. (Nachw.). 65 Art. 6 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG. Zum Wächteramt als Emanation der Schutzpflicht für die Grundrechte des Kindes Isensee (Fn. 51), § 191 Rn. 38 ff. 62
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gesundheitsschädlichen Faktoren. Der Staat erfüllt seine Verpflichtung durch Gesetze auf den Gebieten des Lebensmittel- und Gesundheitswesens, durch Kontrolle, Beratung, Aufklärung.66 Aus dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, verbunden mit dem Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen, wird die Pflicht des Staates abgeleitet, die Kennzeichnung von Lebensmitteln auf bestimmte Gesundheitsrisiken hin vorzusehen, um die „Selbstbestimmung bei der Ernährung“ zu sichern.67 In diesen Zusammenhang gehören auch die staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Passivraucher, hinter dem in gewissem Maße die Freiheit der Raucher zurückstehen muss.68 Hier wird nicht der Konsument vor Gefahren geschützt, die der Produzent und Händler verursacht, sondern der unfreiwillig vom Genussmittelkonsum anderer Betroffene. Die staatliche Schutzpflicht stellt sich hier wie auch sonst zunächst als objektiver Verfassungsauftrag dar. Aus ihm können sich aber Ansprüche auf geeignete und wirksame Maßnahmen des Schutzes ableiten. 3. Gewähr staatlicher Leistungen a) Sozialrechtlicher Unterhaltsanspruch Die Freiheitsgrundrechte bauen auf der Erwartung, dass jedermann in der Lage ist, für seine Nahrung zu sorgen, sei es aus eigener Kraft, sei es aufgrund von Leistungen anderer, zumal der Familie.69 Soweit diese Erwartung sich aber nicht erfüllt, tritt die Sozialhilfe ein. Sie bietet Hilfe zum Lebensunterhalt, der für die Gewährleistung des Existenzminimums notwendig ist. Dazu gehört die Nahrung, als ein Bedarf unter anderen, die exemplarisch aufgezählt werden: Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie, persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens, Unterkunft, Heizung.70 Da die Nahrung nur ein unselbständiger Bestandteil des Rechts auf den notwendigen Lebensunterhalt ist, wird dieser Bedarf eigens so bemessen, dass er die vollwertige Ernährung sichert, als Regelbedarf nach ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen in statistischer Umsetzung (Warenkorbmodell), ergänzt um zusätzliche Bedarfe, die den Besonderheiten im Einzelnen gemäß dem Individualisierungsgrundsatz der Sozialhilfe Rechnung tragen.71 66 Zur Lebensmittelsicherheit Härtel (Fn. 4), S. 29 f. Sie überdehnt jedoch die Funktion der grundrechtlichen Schutzpflicht, wenn sie den staatlichen Auftrag zur „Grundsicherung mit Lebensmitteln“ und zur „Lebensmittelsicherheit“ einbezieht, ihn zum Individualanspruch ausbaut und den Unterschied zwischen der rechtsstaatlichen Thematik der Schutzpflicht und der sozialstaatlichen der Leistungsgewähr überspielt. 67 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 112 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 233. 68 BVerfGE 121, 317 (344 f., 354 f.); Sachs, in: FS Bethge, 2009, S. 251 ff. 69 Zur Kategorie der Verfassungserwartung Isensee, in: HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 190 Rn. 204 ff. 70 § 27a Abs. 1 S. 1 SGB XII. Vgl. auch § 20 Abs. 1 S. 1 SGB II. 71 §§ 27a ff., 30 ff. SGB XII – Dazu Roscher, in: Bieritz-Harder et al. (Hrsg.), Sozialgesetzbuch XII, 9. Aufl. 2012, § 27a Rn. 5 f. – Zum Individualisierungsgrundsatz allgemein
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Die Leistungen werden grundsätzlich in Geld erbracht. Geldleistungen haben Vorrang vor Gutscheinen oder Sachleistungen. Geldleistungen belassen den individuellen Bedürfnissen und Neigungen Raum und respektieren so die Freiheit des Empfängers, über seine Ernährung und sonstigen Bedürfnisse nach Gusto zu bestimmen. In erster Linie gewährleistet die Sozialhilfe den Zugang zur Nahrung, also nicht die Nahrung selbst. Gutscheine oder Sachleistungen bedürfen der besonderen Rechtfertigung. Die Rechtfertigung ist möglich, wenn die Ziele der Sozialhilfe in diesen Formen besser und wirtschaftlicher erreicht werden, wenn die Gefahr des Missbrauchs besteht, der Leistungsberechtigte nicht fähig ist, mit den Geldleistungen den eigenen Regelbedarf zu decken (Drogen- oder Alkoholabhängigkeit) oder er selber es wünscht.72 b) Recht auf Leben Die Frage ist, ob und wie die einfachrechtliche Garantie von der Verfassung unterfangen wird, insbesondere, ob es ein einklagbares Grundrecht auf ausreichende und angemessene Nahrung gibt, wie es in den internationalen Menschenrechtspakten, wenn auch ohne rechtspraktische Relevanz, vorgezeichnet wird. Es liegt nahe, die sedes materiae im Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) zu suchen. In der Tat wird die Auffassung vertreten, dass aus diesem Grundrecht der Anspruch folge, vor dem Verhungern bewahrt zu werden.73 Im Recht auf Leben steckt auch das Recht zum Überleben, doch nicht das Recht auf Lebensmittel.74 Die ausreichende und angemessene Ernährung gehört nicht zum Schutzbereich. Vielmehr bildet sie dessen reale Voraussetzung.75 Aber sie ist noch nicht einmal die spezifische Voraussetzung gerade für dieses Grundrecht. Vielmehr gilt das Gleiche für das Recht auf körperliche Unversehrtheit, für die Allgemeine Handlungsfreiheit wie für jedwedes andere Grundrecht, das sich schwerlich am Rande des Hungertodes ausüben lässt. c) Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Dem Staat fällt die Aufgabe zu, im Rahmen seiner Möglichkeiten die realen Voraussetzungen der Grundrechte sicherzustellen, wenn Selbstvorsorge und Markt versagen. Die verfassungsrechtliche Grundlage liegt eigentlich im sozialen Staatsziel Heinze, Sozialleistungen, in: von Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl. 1996, S. 285 (299 ff.). 72 § 10 Abs. 3 SGB XII, § 24 Abs. 1 und 2 SGB II. 73 Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 29), Stand 2013, Art. 2 Abs. 2 Rn. 45. Zustimmend Härtel (Fn. 4), S. 31. Zurückhaltend Leisner, Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007, S. 135 ff. 74 BVerfGE 1, 97 (103 f.) – kein Grundrecht auf angemessene Versorgung durch den Staat. 75 Allgemein Isensee (Fn. 69), § 190 Rn. 49 ff., 89 ff., 96 ff., 184 ff.
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(Art. 20 Abs. 1 GG).76 Ursprünglich hatte das Bundesverfassungsgericht abgelehnt, aus dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) den Schutz vor materieller Not und einen Anspruch auf angemessene Versorgung durch den Staat abzuleiten.77 Dagegen greift es heute auf die Menschenwürde zurück, verknüpft diese aber mit dem sozialen Staatsziel und leitet aus dieser Verbindung ein ungeschriebenes, eigenständiges Grundrecht ab: das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das seiner Struktur nach ein soziales Grundrecht darstellt als subjektives Recht eines jeden.78 Die tragenden Grundsätze der Sozialhilfe steigen aus dem einfachen Recht zu den Höhen des Grundgesetzes auf und verwandeln sich hier in Verfassungsrecht. Die Elemente des Gesetzes fungieren nunmehr als Maßstäbe für den Gesetzgeber, dem die Aufgabe verbleibt, in Randbereichen die Vorgaben der Verfassung, wie das Bundesverfassungsgericht sie auffasst, zu konkretisieren und zu aktualisieren.79 Die Anbindung an die absolute Norm der Menschenwürde macht das Grundrecht auf ein Existenzminimum einschränkungs-, änderungs- und differenzierungsresistent, gleichsam aere perennius; soweit sich das überhaupt von einer Norm sagen lässt. Ein eigenständiges Grundrecht auf Nahrung ist mit dieser Konstitutionalisierung aber nicht entstanden. Denn die Nahrung bildet wie im Gesetzesrecht weiterhin nur einen tatbestandlichen Aspekt des neuen Grundrechts neben Kleidung, Hausrat, Unterkunft etc.80 Der unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch „gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie“.81 Das schließt nicht aus, dass die Regelleistung der Sozialhilfe darauf kontrolliert wird, ob sie zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und ob die typisierend festgelegten Beträge für „Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren“ sowie für „Beherbergungsdienstleistungen, Gaststättenbesuche“ die Ernährung eines Alleinstehenden mit Vollkost decken können.82 Das Klein-Klein solcher Erwägungen steht im Kontrast zu dem lapidar abstrakten Text der höchsten Verfassungsnorm. Das Bundesverfassungsgericht behandelt die
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BVerfGE 1, 97 (104 f.). Allgemein Zacher, in: HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 28 Rn. 32 f.; Leisner (Fn. 73), S. 150 ff. 77 BVerfGE 1, 97 (104). 78 BVerfGE 125, 175 (222 ff.); 132, 134 (159 ff.); 137, 34 (72 ff.). Das Ausgangsjudikat: BVerwGE 1, 159 (161 f.). – Dogmatische Analysen: Leisner (Fn. 73), S. 107 ff., 121 ff., 218 ff.; Wallerath, JZ 2008, 157 (160 ff.); Seiler, JZ 2010, 500 (502 ff.); Lang, in: FG Friauf, 2011, S. 309 (313 ff., 321 ff.). 79 BVerfGE 125, 175 (222 ff.); 132, 134 (159 f.). 80 BVerfGE 120, 125 (155 f.); 125, 175 (223); 132, 134 (160, 174 ff., 176). 81 BVerfGE 125, 175 (223). 82 BVerfGE 125, 175 (229). Vgl. auch BVerfGE 132, 134 (174 ff., 176, 178); 137, 34 (73 ff.). Zweifel an der Sicherstellung vollwertiger Nahrung Lang (Fn. 78), S. 318 f.
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Leitidee der „nachfolgenden“ Grundrechte83, als wäre sie ein Grundrecht wie jene und holt aus der Menschenwürde-Garantie heraus, was es zuvor als einfachrechtliches Material hineingesteckt hat, nun aber normativ überhöht und gefeit sogar gegen verfassungsgesetzliche Änderung, sogar gegen Verfassungsrevision. An der Weisheit des Vorgehens nagen juristische Zweifel.84 d) Leistungsansprüche im Sonderstatus aa) Unterhaltsanspruch des Asylbewerbers Die Verankerung in der Menschenwürde führt dazu, dass die grundrechtliche Gewähr des Existenzminimums keine Unterscheidung zulässt zwischen dauerhaften Bewohnern des Bundesgebietes und Asylbewerbern. Die Menschenwürde ist „migrationspolitisch nicht zu relativieren“.85 Die Höhe der Leistungen bestimmt sich nach den Gegebenheiten in Deutschland, nicht aber nach denen des Herkunftslandes oder anderer Länder.86 „Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen […].“87 Grundsätzlich kommt es für die Höhe der Leistungen auf die Dauer des Aufenthalts nicht an, es sei denn, dass sich „konkrete Minderbedarfe“ bei kurzfristigem Aufenthalt nachvollziehbar feststellen und bemessen lassen.88 Das ist bei Nahrungsmitteln und alkoholfreien Getränken jedenfalls nicht der Fall.89 So das Bundesverfassungsgericht, von seinen Prämissen her konsequent.90 Immerhin stellt es grundsätzlich dem Gesetzgeber anheim, ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert.91 Dieser sieht vor, dass der notwendige Bedarf an Ernährung wie an sonstigen Gütern in der Regel durch Sachleistungen gedeckt wird.92 Insofern kann er die Verlockungen, die von der Sozialhilfe in Deutschland ausgehen, ein bisschen dämpfen. Doch fragt sich, ob die Leistungs83 Absage an den Charakter als Individualgrundrecht: Isensee, in: HGR, Bd. IV, 2011, § 87 Rn. 103 ff. (Nachw. zum Streitstand); ders., in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S. 231 ff. 84 Lang (Fn. 78), S. 325 ff.; Dietz, DÖV 2015, 727 (729 f.); Isensee, Der Staat (Fn. 83), S. 235 ff. 85 BVerfGE 132, 134 (173). 86 BVerfGE 132, 134 (161). 87 BVerfGE 132, 134 (173). 88 BVerfGE 132, 134 (164). 89 BVerfGE 132, 134 (176). 90 Grundsätzliche Kritik Dietz, DÖV 2015, 727 ff. 91 BVerfGE 132, 134 (161). Zuvor bereits BVerfGE 125, 175 (224). 92 § 3 Abs. 1 S. 2 AsylbLG. Einwände gegen diese Regelung Judith/Brehme, KJ 2014, 330 (332 f.).
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einschränkungen, die das Gesetz für (Wirtschafts-)Flüchtlinge vorsieht, nämlich die Reduktion der Leistungen auf das im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar Gebotene,93 sich letztlich doch an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts brechen.94 bb) Unterhaltsanspruch für Insassen geschlossener Anstalten In geschlossenen Anstalten, zumal Strafanstalten, in denen die Freiheit der Person entfällt, so dass der Insasse nicht selber für seine Nahrung sorgen kann, hat der Anstaltsträger die Pflicht, die Nahrung bereitzustellen. Was in der Freiheit Sache des Einzelnen ist, fällt nun, da sie ihm entzogen wurde, in die Verantwortung der Anstalt. Der Entzug an Selbstbestimmung wird ausgeglichen durch Fürsorge. Das normale Abwehrrecht des Art. 2 Abs. 1 GG mutiert in ein kompensatorisches Leistungsgrundrecht auf ausreichende, angemessene Ernährung.95 Die Konstellation der Marktwirtschaft wird im Sonderstatus substituiert durch die der Planwirtschaft.96 In den Strafanstalten wird der Unterhalt in der Regel als Sachleistung erbracht, unter Umständen um ein Taschengeld für individuelle Wünsche ergänzt. Soweit aber die Speisen in natura verabreicht werden, verlangen die Grundrechte, die medizinischen und religiösen Speiseregeln zu berücksichtigen. Das Gesetz sieht eigens vor, dass die Zusammensetzung und der Nährwert der Anstaltsverpflegung ärztlich überwacht werden. „Auf ärztliche Anordnung wird besondere Verpflegung gewährt. Dem Gefangenen ist zu ermöglichen, Speisevorschriften seiner Religionsgemeinschaft zu befolgen.“97 Die analoge Legitimation kommt dem Unterhaltsanspruch des Asylbewerbers zu, dem mangels Arbeitserlaubnis verwehrt ist, am Erwerbsleben teilzunehmen und für sich selbst zu sorgen. cc) Alimentationsanspruch des Beamten Der Beamte und der Richter, der mit Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit dem Dienstherrn – grundsätzlich auf Lebenszeit – seine volle Arbeitskraft zur Verfügung stellt, bekommt zum Ausgleich den amtsangemessenen Unterhalt für sich und seine Familie.98 Schon die übliche Bezeichnung Alimentation weist auf die Ernährung als
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§ la AsylbLG. Fundierte Kritik an der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts und konstruktive Vorschläge der Missbrauchsverhütung Dietz, DÖV 2015, 727 (731 ff.). 95 Grundlegend zu dieser Mutation Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, 1982, S. 435 f., 444. 96 S. o. III. 97 § 21 S. 2 und 3 StVollzG. 98 BVerfGE 37, 167 (179); 39, 196 (200 f.); 70, 69 (80); 121, 241 (261); BVerfG, NVwZ 2015, 1047 (1053) Rn. 122 f. 94
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Josef Isensee
die historische Wurzel des Unterhalts hin.99 Der Anspruch auf Unterhalt (mithin auch auf Nahrung) wird von der institutionellen Garantie des Berufsbeamtentums in seinen hergebrachten Grundsätzen umfasst.100 Auch hier gibt es kein selbständiges Recht auf Nahrung, sondern allein den Unterhaltsanspruch, der den Bedarf an Nahrung einschließt. Bei der Prüfung, ob die Besoldung und Versorgung dem verfassungsrechtlichen Erfordernis der amtsgerechten Alimentation genügt, wird der Verbraucherpreisindex herangezogen, der die durchschnittliche Preisentwicklung aller Waren und Dienstleistungen bemisst, die von privaten Haushalten für Konsumzwecke in Anspruch genommen werden, darunter auch die Nahrungsmittel, neben Mieten, Bekleidung, Kraftfahrzeugen etc.101 VI. In vielerlei verfassungsrechtlichen Bezügen – ein konsistentes ungeschriebenes Grundrecht auf Nahrung? Das Thema der Ernährung des Menschen bildet ein Paradebeispiel für die Allbezüglichkeit der Verfassung.102 Ausdrücklich und unmittelbar kommt es zwar nur in vereinzelten Kompetenztiteln zur Sprache. Doch einschlussweise findet es sich in mehreren Grundrechtsgarantien. Reicht der positivrechtliche Befund, um von einem Grundrecht auf Nahrung zu sprechen? Für den Badischen Staatsgerichtshof kommt es auf den positivrechtlichen Befund überhaupt nicht an. Seinem naturrechtlich-menschenrechtlichen Verständnis gemäß wohnt jeder Verfassung ein solches Grundrecht inne, gleich, ob geschrieben oder ungeschrieben.103 Die These eines ungeschriebenen Grundrechts auf Nahrung wird positivrechtlich begründet und verortet im Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit unter dem Aspekt der Schutzpflicht. Doch diese Schutzpflicht wird zum sozialen Grundrecht überdehnt. Ein solches lässt sich nicht in der Form nachweisen, die den Grundrechten des Katalogs oder den grundrechtsgleichen Rechten entspräche, die mit der Verfassungsbeschwerde eingeklagt werden können. Die disparaten verfassungsrechtlichen Bezüge der Nahrung ergeben einen thematischen, aber keinen substantiellen Zusammenhang, wie ihn ein ungeschriebenes Grundrecht braucht und wie ihn exemplarisch das ungeschriebene Allgemeine Persönlichkeitsrecht verkörpert.104 Das Thema Nahrung zieht sich als roter Faden durch Grundrechte, insti99
Das lateinische Wort alimentum heißt Lebensmittel, sein Plural alimenta Nahrung, Proviant. Die Bedeutungen leben weiter im französischen aliment, alimentation, im italienischen alimentari, alimento. 100 BVerfGE 16, 94 (115 f.) – ständige Rechtsprechung; Lecheler, AöR 103 (1978), 349 (366 ff.); Merten, ZBR 1996, 353 ff.; Leisner (Fn. 73), S. 274 ff. 101 BVerfG, NVwZ 2015, 1047 (1051) Rn. 107. 102 Kategorie: Hollerbach, in: Maihofer (Hrsg.), Ideologie und Recht, 1969, S. 37 (51 ff.); Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 29 f., 56, 361. 103 Bad. Staatsgerichtshof, VerwRspr 1 (1949), 249 (251). Exempel eines ungeschriebenen Verfassungsrechtssatzes bei Wolff (Fn. 6), S. 5. 104 Dazu mit Nachw. Kube, HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 148 Rn. 28 ff., 66 ff.
Nahrung als Thema des Verfassungsrechts
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tutionelle Garantien, Kompetenzen und Staatsaufgaben. Doch ein roter Faden macht noch keinen grundrechtlichen Schutzbereich. Das Konstrukt eines Grundrechts auf Nahrung im Grundgesetz gleicht eher dem Stichwort eines intelligenten Sachregisters, das auch seine Implikationen und die potentiellen Bedeutungen umfasst. Die Proklamation eines Grundrechts verspräche mehr, als sie rechtspraktisch einlösen könnte. Als Luftballon der Interpretation löste es sich leicht aus seiner notdürftigen positivrechtlichen Verankerung und entschwebte in das Wolkenreich der politischen Wünsche. Das Grundgesetz wahrt aber Bodenhaftung. In differenzierten Regelungen sichert es die Ernährung als Raum grundrechtlicher Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, deren Rahmenbedingungen das staatliche Recht setzt und gewährleistet. Dem sozialen Rechtsstaat bleibt die Letztverantwortung für die ausreichende und angemessene Ernährung der Bevölkerung im Ganzen und dafür, dass kein Mensch, der ihm anvertraut ist, dem Hunger anheimfällt. Darin liegt eine Staatsaufgabe. Aber diese aktualisiert sich nach dem Subsidiaritätsprinzip nur, soweit die Grundrechtsakteure den Versorgungserfordernissen und -bedürfnissen nicht unter marktwirtschaftlichen Bedingungen genügen. Die Staatsaufgabe erweist sich als Sicherstellungsauftrag.105 Die menschenrechtlichen Vorgaben des Völkerrechts erfordern nicht, dem Grundgesetz ein Grundrecht auf Nahrung zu unterlegen. Das geltende deutsche Recht hat ein erheblich höheres Garantieniveau, als das Völkerrecht anstrebt. Das Implantat eines Grundrechts auf Nahrung könnte nur simplifizieren, wo Differenzierung gefordert ist. Es würde Rechtsunsicherheit stiften, wo bereits Rechtssicherheit herrscht, und regulieren, wo es der Regulierung nicht bedarf.
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Dogmatische Sicht Butzer (Fn. 36), § 74 Rn. 59 ff.
Verfahrensvorschriften als subjektive öffentliche Rechte – Eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung Von Wolfgang Kahl, Heidelberg* I. Einleitung Matthias Schmidt-Preuß hat mit zahlreichen Beiträgen zur rechtswissenschaftlichen Erforschung von „Gegenwart und Zukunft des Verfahrensrechts“1, gerade in multipolaren Konfliktlagen,2 einen herausragenden Beitrag von bleibender Bedeutung geleistet. Diesen Beitrag kennzeichnet vor allem das Bestreben um Herstellung einer angemessenen Balance bei der Verteilung des Fehlerrisikos im Horizontalverhältnis und Vermeidung einseitiger oder gar radikaler Lösungen (Gebot der multipolaren Ausgewogenheit und verfahrensrechtlichen Risikobalance3). Ausgangspunkt bleibt auch für Schmidt-Preuß dabei das – indes nicht abwertend,4 sondern neutral-analytisch verstandene – Leitbild der „dienenden Funktion“5 des * Für Unterstützung, insbesondere bei der Sichtung der Rechtsprechung zu den Abschnitten II.-V., danke ich Herrn Manuel Gräf. 1 So der Titel des Aufsatzes von Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489. 2 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1. Aufl. 1992, hier zitiert nach der 2. Aufl. 2005. 3 Schmidt-Preuß (Fn. 2), S. 495 ff., 520 ff., umgesetzt u. a. mit der vom Jubilar geprägten „Konfliktschlichtungsformel“ (a.a.O., S. 247 ff.; zustimmend hierzu etwa Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 110 f.; differ. Wahl, DVBl. 1996, 641 [642]). Ähnlich zur freiheitlichen Radizierung des Individualrechtsschutzes und zu dabei zu bedenkenden tripolaren rechtsstaatlichen Verteilungsfragen Gärditz, Gutachten 71. DJT, 2016, S. D 17 f., D 46 f., D 52 f., D 87 f.; Greim, Rechtsschutz bei Verfahrensfehlern im Umweltrecht, 2013, S. 48; Wahl, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, Stand: Okt. 2016, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 128, sowie unter Legitimationsgesichtspunkten Rennert, DVBl. 2015, 793 (799 ff.); Gärditz, a.a.O., S. D 30 ff.; a.A. Classen, NJW 2016, 2621 (2623). Gegen eine einseitige Ausrichtung des Verwaltungsrechts auf das Verfahrensrecht Pietzcker, FS Scheuing, 2011, S. 374; vgl. auch Fehling, VVDStRL 70 (2011), 280 (328 f.); Held, NVwZ 2012, 461 (467). 4 Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (490); ebenso Schoch, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVerwR III, 2. Aufl. 2013, § 50 Rn. 298. Anders aber das Verständnis in der Rechtsprechung und einem Teil der Literatur (z. B. Dolde, NVwZ 2006, 857 [858]), worauf Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. 6 Rn. 46, zutreffend hinweist. 5 Hierzu BVerfGE 105, 48 (60 f.); BVerwGE 64, 325 (333 f.); 85, 368 (373); 139, 11 (18); 141, 171 (173); VGH BW, NVwZ-RR 2007, 82 (93); Burgi/Durner, Modernisierung des
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Verfahrens, welchem im Schrifttum gewöhnlich das im Ausland (z. B. Frankreich6, USA7)8 und im EU-Eigenverwaltungsrecht9 stärker betonte Leitbild des „Eigenwerts des Verfahrens“ gegenübergestellt wird. Diese Gegenüberstellung wurde zuletzt mit Recht als zu grob zurückgewiesen und es wurde zutreffend darauf hingewiesen, dass dem Verwaltungsverfahren in Deutschland sehr wohl auch ein Eigenwert zukommt.10 Dieser liegt nicht zuletzt in dem Beitrag des Verfahrens, den der staatlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt erst hervorzubringen und dabei Rationalität durch eine möglichst breite Informationsgewinnung und Wissensgenerierung auf Seiten des Entscheiders (Behörde) zu gewährleisten.11 Je mehr dies gelingt, desto berechtigter ist die Rede von dem Verfahren als Richtigkeitsgewähr für die Entscheidung.12 Verwaltungsverfahrensrechts durch Stärkung des VwVfG, 2012, S. 29 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 19 Rn. 8; Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007, S. 35 ff.; Schmidt/Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 10. Aufl. 2017, § 5 Rn. 23 f.; Schoch (Fn. 4), Rn. 170, 298; Wolff, FS Scholz, 2007, S. 977; krit. Schmidt-Aßmann (Fn. 4), Kap. 6 Rn. 46, 149; ders., NVwZ 2007, 40 (41); Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober/ders., Verwaltungsrecht I, 13. Aufl. 2017, § 58 Rn. 13; zum historischen Hintergrund Bickenbach, LKRZ 2009, 206 (207) m.w.N. 6 Grundlegend Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im französischen und deutschen Verwaltungsrecht, 1999. Vgl. auch v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 52 ff. 7 Einen „bemerkenswerten Kontrast“ der deutschen Sicht auf das Verfahren zum Grundverständnis des US-amerikanischen Rechts diagnostiziert Jarass, FS Battis, 2014, S. 467 (468), näher: Pünder, in: Ehlers/ders. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 13 Rn. 31 f. 8 Ausführliche rechtsvergleichende Hinweise bei Epiney, VVDStRL 61 (2002), 362 (370 ff., 377 ff., 385 f.); Pünder (Fn. 7), § 13 Rn. 26 ff. 9 Eingehend dazu Fehling, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), Europäisches Rechtsschutz- und Verfahrensrecht, 2014, § 3 Rn. 13 ff.; Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, S. 184 ff.; Quabeck, Dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens und Prozeduralisierung, 2010, S. 92 ff.; vgl. ferner Ehlers, VerwArch 84 (1993), 139 (unter Einbeziehung auch des US-amerikanischen Rechts); Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (8 ff.); zuletzt bündig: Kluth (Fn. 5), § 58 Rn. 40; Schlacke, UPR 2016, 478 (478 f.); instruktiv zum Ganzen, dabei auch zur Rolle der Verfahrensleitbilder, Saurer, Der Einzelne im europäischen Verwaltungsrecht, 2015, S. 318 ff. 10 Vgl. Appel, NVwZ 2012, 1361; Fehling, VVDStRL 70 (2011), 280 (281 ff., 286 f.); Gurlit, VVDStRL 70 (2011), 227 (238 ff.); Burgi, DVBl. 2011, 1317 (1318 f.); ders./Durner (Fn. 5), S. 31 ff.; Reimer, Verfahrenstheorie, 2015, S. 186 ff.; Schmidt-Aßmann, in: HoffmannRiem/ders./Voßkuhle (Hrsg.), GVerwR II, 2. Aufl. 2012, § 27 Rn. 65; zu einseitig Stelkens, DVBl. 2010, 1078. 11 Appel/Singer, JuS 2007, 913 (915 f.); Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (489 f.); Schneider, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn. 10), § 28 Rn. 4 f., 36 ff., 43, 45, und passim; vgl. auch Schmidt/Kahl/Gärditz (Fn. 5), § 5 Rn. 24. Hinzu kommen weitere nicht-instrumentelle Funktionen wie Akzeptanzgewährleistung und Partizipation, vgl. nur Appel, NVwZ 2012, 1361 (1362); Ramsauer, in: Kopp/ders./Wysk (Hrsg.), VwVfG, 17. Aufl. 2016, Einführung I Rn. 36b; Kluth (Fn. 5), § 58 Rn. 44 f.; eingehend Schneider, a.a.O., Rn 1 ff. 12 Schmidt-Preuß, FS Maurer, 2001, S. 777 (785); Hoffmann-Riem, in: ders./Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVerwR I, 2. Aufl. 2012, § 10 Rn. 101; Schmidt-Aßmann (Fn. 4),
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Als wichtigster Impulsgeber für Innovationen im deutschen öffentlichen Recht erweist sich seit vielen Jahren die Europäisierung13. Sie erfasst auch das Verwaltungs(verfahrens)-14 und das Verwaltungsprozessrecht15 nahezu in deren ganzer Breite, namentlich die Dogmatik der Klagebefugnis (subjektives öffentliches Recht)16. In besonderer Weise gilt dies für das Umweltrecht,17 das seit einigen Jahren als „Laboratorium“18 für aus dem europäischen Rechtsraum kommende verfahrensfreundlichere Ansätze dient, deren Verallgemeinerungsfähigkeit freilich noch offen ist.19 Gerade vor dem Hintergrund des Europäisierungsprozesses, der seit Inkrafttreten des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) im Jahre 2006 noch einmal deutlich an Fahrt aufgenommen hat, erscheint eine erneute Selbstvergewisserung der deutschen Dogmatik zu den Verfahrensrechten umso dringlicher, kann sie doch GrundKap. 4 Rn. 75; Kap. 6 Rn. 46, 149 unter Hinweis auf BayVGH, DVBl. 1994, 1199; ders., VBlBW 2000, 45 (49). 13 Zum Begriff: Siegel, Europäisierung des Öffentlichen Rechts, 2012, Rn. 68 ff. Speziell mit Blick auf das Umweltrecht analytisch interessant: Knopp/Hoffmann, Progredientes Europäisierungsphänomen im Umweltrecht, 2010. 14 Vgl. dazu eingehend und m.w.N. Kahl, VerwArch 95 (2004), 1. Allg. grundlegend Schmidt-Aßmann, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 487; Überblick: Kluth (Fn. 5), § 58 Rn. 37 ff.; Kahl, NVwZ 2011, 449. 15 Dazu: Burgi, Verwaltungsprozeß und Europarecht, 1996; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006; Dünchheim, Verwaltungsprozeßrecht unter europäischem Einfluß, 2003; Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, 1999; Epiney, VVDStRL 61 (2002), 362 (362); Huber, BayVBl. 2001, 577; Knauff, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2013, Einführung Teil B; Saurer (Fn. 9), S. 364 ff.; Schoch, Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 2000; ders., FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 507; zuletzt Guckelberger, Deutsches Verwaltungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, 2017. 16 Classen, VerwArch 88 (1997), 645; v. Danwitz (Fn. 6), S. 519 ff.; Gärditz, NVwZ 2014, 1; Kahl/Ohlendorf, JA 2011, 41; Kokott, Die Verwaltung 31 (1998), 335; Masing, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn. 12), § 7 Rn. 88 ff.; Ruffert, DVBl. 1998, 69; Ruthig, in: Kluth/Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, 2008, S. 35; Schlacke, NVwZ 2014, 11; Steiger, VerwArch 107 (2016), 497 (511 ff.); Wahl (Fn. 3), Rn. 121 ff.; näher dazu unten VII. Zu Begriff und Funktion des subjektiven Rechts (bzw. – so die üblichere Terminologie – der Rechte Einzelner) im EU-Recht umfassend Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997; vgl. aber auch stärker differ. Saurer (Fn. 9), S. 64 f., 67 ff., 318 ff. (334 ff.); ferner v. Danwitz, DVBl. 1996, 481; Frenz, DVBl. 1995, 408; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S. 409 ff.; Nettesheim, AöR 132 (2007), 333; Triantafyllou, DÖV 1997, 192. 17 s. dazu eingehend Epiney/Sollberger, Zugang zu Gerichten und gerichtliche Kontrolle im Umweltrecht, 2002; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993, S. 145 ff.; Krüper, Gemeinwohl im Prozess, 2009; Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996; Wegener, Rechte des Einzelnen, 1998; instruktiv ferner Epiney, NVwZ 2014, 465; Schoch, NVwZ 1999, 457; Winter, NVwZ 1999, 467; aus der Rspr. repräsentativ EuGH, Rs. C-237/07, Slg. 2008, I-6221 Rn. 37 ff. (Janecek), dazu Hofmann, EurUP 2015, 266 (271, 275). 18 Gärditz, EurUP 2015, 196; ähnlich Schmidt-Aßmann, EurUP 2016, 360 (363 ff.). 19 s. u. VIII.
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lage für eine kritische Selbstreflexion und Prüfung des Reformbedarfs mit Blick auf die tradierte Schutznormlehre20 sein. Für eine solche Selbstvergewisserung kommt neben der Rechtstheorie und der Rechtsvergleichung der rechtsgeschichtlichen Betrachtung eine wesentliche Aufgabe zu.21 Daher soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, die deutsche Lehre der Subjektivierung von Verfahrenspositionen des Einzelnen22 einer entwicklungsgeschichtlichen Analyse zu unterziehen. Unternommen wird der auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland begrenzte Versuch einer Periodisierung, wobei vorausgeschickt sei, dass die einzelnen „Phasen“ nicht trennscharf abgrenzbar sind, sondern häufig Schnittmengen aufweisen.23 II. Die erste Phase: Verfahren als Verwirklichungsmodus des materiellen Rechts bei noch weitgehender Beschränkung auf bipolare Verhältnisse In der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland (1950er und 1960er Jahre) geht es zunächst um Fälle zum Schwerbeschädigten- und Beamtenrecht. Soweit ersichtlich, nimmt das BVerwG (2. Senat) in einer Entscheidung vom 31. Januar 1957 (ohne nähere Begründung) erstmalig an, dass dem Betroffenen aus der verletzten Verfahrensvorschrift (unterbliebene Anhörung der Hauptfürsorgestelle gem. § 35 Abs. 2 Schwerbeschädigtengesetz [SBG] a.F.24) ein „Schutzrecht“ (nach heutiger Terminologie: subjektives Verfahrensrecht) zusteht.25 Wenig später wurde der subjektive Gehalt dieser Vorschrift durch den 6. Senat des BVerwG bestätigt und untermauert.26 Die Begründung dieser Entscheidung lässt sich so lesen, dass das Gericht keine Kausalität zwischen dem Verfahrensfehler und der Sachentscheidung fordert, es sich also nach heutiger Terminologie um einen „absoluten“ Verfahrensfehler handelt.27 Nach einem Urteil desselben Senats vom 28. August 1964 verstößt die bloß formale Durchführung eines Ermittlungs- und Erörterungsverfahrens des Dienstherrn (die zur Klärung des Sachverhalts nichts beigetragen hat) anstatt des gesetzlich geforder20
Vgl. zu dieser statt vieler nur Gärditz, in: ders. (Hrsg.), VwGO, 2013, § 42 Abs. 2 VwGO Rn. 54 ff.; Kluth (Fn. 5), § 43 Rn. 9 ff. (12 ff.); Masing, GVerwR I (Fn. 16), Rn. 106 f., 111; Wahl/Schütz, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, Stand: Okt. 2016, § 42 Abs. 2 Rn. 94 ff. Zum staatstheoretischen Hintergrund Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts, 2016, S. 384 f. 21 So zuletzt programmatisch für das Umweltrecht, aber durchaus verallgemeinerungsfähig für das Verwaltungsrecht insgesamt, Reimer, JbUTR 2017, 79 (79 f.). 22 Auf Verbände kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu Fn. 132 und die dortigen Nachweise. 23 Ebenso Müller, Verfahrensartfehler, 2005, S. 95. 24 Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter (SBG [a.F.]) v. 16. 6. 1953, BGBl. I, S. 389. 25 BVerwGE 5, 18 (21). 26 BVerwGE 9, 69 (71 ff.); vgl. auch BVerwG, MDR 1959, 687; s. zur Bewertung auch Müller (Fn. 23), S. 92 f. 27 Müller (Fn. 23), S. 93.
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ten amtsärztlichen Gutachtens gegen dessen Schutzfunktion und sei deshalb genauso zu beurteilen wie ein Fehler dieses Verfahrens selbst.28 Einer der eher seltenen Fälle mit Drittbezug liegt der Entscheidung des BVerwG vom 4. November 196029 zu den Folgen des fehlenden Einvernehmens zwischen Arbeitsverwaltung und Justizverwaltung bei der Abberufung eines Arbeitsrichters zugrunde. Wiederum wird, ohne auf die Frage des Vorhandenseins einer selbständig durchsetzbaren Verfahrensrechtsposition einzugehen, unmittelbar aus dem klägerschützenden Zweck der Verfahrensvorschrift gefolgert, dass ein Aufhebungsanspruch bestehe, wobei bereits der – spätere – Gedanke einer Kompensation defizitärer materiellrechtlicher Programmierung durch das Verfahren30 anklingt.31 Ein weiteres Referenzgebiet für die frühe Entwicklung der Dogmatik subjektiver Verfahrensrechte bildet die Bauleitplanung, konkret das Recht der Gemeinden auf Erteilung ihres Einvernehmens im Rahmen bauaufsichtlicher Verfahren. In einer Entscheidung vom 6. Dezember 1967 zur Frage, ob betroffene Grundstückseigentümer die Aufhebung einer Baugenehmigung unter Berufung auf eine unterlassene Mitwirkung der Gemeinde nach § 36 Abs. 1 BBauGB a.F. (heute: § 36 Abs. 1 BauGB) verlangen können, führt der 4. Senat des BVerwG aus: „Im allgemeinen sind zwar Verfahrensvorschriften auch im Interesse eines von der Verwaltungshandlung etwa betroffenen Bürgers geschaffen, weil sie ihrer Natur nach grundsätzlich dazu dienen, die Geltendmachung von Rechten und Pflichten in eine bestimmte Ordnung zu bringen, dadurch ihre Durchsetzung in angemessener Zeit und mit richtigem Ergebnis zu gewährleisten und damit die Verwirklichung des materiellen Rechts zu ermöglichen. Dies schließt jedoch im Einzelfall nicht aus, daß eine Verfahrensvorschrift nicht dem Interesse des Bürgers dient und daher keine Verfahrensrechte einräumt […].“32
Wenngleich die Begründung nach heutigem Verfahrensverständnis erstaunlich „progressiv“ klingt (Stichwort: Verfahren als Verwirklichungsmodus des materiellen Rechts33) und ungeachtet des in ihr zum Ausdruck kommenden Grundsatz-Ausnahme-Verhältnisses („Im allgemeinen“/„im Einzelfall“),34 sollten daraus keine vorschnellen verallgemeinernden Schlüsse gezogen werden, denn in den 1960er Jahren gab es nur sehr wenig verfahrensrechtsbezogene Judikatur zu Drittbeteiligungsfällen und, soweit es sie gibt, lässt sich aus ihr auch eine deutliche Skepsis gegenüber Verfahrensrechten ablesen.35 28
BVerwGE 19, 216 (221 ff.). BVerwGE 11, 195 (199 ff., 205 f.). 30 Berichtend zu dieser umstrittenen Figur Müller (Fn. 23), S. 161 ff. m.w.N. 31 s. auch Müller (Fn. 23), S. 93 f. 32 BVerwGE 28, 268 (270); Hervorhebung durch Verf. 33 Begriffsprägend Wahl, VVDStRL 41 (1983), 151 (153). Vgl. auch Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (490 f.); Schneider (Fn. 11), Rn. 1; Schoch (Fn. 4), Rn. 298. 34 Vgl. Müller (Fn. 23), S. 94 f., der hierin den „subjektivrechtlichen Höhepunkt“ (a.a.O., S. 95) der frühen Rechtsprechung zu den Verfahrensrechten sieht. 35 s. etwa BVerwGE 28, 131 (134): das Gericht entschied hier für das Recht der emittierenden Anlagen gem. §§ 16 ff. GewO a.F. (heute: §§ 4 ff. BImSchG), dass aus der vorge29
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Hinsichtlich des in der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten grundsätzlichen Anspruchs auf Begründung belastender (Ermessens-)Verwaltungsakte (heute: § 39 Abs. 1 [S. 3] VwVfG)36 sind auch die – aus heutiger Sicht zweifelhaft erscheinenden (Stichwort: Bewerberverfahrensrechte) – Einschränkungen interessant, die dieser Grundsatz in der Rechtsprechung erfährt, etwa bei der Versetzung „politischer Beamter“ in den Ruhestand,37 der Entlassung „politischer Beamter“38 oder der Ablehnung der Einstellung eines Bewerbers in den öffentlichen Dienst.39 Ähnliche Relativierungen zeigten sich auch beim Anhörungsrecht.40 Alles in allem lässt sich – entgegen anderslautenden Stimmen – für die Frühphase der Bundesrepublik weder eine allgemein großzügigere Bejahung absoluter Verfahrensrechte als heute41 noch ein „,Alles-oder-Nichts‘-Gegensatz“42 zwischen absoluten Verfahrensrechten und rein objektiven Verfahrensnormen nachweisen. Zum einen bezieht sich die Diskussion um Verfahrensrechte in den 1950er und 1960er Jahren weitgehend auf bipolare, vertikale Rechtsverhältnisse von Staat und Bürger;43 horizontalen Drittklagekonstellationen wird noch kaum praktische Relevanz beigemessen.44 Heute besteht aber im Anschluss an die grundlegenden Arbeiten des Jubilars45 Konsens, dass der Frage, ob Verfahrensvorschriften ein rügefähiges Recht begrünschriebenen förmlichen Verfahrensbeteiligung Dritter nicht das Recht folge, dieses Interesse im Wege der Klage geltend zu machen, sondern dass es sich hierbei nur um ein Mittel zur Information der Behörde handele. 36 BVerwGE 8, 234 (238). 37 BVerfGE 7, 155 (166 f.); 8, 332 (356); BVerwGE 5, 95 (98); 19, 332 (336 f.); zustimmend Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Bd. 2, 1967, S. 330; s. auch relativierend Wolff, Verwaltungsrecht I, 5. Aufl. 1963, S. 287. Zur heutigen Rechtslage: Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 39 Rn. 65. 38 BVerwGE 19, 332 (336) unter Bezugnahme auf BVerfGE 7, 155 (166 f.); 8, 332 (356). 39 BVerwGE 12, 20 (26). 40 s. z. B. BVerwG, DVBl. 1957, 650 (651 f.); 1958, 174 (175 – unter Verweis auf BVerfG, NJW 1956, 1026); VGH BW (Senat Karlsruhe), VwRspr 1965, 477 (478); OVG NRW, DVBl. 1950, 674 (677); Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1956, S. 209 f. m.w.N. 41 So aber Müller (Fn. 23), S. 92. 42 So aber Wahl/Schütz (Fn. 20), Rn. 74 Fn. 250; zustimmend Greim (Fn. 3), S. 48; Müller (Fn. 23), S. 92. 43 Wahl (Fn. 3), Rn. 68. 44 Vgl. etwa repräsentativ für die geringe Aufmerksamkeit für multipolare Rechtsverhältnisse in der damaligen Zeit Bachof (Fn. 37), S. 238. Bemerkenswert etwa auch die nur inzidente Prüfung des drittschützenden Gehalts der einschlägigen Vorschriften (im Rahmen der Frage, ob ein Verstoß hiergegen zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führt) bei BVerwGE 11, 195 (199 f.). Allg. zur geringen wissenschaftlichen Bedeutung des Verfahrens(rechts) in den 50er Jahren auch Schmidt-Aßmann, AöR 142 (2017), 325 (345). 45 Zur Verwirklichung der Verfahrensrechte gerade in multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnissen Schmidt-Preuß (Fn. 2), S. 9 ff., 30 ff.
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den, in erster Linie bei Drittklagen Bedeutung zukommt (wegen der dort nicht geltenden sog. Adressatentheorie).46 Zum anderen vermittelt „die“ Rechtsprechung der 1950er und 1960er Jahre zu den Verfahrensfehlern auch kein hinreichend geschlossenes Bild. Die gegenteilige Einschätzung von Müller47 fokussiert zu stark die Entscheidungen zu § 35 Abs. 2 SBG a.F. Diese lassen zwar eine verfahrensfreundliche Tendenz erkennen, hieraus können aber keine Schlüsse auf „das“ zeitgenössische Verständnis der Verfahrensrechte insgesamt gezogen werden. Die Dogmatik ist insoweit noch eher tastend, kasuistisch und auch uneinheitlich48. III. Die zweite Phase: Übergang zur „Alles-oder-Nichts“-Rechtsprechung durch den 4. Senat des BVerwG In der zweiten Phase, die ihren Schwerpunkt in den 1970er Jahren hat, entwickelt der 4. Senat49 des BVerwG ein Konzept für den Umgang mit Verfahrensrechten in multipolaren Rechtsverhältnissen, welches die Bezeichnung „Alles-oder-NichtsRechtsprechung“50 verdient.51 Mit seinem Urteil vom 14. Dezember 1973 legt der Senat den Grundstein für den weiteren Umgang mit Verfahrensrechten in Mehrpersonenverhältnissen.52 Danach spreche gerade beim Planfeststellungsverfahren nichts für ein subjektives Verfahrensrecht Dritter. Aus dem Zweck dieses Verfahrens, aufgrund der Konzentrationswirkung zu einer einheitlichen, umfassenden Verwaltungsentscheidung zu gelangen, schließt das Gericht, dass die Planfeststellung „noch weniger als Bewilligung und Erlaubnis auf die Gewährleistung einer spezifischen Verfahrenssicherung Dritter ab[ziele], sondern allein auf ein im allgemeinen Interesse gelegenes rationelles Verwaltungsverfahren“53. In diesem dualen System ist kein Platz für relative Verfahrensrechte. Sofern eine Verfahrensbestimmung nicht um ihrer selbst willen zu beachten ist und im Prozess unbedingte Sanktionierung verlangt, weil sie – was durch Auslegung auf der Grundlage der Schutznormlehre zu ermitteln ist – eine vom Ausgang des Verfahrens unabhängige, selbständig durchsetzbare Verfahrensposition einräumt,54 wird sie dem Bereich des lediglich öffentlichen 46
Appel/Singer, JuS 2007, 913 (914); Schneider (Fn. 11), Rn. 89. Müller (Fn. 23), S. 92. 48 Generell von Unstimmigkeiten und Unsicherheit der Rechtsprechung ausgehend v. Danwitz, DVBl. 1993, 422 (425); Greim (Fn. 3), S. 45 f.; Hufen, DVBl. 1988, 69 (69 f.); Quabeck (Fn. 9), S. 69. 49 Zu undiffer. insoweit Müller (Fn. 23), S. 96 ff., der von der Rechtsprechung im Wesentlichen (nur) des 4. Senats auf „die Rechtsprechung“ des BVerwG schließt. 50 Wahl/Schütz (Fn. 20), Rn. 74 Fn. 250. 51 Vgl. dazu auch Müller (Fn. 23), S. 95 ff.; bündig: Held, DVBl. 2016, 12 (14). 52 BVerwGE 44, 235 (239 f.). 53 BVerwGE 44, 235 (240). Aus dem zeitgenössischen Schrifttum repräsentativ: Groschupf, DVBl. 1962, 627 (630). 54 Vgl. zu diesem Begriff der absoluten Verfahrensrechte statt vieler und m.w.N. Guckelberger, JA 2014, 647 (650 f.); Haller, VBlBW 2017, 133 (134); Ramsauer (Fn. 11), § 46 47
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Interesses zugeordnet und infolgedessen vom Gerichtsschutz ausgenommen.55 Im Ergebnis werden dadurch diejenigen Verfahrensvorschriften ausgeklammert, die zwar dem Schutz des Einzelnen dienen, dies aber – wie regelmäßig – nur im Hinblick auf die bestmögliche Verwirklichung des materiellen Rechts, also mittelbar tun.56 So heißt es etwa bereits in dem Urteil des BVerwG vom 20. Oktober 1972, das am Beginn der restriktiveren Rechtsprechungslinie zu den Verfahrensrechten steht: „Darüber hinaus mag die Verfahrensposition eines Dritten zugleich auch als Indiz für eine im Gesetz angelegte materiell-rechtliche Schutzposition von Bedeutung sein; eine eigene Schutzfunktion kann ihr aber nur dann zukommen, wenn die gesetzliche Regelung erkennbar davon ausgeht, dass ein am Verfahren zu beteiligender Dritter unter Berufung allein auf einen ihn betreffenden Verfahrensmangel, d. h. ohne Rücksicht auf das Entscheidungsergebnis in der Sache, die Aufhebung einer behördlichen Entscheidung soll durchsetzen können.“57
Auch in der nachfolgenden Rechtsprechung wurden absolute Verfahrensrechte durch den 4. Senat des BVerwG nur in wenigen Ausnahmefällen anerkannt,58 namentlich für bestimmte enteignungsrechtliche Verfahrensvorschriften,59 die Beteiligungsrechte der Gemeinden und Gemeindeverbände im bau-60 und luftverkehrsrechtlichen Genehmigungsverfahren61 und das Beteiligungsrecht anerkannter Naturschutzverbände62. Daneben hat das BVerwG einen Anspruch auf Aufhebung der Genehmigung bei Nichtdurchführung des Genehmigungsverfahrens im Atomrecht bejaht.63
Rn. 18, 20; s. ferner Emmenegger, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz (Hrsg.), VwVfG, 2014, § 46 Rn. 104 ff.; krit. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 10. Aufl. 2016, § 14 Rn. 90. 55 Vgl. Guckelberger (Fn. 15), S. 158 ff.; Ladenburger (Fn. 6), S. 359 ff.; Quabeck (Fn. 9), S. 54. 56 Quabeck (Fn. 9), S. 54. 57 BVerwGE 41, 58 (65); zur hiermit eingeleiteten restriktiveren Rspr. v. Danwitz, DVBl. 1993, 422 (424); Müller (Fn. 23), S. 96; s. auch BayVGH, DVBl. 1979, 673 (677 f.). 58 Was im Schrifttum zu dem verbreiteten Vorwurf einer Marginalisierung des Verfahrensrechts geführt hat, vgl. Quabeck (Fn. 9), S. 56 ff.; Groß, Die Verwaltung 43 (2010), 349 (359 f.). 59 BVerwG, 13. 2. 1970, Buchholz 11 Art. 14 GG Nr. 106. 60 BVerwG, NVwZ 1986, 556, st. Rspr.; Emmenegger (Fn. 54), Rn. 129. 61 BVerwGE 56, 110 (137); BVerwG, VerwRspr 1979, 990 (991); DÖV 1980, 135 (137); BVerwGE 81, 95 (106). 62 BVerwGE 87, 62 (71); 102, 358 (361 f.); OVG Schl.-Hol., NVwZ 1994, 590 (591). Dies soll nach – zweifelhafter – Ansicht des BVerwG nach Einführung der altruistischen Verbandsklage im Jahre 2002 (§ 61 BNatSchG a.F., jetzt: § 64 BNatSchG) nicht mehr gelten, vgl. BVerwG, NVwZ 2002, 1103 (1105); 2004, 1486 (1488 f.); a.A. Schmidt/Kahl/Gärditz (Fn. 5), § 5 Rn. 23; wohl auch Erbguth/Schlacke, Umweltrecht, 6. Aufl. 2016, S. 141. 63 BVerwGE 85, 54 (56); 85, 368 (371); Sparwasser/Engel/Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, § 5 Rn. 15. Näher zum Ganzen: Greim (Fn. 3), S. 33 ff.; bündig: Schoch (Fn. 4), Rn. 304.
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Die Formel von der selbständigen Funktion der Verfahrensposition64 (als Voraussetzung für die Anerkennung eines absoluten Verfahrensrechts) wird fortan zur ständigen Rechtsprechung, wenn auch teilweise in leicht abgewandelter Form.65 Auf ihrer Basis werden absolute Verfahrensrechte mit sehr ähnlicher Begründung und zumeist unter Verweis auf die Leitentscheidung BVerwGE 44, 235 (239 f.) abgelehnt im fernstraßen-,66 wasserhaushalts-,67 luftverkehrs-68 oder abfallrechtlichen69 Fachplanungsrecht, aber auch in anderen Bereichen des Planungs- (z. B. Bauleitplanverfahren70) und Anlagenrechts71 (immissions-72 oder atomrechtliches73 Genehmigungsverfahren, UVP-Recht74). Bei alledem wird nicht zwischen einer unterlassenen Verfahrenshandlung, Schwarzbaukonstellationen und Verfahrensartfehlern75 differenziert76 und erfährt der von einer enteignungsrechtlichen Vorwirkung Betroffene keine Privilegierung.77 64
BVerwGE 44, 235 (239 f.). Vgl. BVerwG, DÖV 1980, 135 (137); DVBl. 1980, 996 (997 f.); BVerwGE 64, 325 (331 f.); VGH BW, NVwZ 1986, 663 (664); BVerwG, NVwZ-RR 1999, 556; s. auch Müller (Fn. 23), S. 99 Fn. 132. 66 BVerwG, VerwRspr 1979, 990 (991); DVBl. 1980, 996 (998); BVerwGE 64, 325 (331 f.); BVerwG, NVwZ-RR 1999, 556. 67 BVerwGE 62, 243 (246 f.); 78, 40 (41 f.). 68 BVerwG, NVwZ 2002, 346 (348); VGH BW, VBlBW 1994, 62; NVwZ-RR 2003, 412 (413). 69 VGH BW, NVwZ 1986, 663 (664). 70 BVerwG, DVBl. 1982, 1096. 71 Zum Ganzen: Czajka, FS Feldhaus, 1999, S. 507. 72 BVerwGE 85, 368 (377); OVG Rh.-Pf., LKRZ 2009, 227 (228); krit. dazu Bickenbach, LKRZ 2009, 206 (208 ff.). 73 BVerwGE 61, 257 (275); 75, 285 (291). 74 BVerwGE 98, 339 (361); 100, 238 (250); 100, 370 (376); 104, 236 (242); 122, 207 (213); 130, 83 (94); erläuternd Hien, NVwZ 1997, 422 (424 f.); offenlassend BVerwGE 132, 352 Rn. 16. Zum Ganzen berichtend Schlacke, UPR 2016, 478 (479); krit. Erbguth, UPR 2003, 321; Saurer (Fn. 9), S. 336 f. Zur Begründung beruft sich die h.M. auf den (angeblich) bloßen und unselbständigen Verfahrenscharakter der UVP, vgl. BVerwGE 100, 238 (242 ff.); 100, 370 (376); 104, 337 (342); BayVGH, DVBl. 1994, 1198; OVG Rh.-Pf., ZUR 1995, 146; Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 8 Rn. 14, 26, 32, 135; Schmidt-Preuß, DVBl. 1995, 485; Wahl/Dreier, NVwZ 1999, 606 (612). Dies trifft aber so jedenfalls nicht mehr zu, nachdem der EuGH jedenfalls der in Art. 3 UVP-Richtlinie enthaltenen Bewertungspflicht mit Recht auch materielle Gehalte zugesprochen hat, vgl. EuGH, Rs. C-50/09, Slg. 2011, I-873 Rn. 37 ff., 40 ff. (Kommission/Irland); Breuer/Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, 4. Aufl. 2017, Rn. 1195; Erbguth, NVwZ 2011, 935; ders., ZUR 2014, 515 (518 ff.); ders./Schlacke (Fn. 62), S. 105, 141 m. Fn. 86; Gärditz, ZfU 2012, 249 (256); Kahl, JZ 2012, 667 (671); Schmidt/Kahl/Gärditz (Fn. 5), § 4 Rn. 82, 95; Wemdzio, NuR 2008, 479 (482); differ. Bickenbach, LKRZ 2009, 206 (210). 75 Nach ganz h.M. gilt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Einhaltung der richtigen Verfahrensart hat, vgl. nur BVerwG, NVwZ 1991, 369; 2014, 365; Kluth (Fn. 5), § 60 Rn. 23; § 62 Rn. 180. Diese Auffassung ist jedoch zweifelhaft, vgl. v. Danwitz, DVBl. 1993, 422 (424 f.); Hufen (Fn. 54), § 14 Rn. 90. 76 Näher: Müller (Fn. 23), S. 99 ff., 102 f. m.w.N. 65
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Insgesamt wird damit die in der Frühphase der Bundesrepublik erkennbare Tendenz einer Beachtlichkeit von Verfahrensvorschriften im Zwei-Personen-Verhältnis für den Fall der Drittklage in ein Ausnahmeverhältnis verkehrt.78 Dem liegt auch eine Verschiebung bzw. Ausdifferenzierung hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs für das Vorliegen eines absoluten Verfahrensrechts zugrunde: Während in den 1950er und 1960er Jahren noch auf die dienende Funktion des Verfahrens zur Begründung des absoluten Gehalts einer Vorschrift abgestellt wurde, wird nunmehr im Drei-Personen-Verhältnis für die Einräumung eines absoluten Verfahrensrechts eine isolierte Betrachtung der jeweiligen Verfahrensvorschrift und deren Schutzzwecks gefordert.79 In der Rückschau wird für diese Phase mit Recht festgestellt, sie sei mit der Abkoppelung des drittschützenden Gehalts von Verfahrensvorschriften vom materiellen Recht der Funktion von Verfahren nicht gerecht geworden.80 IV. Die dritte Phase: Konstitutionalisierung des Verfahrensrechtsschutzes („Mülheim-Kärlich“) Einen beachtlichen Einfluss auf die Subjektivierung von Verfahrensrechten hatte in einer – sich mit der zweiten Phase teilweise überschneidenden – dritten Phase die Rechtsprechung des BVerfG.81 Man kann insoweit von einer Phase der Konstitutionalisierung des Verfahrensrechtsschutzes sprechen und diese – wiederum grob gesprochen – auf die 1970er und 1980er Jahre datieren.82 Die Lehre, dass der Grundrechtsschutz auch durch Verfahrensgestaltung zu erfolgen hat und das Verfahren beeinflusst, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist, wurde durch das BVerfG zunächst im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG83 und Art. 12 Abs. 1 GG84 entwickelt und erst danach auch auf die Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG85, Art. 16a GG86 sowie Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG87 übertragen. 77
BVerwGE 98, 339 (361 f.); Müller (Fn. 23), S. 103 f. Repräsentativ: BVerwGE 41, 58 (64 f.); 44, 235 (239 f.). 79 Zur Maßgeblichkeit des Schutzzwecks auch heute noch s. Kluth (Fn. 5), § 43 Rn. 10 ff. 80 Held, DVBl. 2016, 12 (14); vgl. auch Greim (Fn. 3), S. 44 f. 81 Müller (Fn. 23), S. 104 sieht in der Aufwertung des Verfahrens durch Teile der Lehre neben der in den 70er Jahren zunehmenden Regelungsdichte im Umweltrecht den Grund für den „Richtungswechsel“ des BVerwG in der hier sog. zweiten (restriktiveren) Phase. Zur insoweit festzustellenden Gegenläufigkeit der Entwicklung auch v. Danwitz, DVBl. 1993, 422 (423). 82 Vgl. Mangold/Wahl, Die Verwaltung 48 (2015), 1 (2 f.); Wollenschläger, VVDStRL 75 (2015), 187 (190 ff.). Zu älteren Wurzeln insbesondere im Gesetzesrecht Schmidt-Aßmann, AöR 142 (2017), 325 (340 ff.). 83 BVerfGE 37, 132 (141, 148); 46, 325 (334); 49, 220 (225); 51, 150 (156), st. Rspr. 84 BVerfGE 39, 276 (296); 44, 105 (119 ff.); 45, 422 (430 ff.), st. Rspr. 85 BVerfGE 52, 214 (219); 53, 30 (65), st. Rspr. 86 BVerfGE 56, 216 (236), st. Rspr. 78
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Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Debatte stand und steht jedoch fast ausschließlich der Mülheim-Kärlich-Beschluss vom 20. Dezember 1979,88 welcher als eine der großen „landmark decisions“ des BVerfG einer ganzen Phase bundesrepublikanischer Rechtsentwicklung ihr „Label“ aufdrücken sollte.89 In diesem Beschluss führte das BVerfG aus: „Schutzfunktionen zugunsten Dritter haben grundsätzlich nur die Bestimmungen des materiellen Rechts. Vorschriften des behördlichen Verfahrens haben diese Funktion nur dann, wenn der der Rechtsnorm zugrundeliegende Schutzzweck gerade in der Wahrung der Anhörungsrechte oder Mitwirkungsrechte selbst liegt. Die für das verwaltungsbehördliche Verfahren […] vorgesehene Bekanntmachung und Beteiligung Dritter dient erkennbar der Ordnung des Verfahrens und soll die Genehmigungsbehörde in den Stand versetzen, alle für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen […].“90
In Abgrenzung zur Rechtsprechung des 4. Senats des BVerwG zu den absoluten Verfahrensfehlern91 hob das BVerfG hervor, „daß Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und daß die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist“92.
Weiterhin führten die Karlsruher Richter aus: „Das bedeutet nicht, daß jeder Verfahrensfehler in einem atomrechtlichen Massenverfahren bereits als Grundrechtsverletzung zu beurteilen wäre. Eine solche Verletzung kommt aber dann in Betracht, wenn die Genehmigungsbehörde solche Verfahrensvorschriften außer Acht läßt, die der Staat in Erfüllung seiner Pflicht zum Schutz der in Art. 2 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter erlassen hat.“93
Die „Mülheim-Kärlich-Doktrin“ wurde in der Wissenschaft überwiegend mit Zustimmung aufgenommen und löste verbreitet eine regelrechte Verfahrenseuphorie aus.94 Der Verfahrensgedanke wird so zu einer „Ordnungsidee kooperativer Gemeinwohlkonkretisierung“95 zwischen Staat und „mündigem“ Bürger. Die teilweise Wirkungslosigkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes sei durch einen wirkungsvollen Verfahrensschutz respektive, wie frühzeitig und bis heute richtungweisend postuliert 87
BVerfGE 63, 131 (143); 65, 1 (58 f.), st. Rspr. BVerfGE 53, 30. 89 Vgl. Bredemeier, Kommunikative Verfahrenshandlungen im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2007, S. 296 f.; Brönneke, Umweltverfassungsrecht, 1999, S. 362 ff. 90 OVG Rh.-Pf., 3. 5. 1977 – I B 15/77 –, Rn. 36 – juris, unter Verweis auf BVerwGE 41, 58 (65). 91 BVerfGE 53, 30 (63 f.) unter Bezugnahme auf BVerwGE 41, 58 (63 ff.). 92 BVerfGE 53, 30 (65). 93 BVerfGE 53, 30 (65 f.). 94 Berichtend Pünder (Fn. 7), § 13 Rn. 7. 95 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 109 Rn. 4. 88
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wurde, einen „status activus processualis“ (Peter Häberle)96 zu kompensieren. In der Folge des Mülheim-Kärlich-Beschlusses erschienen zahlreiche Schriften zum Themenkomplex Verwaltungsverfahren und Grundrechtsschutz.97 Neben dem Grundrechtsschutz im Verfahren98 gebührte die Aufmerksamkeit vor allem der weiteren Ausbuchstabierung der Idee eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren. Zum Teil wurde aber auch vor einem voreiligen Rückgriff auf die Grundrechte gewarnt und verfassungsgebotene Verfahrensinstitute vorrangig aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet.99 Am Ende der dritten Phase kann als Konsens gelten, dass das Verfahren aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Determination einen Mindeststandard zu wahren hat,100 umgekehrt aber auch nicht jeder Verfahrensverstoß als Grundrechtsverletzung zu qualifizieren ist.101
96 Grundlegend und den Mülheim-Kärlich-Beschluss damit mit vorbereitend Häberle, VVDStRL 30 (1971), 43 (80, 86 ff.). Der „status activus processualis“ wurde in der Folge breit rezipiert und ist heute weithin anerkannt, vgl. stellv. Stober, in: Wolff/Bachof/ders./Kluth, Verwaltungsrecht I, 13. Aufl. 2017, § 32 Rn. 23 f. Wegbereitend in der Prä-Mülheim-KärlichPhase auch Hesse, EuGRZ 1978, 427 (434 ff.). 97 Diese können hier bei weitem nicht alle aufgezählt werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei daher zunächst hingewiesen auf grundlegende Monografien: Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981; Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, 1984; Hill, Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht, 1986; Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 1. Aufl. 1986; Lerche/Schmitt Glaeser/ Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984. Wichtige Aufsätze aus dieser Zeit stammen von Bethge, NJW 1982, 1; Grimm, NVwZ 1985, 865; ders., JZ 1986, 30; Hufen, NJW 1982, 2160; ders., DVBl. 1988, 69; Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60; Ossenbühl, DÖV 1981, 8; ders., NVwZ 1982, 465; Redeker, NJW 1980, 1593. Vgl. auch noch Geist-Schell, Verfahrensfehler und Schutznormtheorie, 1988; Hoffmann-Riem, VVDStRL 40 (1982), 187 (211 ff., 220 ff.); Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 373 ff.; Pietzcker, VVDStRL 41 (1983), 193 (207 ff.); Wahl, VVDStRL 41 (1983), 151 (166 ff.). Zusammenfassend Bredemeier (Fn. 89), S. 276 ff.; Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 791 ff. 98 Instruktiv: Held (Fn. 97), S. 64 f., 161 ff., 241. 99 Schmidt-Aßmann (Fn. 95), § 109 Rn. 28 unter Verweis auf BVerfGE 60, 253 (297); vgl. aber jetzt auch ders., AöR 142 (2017), 325 (347). Aus unterschiedlichen Gründen krit. zur grundrechtlichen Aufladung des Verfahrens Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (83 ff.); Rauschning, DVBl. 1980, 831 (832); Dolde, NVwZ 1982, 65 (68 ff.); Ossenbühl, DÖV 1981, 8 (9); Schenke, VBlBW 1982, 313 (319). 100 Exemplarisch BVerfGE 56, 216 (242). Aus dem Schrifttum: Ramsauer (Fn. 11), Einführung I Rn. 21; ähnlich Hufen, NJW 1982, 2160 (2168); Ossenbühl, NVwZ 1982, 465 (470). 101 Grimm, NVwZ 1985, 865 (870 f.); Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 8 Rn. 69; vgl. auch differ. Hill (Fn. 97), S. 233 ff.; Schoch, Die Verwaltung 25 (1992), 21 (26).
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V. Die vierte Phase: Die relativen Verfahrensrechte des 7. Senats des BVerwG und deren Verhältnis zur Rechtsprechung des 4. Senats des BVerwG Auch als Antwort auf den Mülheim-Kärlich-Beschluss entwickelt der 7. Senat des BVerwG in einer vierten Phase sog. relative Verfahrensrechte, deren Zweck in der bestmöglichen Verwirklichung des materiellen Rechts besteht. Danach kommt es für die subjektiv-rechtliche Erheblichkeit des Verfahrensfehlers im Rahmen der Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO) darauf an, ob sich aus dem Vortrag des Klägers ergibt, dass er sich auf dessen materielle Rechtsposition ausgewirkt haben könnte, wobei die Beeinträchtigung nicht offensichtlich und eindeutig ausgeschlossen sein darf.102 Die Bedeutung der relativen Verfahrensrechte beschränkt sich damit auf eine reduzierte Substantiierungslast hinsichtlich der Behauptung materieller Betroffenheit103 – eigenständige Klagerechte begründen sie dagegen nicht.104 Auf Ebene der Begründetheit wird für das Bestehen eines Aufhebungsanspruchs (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO) zumindest die konkrete Möglichkeit gefordert, dass der Verfahrensfehler sich auf die Sachentscheidung ausgewirkt hat; die bloß abstrakte Möglichkeit einer anderen Entscheidung genüge dagegen nicht.105 Der Ansatz des 7. Senats des BVerwG unterscheidet sich grundlegend von dem des 4. Senats,106 und zwar sowohl hinsichtlich der Herleitung als auch des Prüfungsprogramms.107 Während der 4. Senat die Entwicklung von subjektiven Verfahrens102 BVerwGE 61, 256 (275); 75, 285 (291 f.); 85, 368 (375); OVG NRW, ZUR 2008, 97; Breuer, FS Sendler, 1991, S. 382 (387 f.); Held, DVBl. 2016, 12 (14); Schoch (Fn. 4), Rn. 170 f.; s. auch Ladenburger (Fn. 6), S. 361, 371; Quabeck (Fn. 9), S. 57 ff. Zu restriktiv Wahl/Schütz (Fn. 20), Rn. 78, für die das Verfahrensrecht „in hervorgehobener, qualifizierter Weise“ vom Gesetzgeber eingeräumt werden müsse: krit. hierzu mit Recht Hufen/Siegel, Fehler im Verwaltungsverfahren, 5. Aufl. 2013, Rn. 850; Scherzberg, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 12 Rn. 24. Eine Qualifizierung von Verfahrenspositionen als drittschützend (relative Verfahrensrechte) erfolgte bislang nur im Atomverfahrensrecht (BVerfGE 53, 30 [59 ff.]; BVerwGE 61, 256 [275]; 75, 285 [291 f.]) und in Bezug auf § 10 Abs. 2 S. 2 BImSchG (BVerwG, NJW 1983, 1507 [1508]; differ. BVerwGE 85, 368 [373 ff.]), vgl. Sparwasser/Engel/Voßkuhle (Fn. 63), § 5 Rn. 16. 103 BVerwGE 75, 285 (291 f.); 117, 93 (115); BVerwG, NJW 1983, 1507 (1508); SchmidtPreuß (Fn. 2), S. 566; Schwerdtfeger, Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz unter dem Einfluss der Aarhus-Konvention, 2010, S. 76; Sparwasser/Engel/Voßkuhle (Fn. 63), § 5 Rn. 16; Wahl/Schütz (Fn. 20), Rn. 75. 104 Held, DVBl. 2016, 12 (15); Quabeck (Fn. 9), S. 56 f., 70. Dazu, dass dies jedenfalls für das Umweltrecht vor dem Hintergrund der Europäisierung zweifelhaft ist, s. u. VII. 105 BVerwGE 100, 238 (252); 141, 171 Rn. 68; BVerwG, NVwZ 1996, 1011; 2015, 79 Rn. 7; 2016, 844 Rn. 39; Held, NVwZ 2012, 461 (463 f.); Schoch (Fn. 4), Rn. 302; Sparwasser/Engel/Voßkuhle (Fn. 63), § 4 Rn. 202; strenger BVerwG, NVwZ 2004, 1486 (1488): „konkrete Wahrscheinlichkeit“ einer anderen Entscheidung; wieder anders Schmidt-Preuß (Fn. 2), S. 526 („hinreichende Wahrscheinlichkeit“, dass ordnungsgemäße Verfahrensdurchführung zu einer Verbesserung der materiell-rechtlichen Position des Dritten geführt hätte). 106 s. o. III. 107 Quabeck (Fn. 9), S. 54 (m. Fn. 238), 60; Wahl/Schütz (Fn. 20), Rn. 74.
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rechten aus materiellem Recht verneint und bemüht ist, die tragenden Erwägungen vom materiellen Recht gerade abzukoppeln,108 knüpft der 7. Senat ausdrücklich an die Mülheim-Kärlich-Rechtsprechung an109 und entwickelt daraus ein System, das durch sein differenziertes Prüfungsprogramm mehr Flexibilität und Einzelfallgerechtigkeit bietet. So eröffnet etwa die Bejahung der Klagebefugnis unter den vom 7. Senat für relative Verfahrensrechte aufgestellten Voraussetzungen zwar den Rechtsschutz auf Zulässigkeitsebene, auf Begründetheitsebene steht mit dem Erfordernis der konkreten Möglichkeit der Kausalität für die materielle Entscheidung aber ein Korrektiv zur Verfügung, welches dem Gericht ausreichenden Spielraum belässt. Folgt man dagegen dem 4. Senat, so bestehen keine vergleichbaren Spielräume; auf der Grundlage der Judikatur des 4. Senats führt vielmehr die Feststellung eines Verstoßes gegen ein absolutes Verfahrensrecht ohne Weiteres zur Begründetheit der Klage. Die vom 7. Senat entwickelte Lehre der relativen Verfahrensrechte hat sich in der Folge innerhalb des Gerichts weitgehend durchgesetzt; insbesondere der 9.110 und 11. Senat111 schlossen sich ihr an. Für den 4. Senat gilt dies nicht in gleicher Weise.112 Im Schrifttum wurden die Konzepte des 4. und 7. Senats ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit gleichwohl zu einem einheitlichen System einer aufeinander bezogenen Stufenfolge von relativen und absoluten Verfahrensrechten amalgamiert.113 VI. Die fünfte Phase: Abwertung des Verfahrens im Zuge der sog. Beschleunigungsgesetzgebung In den 1990er Jahren trat mit Blick auf das Verfahren eine Phase der Ernüchterung ein. Vorwiegend auf politischer Ebene wurde dem Gestattungsverfahren (insbesondere bei Infrastrukturvorhaben im Zusammenhang mit der deutschen Einheit) ein unangemessen verzögerndes und den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdendes Potential attestiert.114 Die Schlagworte der Debatte kehrten sich nun um und lauteten 108
Vgl. dazu die Kritik von Greim (Fn. 3), S. 41 ff. (45); Müller (Fn. 23), S. 198 f. BVerwGE 61, 256 (275). 110 BVerwG, NuR 2013, 184 Rn. 14; NVwZ 2014, 365 Rn. 3; das Konzept des 4. Senats bezüglich absoluter Verfahrensrechte anerkennend BVerwG, BeckRS 2012, 50133 Rn. 6 f. 111 BVerwG, NVwZ-RR 1999, 725 (726). 112 Vgl. etwa BVerwG, NVwZ-RR 1999, 556. S. zum Ganzen auch Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsakts, 2006, S. 64 f.; Quabeck (Fn. 9), S. 54. 113 Vgl. Müller (Fn. 23), S. 87 ff.; Wahl/Schütz (Fn. 20), Rn. 73 f.; zustimmend Kleesiek, Zur Problematik der unterlassenen Umweltverträglichkeitsprüfung, 2010, S. 49. 114 Vgl. Bericht der Unabhängigen Expertenkommission zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, in: Bundeswirtschaftsministerium (Hrsg.), Investitionsförderung durch flexible Genehmigungsverfahren, 1994, S. 37 ff., 171 ff. Zusammenfassend und m.w.N. Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (6 ff.). 109
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fortan: Beschleunigung, Deregulierung, schlanker Staat, Privatisierung, Globalisierung etc. Getragen von diesem herrschenden „Zeitgeist“ normiert der Gesetzgeber in den 1990er Jahren zahlreiche Genehmigungsverfahren ohne Öffentlichkeitsbeteiligung115 und wandelt präventive Erlaubnisvorbehalte in bloße Anzeigepflichten oder Anmeldevorbehalte um.116 Parallel dazu wird der Rechtsschutz gegen behördliche Entscheidungen, insbesondere unter verfahrensrechtlichen Aspekten, eingeschränkt. Dies betrifft vor allem die – § 44a S. 1 VwGO funktional ergänzende – Ausweitung von Heilungs- und Unbeachtlichkeitsvorschriften:117 Nach dem neuen § 45 Abs. 2 VwVfG ist die Heilung der in Abs. 1 aufgezählten Verfahrensfehler seitdem grundsätzlich118 bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz möglich. Die Voraussetzungen für die Annahme der Unbeachtlichkeit eines Verfahrensverstoßes (§ 46 VwVfG) wurden durch Aufnahme des Offensichtlichkeitskriteriums weiter gelockert.119 Korrespondierend mit diesen Entwicklungen auf Legislativebene werden subjektive Verfahrensrechte von der Rechtsprechung unter dem Topos der dienenden Funktion eng und Heilungsmöglichkeiten bzw. Unbeachtlichkeitsvorschriften großzügig ausgelegt.120 So wird § 45 Abs. 1 VwVfG analog auf dort nicht genannte Verfahrensfehler (z. B. unterbliebene Öffentlichkeitsbeteiligung) angewendet121 oder – entgegen dem Wortlaut – in § 46 VwVfG weiterhin ein Erfordernis der „konkreten Möglichkeit“ der positiven Kausalität des Fehlers für das Ergebnis hineingelesen.122 Abgesehen vom Atomverfahrensrecht griffen die Verwaltungsgerichte den möglichen
115 s. nur VerkehrswegeplanungsbeschleunigungsG (1991); Investitionserleichterungs- und WohnbaulandG (1993); PlanungsvereinfachungsG (1993); GenehmigungsverfahrensbeschleunigungsG (1996). Dazu: Pünder (Fn. 7), § 13 Rn. 8; Schmitz/Wessendorf, NVwZ 1996, 955. 116 Dies betraf vor allem die Landesbauordnungen, vgl. Ortloff, NVwZ 1995, 112. 117 Zu der sich hieraus ergebenden, Verfahrensverstöße gegenüber der Rechtswidrigkeitsfolge weitgehend abschirmenden und damit den Verfahrensrechtsschutz marginalisierenden, verfassungs- und unionsrechtliche Rahmenvorgaben zu wenig beachtenden Kaskade an Bestimmungen mit Recht krit. Ekardt, NVwZ 2012, 530 (532); Hatje, DÖV 1997, 477; Hufen, JuS 1999, 313; Kluth (Fn. 5), § 58 Rn. 13; Quabeck (Fn. 9), S. 61 ff.; Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, 281 (288); Wahl, DVBl. 2003, 1285 (1292); s. auch Jochum, Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsprozessrecht, 2004, S. 144 ff. 118 Dies gilt ausnahmsweise dann nicht, wenn – wie etwa bei der UVP – der Zweck der Verfahrenshandlung nach der behördlichen Entscheidung nicht mehr erreicht werden kann, vgl. BVerwGE 131, 352 Rn. 26. 119 Diese effizienzgeleitete Relativierung der Verfahrensfehlerfolgen stieß im Schrifttum überwiegend auf Kritik, vgl. stellv. Hufen/Siegel (Fn. 102), Rn. 918 ff., 934 ff., 978 ff.; positiver dagegen Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (492). 120 Berichtend Schoch, Die Verwaltung 25 (1992), 21 (41 ff.); Erbguth, DÖV 2009, 921 (927 ff.). 121 BVerwGE 131, 352 (359); OVG NRW, NVwZ-RR 1995, 314; DVBl. 2010, 719 (720). 122 BVerwGE 98, 339 (361 f.); 130, 83 (94 f.); 141, 171 Rn. 68; BVerwG, NVwZ 2012, 448 Rn. 39; 2015, 79 Rn. 7; 2016, 844 Rn. 39; s. auch die Nachweise in Fn. 105.
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verfahrensfreundlichen Impuls von „Mülheim-Kärlich“ kaum auf, sondern ließen diesen – im Gegenteil – an der eigenen restriktiven Dogmatik weitgehend abperlen. VII. Die sechste Phase: Internationalisierung und Europäisierung der Lehre der subjektiven Verfahrensrechte Bereits im Jahre 2005 stellte der Jubilar fest: „Die großen Herausforderungen und innovativen Gestaltungsprozesse für das Verfahrensrecht sind nicht hausgemacht, sondern eine Folge völker- und europarechtlicher Entwicklungen.“123 Diese Einschätzung war zutreffend und gilt heute erst recht.124 Die Phase der „Prozeduralisierung durch Europäisierung“ dauert mittlerweile über 30 Jahre und kann ihrerseits bereits weiter unterteilt werden: Die erste Teilphase der Europäisierung des deutschen Verfahrensrechts („Europäisierung I“) setzt Mitte der 80er Jahre ein und ist in erster Linie mit den Stichworten UVP-Richtlinie (1985)125 und IVU-Richtlinie (1996)126 verbunden.127 Die zweite, noch intensivere Teilphase („Europäisierung II“) beginnt in den 2000er Jahren. Die seitdem andauernde „Reanimation des Verfahrensrechts“128 wird zum einen angestoßen durch die Umsetzung der UVP-Änderungsrichtlinie sowie der SUP-Richtlinie (2001) in das deutsche Recht (Artikelgesetz [2001], Europarechtsanpassungsgesetz Bau [2004])129. Als hauptsächlicher Motor forcierter Prozeduralisierung wirkt jedoch die Aarhus-Konvention (AK) (1998)130 sowie die EG-ÖffentlichkeitsbeteiligungsRichtlinie (2003).131 Letztere führt in Umsetzung von Art. 9 Abs. 2 AK132 zur Auf123
Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (492). Vgl. zuletzt etwa gleichsinnig Gurlit, VVDStRL 70 (2011), 227 (267): „Modernisierungspotential offeriert einmal mehr das Europarecht.“ 125 Später: UVP-Änderungsrichtlinie (1997). Zum Ganzen erhellend Saurer (Fn. 9), S. 336 ff. 126 Später: Kodifizierte Fassung v. 2008 (Richtlinie 2008/1/EG), nunmehr sog. Industrieemissions-Richtlinie – IE-Richtlinie (RL 2010/75/EU). 127 Dagegen gehört die Umweltinformations-Richtlinie (1990/2003) bzw. das zu deren Umsetzung erlassene UIG streng genommen nicht in diesen Kontext, da § 3 UIG einen materiellen Anspruch regelt. 128 Ziekow, NVwZ 2005, 263. 129 Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (490); Schmidt-Aßmann (Fn. 4), Kap. 6 Rn. 150; zur SUP: Schink, NVwZ 2005, 615. 130 Sie hat – wie Saurer (Fn. 9), S. 339, zutreffend anmerkt – die Verfahrenssubjektivierung „noch einmal auf eine neue Stufe gehoben“. Vgl. auch Karge, Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz im System des deutschen Verwaltungsprozessrechts, 2010, insbes. S. 90 ff.; allg. grundlegend Wiesinger, Innovation im Verwaltungsrecht durch Internationalisierung, 2013, S. 31 ff., 117 ff., 199 ff., 322 ff. 131 Im Überblick: Guckelberger, JA 2014, 647 (651 ff.). 132 Zu dem – in seiner Reichweite noch offenen – Potential auch von Art. 9 Abs. 3 AK nicht nur zugunsten von Verbänden (Stichwort: prokuratorische Klagerechte gem. § 42 Abs. 2 Hs. 2 124
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nahme von Art. 10a (jetzt: Art. 11) UVP-Richtlinie und Art. 15a IVU-Richtlinie (jetzt: Art. 25 IE-Richtlinie), die in Deutschland durch das – später mehrfach novellierte – UmwRG (2006) transformiert werden. § 4 (Abs. 3 i.V.m. Abs. 1) UmwRG statuiert seitdem nach h.M.133 eine (nur) von der Kausalitätsprüfung gem. § 46 VwVfG und dem Rechtswidrigkeitszusammenhang befreiende Spezialvorschrift, die insoweit (d. h. auf Ebene der Begründetheit, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO) die in § 4 Abs. 1 UmwRG genannten Verfahrensfehler zu absoluten Verfahrensfehlern macht, indem sie einen absoluten Aufhebungsanspruch anordnet. Eine starke Gegenansicht in Rechtsprechung134 und Schrifttum135 will jedoch mit guten Gründen bei einer solchen – einen Systembruch darstellenden136 – „kupierten“ Verabsolutierung der Verfahrensfehler nur auf Begründetheitsebene nicht stehen bleiben, sondern allen Verfahrensvorschriften im Anwendungsbereich von Art. 11 UVP- und Art. 25 IERichtlinie auch die Qualität von absoluten Verfahrensrechten auf Zulässigkeitsebene (§ 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO) zuerkennen; dies würde auch faktische „spill over“-EfVwGO; dazu: BVerwGE 147, 312 Rn. 46; Masing, GVerwR I [Fn. 16], Rn. 112 ff., 119, 128; Schmidt-Aßmann [Fn. 3], S. 113 ff.; zu weitgehend Franzius, EurUP 2014, 283 [288 ff., 290 ff.]; krit. Kahl, JZ 2014, 722 [730]; differ. Schlacke, NVwZ 2014, 11 [16]), sondern theoretisch auch zugunsten des Einzelnen neue subjektive Verfahrensrechte zu begründen, s. Gärditz, NVwZ 2014, 1 (6); Held, DVBl. 2016, 12 (17); Schink, DÖV 2012, 622 (624); zusammenfassend Seifert, ZEuS 2016, 49. Dem näher nachzugehen, wäre indes ein eigenes Thema. Angezeigt ist aber zumindest der Hinweis, dass Art. 9 AK, Art. 11 UVP-Richtlinie nach ihrem Wortlaut und ihrer Systematik insoweit eine einseitige Privilegierung (nur) der Umweltverbände und damit eine Ungleichbehandlung von Einzelnen zumindest zulassen, wenn nicht sogar darauf ausgerichtet sind, vgl. Skouris, DVBl. 2016, 937 (942) mit dem zutreffenden Hinweis, eine solche Ungleichbehandlung sei „systemimmanent“. 133 BVerwG, NVwZ 2012, 573 Rn. 20 ff.; BauR 2013, 2014 Rn. 10; NVwZ 2014, 367 Rn. 21 ff.; BVerwGE 148, 353 Rn. 41; 151, 138 Rn. 34 f.; BVerwG, NVwZ 2016, 308 Rn. 23; VGH BW, NVwZ-RR 2014, 634 Rn. 41 ff. (45, 50); 30. 10. 2014 – 10 S 3450/11 – juris, Rn. 40; BayVGH, ZUR 2017, 309 (310); HessVGH, 2. 3. 2015, Az. 9 B 1791/14, Rn. 9 – juris; OVG Nds., NuR 2013, 132 (133); Appel, NVwZ 2010, 473 (477 ff.); Beier, UPR 2016, 48; Haller, VBlBW 2017, 133 (141); Held, DVBl. 2016, 12 (19); Kment/Lorenz, EurUP 2016, 47 (54 f.); Ludwigs, NVwZ 2016, 314 (315); Rennert, DVBl. 2015, 793 (796); Siegel, DÖV 2012, 709 (715). 134 OVG NRW, NWVBl. 2014, 472 (473 f.); ZUR 2015, 492 (493 ff.); OVG LSA, NVwZ 2009, 340 (341); ähnlich VG Aachen, EurUP 2015, 70 Rn. 11 ff. 135 Franzius, UPR 2016, 281 (291); Gärditz, JuS 2009, 385 (390); ders. (Fn. 3), S. D 84; ders., NVwZ 2014, 1 (3); Gurlit, VVDStRL 70 (2011), 227 (267 m. Fn. 188); Kahl, JZ 2016, 666 (668 f.); Keller, NVwZ 2017, 1080 (1081); Kment, NVwZ 2007, 274 (276, 279); Murswiek/Ketterer/Sauer/Wöckel, Die Verwaltung 44 (2011), 235 (259 f.); Ogorek, NVwZ 2010, 401 (402 f.); Sauer, ZUR 2014, 195 (200); Scherzberg (Fn. 102), Rn. 26; Schlacke, ZUR 2006, 360 (362); dies., NVwZ 2014, 11 (15); dies., in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2013, § 4 UmwRG Rn. 42; Schlecht, Die Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern im deutschen Umweltrecht, 2010, S. 223 ff.; Schmidt/Kahl/Gärditz (Fn. 5), § 5 Rn. 24, 35 f.; Schoch (Fn. 4), Rn. 172 f.; Seibert, NVwZ 2013, 1040 (1045); Steiger, VerwArch 107 (2016), 497 (517); Ziekow, NVwZ 2007, 259 (261); ders., NuR 2014, 229 (234). 136 Vgl. Greim (Fn. 3), S. 120; Seibert, NVwZ 2013, 1040 (1045); Steiger, VerwArch 107 (2016), 497 (520) („Diskrepanz“). Von der h.M. wird dagegen auf die Vergleichbarkeit mit § 47 VwGO verwiesen, vgl. stellv. Held, DVBl. 2016, 12 (18).
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fekte jedenfalls für das Umweltrecht im Übrigen haben.137 Die Entstehungsgeschichte des UmwRG (bzw. seiner Novellen138) ist insoweit aber nicht eindeutig139 und der EuGH hat sich zu dieser Streitfrage bislang – mangels Gelegenheit – noch nicht geäußert;140 seine mittelbar einschlägige Judikatur141 ist insoweit interpretationsoffen. Den vorläufig letzten Baustein der Phase „Europäisierung II“ auf der Legislativebene bildet die Novelle der – zuvor im Jahre 2011 kodifizierten (Richtlinie 2011/92/EU) – UVP-Richtlinie vom 16. April 2014 (Richtlinie 2014/52/EU), deren Umsetzung in Deutschland mit Gesetz vom 4. Mai 2017 erfolgte, die aber mit Blick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand keine wesentlichen Neuerungen brachte.142 Die Europäisierungsphase betrifft freilich nicht nur die Gesetzgebung,143 sondern wird „begleitet“ von der Rechtsprechung des EuGH zum direkten Vollzug (EU-Eigenverwaltungsrecht, vgl. Art. 263 Abs. 2 Alt. 2 AEUV: „Verletzung wesentlicher Formvorschriften“), die sich – grob gesprochen – dahingehend zusammenfassen lässt, dass sie absolute (selbständig klagbare) Verfahrensrechte tendenziell großzügiger anerkennt als deutsche Verwaltungsgerichte für das nationale Recht.144 Konkret kann sich der Einzelne nach der Rechtsprechung des EuGH auf Verfahrensvorschriften berufen, sofern diese für ihn Beteiligungsrechte normieren oder den Schutz personalisierbarer Rechtsgüter durch einen zwingend vorgegebenen Verfahrensablauf
137 Vgl. auch Gärditz (Fn. 3), S. D 84, der von einer „Ausstrahlungswirkung auf den Verfahrensrechtsschutz insgesamt“ spricht, dabei aber primär § 46 VwVfG im Blick hat. 138 Berichtend Schlacke, ZUR 2013, 195; dies., UPR 2016, 478 (480 ff.); jüngste Novelle: G. zur Anpassung des UmwRG und anderer Vorschriften an europa- und völkerrechtliche Vorgaben v. 29. 5. 2017, BGBl. I S. 1298; dazu Schlacke, NVwZ 2017, 905 (speziell zu § 4 UmwRG n.F.: S. 910). 139 Die h.M. beruft sich auf BT-Drs. 16/2495, S. 7 f., 14; BT-Drs. 17/10957, S. 17, die Gegenansicht auf BT-Drs. 16/2495, S. 13; BT-Drs. 17/10957, S. 17. 140 Zur noch ausstehenden gerichtlichen Klärung: Hofmann, Die Verwaltung 50 (2017), 247 (252); ferner – aber zu krit. gegenüber dem EuGH – Dietz, UPR 2016, 469 (474). 141 EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 Rn. 54 ff., 62 ff. (Wells); Rs. C-72/12, NVwZ 2014, 49 Rn. 46 ff., 52 ff. (Altrip); Rs. C-570/13, DVBl. 2015, 767 Rn. 36 ff., 46, 50 (Gruber); Rs. C-137/14, NVwZ 2015, 1665 Rn. 31 ff., 54 ff., 60 ff. (Kommission/Deutschland). 142 Im Überblick: Battis/Mitschang/Reidt, NVwZ 2017, 817; Schmidt/Kahl/Gärditz (Fn. 5), § 4 Rn. 76 ff. (78). 143 Zur vermehrten Schaffung absoluter Verfahrensrechte durch den EU-Gesetzgeber und zum darin zum Ausdruck kommenden erhöhten Eigenwert des Verfahrens in der EU Schoch, VBlBW 2013, 361 (369 f.). 144 So – mit Unterschieden im Detail – grundsätzlich aber übereinstimmend die ganz h.L., vgl. nur Classen, NJW 1995, 2457 (2459); Gärditz (Fn. 3), S. D 83; Guckelberger (Fn. 15), S. 158 ff.; Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (23 f.) (für Anhörungs- und Begründungspflichten); Kluth (Fn. 5), § 58 Rn. 40; Lepsius, Die Verwaltung, Beih. 10, 2010, 179 (186); Mangold/ Wahl, Die Verwaltung 48 (2015), 1 (11); Ramsauer (Fn. 11), § 46 Rn. 5a; Saurer (Fn. 9), S. 375 ff.; Schlacke, NVwZ 2014, 11 (17); Schmidt/Kahl/Gärditz (Fn. 5), § 5 Rn. 24; Schoch (Fn. 4), Rn. 173; Steiger, VerwArch 107 (2016), 497 (516, 518 f.); Wahl (Fn. 3), Rn. 122 ff.; Wollenschläger, VVDStRL 75 (2016), 187 (226 ff.), der aber mit Recht auch vor Überzeichnungen warnt.
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bezwecken.145 Soweit dies der Fall ist und die unionsrechtliche Bestimmung – wie im Regelfall – unmittelbar anwendbar ist, muss sie ungeachtet mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie aufgrund des Äquivalenzprinzips und vor allem des Effektivitätsprinzips146 auch im nationalen Recht durchsetzbar sein,147 sprich – isoliert – eine Klagebefugnis begründen können, wofür die Figur der relativen Verfahrensrechte jedenfalls im Umweltrecht auch bei unionsrechtskonformer Auslegung grundsätzlich strukturell nicht genügt, sondern eine breitere Anerkennung absoluter Verfahrensrechte als bisher erforderlich ist.148 VIII. Fazit Die deutsche Dogmatik der subjektiven Verfahrensrechte ist, dies hat unsere historische Tour d’Horizon gezeigt, nicht „in Stein gemeißelt“, sondern war zunächst viele Jahre im Fluss und entwickelte sich erst schrittweise, dabei teilweise auch zyklisch. Sie reagierte bei alledem bislang eher defensiv-zaghaft bzw. „minimalistisch“ auf externe „Irritationen“ (Konstitutionalisierung, Europäisierung).149 Gleichwohl weist sie noch immer – ungeachtet ihrer Pfadabhängigkeit150 (z. B. „dienende Funktion“ des Verfahrens151)152 – eine gewisse Offenheit, Flexibilität153 und damit Anpassungsfähigkeit auf, die unter dem Aspekt der unions-, insbesondere richtlinienkon145
Epiney/Sollberger (Fn. 17), S. 280; Guckelberger (Fn. 15), S. 158 ff.; Winter, NVwZ 1999, 467 (470); vgl. auch Kment, NVwZ 2012, 481 (482); differ. Saurer (Fn. 9), S. 336 ff.; weitergehend nun aber Epiney, EurUP 2017, 223 (232 f.). 146 Vgl. Art. 4 Abs. 3, 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV. Zu Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip: Franzius, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar EUV – GRC – AEUV, 2017, Bd. I, Art. 4 EUV Rn. 124 ff., 139; Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 4 Abs. 3 EUV Rn. 65, 79 ff. m.w.N. Zum Spannungsverhältnis zur mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie Saurer (Fn. 9), S. 325 f.; zur normativen Herleitung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie: s. u. Fn. 169. 147 Vgl. allg. auch Fehling (Fn. 9), Rn. 59; Franzius (Fn. 146), Art. 4 EUV Rn. 138 f., 141; Gärditz (Fn. 3), S. D 78 f.; Sommermann, DÖV 2002, 133 (133 f.); s. auch Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 3. Aufl. 2015, Rn. 107, 113. 148 Kahl/Ohlendorf, JA 2011, 41 (43); wohl auch Hofmann, Die Verwaltung 50 (2017), 247 (251 f.). A.A. Greim (Fn. 3), S. 243 ff.: europarechtskonforme Auslegung der relativen Verfahrensrechte. 149 Mit Recht krit. („Verteidigungshaltung“) Hofmann, EurUP 2015, 266 (271). 150 Zum Konzept der Entwicklungspfade im Recht grundlegend Wahl, JZ 2013, 369; vgl. ferner die Beiträge von Volkmann, Münkler und Hartmann, in: Wagner u. a. (Hrsg.), Pfadabhängigkeit hoheitlicher Ordnungsmodelle, 2016, 27; 29; 71. 151 BVerwGE 64, 325 (331 f.); 92, 258 (261), seitdem st. Rspr. bis heute. 152 Etwas zu weitgehend daher wohl Schlacke, NVwZ 2014, 11 (17): „dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens“ werde europarechtlich „abgelöst“ durch „ergebnislegitimierende Funktion“. Statt „abgelöst“ würde ich eher von „verstärkt ergänzt“ sprechen. 153 Ebenso allg. mit Blick auf die Schutznormlehre Schmidt-Aßmann (Fn. 3), S. 110 f.; Schoch (Fn. 4), Rn. 139, 173a; auch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG belässt dem Gesetzgeber hinsichtlich der Bestimmung des Kreises der Klagebefugten hinreichende Flexibilität, vgl. BVerfGE 22, 106 (110); Kloepfer (Fn. 101), § 8 Rn. 44; Skouris, NVwZ 1982, 233 (233 f.).
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formen Auslegung auch fortan unverzichtbar sein wird. Richtig verstanden wäre sie auch Voraussetzung dafür, über die bisherige „minimalistische“ Strategie der Europarechtsanpassung („eins zu eins“) hinausgehend im Interesse der Kohärenz des Europäischen Verwaltungsrechts die verfahrensfreundlicheren Wertungen der Unionsebene auch unabhängig vom Vorliegen einer Normkollision vorausschauend-aktiv aufzugreifen („spill over“-Effekt). An dem grundsätzlichen Telos des Verfahrens, Verwirklichungsmodus des materiellen Rechts zu sein, müsste und sollte sich dabei nichts ändern, sofern man hiermit nicht die – verfehlte – Vorstellung einer Geringwertigkeit des Verfahrens verbindet.154 Auch zukünftig kann ungeachtet aller Einflüsse des Völker-, Unions- und Verfassungsrechts155 nicht allein von einem Verfahrensrecht als solchem auf ein materielles subjektives öffentliches Rechts geschlossen werden.156 In der Tendenz wird es jedoch zu einem Prozess der (weiteren) Konvergenz157 (Schmidt-Preuß spricht von „Annäherung“158) des deutschen und des unionalen Verfahrensrechtsmodells kommen, ohne dass die deutsche Dogmatik der Klagebefugnis (Schutznormlehre159) oder des Aufhebungsanspruchs (Rechtswidrigkeitszusammenhang)160 geändert oder gar die Systementscheidung für die Verletztenklage (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) zugunsten eines Interessentenklagemodells aufgegeben werden müssen.161 Im Lichte des primärrechtlichen Effektivitätsprinzips, se154
Hierauf mit Recht hinweisend Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (490). Dazu, dass sich auch aus den Grundrechten (in concreto: Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) kein absoluter Aufhebungsanspruch ohne Rücksicht auf das materielle Recht ergibt, BVerfG, NVwZ-RR 2000, 487; Held, NVwZ 2012, 461 (464); Schmidt-Preuß, DVBl. 2000, 767 (771); a.A. wohl Scherzberg (Fn. 102), Rn. 26; Appel/Singer, JuS 2007, 913 (916). 156 Schmidt-Preuß (Fn. 2), S. 174 f., 520. Vgl. auch zum Atomrecht BVerwG, NVwZ 1989, 1168. 157 Vgl. mit Unterschieden im Einzelnen Epiney/Sollberger (Fn. 17), S. 303 ff.; Groß, Die Verwaltung 33 (2000), 415 (432 ff.); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 4 Rn. 544 f.; Schwarze, DVBl. 1996, 881; Sommermann, DÖV 2002, 133 (139 ff.). 158 Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (493). Ebenso bereits Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (29 ff., 31 ff.). 159 Zu deren Geltung auch für Verfahrensrechte, wenngleich gerade deren Auslegung unter dem Aspekt eines auf das Individualinteresse gerichteten Schutzzwecks häufig schwierig ist, Held, DVBl. 2016, 12 (14); Kluth (Fn. 5), § 43 Rn. 17 f.; Schmidt-Aßmann (Fn. 3), S. 122. Auch deshalb ist die vom Jubilar entwickelte „Konfliktschlichtungsformel“ weiterhin hilfreich (s. o. Fn. 3), zumal unter Berücksichtigung der Gebote verfassungs- und unionsrechtsfreundlicher bzw. -konformer Auslegung, vgl. insbes. zur Wirkung der Grundrechte auf einfachgesetzliche Verfahrensnormen Schmidt-Preuß (Fn. 2), S. 41 ff., 49 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Dez. 2016, Art. 19 Abs. 4 Rn. 123 ff.; Wahl, DVBl. 1996, 641 (642, 647 f.); Ramsauer, AöR 111 (1986), 501 (527 ff.); prononciert Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 278 ff. 160 EuGH, Rs. C-137/14, NVwZ 2015, 1665 Rn. 32 ff. (Kommission/Deutschland); Ludwigs, NJW 2015, 3484 (3485). 161 Wie hier Epiney, VVDStRL 61 (2002), 362 (413); Fellenberg, AnwBl. 2016, 648 (649); Frenz, NuR 2015, 832 (833); Gärditz, NVwZ 2014, 1 (3); ders. (Fn. 3), D 20 ff. (D 27 f.), D 84; Guckelberger (Fn. 15), S. 67 ff. (69 ff.), 165 f.; Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (29, 34 ff.); Kluth (Fn. 5), § 43 Rn. 27 ff.; Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (494 f.) (unter Hinweis auf das 155
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kundärrechtlicher Vorgaben sowie der großzügigeren Rechtsprechung des EuGH wird dies dazu führen, dass es in Deutschland im Bereich des (unmittelbaren oder mittelbaren) indirekten Vollzugs von Unionsrecht (Unionsverwaltungsrecht) zu einer vorsichtigen Aufwertung162 der absoluten Verfahrensrechte, jedenfalls im Bereich des Umweltrechts, kommt,163 ohne dass hiermit ein Paradigmenwechsel dergestalt verbunden ist, dass Verfahrensrechte zukünftig reinen Selbstwert in dem Sinne besitzen werden, dass sie „absolut“ als subjektive Rechte zu qualifizieren sind.164 Mit anderen Worten: Die Akzessorietät des subjektiven Verfahrensrechts zur Verwirklichung des materiellen Rechts wird zwar infolge der Einwirkungen des EU-Rechts tendenziell, jedenfalls bereichsspezifisch, eine Lockerung erfahren, aber keine Beseitigung.165 Grundsätzlich wird es zwar dabei bleiben, dass kein selbständig durchsetzbares Verfahrensrecht besteht,166 das Verhältnis zwischen relativen und absoluten Verfahrensrechten wird sich aber „etwas mehr zu den Letzteren hin“ verschieben.167
„Optionsmodell“ gem. Art. 11 Abs. 1 UVP-Richtlinie, Art. 25 Abs. 1 IE-Richtlinie); Rennert, DVBl. 2015, 793 (797 ff.); Schmidt-Aßmann, EurUP 2016, 360 (366); Schoch (Fn. 4), Rn. 161, 173a; ders., VBlBW 2013, 361 (365); Stern, JuS 1998, 769 (771); Wahl (Fn. 3), Rn. 128; Wollenschläger, VVDStRL 75 (2016), 187 (224 ff.); Steiger, VerwArch 107 (2016), 497 (524) („organische und systemkonforme Entwicklung“); Ziekow, NuR 2014, 229 (234); für die Klagebefugnis ebenso, anders aber für den Rechtswidrigkeitszusammenhang Hofmann, Die Verwaltung 50 (2017), 247 (251 f., 263 ff.). Für die Integration der Schutznormlehre in eine Interessentenklage Schlacke, DVBl. 2015, 929; vgl. auch Kluth, a.a.O., § 43 Rn. 29 („Interessentennormtheorie“); für einen Abschied von der Verletztenklage (Schutznormtheorie) zugunsten der Interessentenklage Berkemann, DVBl. 2011, 1253 (1257, 1261); Bruckert, NuR 2015, 541 (546); Classen (Fn. 15), S. 82 ff.; Ekardt, NVwZ 2012, 530 (534); Epiney, EurUP 2017, 223 (232 f.); Wegener, JZ 2016, 829 (833); ders. (Fn. 17), S. 284 f.; Winter, NVwZ 1999, 467 (472 f.). Zur Abgrenzung von Verletzten- und Interessentenklage: Epiney, NVwZ 2014, 465 (467 f.); Kloepfer (Fn. 101), § 8 Rn. 40 ff.; grundlegend Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozess, 1979. 162 Gärditz (Fn. 3), S. D 79 spricht in anderem Kontext (Kontrolldichte) von einem „sanften Effektuierungsdruck des Unionsrechts“ und einer „gewisse(n) Akzentverschiebung“ statt einem „Funktionswandel“. Dies gilt auch mit Blick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand. 163 Ähnlich Jarass (Fn. 7), S. 473; Saurer (Fn. 9), S. 376 f.; Schoch (Fn. 4), Rn. 172 ff. (173a); für das Umwelt- und Vergaberecht auch Fehling (Fn. 9), Rn. 60 ff. Vgl. ferner bereits o. Fn. 144. 164 Hiergegen allg. und mit Recht Scherzberg (Fn. 102), Rn. 24; Schmidt-Aßmann (Fn. 159), Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 151; Schoch, VBlBW 2013, 361 (368). 165 So zutreffend Siegel (Fn. 13), Rn. 224 f.; zu weitgehend dagegen Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233 (1235). 166 So die bislang ganz h.M., vgl. BVerwGE 85, 368 (377); 98, 339 (361 f.); BVerwG, NVwZ-RR 1999, 556; v. Danwitz, DVBl. 1993, 422 (423); Schoch (Fn. 4), Rn. 170; Wahl/ Schütz (Fn. 20), Rn. 73; Müller (Fn. 23), S. 101. 167 Guckelberger (Fn. 15), S. 166. Vgl. auch dies., Verhandlungen des 71. DJT, Bd. II/1, 2017, S. N 52 f.
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IX. Ausblick Perspektivisch sind mit Blick auf den wechselseitigen168 Annäherungsprozess zwischen europäischer und deutscher Dogmatik der subjektiven Verfahrensrechte gegenwärtig vier Fragen offen: Erstens (absolute Klagerechte aus § 4 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 UmwRG): Wird der EuGH die bisherige restriktive (die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie169 betonende170 und auf „Europäisierungsbegrenzung“ zielende) Judikatur des BVerwG akzeptieren, die Wirkung von § 4 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 UmwRG allein auf die eines, § 46 VwVfG insoweit171 als lex specialis verdrängenden, absoluten (ergebnisunabhängigen) Sanktionsanspruchs auf Begründetheitsebene zu beschränken oder wird er hierin einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 AK, Art. 11 Abs. 1 („und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit“), Abs. 3 S. 1 („Ziel, der betroffenen Öffentlichkeit einen weiten Zugang zu Gerichten zu gewähren“) UVP-Richtlinie i.V.m. dem Effektivitätsprinzip sehen?172 Dafür, dass die Position des BVerwG nicht überzeugt, sprechen bereits bei rein nationalrechtlicher Auslegung gute Gründe, insbesondere der umfassende Wortlaut des § 4 Abs. 3 UmwRG mit dem uneingeschränkten Verweis auf die Beteiligungsfähigkeit gem. § 61 Nr. 1 und 2 VwGO, der auf die intendierte Rügefähigkeit sämtlicher Verfahrensfehler gem. § 4 Abs. 1 UmwRG ohne das Erfordernis der Geltendmachung einer Verletzung in eigenen (materiellen) Rechten hinweist (parallel zur Situation bei Verbänden).173 Auch bei wertender Gesamtbetrachtung der bisherigen EuGH-Judikatur zur UVP-Richtlinie bzw. zum UmwRG wird man es für wahrscheinlich halten müssen, dass der Gerichtshof die erste sich bietende Gelegenheit (insbes. Vorabentscheidungsverfahren) nutzen wird, um auch mit Blick auf die Rügefähigkeit von Verfahrensrechten einen „Pflock einzurammen“.174 Der nächste Europäisierungsschub175 mit Blick auf § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO dürfte 168 Dazu, dass der Annäherungsprozess im Bereich des europäischen Verwaltungsprozessrechts generell und der Verfahrensrechte speziell kein ein-, sondern ein wechselseitiger ist, Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (29 ff., 31 ff.); Sommermann, DÖV 2002, 133 (143). 169 Vgl. Art. 291 Abs. 1 AEUV, Art. 11 Abs. 1 und 3 S. 1 UVP-Richtlinie. 170 Gerade in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH eine verstärkte Betonung der nationalen Verfahrensautonomie erkennend: Held, DVBl. 2016, 12 (20 f.) m.w.N.; gleichsinnig Skouris, DVBl. 2016, 937 (941 f.). 171 Andere Verfahrensfehler als die in § 4 Abs. 1 UmwRG genannten sind „relative“, für die es beim Erfordernis konkreter Kausalität (§ 46 VwVfG) bleibt; vgl. nunmehr deklaratorisch § 4 Abs. 1a UmwRG; dazu BT-Drs. 18/5927, 9 f.; BVerwG, NVwZ 2016, 844 Rn. 41 f.; BVerwGE 155, 91 Rn. 36; Keller, NVwZ 2017, 1080 (1082 f.); Ludwigs, NJW 2015, 3484 (3486). 172 s. zum Meinungsstand die Nachweise in Fn. 133 ff. 173 Keller, NVwZ 2017, 1080 (1081). 174 In diese Richtung bereits GA Kokott, Schlussantr. in Rs. C-570/13, Rn. 53; dies./Sobotta, DVBl. 2014, 132 (136). 175 Zu den bisherigen: Berkemann, DVBl. 2016, 205, der mit Blick auf das UmwRG von einer „Querelle d’Allemand“ mit bislang drei Runden vor dem EuGH spricht. Vgl. auch Saurer (Fn. 9), S. 342 ff.
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dann bevorstehen. Wieder einmal, so der Eindruck, wartet die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit und tradierte Dogmatik in einer Art fatalistischer Verharrungsstarre auf einen (weiteren) Reformanstoß aus Luxemburg.176 Zweitens (absolute Klagerechte aus der UVP-Richtlinie): Unter Heranziehung der o.g. allgemeinen Voraussetzungen für die Anerkennung von rügefähigen Rechten des Einzelnen aus EU-Recht177 und unter Berücksichtigung der in den EuGH-Urteilen in den Rechtssachen Wells178 und Leth179 zum Ausdruck kommenden Tendenz wird man aber unabhängig von der Frage der Reichweite der Wirkung von § 4 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 UmwRG zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die wesentlichen Beteiligungsvorschriften der UVP-Richtlinie aufgrund ihres sehr engen, unmittelbaren und finalen Bezugs zu personalen Rechtsgütern (menschliche Gesundheit, Eigentum, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 3 UVPG)180 – entgegen der h.M.181 – im Zweifel für die sachlich-räumlich Betroffenen („betroffene Öffentlichkeit“ i.S.v. Art. 1 Abs. 2 lit. e UVP-Richtlinie)182 drittschützend (absolute Verfahrensrechte i.S.v. § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO) sind.183 Wenn der EuGH fordert, dass grundsätzlich jeder Verfahrensfehler im Anwendungsbereich der UVP- und IE-Richtlinie gericht-
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Vgl. auch mit ähnlicher Tendenz Meitz, ZUR 2014, 496 (499). s. o. Fn. 145 ff. 178 EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 Rn. 56 ff. (Wells). 179 EuGH, Rs. C-420/11, NVwZ 2013, 565 Rn. 32 (Leth). 180 s. Gärditz, JuS 2009, 385 (390); Greim (Fn. 3), S. 219 ff.; Held, DVBl. 2016, 12 (14); ders., NVwZ 2012, 461 (465). Zu weitgehend dagegen die Stimmen, die aufgrund des Konzepts funktionaler Subjektivierung des Einzelnen subjektive Verfahrensrechte unabhängig vom Betroffensein personaler Schutzgüter annehmen wollen, so etwa Kokott (Fn. 174), Rn. 48 ff.; dies./Sobotta, DVBl. 2014, 132 (136). 181 Zur Rspr. des BVerwG s. o. Fn. 74. Ebenso (allenfalls relative Verfahrensrechte) VGH BW, NVwZ-RR 2014, 634 Rn. 50; HessVGH, ZUR 2009, 87 (88 ff.); OVG NRW, 29. 8. 2012 – 2 B 940/12 – juris, Rn. 53 ff.; Appel, NVwZ 2010, 473 (474); Dolde, NVwZ 2006, 857 (861); Held, DVBl. 2016, 12 (14, 20 ff.); Spieth/Appel, NuR 2009, 312 (315 f.); Wahl/Schütz (Fn. 20), Rn. 214. 182 Zur Notwendigkeit eines solchen Qualifikationsmerkmals auf Ebene des persönlichen Schutzbereichs zur Vermeidung einer Interessenten- oder Popularklage ähnlich wie hier OVG NRW, ZUR 2015, 492 (495); Dietz, UPR 2016, 469 (474); Gärditz, NVwZ 2014, 1 (4 f.); Keller, NVwZ 2017, 1080 (1081); Seibert, NVwZ 2013, 1040 (1045); Stüer/Stüer, DVBl. 2014, 1601 (1604); enger: Greim (Fn. 3), S. 217 ff. Nach hier vertretener Ansicht kommt es darauf an, ob der Kläger in eigenen Belangen (z. B. Gesundheitsschutz, Eigentum) beeinträchtigt wird und in einem räumlichen Bezug zum Wirkungsbereich des Vorhabens steht. 183 OVG NRW, ZUR 2015, 492 (494); Erbguth/Schlacke (Fn. 62), S. 141 f.; Gärditz, JuS 2009, 385 (390); ders. (Fn. 20), § 42 VwGO Rn. 82; Hofmann, Die Verwaltung 50 (2017), 247 (251 f.); Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (26 ff.); Murswiek/Ketterer/Sauer/Wöckel, Die Verwaltung 44 (2011), 235 (250 ff.); Scheidler, NVwZ 2005, 863 (868); Schlacke, ZUR 2006, 360 (362); dies., in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, § 4 UmwRG Rn. 42; Schmidt/Kahl/Gärditz (Fn. 5), § 5 Rn. 24, 36; Schoch (Fn. 4), Rn. 172 ff., 312; Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233 (1235). Vgl. auch bereits BayVGH, NVwZ-RR 2000, 661 (662); OVG Rh.-Pf., NVwZ 2005, 1208 (1210 f.); tendenziell auch OVG NRW, NVwZ-RR 2007, 89 (95 f.). 177
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lich geltend gemacht werden kann,184 dann ist hieraus bei unionsrechtskonformer Auslegung im Lichte von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 47, 51 Abs. 1 S. 1 GRCh,185 Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV die Konsequenz zu ziehen, dass alle dem bestmöglichen Schutz grundrechtlich (insbes. Art. 2 Abs. 2 S. 1, 14 Abs. 1 GG) fundierter personaler Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) Dritter dienenden wesentlichen Verfahrensrechtspositionen des Unionsrechts (insbes. der UVP- und der IE-Richtlinie, vgl. speziell Art. 11 UVP-Richtlinie, Art. 25 IE-Richtlinie, Art. 9 Abs. 2 AK) im Interesse ihrer effektiven prozessualen Durchsetzung kategorial subjektive öffentliche Rechte („absolute Rechte“) sind, da sie die Rechtsmacht verleihen, ein bestimmtes Verhalten vom Staat verlangen zu können.186 Drittens (Reichweite der Prozeduralisierung): Inwieweit sind die verfahrensfreundlichen Impulse des Völker- und Unionsrechts nur sektorspezifischer Natur, sprich den Besonderheiten des Umweltrechts geschuldet, genauer gesagt, auf den Anwendungsbereich der UVP- und IE-Richtlinie beschränkt,187 bzw. drückt sich hierin eine in ihrer Bedeutung darüber hinaus weisende Linie aus, die auch für sonstige Bereiche des Besonderen Verwaltungsrechts (z. B. Wirtschaftsverwaltungsrecht, etwa Vergabe-188 oder Beihilferecht [Art. 108 Abs. 3 S. 1 und 3 AEUV]) von Relevanz ist?189 Kurzum: Wie groß ist am Ende die Tragweite der unionsrechtlich induzierten Prozeduralisierung des deutschen Verwaltungsrechts? Feststehen dürfte inso-
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EuGH, Rs. C-72/12, NVwZ 2014, 49 Rn. 48 (Altrip); vgl. auch a.a.O., Rn. 46, 52, 54 („Garantien“, „Rechte“); EuGH, Rs. C-240/09, NVwZ 2011, 673 Rn. 47, 50 (Slowakischer Braunbär); Rs. C-570/13, DVBl. 2015, 767 Rn. 40 ff. (Gruber), darin einen „Mittelweg“ des EuGH erkennend Guckelberger (Fn. 15), S. 170 f. Zur besonderen Bedeutung der AltripEntscheidung für die gerichtliche Kontrolle von UVP-Fehlern: Böhm, in: Ziekow (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Luftverkehrs-, Planfeststellungs- und Umweltrechts 2014, 2015, S. 65 (70 ff., 74 ff.); dies., UPR 2014, 201; Greim, NuR 2014, 81; vgl. aber auch zu verbleibenden Unklarheiten Bunge, NuR 2014, 305. 185 Zu diesen Normen als Hebel der Europäisierung: Epiney, EurUP 2017, 96 (97); allg. Reimer (Fn. 10), S. 81. 186 Wie hier Gärditz. NVwZ 2014, 1 (3); Gellermann, DVBl. 2013, 1341 (1345); Kahl, JZ 2014, 722 (732); Schoch, VBlBW 2013, 361 (369); Steiger, VerwArch 107 (2016), 497 (521 f.); Ziekow, NuR 2014, 229 (234); ders., NVwZ 2005, 263 (267) („Paradigmenwechsel“); Schlacke, NVwZ 2014, 11 (16 f.); Ogorek, NVwZ 2010, 401 (402 f.); allg. in der Tendenz auch v. Danwitz, DVBl. 1993, 422 (425). Zu Begriff und Arten des subjektiven (öffentlichen) Rechts statt aller Kluth (Fn. 5), § 43 Rn. 31 ff., 52 ff. m.w.N. 187 In diesem Sinne Classen, NJW 2016, 2621 (2624); Gärditz (Fn. 3), S. D 83, 85 ff.; ders., EurUP 2015, 196 (198); zurückhaltend auch Fehling, VVDStRL 70 (2011), 280 (309 f., 317 ff., 329); ders. (Fn. 9), Rn. 60 ff., 64 ff., 70 (Aufwertung des Verfahrens mit stärkerer Verfahrensformalisierung nur im Umwelt- und Vergaberecht); Stelkens (Fn. 37), EuR Rn. 222. 188 Dazu: Saurer (Fn. 9), S. 350 ff. m.w.N. 189 So in der Tendenz Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (8 ff.,19 ff.); Kim, EurUP 2017, 233 (242); Nöhmer, Das Recht auf Anhörung im europäischen Verwaltungsverfahren, 2013, S. 145 ff., 231 ff. (für die Anhörung); Schmidt-Aßmann (Fn. 4), Kap. 6 Rn. 150; Schoch, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 279 (311 ff.); Steiger, VerwArch 107 (2016), 497 (516, 523 f.).
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fern: Vor einer Totalgeneralisierung ist zu warnen; Differenzierung190 und genauere Forschung tun not. Viertens (Gegensteuerung auf Begründetheitsebene): In dem Maße, in dem es angestoßen durch das EU-Recht zu einer subjektiv-rechtlichen Aufwertung des Verfahrensrechts kommt, stellt sich – als Kehrseite – verstärkt die Frage nach dem Erfordernis von Gegensteuerungsstrategien bzw. Kompensationsmechanismen, um die Gefahr einer die Risikobalance (Schmidt-Preuß)191 aus dem Gleichgewicht bringenden übersteigerten Prozeduralisierung und zugleich eines nicht mehr praktikablen und vor dem Hintergrund von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG (Stichwort: Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit) und der Belastung der Verwaltungsgerichte (insbesondere infolge der Flüchtlingskrise) lähmenden „Kontroll-Übermaßes“ zu vermeiden.192 Namentlich wird darüber nachgedacht, ob an dem Dogma der Nichtanwendbarkeit von § 46 VwVfG auf absolute Verfahrensfehler193 festgehalten oder ob es nicht aufgegeben werden sollte194.195 In den Blick rückt ferner die gerichtliche Kontrolldichte196 : Insofern besteht zwar – entgegen anderslautender Stimmen197 – kein unionsrechtliches Gebot, diese zu reduzieren (die Ausgestaltung der Kontrolldichte verbleibt vielmehr in der nationalen Verfahrensautonomie),198 rechtspolitisch kann aber in Reaktion auf einen erweiterten Klagezugang Dritter eine behutsame und abgestufte Reduktion der Kontrolldichte durch korrelative Einräumung von Beurteilungsspielräumen der Verwaltung durch den Gesetzgeber199 gleichwohl in Erwägung 190
So bereits das Postulat von Pietzcker, FS Maurer, 2001, S. 695 (702 ff.). s. o. I. 192 Dieser Zusammenhang wird klar herausgestellt bei Saurer (Fn. 9), S. 382 ff. 193 BVerwGE 105, 348 (353 f.); Guckelberger (Fn. 15), S. 161, 167; Schemmer, in: Bader/ Ronellenfitsch (Hrsg.), VwVfG, 2. Aufl. 2016, § 46 Rn. 26; Schwerdtfeger (Fn. 103), S. 87. 194 Hierfür etwa Gärditz, NVwZ 2014, 1 (3 f.); ders. (Fn. 20), § 42 Abs. 2 VwGO Rn. 354; Kahl, JZ 2014, 722 (731 f.). 195 Auch wenn bei der gebotenen wortlautorientierten sowie unions- und verfassungsrechtskonformen (restriktiven) Auslegung des § 46 VwVfG (dazu: EuGH, Rs. C-137/14, NVwZ 2015, 1665 Rn. 55 ff. [Kommission/Deutschland]; Bredemeier [Fn. 89], S. 313 ff., 368 ff.; Gärditz, NVwZ 2014, 1 [2]; Ludwigs, NJW 2015, 3484 [3486]; Kment/Lorenz, EurUP 2016, 47 [48 f., 53 f.]) im Ergebnis (insbes. bei Spielräumen der Verwaltung) in den allermeisten Fällen absoluter Verfahrensfehler deren Beachtlichkeit und damit ein Aufhebungsanspruch gegeben sein wird. 196 Allg. dazu Schmidt-Aßmann/Schenk, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, Stand: Okt. 2016, Einleitung Rn. 181 ff. 197 Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996, S. 407 ff.; Neidhardt, Nationale Rechtsinstitute als Bausteine europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 86 ff., 170 ff.; in der Tendenz auch Kment, UPR 2013, 41 (44 f.). 198 Gärditz (Fn. 3), S. D 79 ff.; Ludwigs, Die Verwaltung 44 (2011), 41 (68); Schoch, NVwZ 1999, 457 (466); Stelkens (Fn. 37), EuR Rn. 220, 222, 225. 199 Zur normativen Ermächtigungslehre grundlegend Schmidt-Aßmann (Fn. 159), Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 185 ff. Zum aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG folgenden materiellen Grundsatz voller gerichtlicher Kontrolle BVerwGE 94, 107 (109); 106, 263 (266 f.); Schmidt-Aßmann, a.a.O., Rn. 181 ff.; a.A. Eifert, ZJS 2008, 336 (337). 191
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gezogen werden.200 Jedenfalls müssen die verschiedenen Stellschrauben für einen effektiven (Verfahrens-)Rechtsschutz, zu denen neben dem schon erwähnten § 46 VwVfG u. a. auch die §§ 45 VwVfG und 44a VwGO gehören, jeweils in ihrer Interaktion („Gesamtkontrollniveau“) betrachtet und dabei dem Aspekt der Prozessökonomie gleichfalls Rechnung getragen werden. Wie Rainer Wahl festgestellt hat, kommt es letztlich auf ein „stimmiges Gesamtkonzept zwischen den verschiedenen Problemkreisen im Verhältnis von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit“ an. „Entscheidend ist die Kombination der Aspekte Initiativberechtigung, aufschiebende Wirkung, Kontrolldichte. Eine unreflektierte Maximierung, welche die großzügige Initiativberechtigung des französischen und des europäischen Prozeßrechts mit der aufschiebenden Wirkung und der Kontrolldichte des deutschen Rechts kombinieren wollte, würde diese Stimmigkeit vermissen lassen.“201 „Gegenwart und Zukunft des Verfahrensrechts“ (Schmidt-Preuß) sind und bleiben somit auch weiterhin, insbesondere solange der Gesetzgeber – wie in der Vergangenheit – regelmäßig eine klarstellende Regelung hinsichtlich der subjektiv-rechtlichen Qualität von Verfahrensbestimmungen unterlässt,202 ein Schlüsselthema der Verwaltungsrechtswissenschaft,203 für dessen systematische, innovative und ausgewogene Erschließung auf weitere Beiträge aus der Feder des Jubilars zu hoffen ist.
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Hierfür – dabei unterschiedlich weitgehend – Franzius, DVBl. 2014, 543 (550); Kahl, Die Verwaltung 42 (2009), 463 (474); ders., VerwArch 95 (2004), 1 (32 f.); Kokott, Die Verwaltung 31 (1998), 335 (368 f.); Nöhmer (Fn. 189), S. 329 f.; Saurer (Fn. 9), S. 385 f.; Schoch (Fn. 189), S. 311 f.; Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 264; Wegener, JZ 2016, 829 (832). A.A. Gärditz (Fn. 3), S. D 83 f. (vgl. aber auch – offener – a.a.O., S. D 19, D 88); Rennert, DVBl. 2015, 793 (798); Schlacke, NVwZ 2014, 11 (18); Stelkens (Fn. 37), EuR Rn. 220, 225. 201 Wahl (Fn. 3), Rn. 128 (vgl. auch a.a.O., Rn. 3); ferner ders., NVwZ 1991, 409 (418); Saurer (Fn. 9), S. 380 ff. („System kommunizierender Röhren“); Schmidt-Aßmann, VBlBW 2000, 45 (51); ders., DVBl. 1997, 281 (285 f.); Sparwasser, in: GfU (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 1017 (1035); Gärditz (Fn. 3), S. D 19 f., D 73; zum funktionalen Zusammenhang von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren allg.: Siegel, ZUR 2017, 451 (451 f.). 202 Daher mit Recht für zahlreichere ausdrückliche Regelungen durch den Gesetzgeber: Beschluss Nr. 16c des 71. DJT (Essen), Verhandlungen des 71. DJT, 2017, Bd. II/2, S. N 281 f.; vgl. auch Guckelberger (Fn. 15), S. 171. 203 So bereits in klarer Voraussicht Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (496).
Bundesverfassungsgericht und Verfassungsrechtswissenschaft Von Michael Kloepfer, Berlin I. 1. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsrechtswissenschaft haben ein gleiches Betätigungsfeld: das Verfassungsrecht. Dabei entscheiden die Verfassungsgerichte rechtsverbindlich, die Verfassungsrechtswissenschaft „entscheidet“ gar nichts. Sie hat aber sehr wohl einen wesentlichen Einfluss auf die Verfassungsentwicklung. Das Bundesverfassungsgericht kann „der Politik“, dem Gesetzgeber und anderen staatlichen Organen etwas verbieten oder gebieten, die Verfassungsrechtswissenschaft vermag eher punktuellen geistig-wissenschaftlichen Einfluss auf die Politik zu nehmen (z. B. durch Rechtsgutachten, in parlamentarischen Anhörungen oder eben durch gezielte Veröffentlichungen). Durch die innovative Entwicklung dogmatischer Figuren, kann sie aber auch langfristige Wirkungen erzielen.1 Der Verfassungsrechtswissenschaft sind zum Beispiel wesentliche Beiträge bei der Entwicklung der „praktischen Konkordanz“2 und des Übermaßverbots3 sowie bei der Entwicklung der Grundrechte über bloße Eingriffsabwehrrechte hinaus zu einer „objektiven Wertordnung“ mit Drittwirkungs-, Schutz- und Leistungsgehalten zu verdanken,4 wobei allerdings auch das Bundesverfassungsgericht insoweit wichtige Aspekte gebündelt, pointiert und (weiter-)entwickelt hat.5 1
Zur Leistungsfähigkeit und Bedeutung der Dogmatik, gerade auch als Mittlerin zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft, vgl. die Beiträge in G. Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts?, 2012. 2 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 317 ff. 3 Vgl. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961. 4 Vgl. insbesondere Dürig, FS Nawiasky, 1956, S. 157 ff.; Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961 – zur Drittwirkung; v. Mangoldt/Klein, Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 1957, S. 86 ff. – zu objektiven Grundrechtsgehalten („Grundsätze des Staatslebens“); Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, 1958, Rn. 1 ff. – zu den grundrechtlichen Schutzpflichten; ferner etwa auch Martens sowie Häberle, VVDStRL 30 (1972) – zu Leistungsgehalten von Grundrechten. 5 Vgl. insbesondere die Grundlegung in BVerfGE 7, 198 – Lüth; 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I.
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Zwar ist die Verfassungsrechtswissenschaft weitaus „schwächer“ als das Bundesverfassungsgericht, dafür ist die Verfassungsrechtswissenschaft – rechtlich-kompetenziell quasi ein König ohne Land – ungleich „freier“: Sie ist nicht auf die Anträge Dritter angewiesen, sondern wählt sich ihre Themen selbst. Im Gegensatz zum Verfassungsgericht6 hat sie also quasi ein „Selbstbefassungsrecht“. Die Verfassungsrechtswissenschaft muss im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht auch nicht zu einer Entscheidung in Streitfragen kommen, wissenschaftliche Problemanalysen können für sie hinreichend sein. Sie bildet im Übrigen auch die Pluralität der Gesellschaft (z. B. durch progressive oder konservative Flügel) weitaus besser ab als das Bundesverfassungsgericht. Die Verfassungsrechtswissenschaft kann daher auch ganz anders zuspitzen als das Bundesverfassungsgericht, für das die grundsätzliche Akzeptanz seiner Entscheidungen existenziell ist. Die Stärke des Verfassungsgerichts beruht maßgeblich auf seinen richterlichen Entscheidungskompetenzen, der Einfluss der Verfassungsrechtswissenschaft hingegen auf der Überzeugungskraft ihrer Argumente und auf der Wissenschaftsfreiheit. 2. Die Verfassungsrechtswissenschaft allerdings hat ihre Freiheit insbesondere zur Selbstbefassung nicht immer umfassend genutzt. Gerade ihre besten (oder wenigstens ihre am besten vernetzten) Vertreter lassen sich die Themen häufig von Dritten vorgeben, weil gut dotierte Gutachten sowie Prozessvertretungen, aber auch die erbetene Teilnahme an parlamentarischen Anhörungen und Vorträgen etc. warten. Das Privileg, sich selbstständig Themen zu suchen, läuft deshalb insoweit nicht selten leer. Gleichwohl bleibt für die Vertreter der Verfassungsrechtswissenschaft stets die Möglichkeit, sich selbstgewählten Themen zuzuwenden. Der zeitliche Umfang dieses Freiraums lässt sich gewiss steigern, wenn mehr Fremdvorgaben in Form von Gutachten, Prozessvertretungen, aber auch angefragten Vorträgen und Aufsätzen etc. von den Verfassungsrechtswissenschaftlern abgelehnt würden. II. 1. Das Privileg der Verfassungsrechtswissenschaft zur Möglichkeit der Wahl des eigenen Themas enthält auch einen wichtigen Hinweis auf eine zeitlich gestaffelte Aufgabenverteilung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit (ohne Selbstbefassungsrecht) und der Staatsrechtslehre (mit Selbstbefassungsrecht).
6 Zum Verbot der (nach außen gerichteten) Selbstbefassung des Bundesverfassungsgerichts Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 19, Rn. 83; vgl. auch § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG.
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Da die Verfassungsrechtslehre für ihre Aktivitäten nicht auf einen Antragssteller bzw. ein Ausgangsverfahren angewiesen ist, kann sie eine prospektive Benennung und Lösung von Verfassungsproblemen und potenzieller Verfassungskonflikte vornehmen. Ihre Domäne ist also verfassungsrechtliches Vor-Denken,7 während das Bundesverfassungsgericht eher (aber natürlich nicht nur) zum Nach-Denken vorgestellter Lösungen vor allem aus dem Schrifttum aufgerufen ist. Selbstverständlich ist dabei die Grenze zwischen Vor-Denken und Nach-Denken fließend: Die Verfassungsrechtswissenschaft einerseits hat auch die wichtige Aufgabe der nach-denkenden Kritik an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht seinerseits versucht andererseits in vielen Entscheidungen zugleich Streitfälle der Zukunft zu erkennen und hierfür Lösungswege aufzuzeigen – nicht selten (und nicht immer unproblematisch8) in Form von obiter dicta. Das Bundesverfassungsgericht kann sich bisweilen schwer mit der Reduktion auf eine nach-denkende Funktion abfinden. Gerade der Anspruch auf Maßstäbe für die Zukunft, mag dabei zwar rechtsfriedensschaffend wirken können, zerreißt aber nicht selten die argumentative Konsistenz der Entscheidungen des Gerichts über Streitfälle der Vergangenheit – man denke nur an das Urteil zum (wiederum) gescheiterten NPD-Verbot aus dem Januar 20179, welches vor allem auch Signale in die Zukunft senden wollte und dabei etwas aus der Façon geriet.10 Insgesamt aber ist – typisiert – der zentrale Auftrag der Verfassungsrechtswissenschaft zum Vor-Denken, zur prospektiven Verfassungsrechtswissenschaft11 unverkennbar. Darin liegt ein wesentlicher Vorzug gegenüber der primär retrospektiven Verfassungsgerichtbarkeit. 2. Allerdings haben sich weite Teile der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft lange Zeit weitgehend mit dem Nach-Denken über die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts begnügt. Ihre Forschungen konzentrierten sich über mehrere Jahrzehnte im Wesentlichen auf die Schilderung, akademische Analyse und Kritik der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Es herrschte so etwas wie ein „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ (Schlink12). Dies geschah nicht nur in der rechtswissenschaftlichen Forschung. In der Lehre an den juristischen Fakultäten 7 Zum prospektiven Element der Rechtswissenschaft Kloepfer, in: FS Hoppe, 2000, S. 111 (115 ff.). 8 Kritisch zum Umgang mit obiter dicta Bryde, in: FS Papier, 2013, S. 493 ff. 9 BVerfG, Urt. v. 17. 01. 2017 – 2 BvB 1/13, NVwZ-Beilage 2017, 46 ff. 10 Vgl. Kloepfer, NVwZ 2017, 913 (916 ff.), zur Anregung des Gerichts, die Grundsätze der Parteienfinanzierung zu verändern. 11 Zur „prospektiven Rechtswissenschaft“ Kloepfer, in: FS Hoppe, 2000, S. 111 (115 ff.). 12 Schlink, Der Staat 28 (1989), 161 (163); Reevaluationen der Formel etwa bei Schlink, JZ 2007, 157 (162); Korioth, FS Schlink, 2014, 31 (38 ff.); C. Schönberger, FS Schlink, 2014, 41 (48 f.).
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der Bundesrepublik Deutschland schien der „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ ebenso oder gar noch stärker vorhanden zu sein, wie viele verfassungsrechtliche Unterrichtsmaterialien, Fallsammlungen und Lernbücher13 belegen. Das mag insoweit akzeptabel sein, als die tatsächliche Verfassung einen vor allem von Bundesverfassungsgericht interpretierten und ausgestalteten Normenkomplex darstellt. Die der Verfassungsrechtswissenschaft immanent aufgegebene Kritik an (bzw. Systematisierung) der Tätigkeit des Verfassungsgerichts setzt die Darstellung und Analyse der in Karlsruhe getroffenen Entscheidungen zwingend voraus. 3. Nur ist es eben die Dosis, die aus nützlichen Wirkstoffen Gift machen kann. Problematisch wird die Fixierung der Verfassungsrechtslehre auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erst dann, wenn sie sich hierauf im Wesentlichen beschränkt und eigene konzeptionelle Ansätze ausbleiben oder zur Nebensache werden. Dies hat auch – wie erwähnt – zu einer tiefgehenden Kritik an der Verfassungsrechtswissenschaft geführt.14 4. Diese Kritik und das Unbehagen an diesem „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ sind nicht ohne Konsequenzen geblieben. Insbesondere die jüngere deutsche Verfassungsrechtswissenschaft hat sich seit einigen Jahren verstärkt neben den systemimmanenten vor allem auch den theoretischen Fragen des Verfassungsrechts wie auch den wissenschaftstheoretischen, methodologischen und interdisziplinären Aspekten der Verfassungsrechtswissenschaft zugewandt.15 Dabei werden zunehmend insbesondere auch politikwissenschaftliche16, ökonomische17 und rechtstheoretische18 Fragen thematisiert. Dieser – sich auch an ausländischen Entwicklungen ori-
13 Hierbei ist die Textgattung des Lernbuchs zu unterscheiden von fundierten, theoretischautonomen Lehrbüchern, vgl. zum „Niedergang“ der Textgattung des rechtswissenschaftlichen Lehrbuchs – etwas überspitzt – Möllers/Birkenkötter, International Journal of Constitutional Law 2014, 603 (612 ff.). 14 Schlink, Der Staat 28 (1989), 161 ff. 15 Vgl. Korioth, FS Schlink, 2014, 31 (40), mit Nachweisen; vgl. auch C. Schönberger, FS Schlink, 2014, 41 (48 f.), mit einem Plädoyer für eine Verfassungsrechtswissenschaft, die über Verfassungsrechtsdogmatik hinausgehen solle. 16 Vgl. z. B. Möllers, Die drei Gewalten. Legitimation der Gewaltengliederung in Verfassungsstaat, europäischer Integration und Internationalisierung, 2008 – mit Einflüssen der politischen Theorie. 17 Vgl. z. B. Korte, Standortfaktor Öffentliches Recht. Integration und Wettbewerb in föderalen Ordnungen am Beispiel der Gesetzgebung, 2016. 18 Vgl. z. B. Payandeh, Judikative Rechtserzeugung. Theorie, Dogmatik und Methodik der Wirkungen von Präjudizien, 2017.
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entierende – Trend hat zur stärkeren Öffnung der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft gegenüber den Geistes- und Sozialwissenschaften geführt.19 Allerdings ist auch hier das Gebot der richtigen Dosis zu beachten. Eine Verfassungsrechtswissenschaft, welche – theorieversessen – die politische Praxis und die Verfassungsjudikatur vernachlässigt, darf sich nicht wundern, wenn sie von ebendieser Praxis bzw. Judikatur nicht mehr oder kaum noch wahrgenommen wird. Das verringert dann ebenfalls die bisherigen inhaltlichen Einflussmöglichkeiten der Verfassungsrechtswissenschaft auf die Verfassungsrechtsprechung und auf die Verfassungspraxis. Der Preis für den (durch stärkere Theoretisierung) gewonnen Selbststand der Verfassungsrechtswissenschaft kann eben die zunehmende Einflusslosigkeit eben dieser auf die Verfassungsjudikatur und die Verfassungspraxis sein. Die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft würde sich dann etwa der Position der japanischen (oder wohl auch der US-amerikanischen) Verfassungsrechtswissenschaft nähern, die eben für die Entwicklung und Gestaltung der Rechts- und Politikpraxis kaum eine nennenswerte Bedeutung hat. III. 1. Was ist zu tun? Insgesamt ist ein Mittelweg zwischen einer völligen Verfassungsgerichtsakzessorität der Verfassungsrechtswissenschaft einerseits und einer weitgehenden Isolierung der Verfassungsrechtswissenschaft von der Verfassungsjudikatur andererseits zu finden. Eine stete Rückbindung der autonom durch die Wissenschaft erarbeiteten theoretischen Erkenntnisse an konkrete rechtsdogmatische Fragestellungen sowie ggf. auch an – auf Veränderung gerichtete, aber praktisch verwertbare – rechtskritische und rechtspolitische Arbeit kann hier weiterführen. Der Mittelweg könnte vor allem in einer Kooperation der Verfassungsrechtswissenschaft mit der Verfassungsrechtsprechung (aber auch mit der Verfassungsrechtssetzung) bestehen, wie er heute bereits teilweise der Realität im Verfassungsleben in der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Diese Kooperation kann in verschiedener Weise erfolgen: 2. Zunächst sind personelle Verschränkungen zwischen Verfassungsrechtswissenschaft und Verfassungsrechtsprechung zu nennen.20 Im Zentrum liegt die durch 19 Vgl. hierzu auch die Vorträge auf der Düsseldorfer Staatsrechtslehrertagung 2014 zum Beratungsgegenstand „Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode durch Internationalität und Interdisziplinarität: Erscheinungsformen, Chancen, Grenzen“: H. C. Röhl, VVDStRL 74 (2015), 7 ff.; v. Arnauld, VVDStRL 74 (2015), 39 ff. 20 Vgl. F. C. Mayer, JZ 2016, 857 ff.
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§ 3 Abs. 4 BVerfGG geschaffene Möglichkeit, dass Rechtslehrer gleichzeitig Bundesverfassungsrichter und Hochschullehrer an einer deutschen Hochschule sein dürfen. Von dieser Möglichkeit wurde inzwischen reichlich Gebrauch gemacht. Die Hochschullehrer sind inzwischen als juristische Berufsgruppe in beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts eher überrepräsentiert (in auffälligem Gegensatz beispielsweise zu den Rechtsanwälten).21 3. Juristische Hochschullehrer können auch Prozessvertreter beim Bundesverfassungsgericht sein. Diese Betrauung mit typischen Aufgaben eines Rechtsanwalts vor dem Bundesverfassungsgericht führt in der Sache häufig dazu, dass der Hochschullehrer so faktisch gezwungen wird, die wissenschaftliche Unabhängigkeit zugunsten eines parteilichen Standpunktes aufzugeben. Die Beauftragung eines Hochschullehrers vor dem Bundesverfassungsgericht wird regelmäßig als besonderer beruflicher Erfolg gewertet werden, auch wenn die Auswahl – ähnlich wie bei den Bundesverfassungsrichtern – nicht immer nur nach Qualität, sondern nicht selten auch nach politischer Nähe zum Antragssteller bzw. Antragsgegner erfolgt. Eher problematisch erscheint es allerdings, wenn in – gut gemeinten – Nachrufen bekannter Verfassungsrechtslehrer, die häufig in Karlsruhe auftraten, weniger die von ihnen entwickelten Denkfiguren und -lehren, d. h. ihre wissenschaftlichen Leistungen, in den Vordergrund gestellt werden, sondern vielmehr ihre Tätigkeiten als Prozessvertreter vor dem Bundesverfassungsgericht bzw. als Rechtsgutachter betont werden.22 Prozessvertretungen bleiben – richtig verstanden – stets „Neben-Tätigkeiten“ eines Professors, dessen Leistungen in Forschung und vor allem auch in der Lehre seine Königsdisziplin darstellen. Insgesamt bleibt das Tätigwerden von juristischen Hochschullehrern vor dem Bundesverfassungsgericht aber ein Paradebeispiel für eine gelungene Kooperation zwischen Verfassungsrechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit. 4. Schließlich kann die wissenschaftliche Tätigkeit der Bundesverfassungsrichter selbst für die Kooperation zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsrechtswissenschaft fruchtbar sein. Für die Professoren-Richter am Bundesverfassungsgericht scheint sich diese Tätigkeit aufzudrängen und ist legal, solange der Vorrang des Richteramtes (§ 3 Abs. 4 S. 2 BVerfGG) gewahrt wird. Vorträge nicht-professoraler Bundesverfassungsrichter bei wissenschaftlichen Tagungen oder deren rechtswissenschaftliche Publikationen etc. können die Kooperation zwischen Bun21
Vgl. Moes, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17. 03. 2016, S. 10: „Nicht noch ein Professor“. 22 Vgl. Prantl, Süddeutsche Zeitung v. 16. 03. 2016 (Nachruf Peter Lerche): „Prof. Dr. BRD“.
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desverfassungsgericht und der Verfassungsrechtswissenschaft zusätzlich bereichern, auch wenn dabei die Hoffnungen auf wissenschaftliche Reflexion über getroffene Entscheidungen nicht selten unerfüllt bleiben. 5. Deutlich kritischer zu sehen ist dagegen die Tätigkeit ehemaliger Bundesverfassungsrichter als Rechtsgutachter oder gar als Rechtsvertreter in gerichtlichen Verfahren, aber auch in Interviews. Natürlich sind diese Richter auch mit ihrem Ausscheiden aus dem Gericht in ihrer beruflichen Tätigkeit frei. Sie sollten allerdings erkennen – jedenfalls bei bezahlten Aktivitäten – dass sie letztlich ihr ehemaliges Amt „versilbern“. Ihre anwaltlichen oder anwaltsähnlichen Tätigkeiten leben entscheidend vom Nimbus des Gerichts, dem sie einmal angehört haben. Das Projekt des Bundesverfassungsgerichts zur Entwicklung eines eigenen einschlägigen Verhaltenskodex zur Begrenzung des beruflichen Verhaltens ehemaliger Verfassungsrichter ist daher grundsätzlich zu begrüßen.23 Notwendig würde dies allerdings nicht sein, wenn die ehemaligen Verfassungsrichter insoweit ein hinreichendes Amtsverständnis hätten und leben würden. 6. Noch wichtiger als die institutionellen und personellen Verknüpfungen zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsrechtswissenschaft ist ihre funktionelle Bezogenheit aufeinander. Beide befinden sich wechselseitig im jeweiligen Fokus der anderen. Einerseits sollte die Verfassungsgerichtsbarkeit die Erkenntnisse der Verfassungsrechtswissenschaft und die von ihr vorgeschlagenen Lösungen (ganz oder teilweise) beobachten, übernehmen und verfeinern, aber auch die Kritik des Schrifttums zur Kenntnis nehmen und vielleicht hier und da auch beherzigen. Andererseits gehören Darstellung, Systematisierung und Kritik der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den wichtigen Funktionen der Verfassungsrechtswissenschaft. Sie darf sich darin allerdings auch nicht erschöpfen. Die Entwicklung eigener verfassungsrechtlicher Denkfiguren und Denksysteme bleibt ihre zentrale und letztlich ihre sinnstiftende Aufgabe.
23 Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle hat die Erarbeitung solcher Leitlinien beim Jahrespresseempfang des Gerichts im Februar 2017 in Aussicht gestellt, vgl. etwa die Meldung „Bundesverfassungsrichter. Verpflichtung auf Verhaltenskodex geplant“ auf Handelsblatt.com v. 22. 02. 2017, abrufbar unter http://www.handelsblatt.com/politik/ deutschland/bundesverfassungsrichter-verpflichtung-auf-verhaltenskodex-geplant/19428250. html; letzter Abruf: 06. 09. 2017.
Zur geschichtlichen Entwicklung der Normenkontrolle Von Wolfgang Löwer, Bonn I. Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik: ein unlösbares Dilemma? Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise fragte Jean-Claude Juncker im Blick auf die Diskussion in den Mitgliedstaaten sinngemäß: Wollt Ihr mehr Politik oder mehr Recht? Es ging ihm dabei um eine flexiblere Sicht der Normen, die das Haushaltsrecht der Mitgliedstaaten kraft Unionsrechts an Regeln bindet. Sollen sie eher justitiabel sein oder eher „politisch“ gehandhabt werden dürfen? Aber ist die Frage so sinnvoll gestellt? Geht es um Recht oder Politik? Geht es nicht vielmehr um die Frage, mit welcher Bindungsintensität der Politik rechtliche Grenzen gezogen sind? Fritz Ossenbühl hatte in der Frage nach der Bindungsintensität der bundesstaatlichen Finanzverfassung1 vorgeschlagen, angesichts der nur geringen Normdichte die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts funktionellrechtlich reduziert zu verstehen und damit dem Gesetzgeber funktionellrechtlich eine weitgefasste Kompetenz zur Verfassungskonkretisierung zugewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Grundgesetz eine solche Kompetenzverteilung zu seinen Lasten nicht entnehmen können2 – oder wollen? Die Bedeutung der Fragestellung reicht in die Kategorie des Existentiellen hinein: Es ist vermutlich keine falsche Einschätzung, wenn man annimmt, dass für den Brexit ein nicht ganz unerhebliches Motiv darin zu finden ist, dass die Britischen Gerichte ihre letztverbindliche Entscheidungsgewalt, das nationale Recht auszulegen (ohne parlamentsbeschlossenes Recht beanstanden zu können), verloren haben und stattdessen ein Gericht der Union vom englischen Richter verlangt, zur Durchsetzung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts dem englischen Parlament zu bescheinigen, seine Norm verstoße gegen das rangüberlegene Unionsrecht; es müsse folglich außer Anwendung bleiben. Die heilige ,supremacy of Parliament‘ ist verloren und damit die nationale Souveränität – meinten manche Brexiteers.3 1 Ossenbühl, Zur Justitiabilität der Finanzverfassung, in: Börner/Jahrreiß/Stern (Hrsg), Einigkeit und Recht und Freiheit, FS Carstens, Bd. 2, 1984, S. 743 ff. 2 BVerfGE 72, 330, 388 f., wobei S. 390 Beurteilungsermächtigungen aus der Offenheit der Rechtsbegriffe akzeptiert werden. 3 s. etwa Harries-Huemmert, Identität, Souveränität und Parlament beim Brexit, in: Hill/ Wieland (Hrsg.), Zukunft der Parlamente – Speyer Konvent in Berlin, 2018, S. 45 ff.
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In den neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten schwindet zum Teil der Wille der Politik, sich durch ein Verfassungsgericht oder Höchstgerichte kontrollieren zu lassen. Die richterliche Gewalt wird misstrauisch betrachtet, wenn sie der Politik zu nahekommt, was im Fall Polen wegen der gewaltenteilungswidrigen Justizgesetze zur Einleitung eines Rechtsstaatsverfahrens geführt hat.4 Ist die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit oder einer Höchstgerichtsbarkeit mit verfassungsgerichtlichen Funktionen dann vielleicht doch keine so gewissermaßen zwingende Lösung, wie dies nach ganz überwiegender Meinung im Nachkriegsdeutschland gesehen wird.5 In solchen Fällen, die das Signum einer im rationalen Diskurs nicht zwingend auflösbaren Lage tragen, mag es hilfreich sein, danach zu fragen, wie die Kontroverse geschichtlich entstanden ist. Das Ergebnis könnte sein, dass die Entstehensbedingungen für eine normprüfende Verfassungsgerichtsbarkeit rechtskulturell divergieren und dass deshalb eine einheitliche Sicht der westlichen Verfassungsstaatlichkeit auf das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Parlamentsgesetzen nicht herbeiführbar ist. Es sei deshalb ein vergleichender Blick auf die Genese der Normenkotrolle durch die Höchstgerichte in Großbritannien, Frankreich, den Vereinigten Staaten, und der Schweiz geworfen. II. Die Entwicklung der Normenkontrolle in der westlichen Verfassungsstaatlichkeit 1. Großbritannien Beginnen wir mit einem knappen Blick auf die englische Verfassungsgeschichte, wohl wissend, dass sich in Großbritannien die Idee einer Verfassungskodifikation nie hat entwickeln können, was natürlich nicht die Inexistenz einer Verfassung bedeutet.6 Zum englischen Verfassungsrecht gehört auch der Satz, dass jedenfalls die ,sovereignty of Parliament‘,7(obwohl sie damals noch keineswegs gesichert war), der Idee der richterlichen Normenkontrolle fundamental entgegenstand und -steht.8 Die Entwicklung hätte aber auch in einem kurzen Augenblick der Unsicherheit anders laufen können. Edward Coke (1552 – 1634) war ein eminenter vielerfahrener Jurist, Generalstaatsanwalt und oberster Richter unter Jakob I. von 1603 – 1616. Er maß dem common law unter nicht deutlich explizierten Voraussetzungen einen hö4 Zum Art. 7 EUV vorgelagerten Rechtsstaatsverfahren s. Dok. KOM(2014) 158 endg. v. 11. 03. 2014. 5 Eine kritische Auseinandersetzung mit der konkreten Erscheinungsform des Bundesverfassungsgerichts-Staatsrechts findet sich bei Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, (es 2638), 2011. 6 s. dazu pars pro toto: Löwenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. I, 1967, S.43 ff. 7 Zur Entwicklung der Idee der Parlamentssouveränität, s. Löwenstein (Fn. 6), S. 61 ff. 8 Löwenstein (Fn. 6), S. 46.
Zur geschichtlichen Entwicklung der Normenkontrolle
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heren Rang als dem von Parlament und Krone erzeugten Recht zu. Im Bonham’s Case (1610)9 ging es um eine strafrechtliche Verurteilung eines Mediziners wegen dessen Verstößen gegen das Medizinrecht. Zu diesen medizinverfahrensrechtlichen Normen und ihrer Kontrolle sagt das Urteil in großer Klarheit: „(…) and it appears in our books, that in many cases the common law will control acts of parliament, and sometimes adjudge them to be utterly void; for when an act of parliament is against common right and reason, or repugnant or impossible to be performed, the common law will control it, and adjudge such act to be void.“
Die Rechtskonstruktion ist klar: Es gibt Normen, an denen neues parlamentsbeschlossenes Recht sich messen lassen muss. Das ist auch in weiteren Fällen im 17. Jahrhundert noch betont worden. Überliefert ist etwa der Fall City of London v. Wood, wo die Auffassung von Lord Coke als „far from any extravagancy“ und als „very reasonable and true saying“ bezeichnet wurde.10 Gleichwohl: Zwar ist die Konstruktion gestufter Normenordnungen unmittelbar einsichtig, weniger einsichtig sind die von Coke herangezogenen Maßstabsnormen: Die objektive Unmöglichkeit der Normerfüllung mag noch hingehen, auch der Maßstab der (Selbst?-)Widersprüchlichkeit („repugnant“) mag akzeptabel sein, aber kann der Inhalt des common right insgesamt maßstäbliche Kraft entfalten? Woher nimmt Coke den Inhalt und die Anordnung des Vorrangs eines (wie auch immer gearteten) Naturrechts? Coke legte sich auch mit der königlichen Prärogative an, obwohl es Jakob ein absolutistisches Bedürfnis war, diese gerade auszubauen. Coke versuchte 1611 auch das königliche Verordnungsrecht an Grenzen zu binden.11 Das musste zu einem Konflikt mit dem Monarchen führen, der mit ihm offenbar – ich stelle mir vor im Tower of London in Sichtweite des Blutgerüsts – diese Grundsatzfrage erörtern wollte. Coke hat das Gespräch aus seiner Sicht der Nachwelt überliefert:12 Im Blick auf den Maßstab der Vernunft sagte der König, er denke, dass das Gesetz auf Vernunft gegründet sei und dass er und andere genauso gut Vernunft besäßen wie Richter. Darauf will Coke geantwortet haben:
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Bonham’s Case, 8 Coke R., 118; s. dazu z. B. Haines, The American Doctrine of Judicial Supremacy, 2d. ed., Berkley 1932, S. 33; Hatschek, Englisches Staatsrecht, I. Band: Verfassungsrecht, in: Piloty (Hrsg.), Handbuch des öffentlichen Rechts (IV. Abt.), Tübingen 1905, S. 138; Sabine, A History of Political Theory, in: Corwin (ed.), American Political Science Series, London, Calcutta, Sydney o. J., S. 451 f.; Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte. Texte und Studien zur politischen Theorie des 14.–18. Jahrhunderts, Bd. I, 1972, S. 241 ff., zum Bonham’s Case dort S. 246. 10 City of London v. Wood, 12 Modern, S. 687. 11 Of Proclamations 12 Co. Rep. 74, 2 St. Tr. 623, hier zit. nach Löwenstein (Fn. 6), S. 62. 12 Hier zitiert nach der Wiedergabe bei Haines (Fn. 9), S. 28 (nicht mehr in der 2d ed., 1932) sowie bei Sabine (Fn. 9), S. 451 f.; McWhirter, The Legal 100. A Ranking of the Individuals Who Have Most Influenced the Law, 1998, merkt in seinem knappen biographischen Abriss S. 70 (73) an: „Edward Coke stood up for law and constitutional authority at a time when such views could result in imprisonment or even execution.“
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„Es ist richtig, dass Gott seine Majestät mit außerordentlichem Wissen, großen Gaben der Natur ausgestattet habe; aber seine Majestät habe nicht die Gesetze seines Königreichs studiert, und Prozesse, die Leben, Erbschaft, Eigentum oder Vermögen seiner Untertanen beträfen, sollten nicht nach natürlicher Vernunft entschieden werden, sondern durch die artifizielle Vernunft (,artificial reason‘) und Einsicht des Gesetzes. Dieses Gesetz sei ein Werk, das ein langes Studium und Erfahrung voraussetze, ehe ein Mensch das Ziel der GesetzesErkenntnis erreicht habe. (…)“
Darüber sei der König sehr ärgerlich geworden. Er sagte, dann stehe er ja selbst unter dem Gesetz; dies zu behaupten sei Hochverrat. Dazu will Coke bemerkt haben, dass Bracton sagt, „Quod rex non debet esse sub homine, sed sub Deo et lege“. In Großbritannien haben sich die klassischen Argumente gegen die Coke‘sche Rechtskonstruktion durchgesetzt: F. W. Maitland merkt in seiner klassisch gewordenen Verfassungsgeschichte Englands13 gewissermaßen allgemeingültig zur Theorie Cokes an: „If this theory had been generally accepted the judges would have become the ultimate lawgivers of the realm – in declaring law they would have made law, which they would have upheld even against statute. They did not expressly claim legislative power, they did nor even conceive that this was their claim: they claimed to declare that law – law, common law, natural law (…) had an existence of its own, independent of the will of man, even perhaps of the will of God. The difficulty before this theory was that the judges could not point out the limits of the power of statute with any reasonable accurancy.“14
Schon Blackstone hatte die Normprüfung zurückgewiesen, weil sonst der Richter über dem Gesetz stehe.15 Von ihm stammt die Formel: „True it is, that what the Parliament doth, no authority on earth can undo.“16 Bei dieser Sachlage wundert es nicht, dass angeblich der Genfer Beobachter des englischen Staatsrechts Jean Louis De Lolme17 die Rechtslage auf die griffige und sprichwörtlich gewordene Formel gebracht hat, das englische Parlament vermöchte schlechthin alles, nur nicht einen Mann zur Frau und eine Frau zum Mann zu machen.18 Jedenfalls von ihm stammt 13
Maitland, Constitutional History of England, 1st. ed., 1908, reprinted Oxford University Press 1968. 14 Maitland (Fn. 13), S. 301. 15 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Vol. I–IV, zuerst London 1765, Vol. I, S. 90 f. 16 Blackstone (Fn. 15), Vol. I, S. 160. 17 De Lolme, Constitution de L’Angleterre ou État du Gouvernement Anglais, comparé avec la forme républicaine et avec les monarchies de l’Europe, zuerst Amsterdam 1771, benutze Ausgabe: Nouvelle édition entièrement revue et corrigée sur la quatrième édition anglaise, dediée au Roi d’Ang(leter)re, Genf und Paris 1793. 18 Das Zitat ist in dem in Fn. 17 zitierten Werk nicht nachzuweisen. Es wird aber immer De Lolme zugeschrieben, ohne Zitatnachweis: Löwenstein (Fn. 6), S. 65 m. Fn. 1 („geht anscheinend auf De Lolme zurück“); Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constution, 8th ed., London 1915, Nachdruck: LibertyClassics 1982, S. 5; greifbare deutsche Ausgabe: Dicey, in: Robbers (Hrsg.), Einführung in das Studium des Verfassungsrechts, 10. Aufl. m. einer Einführung von Wade, 2002, S. 163; in der Originalausgabe der 10th ed.,
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in Bezug auf das englische Verfassungsrecht die plastische Formulierung über die Inexistenz des Vorrangs der Verfassung: „Si l’on veut me permettre l’expression, la puissance législative change la constitution, comme Dieu créa la lumière.“19 Das Gedankengut Sir Edward Cokes, der übrigens wegen seines Widerstandes gegen die Ausdehnung der monarchischen Prärogative 1616 seines Amtes enthoben wurde, hat zwar in seiner Heimat keine Gefolgschaft gefunden; es ist vielmehr, wenn man so will mit den englischen Kolonisten in die später abtrünnigen Kolonien ausgewandert. Coke ist in der Frage der Sicherung des Verfassungsvorrangs Wegbereiter amerikanischen Verfassungsrechtsdenkens – nicht Mitgestalter englischer Tradition.20 Das Ende vom Lied mag dies dennoch nicht sein, weil es in den letzten beiden Jahrzehnten auch Entscheidungen der Law Lords und des Supreme Courts gegeben hat, die die rule of law gegen die supremacy of Parliament vorsichtig in Stellung bringen, ohne diese tragende Säule des britischen Verfassungsrechts bisher substantiell in Frage zu stellen.21 2. Vereinigte Staaten a) Vorgeschichte Der Rechtsstatus der englischen Kolonien, die später die Union gegründet haben, hat vermutlich das richterliche Prüfungsrecht begünstigt. Die Kolonien hatten aus der Sicht der Krone unvermeidlich die Befugnis einer begrenzten Selbstgesetzgebung. Sie hatten in diesem Zusammenhang das konstitutionelle repräsentative System der Willensbildung des Mutterlandes Parlamentsgesetz betreffend für ihre Entscheidungsebene grosso modo kopiert.22 Solange die Kolonien Teil der Mutterlandsrechtsordnung waren, war es gewiss ein Grundsatz, dass das abgeleitete koloniale Recht London 1959, S. 43; Dicey bezeichnet die De Lolme‘sche Aussage als „grotesque expression“. 19 De Lolme (Fn. 17), Tome premier, livre second, chap. III, S. 213. 20 s. Reibstein (Fn. 9), S. 242: „Das Unternehmen (gemeint ist Cokes Versuch, ein positiv geltendes sozusagen profanes Naturrecht zu etablieren) hatte seine Schwierigkeiten und hatte in den amerikanischen Kolonien eine tiefergehende und nachhaltigere Wirkung als in England selbst.“ Haines (Fn. 9), S. 51 formuliert die Wirkungsgeschichte wie folgt: „The doctrine of Coke, formulated chiefly as dicta in cases brought before his court and read into earlier cases reported by him, became the prime authority for the guiding principle of the American doctrine of judicial supremacy.“ Heute rechnet McWhirter (Fn. 12) in seinem Ranking der Legal 100 Coke zu den wichtigsten Rechtsgestaltern des amerikanischen Rechts – immerhin mit dem Ranking-Platz 11! (was immer das aussagen mag). 21 s. dazu Murkens, Verfassungsgerichtsbarkeit im Vereinigten Königreich, in: IPE VI, 2016, Rn. 93 ff. 22 s. z. B. Laboulaye, Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Erster Band: Die Colonien vor der Revolution, 1882, S. 364 ff.; Kley, Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 3. Aufl., 2013, S. 89 f.
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nicht gegen das Mutterlandsrecht verstoßen durfte. – Aber es war zusätzlich ein neuer Ton in der Debatte zu hören, der seine Wurzel in dem gesellschaftsvertraglichen Naturrecht der Aufklärung hatte. Wirkungsmächtig war wohl u. a. das Völkerrechtsbuch von Emer de Vattel23, das in seinem ersten Buch – so die Überschrift – „Die Nation für sich allein betrachtet“ und im Kapitel III die „Verfassung des Staates“ behandelt. Nach § 27 bildet die Art und Weise der Ausübung der öffentlichen Gewalt die Verfassung eines Staates. Sie bestimmt über die Rechte und Pflichten der Regierenden. Die Grundgesetze, die die Verfassung ausmachen (§ 29), finden ihren Grund in der verfassunggebenden Kraft des Volkes; sie sind der Änderung durch den Gesetzgeber entzogen (§ 34). Für die (einfache) Gesetzgebung muss die Verfassung „unverletzlich sein“. Emer de Vattel formuliert hier also in Ansätzen den Vorrang der Verfassung. Diese Einsichten in den Stufenbau der Rechtsordnung hatten in den werdenden Vereinigten Staaten Konsequenzen: In einer verfassungsgeschichtlich berühmt gewordenen causa, die nach ihrem Gegenstand als „Writ of Assistance“24 verzeichnet ist, finden sich in der Argumentation des Anwalts James Otis (1725 – 1783)25 auf die Normenkontrolle vorwärtsweisende Elemente, indem Coke26 und Vattel zusammengeführt werden: In der stichwortartigen Überlieferung seines Plädoyers heißt es mit Bezug zu Parlamentsgesetzen: „An act against the Constitution, an act against natural equity is void (…). The executive Courts must pass such acts into disuse.“ Diese Deduktion des richterlichen Normprüfungsrechts aus dem Vorrang der Verfassung oder vorrangigem „law of nature“ hat in der Zeit vor der Unabhängigkeit auch zu richterlichen Erkenntnissen geführt, die diesen Grundsätzen zu praktischer 23
De Vattel, Le Droit des Gens ou Principes de la Loi Naturelle, 1758; zur Einbindung in den Naturrechtsdiskurs der Zeit s. nur die Hinw. bei Guggenheim, Einleitung, in: Emer de Vattel (…), deutsche Übersetzung von Euler, in: Schätzel (Hrsg.), Die Klassiker des Völkerrechts, Band III, 1959, S. XX f. aus dem Jahre 1958; zur Bedeutung Vattels für den Diskurs in den späteren USA s. McLaughlin, A Constitutional History oft he United States, New York 1935, S. 35: „(…) there appears a striking passage from Vattel, the influence of which is easily discerned in the later developments of American Law.“ 24 Es ging um eine richterlich gewährte generelle exekutive Durchsuchungsbefugnis in Steuersachen ohne richterliche Prüfung im einzelnen Fall („general search warrants instead of particular warrants“, Haines [Fn. 9], S. 70). 25 s. zur Argumentation von Otis die Wiedergabe bei Haines (Fn. 9), S. 70 ff.; McLaughlin (Fn. 23), S. 32 ff.; englischer Text der Quelle: James Otis Speech against the Writs of Assistance, in: Commager, Documents of American History, 5th ed., New York 1948, Doc. Nr. 32, S. 45. In der Diskussion in Deutschland hat Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Bd. II, 1972, S. 299 ff. auf Otis aufmerksam gemacht; s. auch Kley (Fn. 22), S. 90 f.; zur Bedeutung von Otis für die Entwicklung des ,judicial review‘ s. auch Brigham, Art. Judicial Review, in: Hall (ed.), The Oxford Companion to the Supreme Court of the United States, 2nd ed., 2005, S. 536. 26 „The doctrine of Coke was perhaps definitely and positively introduced into the law of the colonies by James Otis in his well-known argument on the Writs of Assistance“, so Haines (Fn. 9), S. 52.
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Wirksamkeit verholfen haben. Charles Grove Haines berichtet von insgesamt acht Fällen, von denen anzunehmen ist, dass sie auf richterlichen Normbeanstandungen beruhen.27 Eindrucksvoll ist wiederum der Anwaltsvortrag (James Varnum [1748 – 1789]) im Fall Trevett v. Weeden, der nach dem Recht von Rhode Island 1786 zu entscheiden war.28 Es ging um eine strafbewehrte Norm, die im Wirtschaftsverkehr die Annahme von Papiergeld statt Hartgeld durchsetzen sollte. Die im Strafverfahren an sich obligatorische Jury sollte nicht beteiligt werden (offenbar fürchtete der Gesetzgeber, eine Jury sei vielleicht nicht bereit, Verurteilungen auszusprechen). Stattdessen gab es ein Schnellverfahren. Rhode Island hatte keine geschriebene Verfassung; aber in der Kolonie galt natürlich auch das Mutterlandsrecht. Der Anwalt Varnum meinte jedenfalls, dass ein Bürger Rhode Islands nicht ohne eine Jury verurteilt werden konnte und berief sich dafür naturgemäß auch auf das Verfassungsrecht Großbritanniens, also auf die Magna Charta usw. Varnum verwies darauf, dass Gesetze, die das Parlament von Rhode Island beschließe, immer auf einer aus der Verfassung abgeleiteten Gewalt beruhten. „But if the General Assembly attempt to make laws contrary hereunto, the Court cannot receive them as laws; they cannot submit to them. If they should, let me speak it with reverence, they would incur the guilt of a double perjury.“29
Varnum belegt seine Thesen dann mit zwei Beispielen, die jedes für sich als argumentum ad absurdum zu werten sind: Der Gesetzgeber erlässt ein Gesetz, dass es jedermann bei Todesstrafe verbietet, sein Haus zu verlassen, was gegen das Naturrecht verstoße; oder ein Gesetz (biblische Erinnerung leitet seine Beispielswahl) verpflichte alle Eltern, ihr Erstgeborenes zu töten, was gegen göttliches Gesetz verstoße. Nach allgemeiner Anschauung müssten die Gerichte diese Gesetze ebenso wie jedes andere durchsetzen oder es wird den Gerichten die Rechtsmacht zugestanden zu entscheiden, ob ein Gesetz gültig sei oder nicht. Er ist sich sicher: „There is no middle line.“ „So it is with the judiciary, it must reject all acts of the legislative that are contrary to the trust reposed in them by the people, or it must adopt all.“30 Für Varnum ist die Sachlage klar: Das Naturrecht als göttliches Recht bindet die Richter, weil es gegenüber jeder bürgerlichen oder politischen Einrichtung, diesen vorausliegend, Vorrang genießt. Viel wichtiger: Sie sind ebenso durch den Vorrang der Verfassung im Verhältnis zu den von der Volksvertretung erlassenen Gesetzen gebunden. Das Gericht ist von diesem Vortrag offenbar nicht unbeeindruckt geblieben. Es entschied nämlich, der Fall könne vor seinen Schranken nicht verhandelt werden, 27
Haines, The American Doctrine of Juducial Supremacy, 2nd ed., Berkeley 1932, S. 88 ff. Dazu Warren, Earliest Cases of Judicial Review of State Legislation by Federal Courts, 32 Yale Law Journal (Nov. 1922), S. 16 ff. sowie Haines (Fn. 26), S. 105 ff. 29 Gemeint ist der Treueeid zum Staat Rhode Island und der Diensteid des Richters; s. bei Haines (Fn. 26), S. 107. 30 Haines (Fn. 26), S. 107. 28
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weil es unzuständig sei. Die Unzuständigkeit war natürlich nur damit erklärlich, dass der Fall vor einer Jury hätte verhandelt werden müssen, was auf die Nichtanwendung der bestehenden Gesetzesvorschrift hinauslief. Zugleich zeigt der Fall, dass die Volksvertreter nicht an einem richterlichen Gängelband geführt werden wollten. Als gewählte Repräsentanten des Volkes sehen sie in dem anhand des Falles praktizierten und sich tendenziell abzeichnenden ,judicial review‘31 eine Verletzung ihrer eigenen Kompetenzen. Deshalb hieß es in einer Resolution der beiden Klammern der Volksvertretung von Rhode Island, dass solche Urteile „may tend directly to abolish the legislative authority“.32 Die Richter wurden zur Rechtfertigung ihres Urteil in die Versammlung einbestellt – damit missachtend, dass der Richter nur durch die Gründe seines Urteils spricht (das haben drei der Richter auch eingewendet33) und gewaltenteilungsrechtlich kein zitierfähiges Subjekt ist – mit dem Ziel einer Amtsenthebung, zu der es dann aber nicht gekommen ist; wiederum war es der Anwalt Varnum, der nunmehr die Richter vor der Volksvertretung verteidigte. Im Vorfeld der Unabhängigkeit war der Diskurs um eine Verfassung, die Vorrang vor dem abgeleiteten Recht haben sollte, erheblich vertieft worden und hatte ganz offensichtlich auch an Nachdruck gewonnen. Die 1787/88 erschienenen Federalist Papers von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay34 sind auch vor dem Hintergrund der Judikatur in den Gliedstaaten der späteren Union zu sehen, deren Gerichte das Recht ihres (späteren Glied-)Staates an ihrer Verfassung gemessen hatten. Im Fall Bayard v. Singleton, der nach dem Recht von North Carolina 1787 noch während der Verfassungsberatungen der Union entschieden wurde, wendeten die Richter eine Norm nicht an, die in bestimmten Enteignungssachen den Rechtsschutz praktisch ausschloss. Stattdessen behandelten die Richter den Fall nach dem „due course of law“.35 Der in dem Verfahren als Anwalt tätige James Iredell36 leitete aus der Natur der Verfassung als fundamental law ab, dass die Richter nicht etwa über die Verletzung der Verfassung durch die Gesetzgebungskörperschaft zu entscheiden hätten (was auf die Unterscheidung von abstrakter und konkreter Normenkontrolle 31 Die Entwicklung des judicial review beschreibt der so betitelte Beitrag von Brigham, in: Hall/Ely/Grossman, The Oxford Companion to the Supreme Court oft he United States, Oxford 2005, S. 536 ff. 32 Zitat bei Haines (Fn. 26), S. 109. 33 Haines (Fn. 26), S. 110. 34 Hamilton/Madison/Jay, The Federalist or the New Constitution, 1787/1788; benutzte englische Ausgabe: Everyman’s Library 519, Introduction by Brock, London 1961; deutsche Ausgaben: Der Föderalist von (…), hrsg. und mit Einf. von Ermacora, Wien 1958; zuletzt Hamilton/Madison/Jay, Die Federalist Papers, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen v. Zehntpfennig, 1993. 35 Bayard v. Singleton 1 Martin 42, hier zitiert nach der Wiedergabe bei Haines (Fn. 26), S. 112 ff. In state cases vor den state courts war vor und nach der Unabhängigkeit die Normprüfung offenbar bereits fest etabliert: s. d. Nachw. bei McLaughlin (Fn. 22), S. 312 Fn. 34. 36 Iredell (1751 – 1799) war von George Washington 1790 zum Richter am Supreme Court ernannt worden; s. zu Iredell: Ireland, in: Hall et al. (Fn. 31), S. 509.
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vorausweist): „(…) but when an act is necessarily brought in judgement before them, they must, anavoidably, determine one way or other.“37 Die Hinweise zeigen, dass Alexander Hamilton in seinem berühmten 78. Brief, die richterliche Gewalt betreffend, den Diskussionsstand der Zeit nachzeichnete. Wenn eine, wie er es nennt „limited constitution“, also eine solche, die auch dem Gesetzgeber Bindungen vorgibt, gegeben ist, können diese Bindungen in der Praxis gar nicht anders durchgesetzt werden als durch die Gerichte. „Without this, all the reservations of particular rights or previleges would amount to nothing.“38 Das Argument, dadurch würden die Richter zum Herren über den Gesetzgeber, widerlegt er mit der folgenden Überlegung: „Nor does this conclusion by any means suppose a superiority of the juducial to the legislative power. It only supposes that the power of the people is superior to both; and that where the will of the legislature, declared in its statutes, stands in opposition to that of the people, declared in the Constitution, the judges ought to be governed by the latter rather than the former. They ought to regulate their decisions by the fundamental laws, rather than by those which are not fundamental.“39
b) Die Grundlegung des ,judicial review‘ in der Rechtsprechung des Supreme Court Die inzidente Normprüfung war in der Phase der Staatswerdung und der Verfassunggebung also ein bereits vieldiskutiertes gerichtliches Vorgehen, das mit Verfassungsprinzipien begründet worden war, sich in den künftigen Gliedstaaten der Union damals aber nicht auf Verfassungsnormen stützen konnte.40 Es wäre also naheliegend gewesen, dazu in der Verfassung der Union eine explizite Regelung zu treffen, was im Ergebnis unterblieben ist, obwohl darüber diskutiert worden ist.41 Der Verfassungshistoriker Andrew C. McLaughlin fasst das Ergebnis der entstehungsgeschichtlichen Exegese wie folgt zusammen: „ (…) the general trend of the discussion appears to indicate the general assumption that the power would be exercised in cases over which the courts had jurisdiction“.42 Jedenfalls hat der Supreme Court bekanntlich 1803 in seinem wohl berühmtesten Fall Marbury v. Madison43 auf der Basis der inzwischen bekannten Argumentations37
Bei Haines (Fn. 26), S. 117. Hamilton (Fn. 34), S. 396 in der ed. Everyman’s Library. 39 Hamilton (Fn. 34), S. 397 f. in der ed. Everman’s Library. 40 s. auch die entsprechende Feststellung bei McLaughlin (Fn. 22), S. 312. 41 s. die Hinweise bei McLaughlin (Fn. 22), S. 313 in Fn. 35. 42 So McLaughlin (Fn. 22), S. 313. 43 1 Cranch 137, 1803; wesentliche Original-Textauszüge enthält auch die Dokumentensammlung von Commager (Fn. 25), Doc. Nr. 109, S. 191; die wesentlichen Passagen in deutscher Sprache enthält die Dokumentensammlung von Schambeck/Widder/Bergmann, Dokument zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, 2. Aufl., 2007, S. 253 ff. Die Entscheidung hat in Deutschland anlässlich ihres 200. Geburtstages einordnend besprochen: Brugger, Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit: 200 Jahre Marbury v. Madison, JuS 2003, 38
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figuren durch seinen Chief Justice44 John Marshall (1755 – 1835) sein inzidentes Normprüfungsrecht in wegen eines Machtwechsels von den Federalists zu den Republicans politisch schwieriger Zeit45 begründet. Immerhin wird in der amerikanischen Literatur als durchaus feststehend berichtet, dass Präsident John Adams die Ernennung Marshall‘s am Ende seiner Amtszeit vorgeschlagen hatte, „to save the Constitution from the Jeffersonian Republicans.“46 Der Fall betraf überdies einen mit diesem Machtwechsel unmittelbar zusammenhängenden Fall, an dem J. Marshall47 auch noch exekutiv beteiligt gewesen war, so dass er wegen seiner Befangenheit eigentlich gar nicht hätte mitwirken dürfen. Marshall‘s Begründung ist inzwischen einigermaßen geläufig: Die Verfassung ist wegen ihrer erschwerten Abänderbarkeit mit Vorrang vor dem parlamentsbeschlossenen Recht ausgestattet, sie ist also als „written and limited Constitution“ „paramount law“, an dem sich das abgeleitete Recht messen lassen muss. In einem gewaltengeteilten Staat mit einer unabhängigen Justiz ist es deren Aufgabe, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu prüfen. Anders soll der Richter seine Eidespflicht nicht erfüllen können. Das verfassungsinkonforme Gesetz ist von Anfang an nichtig, wird aber vom Richter nicht etwa aufgehoben, sondern nur im zu entscheidenden Fall außer Anwendung gelassen. Dass darin auch eine nicht in jeder Hinsicht überzeugende Selbstermächtigung der Richter gesehen werden kann, ist schon zeitgenössisch angemerkt worden; immerhin spukte in den Köpfen der Rebublicans die Idee eines Impeachment48 gegen
320; das Schrifttum zu der Entscheidung im amerikanischen Recht ist uferlos; ich verweise nur auf Warren, The Supreme Court in United States History, Vol. 1: 1789 – 1821, Boston 1924, S. 230 ff.; Haines (Fn. 26), S. 193 ff.; Currie, The Constitution in the Supreme Court. The First Hundred Years 1789 – 1888, 1985, S. 66 ff.; Schwartz, A History of the Supreme Court, 1993, S. 39 ff.; Johnson, The Chief Justiceship of John Marshall 1801 – 1835, 1997, S. 57 ff.; ders., Art. Marbury v. Madison, in: Hall et al. (Fn. 30), S. 605 ff.; Tribe, American Constitutional Law, 2d ed., 1988, S. 26 ff. 44 Zu Marshall s. die große Biographie von Smith, John Marshall. Definer of a Nation, 1996; Überblick bei Newmyer, Art. John Marshall, in: Hall et. al. (Fn. 31), S. 607 ff. sowie bei McWhirter (Fn. 12), S. 70 ff.; Marshall wird von McWhirter im Ranking als Nr. 3 eingestuft, hinter Madison und Hamilton. 45 s. etwa das Kapitel „Marshall and Jefferson and the Judiciary“ bei Warren (Fn. 43), S. 168 f.; Bryce, in: Singer (Hrsg.), Amerika als Staat und Gesellschaft (dt. Ausgabe des Buches von Bryce, The American Commonwealth, 1920), 2 Bde, hat Marshall gut nachvollziehbar als „lebendige Stimme der Verfassung“, als „zweiten Verfasser der Konstitution“ gepriesen, Bd. 1 (1924), S. 166 und 222. 46 Newmyer (Fn. 44), S. 607. 47 So zutr. etwa Brugger (Fn. 43), S. 321. 48 Richter nach Art. III der Verfassung sind „civil officers of the United States“, so dass Art. II Abs. 4 mit seinem impeachment-Vorbehalt auch auf Richter anwendbar ist, s. Tribe, S. 64 Fn. 7.
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die Richter herum.49 Diese Kritik wird bis in die Gegenwart in der staatsrechtlichen Literatur erörtert.50 Für die Rechtspraxis war der judicial review aber dann wohl mit dieser Entscheidung etabliert51 – auch wenn es bis zur Dred-Scott-Entscheidung über den Missouri-Compromise52 1857 dauern sollte, bis erneut ein Gesetz der Union für nichtig erklärt wurde – und zwar in einem Fall, der belegt, dass die richterliche Mitwirkung an Lebensfragen einer Nation auch Richter schicksalhaft in eine verhängnisvolle Entwicklung verstricken kann. Diese Trias der geschriebenen limitativen Verfassung, der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit53 wird in der Zukunft die Diskussion um die inzidente Normenkontrolle ohne explizite verfassungsrechtliche Verankerung ganz wesentlich bestimmen. In den Vereinigten Staaten war überdies die föderale Ordnung hinsichtlich des Vorrangs der Bundesverfassung vor gliedstaatlichem Recht klarzustellen54, wie auch die Unzuständigkeit des Supreme Court zur Prüfung des Landesrechts am Maßstab der gliedstaatlichen Verfassung und seine Zuständigkeit zur Durchsetzung der Bundesverfassung und des Bundesrechts gegen kollidierendes Landesrecht. Es war überdies unstrittig Aufgabe der Richter jeder Instanz, die Vereinbarkeit des Landesrechts mit höherrangigem Bundesrechts zu prüfen. Gestufte Rechtsordnungen machen eben auch die Prüfung parlamentsbeschlossener Gesetze der Gliedstaaten erforderlich. 49 Warren (Fn. 43), S. 269 ff.; Tribe (Fn. 43), S. 26: „(…) there was much sentiment in Congress favoring impeachment of Marshall and his fellow Federalist Justices, for purely political reasons“. 50 s. m.w.Nachw. Tribe, wie Fn. 43. 51 s. etwa Story, Commentaries on the Constitution of the United States, Abridged by the Author for the Use of Colleges and High Schools, Boston/Cambridge, Mass. 1833, § 967. Dort heißt es: „But upon this subject (i. e.: the duty of courts of justice to declare any unconstitutional law passed by Congress, or a state legislature, void) it seems unnecessary to dwell, since the right of all courts, state as well as national, to declare unconstitutional laws void, is now settled beyond the reach of judicial controversy.“; s. weiter Kent, Commentaries on American Law, 10th. ed., Vol. I, Boston 1860, S. 502 ff., S. 509: „This great question may be regarded as now finally settled, and I consider it to be one of the most interesting points in favor of constitutional liberty, and of the security of property, in this country, that has ever been judicially determined.“ 52 Dred Scott v. Sandford 60 U.S. (19 How.) 393 (1857); dazu Currie (Fn. 43), S. 263 ff.; Schwartz, How the Supreme Court Decides Cases, 1996, S. 158 ff.; die Entscheidung ist gewissermaßen der Nachweis, dass auch Richter mit ihrer anscheinend normgeleiteten Prüfung ein historisch schicksalhaft-unglückliches Geschehen einleiten können, wie Schwartz (op. cit.) S. 158 es ausdrückt: „Dred Scott is undoubtedly the most discredited decision in Supreme Court history.“ Ausführlich zur Dred Scott Entscheidung ders. (Fn. 43), S. 105 ff: Dred Scot als „Watershed Case“. 53 Hamilton (Brief Nr. 78 der Federalist Papers) (Fn. 34) argumentiert bereits mit dieser Trias, bevor sie die Gerichte adoptiert hatten: „limited constitution/separation of powers/ complete independence of justice.“ 54 Martin v. Hunter’s Lessee 14 U.S. 304 (1816).
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Aber auch eine Einsicht, die verfassungsgeschichtlich so tief begründet ist, dass das Verfassungsrecht in der Richterhand besonders gut aufgehoben ist, bleibt vom „demokratischen“ Einwand nicht verschont, weshalb denn gerade, um einen Buchtitel zum U.S. Supreme Court zu zitieren, „Nine Scorpions in a Bottle“ den demokratisch-repräsentativ gebildeten Willen des Gesetzgebers sollen ungeschehen machen können.55 3. Frankreich Das „konstitutionelle Laboratorium Europas“, wie man Frankreich wegen seiner Vielzahl von Verfassungen seit 1789 genannt hat,56 ist bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein57 im Ergebnis geradezu von einer Berührungsangst vor einer richterlichen Normenkontrolle gekennzeichnet.58
55 s. aus der Diskussion in den Vereinigten Staaten das demokratische Argument gegen die richterliche Normenkontrolle bei Waldron, The Core of the Case against Judicial Review, Yale Law Journal 115 (2006), S. 1346 ff. 56 Die Formulierung greift jetzt auch Jouanjan, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich, in: von Bogdandy et. al. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europäum, Bd. I, 2007, § 2 Rn. 5 auf; aus einer Vielzahl von Textausgaben nenne ich: Duguit/ Monnier/Bonnard, Les Constitutions et les Principales Lois Politiques de la France depuis 1789, 7ième éd. par Berlia, 1952; Godechot, Les Constitutions de la France depuis 1789, 1970; die frühen Verfassungen sind deutsch vollständig gesammelt bei Pölitz, Die Europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, 2. Aufl., 2. Bd.: Die Verfassungen Frankreichs, der Niederlande, Belgiens, Spaniens, Portugals, der italienischen Staaten und der jonischen Inseln enthaltend, Leipzig, 1833; die Pölitz’schen Übersetzungen übernehmen neuerdings Gosewinkel/Masing, Die Verfassungen in Europa 1789 – 1949, 2006, die ihr Frankreich-Kapitel (S. 161 ff.) bis 1946 fortschreiben. 57 Erst 1958 beginnt mit der Einrichtung des Conseil Constitutionnel eine Hinwendung zu verfassungsgerichtlicher Kontrolle; s. dazu Autexier, Der neue Conseil Constitutionnel. Versuch, die Funktion eines Verfassungskontrollorgans in den westlichen Demokratien zu definieren, in: Der Staat 15 (1976), S. 89 ff. 58 Die klassischen französischen Staatsrechtslehrbücher behandeln de Frage zum Teil sehr ausführlich: Laferrière, Manuel de Droit constitutionnel, 2. éd., 1947, S. 308 ff.; Esmein/ Nézard, Eléments de Droit constitutionnel français et comparé, 8. ed., Tome premier, Paris 1927, S. 626 ff.; Barthélémy/Duez, Traité Elémentaire de Droit constitutionnel, Paris 1926, S. 194 ff.; weniger dogmengeschichtlich orientiert: Hauriou, Précis de Droit constitutionnel, 2. éd., Paris 1919, S. 266 ff. Hauriou tritt für die Inzidentkontrolle ein; mit gleicher Tendenz: Duguit, Traité de Droit constitutionnel, Tome 3, Paris 1930, S. 709 ff.; knapper zusammenfassend und die Normenkontrolle ablehnend Vedel, Manuel élémentaire de Droit constitutionnel, 1949, S. 122 ff.; sehr ausf. Problemdarstellung – dogmenhistorisch, rechtsvergleichend, verfassungshistorisch – bei Burdeau, Traité de Science Politique, Tome III, 1950, 346 ff. Aus deutscher Sicht s. zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen im Gewaltenteilungsdenken der Großen Revolution: Redslob, Die Staatstheorien der Französischen Nationalversammlung von 1789, Leipzig 1912, inbes. S. 284 ff.; s. auch die übersichtliche Dissertation zum Gesamtkomplex von Collofong, Elemente einer Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich – von Sieyes zum Verfassungsrat der V. Republik, Mainz 1964.
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Wenn ich hier den Zeitraum von der Revolution bis etwa die Mitte des 19. Jahrhunderts ins Auge fasse, sind drei Denkrichtungen zu differenzieren, die hier etwas vergröbernd mit drei Namen gekennzeichnet werden: Jean-Jacques Rousseau, Emmanuel Joseph Sieyes, Benjamin Constant. a) Jean-Jacques Rousseau Es ist der Genfer Bürger Jean-Jacques Rousseau, aus einer kleinräumigen Stadtrepublik stammend, der der Revolution eine wichtige Maxime für ihr Staatsrecht liefert.59 In seinem Hauptwerk „Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique“60 begründet er auf gesellschaftsvertraglicher Grundlage die Lehre, dass der partikulare Einzelwille sich dem in der Volkssouveränität begründeten Gemeinwillen (volonté générale) unterzuordnen hat. Der Gesetzgeber formuliert diesen Gemeinwillen, der durchaus nicht dem Willen aller (volonté de tous) entsprechen muss. Der Gesellschaftsvertrag verschafft aber dem Staat die unbedingte Rechtsmacht, den volonté générale durchzusetzen, weil dieser fiktional auch als volonté de tous gilt. „Chacun de nous met en commun sa personne & toute la puissance sous la suprême direction de la volonté générale.“61 Für Rousseau liegt in einer solchen Installierung der Macht kein Problem, weil sein législateur unbedingt die gesellschaftliche Vernunft in sich birgt. Dass im Rousseau’schen System die Volkssouveränität auch (nur) unmittelbar durch das Volk ausgeübt wird (nochmals: auf dem Titelblatt des Contrat Social gibt der Autor den Hinweis, er sei „Citoyen de Génève“), also auf Kleinräumigkeit angelegt ist62, bleibt in der Adoption des Rousseau’schen Denkens in den Revolutionsverfassungen Frankreichs unbeachtet. Rousseau stellt allein auf den souveränen, ungebundenen Willen der Gesamtheit (volonté générale) ab.63 Mit einer solchen Sicht ist eine rechtliche Kontrolle der Souveränitätsausübung von vorneherein nicht vereinbar, weil sie an Maßstäbe nicht gebunden ist. So sah dies auch die Mehrheit der Verfassunggebenden Versammlung.64 Der Rousseau’sche Geist wird schon in der Erklärung der Menschenrechte von 1789 erkennbar.65 Es heißt in Art. 6: „La loi est l’expression libre et solennelle de la volonté générale.“ Folgerichtig heißt es im Gesetz über die Organisation der richterlichen Gewalt vom 16.–24. April 1790: „Les tribunaux ne pourront prendre ni directement ni indirectement aucune part à l’exercise du pouvoir législative, ni empêcher ni suspendre l’execution des dé-
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s. aus einer uferlosen Literatur nur die Analyse bei Reibstein (Fn. 9), Bd. 2, S. 181 ff. Erschienen in Amsterdam bei Rey, 1762. 61 Rousseau, Contrat social (Fn. 60), Livre premier, Chap. VI, Du Pacte Social, S. 21 f. 62 Reibstein (Fn. 59), S. 181. 63 s. die Analyse bei Reibstein (Fn. 59), S. 190 ff. 64 Einhelligkeit bestand allerdings insofern nicht. Esmein/Nézard (Fn. 58) berichten S. 636 f. auch von Bestrebungen, die gesetzliche Gewalt kontrollierend zu binden. 65 Text bei Gosewinkel/Masing (Fn. 56), S. 165 ff. 60
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crets du Corps législative à peine de forfaiture.“66 Die Judikative darf sich in keiner Form in die Legislative einmischen. Folgerichtig übernahm auch die Verfassung vom 3. September 179167 eine ähnliche Bestimmung (titre III ch. V art. 3): „Les tribunaux ne peuvent ni s’immiscer dans l’exercise du Pouvoir législative, ou suspendre l’execution des lois (…) “. Die Frage nach dem Hüter der Verfassung beantwortet die Urkunde (titre VII art. 8) sehr eindeutig: Sie anvertraut die Beachtung der Verfassungsbestimmungen der Treue der gesetzgebenden Körperschaften, des Königs und der Richter, der Wachsamkeit der Familienväter, der Gattinnen und Mütter, der Hingabe der jungen Bürger, dem Mut aller Franzosen. b) Emmanuel Joseph Sieyes68 Sieyes lehrte seine Landsleute den Pouvoir constituant vom Pouvoir constitué zu unterscheiden und verhalf so – jedenfalls für die Theorie – der Lehre von der rigiden Verfassung zum Durchbruch.69 Nach dem Urteil von Johann Caspar Bluntschli ist er „über Rousseau hinausgelangt“, weil er die „geläufige Lehre von der absoluten Souveränität“ verworfen habe.70 Berühmt ist Sieyes‘ rhetorisch gemeintes Diktum im Zusammenhang mit der Säkularisierung und Enteignung des kirchlichen Grundbesitzes: „Weil die Souveränität ihrer Könige so furchtbar und gewaltig gewesen, so müsse nun die Souveränität eines großen Volkes noch furchtbarer und gewaltiger sein.“ Sieyes war also in der Lage die richtigen Fragen zu stellen. In der Sitzung vom 2. Thermidor des Jahres III (20. Juli 1795) verlangte er im Konvent eine Antwort auf eine Frage, mit der er die Verfassung charakterisierte: „Une constitution est un corps de lois obligatoires ou ce n‘est rien; si c’est un corps de lois, on se demande où sera le gardien, où sera la magistrature de ce code. Il faut pouvoir répondre.“71 Aber 66 Text bei Laferrière (Fn. 56), S. 335; bei Barthélémy/Duez (Fn. 58), S. 221; bei Esmein/ Nézard (Fn. 58), S. 646. 67 Text bei Gosewinkel/Masing (Fn. 56), S. 165. 68 Die Schreibweise des Namens ist hinsichtlich der Akzentsetzung umstritten. Die erste Übersetzung seiner Werke in Deutschland verzichtet auf Akzent(e). Die Werkausgabe nennt den Herausgeber nicht. Sie stammt von dem deutschen Jakobiner in Paris Oelsner (1764 – 1828): Sieyes, Politische Schriften, vollständig gesammelt von dem deutschen Übersetzer nebst zwei Vorreden, 2 Bände, o.O., o.V., 1796 (Leipzig, Wolf). Zu Oelsner, der mit Sieyes befreundet war, s. einiges Material bei Harpprecht, Die Lust der Freiheit. Deutsche Revolutionäre in Paris, 1989; moderne Ausgabe wichtiger Texte von Sieyesaus der ersten Phase der Revolution: E. Schmitt (Hrsg.), Politische Schriften 1788 – 1790, 1975. 69 s. dazu einf. die Einleitung von E. Schmitt (Fn. 68). 70 Bluntschli, Art. Sieyes, in Bluntschli/Brater, Deutsches Staatswörterbuch, 9. Bd., Stuttgart und Leipzig 1865, S. 422 (424). 71 Ancien Moniteur t. XXV, S. 442.; bei Oelsner (Fn. 68) findet sich der Beitrag in Bd. 2, S. 401 ff. unter dem Titel: „Meinung über das zur Aufrechterhaltung der Grundverfassung wachende Geschworenengericht“ abgedruckt. Das Zitat, das mit der „Aufforderung zur Antwort“ schließt, dort S. 405. Die französische Staatsrechtslehre hat die Aufforderung ca. ein
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welches Verständnis hat Sieyes von der normativen Wirkung einer Verfassung? Er billigt ausdrücklich („weises Dekret“), dass es keine, wie wir sagen würden, Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt.72 Umso weniger kann es eine echte Verfassungsgerichtsbarkeit geben. Überdies ist die Verfassung offenbar doch eine vom sonstigen abgeleiteten Recht sich unterscheidende Kodifikation. „Nein, man kann die Grundverfassungsakte nicht so miskennen, daß man sie für nichts, als ein Kapitel des bürgerlichen Gesezbuches ansehe.“73 Die Antwort von Sieyes besteht in der Etablierung einer „Jurie Constitutionnaire“. Es bestehen allerdings durchgreifende Zweifel, ob es sich bei dieser „Jurie Constitutionnaire“ (von Konrad Engelbert Oelsner wenig treffend mit „Verfassungs-Geschworenen-Gericht“ übersetzt74) um ein Verfassungsgericht75 handelt. Sie sind darin begründet, dass dieser Hüter der Verfassung nach Art. 2 des Sieyes’schen Gesetzentwurfs aus 108 Mitgliedern bestehen soll, von denen jährlich ein Drittel durch Kooptation neu bestellt wird. Dieser „Spruchkörper“ kennt auch keinerlei fachrichterliche Elemente. Es handelt sich vielmehr um „un véritable corps de représentants“, dem die Aufgabe auferlegt wird, die Verfassung als politisches Recht zu schützen,76 also um eine politische Normenkontrolle.77 Im Jahrhundert später nicht unerwidert gelassen: 1912 argumentieren Barthélémy/Jèze mit dem Hinweis, wenn ein Staat Verfassungsgesetze unterscheide, der Lehre von der Gewaltentrennung folge und seine Richter mit Unabhängigkeit ausstatte, stünde den Richtern auch dann, wenn die Verfassung dazu keine ausdrückliche Vorschrift enthalte, das Recht und die Pflicht zu, die Anwendung des verfassungswidrigen Gesetzes zu verweigern. s. das Rechtsgutachten von Barthélémy/Jèze, Consultation pour la Société communale des tramways de Bucarest, in: Revue du Droit Public, 1912, S. 139. Sie kannten offenbar die amerikanische Diskussion (s. oben zu Fn. 53) gut. Auch Hauriou (Fn. 58), S. 267 und Duguit (Fn. 58), S. 722 stehen auf dem Standpunkt, dass die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze die „conséquence logique de la suprêmatie de la constitution nationale vis-à-vis du Parlement“ darstellt. 72 Sieyes, bei Oelsner (Fn. 68), S. 407. 73 Sieyes, bei Oelsner (Fn. 68), S. 408. 74 Sieyes, bei Oelsner (Fn. 68), z. B. S. 421. 75 Insoweit ist es wohl unrichtig, wenn Marçic, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit 1963, S. 180 Sieyes so versteht, als habe dieser „jahrzehntelang mit Zähigkeit an der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit festgehalten“; ähnlich missverständlich Faller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, FS Geiger, 1974, S. 827 (850). 76 Burdeau (Fn. 58), bemerkt S. 369 dazu: „Sieyes avait une connaissance trop exacte de l’esprit politique de son temps, pour accorder aux juges ordinaire le pouvoir de surveiller le législateur.“ 77 Ebenso das dogmenhistorisch orientierte Schrifttum: Barthélémy/Duez (Fn. 58), S. 204 ff.; Laferière (Fn. 58) S. 310 ff.; Esmein/Nézard (Fn. 58), S. 638. Die Idee eines nicht justiziell ausgestatteten Verfassungshüters findet sich auch bei Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Jena und Leipzig (bei Gabler), 1796, mit dem Vorschlag ein „Ephorat“ einzusetzen, das die „fortdauernde Aufsicht über das Verfahren der öffentlichen Macht“ (S. 207) ausüben soll; stellen die Ephoren einen Verfassungsbruch fest, muss ein von den Ephoren ausgesprochenes „Staatsinterdikt“ die „Gemeine“ (idealer Weise das gesamte Staatsvolk) zusammenrufen. Staatsakte nach dem Interdikt sind dann ungültig. Dagegen kritisch und ein Grunddilemma der Verfassungsgerichtsbarkeit beschreibend Hegel: Der Hüter der Verfassung soll selbst keine Macht haben; weshalb sollen sich dann die Ge-
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Prozess der Verfassunggebung ist der Vorschlag als wenig überzeugend zurückgewiesen worden. Die prinzipielle Schwäche des Vorschlags verdeutlichte der Abgeordnete Thibaudeau: „Ce pouvoir monstrueux serait tout dans l’Etat, et en voulant donner un gardien aux pouvoirs publics on leur donnerait un maître qui les enchaînerait pour les garder plus facilement.“78 Erst in der bonapartistischen Verfassung des Jahres VIII (1799)79 konnte Sieyes sein Konzept einer nicht richterlichen politischen Verfassungskontrolle verwirklichen. Nach Art. 21 sollte der ,Sénat Conservateur‘80 alle ihm von der Regierung (!) oder der Gesetzgebungskörperschaft als verfassungswidrig angezeigten Akte auf seine Verfassungsmäßigkeit hin untersuchen und sodann bestätigen oder vernichten. Auch der ,Sénat Conservateur‘ ist eindeutig ein politisches Kontrollorgan. Durch die Verfassung des Jahres X (1802)81 erhielt das Gremium sogar die Kompetenz, durch „organisches Senatusconsultum“ das lückenhafte Verfassungsrecht funktionssichernd zu ergänzen und authentisch auszulegen82. Damit wäre das Gremium nicht nur theoretisch, sondern auch kraft normativer Anordnung vom Hüter zum Herrn der Verfassung mutiert. – In einer Zeit, von der Robert von Mohl anmerkt, in ihr sei „die Beschäftigung mit theoretischem Staatsrecht weder rathsam noch begehrt“ gewesen83, hat dieser Verfassungshüter allerdings keinerlei Wirksamkeit entfaltet.84 „Tous cela reste à l’état de lettre morte.“85 walthaber in der existentiellen Konfliktsituation dem Gericht beugen? Weshalb soll der „Privatwille“ der Richter über den „Privatwillen“ des Gesetzgebers triumphieren? „Denn diese Ephoren sind nicht weniger zugleich Privatwille als jene, und ob der Privatwille dieser sich vom allgemeinen Willen abgesondert habe, darüber kann die Regierung so wohl urteilen, als das Ephorat über sie, und zugleich dieses Urteil schlechthin geltend machen.“ (s. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, [zuerst in: Kritisches Journal der Philosophie, 2. Bd. Heft 2 u. 3, Tübingen 1802/1803], benutzte Ausgabe: Hegel, Frühe politische Systeme, hgg. und kommentiert von Göhler, 1974, S. 103 ff., Zitate dort S. 143 ff.). Es ist durchaus charakteristisch für das Thema ,Carl Schmitt und die Verfassungsgerichtsbarkeit‘, dass C. Schmitt diese Hegel’schen Gedanken „ausgegraben“ und mitgeteilt hat. s. C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 7 Fn. 3. – Die Idee eines nicht-richterlichen Verfassungsschutzes scheint auch in der entscheidend von Benjamin Franklin mitgeformten Verfassung Pennsylvanias aus dem Jahre 1776 auf. Alle sieben Jahre sollte ein dafür gewählter ,Council of Censors‘ prüfen, ob die Verfassung gebrochen worden war und ob Änderungsbedarf bestehe. s. sec. 47 Pennsylvania Constitution 1776; Text bei Haines (Fn. 9), S. 73; dort finden sich auch Hinweise auf verwandte Konstruktionen in New York und Vermont (S. 78 ff.). Natürlich war auch das nicht richterlicher, sondern politischer Verfassungsschutz. An die Vorbildfunktion des Council of Censors für Sieyes‘ Denken erinnern Barthélémy/Duez (Fn. 58), S. 204. 78 Abg. Thibaudeau, Ancien Moniteur t. XXV, S.487. 79 Bei Gosewinkel/Masing (Fn. 56), S. 242 ff. 80 s. dazu Laferrière (Fn. 58), S. 128 ff. 81 s. Sénatus-Consulte organique de la Constitution du 16. Thermidor an X (4. Août 1802), bei Gosewinkel/Masing (Fn. 56), S. 254 ff. 82 Zur authentischen Auslegung auch aus dogmenhistorischer Sicht Droste-Lehnen, Die authentische Interpretation, 1990. 83 von Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, Erlangen 1855, S. 238 f.
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Der Weg zur justiziellen Normenkontrolle wurde so nicht sichtbar. c) Benjamin Constant Für die nachrevolutionäre Epoche war Benjamin Constant de Rebecque (1767 – 1830) der „gefeiertste Staatsrechtstheoretiker des nachrevolutionären französischen Liberalismus“86, „erster Publicist seiner Zeit“87, „einflußreichster Theoretiker des Constitutionalismus, höchste Autorität in der liberalen Partei“.88 Constant ist auch in Deutschland intensiv rezipiert worden, u. a. auch in der Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit.89 Constants Staatrechtslehre90 stimmt mit Sieyes darin überein, dass die Rousseauistisch geprägte Lehre von der absolut gesetzten Volkssouveränität91 für das Gemeinwesen schädlich ist.92 Auch er sieht die Lösung in einer ,constitution limitative‘. Die Souveränität finde ihre Grenze von vorneherein an der Unabhängigkeit der individu-
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Collofong (Fn 58), S. 36 ff. Esmein/Nézard (Fn. 58), p. 639. 86 So die Würdigung bei Weinand, Art. „Constant de Rebecque“, in: Bachem (Hrsg.), Staatslexikon (der Görres-Gesellschaft), 4. Aufl., 1. Bd., p. 1142. S. auch Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, 1963, S. 41 m.w.Nachw. in Fn. 39: Constant trägt zu Recht den Ruf eines ,geistigen Vaters‘ des kontinentaleuropäischen Liberalismus. Die Werke Constants sind in deutscher Sprache (hgg. von Blaeschke und Gall, übersetzt von Rechel-Mertens) in vier Bänden greifbar: Constant, Werke, 1970 (Bd. 1 u. 2) und 1972 (Bd. 2 u. 3) erschienen. Bd. 3 u. 4, hgg. von Gall, enthalten die „Politischen Schriften“. 87 So Bluntschli, Art.: „Constant“, in: Bluntschli/Brater, Deutsches Staat-Wörterbuch, 2. Bd., Stuttgart und Leipzig 1857, S. 624. 88 So von Rochau, Geschichte Frankreichs vom Sturze Napoleons bis zur Wiederherstellung des Kaisertums, 1814 – 1852, Erster Theil, Leipzig, 1858, S. 267. 89 s. für die Weimarer Zeit die Referenz im Wiener Vortrag von Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 10 u. 13 mit der Inbezugnahme Constants; C. Schmitt (Fn. 77), S. 132 ff.; ohne den Bezug zur Staatsgerichtsbarkeit in der Nachkriegszeit Doehring, Der „pouvoir neutre“ und das Grundgesetz, in: Der Staat 3 (1964), S. 201 ff.; s. weiter auch z. B. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 939. 90 Einführungen in die Staatslehre Constants bei Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, 1975, S. 142 ff.; C. Schmitt (Fn. 77), S. 132 ff.; Dolmatowski, Der Parlamentarismus in der Lehre Benjamin Constants, ZgesStWiss 63 (1907), S. 581 (624 ff.); weitausgreifende Darstellung und Würdigung der Staatslehre Constants bei Gall (Fn. 86). 91 Ausf. zu Constants Kritik an dem in Frankreich überkommenen Souveränitätsdogma: Gall (Fn. 86), S. 158 ff.; zum Einfluss von Sieyes auf Constant s. Gall (Fn. 86), S. 172. 92 s. Constant, Cours de politique constitutionnelle ou collection des ouvrages publiés sur le gouvernement représentatif, (zuerst 1815) avec une introduction et des notes par E. Laboulaye, Bd. I, Paris 1861, S. 1; in der deutschen Werkausgabe Bd. 4 unter dem Titel: Grundprinzipien der Politik, die auf alle repräsentativen Regierungssyteme und insbesondere auf die gegenwärtige Verfassung Frankreichs angewandt werden können, S. 1 ff. Die Kritik am Souveränitätsdogma Rousseau’scher Prägung findet sich im ersten Kapitel des Buches. 85
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ellen Existenz.93 Die Gesellschaft ist eine prinzipiell staatsfreie Sphäre. Constant kann also die in Frankreich überwiegende Lehre, dass die Grundrechte kein durchsetzbares subjektives Recht gewährten,94 schwerlich geteilt haben. Die naheliegende Folgerung, die Rechtsbindungen der Souveränitätsausübung richterlich überprüfen zu lassen, zieht er gleichwohl nicht. Er hält die Justiz schlicht für funktionsungeeignet: „L’esprit subtil de la jurisprudence est opposé à la nature des grandes questions qui doivent être envisagées sous le rapport public, national, quelquesfois même européen.“95 Nicht die Justiz scheint ihm das geeignete Sicherungsmittel; damit wird eine Gedankenlinie gebildet, die in Deutschland in der Staatspraxis jedenfalls bis Bismarck und in die Reichsverfassung 1871 reicht, die für die Sicherung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze auf den Bundesrat vertraute. Constant sucht die Lösung vielmehr in einer modifizierten Gewaltenteilungslösung in einer „gemischten“ Verfassung. In seinen „Réflexions sur les Constitutions“ fasst Constant seine Position96 sehr knapp zusammen: In seine konventionelle Beschreibung der Gewaltenteilung fügt er bei der gesetzgebenden Gewalt, die durch Repräsentativkörperschaften ausgeübt wird, die „Sanction du Roi“ ein. In diesem Ensemble der Gewalten ist der König „autorité neutre et intermédiaire, sans intérêt bien entendu (…) à déranger l’équilibre, et ayant, au contraire tout intérèt à le maintenir.“ In diesem System ist die richterliche Gewalt nur als normanwendende, aber nicht als normkontrollierende denkbar, weil eine Kontrolle des monarchischen Mitwirkungsaktes an der Normgebung außerhalb des zeitgenössisch Vorstellbaren lag. Der König fungiert als „Moderator“ der Staatsgewalten.97 Constant selbst charakterisiert das Wesen des „pouvoir neutre“ oder des „pouvoir moderateur“ durch den berühmt gewordenen Satz: „Le pouvoir royal est, en quelque sorte, le pouvoir judiciaire des autres pouvoirs.“98
93 s. Constant, Cours de politique constitutionnelle, éd. E. Laboulaye, Paris 1861, t. I, S. 275; an anderer Stelle bemerkt Constant: „La volonté de tout un peuple ne peut rendre juste ce qui est unjuste. Aucun autorité sur la terre n’est illimité; les bornes lui sont tracées par la justice et par des droits des individus.“ (op. cit. S. 188); zu ergänzen ist, dass der Herausgeber Laboulaye das richterliche Prüfungsrecht mit den „amerikanischen Begründungen“ dezidiert auch für Frankreich adoptiert hatte: s. Laboulaye (Fn. 22), S. 35 f. sowie dessen Vorrede im Dritten Band, Heidelberg 1882, S. 1 ff. Bluntschli hatte seinem Freund Laboulaye ins Stammbuch geschrieben, es werde nicht gelingen, „die Franzosen zu amerikanisieren“. s. Bluntschli, Denkwürdigkeiten aus meinem Leben, 3. Teil: Die deutsche Periode, Zweite Hälfte: Heidelberg 1861 – 1881, Nördlingen 1884, S. 249. 94 s. bei Constant (Fn. 93), chap. 1; s. weiter zur mangelnden Bindungskraft der Grundrechte etwa Scheuner, Diskussionsbeitrag, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit (Beiheft 4 zu Der Staat), 1980, S. 116 ff. 95 Zit. nach Triepel (Fn. 89), S. 10. 96 Constant, Réflexions sur les Constitutions, la Distribution des Pouvoirs, et les Garanties, dans une Monarchie Constitutionnelle, Paris 1814, S. 3 = Cours de politique constitutionnelle, (Fn. 91) t. I, S. 176. 97 Zur Lehre Constants vom ,pouvoir neutre‘ s. Gall (Fn. 86), S. 166 ff., zur (begrenzten) Rezeption in Deutschland, S. 183 ff. 98 Constant (Fn. 96), S. 8 = Cours de politique constitutionnelle (Fn. 91) t. I, S. 179.
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Das Amt des Königs mit seinen arbiträren Attributen wird von dem Optimismus begleitet, er werde die Verfassung schützen. Die Verfassungsgerichtsfunktion wird so entbehrlich. d) Konsequenzen Im Lichte dieser Gedankenreihen liegt auf der Hand, dass die inzidente Normprüfung keine Realisationschance in der Praxis hatte. Dazu gibt es für die Gerichtspraxis auch explizite Entscheidungen. Am 11. Mai 1833 entschied die Cour de Cassation in einem die Pressefreiheit betreffenden Fall:99 „Attendu que la loi du 8 octo-1830, déliberée et promulguée dans les formes constitutionnelle préscrites par la charte, fait la règle des tribunaux et ne peut être attaquée devant eux pour cause d’inconstitutionnalité.“ An dieser Auffassung ist auch in der Zwischenkriegszeit nichts geändert worden, Henry Nézard schließt seine Problemerörterung mit dem Satz: „Ainsi la raison, l’histoire et les textes condamnent avec la doctrine classique le contrôle de la constitutionnalité des lois par les tribunaux, contrôle que la jurisprudence n’a jamais admis.“100 Noch in Art. 5 der gaullistischen Verfassung der V. Republik101 aus dem Jahre 1958 wird dem Präsidenten die Aufgabe zugeteilt, mit seiner Schiedsgewalt über die Einhaltung der Verfassung zu wachen. Immerhin wird ihm ein Verfassungsorgan an die Seite gestellt, das unzweifelhaft auch auf die Verfassung bezogene Kontrollaufgaben wahrnehmen sollte, der Conseil constitutionnel.102 Er etablierte sich, was nicht selbstverständlich war,103 als Gericht und erweiterte durch die Einbeziehung von Menschen- und Grundrechtsgewährleistungen seinen Prüfungsmaßstab.104 Allerdings war das Verfahren ursprünglich nur als präventive Normenkontrolle auf Antrag bestimmter Verfassungsorgane beschränkt. 1974 wurde das Verfahren auch für die parlamentarische Opposition geöffnet. Seit 2010 ist auch die konkrete Normenkontrolle eröffnet, allerdings nur, wenn auf der Conseil d’état oder die Cour de cassation ein Parlamentsgesetz vorlegt. Insbesondere der letzte Kompetenzzuwachs trägt der Tatsache Rechnung, dass das Denken in gestuften Rechtsordnungen zur Regel geworden ist. In dieser Stufung sollte der Rechtsbestand des Staates in seiner Geltung möglichst richterlich validierbar sein; die Kompatibilität mit supranationalem Recht (EuGH) oder internationalem Grundrechtsschutz wird ohnehin zwingend richterlich geprüft. Dieser Gedanke trägt 99
Cass. 11 mai 1833, S. 1833, I, p. 357; hier zitiert nach Duguit (Fn. 58), S. 721. Nézard, in: Esmein/Nézard (Fn. 58), t. I, S. 648. 101 Zum Geist der Verfassung der V. Republik, s. Jouanjan (Fn. 58), Rn. 9 ff. 102 s. dazu die Darstellung von Jouanjean, Die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der der Verfassung, in: Masing/Jouanjean (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 2013, S. 3 ff. 103 Jouanjean (Fn. 58), Rn. 39. 104 Jouanjean (Fn. 58), Rn. 40. 100
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auch die richterliche Gesetzeskontrolle auf ihre Verfassungskonformität: Wenn die Verfassung höherrangiges Recht ist, muss dessen Wahrung auch gerichtlich kontrolliert werden können – eine Erkenntnis, die Frankreich erst spät erreicht. 4. Schweiz a) Die Schweiz weist eine vornehmlich bundesstaatsrechtlich begründete Tradition der Verfassungsgerichtsbarkeit auf,105 die – dort allerdings in recht homöopathischer Dosierung – bis zur Bundesverfassung 1848 zurückreicht. Die Schweiz erweist sich aber auch als gelehrige Schülerin des Genfer Stadtbürgers Jean-Jacques Rousseau. In der Kleinräumigkeit der Schweizer Städte und Kantone hat die Referendumsdemokratie eine Chance bestimmendes Prinzip der Staatsleitung zu werden. Damit ist die Frage nach der Kompatibilität von unmittelbarer Volkswillensbildung und Verfassungsgerichtsbarkeit aufgeworfen.106 Die Verfassung aus dem Jahr 1848 sah vor, dass die Bundesversammlung eine Beschwerde eines Bürgers wegen der Verletzung verfassungsmäßiger Rechte aus der Bundesverfassung durch eine kantonale Behörde an das Bundesgericht verweisen konnte (Art. 104 SchwBV 1848).107 Es sollte überdies nur über exekutive kantonale Staatsakte entschieden werden können.108 Die Konstruktion gehört damit in den Themenkreis der Bundesaufsicht, die auch im Interesse des einzelnen Bürgers unter dem Gesichtswinkel einer bundesrechtlichen Rechtsgewähr gegen ein Bundesglied zur Hilfe kommen sollte.109 Praktisch bedeutsam war diese bundesverfassungsgerichtliche Rechtsgewähr nicht, weil die Bundeversammlung nur einen Fall bis zum Inkrafttreten der Verfassung des Jahres 1874 an das Bundesgericht überwiesen hatte.110 b) Die Verfassung 1874 regelt eindeutig, dass Bundesgesetzgebungsakte richterlich nicht am Maßstab der Verfassung geprüft werden können und dürfen. Schon der
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Einen Überblick über die Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit der Schweiz gibt Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des schweizerischen Bundesgerichts, Zürich 1933, S. 27 ff.; w. Hinw. bei J.-P. Müller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 53 (58 ff.). 106 Zur fortdauernden Aktualität des Themas s. etwa Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Thürer/Aubert/Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz. Droit constitutionnel suisse, 2001, § 74 Rn. 12 ff. 107 Greifbarer Text bei Kley (Fn. 21), S. 483 ff. und bei Gosewinkel/Masing (Fn. 54), S. 422. 108 Ausf. Analyse bei Vogt, Die Gerichtsbarkeit des eidgenössischen Bundes nach heutigem schweizerischem Staatsrecht, ZgesStWiss 13 (1857), S. 328 ff., zu den Zuständigkeiten des damaligen Bundesgerichts S. 413 ff.; knappere Darstellung bei Rüttimann, Das nordamerikanische Bundesstaatsrecht verglichen mit den politischen Einrichtungen der Schweiz, Erster Theil, Zürich 1867, S. 370 ff. 109 s. dazu Vogt (Fn. 106), S. 420. 110 So Rüttimann (Fn. 106), S. 377.
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Entwurf des Art. 113 SchwBV 1874111 erklärt das Bundesgericht nur für zuständig für (behördliche) Kompetenzkonflikte zwischen Bund und Kantonen (Art. 113 Abs. 1 SchwBV 1874), für staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen den Kantonen und für (Bürger-)Beschwerden wegen der Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der Bürger (Art. 113 Abs. 1 Ziff. 3 SchwBV 1874) – und nicht für die Normenkontrolle von Bundes(Parlaments)Recht, so dass – in Ansehung der positiven Kompetenzenumeration für das Gericht – auch Kompetenzüberschreitungen zu Lasten der Kantone nicht richterlich überprüft werden konnten. Dem Abg. Jakob Dubs reichte diese methodische Verfassungsauslegungsaussage nicht.112 Er beantragte, das Prüfungsverbot explizit in der Verfassung zu verankern; es folge schon aus der Gewaltenteilung, und er meinte, „daß sich dies übrigens bei uns von selbst versteht“.113 Dieses jetzt explizite Verbot der richterlichen Prüfung von Gesetzen, allgemein verbindlichen Beschlüssen und genehmigten Staatsverträgen sollte für das Bundesgericht „in allen diesen Fällen“ (i. e. die Zuständigkeit des Bundesgericht in der Staatsrechtspflege) gelten (Art. 113 Abs. 3 SchwBV 1874). Nach anfänglichen Zweifeln war rasch klar, dass das Prüfungsverbot über seinen benannten Zusammenhang hinaus für jeden Richter in jedem Verfahren gelten musste.114 In diesem System blieb die Kompetenzausscheidung zwischen Bund und Kantonen in der letztverbindlichen Kompetenz der Bundesversammlung, während gesetzgeberische Kompetenzübergriffe der Kantone bundesgerichtlich im Wege der Normprüfung beanstandet werden konnten, weil das Normprüfungsverbot nicht für kantonale Rechtssätze galt. Dieses Ergebnis wurde mit dem zentralen „ideologischen“ Argument, die Bundesgesetze seien Ausfluss des „seiner Natur nach“ unüberprüfbaren Allgemeinwillens (volonté generale), gerechtfertigt115 sowie mit der Überlegung, der Verfassungs111 Zur BV 1874 s. Kley (Fn. 21), S. 305 ff.; der Text der Verfassung dort S. 499 ff.; bei Gosewinlel/Masing (Fn. 54), S. 457 auch mit allen Folgeänderungen. 112 s. die knappen Referate zur Entstehungsgeschichte bei Burckhardt, Kommentar zur Schweizerischen Bundesverfassung vom 29. 05. 1874, 3. Aufl., Bern 1931, Art. 113 Anm. I (S. 771 ff.); Fleiner, Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bundesgesetze durch Richter, ZSR n.F. 53 (1934), II S. 1a (3a, 4a); ausführlich: Rappard, Le côntrole de la constitutionnalité des lois fédérales par le juge aux Etats-Unis et en Suisse, ZSR n.F. 53 (1934). II S. 36a (113a ff.); Auer, „(…)le Tribunal fédéral appliquera les lois votées par l’Assemblée fédérale (…)“: réflexions sur l’art. 113 al. Cst. ZSR 99 (1980) I, S. 110 f. 113 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass auch der zeitgenössisch wohl wirkungsmächtigste schweizerische Staatsrechtslehrer Bluntschli in seinem etwa zeitgleich erschienenen und damals weitverbreiteten „Allgemeinen Staatsrecht“ (Lehre vom modernen Staat. Zweiter Theil: Allgemeines Staatsrecht, 5. Aufl., Stuttgart 1876), S. 132 lehrte, die Autorität des gesetzgebenden Körpers gelte, soweit seine Funktionen reichten, als die höchste und als eine unbestreitbare (S. 135), so dass ein richterliches Prüfungsrecht für Bluntschli nicht in Betracht kam. 114 s. zu dieser rasch unstreitigen ausdehnenden Auslegung: Schollenberger, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Kommentar, Berlin 1905, Art. 113 Anm. IV (S. 563) sowie Fleiner (Fn. 110), S. 8a. 115 So Giacometti (Fn. 103), S. 45. Diese Argumentation ist in einer Referendumsdemokratie, in der das Volk immer das letzte Wort haben kann (Art. 89 Abs. 2 SchwBV 1874),
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text, insbesondere die Kompetenznormen, seien doch recht unbestimmt und der Richter sei auch mit der Rolle des Fortbilders der Verfassung überfordert.116 Die Position ist allerdings nicht ohne Widerspruch geblieben. Es entbehrt nicht einer gewissen Delikatesse, dass ausgerechnet der Proponent des expliziten Verbots der Normprüfung, Jakob Dubs – inzwischen Bundesrichter (!) –, zu der Auffassung kam, die Theorie und Praxis in der Schweiz müsse langsam zur Lehre von der richterlichen Normprüfung „heranreifen“, um einer „verurteilungswürdigen Allmacht der gesetzgebenden Versammlungen“ wirksam entgegentreten zu können.117 In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts setzte eine intensivere Diskussion ein, die nicht zuletzt aus der Tatsache genährt wurde, dass die Kantone ihre Wehrlosigkeit gegenüber der übergriffigen Gesetzgebung stärker spürten.118 Es kam deshalb auch zu zwei Motionen mit dem Ziel einer Verfassungsänderung im Sinne einer Stärkung der Prüfungskompetenz, die aber beide ohne Erfolg blieben.119 c) 1934 nahm sich der Schweizer Juristenverein des Themas an. Fritz Fleiner machte den Weg zur Normenkontrolle plausibel mit Hinweisen auf Kompetenzübergriffe des Bundes.120 Zaccaria Giacometti trat deshalb in einem Begleitaufsatz dafür ein, diese Fragen einer abstrakten Normenkontrolle zuzuführen.121 Der zweite Referent, William E. Rappard nahm die Gegenpostion ein, indem er den Vorrang der Verfassung vor dem (einfachen) Parlamentsgesetz minimierte.122 Nebenbei zeigt sich plausibler als in einer repräsentativen Demokratie. s. zu diesen Argumenten, die im Diskurs in der Schweiz noch häufig die Schlachtordnung bestimmen werden, Schindler (sen.), Die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Schweiz, ZSR 44 (1925), S. 17 (43 f.) m.w.Nachw. 116 Schindler (Fn. 115), S. 48 f. 117 Dubs, Das öffentliche Recht der schweizerischen Eidgenossenschaft, Zwei Theile, Zürich 1877/78, Theil I S. 118 und Theil II, S. 92; Vogt, Die Organisation der Bundesrechtspflege in den Vereinigten Staaten von Amerika, ZSR 31 (n.F. 9), 1890, S. 566 f. bekannte, er lese diese Misstrauenserklärung in Art. 113 Abs. 3 an die Richter nie „ohne ein Gefühl der Beschämung“; er empfiehlt „diesen häßlichen Flecken auf dem sauberen Schilde unseres Rechtszustandes zu entfernen“. 118 Als Befund in der Genfer Dissertation von George Solyom, La juridiction constitutionnelle aux Etats-Unis et en Suisse. Etude sur le contrôle judiciaire de l’acte législative, Genf und Paris 1923, S. 99; zu dieser Arbeit s. auch die Rezension von Dietrich Schindler (sen.), in: ZSR N.F. 42 (1923), S. 232 ff.; Giacometti hatte in seiner Antrittsvorlesung unter dem Titel „Die Auslegung der schweizerischen Bundesverfassung“, 1925 mit dem Nachweis von Kompetenzübergriffen die praktische Dimension des Themas betont. 119 Zu der „Motion de Rabours“ und der „Motion Scherer“ und deren Scheitern s. Burckhardt, Schweizerisches Bundesrecht. Staats- und verwaltungsrechtliche Praxis des Bundesrates und der Bundesversammlung, 3. Bd., 1930, Nrn. 936 u. 937. Zu den Gründen des Scheiterns: Rappard (Fn. 110), S. 136a f.: Das Recht der Verfassungsinterpretation soll dem Volke zustehen – also die Referendumsdemokratie als Hindernis. 120 Fleiner (Fn. 112), S. 22a. 121 Giacometti, Die Verfassungsmäßigkeit der Bundesgesetzgebung und ihre Garantien, SJZ (1933/34), S. 289 (291 f.). 122 Rappard (Fn. 112).
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darin eine Frontstellung zwischen Welsch- und Deutsch-Schweizern im Verfassungsrechtsdenken, die wohl bis heute spürbar ist.123 Im Fortgang des Jahrzehnts blieb 1936 eine (Volks-)Initiative erfolglos, zu der der Bundesrat gemeint hatte, dass etwaige umstrittene Gesetzgebungsakte häufig Notstandsmaßnahmen seien, die man der Rechtsprechung nicht zur Kontrolle überlassen könne.124 Die Weltwirtschaftskrise hatte in der Schweiz zu Notstandsmaßnahmen geführt, die von Zaccaria Giacometti als Verfassungskrise analysiert worden ist.125 Die Referendumsdemokratie als (angenommenes) Sicherungsmittel der Verfassungsintegrität war durch die Notstandsmaßnahmen ebenfalls überspielt worden,126 weshalb Giacometti auf seinen Vorschlag, das Bundesgericht als Hüter der Verfassung fungieren zu lassen, zurückkommen konnte.127 d) Nach Rückkehr des Staatsrechts in die Normallage nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Diskussion mit weitgehend stabilem Argumentationshaushalt wiederaufgenommen worden. Wiederum forderte Zaccaria Giacometti jetzt in der Neuauflage des Fleiner’schen Lehrbuchs de constitutione ferenda die richterliche Normenkontrolle gegenüber Bundesgesetzten,128 Hans Marti postulierte insbesondere für den Individualschutz die inzidente Normenkontrolle.129 Hans Nef votierte 1950 in seinem Juristentagsreferat130 dafür, den Vorrang der Verfassung, dessen Sinn er darin sieht, bestimmte normierte Werte dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers zu entziehen, richterlich zu sichern.131 Das Gegenargument aus der Referendumsdemokratie hält er nicht für valide, – schon deshalb nicht, weil sie als Verfassungshüter 123 Zu dieser „Demarkationslinie Schweizer Staatsrechtsdenkens“ s. z. B. Haller, Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit?, ZSR 119 (= N.F. 97) (1978), S. 501 (502); Wildhaber, Das Projekt einer Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, in: JöR n.F. 26 (1977), S. 239 (275). 124 Zu dieser Initiative s. (später) Panchaud, Les garanties de la constitutionnalité et la légalité en droit fédéral, ZSR N.F. 69 (1950), S. 1a (36a ff.) sowie Nef, Sinn und Schutz verfassungsmäßiger Gesetzgebung und rechtmäßiger Verwaltung im Bunde, ZSR N.F. 69 (1950), S. 133a (166a ff.); Auer (Fn. 112), S. 112 f. 125 Schon 1934 hatte Giacometti von der „chaotischen staatsrechtlichen Praxis der Bundesversammlung und der dadurch ausgelösten Vertrauenskrise“ gesprochen, s. Giacometti (Fn. 121), S. 291; ders., Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Das autoritäre Bundesstaatsrecht), in: FS Fleiner 1937, S. 45 ff.; zust. später Marti, der Schutz der Verfassung, ZBJV 85 (1949), S. 193 (198): „Die Gefahr der Verfassungsverletzung hat sich verwirklicht; wir haben bereits eine langjährige verfassungswidrige Gesetzgebungspraxis hinter uns.“ Zur Verfassungskrise weitere Hinw. bei Nef, Sinn und Schutz verfassungsmäßiger Gesetzgebung und rechtmäßiger Verwaltung im Bund, ZSR N.F. 69 (1950), S. 133a (164a f.). 126 Giacometti (Fn. 125), FS Fleiner, S. 78. 127 Giacometti (Fn. 125), FS Fleiner, S. 77 ff.; übereinstimmend damals Ruck, Schweizerisches Staatsrecht, 2. Aufl., Zürich 1939, S. 138. 128 Fleiner/Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1949, S. 887 u. 933 f. 129 Marti (Fn. 125), S. 193 ff. 130 Nef (Fn. 124). 131 Nef (Fn. 124), S. 148a ff.
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in der Vergangenheit versagt habe, weil es evident verfassungswidrige Gesetze nicht angehalten habe. Das führt zu der These, dass die Verfassung auch gegen das Volk zugunsten des Einzelnen zu schützen sei.132 Kurz: Die Schweiz braucht (aus deutschschweizer Sicht) eine „selbständige repressive Verfassungsgerichtsbarkeit.“133 Das Parallelgutachten des (welsch-schweizer) Bundesrichters André Panchaud kam unter Betonung der überragenden Bedeutung des Demokratieprinzips zum gegenteiligen Ergebnis.134 Immerhin folgte er einem Vorschlag, den der Staatsrechtslehrer Hans Marti in die Debatte eingeführt hatte:135 Ein ,Collège constitutionnel consultatif‘ sollte präventiv die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung bereits in der Phase der Gesetzesausarbeitung sichern,136 was auf das Frankreich der V. Republik vorausweist.137 Der Grunddissens zwischen „radikal-demokratischer Idee“ und „liberalrechtsstaatlichem Prinzip“138 oder anders formuliert: zwischen dem „verfassungsstaatlichen Vorrang des Gesetzes“ und dem „dezisionistischen Vorrang des Gesetzgebers“139 oder in noch anderer Formulierung: zwischen der „logique de la démocratie“ und der „logique de la constitution“140 ist damals in der Schweiz erneut zugunsten der ,Parlamentssouveränität‘, respektive des referendumsberechtigten Staatsvolkes entschieden worden. Zwei Gründe sind es, die auch in der aktuellen Diskussion zu starker Zurückhaltung gegenüber jeder Form einer normkontrollierenden Verfassungsgerichtsbarkeit mahnen: Es erscheint schwer nachvollziehbar, dass im Rahmen der Verfassungsauslegung die Interpretation eines Gerichts der eines Parlamentes vorgezogen werden soll.141 Und: Warum sollte die Meinung von sieben Richtern einige hunderttausend Referendumsstimmen überwiegen?142 Vielleicht, weil es für die Verfassungsinterpretation, um Thomas Coke noch einmal zu zitieren,143 doch eine „artificial kind of reason“ in der Amtsausstattung des Richters braucht? Allerdings sollte 132
s. zu dieser Auseinandersetzung im Grundsätzlichen Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 152 ff., 175 ff.; Nef (Fn. 124), S. 177a ff., S. 217a ff., S. 232a ff., S. 272a ff. 133 Nef (Fn. 124), S. 262a ff. 134 Panchaud (Fn. 124), S. 35a ff. 135 Marti (Fn. 125), S. 200 ff. 136 Panchaud wie Fn. 134. 137 s. oben bei Fn. 101 ff. 138 So Marti (Fn. 125), S. 195. 139 So Kägi (Fn. 132), S. 163. 140 So Kägi (Fn. 132), S. 183. 141 s. Aubert, Traité de droit constitutionnel suisse, Vol. I, 1967, S. 171, No. 438. 142 s. Aubert (Fn. 141), S. 172 f., No. 442, auch das zweite französisch-sprachige Lehrbuch dieser Zeit teilt diesen Standpunkt: Favre, Droit constitutionnel suisse, 1966, S. 427 f. Aubert hat auch im Lichte der fortdauernden Diskussion an seiner Auffassung festgehalten: Aubert, Bundesstaatsrecht der Schweiz. Fassung von 1967. Neubearbeiteter Nachtrag bis 1990, Bd. I, 1991, Rn. 437 ff. 143 s. oben Fn. 12.
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aus den Antithesen keine Erlaubnis zum Verfassungsbruch durch den Gesetzgeber abgelesen werden.144 Es geht nicht um die Existenz oder Nichtexistenz des Vorrangs der Verfassung, sondern darum, wer das ,letzte Wort‘ in der Geltungsfrage haben soll.145 e) William E. Rappard wagte 1948 die Voraussage, das Schweizer Volk werde niemals eine gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Bundesgesetzgebung annehmen, weil es kein anderes Gesetz als das der eigenen Souveränität kenne und kennen wolle.146 In diesem Sinne „folgerichtig“ scheiterte 1974 ein erneuter Vorstoß in Richtung erweiterter Verfassungsgerichtsfunktionen des Schweizer Bundesgerichts147 ebenso wie parallele Bestrebungen im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung148 durch eine Expertenkommission149 – selbst in der etwas halbherzigen Version einer individualschützenden inzidenten Normenkontrolle bei Ausschluss eines Antragsrechts der Kantone auf Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundesrecht.150 Die Gültigkeit eines Bundesgesetzes sollte nach wie vor nicht Streitgegenstand sein können. Nach der Mitteilung Kurt Eichenbergers ging der Vorschlag einer sozialdemokratischen und welsch-schweizer Minderheit in der damaligen Reformkommission aus den traditionellen Gründen noch zu weit.151 Jean-François Aubert erblickte 144 Biaggini, Schweiz, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), IPE, Bd. I, 2007, § 10 Rn. 69; gleichwohl betont Hangartner (und hält die damit angedeutete Möglichkeit wohl nicht für gänzlich irreal), dass auch Normen, die „bewusst“ gegen höherrangiges Recht verstießen, angewendet werden müssten, in: St. Galler Kommentar, 2. Aufl. 2008, zu Art. 190 Rn. 7. 145 So Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 3. Aufl. 2011, § 8 Rn. 8 m.w.N. 146 Rappard, Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1848 – 1949, Zürich 1948, S. 426. 147 s. die Hinw. bei J.-P. Müller (Fn. 105), S. 64 in Fn. 27 a.E. 148 Zur Totalrevision der Bundesverfassung in der 70er Jahren s. etwa Böckenförde, Zur Diskussion um die Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, AöR 106 (1981), 580 ff.; Eichenberger, Der Entwurf von 1977 für eine neue Schweizerische Bundesverfassung, ZaöVR 40 (1980), 477; Wildhaber (Fn. 123); speziell zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Schmid, Zur Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Entwurf einer total revidierten Bundesverfassung – Notwendigkeit oder Wunschtraum, (Schriften des schweizerischen Aufklärungsdienstes 15), Zürich 1978, S. 135 ff.; Haller (Fn. 123) S. 501 ff.; ders., Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, DöV 1980, 465; J.-P. Müller (Fn. 105), S. 63 f. m. Fn. 26 ff. 149 s. Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Bericht, Bern 1977; der Textentwurf ist auch abgedruckt in AöR 104 (1979), 475 ff. 150 Nach dem Bericht der Expertenkommission (Fn. 149), S. 178 eine „den schweizerischen Verhältnissen angepaßte Lösung“. 151 Eichenberger (Fn. 148) berichtet von einer „beinahe vollständigen Zustimmung“ der Staatsrechtslehrer in der Expertenkommission, der eine „sozialdemokratische und welschschweizer Minderheit“ gegenübergestanden habe (S. 526); zweifelnd an der Vernunft einer solchen kupierten Verfassungsgerichtsbarkeit Eichenberger (Fn. 148) S. 517; zust. hingegen Kölz, Vom Veto zum fakultativen Gesetzesreferendum, FS Nef, 1981, S. 191 (208 f.).
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auch in dieser Form der Normenkontrolle „einen Einbruch der Richter in die Bundesgesetzgebung nach amerikanischem Vorbild“.152 Damit ist die Regelung für diese Denkrichtung unannehmbar, getragen allerdings auch von dem Sachgrund, dass ein gesetzliche Freiheitseinschränkungen nachprüfendes Gericht in die Lage komme, Abwägungsentscheidungen, die politisch zu verantworten seien; die politische Wertung könne aber nicht juristisch kontrolliert werden und dürfe also auch nicht juristisch kontrolliert werden. Die sich bei diesem Argument aufdrängende Idee, dass die Wertungen, die der Gesetzgeber vornehmen muss, von der Verfassung rechtlich vorstrukturiert sein können, findet in diesem Kalkül keinen Raum. Die Kommissionsmehrheit wollte gewissermaßen umgekehrt daraus einen Schuh werden lassen: Gerade „angesichts der vermehrten Offenheit der verfassungsrechtlichen Regelung der Wirtschaftsordnung und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen“ sei ein „auf Rationalität und Gerechtigkeit ausgerichtetes institutionelles Gegengewicht gegenüber dem vorwiegend politisch ausgerichteten Entscheiden von Bundesversammlung, Bundesrat, Volk und Kantonen“ dringend geboten.153 Art. 113 Abs. 3 SchwBV 1874 überlebte unter der Bezeichnung als „Massgeblichkeitsgebot“154 in Art. 190 SchwBV. 1996 und 2001 hat das Schweizerische Bundesgericht rechtspolitische Vorstöße unternommen, seine Kompetenzen im Sinne der Normenkontrolle zu erweitern. In einer Botschaft über die Reform der Bundesverfassung vom 20. November 1996 votierte das Gericht für seine Kompetenzerweiterung mit den Argumenten, es würde so der Rechtsstaat gestärkt, der wachsenden Bedeutung der Bundesgesetzgebung Rechnung getragen und es spreche dafür der Vorrang des internationalen Rechts und die Überprüfung der Bundesgesetze durch den EGMR. Deshalb solle es eine inzidente Normprüfung wegen der Verletzung verfassungsmäßiger und völkerrechtlicher Rechte geben und auf kantonalen Antrag ein Verfahren, in dem die Kompetenzausübung des Bundes gegenüber den Kantonen sollte kontrolliert werden können.155 Auch diesem Vorschlag blieb der Erfolg versagt.156 In der Botschaft vom 14. Novem152 Aubert, Observations sur l’idée et sur le projet d’une nouvelle Constitution Fédérale, ZSR 119 (N.F. 97, 1978), 239 (249); bei Böckenförde (Fn. 146) ist das Zitat Auberts S. 597 unrichtig wiedergegeben: Dort heißt es „l’éruption des juges“; im Orignal lautet es aber „l’irruption“, was man statt mit ,Einbruch‘ polemischer auch als ,feindlichen Einfall‘ wiedergeben könnte. 153 s. den Fn. 149 zit. Bericht der Expertenkommission S. 179; in diesem Sinne auch Eichenberger (Fn. 146) S. 517 und Schmid (der schon in der Expertenkommission eindringlich für eine erweiterte Kontrollkompetenz eingetreten war, s. den Hinw. bei Wildhaber [Fn. 146], S. 275) (Fn. 146), S. 141 u. 144. Schmid räumt bei seinen Überlegungen allerdings auch ein, dass bei offenen Normen die richterliche Kognition „immer umstrittener“ werden muss. 154 Begriff z. B. bei Hangartner, in: St. Galler Kommentar, 2. Aufl., 2008, zu Art. 190, Anm. III. 155 s. die Hinw. bei Auer/Malinverni/Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Vol.I: L’Etat, Deuxième éd., 2006, Rn 1861. 156 Auer et al. (Fn. 155), Rn. 1861; Häfelin/Haller/Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., 2008, Rn. 2087.
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ber 2001 sollten einzelne Kantone ein Antragsrecht erhalten, um die Verletzung der bundesverfassungsrechtlichen Kompetenzvorschriften rügen zu können; es sollte also eine föderale Normenkontrolle installiert werden.157 Der Vorschlag scheiterte, weil auch er eine Tür zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen geöffnet hätte.158 f) Gelegentlich ist als Eigenheit des schweizerischen Staatsrechts beobachtet worden, zum Ausgleich und zur Mitte zu drängen.159 In diesem Sinne ist der bloße Verfassungstext des Art 190 SchwBV heute auch nicht mehr160 das letzte Wort im Sinne eines gerichtlichen Normprüfungsverbots. Das zeigt sich in der verfassungskonformen Auslegung, die letztlich Auslegungsvarianten des Wortlauts am Maßstab der Verfassung prüft und einzelne Interpretationsmöglichkeiten verwirft, was in der Sache auf eine Teilverwerfung einer Norm hinauslaufen kann. Das Schweizer Bundesgericht hat seine Prüfungsabstinenz in diesem Sinne im Fall Jeckelmann 1969 beendet;161 es legt das Bundesgesetzesrecht seitdem verfassungskonform aus, prüft es also am Maßstab der Verfassung.162 Dem steht auch Art. 190 SchwBV nicht entgegen.163 Heute ist das unstrittig.164 Ein zweiter Schritt einer „véritable réinterprétation“165 des Art. 190 SchwBV kommt 1991 hinzu: Das Schweizerische Bundesgericht prüft die Verfassungskonformität des Bundesgesetzes, spricht sich darüber in seinem Entscheid auch positiv oder negativ aus, wendet aber auch im Fall des Negativattestes das entscheidungserhebliche, aber verfassungswidrige Gesetz gleichwohl an.166 Die Literatur bringt diesen Befund auf die einprägsame Formel, dass Art. 190 SchwBV
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Auer et.al. (Fn. 155), Rn. 1861. Auer et al. (Fn. 155), Rn. 1861. 159 So D. Schindler (jun.), Die Staatslehre in der Schweiz, JöR 25 (1976), 255 (270 ff.). 160 Nach der Auffassung Auberts (Fn. 139), No. 448, 449 sollte die Übereinstimmung eines Gesetzes mit der Verfassung in keiner Weise geprüft werden können. Fälle müssen danach ohne die Verfassung gelöst werden, oder, wie es Auer/Malinverni/Hottelier (Fn. 153), Rn. 1875 beschreiben, das Bundesgericht ist in der Lage der drei Affen aus der chinesischen Mythologie, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen. 161 BGE 95 I 330, 332 – Jeckelmann. Auer/Malinverni/Hottelier (Fn. 153), Rn. 1877 verstehen die Entscheidung durchaus als Zeitenwende: „L’arret Jeckelmann de 1969 peut être considéré comme une espèce de Marbury v. Madison helvétique: discret, à peine remarqué au moment de son pronocé, tout empreint de retenue à l’égard du législateur, mais reconnaissant au juge une compétence essentielle, qu’il s’était pendant longtemps refusée.“ 162 Auer/Malinverni/Hottelier (Fn. 153), Rn 1877: „(…) il faut bien que le juge examine la loi.“ 163 BGE 131 II 562, 567 – Spielbankenbesteuerung. 164 s. etwa Tschannen (Fn. 145), § 8 Rn. 19 ff.; Auer/Malinverni/Hottelier (Fn. 155), Rn. 1876 ff. Biaggini (Fn. 144), Rn. 69 bezeichnet die verfassungskonforme Auslegung als Abmilderung der „rechtsstaatlich wenig befriedigenden ,Immunisierung‘ der Bundesgesetze.“ 165 Auer/Malinverni/Hottelier (Fn. 155), Rn. 1878. 166 BGE 117 Ib 367, 373 – Eidgenössische Steuerverwaltung; 136 I 65 E. 3.2 S.70 f. – X u. Y. 158
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ein Anwendungsgebot, aber kein Prüfungsverbot beinhalte.167 Der Gesetzgeber wird sich in Folge eines solchen Urteils jedenfalls mit der Frage der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes auseinandersetzen müssen, kann sich aber in seiner eigenen HüterFunktion auch gegen die Auffassung des Urteils aussprechen und an der Norm festhalten. Ohne Nichtanwendungsbefugnis oder Gesetzeskraft von Normenkontrollentscheidungen sitzen die Gerichte jedenfalls nicht an einem langen Hebel. Das Volk als Gesetzgeber ist schon gar nicht an Gerichtsentscheidungen gebunden – auch dann nicht, wenn ein Urteil des Bundesgerichts eine bundesgesetzliche Lösung für verfassungswidrig hält. III. Schlussfolgerungen Dem Modell der bis dahin bekannten diffusen Normprüfung setzte Österreich 1920168, auf der Tradition seines Reichsgerichts aufsetzend,169 dem aber die Kontrolle der Reichsgesetze noch ausdrücklich untersagt war,170 das Modell einer konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit an die Seite. Die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ist danach im Wege der abstrakten (und einer beschränkten präventiven) Normenkontrolle durch den Verfassungsgerichtshof zu prüfen.171 Hans Kelsen sieht darin „den Höhepunkt seiner Funktion als Garant der Verfassung“.172 Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses Modell einer konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit für den Bund adoptiert; die Landesverfassungen haben es für ihren Geltungsraum ebenfalls übernommen. Es ist dies ein Erfolgsmodell geworden, das sich als exportfähig erwiesen hat. Wenn in Westeuropa in der Nachkriegszeit autoritäre Regime demokratisch gestürzt werden konnten (Spanien,173 Portugal174), wurde häufig auch eine konzentrierte Ver167 Kälin (Fn. 106), Rn. 26 ff.; Auer/Malinverni/Hottelier (Fn. 155), Rn. 1878 ff.; Tschannen (Fn. 145), § 8 Rn. 10; Häfelin/Haller/ Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl. 2008, Rn. 2089 f. 168 Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. 10. 1920, BGBl. Nr. 1/1920. Zur Genese dieses Modells s. Grabenwarter, Der österreichische Verfassungsgerichtshof, in: IPE, Bd. VI: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2016, § 102 Rn. 4 ff. 169 s. das Staatsgrundgesetz (Dezemberverfassung) vom 21. 12. 1867 RGBl. 143/1867, der Text ist auch greifbar bei Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, Wien 1911, S. 427 ff. 170 Art. 7 Staatsgrundgesetz (Fn. 168). Jellinek hat damals ein glänzendes Plädoyer – nicht zuletzt im Interesse der bundesstaatlichen Sicherung der Gesetzgebungskompetenzordnung – für „Ein(en) Verfassungsgerichtshof für Österreich“, Wien 1885, gehalten, der auch Gesetze des Reiches sollte prüfen müssen; zur insbesondere bundesstaatsrechtlichen Rechtfertigung op. cit. S. 27 ff., 52 ff. 171 Grabenwarter (Fn. 168), Rn. 34 ff. 172 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, 1923, S. 214. 173 Zur abstrakten und konkreten Normenkontrolle in Spanien s. Pagés, Das spanische Vefassungsgericht, in: IPE, Bd. VI: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2016, § 106 Rn 44 ff.
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fassungsgerichtsbarkeit implantiert (nicht aber in Griechenland). Die gleiche Entwicklung gab es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Osteuropa; in Russland, in Polen175 und in Ungarn176 sind die zunächst erreichten Fortschritte im Sinne einer funktionskräftigen konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit inzwischen nicht mehr ungefährdet. Belgien hat sich in Konsequenz der Föderalisierung des Staates schrittweise einer konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit angenähert.177 Griechenland ist nach dem Ende des „Obristen-Regimes“ im System einer inzidenten Kontrolle verblieben.178 In den Niederlanden ist die Verfassungsrechtslage eher mit der in der Schweiz vergleichbar, weil es auch dort ein explizites Verbot richterlicher Gesetzesprüfung gibt (das bereits aus dem 19. Jahrhundert stammt).179 Das Gesamtbild bleibt also vielgestaltig und bunt. Die gerichtliche Prüfung von Parlamentsgesetzen versteht sich jedenfalls immer noch nicht – im Sinne eines staatsrechtlichen „Naturrechts“ – gewissermaßen von selbst. Es ist überaus charakteristisch, dass die große Zahl der Staatsrechtslehrer und Höchstrichter die Normenkontrolle befürwortet, weil sie damit auch für ihre eigene soziale Bedeutung votieren. Und es ist ebenso charakteristisch, dass dort, wo die Normenkontrolle noch nicht existiert, die große Zahl der gewählten Repräsentanten die Etablierung einer solchen Prüfungskompetenz verneint. Dabei begegnen sich beide Seiten in einem begrenzten und schon lange Zeit stabilen Argumentationshaushalt, der sich aus dem demokratischen Gedanken und der Idee des Vorrangs der Verfassung speist. Es geht immer um das zentrale Problem, das 174
Präventive, konkrete und abstrakte Normenkontrolle, Art. 277 ff. PortV. s. Tuleja, Der polnische Verfassungsgerichtshof, in: IPE, Bd. VI: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2016, §103 Rn. 32 ff. zur Normenkontrolle; s. aber auch die vorsichtigen Schlussbemerkungen des Autors, der hinsichtlich der Rolle des Gerichts von „schwerwiegenden Konflikten“ spricht, aber erwartet, dass das System stabil bleibt (Rn. 96); das eingeleitete Rechtsstaatsverfahren (oben Fn. 4) sieht die Gewaltenteilung in Polen eher gefährdet. Vgl dazu die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. 11. 2017 zur Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in Polen (2017/2931 [RSP]). 176 Zur Rolle des ungarischen Verfassungsgerichts in der Epoche des Umbruchs, für die das Gericht eine transitional leadership mit einigem judicial activism entwickelt hatte (wie Sólyom letztlich über sich selbst als wirkungsmächtiger erster Präsident des Verfassungsgerichts schreibt): Das ungarische Verfassungsgericht, in: IPE, Bd. VI: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2016, § 107 Rn. 122. Eine gewisse Sorge Sólyoms spricht aus dem letzten Satz des Beitrags (2016 erschienen), das Gericht möge sich seine Rolle „auch unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen“ bewahren. 177 Zu Belgien jetzt Behrendt, Der belgische Verfassungsgerichtshof, in: IPE, Bd. VI: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2016, § 96. 178 s. Koutnatzis, Grundlagen und Grundzüge des griechischen Verfassungsrechts, in: IPE Bd. I, 2007, § 3 Rn. 71 ff. 179 Art. 120 NdlVerf.; zur Genese und Entwicklung des Normprüfungsverbots – die Debatte ist mit denselben Argumenten pro et contra geführt worden, wie sie hier für die Referenzländer nachgewiesen sind – s. Besselink, Verfassungsgerichtsbarkeit in den Niederlanden, in: IPE, Bd. VI: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2016, § 101 Rn. 6 ff. 175
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Thomas Hobbes letztlich schon mit dem Titelbild seines Leviathans 1651180 : Non est potestas Super Terram quae comparetur ei.181 aufgeworfen hat: Wenn der Staat das Monopol der Gewaltausübung für sich effektiv beansprucht, wenn er den Frieden nach Außen und nach Innen sichert, wenn er über das Schicksal des Volkes uneingeschränkt hoheitlich bestimmt, ist die Entartung der Staatsgewalt die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit; der Blick in die Geschichte genügt zur Verifikation. Also muss der Leviathan an die Kette gelegt werden, damit er nicht grenzenlose Gewalt für sich reklamiert. Die bisher erfolgreichste Antwort ist die verfasste Demokratie. Ob in dieser Verfassung auch noch die Mehrheit zum Schutz der Minderheit an die Kette gelegt werden soll, wird überwiegend in diesem Sinne entschieden, aber keineswegs einheitlich. Man kann an dieser Stelle durchaus rechts- oder verfassungskulturelle Eigenheiten beobachten, wie die hier behandelten Referenzbeispiele zeigen. Die gerichtlichen Sicherungen sind aber auch in solchen Systemen im Wachsen begriffen, die an sich auf die Legitimation der Entscheidungsrichtigkeit der Mehrheit vertrauen. Dass die Bundesrepublik Deutschland zur Lösung einer umfassenden, konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit gegriffen hat, versteht sich angesichts der katastrophalen Furchtbarkeit, mit der der Leviathan sein schreckliches Haupt erhoben hatte, beinahe selbstverständlich.
180 Zur Deutung des Titelbildes des Leviathan von Hobbes s. Brandt, Das Titelbild des Leviathan, in: Kersting (Hrsg.), Thomas Hobbes (Klassiker auslegen 5), 1996, S. 29 ff. 181 Bildüberschrift in der ersten Ausgabe 1651; zur Allmacht des Staates s. Leviathan II/17. Luther übersetzt die Sentenz aus dem Buch Hiob Kap. 41 Vers 25: „Auf Erden ist ihm niemand zu gleichen“. Der nächste Satz lautet bei Luther: „Er ist gemacht, ohne Furcht zu sein“.
Aktuelle Probleme des Bundestagswahlrechts Von Hartmut Maurer, Konstanz I. Einführung Die Wahl des Bundestages vom 23. September 2017 brachte – zumindest im Ergebnis – eine große, allerdings zum Teil auch voraussehbare Überraschung. Obwohl der Bundestag nach § 1 BWahlG aus 598 Abgeordneten, nämlich zum einen aus 299 direkt in Einzelwahlkreisen gewählten Abgeordneten und zum anderen – so wenigstens das rechnerische Ergebnis aus den vorgenannten Zahlen – aus 299 indirekt aufgrund von Parteilisten gewählten Abgeordneten besteht, wurden bei der letzten Bundestagswahl 2017 insgesamt 709 Abgeordnete und damit 111 zusätzliche Abgeordnete gewählt. Die zahlenmäßige Erweiterung des Bundestages ist freilich nicht neu, sondern setzt eine Tendenz fort, die sich schon früher, insbesondere seit 1990 angebahnt hat.1 Sie erfolgte nicht zufällig, sondern ergab sich – erst und nur – aus der Verknüpfung von zwei Wahlsystemen, nämlich der Personalwahl/Mehrheitswahl und der Listenwahl/Verhältniswahl. § 1 BWahlG selbst weist auf diese Kombination hin, indem er hinzufügt, dass der Bundestag „vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz (d. h. dem Wahlgesetz) ergebenden Abweichungen aus 598 Abgeordneten besteht.“ § 1 BWahlG bestimmt sonach nur die Mindestzahl der Abgeordneten, bleibt aber – bezüglich der Listenwahl – nach oben noch offen. Es ist damit zu rechnen, dass es bei gleichbleibender Rechtslage auch in Zukunft zu erheblichen Zunahmen führen kann. Dabei ist bemerkenswert, dass sich dieser Vorbehalt nicht auf den rechtlichen Ablauf der Wahl, sondern auf das jeweilige Verhalten der Wähler bezieht und daher nicht vorhersehbar ist, sondern erst aus dem tatsächlichen Wahlergebnis folgt. Damit stellen sich zwei Fragen: Wie kommt es zu dieser zahlenmäßigen, vom Gesetzgeber offenbar nicht beabsichtigten Ausdehnung des Bundestags? Gibt es effektive Alternativen?
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Vgl. dazu die Nachweise unter III. 4.
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II. Die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Grundlagen der Wahl 1. Die Regelungen des Grundgesetzes Die Wahl des Bundestages wird – auf der Grundlage der allgemeinen Verfassungsprinzipien der Art. 20 und Art. 28 Abs. 1 GG, insbesondere der dort festgelegten freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie – in Art. 38 Abs. 1 GG geregelt. Art. 38 GG bleibt allerdings mit Blick auf die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts ziemlich zurückhaltend. Er bestimmt lediglich in Abs. 1 die allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze (allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl), die sich erst im Laufe der historischen Entwicklung durchgesetzt haben, heute aber im Wesentlichen unbestritten sind, legt sodann in Abs. 2 das Wahlalter fest (18 Jahre für das aktive Wahlrecht und Eintritt der Volljährigkeit für die Wählbarkeit, die ebenfalls i. d. R. mit 18 Jahren eintritt), und verweist schließlich in Abs. 3 auf die nähere Regelung durch einfaches Bundesgesetz, das – nach Art. 42 Abs. 2 GG – mit einfacher Mehrheit des Bundestages ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen werden kann. Dagegen bleibt im Grundgesetz das zentrale Problem des Wahlrechts, nämlich das Wahlsystem, die Frage, nach welchen Grundsätzen und Regeln der Bundestag gewählt werden soll, offen. Sie wurde zwar im Parlamentarischen Rat lebhaft diskutiert.2 Die SPD und – zurückhaltender die FDP – plädierten für die Listenwahl, die zu Zeit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 – 1933 maßgeblich war; die CDU sprach sich dagegen für die Personenwahl aus, die im Deutschen Reich von 1871 – 1919 das Wahlrecht bestimmte.3 Da keine Einigung erzielt werden konnte, wurde die Wahlsystemfrage dem einfachen Gesetzgeber gem. Art. 38 Abs. 3 GG überlassen bzw. – genauer – zugeschoben. 2. Das Bundeswahlgesetz a) Zunächst stellte sich 1949 die Frage, wer für den Erlass des (ersten) Bundeswahlgesetzes zuständig war. Der Parlamentarische Rat hatte ja die umstrittene Frage des Wahlsystems dem Gesetzgeber gem. Art. 38 Abs. 3 GG (Bundestag) zugeschoben; der Bundestag musste jedoch erst durch eine rechtlich adäquate Regelung konstituiert werden; die Ministerpräsidenten der damals sieben westdeutschen Länder, die bei der Lösung länderübergreifender Fragen gelegentlich herangezogen wurden, winkten ab; die Militärgouverneure der drei Besatzungsmächte lehnten ebenfalls ab, ordneten dann aber doch den Erlass eines Bundeswahlgesetzes durch den Parlamen2 Vgl. v. Doemming/Füsslein/Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR Bd. 1 (1951), S. 349 ff; Der Parlamentarische Rat, 1948 – 1949, Akten und Protokolle, hrsg. vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, Bd. 6, Ausschuss für Wahlrechtsfragen, 1994, insb. S.XXV ff. und XLII ff. 3 Vgl. dann unten II. 2.
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tarischen Rat an. Art. 137 Abs. 2 GG bestimmte schließlich, dass „für die Wahl des ersten Bundestages… das vom Parlamentarischen Rat zu erlassende Wahlgesetz gilt“. Das Wahlgesetz wurde dann – wie es im „Vorspruch“ des Gesetzes heißt – auf Anordnung der Militärgouverneure vom Parlamentarischen Rat beschlossen und von den (damals elf) Ministerpräsidenten unterzeichnet.4 b) Das Wahlgesetz von 1949 und das zweite Wahlgesetz von 19535 waren ad hocGesetze und betrafen deshalb nur die jeweils anstehenden Wahlen; sie verfolgten aber im Wege des Kompromisses bereits die Verknüpfung beider Wahlsysteme, der Personenwahl und der Listenwahl. Das folgende Wahlgesetz von 1957 legte dann das Konzept „einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ endgültig fest (§ 1 Abs. 1 BWahlG). In der Literatur und Rechtsprechung wird kürzer – aber gleichbedeutend – von der „personalisierten Verhältniswahl“ gesprochen. Beide Formulierungen sind nicht ganz eindeutig. Was gemeint ist, ergibt sich aber bereits aus den folgenden Regelungen (§§ 4 – 6 BWahlG): Die Sitzverteilung im Bundestag bestimmt sich zunächst nach der Zweitstimme. Danach erhält jede Partei – entsprechend dem Grundsatz der Verhältniswahl – so viele Sitze im Bundestag, wie prozentual für sie Stimmen abgegeben worden sind (also etwa bei 30 % der Stimmen 30 % der Sitze, sofern sich nicht etwa noch Sonderregelungen ergeben). Bei der Besetzung der den einzelnen Parteien danach zukommenden Sitze sind zunächst die direkt gewählten Kandidaten zu berücksichtigen. Die dann noch freien Listenplätze fallen den Listenkandidaten entsprechend ihrer Reihenfolge zu. Je mehr Direktkandidaten anfallen, desto geringer sind die Chancen der Listenkandidaten. Problematisch wird es, wenn eine Partei mehr Direktkandidaten erlangt, als ihr Listenplätze zur Verfügung stehen. Das ist das Problem der sog. Überhangmandate und der sich daraus ergebenden Probleme der Ausgleichsmandate (vgl. dazu näher unter III. 4.). III. Die Wahlsysteme Wie sich aus den bisherigen Darlegungen ergibt, sind drei Wahlsysteme zu unterscheiden, nämlich (1) die Personenwahl/Mehrheitswahl, (2) die Listenwahl/Verhältniswahl und (3) die Kombination beider Systeme, die sog. personalisierte Verhältniswahl.
4 Vgl. Wahlgesetz des ersten Bundestages vom 15. 6. 1949/5. 8. 1949 (BGBl. 1949, S. 21/ 25); abgedruckt bei Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 2, 1951, S. 277; eingehend dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, S. 1293 ff.; ferner Ipsen, Der Staat der Mitte, 2009, S. 21 f. 5 Wahlgesetz zum zweiten Bundestag vom 8. 7. 1953 (BGBl. I, S. 470).
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1. Begriffliche Klärungen Die Begriffe Personenwahl und Listenwahl beziehen sich auf die zur Wahl stehenden Kandidaten: eine Einzelperson oder eine Personenliste, d. h. Parteienliste; die Begriffe Mehrheitswahl bzw. Verhältniswahl knüpfen jeweils daran an und bestimmen den Wahlerfolg: Bei der Personenwahl entscheidet die Mehrheit der Stimmen, bei der Listenwahl der prozentuale Anteil der Partei an der Gesamtstimmenzahl.6 a) Personenwahl. Das gesamte Wahlgebiet wird in so viele kleine Wahlkreise eingeteilt, wie Abgeordnete zu wählen sind. Gewählt ist, wer die Mehrheit der Stimmen erreicht hat. Nach der relativen oder einfachen Mehrheitswahl genügt die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (30 % genügen, wenn alle anderen Kandidaten weniger erlangt haben).7 Nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht muss der erfolgreiche Abgeordnete mindestens 51 % der Stimmen erlangt haben; erreicht kein Kandidat diese Stimmenzahl, so erfolgt eine Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten.8 b) Listenwahl. Das gesamte Wahlgebiet besteht aus einem Wahlkreis oder wird in einige wenige und damit große Wahlkreise eingeteilt9, in denen eine Personenliste, de facto eine Partei, zu wählen ist. Jede Partei erhält – entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – so viele Sitze im Parlament wie prozentual Stimmen für sie abgegeben worden sind. Nach dem System der starren Liste muss der Wähler die Liste nehmen, wie sie vorliegt. Nach dem System der freien Liste kann er noch Änderungen und Verschiebungen innerhalb der Liste vornehmen. c) Die derzeitige „personalisierte Verhältniswahl“ verknüpft beide Systeme, nämlich die Personenwahl und die Listenwahl, mit der Folge, dass die Stimmenergebnisse teilweise nach der Mehrheit der Stimmen (unter Wegfall aller anderen Stimmen) oder nach dem prozentualen Anteil der Stimmen (mit Berücksichtigung grundsätzlich aller Stimmen) bestimmt werden.10 Genau das ist aber ein oder sogar das Hauptproblem des derzeitigen Wahlrechts.
6 In der Literatur und Rechtsprechung werden die Begriffe nicht immer einheitlich und konsequent verwendet. Da es zunächst um die Wahl und dann erst um das Wahlergebnis geht, werden die Begriffe wie oben verwendet und alternativ von Mehrheitswahl und Verhältniswahl gesprochen. 7 So derzeit in Deutschland für die sog. Erststimme, ferner traditionell z. B. in England. 8 So in Deutschland 1871 – 1919; ebenso derzeit in Frankreich, allerdings mit der Folge, dass im zweiten Wahlgang die einfache Mehrheit genügt (der zweite Wahlgang hat durchaus noch Sinn im Blick auf mögliche neue Wahlbündnisse). 9 In Deutschland die einzelnen Bundesländer, was allerdings wegen deren unterschiedlicher Größe nicht unproblematisch ist. Eine Verbindung kleiner Bundesländer zum Ausgleich wäre durchaus diskutabel (vgl. dazu bereits beispielhaft, wenn auch früher und in kleinerem Rahmen, Art. III 9 Frankfurter Reichswahlgesetz vom 27. 3. 1849 mit Anlage A). 10 Vgl. dazu bereits oben II. 2. b).
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2. Historische Aspekte a) Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 enthielt keine ausdrücklichen Regelungen über das Wahlrecht. Vielmehr wurde das Wahlgesetz des Norddeutschen Bundes von 1867 als Reichswahlgesetz übernommen, das sich seinerseits dem Reichswahlgesetz von 1849 angeschlossen hatte, das wiederum im Zusammenhang mit der (nicht rechtswirksam gewordenen) Frankfurter Reichsverfassung von 1849 erlassen worden ist.11 Das Wahlrecht des Deutschen Reiches war sonach – entsprechend seinen Vorbildern – sehr fortschrittlich.12 Maßgebend war die in der damaligen Zeit übliche Personenwahl, wonach derjenige Kandidat gewählt war, der in seinem Wahlkreis die (absolute) Mehrheit der Stimmen erlangt hatte. Da das Deutsche Reich von 1871 eine konstitutionelle Monarchie war, beschränkten sich die Kompetenzen des Reichstags im Wesentlichen auf den Bereich der Gesetzgebung und die Öffentlichkeitswirkung parlamentarischer Diskussionen. Maßgeblich waren im Reichstag vor allem vier konservative und bürgerliche Parteien, von denen aber keine die Mehrheit im Reichstag hatte, so dass der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck und seine Nachfolger immer wieder eine Mehrheit für ihre Gesetzesvorhaben zusammensuchen mussten. Die SPD gewann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – entsprechend der zunehmenden Industrialisierung und der sich daraus ergebenden Zunahme der Arbeiterschaft – zunehmend mehr Stimmen bei der Wahl zum Reichstag, die sich aber nach dem damaligen Recht nicht entsprechend im Reichstag auswirkten. Die Forderungen der SPD auf Einführung der Listenwahl/Verhältniswahl blieben erfolglos. b) Die Weimarer Reichsverfassung von 1919. Die Revolution von 1918 und der damit verbundene Zusammenbruch des bisherigen monarchischen Regierungssystems führten zu einem grundlegenden Wandel der politischen und damit auch der verfassungsrechtlichen Verhältnisse. Die SPD übernahm die politische Führung, nachdem sie sich mehrheitlich gegen die parteiinternen linksradikal-kommunistischen Kräfte durchgesetzt hatte. Ihr Ziel war die Einführung einer parlamentarischen De11
Vgl. das Reichswahlgesetz vom 12. 4. 1849 (RGBl. 1849, S. 79) und das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31. 5. 1869 (BGBl. 1869, S. 145), abgedruckt bei Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 1, 1949, S. 265 und 335; ders., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 1964, S. 243; vgl. dazu auch ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, 1988, S. 646, 860 ff.; ferner die Übersicht über die parteipolitische Zusammensetzung des Reichstages, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte Bd. 2, 1964, S. 538 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. V (Geschichtliche Grundlagen des Deutschen Staatsrechts), 2000, S. 372. 12 Auch im Vergleich mit anderen Wahlgesetzen innerhalb und außerhalb Deutschlands (vgl. E. R. Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. I, 2003, § 4 Rn. 31). Bemerkenswert ist, dass damals in Preußen – bis 1918 – noch das sog. Drei-Klassen-Wahlrecht galt, nachdem die wahlberechtigte Bevölkerung (nur Männer ab dem 25. Lebensjahr) entsprechend ihrem jeweiligen Steueraufkommen in drei Klassen eingeteilt und damit die besser verdienenden Bürger erheblich bevorzugt wurden. Vgl. dazu anschaulich Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1987, S. 365 ff.
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mokratie. In diesem Zusammenhang setzte sie sich für den schon früher geforderten Wechsel des Wahlrechts und die Einführung der Listenwahl/Verhältniswahl ein. Bereits die Verfassungsgebende Nationalversammlung von 1919 wurde nach diesem Wahlsystem gewählt.13 Die dort ausgearbeitete Weimarer Reichsverfassung vom 14. August 1919 legte ausdrücklich die Verhältniswahl für den Reichstag (Art. 22 Abs. 1 WRV), für die Landtage (Art. 18 Abs. 1 WRV) und die Gemeinden (Art. 18 Abs. 2 WRV) verbindlich fest. c) Durch die nationalsozialistische Diktatur wurden im Jahre 1933 die damaligen demokratischen Parteien aufgelöst oder politisch zur Auflösung gezwungen. Damit entfiel auch die Basis für ein demokratisches Wahlrecht. Das Ende der Weimarer Republik war besiegelt. Der (nur noch aus Nationalsozialisten bestehende) Reichstag bestand zwar formell weiter, wurde aber selbst zum bloßen Akklamationsorgan für den „Führer“ degradiert. Das Ende brachte der Zusammenbruch 1945, dem die drei alliierten Besatzungsmächte und der Wiederaufbau eines demokratischen Staates in den westlichen Besatzungszonen folgten.14 3. Vergleich der Wahlsysteme Vergleicht man die beiden traditionellen Wahlsysteme, dann zeigen sich nicht nur formell-rechtliche, sondern auch politische Konsequenzen. a) Die Personenwahl/Mehrheitswahl vermittelt den Staatsbürgern durch seine Stimmabgabe unmittelbaren Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages. Auch wenn sie zunächst im Blick auf die Vielzahl von Wählern nur geringfügig erscheinen mag, so gewinnt sie doch durch ihr solidarisches Zusammenwirken mit anderen gleichgerichteten Stimmen Bedeutung. Durch die Direktwahl werden zudem persönliche Beziehungen zwischen dem Abgeordneten und seinem Wahlkreis begründet und weiterentwickelt. Der Abgeordnete hat seinen (relativ) kleinen Wahlkreis, kennt dessen spezifische Probleme und kann von jedem Wähler und von sonstigen Personen direkt angesprochen werden und die dabei gewonnenen Erkenntnisse in seine parlamentarische Arbeit einbeziehen. Allerdings gilt dies – im Blick auf die unterschiedlichen politischen Einstellungen und Ausrichtungen in den einzelnen Wahlkreisen – doch nur bedingt.
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Vgl. dazu die Verordnung über die Wahlen zur verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung (Reichswahlgesetz) vom 30. 11. 1918 (RGBl. 1919, S. 1345); Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. II, 1951, S. 21. 14 In den ersten Landesverfassungen von 1946 und 1947 wurde die Listenwahl wieder eingeführt, vgl. Art. 14 I Bay.Verf von 1946 („verbesserte Verhältniswahl“); Art. 52 Württ.Bad. Verf. von 1946; Art. 72 I Hess. Verf. von 1946; Art. 80 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947; die Verf. von Baden (Südbaden) und die Verf. von Baden-Hohenzollern überließen die nähere Ausgestaltung des Wahlrechts dem Gesetzgeber (in den Ländern der englischen Besatzungszone gab es noch keine Verfassungen).
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Schon der Charakter der Personenwahl erfordert, dass die Wahlkreise relativ klein und überschaubar sind. Der Gleichheitssatz verlangt, dass sich die Wahlkreise nach quantitativer Größe und personellem Zuschnitt einigermaßen entsprechen. Der Maßstab dafür ist nach § 3 BWahlG die Bevölkerungszahl (nicht die Wählerzahl) der jeweiligen Wahlkreise. Abweichungen nach oben oder nach unten sind bis zu 15 % zulässig, bei Abweichungen ab 25 % ist eine Neueinteilung erforderlich. Die starke Bevölkerungsfluktuation in Deutschland erfordert immer wieder eine Prüfung und ggf. eine entsprechende Korrektur.15 Andererseits stößt die Personenwahl auch auf Einwände und Grenzen. Der Wähler kann zwar frei wählen und entscheiden, aber nur zwischen den Wahlvorschläge der Parteien. Wenn er mit dem Kandidaten seiner Partei nicht einverstanden ist, hat er lediglich die Möglichkeit, seine Stimme einem Kandidaten einer anderen Partei zu geben (gleichsam als „zweite Wahl“) oder ganz auf sein Wahlrecht (soweit es um die Erststimme geht) zu verzichten. Auch die Personenwahl ist insoweit ein zweistufiger Akt, der aus dem Wahlvorschlag einer Partei und der Wahl des Bürgers besteht, also insoweit auch „eine indirekte Parteienwahl“ darstellt.16 Das Hauptproblem der Personenwahl ist, dass bei ihr zwar alle Stimmen gezählt werden, aber nur die Stimmen, die für den Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl abgegeben wurden, erfolgreich sind. Die übrigen Stimmen bleiben unberücksichtigt, fallen also ersatzlos weg. Sie haben zwar gleichen „Zählwert“, aber nur begrenzten „Erfolgswert“. Das wirkt sich vor allem dann aus, wenn – wie in § 5 BWahlG bestimmt ist – die relative Mehrheit genügt. Somit ist z. B. ein Kandidat, der 30 % der Stimmen erreicht hat, gewählt, wenn alle übrigen Kandidaten weniger Stimmen erlangt haben. Die politische Konsequenz ist, dass dadurch i. d. R. (nur) die großen Parteien (CDU, gelegentlich auch SPD) begünstigt werden. b) Listenwahl/Verhältniswahl. Nach der Listenwahl stehen nicht Einzelkandidaten, sondern die von verschiedenen Parteien aufgestellten Kandidatenlisten zur Wahl. Jede Liste erhält danach so viele Sitze, wie prozentual Stimmen für sie abgegeben worden sind. Die Bezeichnung Listenwahl (Parteienwahl) darf nicht falsch verstanden werden. Gewählt wird genau genommen nicht die Liste, sondern die dort aufgeführten Kandidaten entsprechend der auf der Liste genannten Reihenfolge: sie werden somit durch die Listenwahl Bundestagsabgeordnete. Die Liste ist gleichsam der Wahlvorschlag (wie bei der Personenwahl, vgl. oben). Der Wahlerfolg bemisst sich nach der Reihenfolge der einzelnen Listenkandidaten. 15
Vgl. dazu Sackosofsky, in: Morlok u. a., Parlamentsrecht, 2016, § 6 Rn. 77 ff.; ferner etwa BVerfGE 124, 1, 13; 130, 212, 225. 16 Vgl. zum Wahlvorschlagsrecht die §§ 18 ff. BWahlG. – Nach § 18 Abs. 1 und § 20 Abs. 3 BWahlG können Wahlvorschläge auch von mindestens 200 Wahlberechtigten eingebracht werden. Es handelt sich um ein Überbleibsel früherer Zeit, tatsächlich kommen solche Wahlvorschläge heute so gut wie nicht mehr vor. Immerhin gibt es Ausnahmen. So hat der Abg. Hans-Christian Ströbele, nachdem er von seiner Partei nicht mehr aufgestellt wurde, viermal (2002, 2005, 2009 und 2013) den Berliner Wahlkreis 84 als direkt gewählter Abgeordneter DIE GRÜNEN im Bundestag vertreten.
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Im Unterschied zur Personenwahl werden somit grundsätzlich alle Wählerstimmen und alle zur Wahl stehenden Parteien entsprechend ihrem Stimmenanteil berücksichtigt. Selbst kleine und kleinste Parteien könnten danach in den Bundestag gelangen. Allerdings gilt auch das nur bedingt: Sehr kleine Parteien scheiden von vornherein aus, wenn und weil sie nicht einmal die erforderliche Stimmenzahl für einen Kandidaten erreicht haben.17 Ferner werden nach der sog. 5 %-Sperrklausel nur die Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 % der Zweitstimmen erhalten haben.18 Die Sperrklausel ist allerdings nicht unbestritten und wird neuerdings wieder etwas stärker diskutiert.19 Sie lässt sich jedoch damit rechtfertigen, dass solche kleinen Parteien ohnehin kaum Einfluss haben, andererseits aber die erforderlichen Mehrheitsentscheidungen mit ihren wenigen Stimmen blockieren und verhindern könnten. In Deutschland gilt seit jeher im Wahlrecht die sog. starre Liste, so dass der Wähler keinen Einfluss auf die Sitzverteilung hat, sondern die in der Liste vorgegebene Reihenfolge hinnehmen muss. Die Folge ist, dass die vorderen Listenplätze sicher zum Mandat führen, die mittleren Listenplätze fraglich, aber möglich sind, die hinteren Listenplätze dagegen erfolglos sein dürften. Als Alternative besteht die sog. freie Liste, die im Kommunalrecht verschiedentlich vorkommt.20 Danach kann sich der Wähler nicht nur für eine bestimmte Liste entscheiden, sondern auch innerhalb der Liste auf die Reihenfolge der Listenkandidaten Einfluss nehmen, indem er einem Kandidaten mehrere Stimmen (etwa bis zu drei Stimmen) gibt, einen anderen Kandidaten streicht oder einen dritten Kandidaten nach vorne oder nach hinten schiebt. Die Konzeption der sog. freien Liste wäre durchaus ein Ausweg aus der derzeitigen Wahlrechtsproblematik. Darauf ist abschließend noch näher einzugehen. c) Die personalisierte Verhältniswahl verbindet die beiden traditionellen Wahlsysteme, nämlich die Personenwahl und die Listenwahl. Der Wähler hat zwei Stimmen. Mit der sog. Erststimme wählt er unmittelbar einen Abgeordneten seines Wahl17 Bei der letzten Bundestagswahl waren dies immerhin 27 Kleinstparteien, vgl. die Pressemitteilung des Bundeswahlleiters Nr. 34/17 vom 12. 10. 2017. 18 Vgl. § 6 Abs. 3 BWahlG. Ferner greift die 5 %-Klausel dann nicht ein, wenn eine Partei in mindestens drei Wahlkreisen ein Direktmandant errungen hat (sog. Grundmandatsklausel). Diese Ausnahme ist allerdings bislang nur einmal aktuell geworden (bei der Bundestagswahl 1994 erreichte die PDS zwar keine 5 % der Stimmen, aber vier Direktmandate und erhielt insgesamt 30 Sitze). 19 So wird teilweise die Reduzierung oder sogar Aufhebung der 5 %-Klausel auch für die Bundestagswahl gefordert, nachdem sie im Kommunalbereich und für das Europäische Parlament aufgegeben worden ist. Ferner wird in der Literatur gelegentlich für Parteien, die die 5 %-Klausel verfehlen, eine Eventualstimme bzw. Ersatzstimme gefordert. Das BVerfG hat vor kurzem aufgrund einer Wahlprüfungsbeschwerde durch Beschluss vom 19. 9. 2017 entschieden, dass die Einführung einer Eventualstimme „verfassungsrechtlich nicht geboten“ sei, aber auch nicht verboten sei und daher die Entscheidung dem Gesetzgeber überlassen (BVerfG NVwZ 2018, 648, 654 f.). M. E. ist das nur ein „Trostpreis“, der nichts oder nur wenig bringt, aber die Wahlauszählung zusätzlich kompliziert. 20 Vgl. etwa § 21 Bad.-Württ. Gemeindeordnung.
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kreises, mit der Zweitstimme wählt er eine Landesliste seines Bundeslandes (§ 4 BWahlG). Beide Wahlen erfolgen gemeinsam, wenn auch inhaltlich getrennt, auf einem Wahlzettel. Die Auszählung erfolgt dann wieder getrennt auf der Wahlkreisebene bzw. der jeweiligen Landesebene. Für das Endergebnis werden sie dann wieder zusammengefasst. Die Einzelheiten sind im BWahlG und in der Bundeswahlordnung geregelt. Die Verbindung der beiden Wahlsysteme hat Kompromisscharakter. Sie soll die Vorteile beider Wahlsysteme gewährleisten, übernimmt dabei aber auch deren jeweilige Nachteile, die z. T. gerade auch durch die Verbindung entstehen. Das gilt umso mehr, als die beiden Wahlsysteme nicht einfach nebeneinander stehen,21 sondern ineinander greifen.22 Bei der Beurteilung der personalisierten Verhältniswahl darf indessen nicht nur die derzeitige formell-juristische Seite betrachtet werden, sondern müssen auch die historischen und politischen Zusammenhänge der jeweiligen Wahlsysteme einbezogen werden. Die Personenwahl wurde durch die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts geprägt. Sie erfolgte in kleinen überschaubaren Wahlkreisen, in denen derjenige „Wahlkandidat“ gewählt wurde, der die meisten Stimmen erhalten hatte. Die Parteien bildeten sich erst später – mit oder durch die Wahlen – heraus. Heute haben die Parteien auch wesentlichen Einfluss auf die Personenwahl, was sich schon daraus ergibt, dass auch in diesem Fall die Wahlvorschläge von den Parteien stammen.23 Die Listenwahl ist eine Konsequenz oder – besser – eine Voraussetzung des Parteienstaates, da die jeweilige Partei ihre Wahlvorschläge festlegt und den Wählern zur Entscheidung vorlegt.24 Das schließt nicht aus, dass auch heute noch die Personenwahl einen gewissen Eigenwert besitzt, da sie persönliche Beziehungen zwischen den Abgeordneten und den Bürgern begründet und verstärkt, was freilich bei entsprechendem Engagement auch bei der Parteienwahl möglich ist. Die vom BVerfG immer wieder vertretene Auffassung, dass der Gesetzgeber aufgrund seines Regelungsauftrages gem. Art. 38 Abs. 3 GG befugt sei, die Wahl des Bundestages als Mehrheitswahl oder als Verhältniswahl auszugestalten oder beide Wahlsysteme miteinander zu verbinden,25 darf nicht überbewertet werden. Das zeigen bereits die zahlreichen Bindungen und Beschränkungen, auf die das BVerfG in
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So das (nicht übernommene) Grabensystem nach dem ein Teil der Abgeordneten nach der Personenwahl und der andere Teil nach der Listenwahl gewählt wird, 50:50 oder 40:60 %. 22 Vgl. bereits oben II. 2. b) und III. 1. c): mit der Zweitstimme werden entsprechend der Listenwahl die Sitze auf die verschiedenen Parteien verteilt, mit der Erststimme werden die Direktkandidaten auf die Listenplätze verteilt. 23 Vgl. dazu bereits Fn. 16. 24 Vgl. dazu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, 1981, S. 131 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 295; Badura, Bonner Kommentar, Art. 38 Anhang Rn. 21. 25 BVerfGE 6, 84, 90; 16, 130, 139; 95, 335, 349 ff.; 121, 266, 296 ff.; 122, 304, 314; 131, 316, 335 f.
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diesen Fällen jeweils ausdrücklich hinweist.26 Auch die Literatur ist gegenüber dieser „großzügigen“ Auslegung skeptisch oder sogar ablehnend.27 4. Überhangmandate und Ausgleichsmandate a) Überhangmandate sind eine (nicht beabsichtigte) Konsequenz des Zweistimmenwahlrechts. Die Ausgleichsmandate haben den Zweck, die durch die Überhangmandate „betroffene“ Wahlrechtsgleichheit wieder herzustellen. Beides führt zu einer erheblichen Erhöhung der Abgeordnetenzahlen. b) Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem Verteilungsprinzip des § 1 BWahlG zustehen. Wie bereits dargelegt wurde,28 erhält jede Partei so viel Sitze, wie prozentual für sie Stimmen abgegeben worden sind. Bei der Verteilung dieser Sitze werden zunächst die Direktkandidaten und – für die restlichen Sitze – Listenkandidaten berücksichtigt. Problematisch wird es, wenn nach der Erststimme mehr Kandidaten einer Partei gewählt wurden, als ihr Sitze nach der Liste noch zustehen. Es stellt sich dann – unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes – die Frage, wie das Problem der Überhangmandate zu lösen ist: zu Lasten der Überhangmandate oder zu Gunsten der Listenkandidaten oder durch eine zusammenfassende Neuregelung. Das Problem der Überhangmandate besteht seit 1949, ist aber in den ersten Jahren kaum oder überhaupt nicht aktuell geworden, weil nur selten, teilweise sogar keine Überhangmandate anfielen.29 Seit 1990 (nach der Wiedervereinigung) haben sie erheblich zugenommen. Das zeigt folgende Übersicht: Bundestagswahl
Überhangmandate
12. Wp 1990
6 (CDU)
13. Wp 1994
16 (12 CDU und 4 SPD)
14. Wp 1998
13 (SPD)
15. Wp 2002
5 (1 CDU und 4 SPD)
16. Wp 2005
16 (7 CDU und 9 SPD)
17. Wp 2009
24 (CDU, darunter 1 CSU)
26
Vgl. dazu die bereits in der vorgehenden Fn. zitierten Entscheidungen. Vgl. dazu Dreier, GG, Art. 20 (Demokratie) Rn. 97: „Doch bildet aus verfassungshistorischen, grundgesetzsystematischen und repräsentationstheoretischen Gründen das (in Grenzen modifizierbare) Verhältniswahlrecht das verfassungsrechtlich adäquate System, so dass einem Übergang zum absoluten oder relativen Mehrheitswahlrecht schwerwiegende Bedenken entgegenstünden“. Vgl. auch Morlok, Demokratie und Wahlen, in: FS 50 Jahre BVerfG, hrsg. von Badura/Dreier, 2001, S. 559, 597 ff.; Lenz, Wahlrechtsgleichheit und das BVerfG, AöR 121 (1996), 337 ff.; Pauly, Das Wahlrecht in der neuen Rechtsprechung des BVerfG, AöR 123 (1998), 232 ff.; Lenski, Paradoxien der personalisierten Verhältniswahl, AöR 134 (2009), 473, 477. 28 Vgl. dazu II. 2. 29 Vgl. dazu die Übersicht bei Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Bd. III, 1999, S. 3682 f.; BVerfGE 95, 335, 340. 27
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Das BVerfG hatte sich seit 1990 mehrfach mit den Überhangmandaten zu befassen. Problematisch war nicht oder kaum ihre Zulässigkeit, sondern der Ausgleich durch zusätzliche Mandate (sog. Ausgleichsmandate), um die Gleichheit der beiden Stimmbereiche entsprechend der ursprünglichen Konzeption des § 1 Abs. 1 BWahlG – allerdings auf höherer Ebene – wiederherzustellen. Erwähnt werden im Folgenden nur die zwei wohl markantesten Entscheidungen. In der Entscheidung des BVerfG vom 10. April 1997 (BVerfGE 95, 335), ging es um eine Normenkontrollklage des Landes Niedersachsen mit dem Antrag, die Verfassungswidrigkeit von Überhangmandaten ohne Verrechnungs- oder Ausgleichsmandate festzustellen. Die Klage wurde abgelehnt, allerdings mit Stimmengleichheit (4 : 4 Stimmen) und damit die Verfassungsmäßigkeit der ausgleichslosen Überhangmandate (vorerst) gem. § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG prozessual bestätigt. In der Praxis blieb damit die Rechtslage offen. In einer späteren Entscheidung vom 25. Juli 2012 (BVerfGE 131, 316) nimmt das Gericht eine mittlere Position ein und stellt bereits im Leitsatz fest, dass Überhangmandate nach § 6 Abs. 4 BWahlG „nur in einem Umfang hinnehmbar (seien), der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt.“ In der Begründung wurde das konkretisiert: danach sind nur etwa 15 Überhangmandate zulässig, wobei das Gericht die Hälfte einer Fraktion, die in der Praxis regelmäßig aus dreißig Abgeordneten besteht, als Maßstab herangezogen hat. Diese konkrete Einschätzung ist in der Literatur auf Kritik und sogar auf Ablehnung gestoßen, sie ist auch vom BVerfG nicht wiederholt worden c) Neuregelung. Die Problematik der Überhangmandate hat inzwischen den Gesetzgeber zur Neuregelung des § 6 BWahlG bewogen.30 Danach werden Überhangmandate in der Sache akzeptiert (§ 6 Abs. 2 S. 2 BWahlG), aber nun – gleichsam im Gegenzug – durch entsprechende „Ausgleichsmandate“ für die anderen Parteien ausgeglichen (§ 6 Abs. 5 – 7 BWahlG). Die Folge ist, dass sich dadurch die Abgeordnetenzahl erheblich vergrößern kann und – wie sich bislang zeigt – auch tatsächlich vergrößert hat. Die Neuregelung hat die Ergebnisse der beiden folgenden Wahlen erheblich erhöht, wie die folgende Übersicht zeigt. Sie erfasst nun nicht nur, wie bislang, die Überhangmandate, sondern auch die ihr entsprechenden Ausgleichsmandate. Bundestagswahl
Überhangmandate
Ausgleichsmandate
Gesamtzahl des BT
18. Wp. 2013
4 (CDU)
29
631
19. Wp. 2017
46 (CDU)
6531
709
30
22. Gesetz zur Änderung des BWahlG vom 3. 5. 2013 (BGBl. I S. 1082); vgl. dazu Holste, NVWZ 2013, 529 ff.; Pukelsheim/Rossi, ZG 28 (2013), 209 ff.; Grzeszick, ZG 29 (2014), 239 ff.; Krüper, Jura 2013, 1174 ff. (insb. S. 1157 f.); Gröpl, Staatsrecht I, 9. Aufl. 2017, Rn. 950 ff., 967 ff.; Ipsen, Staatsrecht I, 29. Aufl. 2017, Rn. 104 ff, Rn. 119a. 31 Ausgleichsmandate erhielten: AFD (11), FDP (15), Grüne (10), Linke (10) und die SPD (19, die zudem auch drei Direktmandate enthielt).
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Nach allgemeiner Auffassung sind die derzeitigen Zahlen viel zu hoch und führen nicht zur Förderung der parlamentarischen Arbeit, sondern umgekehrt zu ihrer Belastung.
IV. Alternativen und Lösungsvorschläge 1. Korrekturen des derzeitigen Wahlrechts? In der Literatur werden eine Reihe von Vorschlägen zur Reform des Wahlrechts, insbesondere zur Beseitigung oder wenigstens Reduzierung der Überhangmandate und – neuerdings entsprechend auch der Ausgleichsmandate – vorgetragen. Die staatsrechtliche Literatur ist in dieser Hinsicht allerdings noch zurückhaltend und geht kaum auf die Problematik und eventuelle Alternativen ein.32 Dagegen hat sich die politikwissenschaftliche Literatur eingehend mit diesen Problemen befasst und entsprechende Lösungsvorschläge entwickelt.33 Im Einzelnen kann darauf hier nicht mehr eingegangen werden; es sollen aber doch einige Hinweise folgen. a) Streichung der Überhangmandate? Der gelegentliche Vorschlag, unter dem derzeitigen Wahlsystem die Überhangmandate ganz oder wenigstens teilweise ersatzlos zu streichen, ist nicht vertretbar. Der Direktkandidat ist gewählt (§ 5 BWahlG, man müsste also zunächst diese Vorschrift gesetzlich variieren). Zudem steht die Zahl der Überhangmandate zunächst nur summarisch, nicht personell fest, so dass noch eine Auswahl aus der Gesamtzahl der Direktkandidaten getroffen werden müsste, was wiederum die Festlegung von Auswahlkriterien erfordern würde. Vor allem ist aber zu beachten, dass eine Reduzierung der Direktmandate nicht nur den einzelnen Abgeordneten trifft, der die Wahl gewonnen hat, aber gleichwohl seinen Sitz nicht erlangt, sondern auch Auswirkungen auf den Wahlkreis hat. Seine Wähler müssten trotz ihres Wahlerfolges auf „ihren“ Abgeordneten verzichten; ferner würde der gesamte Wahlkreis – im Gegensatz zu den anderen Wahlkreisen – überhaupt nicht mehr personell im Parlament repräsentiert. Es gäbe dann Wahlkreise mit und Wahlkreise ohne Vertretung im Parlament. b) Vergrößerung der Wahlkreise? Möglich wäre eher, die Wahlkreise zu vergrößern, um dadurch ihre Zahl zu verkleinern, so dass dementsprechend weniger Wahlkreiskandidaten anstehen. Bei einer Reduzierung der Wahlkreise um ein Drittel, entstünden etwa 200 Wahlkreise, die allerdings wesentlich größer wären als bislang.34 32 Das liegt sicher auch daran, dass das Wahlsystem im Grundgesetz nicht geregelt ist, sondern bewusst dem Gesetzgeber überlassen wurde. Sie wird daher nicht oder doch nur sehr knapp in den Grundgesetzkommentaren behandelt. So wird z. B. im Grundgesetz-Kommentar von Dreier die grundsätzliche Problematik der Wahlsysteme nicht in den Ausführungen zu Art. 38, sondern nur knapp in Art. 20 GG behandelt [vgl. Art. 20 GG (Demokratie) Rn. 97]. 33 Vgl. dazu das Sammelwerk von Behnke, Decker, Grotz, Vehrkamp, Weinman, Reform des Bundestagswahlsystems, 2017, mit weiteren Literaturangaben S. 195 ff. 34 Vgl. dazu Pukelsheim, DVBl. 2018, 153 ff., der dies mathematisch exakt durchrechnet; ferner etwa Behnke, GWP 2017, 59, 69.
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Durch eine solche Vergrößerung der Wahlkreise würde aber auch deren eigentliche Funktion, nämlich die persönlichen Kontakte zwischen dem Abgeordneten und seinem Wahlkreis, erheblich beeinträchtigt. c) Doppelwahlkreise? Ferner werden anstelle des Einerwahlkreises Doppelwahlkreise, teilweise sogar Dreier- oder Viererwahlkreise empfohlen. Im Falle eines Doppelwahlkreises kann jede Partei zwei Kandidaten aufstellen und sich der Wähler für zwei Kandidaten (einer Partei oder verschiedener Parteien) entscheiden, also z. B. eine Stimme dem Kandidaten der Partei A und die andere Stimme dem Kandidaten B geben.35 Entsprechendes gilt für die Dreier- und Viererwahlkreise. 2. Die freie Listenwahl als Alternative? Ziel einer Wahlrechtsreform sollte ein Wahlsystem sein, das in formaler Hinsicht möglichst einfach und nachvollziehbar ist, in sachlicher Hinsicht sowohl dem Anliegen und den Vorstellungen der Wähler als auch der Stellung und den Aufgaben der Parteien entspricht und schließlich das Parlament in die Lage versetzt, die ihm zukommenden Aufgaben sachlich und effektiv wahrzunehmen. Dies ließe sich durch eine Änderung des derzeitigen Wahlsystems und eine Reduzierung auf die freie Listenwahl erreichen. Es gibt immer wieder Regelungen, die zur Zeit ihrer Entstehung unproblematisch, vielleicht sogar fortschrittlich waren, aber durch die tatsächlichen oder rechtlichen Entwicklungen nicht mehr zeitgemäß erscheinen und Änderungen naheliegen oder sogar erforderlich sind. Dafür ist das 1956 erlassene Bundeswahlgesetz ein Beispiel. Die personalisierte Verhältniswahl, die in spezifischer Weise die Mehrheitswahl und die Listenwahl miteinander verbindet, hat zunächst in den ersten Jahrzehnten funktioniert, ist aber dann – seit 1990 – aus dem Ruder gelaufen. Die Abgeordnetenzahlen sind durch Überhangmandate erheblich gestiegen und haben durch Ausgleichsmandate noch einmal erheblich zugenommen.36 Maßgeblich dafür sind verschiedene Gründe, die nicht genau voraussehbar sind, so dass die exakte Zahl der Bundestagsabgeordneten jeweils erst nach der Wahl feststeht. Wesentliche Gründe dafür liegen im komplizierten Wahl- und Auszählungsverfahren. Andere Gründe sind auf das Verhalten der Wähler zurückzuführen. Die Zwei-Stimmen-Wahl ermöglicht z. B. taktische oder sogar manipulative Nutzungen der beiden Systeme im Rahmen des noch geltenden Rechts.37 Andererseits kommen angeblich viele Wähler mit dem komplizierten Zwei-Stimmen-Wahlrecht nicht zurecht und wählen prompt die 35 Vgl. Behnke, ZParl 2010, 247 ff.; vgl. ferner Dehmel/Jesse, ZParl 2013, 201, 211, die im Anschluss an die 1. Bundestagswahl von 1949 für ein Einerwahlrecht mit Doppelwirkung plädieren (eine Stimme für einen Wahlkandidaten und dessen Partei). 36 Vgl. oben III. 3. a), c). 37 So könnte – beispielhaft – die CDU die FDP durch Zweitstimmen und die FDP die CDU durch Erststimmen unterstützen. Die FDP käme damit sicher über die 5 %-Klausel, die CDU würde mehr Direktmandate erlangen.
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von ihnen eigentlich nicht gewollte Partei.38 Das sind indessen nur äußerliche Symptome eines in sich fragwürdigen Systems. Eine Rückkehr zum (ausschließlichen) Personenwahlrecht des 19. Jahrhunderts wäre allerdings verfehlt. Sie würde der heutigen Parteienstaatlichkeit und ihren Bindungen nicht mehr entsprechen, so dass dieser Aspekt hier nicht mehr weiter verfolgt werden soll. Eine weitere Frage wäre dann deren verfassungsrechtliche Bewertung in heutiger Zeit. Das Wahlsystem der Gegenwart ist die Listenwahl. Sie entspricht dem heutigen Parteienstaat als Organisationselement des heutigen demokratischen Systems. Möglich ist sie in zwei Variationen, der starren oder gebundenen Listen-Wahl und der freien oder offenen Listen-Wahl. Das Grundgesetz nimmt dazu nicht ausdrücklich Stellung, sondern überlässt die Regelung des Wahlsystems dem einfachen Gesetzgeber. Die konkrete Regelung trifft § 6 BWahlG, der die starre Listen-Wahl festlegt. Sie ist zwar derzeit maßgeblich, könnte aber jederzeit durch eine neue gesetzliche Regelung geändert werden. Nach der starren Listen-Wahl werden die künftigen Abgeordneten nicht nur von den jeweiligen Parteien vorgeschlagen, sondern von ihnen auch im Ergebnis weitgehend bestimmt. Die vorderen Listenplätze sind schon vor der Wahl erfolgversprechend, die letzten Listenplätze sind aussichtslos, lediglich die mittleren Plätze sind zweifelhaft und werden letztlich durch die Wahl entschieden, aber nicht im Blick auf die dort platzierten Kandidaten, sondern nach der Platzierung der Liste. Schon vor der Wahl steht somit weitgehend fest, wer gewählt wird und wer nicht. Das ist nach den in Art. 38 I GG festgelegten Grundsätzen der unmittelbaren und der freien Wahl der Abgeordneten zumindest fragwürdig, wenn nicht sogar verfassungswidrig.39 Anders liegt es beim System der freien Liste. Der Wähler kann zwar die Liste pauschal übernehmen und abgeben; er muss es aber nicht, sondern kann innerhalb der Liste Veränderungen vornehmen, indem er einzelnen Kandidaten mehrere Stimmen (bis zu drei Stimmen) gibt oder andere Kandidaten nach vorne zieht oder nach hinten schiebt oder ganz streicht.40 Folgt man diesem Konzept, dann ist der Wähler nicht auf ein pauschales Ja oder Nein beschränkt, sondern kann – im Rahmen des Wahlvorschlags seiner Partei – auch über die personelle Besetzung des Parlaments entscheiden. Die Personenwahl (Mehrheitswahl) entfällt in diesem Fall von selbst. Der Wäh38 Vgl. den Beitrag von Behnke mit dem bezeichnenden Titel: Der Einfluss der Kenntnis des Wahlsystems auf das Wahlverhalten: Weil sie nicht wissen, was sie tun, tun sie, was sie nicht wollen?, ZParl 2015, 588. 39 Vgl. dazu v. Arnim, Wählen wir unsere Abgeordneten unmittelbar?, JZ 2002, 578, 582 ff.; kritisch ferner etwa H. Meyer, HStR III, 2005, § 46 Rn. 15, 18; anderer Ansicht die h.L., vgl. z. B. Stern/Dietlein, Staatsrecht, Bd. IV 2, 2011, S. 223 f. mit zahlreichen Nachw. 40 Die völlige Streichung würde allerdings problematisch, wenn sie führende Persönlichkeiten der Partei oder spezielle Experten betreffen würde, was freilich kaum vorkommen dürfte. Wenn doch, dann müsste man eben noch eine entsprechende Sonderregelung treffen.
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ler ist danach nicht nur ein „Vollzugsobjekt“, sondern mitverantwortlicher Staatsbürger. Die sog. freie Liste wäre zwar in Deutschland neu, aber jedenfalls eines Versuches wert.41 Die Ermittlung des Wahlergebnisses mag in diesen Fällen zunächst aufwendig erscheinen, da die jeweiligen Stimmen für die einzelnen Kandidaten berücksichtigt und in das Wahlergebnis eingestellt werden müssen. Die heute mögliche und auch – vor allem außerhalb von Deutschland – zunehmend vorgenommene „elektronische Zählung“ führt indessen schnell – vielleicht sogar schneller als die bisherige Zählung – zum Ergebnis.42 Jedenfalls erübrigen sich damit die bisherige Zwei-Stimmen-Wahl und ihre Probleme, einschließlich der Überhang- und Ausgleichsmandate.
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Vgl. dazu v. Arnim, JZ 2002, 578, 582 ff. Problematischer wäre es, wenn der Wähler auch das Recht hätte, Kandidaten anderer Listen zu übernehmen und in seine Liste aufzunehmen (sog. Panachieren). Das kommt gelegentlich im Kommunalrecht vor, wäre aber m. E. auf der Bundesebene (schon im Blick auf die Auszählung) problematisch. 42
Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Atomausstieg Von Christoph Moench, Berlin* I. Einleitung 1. Mit Urteil vom 6. Dezember 20161 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den vorläufigen Schlusspunkt unter ein fünfjähriges Verfahren gesetzt, das zu den längsten und aufwendigsten Verfassungsprozessen in der Geschichte des BVerfG gehörte. Es ging um die Verfassungsmäßigkeit der 13. AtG-Novelle, die den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie in Deutschland regelt. Eine international beispiellose Entscheidung. Der Gesetzgeber hatte einen disruptiven Wechsel in der Energiepolitik beschlossen.2 Seine Vorgehensweise ist präzedenzlos, sowohl inhaltlich wie vom Ablauf her. Es liegt nahe, sich diese Entscheidung näher anzusehen und sie zu analysieren. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob diese Entscheidung einen Präzedenzcharakter für andere Ausstiegsszenarien aus der Nutzung * Der Verfasser des Beitrages hat mit dem Jubilar häufig über den Eigentumsschutz, den Enteignungsbegriff und Entschädigungsfragen diskutiert, freundschaftlich, im Ergebnis meist konsensual auch wenn es in der dogmatischen Begründung bisweilen Unterschiede gab. Grundlegend schon früh der Beitrag des Jubilars „Atomausstieg und Eigentum“ in NJW 2000, 1524 ff. Der Verfasser weist darauf hin, dass er im Verfahren vor dem BVerfG zum Atomausstieg mit E.ON einen der betroffenen Betreiber der KKW vertreten hat. Der nachfolgende Beitrag konzentriert sich darauf, die Entscheidung und ihren dogmatischen Kontext verständlich und nachvollziehbar zu machen, was angesichts der Länge des Urteils (150 Seiten) notgedrungen mit gewissen Vereinfachungen verknüpft ist. Soweit kritische Anmerkungen erfolgen, beziehen sie sich nicht auf die juristische Abwägung, sondern – mit Respekt vor der Entscheidung – auf die Begründungstiefe und weisen auf die möglichen Konsequenzen der Entscheidung hin. Da sich der Jubilar vielfältig mit Fragen des Eigentums befasst hat und das Verfahren vor dem BVerfG abgeschlossen ist, sah der Verfasser gegen die Wahl dieses Themas keine durchgreifenden Bedenken. Der Beitrag enthält keine Interna, die nicht im Urteil des BVerfG oder in anderen – namentlich den zitierten – Veröffentlichungen publik sind. Der Verfasser ist als Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, in Berlin tätig, Kanzlei Sammler Usinger. 1 BVerfGE 143, 246 – 396, S. 1 = DVBl. 2017, 113 = NVwZ 2017, Beilage Nr. 1, 3 = NJW 2017, 217. Dazu Berkemann, DVBl. 2017, 793. Berkemann spricht von der „ersatzlosen Liquidation eines ganzen Industriezweiges“; Ludwigs, NVwZ-Beilage 1/2017, 3; Schmitz/ Helleberg, NVwZ 2017, 1332; Uechtritz, FS Kirchberg, 2017, S. 187 f.; Froese, NJW 2017, 444; Börner, RdE 2017, 119; Büdenbender, DVBl. 2017, 1449; Roßnagel/Hentschel/Emanuel, UPR 2017, 128; Leidinger, AtW 2017, 26; Ziehm, ZNER 2017, 7. 2 Dazu Berkemann, DVBl. 2017, 793.
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bestimmter Technologien hat, die heute im Visier der Öffentlichkeit und morgen vielleicht im Fokus des Gesetzesgebers stehen. Man denke etwa an den Ausstieg aus der Verstromung fossiler Brennstoffe, die Stilllegung von Steinkohle- oder Braunkohlekraftwerken, Nutzungsverbote für bestimmte Automobile bzw. deren Motoren. In all diesen Fällen geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Eigentum oder die Nutzung des Eigentumes dem Eigentümer entzogen werden kann und wann er gemäß Art. 14 GG einen Anspruch auf Entschädigung hat. 2. Der Anlass für den Ausstieg aus der Kernenergie war die vielbeschriebene Katastrophe im KKW Fukushima am 11. März 2011. Die tatsächlichen Geschehensabläufe und Säumnisse wurden rasch publik.3 Es war, wie der offizielle japanische Untersuchungsbericht freimütig und selbstkritisch formuliert, ein „disaster made in Japan“4, das auf einer Verkettung schwerer Fehler auf allen Ebenen des Umgangs mit der Kernenergie beruhte. Die Fachwelt war und ist sich einig, dass dies mit einem ,Restrisiko‘, das man – in den Grenzen der ,praktischen Vernunft‘ – als Konsequenz einer modernen Industriegesellschaft hinzunehmen bereit ist, nichts zu tun hat. Die Geschehnisse in Japan führten nicht zu einer Änderung des Risikos, auch nicht des Restrisikos, sondern nur zu einer veränderten Wahrnehmung des Restrisikos in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit. Gleichwohl handelte der Gesetzgeber unverzüglich. Er erließ in einem von beispielloser Eile diktierten Verfahren5 die 13. AtG-Novelle6, die zwei Monate nach dem Einbringen des Gesetzentwurfes in den Bundestag am 6. August 2011 in Kraft trat. Sie regelte im Kern: Die sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke (die sogenannten Moratoriumskraftwerke) und das KKW Krümmel wurden sofort stillgelegt. Die anderen neun Kernkraftwerke gehen stufenweise bis Ende 2022 außer Betrieb. Rechtstechnisch hat die 13. AtGNovelle die durch die 11. AtG-Novelle7 normierte Verlängerung der Laufzeiten 3
Zuletzt Büdenbender, DVBl. 2017, 1449 (1450 ff.); dazu u. a. Moench, in: Ludwigs (Hrsg.), Der Atomausstieg und seine Folgen, 2016, S. 13 ff. m.w.N.; Mohrbach, AtW 2013, 152 ff. 4 Nuclear Accident Independent Investigation Commission, The Official Report of the Fukushima Nuclear Accident Independent Investigation Commission – Executive Summary, The National Diet of Japan, 23. 7. 2012. Dazu den Bericht und die Übersetzung der GRS, Fukushima Daiichi, Unfallablauf / Radiologische Folgen, 2. Aufl. 2013, S. 76. Es heißt in dem Bericht prägnant: „Its fundamental causes are to be found in the ingrained conventions of Japanese culture: our reflexive obedience; our reluctance to question authority; our devotion to ,sticking with the problem‘; our groupism; and our insularity.“ 5 Dazu Mann/Sieven, VerwArch 106 (2015), 184 (194); vgl. auch Bundespräsident Christian Wulff: „Das ging jetzt alles doch sehr sehr schnell und sehr am Parlament vorbei.“, Zitat nach der FAZ v. 10. 7. 2011, http://www.faz.net/aktuell/politik/energiepolitik/christian-wulff-kri tisiert-rasche-energiewende-12738.html; ähnlich auch Helmut Kohl, der von einem „überhasteten Ausstieg“ sprach, zitiert nach Bild.de v. 25. 3. 2011, https://www.bild.de/politik/2011/hel mut-kohl/schreibt-ueber-die-atom-krise-17072266.bild.html. 6 Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. 7. 2011, BGBl. I, S. 1704. 7 Elftes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 8. 12. 2010, BGBl. I, S. 1814. Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität vom 22. 4. 2002, BGBl. I, S. 1351, im Folgenden AtG 2002. Bei den älteren Kern-
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der Kernkraftwerke um durchschnittlich 12 Jahre wieder aufgehoben und damit an die Regelung des AtG 2002 angeknüpft. Darüber hinaus normiert das Gesetz nun für jedes Kernkraftwerk ein fixes Enddatum, an dem die Betriebsgenehmigung erlischt. Dies hat zur Folge, dass die 2002 kraftwerksspezifisch geregelten Reststrommengen (Äquivalent für 32 Jahre Laufzeit) nicht in jedem Kraftwerk vollständig produziert werden können. Es war das erklärte Ziel des Gesetzgebers, die Nutzung der Kernkraft so rasch wie möglich zu beenden, deshalb regelte er ein fixes Enddatum. 3. Gegen die 13. AtG-Novelle haben die Betreiber der Kernkraftwerke E.ON, RWE und Vattenfall innerhalb der Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG Verfassungsbeschwerde eingelegt.8 Ich befasse mich im Folgenden nur mit den Ausführungen des BVerfG zu Art. 14 GG einschließlich der immanenten Prüfung des Vertrauensschutzes und des Gleichheitssatzes. Auf die anderen Rügen und verfassungsrechtlichen Probleme, auch im Hinblick auf das Gesetzgebungsverfahren, gehe ich nur am Rande ein, sowie sie vom BVerfG im Normbereich des Art. 14 GG thematisiert werden. II. Entscheidungsrelevante Elemente des Sachverhaltes Zum Verständnis der verfassungsrechtlichen Argumentation des Gerichtes ist die Kenntnis der wesentlichen Elemente des Sachverhaltes und der Entwicklung des Atomgesetzes erforderlich. 1. Zur Klarstellung sei vorab darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführer nicht den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie gerügt haben. Unter Berufung auf die Kalkar-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 19789 haben sie eingangs ihrer Verfassungsbeschwerde betont, dass es dem Gesetzgeber obliege, die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die Nutzung der Kernenergie zu treffen. Sie haben nur die Art und Weise moniert, wie dieser Ausstieg geregelt wurde. Der Gesetzgeber dürfe den Ausstieg regeln, sei aber an die Verfassung gebunden und müsse die Grundrechte, namentlich Art. 14 GG, beachten. kraftwerken war die Laufzeit um acht Jahre verlängert worden, bei den jüngeren Kernkraftwerken um 14 Jahre. Diese Laufzeiten wurden in Strommengen umgerechnet, die in diesen Zeiträumen theoretisch hätten produziert werden können. Um den Betreibern eine Flexibilität beim Betrieb der KKW zu geben, war kein fixes Enddatum für den Betrieb des jeweiligen Kernkraftwerks geregelt. Die Betreiber konnten dies durch die betriebliche Steuerung der Kraftwerke selbst bestimmen. 8 EnBW hat darauf verzichtet, da es nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG als Unternehmen, dessen Eigner die (deutsche) öffentliche Hand ist, kein Grundrechtsträger ist. Dieses Problem stellte sich ähnlich auch bei Vattenfall, da die Anteile an der Gesellschaft von einem allerdings ausländischen Staat (Schweden) gehalten werden. Bei Vattenfall bejahte das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsträgerschaft mit einer komplexen Argumentation „auch mit Blick auf die unionsrechtlich geschützte Niederlassungsfreiheit“ (Rn. 196). Darauf gehe ich hier nicht weiter ein. 9 BVerfGE 49, 89, 143 – Kalkar; ähnlich die Mülheim-Kärlich-Entscheidung, BVerfGE 53, 30, 56.
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2. Für die Regelung der 13. AtG-Novelle sind folgende normativ geprägte Phasen der Nutzung der Kernenergie bedeutsam: a) Das AtG stammt aus dem Jahre 1959 und war national wie international – auch durch EURATOM – von einer großen Euphorie über die Potenziale der friedlichen Nutzung der Kernenergie getragen. Die Errichtungs- und Betriebsgenehmigungen – auf denen alle 17 Kernkraftwerke beruhen, die von der 13. AtG-Novelle betroffen sind – regelten ursprünglich nach den zwingenden Vorgaben des Atomgesetzes eine unbefristete Betriebsgenehmigung. Das Atomgesetz ließ Einschränkungen nur konkret zum Schutz von Leben und Gesundheit und Sachgütern zu. Die Anlagen konnten so lange laufen wie sie sicher waren, „as long as safe“, wie es heute noch internationaler Standard ist. Üblicherweise liegt die Laufzeit bei 60 Jahren und mehr. Die Sicherheit war durch eine stete Nachrüstung und penible individuelle wie systemische Kontrollen gewährleistet. b) Am 20. Oktober 1998 wurde in der Koalitionsvereinbarung der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie vereinbart. Die Bundesregierung suchte den Konsens und verhandelte mit den Betreibern der Kernkraftwerke – unter dem Druck eines gesetzlichen Oktrois, falls man sich nicht verständige – über eine Vereinbarung, die auf der Basis von 32 Jahren Regellaufzeit den einzelnen Kraftwerken Reststrommengen zuteilte. Nach der Produktion dieser Strommengen sollte die Berechtigung zum Betrieb des Kernkraftwerks erlöschen. Die Vereinbarung vom 11. Juni 200110 wurde durch das AtG 200211 gesetzlich umgesetzt. Das Gesetz sah kein fixes Enddatum für die Produktion der Reststrommengen vor. Die Betreiber konnten entscheiden, wann sie die Strommengen erzeugen, die einer Laufzeit von 32 Jahren des Kernkraftwerkes entsprechen. c) Mit dem Atomausstieg durch das AtG 2002 waren weite Teile von CDU/CSU und FDP nicht zufrieden. Die CDU hatte bereits 2002 in ihr Wahlprogramm den Wunsch aufgenommen, die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern. Zur Absicherung der Energiewende wollte sie die Brückenfunktion der Kernkraft verlängern. Nach der Bildung der CDU/CSU/FDP-Koalition 2009 kam es zu Verhandlungen zwischen den KKW-Betreibern und der Bundesregierung. Am 8. Dezember 2010 wurden mit der 11. AtG-Novelle die Laufzeiten der Kernkraftwerke um durchschnittlich 12 Jahre verlängert (acht Jahre bei den älteren Kraftwerken und 14 Jahre bei den 10 jüngeren Kernkraftwerken). Im Gesetz wurden die Elektrizitätsmengen festgelegt, die die Kernkraftwerke im Rahmen der festgelegten Laufzeit produzieren konnten. Ein festes Enddatum für die Produktion der summenmäßig fixierten Elektrizitätsmengen gab es nicht. Die Betreiber sollten unter Berücksichtigung 10 Die Vereinbarung ist abgedruckt in Posser/Schmans/Müller-Dehn, Atomgesetz, Kommentar zur Novelle 2002, 2003, S. 285 ff. In der Kommentierung zu § 1 des Gesetzes beschreibt Schmans das Entstehen der Vereinbarung vom 11. 6. 2001 und ihre dogmatische Einordnung. Ebenso Hennenhöfer in der Einführung. 11 s. oben Fn. 7.
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der Versorgungssicherheit und den Bedingungen der Energiewende selbst unternehmerisch entscheiden, wann sie die Strommengen erzeugten. d) Am 14. März 2011 – drei Tage nach der Katastrophe von Fukushima – leitete die Bundesregierung einen Wechsel ihrer Atompolitik ein.12 Sie initiierte zunächst ein dreimonatiges Moratorium für die sieben ältesten Kernkraftwerke. Während des Moratoriums sollte die Sicherheit und Robustheit der deutschen Kernkraftwerke angesichts der Geschehnisse in Fukushima untersucht werden, um eine rationale Basis für weitere Entscheidungen zu haben. Obgleich die Analysen der Geschehnisse und der von der Bundesregierung beauftragte RSK-Bericht keine Zweifel an der Sicherheit und Robustheit der deutschen Kernkraftwerke begründeten, legte die Bundesregierung am 6. Juni 2011 einen Gesetzentwurf vor, der die Laufzeitverlängerung der 11. AtG-Novelle rückgängig machen und infolge der zeitlichen Befristung des Betriebs der Kernkraftwerke – einschließlich der sofortigen Stilllegung von acht Kernkraftwerken – noch hinter das AtG 2002 zurückfallen sollte. Der Entwurf wurde als 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes13 beschlossen. 3. Vor diesem Hintergrund haben die EVU Verfassungsbeschwerden gegen die 13. AtG-Novelle erhoben. Sie monieren – mit unterschiedlichen Akzenten – im Kern - den ersatzlosen Entzug der durch die 11. AtG-Novelle zur Umsetzung der Laufzeitverlängerung geregelten Strommengen, - die teilweise fehlende Verstrombarkeit von (Rest-)Strommengen aus dem Jahre 2002 (das sind diejenigen Mengen, die infolge des für jedes Kraftwerk fixierten Enddatums nach Lage der Dinge weder in den eigenen noch in konzernfremden Kraftwerken produziert werden können, mithin mangels Nutzbarkeit ersatzlos entfallen), - den teilweisen Entzug der sog. Mülheim-Kärlich-Mengen (wegen ihres SurrogatCharakters haben sie als Ausgleich im Gegenzug für den Verzicht auf Amtshaftungsansprüche in Milliardenhöhe besondere Bedeutung), die weder in RWE-eigenen Kraftwerken noch in anderen Kernkraftwerken verstromt werden können, - die sofortige und kompensationslose Stilllegung der sieben Moratoriumskraftwerke und des Kernkraftwerks Krümmel, - die sog. Vollbremsungsschäden infolge der sofortigen Stilllegung (sie wurden je Kernkraftwerk mit ca. +/- EUR 200 Mio. angegeben), - den sog. Vertrauensschaden, der die im Vertrauen auf die 11. AtG-Novelle getätigten Investitionen (die infolge der 13. AtG-Novelle nutzlos geworden sind, sog. frustrierte Aufwendungen) kompensieren soll. Diese Punkte spiegeln sich in dem Urteil wider. 12
Das Moratorium einschließlich dem während des Moratoriums vorgelegten Bericht der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) und das Verfahren zur 13. AtG-Novelle ist im Tatbestand des Urteiles des BVerfG vom 6. 12. 2016 wiedergegeben (Rn. 22 – 36). 13 s. oben Fn. 6.
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III. Im Kern des Verfahrens steht die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG Das BVerfG geht ,schulmäßig‘ vor. Es thematisiert zunächst die Bedeutung des Eigentumes und sein Verhältnis zur Inhaltsbestimmung, dazu sogleich unter Ziff. 1. Es geht dann konkret auf den Schutzbereich ein und prüft, welche Rechtspositionen den Eigentumsschutz genießen, dazu unter Ziff. 2. Es befasst sich mit der Qualität des Eingriffes (Enteignung oder Inhaltsbestimmung), dazu Ziff. 3. Anschließend untersucht es, ob den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Eingriff Genüge getan ist, dazu Ziff. 4. 1. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG hat im Gefüge der Grundrechte und der Wirtschaftsordnung eine elementare Bedeutung. Sie sichert die Privatnützigkeit und die Verfügungsbefugnis des Eigentümers. Dazu gehören die Gebrauchsmöglichkeit und die Ertragsfähigkeit als Grundlage für die eigenverantwortliche Lebensgestaltung.14 Das BVerfG resümiert ausführlich seine ständige Rechtsprechung. Es bestätigt, „dass Art. 14 GG in erster Linie den Bestand des Eigentums in seiner freiheitsichernden Funktion schützt, nicht nur seinen Wert“ (Rn. 217). Und es fährt fort, dass erst im Falle einer verfassungsgemäßen Enteignung „an die Stelle der Bestandsgarantie eine Wertgarantie“ tritt. Auf diese Bestandsgarantie kommt das Gericht später bei der kaum wahrnehmbaren Befassung mit der sofortigen Stilllegung der acht Kernkraftwerke nicht mehr zurück (Rn. 385). Das BVerfG betont auch die Bedeutung des Art. 14 GG für den „Investitionsschutz von Unternehmen“; das Grundrecht gewähre ihnen „keine geringeren Garantien als anderen Eigentümern“ (Rn. 270). Der Umfang der Garantie des Eigentums, die konkrete Reichweite des Schutzes durch Art. 14 GG, ergibt sich erst aus der normativen Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentumes durch den Gesetzgeber. Dabei betont das BVerfG die Bedeutung der Sozialbindung des Eigentumes für die Inhaltsbestimmung durch den Gesetzgeber. Das Gericht formuliert hier unter Bezugnahme auf seine Rechtsprechung: „Die Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, der Regelungsauftrag des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums nach Art. 14 Abs. 2 GG stehen in einem unlösbaren Zusammenhang“ (Rn. 280). Die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung ist umso weiter, je stärker der soziale Bezug ist. Das BVerfG legt mit diesen Ausführungen gewissermaßen das Fundament der Entscheidung zu Art. 14 GG und gibt die Struktur der Prüfung vor. Die punktuelle Fortentwicklung der Rechtsprechung findet erst bei der Formulierung der eigentlichen Obersätze und der Subsumtion statt. 2. Das BVerfG befasst sich ausführlich mit der Frage, welche Rechtsposition als Eigentum durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG konkret geschützt ist. Es geht um den Schutzbereich der Eigentumsgarantie (Rn. 215 – 241). a) Geschütztes Eigentum ist das Anlageneigentum, das sich zusammensetzt aus den Kraftwerksanlagen und den Werksgrundstücken. Das Anlageneigentum umfasst 14
BVerfGE 134, 242 Rn. 168 – Garzweiler.
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auch die Nutzung dieser Anlagen (Rn. 228). Der Inhalt des Eigentumsrechts richtet sich insoweit nach der Gesamtheit der eigentumsrelevanten normativen Regeln des privaten und des öffentlichen Rechts. Das Eigentum und seine Nutzbarkeit werden ausgestaltet durch die Gesetzeslage, die im Zeitpunkt15 des Eingriffes gilt. Nutzungsrechtlich war das die AtG-Genehmigung in der normativen Prägung durch die 11. AtG-Novelle mit den dort geregelten Elektrizitätsmengen (Spalte 4 der Anlage 3). Das BVerfG erkennt ausdrücklich an, dass die durch die 11. AtG-Novelle zugewiesenen zusätzlichen Strommengen und die dadurch definierte Nutzungsmöglichkeit der Kernkraftwerke im Ausgangspunkt ebenso Eigentumsschutz haben wie die im Jahr 2002 normierten Strommengen.16 b) Das BVerfG prüft dann die von den Beschwerdeführern vorgetragenen weiteren Eigentumsrechte. Das Gericht lehnt es ab, die Errichtungs- und Betriebsgenehmigung gemäß § 7 AtG als selbständig geschütztes Eigentum anzusehen. Die Rechtsprechung zu öffentlich-rechtlichen Erlaubnissen ist bis dato uneinheitlich. Es gibt unterschiedliche Kammerentscheidungen17, keine Senatsentscheidung. Nun hat das Gericht entschieden, dass Genehmigungen – jedenfalls zum Betrieb gefährlicher Anlagen – keinen eigenständigen Eigentumsschutz genießen, sondern durch sie die eigentumsmäßig geschützte Nutzung des Anlageneigentums festgelegt wird. Zur Begründung führt das Gericht aus, dass es sich um eine staatliche Erlaubnis zum Betrieb gefährlicher Anlagen handle, mit denen ein repressives oder präventives Verbot18 mit Erlaubnisvorbehalt überwunden werde. Sie seien daher nicht vergleichbar mit subjektiv-öffentlichen Rechten, die eine „Rechtsposition verschaffen, welche derjenigen eines Eigentümers entspricht und die so stark ist, dass ihre ersatzlose Entziehung dem rechtsstaatlichen Gehalt des Grundgesetzes widersprechen würde“ (Rn. 231). Das ist eine Gemengelage an Topoi, die keine klaren Konturen erkennen lässt. Das Gericht hebt ausdrücklich auf die Genehmigung zum Betrieb gefährlicher Anlagen ab. Zunächst bleibt offen, ob dies auch für andere öffentlich-rechtliche Genehmigungen mit einer präventiven Funktion gilt, etwa für Baugenehmigungen. Unklar ist ferner, wann öffentlich-rechtliche Genehmigungen ihrem Inhaber eine so starke Rechtsposition 15
BVerfGE 58, 300, 352 – Nassauskiesung; BVerfGE 134, 242 Rn. 156 – Garzweiler. Rn. 239. Das Gericht führt aus: Dass die Strommengen der 11. AtG-Novelle „nicht Ausdruck von Rücksichtnahme auf den Eigentumsbestand der Kernkraftwerksbetreiber, sondern Ergebnis einer energie-, klima- und wirtschaftspolitischen Entscheidung des Gesetzgebers waren (…), erweitert zwar den Spielraum des das Eigentum gestaltenden Gesetzgebers (…), ändert aber nichts am grundsätzlich eröffneten Eigentumsschutz auch für diese Nutzungsgewährleistung der Kernkraftwerke.“ 17 Wobei freilich nicht ganz eindeutig ist, wie die beiden Kammerentscheidungen (1 BvR 1627/09, NVwZ 2010, 771 zur wasserrechtlichen Erlaubnis und 1 BvR 27/09 zur immissionsschutzrechtlichen Genehmigung, SächsVBl. 2010, 140) zu verstehen sind. In der vom BVerfG nicht zitierten Literatur wird diese Frage sehr unterschiedlich behandelt. Eigentumsschutz bejahend früher schon Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1525 ff.); Kersten/ Ingold, ZG 2011, 350 (354); Schwarz, DVBl. 2013, 133 (135); Schröder, FS Papier, 2013, 605 (617). Dazu Uechtritz, FS Kirchberg, 2017, S. 187 (193 ff.); ablehnend Kloepfer, DVBl. 2011, 1437 (1438); Ossenbühl, DÖV 2012, 697 (699). 18 Zwischen diesen beiden Typen wird nicht unterschieden. 16
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verschaffen, dass sie ersatzlos nicht entzogen werden kann – das ist doch gerade die Frage. Haben nicht professionelle Projektentwickler, die in aufwendigen Zulassungsverfahren eine übertragbare Genehmigung für Bauvorhaben, Windkraftanlagen, Einkaufszentren etc. erlangen, nach dem Erhalt der Genehmigung (auf die ja ein gesetzlicher Rechtsanspruch besteht) eine so starke Position, dass sie gegen einen ersatzlosen Entzug – vor der Ausnutzung der Genehmigung – durch den Gesetzgeber gesichert sind? Warum gilt das nicht für die wasserrechtliche Erlaubnis und die BImSchG-Genehmigung? Was hat die im Zulassungsverfahren zu prüfende Gefahrenträchtigkeit einer Anlage mit der Rechtsposition zu tun, die der Genehmigungsinhaber nach dem Erhalt der Genehmigung hat? Diese Frage wird auch nicht durch die sich anschließende Überlegung des Gerichtes beantwortet, wonach eigentumskräftige Rechte „durch eine zumindest eingeschränkte Verfügungsbefugnis und durch einen in nicht unerheblichen Umfang auf Eigenleistung beruhenden Erwerb gekennzeichnet“ sind (Rn. 231). Die öffentlich-rechtlichen Genehmigungen sind in aller Regel übertragbar, das gilt auch für die atomrechtliche Genehmigung nach § 7 AtG. Im Fall der Übertragung werden lediglich noch die subjektiven Anforderungen an den neuen Genehmigungsinhaber geprüft. Und was die Eigenleistung anbelangt, ist der Hinweis auf die Rechtsprechung zum Erwerb von Rentenansprüchen oder gesetzlichen Leistungsrechten nicht unbedingt überzeugend. Das sind völlig andere Sachverhalte. Diese Argumentation wäre tragfähig, wenn die Eigenleistung so qualifiziert wird, dass sie gewissermaßen in einem synallagmatischen19 Verhältnis zu der öffentlich-rechtlichen Genehmigung stehen muss. Es bleibt aber offen, warum zwischen dem Charakter der Eigenleistung differenziert wird. In beiden Fällen ist die – häufig sehr hohe – Eigenleistung eine Voraussetzung des Rechtserwerbes. Wie dem auch sei. Das BVerfG erstickt alle Zweifel an der Argumentation mit der Feststellung: „Art. 14 GG schützt nicht die öffentlich-rechtliche Genehmigung als solche, sondern nur die aufgrund der Genehmigung geschaffenen privaten Vermögenspositionen“ (Rn. 232). Diese Schlussfolgerung ist prägnant und klar, auch wenn sie nicht unbedingt stringent abgeleitet ist. c) Das BVerfG geht dann auf die Frage ein, ob die sog. Reststrommengen – das sind die Elektrizitätsmengen, die nach dem AtG 2002 von den Kernkraftwerken ohne zeitliches Limit produziert werden durften – ein selbständig geschütztes Rechtsgut sind. Dies wird für die zusätzlichen Strommengen aufgrund der 11. AtG-Novelle gesondert geprüft (Rn. 239). (1) Das Gericht verneint – ähnlich wie bei der Anlagengenehmigung – einen eigenständigen Schutz durch Art. 14 Abs. 1 GG und verweist darauf, dass die Reststrommengen Teil haben „an dem verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz, den Art. 14 GG für die Nutzung des Eigentumes an einer zugelassenen kerntechnischen Anlage gewährt“ (Rn. 233). Die Reststrommengen kennzeichneten die mit dem Atomausstieg vorgenommene Einschränkung des Anlageneigentums, sie seien maßgeblicher Faktor des Leistungsbetriebes, nicht aber selbst Eigentum (Rn. 235). Als 19
Uechtritz, FS Kirchberg, 2017, S. 187 (195).
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weiteres Eigentumsmerkmal geht das BVerfG auf die Übertragbarkeit der Reststrommengen ein. Das Gericht erklärt, dass die Reststrommengen trotz ihrer im begrenzten Umfange möglichen Übertragbarkeit auf andere Kraftwerke nicht „frei verfügbar wie sonstige Eigentumsrechte“ seien (Rn. 236). Das wirft die Frage auf, wann überhaupt in diesem Sinne von einer freien Verfügbarkeit ausgegangen werden kann. Verfügungen über sozial besonders gebundenes Eigentum unterliegen häufig formalen und/oder materiellen Anforderungen, sind mithin nicht ,frei‘ zu tätigen. Die (Rest-) Strommengen können unter den Kautelen des § 7 Abs. 1b AtG übertragen werden. Warum diese Form der Verfügbarkeit nicht ausreicht, ist unklar.20 Schließlich bemerkt das BVerfG, dass „die Gewährung der Reststrommengen durch das Ausstiegsgesetz nicht unmittelbar auf erheblichen Eigenleistungen“ der Anlagenbetreiber beruhe (Rn. 237). Diese Argumentation ist dann folgerichtig, wenn man außen vor lässt, dass die Errichtung der Kernkraftwerke mit der ursprünglich unbeschränkten Anlagen- und Nutzungsgenehmigung auf erheblichen finanziellen Kraftakten basierten, die gewissermaßen durch das erste Ausstiegsgesetz 2002 auf die damals geregelte Laufzeit von 32 Jahren beschränkt wurden. Das Urteil setzt auf der durch das AtG 2002 und die vorangegangene Konsensvereinbarung vom 11. Juni 2001 gestalteten Eigentumslage an. Dadurch war die eigentumsrechtlich geschützte Nutzung an den Kraftwerken „geprägt“ (Rn. 230), die ursprüngliche Eigenleistung wurde damit ausgeblendet. Die Argumentation des BVerfG impliziert, dass eine gesetzliche Gewährleistung von Rechten, auch die Schaffung von Nutzungsrechten zur Ausgestaltung des Eigentumes, die nicht auf einer unmittelbaren Eigenleistung des Rechteinhabers basiert, keinen selbständigen Eigentumsschutz genießt. Wohl gemerkt, es geht an dieser Stelle der Argumentation um den Schutzbereich und nicht um die Schutzwürdigkeit bei einem Eingriff.21 Das BVerfG erkennt allerdings den Zusammenhang zwischen den Reststrommengen (auch wenn sie nicht auf eigener Leistung beruhen) und der Nutzung des Anlageneigentums an und erklärt, dass diese Strommengen „Teil an dem verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz, den Art. 14 GG für die Nutzung des Eigentums an einer zugelassenen kerntechnischen Anlage gewährt“, habe (Rn. 233). (2) Im Hinblick auf den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG behandelt das BVerfG die durch die 11. AtG-Novelle 2010 geregelten zusätzlichen Strommengen (infolge der Laufzeitverlängerung) in gleicher Weise wie die Reststrommengen 2002 (Rn. 239). Sie sind Teile des Eigentumsschutzes an der Nutzung der Kernkraftwerke. Das ist konsequent. Auf die Unterschiede bei der Bewertung des Eingriffes in das Eigentum – wie schutzwürdig sind die Reststrommengen des AtG 2010 – komme ich noch zurück. (3) Das BVerfG geht gesondert auf die dem Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich zugewiesenen Reststrommengen ein (Rn. 238). Es billigt ihnen eine „Sonderstellung“ 20 21
Krit. insoweit auch Berkemann, DVBl. 2017, 793 (797). Ebenso krit. Uechtritz, FS Kirchberg, 2017, S. 187 (198).
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zu.22 Es verweist darauf, dass ihre Zuschreibung „im Rahmen eines Vergleiches als Gegenleistung für die Beendigung des Amtshaftungsprozesses“ erfolgte. Aufgrund ihrer vertraglichen Grundlage genießen diese Reststrommengen einen „eher weitergehenden Eigentumsschutz“ als die sonstigen Reststrommengen 2002. Das wirkt sich bei der Prüfung der Schutzwürdigkeit aus. d) Das Urteil befasst sich auch mit der Frage, ob die Rechtsfigur des ,eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes‘ den Eigentumsschutz des Art. 14 GG genieße. Es bleibt insoweit bei seiner restriktiven Rechtsprechung und führt aus, dass dieser Schutz jedenfalls nicht weitergehe als der Schutz, den seine wirtschaftliche Grundlage genieße. Deshalb erfasse er nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern (Rn. 240). Das Gericht lässt es dahingestellt sein, ob das im Fachrecht als ,sonstiges Recht‘ gemäß § 823 Abs. 1 BGB anerkannte Recht dogmatisch Eigentumsschutz nach Art. 14 Abs. 1 GG genießt. 3. Das BVerfG befasst sich nach der Feststellung der geschützten Rechtsgüter mit der Qualität des Eingriffes in das geschützte Eigentum. Dabei geht es um die zentrale Frage, ob die 13. AtG-Novelle eine Enteignung darstellt oder eine Inhaltsbestimmung des Eigentums. a) Das BVerfG wiederholt zunächst die Begriffsmerkmale der Enteignung, wie sie in ständiger Rechtsprechung rezitiert werden (Rn. 245). Die Enteignung ist der staatliche Zugriff auf das Eigentum des Einzelnen. Sie „ist auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver, durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet“ (Rn. 245). Nutzungs- und Verfügungsbeschränkungen von Eigentümerbefugnissen sind keine Enteignung, „selbst wenn sie die Nutzung des Eigentumes nahezu oder völlig entwerten“ (Rn. 245). Notwendige Merkmale der Enteignung sind: - der Entzug von geschützten Rechten (Eigentumspositionen), sodass die Nutzungs- und Verfügungsbefugnis ganz oder teilweise erlischt; - der Eigentumsentzug muss final auf den Entzug ausgerichtet sein; - der Entzug muss der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienen (und nicht etwa dem Ausgleich privater Interessen); es müssen Zwecke des Gemeinwohls verfolgt werden. 22 Das BVerfG lässt es ausdrücklich „dahinstehen, inwieweit diese Reststrommengen dadurch eine eigenständige eigentumsrechtliche Qualität gewinnen, dass sie von Beginn an losgelöst von dem Betrieb eines bestimmten Kraftwerkes und damit nicht Garantie für eine verbleibende Laufzeit waren, sondern vielmehr als Gegenleistung für den Verzicht auf die Durchsetzung eines geldwerten Anspruches dienten“ (Rn. 238). Auf die Merkmale der Verfügbarkeit und der Eigenleistung geht das Gericht nicht ein. Da das BVerfG für diese Strommengen eine Entschädigung zuspricht, soweit sie nicht mehr verstrombar sind, spielte dies letztlich keine entscheidungserhebliche Rolle. Mangels Güterbeschaffung liegt auch bei Annahme einer eigenständigen eigentumsrechtlichen Qualität keine Enteignung vor. Unbeschadet dessen führen solche Sätze zu einer unnötigen Komplexität, die das Verständnis der Entscheidung nicht unbedingt erleichtern.
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Diesen ständiger Rechtsprechung entsprechenden Merkmalen fügt das BVerfG nun das Element der Güterbeschaffung hinzu: - „Die Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG setzt weiterhin zwingend voraus, dass der hoheitliche Zugriff auf das Eigentumsrecht zugleich eine Güterbeschaffung zugunsten der öffentlichen Hand oder des sonst Enteignungsbegünstigten ist.“ (Rn. 246) Das BVerfG thematisiert dieses Merkmal erstmals inhaltlich, nachdem in praktisch allen Leitentscheidungen zur Enteignung23 die Güterbeschaffung gerade nicht als konstitutives Merkmal der Enteignung angesehen wurde. Freilich hatte sich das BVerfG nie inhaltlich vertieft mit diesem Merkmal auseinandergesetzt.24 Und nun bejaht es die Güterbeschaffung als konstitutiv für die Enteignung und begründet dies. Das ist das eigentlich Neue an dieser Entscheidung, nachdem noch in der kurz zuvor ergangenen Garzweiler-Entscheidung25 das Erfordernis der Güterbeschaffung ausdrücklich als „offen“ bezeichnet wurde. Das Erstaunliche an der Entscheidung zum Atomausstieg ist, dass es auf die Klärung dieser Frage – der Güterbeschaffung – nicht entscheidungserheblich ankam. Dieses Merkmal wird nur affirmativ zusätzlich geprüft (Rn. 265). Wie begründet das BVerfG diesen neuen Enteignungsbegriff? Das BVerfG führt aus, dass Wortlaut und Entstehungsgeschichte des Eigentumsgrundrechtes keine eindeutige Antwort gäben. Daher sieht das Gericht Raum für die Auslegung. Es nennt „funktionale Gründe des Eigentumsschutzes“ (Rn. 251 ff.). Zum einen brauche der Gesetzgeber angesichts der Erstreckung der Eigentumsgarantie auf vielfältige Ausprägungen subjektiver Rechtspositionen einen weiten Gestaltungsspielraum, „den ihm das Grundgesetz bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentumes lässt“, nicht aber bei der streng fixierten Enteignung (Rn. 252). Ferner führt das Gericht an, dass „ein praktischer Bedarf für den bloßen Eigentumsentzug“ bestehe, „wenn das Eigentumsrecht im weitesten Sinne bemakelt“ sei (Rn. 253). Dabei wird u. a. auf die Entziehung deliktisch erlangten Eigentumes verwiesen (Rn. 253). Schließlich habe die Güterbeschaffung als konstitutives Enteignungsmerkmal den Vorteil „einer klaren Abgrenzung zur Inhalts- und Schrankenbestimmung“ (Rn. 254). Wie auch immer man zu diesen Argumenten steht, Karlsruhe locuta. Es führt kein Weg daran vorbei, dass die Güterbeschaffung – bis zur Fortentwicklung oder Revision der Rechtsprechung – als konstitutives Enteignungsmerkmal gilt.
23 Dazu Röcker, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Band IV, 2016, S. 291 ff. Röcker publizierte ihren Beitrag als Mitarbeiterin des Bundesverfassungsgerichtes (1. S.); Schwarz, DVBl. 2013, 133; Krappel, DÖV 2012, 640; so im Übrigen auch der BGH in seiner Rechtsprechung, grundlegend BGHZ 6, 270, 281 f. 24 Dazu Ludwigs, NVwZ-Beilage 1/2017, 1 (4 f.). 25 BVerfGE 134, 242 – Garzweiler.
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b) Unbeschadet dessen muss sich das BVerfG hinterfragen lassen, ob seine Argumente valide und stringent sind. Berkemann, ein gewiss unverdächtiger Zeitzeuge und ein exzellenter Kenner der Rechtsprechung des BVerfG, nennt die vom BVerfG angeführten Gründe „dogmatisch schwach, sehr schwach sogar“26. Dazu nur in wenigen Stichworten: (1) Berkemann geht auf die vom Gericht bemühte historische Auslegung ein und führt aus, dass die publizierten Materialien des Ausschusses für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates belegten, dass im parlamentarischen Rat aus Gründen eines effektiven Grundrechtsschutzes eine Einengung des Begriffes der Enteignung (durch das Merkmal der Güterbeschaffung) offenbar nicht gewollt war. In Erinnerung an den „hemmungslosen Zugriff des NS-Regimes auf das individuelle Eigentum“ wollte man einen wirksamen und weiten Eigentumsschutz begründen. Das BVerfG habe die – auch vom Gericht selbst zitierten – Materialien „nicht vollständig gelesen“27. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch nach der reichsgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur zum Enteignungsbegriff des Art. 153 Abs. 3 WRV ein Rechtsträgerwechsel oder Güterbeschaffungsvorgang nicht erforderlich war. Die Enteignung wurde als Überwindungs- und nicht als Übertragungsvorgang verstanden.28 (2) Der Eigentumsentzug (ohne Enteignung) bei den instrumenta sceleris und bei den anderen zitierten Beispielen – es gibt gewiss noch einige mehr – steht außer Zweifel. Es ist aber nicht erkennbar, dass von einer ernstzunehmenden Stimme je die Auffassung vertreten wurde, dass die Beschlagnahme solcher Gegenstände eine Enteignung sei. Wieso für die Lösung dieser Fallgruppe ein „praktischer Bedarf“ bestehe, ist unklar. Die Lösung dieser Fälle ist im Ergebnis unstreitig, evident und einsichtig. Dazu bedarf es nicht des Merkmales der Güterbeschaffung. (3) Die Annahme der Güterbeschaffung mit dem Ziel der Abgrenzung der Enteignung von der Inhalts- und Schrankenbestimmung ist ebenfalls kein valides Argument. Denn die Abgrenzungsprobleme werden nur auf eine andere Ebene verschoben: Nämlich auf die Abgrenzung der kompensationsbedürftigen von den kompensationsfreien Inhalts- und Schrankenbestimmungen. Diese Abgrenzung wird nach den Kriterien der Schwere und der Verhältnismäßigkeit/ Angemessenheit durchgeführt. Sie hat alles andere als scharfe Konturen. Sie führt zur Rückkehr der alten ,Schweretheorie‘ im Rahmen der Abgrenzung zwischen ausgleichsfreier und ausgleichspflichtiger Inhaltsbestimmung. Und die enge Definition des Enteignungsbegriffes verschärft dies: Die ausnahmsweise verfassungsrechtlich gebotene Ausgleichspflicht wird für Fälle des Entzugs von Eigentum ohne Güterbeschaffung wohl zur Regel erhoben, wenn das BVerfG formuliert, der Gesetzgeber habe in die26
Berkemann, DVBl. 2017, 793 (798). Berkemann, DVBl. 2017, 793 (798). 28 Vgl. nur RGZ 103, 200, 201 f.; Weber, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Band II, 1954, S. 331 (339 f.), 346. Ebenso das Mitglied des Parlamentarischen Rates von Mangoldt, in: v. Mangoldt/Klein (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1957, Art. 14 Anmerkung VII, Ziff. 1c; dazu Dürig, JZ 1954, 4 ff. 27
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sen Fällen „besonders sorgfältig zu prüfen, ob ein solcher Entzug nur dann mit Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar ist, wenn für den Eigentümer ein angemessener Ausgleich vorgesehen ist“ (Rn. 261). Und dazu bemerkt das BVerfG im Leitsatz 5, dass bei diesen Eingriffen „gesteigerte Anforderungen an deren Verhältnismäßigkeit zu stellen (sind). Sie werfen stets die Frage nach Ausgleichsregelungen auf.“29 Die Abgrenzungsprobleme nehmen zu und nicht ab. Es ist mithin Folgendes zu prüfen: Nach der Feststellung, dass keine Enteignung vorliegt, ist zu ermitteln, ob (1) der Entzug von Eigentum / der Nutzung des Eigentumes vorliegt, der (2) eine besonders sorgfältige Prüfung verlangt, ob dem Eigentümer ein angemessener Ausgleich zu gewähren ist. Dabei stellt sich die Frage, welche Maßstäbe an diese ,besonders sorgfältige‘ Prüfung und an die ,gesteigerten Anforderungen der Verhältnismäßigkeit‘ zu stellen sind. Es ist zu ermitteln, (3) ob der ,Regelfall‘ der Ausgleichspflicht vorliegt, und sodann stellt sich die weitere Frage (4), in welcher Höhe eine Ausgleichspflicht geboten ist (bei der Entschädigungspflicht gemäß der Junktim-Klausel gab es dazu immerhin eine ausgefeilte Rechtsprechung). Sofern ein solcher Eigentumsentzug / Nutzungsentzug nicht vorliegt, ist zu ermitteln, (5) ob eine ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung vorliegt und (6) in welcher Höhe eine Ausgleichspflicht besteht. Diese vielfältigen Abgrenzungsprobleme gehen zu Lasten des Grundrechtsträgers. Von einer Vereinfachung kann hier keine Rede sein. Froese beklagt zu Recht die „weiteren dogmatischen Unschärfen“ bei der Frage der Kompensation von Eigentumseingriffen.30 (4) Es ist zutreffend, dass das Tatbestandsmerkmal der Güterbeschaffung dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Eigentums einen größeren Gestaltungsspielraum belässt. Aber cui bono? Der Gesetzgeber kann zwar sehr einfach die Enteignung vermeiden. Die Abgrenzungsprobleme verschieben sich aber nur – wie gezeigt – auf die Folgeebenen. Der durch die Güterbeschaffung eröffnete Gestaltungsspielraum – wie groß ist er eigentlich? – wird mit viel Unsicherheit auf allen Seiten erkauft. Die Unsicherheit besteht vor allem bei den Rechtsadressaten, die sich einem massiven Eingriff in ihr Eigentum gegenübersehen. Ein Gestaltungsspielraum besteht gewiss auch im Hinblick auf die Höhe der Entschädigung. Aber kann dies ein rechtsstaatliches und dem Schutz des Eigentumes adäquates Kriterium sein? Der Gestaltungsspielraum wird insoweit auf dem Rücken der Grundrechtsträger ausgetragen, in deren Eigentum eingegriffen wird. Zurecht weist Uechtritz darauf hin, dass die Einengung des Enteignungsbegriffes damit „tendenziell einen geringeren Grundrechtsschutz“ bewirke.31 Die Risiken für die Eigentümer sind gestiegen. Der Bewertungsspielraum des BVerfG nimmt neben dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu. Das ist kaum im Sinne des rechtsschutzsuchenden Grundrechtsträgers. Ging es nicht dem Verfassungsgeber um einen effektiven Eigentumsschutz?
29
Zum Ganzen Froese, NJW 2017, 444. Froese, NJW 2017, 444. 31 Uechtritz, FS Kirchberg, 2017, S. 187 (207); ähnlich Frenz, DVBl. 2017, 122. 30
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(5) Es ist unklar, weshalb das BVerfG diesen dornigen Weg gegangen ist. Manches im Aufbau des Urteiles – auf die Güterbeschaffung kommt es an keiner Stelle letztlich entscheidungserheblich an – spricht dafür, dass dieses Kriterium bis zum Schluss im Senat umstritten war und erst in die Schlussfassung des Urteiles eingefügt wurde. In diesem Sinne könnte man auch den Beitrag von Röcker32 verstehen, der wenige Wochen vor der Urteilsverkündung erschienen ist und in dem sich Röcker gegen die Güterbeschaffung als Merkmal der Enteignung ausspricht. 4. Anhand der definierten Enteignungsmerkmale prüft das BVerfG konkret, ob im Hinblick auf die in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG fallenden Rechtspositionen eine Enteignung oder eine Inhaltsbestimmung vorliegt. Das BVerfG hätte diese Prüfung einfach und kurz halten können. Unter Hinweis auf das konstitutive Merkmal der Güterbeschaffung hätte es mit wenigen Sätzen erklären können, dass eine Enteignung schon an der fehlenden Güterbeschaffung scheitert. Diesen Weg ist das BVerfG nicht gegangen, was zum einen dafür sprechen könnte, dass das Gericht selbst nicht von der (alleinigen) Überzeugungskraft dieses Merkmales als konstitutives Entscheidungskriterium überzeugt ist. Es könnte zum anderen für die Vermutung sprechen, dass dieses Merkmal erst spät als Tatbestandsvoraussetzung der Enteignung formuliert wurde, und zwar als die sonstigen Begründungsvarianten für das Fehlen der Enteignung bereits formuliert waren. a) Das BVerfG verneint für jedes Rechtsgut die Enteignung. (1) Da die (Rest-)Strommengen 2002/2010 kein selbständig geschütztes Eigentumsrecht sind, scheidet die Annahme der Enteignung der Strommengen schon aus diesem Grunde aus. (2) Ein enteignungsfähiges Rechtsgut kann mithin nur die durch die Strommengen definierte Nutzbarkeit des Eigentumes an den Anlagen sein. Soweit infolge der zeitlichen Befristung des Betriebes der einzelnen Kernkraftwerke Reststrommengen (AtG 2002) nicht genutzt werden können, handelt es sich um die Konkretisierung der Nutzungsmöglichkeit der Anlage, nicht aber um den Entzug von Eigentumsrechten (Rn. 263). Dasselbe soll für die „Zusatzstrommengen“ der 11. AtG-Novelle gelten, die die Nutzungsbefugnis des Kraftwerkes festlegen und damit zugleich den Betrieb der Kraftwerke limitieren. Bezogen auf den Betrieb der Kraftwerke sei dies keine Enteignung. Der Nutzungsentzug sei keine selbständig enteignungsfähige Eigentumsposition (Rn. 264). Ergänzend – affirmativ – wird in diesem Zusammenhang auf den fehlenden Güterbeschaffungsvorgang hingewiesen, sodass die Enteignung auch aus diesem Grund scheitere (Rn. 265). Das BVerfG merkt ausdrücklich an, dass dies auch für die Mülheim-Kärlich-Reststrommengen gelte, „selbst wenn man die Frage der selbständigen Eigentumsposition im Hinblick auf sie anders beurteilen wollte“ (Rn. 265). (3) Das BVerfG erklärt apodiktisch, dass aus den gleichen Gründen auch die sonstigen gerügten Eigentumsbelastungen keine Enteignung darstellten (Rn. 266). 32
Röcker, in: Scheffczyk/Wolter (Fn. 23), S. 310 f.
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Weder werde Eigentum entzogen noch – additives Argument – zum Zwecke der Güterbeschaffung auf andere übertragen. Auf die Bedeutung der sofortigen Stilllegung von acht Kernkraftwerken geht das BVerfG nicht ein, – insoweit ist das Kriterium der Güterbeschaffung in der Tat einfach zu prüfen und zu beantworten. Ist das gemeint, wenn vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gesprochen wird? b) Nach der Verneinung der Enteignung prüft das Gericht folgerichtig, ob eine kompensationsbedürftige Inhaltsbestimmung des Eigentums vorliegt. Das Gericht rekurriert insoweit auf seine herkömmliche Rechtsprechung. Die bekannten Topoi finden sich bei der Darlegung der Grundsätze wieder (Rn. 268 – 270). Sie werden unter dem Kriterium der „Schutzwürdigkeit“ der Eigentumspositionen (Rn. 295 ff.) konkret behandelt. (1) Das Gericht prüft zunächst die formale Gesetzesmäßigkeit der Inhaltsbestimmung durch die 13. AtG-Novelle. Es verneint, dass das Gesetz „an durchgreifenden Mängeln des Verfahrens oder der Form“ litte (Rn. 271). Im Hinblick auf die ,Hast und Eile‘ des Verfahrens und die unterlassene Sachverhaltsermittlung und die mangelhafte Begründung war dies von den Beschwerdeführern gerügt worden. Das Gericht lehnt die in anderen Verfahren punktuell anerkannte selbständige Sachaufklärungspflicht des Gesetzgebers ab.33 Zwar können sich aus der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers Vorgaben an die Sachaufklärung ergeben. Eine solche Sonderkonstellation lehnte das BVerfG hier ab (Rn. 277). Auch liege keine Sonderkonstellation „ausnahmsweise gebotener Gesetzesbegründung“ vor (Rn. 279). Dies zu thematisieren bedürfte eines eigenen Beitrages. Es gab kaum je ein Verfahren, das so weitreichende Folgen für die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Betroffenen hatte wie die 13. AtG-Novelle. Das sehen wir sieben Jahre nach Erlass des Gesetzes mit aller Deutlichkeit. Es wäre einmal Wert darüber nachzudenken, ob nicht bei so einschneidenden Gesetzen der Topos des ,Grundrechtsschutzes durch Verfahren‘ auch gegenüber dem Gesetzgeber eine Pflicht zur Aufklärung und Sorgfalt begründet, zumal der verfassungsgerichtlichen Kontrolle materiell ja enge Grenzen gezogen sind.34 (2) Das Urteil geht dann auf die Streichung der Strommengen der 11. AtG-Novelle ein und prüft, ob diese eine verhältnismäßige, nicht ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung des Eigentums ist. Es bejaht dies. Es erkennt an, dass der Eingriff weitreichend ist – im Durchschnitt entspricht er dem Entzug der Laufzeit von 12 Jahren eines Kraftwerkes (Rn. 294). Allerdings sei die Schutzwürdigkeit der Eigentumsposition mehrfach eingeschränkt (unternehmerisches Eigentum mit einem besonders ausgeprägten sozialen Bezug; Hochrisikotechnologie mit extremen Schadensfallrisiken, ungeklärte Endlagerfragen; Gewährung der Strommengen im öffentlichen Interesse und ohne spezifische Eigenleistung der Anlagenbetreiber, kein berechtigtes Vertrauen in den Bestand dieser Strommengen, s. Rn. 295 ff.). In einer Abwägung 33
Etwa im Fall einer Fachplanung durch Gesetz, BVerfGE 95, 1, 23 f. – Stendal; BVerfGE 86, 90, 108 f. – Gemeindeneugliederung; BVerfGE 139, 64, 127 – Richterbesoldung. 34 Dazu Degenhart, Gesetzgeberische Sorgfaltspflichten bei der Energiewende, 2013.
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mit den für den Eingriff sprechenden Gemeinwohlbelangen erweise sich die Eigentumsbelastung als verhältnismäßig. Das BVerfG berücksichtigt dabei auch die „Ängste der Bevölkerung“ und das Kriterium der fehlenden „öffentlichen Akzeptanz“ (Rn. 308)35, betont aber zugleich, dass „allein der politische Wunsch, auf geänderte Wertungen in der Bevölkerung zu reagieren, jedenfalls kurzfristige Politikwechsel“ mit dem Ziel des Eingriffes in bestandsgeschützte Investitionen oft kein hinreichender Grund sei. Allerdings darf der Gesetzgeber Ereignissen ein eigenes Gewicht beilegen, die das Bewusstsein der Öffentlichkeit für Risiken – wie etwa die der Kernenergie – ändern, selbst wenn sie objektiv keine neuen Gefährdungen erkennen lassen. Unter Abwägung all dieser Umstände hält das BVerfG den entschädigungslosen Entzug der 2010 gewährten Zusatzstrommengen für eine verhältnismäßige Inhaltsbestimmung des Eigentumes. Leitend waren dabei die fehlende Eigenleistung und das Fehlen eines berechtigten Vertrauens in den dauerhaften Bestand dieser Strommengen (Rn. 309). (3) Das BVerfG kommt zu einem anderen Ergebnis, soweit infolge der Fixierung der Laufzeiten der Kraftwerke (Rest-)Strommengen von 2002 konzernintern nicht mehr verstrombar sind.36 Ausgangspunkt ist wiederum die Schutzwürdigkeit des Eigentumes. Den wesentlichen Grund für die andere Beurteilung – unzulässige Inhaltsbestimmung des Eigentumes, soweit keine finanzielle Kompensation erfolgt – sieht das BVerfG in dem unterschiedlichen rechtlichen Hintergrund der 2002 zugesprochenen Reststrommengen (Rn. 311, 334 ff.). Das BVerfG geht davon aus, dass die auf der Konsensvereinbarung 2001 beruhende gesetzliche Regelung (AtG 2002) der Nutzung des Eigentumes „besonderen Bestandsschutz“ genieße, weil die „Reststrommengen zentraler Gegenstand einer Übergangsregelung sind“ (Rn. 334).37 Darauf geht das BVerfG differenziert und vertieft ein. Es thematisiert zunächst den besonderen Vertrauensschutz, der sich aus dem Charakter einer Übergangsregelung ergibt. Dabei gehe es mehr als um den Schutz des Vertrauens des Bürgers in den Fortbestand des geltenden Rechts. „Hier vertraut der Bürger vielmehr auf die Kontinuität 35 Ich halte diesen Rekurs auf die Stimmungslage der Bevölkerung für problematisch. ,Ängste der Bevölkerung‘ (zunächst: Wer stellt sie fest? Gibt es nicht gegen alles und jedes Ängste in der Bevölkerung? Gegen die Nanotechnik, das Fracking, das Waldsterben, die unkontrollierte Immigration, die fehlende Sicherheit vor Kriminalität etc., insoweit ließe sich dieses Argument für und gegen alles instrumentalisieren) haben eine Affinität zu populistischen ,Themen‘. Sind die Grundrechte nicht gerade dann besonders wichtig, wenn der Gesetzgeber sich von solchen Ängsten und (vermeintlich) fehlender Akzeptanz leiten lässt? Dienen die Grundrechte nicht gerade dem Schutz vor stimmungsbedingtem (erratischem) Handeln? 36 Den Anlagebetreibern – betroffen waren insoweit RWE und Vattenfall – bliebe damit nur die Möglichkeit, die Verstromungsrechte auf die Betreiber von Kernkraftwerken (konkret: E.ON und EnBW) zu übertragen, soweit diese Verstromungskapazitäten haben. Das aber setzte voraus, dass man sich über die Bedingungen (insbesondere den Preis) der zu übertragenden Verstromungsrechte verständigte ob und unter welchen Umständen dies geschehen könnte, war im Zeitpunkt des Erlasses der 13. AtG-Novelle nicht absehbar, ebenso wenig zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes. 37 Dazu Schmitz/Helleberg, NVwZ 2017, 1332 (1336).
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einer Regelung, aufgrund deren altes Recht oder eine bestimmte Übergangsregelung noch für eine bestimmte Zeit“ aufrechterhalten wird (Rn. 336). Dabei nimmt das Gericht Bezug auf die bereits erwähnte „Atomkonsensvereinbarung“.38 Diese Reststrommengen sollten den Betreibern „eine verlässliche Grundlage für ihr wirtschaftliches Agieren garantieren“ (Rn. 337). Das rechtfertige ein besonderes Maß an Vertrauensschutz, das nur durch „schwere Nachteile für wichtige Gemeinschaftsgüter“ überwunden werden könne (Rn. 338).39 Das BVerfG begründet darüber hinaus, die besondere Schutzwürdigkeit der Reststrommengen 2002 mit ihrem „Kompensationscharakter“ (Rn. 344). Sie dienten dem Verlust der bis dahin unbefristeten Nutzungsmöglichkeit der Kernkraftwerke. Die Reststrommengen sollten die „Amortisation und einen angemessenen Gewinn“ sichern. Das Gericht nimmt auch Bezug darauf, dass das erstmals durch das AtG 2002 beschränkte Anlageneigentum „im Wesentlichen auf Eigenleistungen“ – den Investitionen in die Errichtung der Kraftwerke – der Kraftwerkseigentümer beruhte (Rn. 345). Daraus ergibt sich die Qualität des Eigentumsschutzes der Reststrommengen. Sie können deshalb nicht ohne Kompensation entzogen werden. Und das BVerfG führt ergänzend aus, dass „erst recht“ die dem KKW Mülheim-Kärlich zugeteilten Reststrommengen Bestands- und Vertrauensschutz genießen (Rn. 346). Denn speziell diese Reststrommengen seien eine Kompensation für den Verzicht auf die Durchsetzung eines Amtshaftungsanspruches und die Beendigung des Rechtsstreites.40 Sie hatten somit als Gegenleistung für den Verzicht auf die Durchsetzung eines geldwerten Anspruchs eine besondere Qualität. Das ist folgerichtig. (4) Schließlich prüft das Gericht, ob die Anlagenbetreiber für die Investitionen, die sie im Vertrauen auf den Bestand der 11. AtG-Novelle getätigt haben, und die durch die 13. AtG-Novelle entwertet werden (sog. frustrierte Aufwendungen) aufgrund des in Art. 14 Abs. 1 GG wurzelnden Vertrauensschutzes einen Anspruch auf Entschädigung – finanziell oder im Rahmen der gesetzlichen Neuregelung durch Übergangsfristen oder sonstige Ausgleichsregelungen – haben (Rn. 369 ff.). Das BVerfG erklärt die 13. AtG-Novelle auch insoweit für verfassungswidrig, „als sie keinerlei Regelung über den Ausgleich für frustrierte Investitionen vorsieht“ 38 Die verbindliche Unterzeichnung der Vereinbarung erfolgte am 11. 6. 2001, das in der Entscheidung genannte Datum vom 14. 6. 2000 betrifft die Paraphierung. 39 Das BVerfG geht in diesem Zusammenhang auch auf die viel zitierte Entscheidung des Zweiten Senats vom 19. 2. 2002 (BVerfGE 104, 249, 268 – Biblis A) ein, wonach der materielle Gehalt der Atomkonsensvereinbarung so gering sei, dass daran kein vernünftig und verantwortlich Handelnder ein ,Tau‘ festbinden würde. Zum einen beziehe sich diese Aussage nur auf die Anlage 2 der Vereinbarung (die sich mit dem Verfahren der Nachrüstung des KKW Biblis A befasst). Und zum anderen sei damals auch noch nicht das AtG 2002 erlassen gewesen, das diese Vereinbarung dann umsetze. 40 Der Bundesgerichtshof hatte mit Urteil vom 16. 1. 1997 (BGHZ 134, 268) dem Grunde nach festgestellt, dass RWE einen Schadensersatzanspruch gegenüber dem Land RheinlandPfalz infolge der gerichtlich (BVerwGE 80, 207) festgestellten Fehler im Genehmigungsverfahren hatte, die dazu führten, dass das Kraftwerk nach nur 13 Monaten Betrieb abgeschaltet wurde.
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(Rn. 373). Es begrenzt den Vertrauensschutz auf den Zeitraum zwischen dem 28. Oktober 201041 und dem 16. März 201142. Es erklärte ausdrücklich, dass das schutzwürdige Vertrauen für Investitionsentscheidungen nicht schon auf die Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDP vom 26. Oktober 2009 gründen könne, auch nicht auf das Datum der Einbringung des Gesetzentwurfes der 11. AtG-Novelle (28. September 2010). Offenbar differenziert das BVerfG zwischen Maßnahmen, die das Vertrauen in den Fortbestand einer bestehenden Rechtslage negativ zerstören können, – das ist eher früh der Fall, etwa durch die Einbringung eines Gesetzesentwurfs43 – und solchen Maßnahmen, die positiv das Vertrauen in die Entwicklung einer neuen Rechtslage begründen, – hier greift der rechtlich gesicherte Vertrauensschutz erst spät. Auf der Grundlage dieses Urteiles setzt der Vertrauensschutz, der Investitionen rechtlich schützt, jedenfalls erst mit dem Gesetzesbeschluss ein. Schon vorher ins Werk gesetzte Investitionen – etwa im Vertrauen darauf, dass eine Koalitionsvereinbarung oder Regierungserklärung tatsächlich umgesetzt wird –, sind in diesem frühen Stadium nicht geschützt, auch wenn sich das Vertrauen des Investors auf die Umsetzung der Ankündigung/Vereinbarung als zutreffend erwiesen hat (Rn. 377). (5) Das Urteil setzt sich in aller Kürze auch mit den anderen vermögensrelevanten Beeinträchtigungen durch die 13. AtG-Novelle auseinander (Rn. 383). Es erkennt an, dass die gestaffelten Abschalttermine einen „erheblichen Eingriff in die aus dem Eigentumsnutzungsrecht folgende unternehmerische Handlungsfreiheit bedeute(n)“. Es hält sie jedoch deshalb für zumutbar, weil die Kraftwerksbetreiber im Hinblick auf die Reststrommengen 2002 durch die Entscheidung des BVerfG so gestellt werden, dass sie die 2002 zugewiesenen Reststrommengen „im Wesentlichen vollständig in ihren Kernkraftwerken werden verstromen können“ (Rn. 384). Das Gericht sanktioniert damit auch die sofortige Stilllegung von acht Kernkraftwerken mit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 6. August 2011, ohne dies weiter auszuführen. Insoweit bestimmt nur noch die Nutzbarkeit der Strommengen durch ihre Übertragbarkeit den Wert des Eigentums. Das Gericht geht nicht mehr auf die Bestandsgarantie des individuellen Anlageneigentums – die oben (Rn. 217) noch als primäres Schutzgut bezeichnet wurde – ein, sondern verselbständigt die Nutzbarkeit des Ei41 Das ist das Datum des Gesetzesbeschlusses der 11. AtG-Novelle, die die Laufzeitverlängerung regelte. 42 Das nimmt Bezug auf das Schreiben des BMU an die Länder mit der Aufforderung, die sog. sieben Moratoriumskraftwerke plus Krümmel stillzulegen (dazu s. oben Ziff. II.2d) Fn. 12).Warum dieses Schreiben die maßgebliche Zäsur für die Beendigung des Vertrauens darstellt, nachdem der VGH Kassel und das BVerwG die Anordnung der Stilllegung mit deutlichen Worten für rechtswidrig erklärt hatten (VGH Kassel, DVBl. 2013, 726; BVerwG, DVBl. 2014, 303) wird nicht erläutert. Das gilt auch für den Umstand, dass das Moratorium nur dazu dienen sollte, den Zustand der Kernkraftwerke zu untersuchen und zu prüfen, ob sich aus den Vorgängen in Fukushima Folgerungen für den Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke ergäben. Und diese von der GRS vorgenommene Prüfung bestätigte ja den ordnungsgemäßen und im Rechtssinne risikolosen Anlagenbetrieb. 43 Dazu Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 137; BVerfGE 132, 302 Rn. 56.
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gentums. Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert und im Gefüge der Entscheidung nicht unbedingt konsistent. Zum einen hat das Gericht ja zunächst die durch die Strommengen definierten Nutzungsrechte als selbständig geschütztes Rechtsgut verneint (da nicht verfügbar) und sie gewissermaßen akzessorisch dem Anlageneigentum zugewiesen. Und nun gewährleistet die Übertragung (= Verfügung) der Reststrommengen (Nutzbarkeit) auf andere Anlagenbetreiber (jedes KKW ist eine eigenständige juristische Person) die Zumutbarkeit des Nutzungsentzuges bei den acht (von 17) Kraftwerken, die sofort stillzulegen sind. Zum anderen berührt dies merkwürdig, weil das BVerfG ja ausdrücklich betont hat, dass der vollständige Nutzungsentzug einer Anlage (mit der Folge ihrer Stilllegung) zwar keine Enteignung sei, wohl aber als gravierender Eingriff einer besonderen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliege. Der Gesetzgeber hat dabei „besonders sorgfältig zu prüfen“, ob dies mit Art. 14 GG vereinbar ist (Rn. 261). Insoweit sind „gesteigerte Anforderungen“ an die Verhältnismäßigkeit zu stellen (LS 5). Eine solche gesteigerte Prüfung ist weder in der Gesetzgebung noch im Urteil des BVerfG festzustellen (die Übertragbarkeit der Reststrommengen reicht dem BVerfG). Das BVerfG geht dann in apodiktischer Kürze darauf ein, dass auch die von den Anlagenbetreibern so bezeichneten Vollbremsungsschäden als verhältnismäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung ohne Entschädigung hinzunehmen seien (Rn. 385). Damit sind die Schadenspositionen und finanziell erheblichen Nachteile gemeint, die sich daraus ergeben, dass acht Kernkraftwerke mit Wirkung vom 6. August 2011 sofort ihre Betriebserlaubnis verloren haben, nachdem sie schon während des Moratoriums nicht mehr betrieben werden konnten. Speziell bei Kernkraftwerken führt dies konstruktiv bedingt (u. a. wegen der im Reaktor befindlichen Brennelemente) zu hohen Kosten, die bei einer langfristig geplanten Stilllegung vermeidbar sind. Das BVerfG erklärte, dass solche Eigentumsbeeinträchtigungen „als Umstellungslasten bei einem Systemwechsel den Eigentümern grundsätzlich zumutbar“ seien; es sei nicht erkennbar, dass sie „hier ausnahmsweise ein nicht mehr hinnehmbares Maß erreichten“ (Rn. 385). Dies ist eine Dezision, ohne konkrete Begründung. Sie ist schwer nachvollziehbar, weil es zum einen je Kraftwerk um große Beträge geht, die für denjenigen, der sich mit den Besonderheiten des Betriebs eines Kernkraftwerkes befasst, ohne weiteres schlüssig und plausibel sind. Und weil sich zum anderen am Duktus und dem Ergebnis der Entscheidung in den anderen Punkten nichts hätte ändern müssen. Von den vom BVerfG beim vollständigen Nutzungsentzug aufgegebenen gesteigerten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit und der eigentlich geforderten besonders sorgfältigen Prüfung kann hier keine Rede sein. (6) Schließlich befasst sich das Gericht am Schluss seiner Prüfung zu Art. 14 Abs. 1 GG noch einmal mit der Frage, ob die Regelung infolge der unterschiedlichen Staffelung der Betriebsfristen eine mit dem Gleichheitssatz vereinbarte Ausgestaltung des Eigentums der Kraftwerksbetreiber sei. Da die Laufzeiten nicht unerheblich variierten – ohne den Sonderfall Krümmel immerhin um über 5 1/2 Jahre, bezogen
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auf 32 Jahre Regel-Laufzeit44 – ist dieser Punkt wirtschaftlich von erheblichem Gewicht. Das BVerfG erklärte, dass sie „von dem beträchtlichen Gestaltungsspielraum getragen (sind), der dem Gesetzgeber in komplexen Entscheidungssituationen, wie der hier vorliegenden, zusteht, die von Prognoseunsicherheiten im Hinblick auf künftige Entwicklungen belastet ist,“ (Rn. 389). Sie seien mit Art. 3 Abs. 1 GG in der Abwägung zwischen dem Beschleunigungsziel der 13. AtG-Novelle, der Gewährleistung regionaler Versorgungssicherheit und der Berücksichtigung berechtigter Eigentums- und Vertrauensschutzinteressen auch bei „einer über die bloße Willkürprüfung hinausgehenden verfassungsgerichtlichen Gleichbehandlungskontrolle“ verfassungsgemäß. Auf den Umstand, dass sich der Gesetzgeber die Prognoseunsicherheit und -fehler selbst durch sein hastiges Gesetzgebungsverfahren zuzuschreiben hat, geht das Gericht nicht ein. Nachdem es das Verfahren selbst nicht beanstandet hatte, ist das wohl auch an dieser Stelle folgerichtig. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers deckt eben vieles ab. IV. Die Bedeutung der Entscheidung für den Eigentumsund Investitionsschutz Die Bedeutung der Entscheidung erschließt sich erst auf den zweiten Blick, nachdem sie so wohlfeil begründet erscheint. Man kann die Bewertung und den Ausblick – wie häufig bei Leitentscheidungen, die regelmäßig mit Vorbehalten, Einschränkungen und teilweise intransparenten Abwägungen verbunden sind –, erkenntnisleitend an Hoffnungen oder Befürchtungen festmachen. Das Glas ist halbvoll oder halbleer, vice versa. Das hängt natürlich im Ergebnis auch von dem eigenen Standort und dem Verständnis von Verfassungsgerichtsbarkeit ab, zumal wenn sie den demokratisch legitimierten Gesetzgeber kontrolliert. Das Urteil lässt viele Spielräume und unterschiedliche Deutungen zu. Es ist unschwer zu prophezeien, dass die Kommentierung und Auseinandersetzung mit der Entscheidung ,Regale‘ füllen wird. Ich möchte im Folgenden einige Aspekte des Urteiles herausgreifen, die sich für einen verfassungsrechtlichen Diskurs anbieten. Natürlich führt bis auf Weiteres kein Weg an den tragenden Gründen vorbei, dafür sorgt schon § 31 BVerfGG und bei aller Liebe zum Widerspruch die scholastische Disziplin der Verfassungsrechtler. Aber nicht alles ist geschichtlich in Stein gemeißelt. Und das Urteil lädt auch zu vielfältiger Abwägung und Differenzierung ein. Wie davon dann Gebrauch gemacht wird, ist nicht nur Sache des Gesetzgebers, sondern auch der Hermeneutik und der Wissenschaft und vor allem natürlich der Rechtsprechung übertragen. 44
Dazu die Tabelle bei Rn. 387. Das Delta lag zwischen der kürzesten Laufzeit (Philippsburg 1 mit 31,37 Kalenderjahren) und Gundremmingen C (36,95 Kalenderjahren) bei genau 5,58 Kalenderjahren Laufzeit. Die während dieser Zeit erzeugbaren Strommengen ergeben einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag. Wenn infolge der energiewirtschaftlich bedingten Staffelung der Abschalttermine tatsächlich ein Delta in dieser Größenordnung hinzunehmen ist, hätte es m. E. nahegelegen, zur Wahrung des Art. 14 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG eine Entschädigungspflicht zu statuieren, die diese Ungleichbehandlung ausgleicht.
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1. Der Enteignungstatbestand ist auf die Güterbeschaffung reduziert. Nur eine Regelung, die Eigentum entzieht und auf den Staat oder im Rahmen des Zulässigen auf Private45 überträgt, ist künftig eine Enteignung. Das BVerfG hat dieses Tatbestandsmerkmal erstmals thematisiert und dogmatisch begründet. Da diese Auffassung letztlich ein Bruch mit dem Kontinuum der Rechtsprechung ist, musste eine Begründung erfolgen. Die Begründung ist aber nicht überzeugend gelungen, weder die historische Ableitung noch die funktionale Begründung, weder die heuristische Zweckgebung noch die Folgen für den Grundrechtsträger und die Reichweite des Eigentumsschutzes. Berkemann46 hat es auf den Punkt gebracht. 2. Zwar ist die Unterscheidung zwischen der entschädigungspflichtigen Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG), und der kompensationsbedürftigen Inhaltsbestimmung des Eigentumes künftig einfach vorzunehmen. Die Abgrenzung ist binär (Güterbeschaffung ja/nein?), es entfällt jede Abwägung gemäß der Schwere des Eingriffes. Auch der vollständige Entzug des Eigentums oder der Nutzung des Eigentumes (bspw. das Kohlekraftwerk, das keine Kohle mehr verstromen darf oder das Auto, dessen Motor nicht mehr genutzt werden kann) ist keine Enteignung, sofern das Merkmal der Güterbeschaffung nicht vorliegt. Die Abgrenzungsprobleme verschieben sich freilich auf die nächste Ebene. Und hier gibt es künftig nicht nur eine Stufe, sondern nach dem Urteil vom 6. Dezember 2016 gibt es unterschiedliche Anforderungen an die Zulässigkeit des Eingriffes und seine Kompensationsbedürftigkeit. Liegt ein Eigentumsentzug / Nutzungsentzug vor, ist im besonderen Maße („besonders sorgfältig“) zu prüfen, ob der Eingriff gerechtfertigt ist, und wenn das zu bejahen ist, ob er kompensiert werden muss, und wenn das wiederum zu bejahen ist, in welcher Form eine Kompensation erforderlich ist. Kann sie in Gestalt einer Übergangsregelung oder von Ausnahmetatbeständen erfolgen, mithin den Eingriff in seiner Schwere mindern oder vermeiden, oder ist eine finanzielle Kompensation oder ein sonstiger Ausgleich (konkret bezogen auf die Kernkraftwerke: etwa in Gestalt einer Laufzeitverlängerung einzelner Kraftwerke) erforderlich? Die Abgrenzung wird im Ergebnis nicht einfacher, sondern komplexer. 3. Der neue Enteignungsbegriff schwächt den Eigentümer, und zwar in all den Fällen, in denen nach der bisherigen Rechtsprechung eine Enteignung ohne Güterbeschaffung vorlag. In diesen Fällen war klar, dass der Eigentümer eine Enteignungsentschädigung erhielt. Die Bestandsgarantie, die immer auch eine Nutzungsgarantie ist, setzte sich – mit den Worten des BVerfG – in eine Wertgarantie um. Im Regelfall hatte daher der Eigentümer einen Anspruch auf einen äquivalenten Ausgleich für den Rechtsverlust,47 das entspricht zumeist dem Verkehrswert.48 Die Zulässigkeit der 45 Dazu zuletzt die Entscheidung des BVerfG (1. K des 1. Senats) zur ,Ethylen-PipelineSüd‘, DVBl. 2017, 1174 mit weiterführenden Anmerkungen von Stöckle, DVBl. 2017, 1176 ff.; BVerfG (2. K des 1. Senats), DVBl. 2017, 1170 (,Kohlenmonoxidoberleitung‘). Grundlegend bis heute die Boxberg-Entscheidung, BVerfGE 74, 264, 285. 46 Berkemann, DVBl. 2017, 793 (798). 47 Schmidt-Preuß, in: Koch/Roßnagel (Hrsg.), 10. Deutsches Atomrechtssymposium, 2000, S. 153 (163).
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Enteignung (mit und ohne Güterbeschaffung) setzte immer voraus, dass sie den Kriterien der Verhältnismäßigkeit entsprach. Das gilt unverändert. Nach dem Urteil vom 6. Dezember 2016 ist für massive Eingriffe in das Eigentum, die nun nicht mehr als Enteignung qualifiziert werden – etwa wenn es um den vollständigen Entzug des Eigentumes oder seiner Nutzung geht – genauso wie bei der Enteignung eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung anzustellen; dabei ist zu fragen, ob der Eingriff erforderlich ist und ob er in einem angemessenen Verhältnis zu dem vom Gesetzgeber angestrebten Ziel steht. Wenn dies unter Berücksichtigung des Gestaltungsspielraumes und der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zu bejahen ist, folgt eine weitere Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung (anders bei der Enteignung: hier folgt die Junktim-Klausel). Es geht dann um die Frage, ob und in welchem Umfange der entrechtete Eigentümer einen kompensatorischen Entschädigungsanspruch hat.49 Es ist unschwer zu vermuten, dass dieser Anspruch unter dem vollen Wertausgleich liegen wird. Die Maßstäbe für die Anwendung der Verhältnismäßigkeit variieren, es bleibt abzuwarten, wie dies durch die weitere Rechtsprechung konkretisiert wird. Nach welchem Maßstab auch immer die Elle der Verhältnismäßigkeit angelegt wird, die Grenzen sind nie konturenscharf. Die damit verknüpfte Ungewissheit wird auf dem Rücken des Grundrechtsträgers ausgetragen. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist – das war ja auch das erklärte Ziel des BVerfG – gestärkt. Das führt mit Froese50 zu einer ,Enteignung light‘. Das Eigentum kann in seiner Funktionalität vollständig ausgehöhlt werden, es kann auch dinglich entzogen werden, die Entschädigung liegt dann nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit im Ermessen des Gesetzgebers. Der Ausgangspunkt der Rechtsprechung, die Bestandsgarantie des Eigentumes, die im Fall einer zulässigen Enteignung durch die Wertgarantie substituiert wird und damit abgesichert ist, wird relativiert. 4. Das BVerfG hat eine Vielzahl von Kriterien und Abwägungselementen angeführt, die zum Teil ohne Weiteres einleuchtend sind, die aber in ihrer Massierung und in der Abwägung gegenläufiger Interessen, auch des öffentlichen Wohls, bei der Ermittlung der Schutzwürdigkeit des Eigentums künftig zu Lasten des Eigentumes eine tragende Rolle spielen. Alleine mit der Feststellung, dass ein durch Art. 14 Abs. 1 GG geschütztes Rechtsgut vorliegt, ist noch nicht viel gesagt. Entscheidend ist, ob das Rechtsgut auch schutzwürdig ist. Hierfür wiederum ist ein besonderes Vertrauen in den Bestand des Rechtsgutes erforderlich. Das bedeutet: Der Rechtsadressat kann nicht ohne Weiteres auf den Bestand eines parlamentarischen Gesetzes vertrauen. Der Gesetzgeber kann seine Entscheidung weitgehend revidieren, wenn er ein verfassungsmäßig legitimes Ziel verfolgt. Das gilt vor allem dann, wenn der Eigentümer keine Eigenleistung erbracht hat. Motto: Der Gesetzgeber kann es geben, der Gesetzgeber kann es nehmen, sofern er das Eigentum als nicht schutzwürdig ansieht. Das ,einfache‘ Vertrauen in ein parlamentarisches, rechtsstaatliches Gesetz 48
Statt aller Wendt, in: Sachs (Fn. 43), Art. 14 Rn. 169. Dazu Börner, RdE 2017, 119 (123). 50 Froese, NJW 2017, 444. 49
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reicht nicht aus. Das Vertrauen in die Legitimität und Legalität des Gesetzes und der dadurch geschaffenen Regelung ist ohne Eigenleistung zumindest eigentumsmäßig nicht viel wert. 5. Das unter Einsatz einer Hochrisikotechnologie gesetzeskonform geschaffene Eigentum ist offenbar weniger schutzwürdig als konservativ erworbenes/geschaffenes Eigentum. Die Hochrisikotechnologie ist ebenso ein Topos bei der Bewertung der Schutzwürdigkeit des Eigentumes wie die Akzeptanz in der Bevölkerung. Zu dieser Technologie gehören natürlich auch die damit verknüpften Restrisiken, die gewissermaßen der Industriegesellschaft immanent sind, wie das BVerfG an anderer Stelle51 auch entschieden hat. Geht man davon aus, dass bei der Investition in Hochrisikotechnologien (was immer dazugehört) etwaige Gefahren, Gefährdungen und auch Schadensrisiken durch den Gesetzgeber detailliert geregelt werden und entsprechende Vorsorge aufgegeben wird – schon um der Handlungspflicht des Gesetzgebers aus Art. 2 Abs. 2 GG zu entsprechen – stellt sich die Frage, warum unter Berücksichtigung dieser Aspekte das unter Einsatz solcher Technologien geschaffene Eigentum nur eingeschränkt schutzwürdig und gegen den entschädigungslosen Entzug gesichert sein soll. 52 Selbst wenn der Eigentümer am Ende der Abwägungskaskade eine gewisse Kompensation / Entschädigung erhält, ist dies nicht wirklich hilfreich, denn sie hat im Zweifel nur einen moderaten Wert. Investitionen in solchen Technologien werden von vornherein nur vorgenommen, wenn sie gegen einen entschädigungslosen Entzug gesichert sind. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Urteil auf das Investitionsverhalten der Unternehmen, speziell bei der Investition in neue Technologien, auswirken wird. Ist Deutschland nicht stolz auf seinen Erfindergeist und die Hochleistungstechnologien? Bedarf es nicht gerade bei diesen Investitionen eines besonderen Schutzes gegenüber regulativen/disruptiven Eingriffen des Staates, weil insbesondere solche Technologien häufig auf Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung stoßen? Das technische und unternehmerische Risiko der Entwicklung und des Einsatzes solcher Technologien kann der Unternehmer tragen, er muss es abschätzen. Was er nicht abschätzen kann, ist das regulatorische Risiko von Eingriffen durch den Gesetzgeber. 6. Es steht nunmehr fest, dass öffentlich-rechtliche Genehmigungen und Erlaubnisse keinen Eigentumsschutz genießen. Sie gehören nicht zu den durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsgütern. Soweit auf der Grundlage der Genehmigung, Bewilligung, Erlaubnis etc. (Werks-)Anlagen errichtet sind, ist diese Anlage als Eigentum geschützt. Die gesetzliche Genehmigung gestaltet das Anlageneigentum. Aus ihr ergibt sich in der Regel Art und Umfang der zulässigen Nutzung. Die Genehmigung als solche bedarf dann keines selbständigen Schutzes mehr. Dagegen bestehen keine Bedenken. Sofern aber die Genehmigung nicht schon über eine Investition 51
BVerfGE 49, 89 Rn. 118 f. – Kalkar I: „Sie sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen.“ 52 Krit. auch Börner, RdE 2017, 119 (126); demgegenüber tendenziell zustimmend Roßnagel/Hentschel/Emanuel, UPR 2017, 128 (132 f.).
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ausgenutzt bzw. umgesetzt ist, sie vielmehr nur das Recht zur Durchführung der Investition verkörpert, unterfällt sie nicht dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG. Das trifft die sog. Projektentwickler, auch Architekten und in Einzelfällen Bürger, die ein bestimmtes Projekt konzipiert und hierfür die oft langwierigen und kostspieligen Planungs- und Genehmigungsverfahren durchlaufen. Derjenige, der ein solches Verfahren auf sich nimmt, ist zwar – je nach Sachverhalt – durch Art. 12 Abs. 1 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG und den damit verknüpften rechtsstaatlichen Vertrauensschutz geschützt, auch möglicherweise durch die nur eingeschränkte Zulässigkeit rückwirkender Gesetze. Gegen einen gesetzlichen Rechteentzug als solchen kann er sich nach diesem Urteil jedenfalls nicht mehr wenden. 7. Wenn gesetzliche Eingriffe in das Eigentum über den Eigentums-/Nutzungsentzug hinaus zu weiteren Schäden führen – wie das etwa bei der sofortigen Stilllegung von acht Kernkraftwerken der Fall war/ist – hat der betroffene Eigentümer im Zweifel keinen Anspruch auf finanzielle Kompensation. Zumindest sieht er sich hier einer großen Ungewissheit gegenüber. Stets sind seine vermögensrelevanten Beeinträchtigungen „an den gewichtigen Gemeinwohlgründen“, die für die neue gesetzliche Regelung sprechen, zu messen (Rn. 383). Warum sie dem Eigentümer zumutbar sind, weil die Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums „von hinreichenden Gemeinwohlgründen“ getragen ist (Rn. 385), ist unverständlich. Die hinreichenden Gemeinwohlgründe sind erforderlich, um die belastende Inhaltsbestimmung des Eigentumes zu rechtfertigen. Sie rechtfertigen damit aber noch nicht den kompensationslosen Entzug bzw. etwaige bei dem Eigentümer eintretender Kollateralschäden. 8. Die Entscheidung führt zu dem Gedanken, dass der Investor bei hohen Investitionen das Investment in das Eigentum tunlichst durch eine begleitende öffentlichrechtliche Vereinbarung – etwa eine ,Konsensvereinbarung‘ – absichert. Da das BVerfG einer solchen Vereinbarung jedenfalls im Urteil vom 6. Dezember 2016 besonderes Gewicht beigemessen hat – bezogen auf die Reststrommengen 2002 und den Verzicht auf die im Rahmen der Investition ursprünglich erbrachten Eigenleistungen –, liegt es nahe, jedenfalls in besonderen Situationen (bei besonders hohen Investitionen und einer möglicherweise nach dieser Entscheidung nur geringen Schutzwürdigkeit) die eigene Position vertraglich zu sichern. Ob die Gegenseite – die öffentliche Hand – dazu bereit ist, steht auf einem anderen Blatt. Das hängt natürlich von dem öffentlichen Interesse an dem Investment ab. Zwar werden gegen solche Vereinbarungen – im Hinblick auf die Frage, ob ein Gesetzgeber faktisch durch vertragliche Regelungen gebunden werden kann – teilweise Bedenken geltend gemacht,53 jedoch erscheint es zur Stärkung der eigenen Position zweckmäßig, diesen Weg in Einzelfällen zu beschreiten. Eine solche Vereinbarung schützt das Vertrauen in die Beständigkeit der Rechtsposition, schafft eigene vertragliche Ansprüche und stärkt den mit dem Recht verknüpften Eigentumsschutz (die Schutzwürdigkeit). 53 Vgl. etwa Schorkopf, NVwZ, 2000, 1111 (1112 ff.); Kloepfer, DVBl. 2007, 1189 (1191 f.).
Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz
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9. Eine weitere Relativierung der Grundrechtsposition des Eigentümers könnte sich daraus ergeben, dass bei der Ermittlung der Schwere des Eingriffes und der damit korrespondierenden Schutzwürdigkeit des Eigentumes berücksichtigt wird, ob das Eigentum abgeschrieben ist und ob der Eigentümer einen angemessenen Gewinn mit der Anlage erzielt hat (ob sich die Anlage gewissermaßen amortisiert hat). Das ist ein Thema für sich.54 Das BVerfG hat sich insoweit nicht festgelegt. In der Literatur wird darüber gestritten.55 Zu welchen Auswüchsen das führt, zeigt die Diskussion um die Stilllegung von Kohlekraftwerken. Agora hat hierzu ein Rechtsgutachten56 in Auftrag gegeben. Das Gutachten mit dem Titel ,Ein Kohleausstieg nach dem Vorbild des Atomausstiegs‘ vom August 2017 kommt zu dem Ergebnis, dass Kohlemeiler, die mindestens 25 Jahre am Netz sind, mit einem Jahr Übergangsfrist (!) abgeschaltet werden könnten, ohne die Betreiber zu entschädigen (vgl. Gutachten S. 28). So einfach soll das sein! Gilt dann noch der vom BVerfG selbst betonte prioritäre Bestandsschutz des Eigentumes? Oder ist der Bestand nur nach Maßgabe der Abschreibung geschützt? Ich halte diese schematische Argumentation für unvertretbar. Sie wird dem Eigentum nicht gerecht. Wenn künftig der Schutz des Eigentumes – die Schutzwürdigkeit – abhängig wäre von der Amortisation oder anderen betriebswirtschaftlichen Kriterien, wäre der Eigentümer von besonders werthaltigem, gewinnträchtigem Eigentum langfristig kaum mehr geschützt. Natürlich müsste der Eingriff durch die vom Gesetzgeber verfolgten Belange des Allgemeinwohls oder sonstiger konkreter öffentlicher Zwecke gerechtfertigt sein. Die damit verknüpfte Verhältnismäßigkeitsprüfung57 würde dann aber häufig zu Lasten des Eigentümers ausgehen, da er ja schon einen ,angemessenen Gewinn‘ (was immer das ist, und wer immer das entscheidet) erzielt hat. Fragen der Amortisation oder angemessenen Gewinnerzielung können meines Erachtens allenfalls im Zusammenhang mit der Frage, in welcher Höhe eine Entschädigung zu gewähren ist, eine Rolle spielen. Für die Bestimmung des Schutzbereiches und der Schutzwürdigkeit „sind sie untauglich“.58 V. Resümee Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz ist nach der Entscheidung des BVerfG vom 6. Dezember 2016 in mehrfacher Hinsicht zurückgenommen. Die Ge54
Nach dem Umweltbundesamt sind Investitionen in Kohlekraftwerke nach 15 – 20 Jahren abgeschrieben, und spätestens nach 25 Jahren haben sich die Anlagen amortisiert und einen Gewinn erzielt, Umweltbundesamt, Klimaschutz und Versorgungssicherheit – Entwicklung einer nachhaltigen Stromversorgung, Climate Change 13/2009, dazu Ziehm, ZNER 2017, 7 (10 f.). 55 So u. a. Di Fabio, FS Papier, 2013, S. 503 (511). 56 Bei der Berliner Kanzlei Becker Büttner Held (BBH); Ziehm, ZNER 2017, 7 (10) will den Betreibern der Kraftwerke immerhin 35 Jahre Laufzeit belassen. 57 Dazu Ewer, NVwZ 2011, 1035 (1037 f.). 58 Uechtritz, FS Kirchberg, 2017, S. 187 (198).
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staltungsfreiheit des Gesetzgebers ist gestärkt, das war auch das erklärte Ziel des BVerfG. Man könnte die Entscheidung in manchen Punkten gewiss auch enger auslegen, sodass die hier nur kurz skizzierten möglichen negativen Folgen aus der Sicht des Grundrechtsträgers nicht unbedingt eintreten. Vergegenwärtigt man sich, in welchem Umfange häufig die Entscheidungen des Gesetzgebers im Bereich der Risikotechnologien oder auch ,grüner‘ Dogmen beeinflusst sind – von der Nanotechnologie bis zum Fracking, von der Kerntechnik bis zum Dieselmotor, vom Verbrennungsmotor bis hin zu konventionellen Kraftwerken – ist zu befürchten, dass der Gesetzgeber über kurz oder lang die Spielräume testen wird, die ihm das BVerfG eröffnet hat. Es stellt sich die Frage, ob nicht gerade in solchen Situationen eine Stärkung der Grundrechte erforderlich ist und nicht eine Schwächung.
Stärkung der Demokratie in der Digitalen Konstellation Von Ingolf Pernice, Berlin I. Einführung Am 25. April 2018 führte der konstitutionelle Ausschuss des Europäischen Parlaments eine Anhörung durch zu dem, was als das „Globalization Trilemma“ bezeichnet wird: Wie können Globalisierung, Demokratie und Wohlstand miteinander in Einklang gebracht werden? Angesichts des Vormarsches nicht nur amerikanischer IT-Riesen, sondern auch chinesischer und anderer global agierender Unternehmen auf den Weltmärkten – unter den 20 umsatzstärksten Unternehmen der Welt ist heute kein einziges Unternehmen der EU gelistet – und eines besorgniserregenden Trends in vielen Ländern in Richtung „illiberale Demokratie“, die keine Demokratie mehr ist, angesichts der steigenden Bedrohungen durch Dürre und andere verheerende Folgen des Klimawandels in vielen Ländern, einschließlich des wachsenden Flüchtlingsdrucks auf Europa, steht die EU vor Herausforderungen, die den erreichten Wohlstand nicht mehr als selbstverständlich erscheinen lassen und neue Ansätze fordern. Das veranlasste die Überlegungen, die hier zur Diskussion gestellt werden.1 Es geht um Fragen der Wirtschaft und ihrer Ordnung, die den Jubilar dieser Festschrift vom jugendlichen Studienalter her faszinieren, und die ihn ein Wissenschaftlerleben lang als Verfassungs- und Verwaltungsrechtler gefesselt haben. In den Schriften scheint die deutsche Perspektive im Vordergrund zu stehen; aber schon die Dissertation über „Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen“ entstand unter dem Eindruck dessen, was er während seines einjährigen Studienaufenthalts an der Harvard Universität erfahren und gelernt hat. Später ließ ihn das Energie- und Regulierungsrecht nicht mehr los; ohne die europarechtliche Perspektive waren diese Rechtgebiete nicht zu bearbeiten. Grundlage für alle wissenschaftliche Arbeit aber blieb für ihn das verfassungsrechtliche Seminar bei Peter Häberle in Marburg, in dem theoretische Durchdringung, interdisziplinäre Öffnung und zugleich der Praxisbezug der Forschung die prägenden Elemente waren und das in der Tradition von Rudolf Smend und Konrad Hesse zu den aktuellsten Fragen der späten 68’ger Jahre in wissenschaftliche Arbeit und Diskussion einführte. 1
Public Hearing of 25. 4. 2018 at the AFCO of the European Parliament, titled: „Globalization Trilemma. How to Reconcile Globalization, Democracy and Welfare – Lessons for the EU“. Der vorliegende Beitrag beruht im Wesentlichen auf den hierzu für das Europäische Parlament entwickelten und dort diskutierten Überlegungen, veröffentlicht unter: http://www. europarl.europa.eu/cmsdata/142581/Globalisation%20trilemma%20IP%20180421.pdf.
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Eine zufällige Begegnung vor dem Savigny-Haus, dem juristischen Seminar in Marburg, mit Matthias Schmidt-Preuß, bei der er mir die Teilnahme am „HäberleSeminar“ sehr dringlich nahe legte, führte nicht nur zu einer langjährigen gemeinsamen Teilnahme an diesem Seminar, sondern auch zu einer dauernden persönlichen Freundschaft. Wenn unsere beruflichen Wege später auch in ganz verschiedene Richtungen gingen, so liegt es sicher an dieser Begegnung und den vielen Diskussionen in Seminar und Freundeskreis während der nachfolgenden Jahre, dass es mir heute vergönnt ist, in dieser Festschrift meinem alten Freund gegenüber meinen Dank zum Ausdruck zu bringen, ebenso wie die Hoffnung, den alten Gesprächsfaden damit wieder aufnehmen zu können. Nicht nur der Blick über die Grenzen, auf die Europäische Integration und die globalen Herausforderungen verbindet uns, in gewisser Weise sind es auch die Netze, hier die Netzwirtschaft, von der Energie bis zur Telekommunikation, dort das Internet und die Digitalisierung. Die Rechtsfragen, die sich stellen, sind nur scheinbar weit voneinander entfernt, beides verschränkt sich zunehmend, und mit dem Fortschreiten der Digitalisierung und der wachsenden Vermachtung der Märkte in der Plattformwirtschaft weltweit stehen Regulierung und Sicherung des Wettbewerbs erneut auf der Tagesordnung. Und dies sind Herausforderungen, die nicht auf nationaler und auch nicht auf europäischer Ebene bewältigt werden können, sondern globale Lösungsansätze fordern. Die folgenden Zeilen skizzieren einen Projektvorschlag, der einen Ansatz zur Lösung auf der Grundlage der Beobachtung betrifft, dass in der neuen Konstellation, die als „Digitale Konstellation“ beschrieben werden kann, ein neues Instrument, nämlich im weitesten Sinne das Internet und sein Potential, Demokratie zu stärken, zu wenig Beachtung finden. Die innere Stärkung der Europäischen Union durch lebendigere Demokratie wird als Voraussetzung, vielleicht sogar auch als Modell für die Konstitutionalisierung demokratischer Regelungszuständigkeit auf globaler Ebene begriffen (dazu II.). Basis der Entwicklung „digitaler Demokratie“ auf allen Ebenen könnte eine digitale Identität sein, mit Ausweisfunktion u. a. für den Bürgerschaftsstatus auf lokaler, regionaler, staatlicher, Unions- und auch globaler Ebene, wo der Wille der Betroffenen zu allen denkbaren politischen Themen digital ermittelt werden kann (dazu III.). Ein Projekt, das die Möglichkeiten in dieser Richtung auslotet, muss zugleich die unterschiedlichsten Widerstände, Risiken und Bedenken mitberücksichtigen, denen die Einführung digitaler Demokratie in der vorgeschlagenen Weise entgegenstehen, zumal wenn sie auf die globale Ebene erstreckt werden soll (dazu IV.). II. Globalisierung, EU und die Demokratie in der Digitalen Konstellation Dem Bedeutungsverlust Europas im Zuge der Globalisierung kann nur entgegengewirkt werden, indem die EU und damit auch die demokratische Kontrolle ihrer Politiken durch die geplante Reform tatsächlich nachhaltig gestärkt werden, so dass sie
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als hörbarer Akteur auf der globalen Bühne handeln kann. Nur dann lassen sich europäische Werte und Interessen bei der Gestaltung der Globalisierung effektiv ins Spiel bringen (dazu 1.). Dafür muss die Rolle der BürgerInnen, ihre europäische Identität und ihr Engagement als UnionsbürgerInnen gestärkt werden (dazu 2.). Die digitale Konstellation eröffnet neue Perspektiven für eine lebendigere Demokratie in der EU auch als Modell für die Konstituierung globaler Demokratie2 (dazu 3.). Es geht also darum, Demokratie als „digitale Demokratie“ zu dynamisieren, auf allen Ebenen, um letztlich die Selbstbestimmung des Menschen als Element der Menschenwürde auch in Zeiten der Globalisierung zu sichern (dazu 4.). 1. Globalisierung mitgestalten heißt: Die EU stärken Wie die globale Ordnung sich entwickelt, ist von fundamentaler Bedeutung für jeden Einzelnen in der EU; es bestimmt unser aller Leben in vielfältiger Weise, existentiell. Keiner der Mitgliedstaaten allein hat den nötigen Einfluss, auch das Vereinigte Königreich nicht. Die EU ist unsere einzige realistische Chance, bei der Gestaltung der künftigen Weltordnung eine Rolle zu spielen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Selbstbestimmung jedes Einzelnen durch Einfluss auf die Antwort zur Frage, welches unsere Lebensbedingungen in der Zukunft sein sollen Denn diese hängen in vielerlei Hinsicht nicht mehr von dem ab, was wir auf staatlicher oder auch europäischer Ebene bestimmen können: Es geht also um Demokratie im ureigensten Sinne. Eine Stärkung der EU kann nur von den Bürgerinnen und Bürgern der EU ausgehen, die diesen Zusammenhang verstanden haben. Der Prozess läuft über die nationalen Parlamente und Regierungen, aber auch über entschiedene Impulse vom Europäischen Parlament und – vielleicht – in einer koordinierenden Funktion über die vom EP kontrollierte Europäische Kommission, eine Kommission, die sich als Kommission der UnionsbürgerInnen versteht und nicht als Sekretariat der Regierungen. Ein solches Sekretariat haben wir schon im Rat. 2. Die Rolle der Bürgerinnen und Bürger: Europäische Souveränität Die Frage ist, wie der wachsenden Distanz zwischen Bürgern und ihren Institutionen begegnet werden kann. Wie erreichen wir, dass sie die EU als die Ihre betrachten – taking ownership – und entsprechend aktiv in der Gestaltung der EU selbst und ihrer Politiken mitwirken, und gehört werden? „Bruxelles“, so sagte treffend Emmanuel Macron an der Sorbonne, „c’est nous, toujours, à chaque instant“. 2
Initiativen und Vorschläge zum Thema der globalen Demokratie unter Nutzung der Digitalisierung gibt es seit längerer Zeit, s. etwa Democracy without borders, unter: https://www. democracywithoutborders.org/de/. Allgemeiner: Pernice, E-Democracy, the Global Citizen, and Multilevel Constitutionalism, in: Prins/Cuijpers/Lindseth/Rosina (eds.), Digital Democracy in a Globalised World (Edward Elgar, Cheltenham 2017), S. 27 ff.
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Die großen geplanten Reformen, von der dringenden Reform der Wirtschafts- und Währungsunion über die Stärkung der sozialen Flankierung des Binnenmarktes bis hin zu einer effektiven Außen- und Sicherheitspolitik müssen den Willen der UnionsbürgerInnen reflektieren und ihm in den künftigen Politiken effektiver Raum geben.3 Die von Macron ins Spiel gebrachte Europäische Souveränität4 kann nur diejenige der UnionsbürgerInnen sein, ausgeübt – gemäß dem Prinzip der Subsidiarität – soweit möglich durch die Mitgliedstaaten und, soweit nötig, komplementär,5 durch die Institutionen der Union. „Rethinking globalization“ heißt also zugleich und zuerst einmal: „Rethinking the EU“. Das was Macron im Auge hat – „Refonder l’Europe“ – ist auf ein Engagement der Unionsbürgerinnen gegründet, er will es mit seiner Initiative wecken und fördern. Dabei kann er sich auf „Pulse of Europe“ und viele andere spontane Bewegungen europaweit stützen. Sie sind Ausdruck einer neuen Wende zu Europa;6 sie geben Europa neue Energie, von unten nach oben. Wie aber kann es gelingen, die Menschen nicht nur zu mobilisieren, sondern ihnen eine relevante Stimme zu geben, „voice“, statt dass sie sich für den „exit“ entscheiden, um ein berühmtes Begriffspaar von Albert O. Hirschmann7 in Ansatz zu bringen? Die Kluft zwischen Bürgern und Institutionen der EU ist trotz aller Bemühungen etwa um die Stärkung des Europäischen Parlaments immer weiter gewachsen, und neue Konzepte für die Demokratie wurden nicht entwickelt. Bietet die Digitalisierung neue Perspektiven? 3 Vgl. schon zur WWU Pernice, Financial Crisis, National Parliaments and the Reform of the Economic and Monetary Union, in: Davor Jancic (ed), ,National Parliaments after the Lisbon Treaty and the Euro Crisis. Resilience or Resignation?‘, OUP 2017, S. 115 ff.; allgemeiner: Die Vorschläge der Fünf Präsidenten zur Reform der EU. Eine neue Verfassungsdebatte der Europäischen Union im Lichte der fortwährenden Krise, in: Institut für Europarecht der Universität Freiburg (Hrsg.), Die Schweiz und die europäische Integration – 20 Jahre Institut für Europarecht / La Suisse et l’intégration européenne – 20 ans de l’Institut de droit européen, 2015, S. 115 ff., auch als WHI-paper 3/2015. 4 Vgl. schon Emmanuel Macron, Rede an der Humboldt-Universität zu Berlin, „The Franco-German relation and the future of the European Union“ v. 14. 1. 2017: „Europe of Sovereignty“, unter: https://www.rewi.hu-berlin.de/de/lf/oe/whi/FCE/2017/rede-macron, sowie seine Rede an der Sorbonne vom 26. 9. 2017, Initiative pour l’Europe – Discours d’Emmanuel Macron pour une Europe souveraine, unie, démocratique; zum Versuch einer Begriffsdeutung s. das Editorial in 14 EuConst (2018), S. 1 ff.: „Sovereignty of us Europeans“. Zur Rede vor dem Europäischen Parlament v. 17. 4. 2018: Actualités du PE: http://www.europ arl.europa.eu/news/fr/press-room/20180411IPR01517/emmanuel-macron-defend-l-idee-d-unesouverainete-europeenne. 5 So ausdrücklich Macron vor dem EP am 17. 4. 1018 (Fn. 4), wo er betont, dass Europäische Souveränität nicht diejenige der Mitgliedstaaten ersetzt, sondern komplementär ist. 6 Vgl. etwa die Seite https://pulseofeurope.eu/de/. 7 Hirschmann, Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations and States (Harvard University Press, 1970). Zur Anwendung im Kontext der Europäischen Integration s. Weiler, The Transformation of Europe, 100 Yale Law Journal (1991), S. 2403, auch in ders., The Constitution of Europe (Cambridge University Press 1999), 10, 16 ff., 30 ff.
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3. Die „Digitale Konstellation“: Herausforderungen und Chancen Das Internet verändert nicht nur unsere Gesellschaften, sondern hat einen neuen Globalisierungsschub gebracht, der eine starke Rolle der EU jetzt auch für eine Gestaltung der globalen Kommunikationsordnung, die unseren Werten entspricht, umso dringlicher macht. Beziehungen zwischen den Menschen weltweit werden durch die Digitalisierung dichter, die Gesellschaft selbst wird global. Die Politik dagegen bleibt national verhaftet, allenfalls europäisch, lässt man die hegemonialen, zT. schon imperialen Attitüden der USA einmal außer Betracht. In Fortführung eines Gedankens von Jürgen Habermas, der sich dem Demokratieproblem in der „postnationalen Konstellation“ gewidmet hat,8 möchte ich die neue Lage mit allen ihren Risiken, aber auch den neuen Chancen für effektive Demokratie als „digitale Konstellation“ beschrieben.9 Sie ist postnational, aber geprägt von den besonderen Risiken und Chancen der digitalen Revolution. Vor allem, sie eröffnet eine Perspektive, die Globalisierung in den Griff zu bekommen. Das bedeutet, dass es global wirksamer, demokratisch legitimierter Regeln bedarf, die die gemeinsamen Rechte und legitimen Interessen der Menschen gegenüber den Partikularinteressen einzelner globaler Akteure schützen. Als ein Versuch, in einem spezifischen Bereich Vorreiter zu sein, kann die Datenschutzgrundverordnung mit ihren weit über die Grenzen Europas reichenden Wirkungen angesehen werden. Drittländer müssen sich an die in der EU gesetzten Standards anpassen, wenn der Datenverkehr mit ihnen zulässig sein soll.10 Aber unilaterale Lösungen werden von anderen als Bedrohung empfunden, als eine Art verdeckter Imperialismus, der keine Antwort sein kann auf die globalen Herausforderungen, schon gar nicht für Europa. Sie sind nicht der Weg zur „souveraineté numérique“, von der Macron vor diesem Parlament sprach.11 Der neue Cloud-Act der USA vom 6. Februar 201812 kann als Antwort speziell auf Art. 48 der DSGV mit seinen extraterritorialen Wirkungen verstanden werden. Er gibt den US-Behörden freien Zugriff auf die von US-Unternehmen im Ausland gespeicherten Daten, ohne Rücksicht auf die dort geltenden 8 Habermas, The Postnational Constellation and the Future of Democracy, in: The Postnational Constellation. Political Essays (Cambridge: Polity Press, 2001), S. 58. Zur Umsetzung s. ders., The Crisis of the European Union. A Response (Polity Press 2012), S. 53 ff. 9 Pernice, Risk Management in the Digital Constellation – A Constitutional Perspective, Conference Barcelona 2017 (part I), in: IDP Revista D’Internet, Dret I Política, 2018, S. 7 ff., unter: https://idp.uoc.edu/articles/3124/galley/3461/download/. 10 Vgl. Art. 44 – 50 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. 4. 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung). 11 S. die Video-Aufnahme der Rede (Fn. 4), Min 8.03. 12 „Clarifying Lawful Overseas Use of Data Act“ or the „CLOUD Act“, 115th Congress, S. 2383, unter: https://www.congress.gov/bill/115th-congress/senate-bill/2383/text. Wichtig Sec. 2 (6): „International agreements provide a mechanism for resolving these potential conflicting legal obligations where the United States and the relevant foreign government share a common commitment to the rule of law and the protection of privacy and civil liberties“.
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Datenschutzbestimmungen, und überlässt dabei die Regelung von Konflikten im Datenschutz für ausländische Bürger künftigen bilateralen Vereinbarungen. Steht ein „Krieg der Daten“ bevor, wie in einem Kommentar zu lesen ist?13 Das kann nicht der richtige Weg sein. Datenschutz ist nur eine Baustelle von vielen. Auch die Cybersicherheit als Funktionsbedingung digitaler Lösungen gewinnt Bedeutung, mit derselben Geschwindigkeit, wie die Digitalisierung selbst.14 Schon nehmen Bedrohungen der Demokratie selbst durch den Missbrauch von Daten und die Nutzung sozialer Netzwerke zur gezielten Einflussnahme auf die Wähler auch durch ausländische Akteure breiten Raum in der netzpolitischen Debatte ein.15 Das deutsche Netzdurchsetzungsgesetz und neue europäische Initiativen versuchen eine Antwort.16 Gemeinsame Regeln auf globaler Ebene sind nötig für solche Herausforderungen, denen einzelne Staaten – oder die EU – allein nicht wirksam begegnen können. Das Internet ist aber nicht nur Regelungsgegenstand, es kann auch ein Instrument der Stärkung der Demokratie in Europa und Element der Konstituierung einer demokratischen globalen Ordnung sein. Das ist die Chance der Digitalen Konstellation. Das Völkerrecht der Staaten hat sich als wenig wirksam erwiesen, den neuen Herausforderungen zu begegnen, trotz aller bescheidenen Erfolge etwa beim Klimaschutz. Global gilt allerdings dieselbe Logik wie in Europa: Erst die Konstituierung von demokratisch legitimierter und kontrollierter Regelungszuständigkeit auch jenseits des Staates, im Namen und im Interesse der Bürgerinnen und Bürger weltweit, die sich als global citizens definieren, kann effektive Ordnung stiften. Mit ihr können globale Akteure wie Banken und anderen Investoren, IT-Plattformen und andere weltweit operierende Unternehmen wirksamen Regeln unterworfen werden. Was der Kontrolle der Staaten entglitten ist, die globalen Finanzmärkte, die Erwärmung der Atmosphäre, die organisierte Kriminalität, der internationale Terrorismus, Menschenhandel, Geldwäsche etc. muss durch eine Regelungszuständigkeit auf der Ebene wieder eingefangen werden, auf der die Probleme auftreten: Globale Regelung im gemeinsamen öffentlichen Interesses demokratisch legitimiert und kontrolliert. Davon sind wir zwar weit entfernt, aber die EU kann als Laboratorium für die
13 Vgl. dazu Jansen, Krieg der Daten – Kollision von EU DSGVO und US CLOUD Act, CR-online Portal zum IT-Recht, unter: https://www.cr-online.de/blog/2018/03/28/krieg-der-da ten-kollision-von-eu-dsgvo-und-us-cloud-act/. 14 Vgl. dazu Pernice, Global Cybersecurity Governance. A Constitutional Analysis, in: 7 Global Constitutionalism, 2018, S. 112 ff. 15 S. etwa in ’t Veld, „On democracy“, 2017, Internet Policy Review 6.4. v. 26. 4. 2018, unter: https://policyreview.info/articles/analysis/democracy. S. auch unten bei Fn. 17. 16 Vgl. etwa den Final report of the High Level Expert Group on Fake News and Online Disinformation v. 12. 3. 2018, unter: https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/final-re port-high-level-expert-group-fake-news-and-online-disinformation.
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Entwicklung eines solchen Systems dienen, und das Internet selbst kann dabei ein Teil der Lösung werden.17 Globalization, Democracy and Welfare: Globalisierung, Demokratie und Wohlstand können in der Digitalen Konstellation miteinander in Einklang gebracht werden, wenn wir vom Bürger aus denken, den Einzelnen in der Politik auf allen Ebenen, einschließlich der globalen Ebene eine Stimme geben. Wie soll das gehen? 4. Digitale Demokratie Das Internet wird heute, wie bereits erwähnt, vermehrt unter dem Aspekt einer Bedrohung der Demokratie diskutiert. Beispiel dafür ist der Fall von Facebook/Cambridge Analytica, aber auch mögliche russische Einflussnahmen auf den Wahlkampf in den USA füllen die Schlagzeilen. Hate speech, fake news, (dis-)information operations etc. sind weitere Themen, die neue Fragen aufwerfen, aber auch akuten Regelungsbedarf auslösen.18 Das positive Potential des Internets für die Stärkung der Demokratie auf allen Ebenen dagegen gerät in den Hintergrund und ist noch längst nicht ausgelotet. Das gilt auch in Europa.19 In der EU diskutieren wir den digitalen Binnenmarkt, auch Möglichkeiten des egovernment. Aber digitale Demokratie ist kein Thema, das wirklich in den Fokus gekommen ist. Die Schlussfolgerungen des Digitalen Gipfels vom 29. September 2017 in Tallinn sprechen von digitalem Staat, von Cybersicherheit, von digitaler Kompetenz, aber enthalten das Wort Demokratie nicht. Das Europäische Parlament hat am 15. März 2017 einen Bericht zum Thema „E-Demokratie in der EU: Potenzial und Herausforderungen“ veröffentlicht, in dem von der Digitalen Demokratie die Rede
17 Vgl. in dieser Richtung bereits Pernice, Die Verfassung der Internetgesellschaft, in: Blankenagel (Hrsg.), Den Verfassungsstaat nachdenken. Eine Geburtstagsgabe, 2014, S. 171 ff.; ders., Das Völkerrecht des Netzes. Konstitutionelle Elemente eines globalen Rechtsrahmens für das Internet, in: Biaggini/Diggelmann/Kaufmann (eds.), Polis und Kosmopolis, FS für Thürer, 2015, S. 575 ff.; ders., Global Constitutionalism and The Internet. Taking people Seriously, in: Hofmann/Kadelbach (eds.), Law beyond the State. Past and Futures, Reihe des Frankfurter Exzellenzclusters, 2016, S. 151 ff.; ders., E-Democracy, the Global Citizen, and Multilevel Constitutionalism, in: Prins/Cuijpers/Lindseth/Rosina (eds.), Digital Democracy in a Globalised World (Edward Elgar, Cheltenham 2017), S. 27 ff. 18 Vgl. etwa den Titel der Tagung in Wien vom 18. 3. 2018: „Europa im Diskurs: Bedroht die Digitalisierung die Demokratie?“, unter: http://www.erstestiftung.org/de/event/europa-imdiskurs-bedroht-die-digitalisierung-die-demokratie/. Auf der respublica werden am 7. 5. 2018 um 21.00 h Chancen und Gefahren diskutiert über: „Digitale Demokratie. Freiheit, Gleichheit, unbegrenzte Möglichkeiten?“, angekündigt ist dazu der life-stream unter: http://www.3sat.de/ page/?source=/scobel/181542/index.html. 19 Als Versuch, der Entwicklung insofern einen Anstoß zu geben s. Pernice, E-Government and E-Democracy: Overcoming Legitimacy Deficits in a Digital Europe, in: Papadopoulou/ Pernice/Weiler (eds.), Legitimacy Issues of the European Union In the Face of Crisis, 2017, S. 287 ff.
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ist,20 und der viele wichtige Punkte anspricht, etwa auch „die Initiativen des Parlaments im Bereich der elektronischen Teilhabe“ begrüßt, im Übrigen aber sehr allgemein gehalten bleibt.21 Dabei versprechen digitale Lösungen gerade in einem Raum von 500 Millionen Einwohnern und mehr, ja in absehbarer Zukunft auch global bei mehr als sieben Milliarden Menschen, dass wir Demokratie stärken und damit der Idee der Selbstbestimmung der Menschen nach den Prinzipien eines „multilevel constitutionalism“22 näherkommen können. III. Digital Identity, Citizenship and Democracy in Europe: Ein Projekt Wie lässt sich die Kluft zwischen BürgerInnen und politischen Institutionen schließen, den BürgerInnen auch zwischen den Wahlen, zu politischen Grundentscheidungen und auch zu Alltagsfragen eine hörbare Stimme geben? Es geht nicht darum, politische Repräsentation mit ihren wichtigen Funktionen der Arbeitsteilung, der Konzentration und Bündelung von Interessen und der Gemeinwohlorientierung zu ersetzen. Im Vordergrund stehen vielmehr die Aktivierung der Öffentlichkeit, eine Stärkung der Responsivität der Repräsentanten und das Gefühl des Einzelnen, mitbestimmen zu können und damit einen Einfluss auf die Gestaltung der Politik zu haben. Ein Schritt in diese Richtung könnte die Entwicklung und Erprobung eines digitalen Systems sein, das auf drei Elementen beruht: Digitale Identität im Sinne einer „self-sovereign identity“; eine hierauf gestützte Stärkung der Unionsbürgerschaft; und das „Random Sample Voting“. Mit der digitalen Identität kann der Unionsbürgerschaft im Sinne eines Status der politischen Mitverantwortung eine eigenständige manipulationsresistente Grundlage gegeben werden, an die ein System spontaner elektronischer Abstimmung zu politischen Fragen und am Ende auch elektronischer Wahlen durch „Random Sample Voting“ anknüpfen kann. Die technische Realisierung und auch das Zusammenspiel dieser Elemente bedarf weiterer Forschung und Erprobung; im Zusammenwirken von Wissenschaft und relevanten Institutionen sollte sie angesichts bereits bestehender Technologie aber in relativ kurzer Zeit möglich sein, jedenfalls vor der kommen20
Vgl. die Zusammenfassung in: Aktuelles Europäisches Parlament v. 15. 3. 2017: E-Demokratie in der EU: Potenzial und Herausforderungen, unter: http://www.europarl.europa.eu/ news/de/headlines/society/20170224STO63943/e-demokratie-in-der-eu-potenzial-und-heraus forderungen. 21 S. im Einzelnen den Bericht v. 16. 2. 2017, Ramón Jáuregul Atondo über digitale Demokratie in der Europäischen Union: Potenzial und Herausforderungen (2016/2008(INI)), unter: www.europarl.europa.eu/news/fr/press-room/20180411IPR01517/emmanuel-macron-de fend-l-idee-d-une-souverainete-europeenne. 22 S. zuletzt: Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Crisis of Democracy in Europe, 11 EuConst, 2015, S. 541 – 562.
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den Europawahl. Sollte sich der Ansatz auf europäischer Ebene bewähren, stünde hiermit ein Instrument zur Verfügung, das auch für die Konstituierung und Legitimation globaler Regelungszuständigkeit zur Anwendung gebracht werden kann. Eine demokratisch gestärkte und reformierte EU hat den Einfluss, eine solche Entwicklung auch auf globaler Ebene wirksam voranzutreiben. 1. Digitale Identität: Self-sovereign identity Digitale Identität, um die es hier geht, ist eine Blockchain basierte streng verschlüsselte dezentrale Speicherung grundlegender persönlicher Daten:23 Geburtstag und -ort, Name und Angaben über die Eltern, Nationalität, Ausbildungszeugnisse und Qualifikationsnachweise, evtl. auch biometrische Angaben und sogar Gesundheitsdaten, Versicherungen. Alles, was der Einzelne für seine Identität für wichtig hält und ggf. nachweisen muss, wenn etwa der Personalausweis oder Pass verloren geht. Es kann als „digital wallet“ für viele Zwecke genutzt werden, Zugang und Verfügungsgewalt über die Daten hat allein der/die NutzerIn. Dank der BlockchainTechnologie ist die Speicherung manipulationssicher in dem Sinne, dass rückwirkend keine Änderungen möglich sind und im Laufe der Zeit jede Änderung nachverfolgt und nur vom Inhaber vorgenommen werden kann. Jede Transaktion, die hier aufgenommen wird, ist registriert, gleichzeitig auf allen vernetzten Geräten, und kann nicht zurückgenommen oder gelöscht werden. Die Idee wurde u. a. angesichts der Probleme von Personen, insbesondere Flüchtlingen entwickelt, die im fremden Land bei Verlust ihres Ausweises ohne Identitätsnachweis dastehen und praktisch staatenlos und damit ohne echte Chance sind, im Aufenthaltsland ihr „normales“ Leben weiter zu führen. Dem entgegenzuwirken ist etwa Ziel des „Humanized Internet“.24 Viele weitere Anwendungen sind denkbar und werden entwickelt, insbesondere in der grenzüberschreitenden Wirtschaft zur Identifizierung und Authentifizierung der Geschäftspartner. Damit dürfte der Ansatz weit über das hinausgehen, was durch die eIDAS-Verordnung25 erreicht werden 23
S. dazu die Einführung in: Galen/Brand/Boucherle/Davis/Do/El-Baz/Kimura/Wharton/ Lee, Center for Social Innovation, RippleWorks, 11. 4. 2018: ,Blockchain for Social Impact‘, unter: https://www.gsb.stanford.edu/faculty-research/publications/blockchain-social-impact, S. 6 ff. 24 Vgl. etwa: Morrow, Provides Blockchain a Safe Identity? UNHCR Blog, zugänglich unter: http://www.unhcr.org/blogs/promise-hype-provides-blockchain-safe-identity/. S. auch Steinacker, The Enlightenment’s Social Contract vs. the Crypto-Identity of Contemporary Cyber Capitalism, zugänglich unter: http://www.unhcr.org/blogs/wp-content/uploads/sites/48/ 2018/04/Karl.pdf. Allgemeiner: Windley, „How blockchain makes self-sovereign identities possible“, Computerworld, 10. 1. 2018. https://www.computerworld.com/article/3244128/secu rity/how-blockchain-makes-self-sovereign-identities-possible.html; s. auch Galen u.a, Blockchain (Fn. 24), S. 26 ff. 25 Verordnung (EU) Nr. 910/2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG (eIDAS-Verordnung). Dazu mit Durchführungsakten in Deutschland s. die Webseite des
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kann.26 Erfahrungen aus Estland (e-Estonia) zeigen den Nutzen der Blockchains für die Festigung des Vertrauens der Bevölkerung in die Sicherheit und den Schutz der Daten bei einer Vielzahl von Anwendungen im Rahmen elektronischer Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung, einschließlich elektronischer Wahlen.27 Digitale Identität ist nicht dasselbe, wie ein digitaler Personalausweis, bietet sie doch wegen der ausschließlich elektronischen Form und Funktion ein breiteres Anwendungsfeld als etwa die eID-Card in Estland.28 Sie ist als „digital wallet“ eine dynamisch erweiterbare Sammlung höchstpersönlicher Daten für vielfältige, allerdings vom Inhaber allein kontrollierte Anwendungen (self-sovereign identity). An sie kann unmittelbar für jedermann als BürgerIn auf Gemeinde-, Landes-, Staats- und Unionsebene, ja auch als global citizen auf globaler Ebene angeknüpft werden, wenn es darum geht, auf der Basis der jeweiligen Zugehörigkeit Prozesse demokratischer Selbstbestimmung auf jeder Ebene zu erleichtern und zu strukturieren. 2. Citizenship: Register der UnionsbürgerInnen / global citizens Dies gilt insbesondere für die demokratische Partizipation in der Europäischen Union. Unionsbürgerschaft beruht gemäß Art. 9 S. 2 und 3 EUV i.V.m. Art. 20 Abs. 1 AEUV auf der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats, mit einer solchen ist die Unionsbürgerschaft durch das Unionsrecht automatisch gegeben. Digitale Identität kann, wenn die betreffende Eintragung vom Mitgliedstaat authentifiziert ist, die Staats- und damit auch die Unionsbürgerschaft des Inhabers nachweisen. Auf dieser Basis könnten sich Unionsbürgerinnen und Unionsbürger als Grundlage für alle Rechte, die ihnen aus den Verträgen erwachsen, einschließlich des Europawahlrechts, in ein – wiederum Blockchain-basiertes – (Wahl-)Register eintragen lassen, wenn die Teilnahme an der Wahl nicht unmittelbar durch Zugriff auf die digitale Identität ermöglicht wird, den jeder Wähler allerdings ausdrücklich freigeben müsste. Beides könnte die Grundlage für die Durchführung der Europawahlen in jedem Mitgliedstaat in der herkömmlichen Form, eines Tages aber auch für echte Unionswahlen sein, möglicherweise als genuin europäische digitale Wahlen. Register und Eintragung wären also für die UnionsbürgerInnen als digitaler europäischer Ausweis nutzbar, über die Binnengrenzen Europas hinweg bei Bedarf und entsprechender Authentifizierung, evtl. – wie für den diplomatischen Schutz nach Bundesministeriums für Inneres, Bau und Heimat, unter: https://www.personalausweisportal. de/DE/Verwaltung/eIDAS_Verordnung_EU/eIDAS_Durchfuehrungsakte/eIDAS_Durchfueh rungsakte_node.html. 26 Dazu etwa Galen u.a, Blockchain (Fn. 24), S. 19 ff. S. auch „Estonian blockchain technology“, unter: https://e-estonia.com/wp-content/uploads/faq-a4-v02-blockchain.pdf. 27 Vgl. etwa Veebel, E-Democracy in the European Union. Lessons from Estonia, Baltic Bulletin 13. 2. 2018, unter: https://www.fpri.org/article/2018/02/e-democracy-europeanunion-lessons-estonia/. 28 S. dazu Estonian iID card: entering the contactless world (Juni 2017), unter: https://eestonia.com/estonian-eid-card-entering-the-contactless-world/.
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Art. 23 AEUV – auf der Grundlage von Vereinbarungen mit Drittstaaten, auch im internationalen Verkehr. Mehr als die gemeinsame weinrote Farbe der Reisepässe würde eine solche Ausweisfunktion die europäische Identität der Inhaber stärken, und ihre erklärte Anerkennung europaweit erleichtert den grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr ebenso nachhaltig, wie die Inanspruchnahme von Verwaltungsdienstleistungen im Sinne des e-government. 3. Random Sample Voting: Ein manipulationsfreies Wahlsystem Hierauf könnte eine Digitalisierung der politischen Partizipation, von der Meinungsumfrage über Abstimmungen und Referenden bis hin zur Stimmabgabe bei Wahlen aufbauen. Als besonders sicher, kostengünstig, einfach und effizient erscheint das Random Sample Voting (RSV), wie es von David Chaum mit seinem Team entwickelt wurde.29 Es wurde von David Chaum und seinem französischen Team-Mitglied Nicolas K. Blanchard auf dem World Global Forum for Democracy im November 2017 in Straßburg vorgestellt und mit den Teilnehmern getestet.30 Die Modalitäten können den jeweiligen Bedürfnissen für öffentliche, aber auch parteiinterne Umfragen und Entscheidungsprozesse auf allen Politikebenen angepasst und zur Anwendung gebracht werden. Die technischen Details des RSV werden in einem White-paper ausführlich beschrieben.31 Es verspricht hohe Manipulationssicherheit, vor allem auch den Schutz vor Stimmenkauf und direkte Beeinflussung der tatsächlich für die Abstimmung ausgewählten Personen. Es verspricht vor allem einen Kostenvorteil von 1:1000, was eine häufige Anwendung auch zu spezifischen Fragestellungen ermöglicht. Gleichwohl gibt es keine Gefahr der Überforderung der Wahlberechtigten insgesamt. Denn die nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Abstimmungsberechtigten sind nur eine kleine Auswahl aus der Gesamtheit der Wählerschaft. Und doch spiegelt das Abstimmungsergebnis in hohem Ausmaß den Willen der Gesamtheit wider. Ein weiterer Vorteil ist, dass die jeweils Ausgewählten sich intensiv mit den betreffenden Fragen beschäftigen können, bevor sie abstimmen, und so ein besonders „informiertes“ Ergebnis erwartet werden kann.32 Das White-paper stellt im Abstract zusammenfassend fest:
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Vgl. die Webseite https://rsvoting.org/ sowie das White Paper von Chaum, RandomSample Voting. More democratic, better quality and far lower cost, 2016, unter: https://rsvo ting.org/whitepaper/white_paper.pdf. 30 World Forum for Democracy, Introducing the demonstration experiment on Random Sample Voting and Evaluation Voting, unter: https://www.coe.int/en/web/world-forum-demo cracy/random-sample-voting. 31 White paper (Fn. 28). 32 Vgl. schon Davis, How Selecting Voters can Lead to Better Elections, unter: https:// www.wired.com/ 2012/05/st-essay-voting/.
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„Voters may be better motivated and informed since each vote carries more weight and each voter can more meaningfully research and consider the single issue that voter is asked to help decide. Increased voter confidence, resulting from the increased quality of the election process, may also enhance voter participation. Anyone can verify online that nobody, not even those running the election, could have manipulated randomness of voter selection or integrity of outcome. Ballots are sent voters by paper mail, but a novel technique is presented that makes vote buying ineffective“.33
Schon das RSV trägt dafür Sorge, dass eine Wahlprüfung möglich ist, bei der die Abgabe der Stimmen ex post nachvollzogen werden kann, unter Ausschluss einer persönlichen Identifikation der betreffenden Wähler. Stattdessen oder daneben dürfte es aber auch möglich sein, den Abstimmungsvorgang jeweils als Transaktion direkt im Digital Wallet jedes an der Abstimmung effektiv Beteiligten festzuhalten und wenn notwendig mit seiner Zustimmung zu überprüfen. Auf diese Weise erhält die Blockchain-basierte Digitale Identität eine zusätzliche Verifikationsfunktion, wobei jede solche Transaktion jeweils der hier authentifizierten Zugehörigkeit zur lokalen bis globalen community bzw. einer Partei, NGO oder sonstiger zivilgesellschaftlicher Gruppen entspricht. IV. Diskussion: Bedenken, Widerstände, Probleme Viele Fragen und Zweifel werden in Betracht zu ziehen sein, wenn es um die Umsetzung eines so strukturieren Instruments demokratischer Partizipation geht. Davon seien hier nur vier Themen angesprochen: Zweifel, ob die neuartigen Angriffe auf die Demokratie, die wir gerade in Form der Wählermanipulation und Desinformationskampagnen beobachten können, nicht ebenso wie die bekannten Angriffe auf Daten eine Warnung sein müssten, sich auf die neue Technologie zu verlassen (dazu 1.). Geklärt werden muss auch das Verhältnis zur repräsentativen Demokratie mit ihren besonderen Werten (dazu 2.). Für die Praxis stellt sich ferner die Frage nach der Motivation der Bevölkerung, sich wirklich zu beteiligen, also das Instrument zu nutzen (dazu 3.). Schließlich könnten eine direktere Demokratie in der EU, vor allem aber die Konstituierung globaler Demokratie dem Souveränitätsprinzip zuwiderlaufen und aufgrund entsprechender politischer Widerstände scheitern (dazu 4.). 1. Angriffe auf die Demokratie und auf die Daten Aufgrund des Internets, unter Ausnutzung der in sozialen Netzwerken verfügbaren Daten und gestützt auf Big-Data-Analysen sind in den letzten Jahren vermehrt Praktiken beobachtet worden, mit denen durch direkte Manipulation der Wähler oder auch durch medienwirksame digitale Attacken auf einzelne Teilnehmer im Wahlkampf oder die öffentliche Meinungsbildung möglicherweise die Funktion
33
White paper (Fn. 28), S. 1 (Abstract).
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des demokratischen Prozesses insgesamt beeinträchtigt wurde.34 Würden Abstimmungen und Wahlen nach dem hier vorgeschlagenen System diesen Gefahren nicht in besonderer Weise ausgesetzt sein, würden die in den digital wallets verwahrten höchstpersönlichen Daten Hackerangriffen offenstehen und die Digitalisierung damit die schon beobachteten Gefahren im heutigen System noch vervielfachen? Und wie steht es mit Datenschutz und Datensicherheit? Tatsächlich gibt es zahlreiche Methoden, Wähler oder den politischen Prozess insgesamt durch Falschinformationen oder gezielte, auf durch Datenanalysen gestützte Werbemaßnahmen auch gegenüber Einzelwählern zu manipulieren. Die Frage kann nur sein, ob ein auf digitale Identitäten und RSV gestütztes System diesen Angriffen stärker ausgesetzt wäre. Soweit ersichtlich gibt es keinen Grund für diese Annahme; im Gegenteil zeigt das RSV White Paper eine Reihe von Gründen auf, warum häufiger durchgeführte Abstimmungen im RSV sicherer gegenüber Manipulationsversuchen sind als die nur alle vier Jahre stattfindenden Wahlen.35 Datensicherheit und -schutz sind gewährleistet durch starke Verschlüsselung, sowohl hinsichtlich der Blockchain zur digitalen Identität wie auch für das RSV.36 2. Verhältnis zur repräsentativen Demokratie: Arbeitsteilung 2.0 Ein zweiter Einwand könnte eine Schwächung der repräsentativen Demokratie zugunsten der Risiken direkter Demokratie betreffen. Gewählte Abgeordnete in lokalen, regionalen, Länder-, Staatsparlamenten oder im Europäischen Parlament sind Spezialisten für das Allgemeine. In den Debatten um eine spezifische politische Frage ist nicht allein die Parteizugehörigkeit von Bedeutung. Vielmehr kommen dabei unterschiedliche persönliche Erfahrungen, professionelle Expertise, Herkunft und Kultur etc. der Abgeordneten zum Ausdruck. Entscheidungen zu Einzelfragen fallen nach ausführlichen Debatten, in denen alle Gesichtspunkte zur Sprache kommen, dann regelmäßig im Kontext, also unter Berücksichtigung der Folgewirkungen für andere Sachbereiche einschließlich der Finanzen. Der offene – und öffentliche – Diskurs, der einer Abstimmung im Wege des RSV vorangehen mag, könnte eine ähnliche Rolle spielen. Der Unterschied ist aber, dass BürgerInnen im normalen Arbeitsalltag weder die Zeit noch die Kompetenz und Energie haben, durch intensive Teilnahme an diesem Diskurs zu jeder Einzelfrage einen entsprechenden Überblick zu entwickeln. Repräsentation ist ein Stück Arbeitsteilung, gestützt auf das Vertrauen in die gewählten Vertreter, denen man die Politik überlässt. Diese Arbeitsteilung führt aber im Extrem zu einer Verselbständigung der politischen Akteure. Selbst die wiederkehrenden Wahlen drohen zur Farce zu wer34
S. etwa die instruktive Analyse von in ’t Veld, „On democracy“ (Fn. 15); s. auch krit. Pohle, The ethics of big data, Facebook & Cambridge Analytica, HIIG blog v. 24. 4. 2018, unter: https://www.hiig.de/en/ethics-big-data-facebook-cambridge-analytica/. 35 White Paper (Fn. 28), Appendix 1. 36 Hierzu ebd., Appendix 2.
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den. Die Repräsentierten fühlen sich abgekoppelt, ein Einfluss auf die wirkliche Politik auch durch die Wahl wird als praktisch ausgeschlossen angesehen, die Teilnahme an der Wahl verliert damit ihren Sinn. Die Folge ist das Absinken der Wahlbeteiligung, auf allen Ebenen. Mit der Einführung von Abstimmungsmöglichkeiten im Verfahren des RSV wird weder das Prinzip der universellen Wahlen – one man one vote – beeinträchtigt, noch die zentrale Rolle der Repräsentanten ersetzt. Aber die repräsentative Demokratie kann mit neuem Leben erfüllt werden, die Kluft zu den repräsentierten Menschen wird wieder geschlossen, wie es wegen des hohen Aufwandes mit klassischen Formen der direkten Demokratie nicht möglich wäre. RSV kann für vielerlei Bedarfe der Abstimmung einer großen Zahl von Stimmberechtigten genutzt werden, ist also nicht auf Volksentscheide oder Parlamentswahlen gerichtet, sondern erleichtert ganz allgemein die – auch kurzfristige – Schaffung eines Meinungsbildes in den Bevölkerungs- oder Personenkreisen, um die es jeweils geht.37 Speziell bei der Entwicklung europäischer politischer Parteien können partei(-gruppen-)interne Abstimmungen durch RSV eine große Hilfe sein. Ziel ist es also nicht, den Repräsentativorganen Entscheidungskompetenz zu nehmen, sondern diese mit besserer und häufiger aktualisierbarer Kenntnis der Meinung der Repräsentierten zu stärken. Dies ist besonders dort von Bedeutung, wo wegen der hohen Zahl der potentiell Befragten, also auf europäischer oder gar globaler Ebene, andere verlässliche Methoden realistisch nicht zur Verfügung stehen. Dabei kann RSV als Instrument einer Arbeitsteilung 2.0 begriffen werden, denn nicht alle Bürgerinnen und Bürger müssen sich stets mit Thema und Kontext der Abstimmung vertraut machen, sondern nur die wenigen letztlich zur relevanten Stimmabgabe auserwählten. Da diese aber im Voraus nicht bekannt sind, bleibt der politische Diskurs im Vorfeld öffentlich und inklusiv, Werbung durch Politiker richtet sich an alle gleichermaßen. Nur wer zur effektiven Stimmabgabe berufen ist, kann sich gleichwohl rechtzeitig in besonderer Weise informieren und sein Urteil bilden. Das Internet bietet dafür vorher nicht bekannte Möglichkeiten. 3. Motivation zur effektiven Partizipation Was verspricht, dass sich die Menschen an den Abstimmungen und ggf. auch Wahlen nach dem RSV tatsächlich beteiligen. Warum sollte die Politikverdrossenheit damit überwunden werden? Die Antwort ist, dass mit der häufigeren Rückkopplung der Politik mit dem Willen der BürgerInnen in der durch RSV vereinfachten Weise ihre Meinung wieder gefragt ist, sie sich mit ihrer Meinung also ernst genommen fühlen können.
37 S. die Aufzählung der diversen Anwendungsmöglichkeiten ebd., Introduction, Ziff. 4. Adoption Scenarios.
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Jeder kann potentiell in die Rolle des effektiv ausgewählten Wählers kommen und weiß, dass wenn es soweit ist, seine Stimme Gewicht hat: Nicht 1:10 Millionen, sondern vielleicht 1:1000 oder weniger. Mitentscheiden motiviert, wenn es plausibel ist, dass es auf jeden Einzelnen ankommt. Er oder sie wird Energie und Zeit opfern, um gut informiert und mit Blick auf die Folgen zu wählen. Was latent für alle möglich ist, wird so zur konkreten Chance. Das Auswahlverfahren und das RSV insgesamt nimmt den anderen Wählerinnen und Wählern nicht die Mitverantwortung für die Politik u. a. bei den regulären Parlamentswahlen. Wohl aber wird eine besondere Verantwortung derjenigen begründet, die direkt mitentscheiden, wenn ein Thema zur Entscheidung durch RSV gestellt wird. Mit zunehmendem Gebrauch des RSV kann sich dank der geringen Kosten auch eine neue Kultur der öffentlichen Partizipation und Deliberation entwickeln, die bei jeder und jedem das Gefühl stärkt, über das eigene Schicksal mitbestimmen zu können, was einer lebendigen Demokratie zugutekommt. 4. Politische Widerstände und Souveränitätsbedenken Schon die Etablierung einer digitalen Identität, die strukturell unabhängig ist von den staatlichen Meldebehörden, könnte den Staaten nicht gefallen und in der EU schon deswegen Bedenken aufwerfen, weil die Staats- und auch die Unionsbürgerschaft in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegt. So dürften Souveränitätsgesichtspunkte Widerstände begründen, die mit dem Gedanken einer self-sovereign identity nur noch verstärkt würden. Auch insofern gehen die Sorgen allerdings ins Leere, soweit eine Authentifizierung der Angaben zu Geburtsort und -tag, zur Staatsangehörigkeit oder zu Universitätsabschlüssen nicht ohne Zutun der dafür zuständigen staatlichen oder öffentlichen Stellen möglich ist. Geburtsurkunde, Personalausweis oder Reisepass werden also nicht überflüssig. Dass sie jeweils für die betreffende Person vorliegen, auch ihr Inhalt und weitere darin enthaltene Daten, all dies wird allerdings digital nachweisbar, im Heimatland und überall auf der Welt. Wenn so die Staats- und Unionsbürgerschaft elektronisch nachgewiesen werden kann, wenn daran die Teilnahme an e-Abstimmungen oder e-Wahlen im Wege des RSV ohne weitere administrative Schritte anknüpfen kann, geht doch den nationalen Behörden nichts von ihrer Zuständigkeit verloren; im Gegenteil: Ihre Entscheidungen werden bürgernäher und einfacher, ihre Grundlagen werden manipulierungssicher und die Demokratie wird gestärkt. Welche Fragestellungen sich speziell eignen für die Anwendung des RSV, kann nur die Praxis ergeben. Möglicherweise besonders bedeutsam könnte eine direkte Beteiligung auf diesem Wege aber bei Grundfragen des Mehrebenensystems werden: Welche Fragen sollen auf welcher Ebene entschieden werden? Leitgesichtspunkt dazu ist sicher das Subsidiaritätsprinzip. Aber ob das Handeln auf europäischer Ebene effektiver ist als auf der nationalen Ebene, ob gar Entscheidungen nur auf der globalen Eben wirksam getroffen werden können, ist auch eine politische
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Frage – und damit eine Frage demokratischer Entscheidung. Denn der relative Einfluss des Einzelnen auf jede Entscheidung nimmt ab, je höher die Ebene ist, auf der entschieden wird. Andererseits ginge dieser Einfluss und damit die Möglichkeit der Selbstbestimmung in Richtung Null, wenn das Handeln auf einer niedrigeren Ebene ohne Wirkung bliebe. Die Frage der richtigen Handlungsebene geht der inhaltlichen Frage vor, wie ein Gegenstand geregelt werden soll. Gerade hierbei ist, wenn die EU und ggf. eine weltweit wirkende Institution entscheiden, eine enge Rückkopplung mit den Betroffenen im Prozess der Willensbildung notwendig, wie sie im Wege der RSV möglich erscheint. Nationale Souveränität, soweit man diesen Begriff in einem aufgeklärten Sinne verstehen kann, ist bei Berücksichtigung dieser Grundsätze nicht bedroht, wenn bei Entscheidungen jeweils auf der umfassenderen Ebene für die Berücksichtigung lokaler, nationaler und europäischer Interessen der jeweils niedrigeren Handlungsebenen gesorgt ist. Und auch hierfür kann die Rückkopplung durch RSV von großer Bedeutung sein. So bleibt der/die Einzelne im Bilde und er/sie behält das Gefühl, dass nicht Staaten oder andere Mächte über ihn/sie entscheiden, sondern eine von den BürgerInnen, also den Einzelnen her legitimierte Institution. V. Schluss Die Digitale Konstellation ist nicht nur eine Herausforderung für unsere inzwischen global werdende Gesellschaft, sondern sie bietet auch Chancen für die Konstituierung einer neuen Ordnung, in der die Gefahren der Globalisierung auf demokratisch legitimem Wege zum gemeinen Nutzen gewendet, jedenfalls beherrschbar werden können. Die Europäische Union hat die Kraft, die mit der Digitalisierung verbundenen Chancen für sich zu nutzen, sich damit als Akteur auf der globalen Bühne zu stärken und demokratische Selbstbestimmung für die Menschen als global citizens auch in denjenigen Fragen möglich zu machen, die jenseits der Reichweite des Staates und auch der Europäischen Union liegen.
Die Kernbrennstoffsteuer – Blick zurück und nach vorn Von Ralf P. Schenke, Würzburg Das wissenschaftliche Lebenswerk des Jubilars ist untrennbar mit dem öffentlichen Wirtschafts- und Energierecht verbunden. Deshalb hoffe ich, dass die folgenden Überlegungen zur Kernbrennstoffsteuer, auch wenn sie vorrangig finanzverfassungsrechtlicher Natur sind, gleichwohl sein Interesse finden werden. Dies gilt umso mehr, als in dem Beitrag nicht nur ein Fazit zur Debatte um die Europa- und Verfassungskonformität der Kernbrennstoffsteuer gezogen werden soll. Darüber hinaus ist auch der Blick nach vorn zu richten und der Frage nachzugehen, welche Impulse von der letztlich gescheiterten Steuer für die Fortentwicklung des Finanzverfassungsrechts ausgehen werden. Die Kernbrennstoffsteuer wirkte faktisch wie eine Sonderertragsteuer für die Kernindustrie. Während der EuGH ihre Unionsrechtskonformität bestätigt hat,1 ist sie vom BVerfG mittlerweile für verfassungswidrig erklärt worden.2 Hätte sie Bestand gehabt, wäre der Instrumentenkasten der wirtschaftsrechtlichen Regulierung dagegen um ein weiteres fiskalisch wirkendes Instrument neben der klassischen Lenkungssteuer und Sonderabgaben mit Lenkungsfunktion erweitert worden.3 Ob entsprechende Überlegungen mit der Entscheidung ein für alle Mal hinfällig geworden sind, ist eine Fragestellung, die über die Entscheidung hinausreicht. Dies gilt umso mehr, als der Beschluss nicht einstimmig ergangen ist, sondern zwei Richter ein Sondervotum abgegeben haben.4 I. Rechtspolitischer Hintergrund: Irrungen und Wirrungen der Energiewende Die Kernbrennstoffsteuer hat den Wildwuchs der deutschen Verbrauchsteuern um einen neuen Exoten bereichert. Eingang in das Bundesgesetzblatt hat sie Ende 2010 gefunden.5 Steuerschuldner waren die Betreiber von Kernenergieanlagen (§ 5 Abs. 2 1
EuGH, Urt. v. 4. 6. 2015, C-5/14 (Kernkraftwerke Lippe-Ems), ECLI:EU:C:2015:354. BVerfG, NJW 2017, 2249 mit Anm. Ludwigs, NVwZ 2017, 1509. 3 Vgl. dazu auch Schmidt-Preuß, in: Dolde (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 309 ff. 4 BVerfG, NJW 2017, 2261 Rn. 1 ff. 5 BGBl. I 2010, 1804 v. 8. 12. 2010. 2
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KernbrStG). Die Steuer entstand, wenn ein Brennelement oder einzelne Brennstäbe in einem Kernreaktor erstmals eingesetzt wurden und eine sich selbst tragende Kettenreaktion auslösten (§ 5 Abs. 1 S. 1 KernbrStG). Wichtige Legaldefinitionen, unter anderem zum Begriff des Kernbrennstoffs, des Brennelements, der Kettenreaktion und des Betreibers fanden sich in § 2 KernbrStG. Der Steuertarif war in § 3 KernbrStG geregelt und betrug 145 Euro pro Gramm Kernbrennstoff. Das Gesamtaufkommen der Kernbrennstoffsteuer, das alleine dem Bund zugutekommen sollte, belief sich auf 6,285 Milliarden Euro.6 Erhebungstechnisch handelte es sich bei der Kernbrennstoffsteuer um eine Anmeldesteuer. Nach § 6 Abs. 1 KernbrStG hatten die Steuerschuldner für Kernbrennstoff, für den die Steuer entstanden war, bis zum 15. Tag des Folgemonats eine Steuererklärung abzugeben und darin die Steuer selbst zu berechnen.7 Die Kernbrennstoffsteuer stand in einer untrennbaren Verbindung mit den Irrungen und Wirrungen der Energiewende. Nach dem von der rot-grünen Regierung Schröder vollzogenen Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Kernenergie8 sah der 2009 abgeschlossene Koalitionsvertrag der CDU, CSU und FDP-Regierung bekanntlich eine Verlängerung der Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke vor.9 Zu den Voraussetzungen einer Laufzeitverlängerung sollten u. a. auch Regelungen über einen Vorteilsausgleich zählen.10 In der politischen Debatte um die Kernbrennstoffsteuer wurde dieser Aspekt immer wieder besonders betont.11 Wenn die Atomindustrie von den Segnungen einer Laufzeitverlängerung profitierte, dann schien es nur recht und billig, einen Teil dieser Gewinne abzuschöpfen. Dies erklärt auch, warum seitens der Energiewirtschaft anfänglich kein nennenswerter Widerspruch gegen die neue Steuer erhoben wurde. Zwar sollten über die Steuer Gewinne der Kernkraftwerkbetreiber in Milliardenhöhe abgeschöpft werden, unter dem Strich hätte sich die Laufzeitverlängerung aber immer noch als vorteilhaft erwiesen. Im Zuge der Atomkatastrophe von Fukushima vollzog sich in der deutschen Atompolitik dann erneut eine überraschende Wende, die man als „Rolle rückwärts“ bezeichnen mag. Die gleiche Koalition, die erst wenige Monate zuvor die Laufzeitverlängerung beschlossen hatte, schrieb sich nunmehr einen beschleunigten Atomausstieg auf die Fahnen.12 Wenn man den Zusammenhang zwischen Laufzeitverlän6
BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 7. BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 5. 8 Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität v. 22. 4. 2002, BGBl. I, 1351. 9 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP – 17. Legislaturperiode, S. 29. 10 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP – 17. Legislaturperiode, S. 29. 11 Vgl. Wirtschaftsminister Brüderle, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 17/63, S. 6627. 12 Plenumsprotokoll der 96. Sitzung der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestags, S. 10885. 7
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gerung, Gewinnabschöpfung und Kernbrennstoffsteuer bedenkt, hätte der Ausstieg aus dem Wiedereinstieg in die Kernenergie konsequenterweise einen Verzicht auf die Kernbrennstoffsteuer zur Folge haben müssen. Denn nachdem die Kernbrennstoffsteuer bei ihrer Einführung politisch als Instrument der Gewinnabschöpfung verkauft wurde, war mit dem beschleunigten Atomausstieg die politische Geschäftsgrundlage der Steuer entfallen. Diese bestand aber ungebrochen fort und traf nunmehr auf entschiedenen Widerstand der Kraftwerkbetreiber. Fairerweise ist allerdings festzuhalten, dass die Gesetzesbegründung der Kernbrennstoffsteuer in einem seltsamen Kontrast zu der damaligen politischen Debatte stand. In dem einleitenden Abschnitt A. zum Problem und Ziel des Gesetzes wird lediglich darauf verwiesen, dass die Haushaltskonsolidierung des Bundes die Erschließung zusätzlicher Einnahmequellen erfordere.13 Dazu solle eine neue Steuer auf die Verwendung von Kernbrennstoffen erhoben werden. Die Erträge aus der Steuer sollten vor dem Hintergrund der Haushaltskonsolidierung auch dazu beitragen, die aus der notwendigen Sanierung der Schachtanlage Asse II entstehende Haushaltsbelastung des Bundes zu verringern.14 Die Gesetzesbegründung rechtfertigte die Steuer damit allein unter fiskalischen Aspekten.15 An diesen Erfordernissen, insbesondere den Kosten der Sanierung der Schachtanlage Asse II, hatte sich durch den Ausstieg aus dem Wiedereinstieg nichts geändert. II. Die Klagewelle Gleichwohl standen für die Atomindustrie nunmehr die Zeichen auf Sturm. In der Folgezeit sind eine ganze Reihe von Rechtsgutachten in Auftrag gegeben und veröffentlicht worden, in denen eine Vielzahl verfassungs- und unionsrechtlicher Einwände gegen die Kernbrennstoffsteuer geltend gemacht worden sind.16 Dabei reicht die Liste der Kritikpunkte vom Vorwurf der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes, einem Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip bis hin zur Unionsrechtswidrigkeit des Gesetzes. Den bei den Finanzgerichten eingelegten Rechtsbehelfen war ein unterschiedlicher Erfolg beschieden. Während die Finanzgerichte Hamburg und München von der Verfassungswidrigkeit ausgingen und Anträgen im vorläufigen Rechtsschutz stattgaben,17 konnten sich die Kläger vor dem Finanzgericht Baden-Württemberg
13
BT-Drs. 17/3054, S. 1. BT-Drs. 17/3054, S. 1. 15 Ludwigs, NVwZ 2017, 1509 (1510). 16 Vgl. etwa Kube, IStR 2012, 553 ff.; Drüen, ZfZ 2012, 309 ff. 17 FG Hamburg, Beschl. v. 11. 4. 2014, 4 V 154/13, EFG 2014, 1172; FG München, Beschl. v. 4. 11. 2011, 14 V 2155/11, DStRE 2012, 48. 14
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nicht durchsetzen.18 Auch der BFH lehnte es im Ergebnis ab einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz stattzugeben, wenngleich in dem Beschluss eine inhaltliche Positionierung vermieden und der Kernbrennstoffsteuer nur bescheinigt wurde, nicht offensichtlich verfassungswidrig zu sein.19
III. Strukturelle Besonderheiten Bevor auf die gegen die Europa- und Verfassungsrechtskonformität erhobenen Einwände im Einzelnen eingegangen wird, soll zunächst noch eine Besonderheit der Kernbrennstoffsteuer beleuchtet werden, die bereits in der Gesetzesbegründung angesprochen wurde20 und für die rechtliche Würdigung von erheblichem Interesse ist. § 1 Abs. 1 S. 2 KernbrStG ordnete die Kernbrennstoffsteuer als Verbrauchsteuer ein. Verbrauchsteuern sind üblicherweise indirekte Steuern, d. h. solche Steuern, bei denen der rechtliche und der wirtschaftliche Steuerschuldner auseinanderfallen.21 Bestes Beispiel für indirekte Steuern ist die Umsatzsteuer. Rechtlicher Steuerschuldner der Umsatzsteuer ist allein der Unternehmer, der sie an das Finanzamt abzuführen hat. Wirtschaftlich sind mit der Umsatzsteuer hingegen die Endverbraucher belastet, weil der Unternehmer seinen Nettopreis um die in der Rechnung ausgewiesene Umsatzsteuer erhöht und diese so wirtschaftlich an seine Kunden weiterreicht. Das Auseinanderfallen von rechtlicher und wirtschaftlicher Steuerschuld hat vorrangig erhebungstechnische Gründe. Zwar wäre es theoretisch denkbar, die Umsatzsteuer auch bei den Endverbrauchern zu erheben. Damit wäre aber sowohl für die Steuerpflichtigen wie für die Finanzverwaltung ein nicht zu rechtfertigender bürokratischer Aufwand verbunden, der durch die „gebündelte“ Erhebung bei den leistenden Unternehmern vermieden werden kann. Zu beachten ist aber, dass sich bei näherer Hinsicht die Unterscheidung zwischen rechtlichem und wirtschaftlichem Steuerschuldner als durchaus fragwürdig erweisen kann. So geht von jeder zusätzlichen Steuerbelastung jedenfalls potenziell ein nachfragedämpfender Effekt aus. Um diesen zu vermeiden, können die Unternehmen unter Umständen gezwungen sein, ihre Nettopreise abzusenken. In diesen Fällen sind sie dann nicht nur rechtlicher Steuerschuldner, sondern auch wirtschaftlich mit der Steuer belastet. Die Kernbrennstoffsteuer weist in dieser Hinsicht besondere Eigenarten auf. Wäre sie eine übliche Verbrauchsteuer, würde die Steuerlast über den Preis auf die Stromkunden als Endverbraucher abgewälzt. Ausgehend von der politischen Rechtfertigung der Kernbrennstoffsteuer als Instrument der Gewinnabschöpfung 18
FG Baden-Württemberg, Beschl. v. 11. 1. 2012, 11 V 4024/11, juris. BFHE 236, 206 Rn. 12. 20 BT-Drs. 17/3054, S. 5. 21 Zur Unterscheidung etwa Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, 20. Aufl. 2017, Rn. 44; Schenke, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, 2017, Art. 110 AEUV Rn. 10. 19
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für die mit der Laufzeitverlängerung verbundenen Mehrgewinne22 müsste genau dies aber wie Hohn wirken. Anstatt die Gewinne der Atomindustrie abzuschöpfen, hätten „die Zeche“ letztlich die Endverbraucher zu tragen. Dass dieser Überwälzungseffekt, der üblicherweise mit Verbrauchsteuern verbunden ist, nicht eintreten sollte und auch tatsächlich nicht eingetreten ist, hängt mit Besonderheiten der Preisbildung auf dem Strommarkt zusammen. Der Preis auf den Strommärkten wird durch den höchsten Preis des Energieerzeugers bestimmt, der gerade noch benötigt wird, um die vorhandene Nachfrage zu decken. Wegen ihrer geringen Erzeugungskosten sind Kernenergiekraftwerke aber praktisch nie preisbestimmend, weil sie auch unter Berücksichtigung der Kernbrennstoffsteuer günstiger als Stromerzeuger auf Grundlage anderer Energieträger produzieren können. Die Zusatzbelastung mit der Kernbrennstoffsteuer kann damit gerade nicht an die Verbraucher weitergereicht werden, sondern führt unmittelbar zu einer Gewinnminderung der Kraftwerksbetreiber. Dies ist in der Gesetzesbegründung mit begrüßenswerter Klarheit ausgesprochen worden,23 was in der Literatur als Eigentor des Gesetzgebers gewertet worden ist.24 IV. Unionsrechtliche Aspekte Unter unionsrechtlichen Aspekten bot die Kernbrennstoffsteuer zumindest zwei Angriffsflächen. Zum einen stellte sich die Frage ihrer Vereinbarkeit mit der Energiesteuerrichtlinie und zum anderen mit der Verbrauchsteuersystemrichtlinie.25 1. Energiesteuerrichtlinie Die Energiesteuerrichtlinie (EnergieSt-RL)26 verpflichtet die Mitgliedstaaten, Energieerzeugnisse nach Maßgabe von Mindeststeuerbeträgen zu besteuern. Art. 14 EnergieSt-RL sieht einen Katalog von Ausnahmetatbeständen vor. Eingangs dieses Katalogs ist es den Mitgliedstaaten durch Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EnergieStRL verboten, bei der Stromerzeugung verwendete Energieerzeugnisse der in der Richtlinie vorgesehenen Besteuerung zu unterwerfen. Das vorlegende Finanzgericht Hamburg hatte hieraus in Anknüpfung an eine in der Literatur vertretene Auffassung27 einen Grundsatz einer einheitlichen Output-Be22
Vgl. die Nw. oben Fn. 11. BT-Drs. 17/3054, S. 5. 24 Plakativ Wernsmann, Der Staat darf keine Steuern erfinden, VerfBlog, 7. 6. 2017, https:// verfassungsblog.de/der-staat-darf-keine-steuern-erfinden/: „der Gesetzgeber [hat] den Ball mit seiner Einschätzung, dass eine Abwälzbarkeit nicht gelinge, auf den Elfmeterpunkt gelegt“. 25 Zum Ganzen nur Kube, IStR 2012, 553 ff. 26 Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27. 10. 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom. 27 Kube, IStR 2012, 553 (555). 23
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steuerung abgeleitet.28 Dieser Ansatz hat zunächst viel für sich. Wenn die Mitgliedstaaten durch die Richtlinie zu einer Output-Besteuerung verpflichtet sind, ihnen daneben aber auch eine Besteuerung der Produkte zur Energieerzeugung gestattet ist, droht eine unkoordinierte Doppelbesteuerung, die den angestrebten gemeinsamen Strombinnenmarkt untergraben muss. Entsprechenden Überlegungen hat sich der EuGH aber letztlich verschlossen, der Generalanwalt diese sogar als fernliegend bezeichnet.29 Art. 2 Abs. 1 EnergieSt-RL enthält eine Legaldefinition des Begriffs der Energieerzeugnisse, die Kernbrennstoff nicht einschließt. Entsprechendes gilt auch für die in Art. 2 Abs. 3 EnergieSt-RL vorgesehenen Erweiterungen. Um die Kernbrennstoffsteuer an Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EnergieSt-RL scheitern zu lassen, bedürfte es daher einer analogen Anwendung der Vorschrift. Hiergegen spricht, dass die Legaldefinition die einbezogenen Energieerzeugnisse sehr präzise und technisch beschreibt, was einen abschließenden Charakter nahelegt. Unabhängig von der nur schwer aufzuklärenden Entstehungsgeschichte deutet aber auch noch ein anderer Aspekt in diese Richtung. Der Grundsatz einer Einmal-Output-Besteuerung steht von vornherein unter dem Vorbehalt einer den Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EnergieSt-RL freigestellten Besteuerung der Erzeugnisse aus umweltpolitischen Gründen. Damit ist bereits in Wortlaut und Systematik der Richtlinie eine Relativierung des Grundsatzes angelegt, die es wenig stimmig erscheinen lässt, diesen durch eine Analogie aufzuwerten.30 Hinzu kommt, dass eine Analogie mit einer Schwächung der Souveränität der Mitgliedstaaten verbunden ist. Dies erscheint auch auf sekundärrechtlicher Ebene im Lichte der Wertung des Art. 5 Abs. 1 EUV als nicht unproblematisch. 2. Vereinbarkeit mit der Verbrauchsteuersystemrichtlinie Unionsrechtliche Gefahr drohte der Kernbrennstoffsteuer damit allein noch durch die Verbrauchsteuersystemrichtlinie (VerbStSystem-RL).31 Innerhalb ihres Anwendungsbereichs schränkt sie die mitgliedstaatliche Souveränität je nach Art der Verbrauchsteuer in unterschiedlicher Weise ein. Für die in Art. 1 Abs. 1 VerbStSystemRL erfassten Waren (sogenannte verbrauchsteuerpflichtige Waren), von denen im hier bestehenden Zusammenhang allein Energieerzeugnisse und elektrischer Strom relevant sind, unterwirft sie Verbrauchsteuern bestimmten, im Einzelnen in Art. 7 ff. VerbStSystem-RL geregelten Formalitäten. Für andere, nicht von Art. 1 Abs. 1 VerbStSystem-RL erfasste Waren sind die in Art. 1 Abs. 2 VerbStSystemRL genannten Voraussetzungen zu erfüllen. Ferner bleibt es den Mitgliedstaaten un28
FG Hamburg, EuGH-Vorlage v. 19. 11. 2014 – 4 K 122/13, juris, Rn. 196. EuGH, Urt. v. 4. 6. 2015, C-5/14 (Kernkraftwerke Lippe-Ems), ECLI:EU:C:2015:354 Rn. 48 ff.; GA Szpunar v. 3. 2. 2015 – C-5/14, BeckRS 2015, 80203 Rn. 45 – KKW Lippe Ems. 30 S. auch Kahl/Bews, NVwZ 2015, 1081 (1084). 31 Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. 12. 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG. 29
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benommen, Steuern auf andere als verbrauchsteuerpflichtige Waren zu erheben, sofern dies im grenzüberschreitenden Handelsverkehr zwischen Mitgliedstaaten keine mit dem Grenzübertritt verbundenen Formalitäten nach sich zieht (Art. 1 Abs. 3 VerbStSystem-RL). Auch hier argumentiert der EuGH sehr vorsichtig. Um die Kernbrennstoffe gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. a VerbStSystem-RL als verbrauchsteuerpflichtige Ware einzuordnen, müsste die Steuer auf Energieerzeugnisse oder elektrischen Strom gemäß der Richtlinie 2003/96/EG erhoben werden. Da es sich bei Kernbrennstoff nicht um ein Energieerzeugnis i.S.d. Richtlinie 2003/96/EG handelt, kommt allein die zweite Variante in Betracht. Hierzu müsste aber die Menge des elektrischen Stroms, die von einem Kernreaktor erzeugt wird, unmittelbar durch die Menge des verwendeten Kernbrennstoffs bedingt sein. Dem steht aber schon entgegen, dass der Zusammenhang zwischen der Menge des verwendeten Kernbrennstoffs und der Menge des erzeugten elektrischen Stroms von der Art und den Eigenschaften des Brennstoffs sowie dem Wirkungsgrad des Reaktors abhängig ist. Da die Steuer an das Auslösen einer sich selbst tragenden Kettenreaktion anknüpft (§ 5 Abs. 1 S. 1 KernbrStG), kann der Steuertatbestand im Übrigen sogar erfüllt sein, ohne dass überhaupt elektrischer Strom erzeugt wird.32 Weiterhin kann die Kernbrennstoffsteuer wegen der oben skizzierten Besonderheiten des Strompreisbildungsmechanismus nicht vollständig auf die Verbraucher abgewälzt werden.33 V. Verfassungsrechtliche Aspekte Die letzten Hoffnungen der Atomindustrie, der Kernbrennstoffsteuer zu entgehen, ruhten damit auf Karlsruhe. Den Weg zu der mit großer Spannung erwarteten Entscheidung des 2. Senats34 hatte ein Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Finanzgerichts Hamburg vom 29. Januar 2013 geebnet.35 Ohne Zweifel markiert die Entscheidung einen bedeutenden Meilenstein, weil in schon lange schwelenden Grundsatzfragen des Finanzverfassungsrechts Pflöcke eingeschlagen worden sind, an denen die Dogmatik zukünftig nicht mehr vorbeikommen wird. In einem ersten Zugriff sollen die Entscheidungsgründe dargestellt und im zweiten Schritt auch perspektivisch gewürdigt werden.
32
EuGH, Urt. v. 4. 6. 2015, C-5/14 (Kernkraftwerke Lippe-Ems), ECLI:EU:C:2015:354 Rn. 63. 33 EuGH, Urt. v. 4. 6. 2015, C-5/14 (Kernkraftwerke Lippe-Ems), ECLI:EU:C:2015:354 Rn. 64. 34 BVerfG, NJW 2017, 2249. 35 FG Hamburg, Beschl. v. 29. 1. 2013 @ 4 K 270/11, EnWZ 2013, 422.
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1. Die Argumentation des 2. Senats Mit der Entscheidung können sich die zahlreichen Kritiker der Kernbrennstoffsteuer bestätigt sehen.36 Das Bundesverfassungsgericht hat die Steuer für mit dem Grundgesetz unvereinbar und rückwirkend für nichtig erklärt. Der hiermit für den Fiskus verbundene finanzielle Schaden ist beträchtlich, beläuft sich die Summe der zu erwartenden Steuererstattungen doch auf schätzungsweise 6,285 Milliarden Euro,37 wobei die Zinsen von jährlich 6 % noch nicht einmal berücksichtigt sind. Gescheitert ist die Kernbrennstoffsteuer an der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Um diese zu begründen, standen theoretisch zwei Wege offen. Der eine führte über die Annahme eines Steuererfindungsrechts des Bundes (dazu a.), der andere über die Einordnung der Kernbrennstoffsteuer als Verbrauchsteuer (dazu b.). a) Ablehnung eines Steuererfindungsrechts des Bundes Ein zentrales Thema der im zehnten Abschnitt des Grundgesetzes geregelten Finanzverfassung (Art. 104a-115 GG) ist die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen für Steuern. Geregelt ist diese in Art. 105 GG. Art. 105 Abs. 1 GG weist dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz über die Zölle und Finanzmonopole zu. Aus Art. 105 Abs. 2 GG ergibt sich eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die übrigen Steuern, sofern dem Bund das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht oder die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG vorliegen. Damit verknüpft das Grundgesetz die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zunächst mit der in Art. 106 GG geregelten Ertragshoheit.38 Dieser differenziert wiederum zwischen Steuern, die ausschließlich dem Bund zustehen (Art. 106 Abs. 1 GG), ausschließlich den Ländern zustehenden Steuern (Art. 106 Abs. 2 GG) sowie sogenannten Gemeinschaftssteuern – die Einkommen-, die Körperschaftund die Umsatzsteuer –, deren Aufkommen dem Bund und den Ländern gemeinsam zustehen (Art. 106 Abs. 3 GG). Art. 106 Abs. 1, 2 und 3 GG enthalten katalogartige Aufzählungen traditionell anerkannter Steuerarten. Kern der Debatte um das Steuererfindungsrecht ist die Frage, ob mit dem Begriff der „übrigen Steuern“ i.S.d. Art. 105 Abs. 2 GG nur die im Katalog des Art. 106 GG enthaltenen Steuern gemeint sind oder darüber hinausgehend auch noch sonstige Steuern zulässig sind. Die Mehrheitsmeinung im 2. Senat positioniert sich sehr eindeutig auf Seiten der bereits bislang ganz überwiegend vertretenen Literaturauffassung, die ein freies Steuererfindungsrecht ablehnt.39 Ausführliche Berücksichtigung in den Entscheidungsgründen erfährt die Entstehungsgeschichte des Finanzreform36
Vgl. etwa Drüen, ZfZ 2012, 309; Seer, DStR 2000, 325 ff.; Martini, ZUR 2012, 219 ff. Ludwigs, NVwZ 2017, 1509. 38 S. etwa Schenke, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 105 Rn. 10. 39 Vgl. etwa BFHE 141, 369 (372); Tappe/Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2015, Rn. 244. 37
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gesetzes vom 12. Mai 1969, das nach wie vor die Grundlage der heutigen Finanzverfassung bildet. Mit Recht argumentiert das Bundesverfassungsgericht sehr differenziert, weil die Entstehungsgeschichte keineswegs eindeutig ist und durchaus Anknüpfungspunkte für ein freies Steuererfindungsrecht bieten könnte. Im Ergebnis soll die Entstehungsgeschichte damit jedenfalls keinen zwingenden Schluss auf das Bestehen eines allgemeinen Steuererfindungsrechts zulassen.40 Größeres Gewicht und größere Durchschlagskraft kommt damit systematischen und teleologischen Überlegungen zu. Unter systematischem Blickwinkel ist entscheidend, dass bei der Annahme eines Steuererfindungsrechts die Frage der Ertragshoheit unbeantwortet bliebe. Dazu legt der 2. Senat im Einzelnen dar, dass die bislang diskutierten Lösungsansätze allesamt nicht zu überzeugen vermögen.41 Dem Vorschlag, den Ertrag einer neuen Steuer an die Verteilung der Steuer anzulehnen, die ihr aus dem Katalog des Art. 106 GG am ähnlichsten ist, wird die Unbestimmtheit dieser Methode entgegengehalten.42 Der Ansatz, die Ertragshoheit als Annex zur Gesetzgebungszuständigkeit abzuleiten,43 soll sich verbieten, weil die Finanzverfassung Ertragshoheit und Gesetzgebungskompetenz deutlich unterscheidet und die Letztgenannte gerade nicht generell der Ertragshoheit folgt.44 Die Ertragshoheit neuer Steuern dem einfachen Gesetzgeber zu überlassen, verkennt die berechtigten Interessen der Länder und ließe sich nur korrigieren, wenn Art. 105 Abs. 3 GG zugleich korrigiert würde.45 Verworfen wird auch der Vorschlag, dem verfassungsändernden Gesetzgeber obliege bei Schaffung neuer Steuern außerhalb des Katalogs des Art. 106 GG eine Ergänzung der Norm. Dass der einfache Gesetzgeber den verfassungsändernden Gesetzgeber entsprechend in die Pflicht nehmen kann, erscheint schon aus Gründen der Normenhierarchie und der unterschiedlichen demokratischen Legitimation, über die der einfache Gesetzgeber einerseits und der verfassungsändernde Gesetzgeber andererseits verfügen, unstimmig.46 Zuletzt tritt der 2. Senat der Annahme eines Steuererfindungsrechts auch noch unter teleologischen Aspekten entgegen. Hierzu verweist er auf die Gefahr einer Verschiebung des Steueraufkommens von den gemäß Art. 106 Abs. 3 i. V. m. Art. 107 Abs. 1 GG Bund und Ländern gemeinsam zustehenden Steuern hin zu Steuern, die Bund oder Länder ausschließlich zustehen. Weiterhin würde ein Steuererfindungsrecht der individualschützenden Funktion der Finanzverfassung zuwiderlaufen. Wenn beliebig neue Steuern und Steuerarten eingeführt werden könnten, wäre die
40
BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 72. BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 81 ff. 42 BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 82. 43 So aber Osterloh, NVwZ 1991, 823 (828); Söhn, in: Burmeister (Hrsg.), FS Stern, 1997, S. 587 (600 f.). 44 BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 83. 45 BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 84. 46 BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 87. 41
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steuerliche Art des Zugriffs auf die Ressourcen des Bürgers weitgehend unbeschränkt.47 b) Unvereinbarkeit der Kernbrennstoffsteuer mit dem Typus der Verbrauchsteuer Ebenso wie ein Steuererfindungsrecht des Bundes lehnt es das Bundesverfassungsgericht ab, die Kernbrennstoffsteuer als Verbrauchsteuer einzuordnen, was dem Bund gemäß Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz eröffnet hätte. Um dies zu begründen, holt der 2. Senat weit aus. So scheinen sich für den Bundesgesetzgeber zunächst weite Spielräume zu öffnen, indem die in Art. 105 und 106 GG genannten Begriffe als Typusbegriffe eingeordnet werden. Zur Feststellung der Merkmale, die den betreffenden Typus kennzeichnen, soll auf den jeweiligen Normal- oder Durchschnittsfall abzustellen sein. Merkmale, die sich als bloße Einzelfallerscheinungen darstellen, scheiden bei der Typusbildung aus. Weiterhin ist nicht erforderlich, dass stets sämtliche den Typus kennzeichnenden Merkmale vorliegen. Vielmehr haben diese für sich genommen nur die Bedeutung von Anzeichen oder Indizien und können jeweils in unterschiedlichem Maße und unterschiedlicher Intensität gegeben sein.48 Letztlich maßgebend für die Einordnung soll dann das durch eine wertende Betrachtung gewonnene Gesamtbild sein.49 Dabei will sich der 2. Senat für die Typusbildung an der traditionellen Sicht des deutschen Steuerrechts orientieren. Um den Typus der Verbrauchsteuer zu bestimmen, greift der 2. Senat auf die Gesetzesbegründung des Finanzverfassungsgesetzes vom 23. Dezember 1955 zurück.50 Demnach sollen Verbrauchsteuern Steuern sein, die den Verbrauch vertretbarer, regelmäßig zum baldigen Verzehr oder kurzfristigen Verbrauch bestimmte Güter des ständigen Bedarfs belasten und die aufgrund eines äußerlich erkennbaren Vorgangs (zum Beispiel Übergang in den Wirtschaftsverkehr) von demjenigen als Steuerschuldner erhoben werden, in dessen Sphäre sich der Vorgang verwirklicht. Regelmäßig wird die Steuer wirtschaftlich nicht vom Steuerschuldner, sondern im Wege der Überwälzung vom Endverbraucher getragen.51 Als Gegenbegriff zu Verbrauchsteuern sieht das Bundesverfassungsgericht Unternehmensteuern an, die gezielt an den unternehmerischen Gewinn oder doch einen jedenfalls typisierend vermuteten unternehmerischen Gewinn anknüpfen. Damit wird durch Unternehmensteuern die Einkommenserzielung, durch Verbrauchsteuern hingegen die Einkommensverwendung belastet. 47
BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 93. BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 65. 49 BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 65. 50 BGBl. I, 817 v. 23. 12. 1955. 51 BT-Drs. 2/480, S. 107 f. Rn. 160. 48
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In der gebotenen Gesamtschau entfernt sich die Kernbrennstoffsteuer vom Typus der Verbrauchsteuer zu weit, um noch von der Gesetzgebungskompetenz des Art. 105 Abs. 2 GG gedeckt zu sein. Das wohl entscheidende Defizit der Kernbrennstoffsteuer ist ihre mangelnde Abwälzbarkeit auf die privaten Verbraucher. Hier hat sich der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung selbst ein Bein gestellt. Der mit einer Verbrauchsteuer zu erwartenden Mehrbelastung der privaten Verbraucher tritt er deutlich entgegen, weil eine Überwälzung der den Stromerzeugern entstehenden zusätzlichen Kosten nur in geringem Umfang möglich sein werde. Unter Hinweis auf die oben skizzierten Besonderheiten der Strompreisbildung an den Börsen,52 seien deshalb unmittelbare Auswirkungen, die sich in den Einzelpreisen, dem allgemeinen Preisniveau oder dem Verbraucherpreisniveau niederschlagen könnten, kaum zu erwarten.53 Als typusfremd bewertet der 2. Senat ferner, dass die Kernbrennstoffsteuer ein reines Produktionsmittel belastet. Dem Gegeneinwand, auch die Branntweinsteuer habe sich z. T. auf reine Produktionsmittel erstreckt, tritt das Gericht mit der Erwägung entgegen, insoweit habe ein nicht typusbildender Einzelfall vorgelegen. Hier habe sich der Gesetzgeber darauf berufen können, das Besteuerungsaufkommen vor dem steuerumgehenden Ersatz der besteuerten Güter durch funktionsgleiche, aber unbesteuerte Substitute zu schützen.54 Typusfremd müsse die Besteuerung des Verbrauchs von Kernbrennstoff als reines Produktionsmittel aber auch deshalb sein, weil kein zielgerichteter Zugriff auf die private Einkommensverwendung ersichtlich sei.55 2. Würdigung In der öffentlichen Wahrnehmung erfreut sich die Atomindustrie nicht erst seit den Reaktorunfällen von Tschernobyl und Fukushima keiner besonderen Wertschätzung. Dass sich das Bundesverfassungsgericht hiervon in keiner Weise hat beeindrucken lassen, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, verdient aber gleichwohl Respekt. Dies gilt umso mehr, als das Gericht auch der Versuchung widerstanden hat, die fiskalischen Folgen für den Bundeshaushalt abzumildern. Sowohl in der Sache wie in rechtsmethodischer Hinsicht verdient die Entscheidung in weiten Teilen Zustimmung.
52
Vgl. oben III. BT-Drs. 17/3054, 1 und 5. 54 BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 147. 55 BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 149. 53
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a) Betonung der freiheitsschonenden Schutzfunktion der Finanzverfassung Rückgrat der Entscheidung ist – und dies mit Recht – die freiheitsschonende Funktion der Finanzverfassung, was gleichermaßen für die Ablehnung eines Steuererfindungsrechts außerhalb des Katalogs des Art. 106 GG wie für die Verortung der Kernbrennstoffsteuer außerhalb des Typus der Verbrauchsteuer gilt. Ein freies Steuererfindungsrecht drohte die empfindliche Symmetrie der Finanzverfassung aus den Angeln zu heben. Wie die Finanzwissenschaft lehrt, erschöpfen sich die Kosten der Steuererhebung keinesfalls in der Steuerzahllast. Darüber hinaus ist mit jeder Steuererhebung ein weiterer Wohlfahrtsverlust verbunden. Dieser ist durch die Ausweichreaktionen der Steuerpflichtigen bedingt, wenn diese wegen der Steuer von einem sich sonst ergebenden Marktgleichgewicht abweichen.56 Ein unkontrolliertes Nebeneinander unterschiedlicher Steuerarten birgt deshalb erhebliche Gefahren in sich. Dies gilt nicht zuletzt mit Rücksicht auf vertikale Externalitäten, die als Variante der Allmendeproblematik57 begriffen werden können. Auch mehreren Steuergläubigern steht stets nur eine gemeinsame Steuerbasis zur Verfügung. Ein Parallelzugriff birgt damit das Risiko einer ineffizienten Überbesteuerung. Wenn der Steuerzugriff durch eine Ebene erhöht wird, reduziert dies regelmäßig den Steuerertrag der anderen Ebene, ohne dass der neue Steuergläubiger hierfür einen Preis zu zahlen hat. Damit kann zwischen mehreren Steuergläubigern ein Steuererhöhungswettlauf in Gang kommen, indem jeder Steuergläubiger versucht, seinen Ertragsanteil auf Kosten des Aufkommens des anderen Steuergläubigers auszudehnen.58 Solchen Effekten müsste ein allgemeines Steuererfindungsrecht ungewollt Vorschub leisten. Dass sich das Grundgesetz auf dieses Risiko einlassen wollte, ist umso weniger anzunehmen, als die Finanzverfassung über keine wirksamen Schutzmechanismen verfügt, wie dieser Effekt einzuhegen ist. Das Zustimmungserfordernis des Art. 105 Abs. 3 GG erweist sich insofern nicht als ausreichend.59 Demnach bedürfen Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder den Gemeinden ganz oder zum Teil zufließt, der Zustimmung des Bundesrates. Art. 105 Abs. 3 GG kann zwar einen Beitrag zur Einhegung vertikaler Externalitäten leisten, ist hierfür aber nicht hinreichend zielgenau. Hierzu müsste die Norm nicht an die Ertragshoheit, sondern an die gemeinsame Steuerbasis anknüpfen. Weiterhin bietet sie lediglich Schutz vor Übergriffen des Bundes auf den Steuerertrag der Länder, enthält in umgekehrter Richtung aber keinen Sicherungsmechanismus. Art. 105 Abs. 3 GG erweiternd auszulegen, erscheint zwar theoretisch denkbar, würde aber die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sprengen.
56
Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 7. Aufl. 2015, S. 141 ff. Vgl. nur Hardin, Science 162 (3859), 1243 (1244). 58 Vgl. Esser, Internationaler Steuerwettbewerb, 2004, S. 18 f. 59 BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 85. 57
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b) Rechtstheoretische Einordnung des Steuerartenkatalogs des Art. 106 GG Prinzipiell Zustimmung verdient auch die rechtstheoretische Einordnung des Steuerartenkatalogs des Art. 106 GG. Wenn ein allgemeines Steuererfindungsrecht mit guten Gründen abgelehnt wird, so gilt es doch zugleich, eine Versteinerung der Finanzverfassung zu vermeiden. Als Mittelweg, beiden Anliegen gerecht zu werden, bietet sich die Typuslehre an, die in den Urteilsgründen relativ breit und auch unter Rückgriff auf das steuerrechtliche Schrifttum entfaltet wird.60 Allerdings verschweigen die Urteilsgründe, dass dort die Lehre vom Typusbegriff nicht unerheblicher Kritik ausgesetzt ist. Auch die problematischen Ursprünge der Typuslehre finden keine Erwähnung. In ihrer heutigen Form ist die Typuslehre untrennbar mit der Methodenund Begriffslehre von Karl Larenz verbunden. Deren Grundlage hatte Larenz freilich nicht erst in seinem 1960 in erster Auflage erschienenen Lehrbuch zur Methodenlehre der Rechtswissenschaft, sondern bereits 1938 in seiner Abhandlung über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens gelegt.61 Stoßrichtung von Larenz war die Auflösung des Gesetzesbegriffs, der den Weg zu einer nationalsozialistischen Umdeutung der Rechtsordnung auch ohne Eingriff des Gesetzgebers wies.62 Der historische Kontext der Begriffs- und Typuslehre von Larenz erklärt, warum sie speziell im Steuerrecht immer wieder auf erheblichen Widerstand gestoßen ist. Wenn ein Begriff nicht durch eine abschließende Anzahl an Merkmalen definiert werden kann und es letztlich auf eine Gesamtschau der typusbildenden Merkmale ankommen soll, droht das Gesetz von innen ausgehöhlt und in den Händen seiner Interpreten zur beliebig formbaren Masse zu werden. Gegenüber Typusbegriffen werden daher immer wieder rechtsstaatliche Vorbehalte geltend gemacht63 und dem Typusbegriff der sog. Klassenbegriff entgegengesetzt. Im Unterschied zum Typusbegriff sind dessen Begriffsmerkmale sowohl notwendige wie hinreichende Bedingungen, sodass unter Klassenbegriffe vergleichsweise mechanisch subsumiert werden kann.64 So nachvollziehbar dieser Einwand auf den ersten Blick ist, so wenig vermag er doch einer näheren kritischen Überprüfung standzuhalten. Dass die Rechtsordnung nicht auf Typusbegriffe verzichten kann, zeigt sich in den Teilen der Rechtsordnung, die schon Kraft eindeutiger verfassungsrechtlicher Vorgaben besonderen Bestimmtheitsanforderungen unterliegen. Wenn selbst im Strafrecht Tatbestandsmerkmale ungeachtet des Art. 103 Abs. 2 GG typologisch gedeutet werden, muss dies in einem 60
BVerfG, NJW 2017, 2249 Rn. 65. Larenz, Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens, 1938, S. 43 ff. 62 Hierzu etwa Pauly, VVDStRL 60 (2000), 73 (93 ff.). 63 Weber-Grellet, in: Budde (Hrsg.), FS Beisse, 1997, S. 551 (568); Mössner, in: Drenseck/ Seer (Hrsg.), FS Kruse, 2001, S. 161 (170 f.). 64 Vgl. nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 218 ff., 303 f., 461 ff. 61
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Erst-Recht-Schluss auch in anderen Rechtsgebieten zulässig sein.65 Zudem sind Versuche, Typusbegriffe durch Klassenbegriffe zu ersetzen, allesamt im Praxistest gescheitert. Das lässt sich etwa am Beispiel der klassifikatorischen Deutung des einkommensteuerlichen Gewerbebegriffs demonstrieren, auf dessen Verlustliste ein ungeschriebenes negatives Merkmal der privaten Vermögensverwaltung steht und in dessen Folge die einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 15 Abs. 2 EStG bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst wurden.66 c) Überdehnung des Begriffs der Verbrauchsteuer durch die Kernbrennstoffsteuer Um die freiheitsschützende Funktion der Finanzverfassung nicht zu gefährden, bedarf es bei einer typologischen Deutung des Kompetenzkatalogs des Art. 106 GG dann aber einer restriktiven Interpretation der einzelnen Steuerarten. Dem trägt die Entscheidung in einer überzeugenden Art und Weise Rechnung. Besondere Hervorhebung verdient die wegweisende Kontrastierung des Begriffs der Verbrauchsteuer mit Unternehmensteuern. Genau hieran dürfte die Kernbrennstoffsteuer letztlich gescheitert sein, weil es dem Gesetzgeber schon ausweislich der Gesetzesbegründung um eine Gewinnabschöpfung bei den Kraftwerkbetreibern ging. Finanzverfassungsrechtlich unbedenklich hätte dieses Ziel nur über eine Sonderabgabe oder durch Sondervorschriften im Bilanzsteuerrecht umgesetzt werden können. VI. Blick nach vorn Für den gescheiterten Versuch, die Kernenergieindustrie über die Kernbrennstoffsteuer an den Kosten der Entsorgung des Atommülls zu beteiligen, hat der Bund einen hohen Preis zahlen müssen. In finanzieller Hinsicht haben von der Steuer wohl nur die Gutachter profitiert, die mit einer verfassungs- und europarechtlichen Bewertung der letztlich gescheiterten Steuer betraut wurden. Trösten können sich der Gesetzgeber und der Fiskus aber damit, dass sich aus dem Scheitern der Kernbrennstoffsteuer zumindest in zweierlei Hinsicht Lehren ziehen lassen, von denen die Rationalität der Steuer- und Finanzordnung langfristig profitieren könnte: Festzuhalten bleibt, dass das Bundesverfassungsgericht auch in teilharmonisierten Rechtsbereichen weiterhin ein wichtiges Wächteramt zu erfüllen hat. Dies erweist sich als besonders wertvoll und wichtig, weil der EuGH bei der Auslegung des Sekundärrechts bislang nur geringe Neigungen zeigt, systematische und teleologische Argumente aufzugreifen. 65 66
Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 376. Hufeld/Schenke, in: Beck-OK, EStG, § 15 A III. im Erscheinen.
Die Kernbrennstoffsteuer – Blick zurück und nach vorn
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Die Schutz- und Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung ist durch die Entscheidung zur Kernbrennstoffsteuer deutlich aufgewertet worden. Nachdem die Mehrheitsmeinung ein freies Steuererfindungsrecht verworfen und die Typuslehre eher restriktiv interpretiert hat, wird der Gesetzgeber zukünftig erhebliche Sorgfalt darauf verwenden müssen, eine neue Steuer präzise in den Kompetenzkatalog des Art. 106 GG einzuordnen. Damit ist Vorsorge getroffen, dass die Vorzüge eines Vielsteuersystems – u. a. ein geringerer Steuerwiderstand und die relative Aufkommensstabilität im Konjunkturzyklus67 – genutzt werden können, zugleich aber eine unkoordinierte Mehrfachbesteuerung im Bundesstaat vermieden wird.68 Das Leistungsfähigkeitsprinzip, das traditionell im Zentrum des deutschen Steuerverfassungsrechts steht, bietet insoweit nicht nur in internationalen Sachverhalten, sondern auch bei einem Parallelzugriff mehrerer Steuergläubiger im Bundesstaat nur einen schwachen Schutz. Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) kann immer nur isoliert den jeweiligen Hoheitsträger binden, lässt sich aber schon mit Rücksicht auf das Demokratieprinzip nicht in Richtung einer „Gesamtverantwortung“ von Bund und Ländern für eine dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechende Steuerbelastung des einzelnen Steuerschuldners interpretieren. Insofern ist dem Sondervotum, das in Art. 105, 106 GG allein eine staatsorganisatorische Regelung ohne materiellen Gehalt sehen will,69 nachdrücklich zu widersprechen, weil dies eine empfindliche Schutzlücke eröffnen würde, die grundrechtlich nicht zu schließen ist. Die Gesetzesinitiatoren haben es dem Bundesverfassungsgericht vergleichsweise einfach gemacht, die als Verbrauchsteuer qualifizierte Kernbrennstoffsteuer als „Etikettenschwindel“ zu enttarnen. Dass nicht eine Belastung der Verbraucher, sondern allein der Betreiber intendiert war, wird in der Gesetzesbegründung deutlich ausgesprochen. Wie die Entscheidung ausgefallen wäre, wenn der Gesetzgeber insoweit weniger transparent agiert hätte, ist eine reine Spekulation. Vordergründig könnte der Gesetzgeber aus dem Ausgang des Verfahrens daher den Schluss ziehen, zukünftig seine wahre Intention besser nicht offenzulegen oder gar zu verschleiern. Dem ist mit Rücksicht auf die Sicherung der Formenklarheit und Formenstrenge der Finanzverfassung entschieden entgegenzutreten. Zwar schuldet der Gesetzgeber nach traditioneller deutscher Doktrin nichts als das Gesetz, sodass er im Unterschied zu den anderen Gewalten keinen Begründungserfordernissen unterworfen ist.70 Wo er eine Begründung abgibt, ist diese aber ebenso wenig bindend, wie sich der Inhalt einer Norm ausschließlich aus dem Normtext ergibt.71 Resümierend ist die Kernbrennstoffsteuer daher weniger daran gescheitert, dass sich der Gesetzgeber explizit zu 67 Zu den Vorteilen und der Alternativlosigkeit eines Vielsteuersystems nur Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 4 Rn. 94. 68 S. auch Ludwigs, NVwZ 2017, 1509 (1511). 69 BVerfG, NJW 2017, 2261 Rn. 33. 70 G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 320 ff.; a.A. aber Tipke, StuW 2014, 273 (281). 71 Zur Unterscheidung von Normtext und Norminhalt etwa Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 26.
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ihrer mangelnden Abwälzbarkeit bekannt hat,72 sondern dass unter den bestehenden Marktumständen tatsächlich nicht mit ihrer Abwälzbarkeit zu rechnen war. Die Entscheidung ist in der Literatur überwiegend positiv aufgenommen und als „Sieg des Rechtsstaats“ gewertet worden.73 Gleichwohl sind übertriebene Erwartungen, von ihr könnten nachhaltige Impulse für eine Rationalisierung der Steuerrechtsordnung ausgehen, zu dämpfen. Das Verfassungsrecht kann hier nur Hilfestellung leisten, sollte und darf den Gesetzgeber aus guten Gründen aber nicht aus seiner Verantwortung entlassen.
72 In diese Richtung aber wohl Wernsmann, Der Staat darf keine Steuern erfinden, VerfBlog, 7. 6. 2017, https://verfassungsblog.de/der-staat-darf-keine-steuern-erfinden/. 73 Ludwigs, NVwZ 2017, 1509 (1513).
Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland Von Wolf-Rüdiger Schenke, Mannheim Das reichhaltige wissenschaftliche Werk des Jubilars umfasst auch staatsrechtliche Themen. So untersuchte er in der 1999 erschienenen Festschrift für Walter Leisner die „Gestaltungskräfte im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland“.1 Er befasste sich hier zunächst mit dem „Parlament als Legitimationsorgan und Entscheidungsinstanz“ und der „Bundesregierung als Leitungsorgan“, wendete sich dann „Aspekten der Koalitionsregierung“, „Politischen Gestaltungsoptionen der Regierung im gesellschaftlichen Raum“ sowie „Restriktionen nationaler Gestaltungspotentiale auf europäischer Ebene“ zu. Neuere rechtliche Entwicklungen, die sich vor allem auf der europäischen Ebene, aber u. a. auch aus der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur in den letzten zwei Jahrzehnten ergaben, lassen es reizvoll erscheinen, sich in partieller Anknüpfung an die Überlegungen des Jubilars der Thematik nochmals zuzuwenden. Dabei soll vor allem die Ausgestaltung der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament als das Wesensmerkmal parlamentarischer Regierungssysteme näher beleuchtet werden. Sie unterscheidet das parlamentarische Regierungssystem von einer Präsidialdemokratie wie den USA, bei der der Präsident als Exekutivspitze eine weit stärkere Stellung gegenüber dem Parlament innehat und diesem nicht in derselben Weise verantwortlich ist. Das macht sich insbesondere bei der Wahl wie auch bei der Abberufung des Präsidenten sowie in der schwächeren Ausprägung parlamentarischer Ingerenzrechte bemerkbar. Dabei ist freilich zu beachten, dass eine Reihe von Verfassungen – so z. B. die Verfassung Frankreichs, aber auch die Weimarer Reichsverfassung – sowohl Elemente einer Präsidialdemokratie wie auch eines parlamentarischen Regierungssystems aufweist. Die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament kann allerdings auch innerhalb des parlamentarischen Regierungssystems in durchaus unterschiedlicher Weise ausgestaltet sein und hat denn auch im Grundgesetz eine ganz spezifische Ausprägung erfahren. Diese unterscheidet das Grundgesetz bekanntermaßen wesentlich von der Weimarer Reichsverfassung. Die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament besteht, wie Matthias Schmidt-Preuß2 zu Recht betont, nicht nur im Zeitpunkt des Kreationsakts, sondern umfasst auch ihre ganze spä1 Schmidt-Preuß, in: Freiheit und Eigentum, Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag, 1999, S. 467 ff. 2 Schmidt-Preuß, (Fn. 1), S. 468.
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tere Tätigkeit. Die Regierung hängt grundsätzlich vom Fortbestand eines unveränderten Vertrauens des Bundestags ab. Dessen Sicherung dienen eine ganze Reihe von Kontrollinstrumenten wie Mitwirkungs- und Informationsrechte sowie schließlich – als ultima ratio – der Sturz einer Regierung. Jener kann allerdings an bestimmte erschwerende Voraussetzungen gebunden sein, wie sich etwa am konstruktiven Misstrauensvotum des Art. 67 GG zeigt, das durch Art. 68 GG eine bedeutsame Ergänzung erfährt. I. Die Bildung der Bundesregierung 1. Die Wahl des Bundeskanzlers Deutlich wird die grundgesetzliche Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems bereits an den Bestimmungen der Art. 63 f. GG. Während der Reichspräsident nach Art. 53 WRV bei der Ernennung des Reichskanzlers jedenfalls formal nicht an die Zustimmung des Reichstags gebunden war und zumindest in der Endphase der Weimarer Republik auch materiell keinen politischen Bindungen mehr unterlag, setzt die Ernennung des Bundeskanzlers nach Art. 63 GG dessen vorherige Wahl durch den Bundestag voraus. Sie stellt sich als eine genuine Ausprägung des parlamentarischen Regierungssystems dar und hebt sich damit ganz bewusst von der WRV ab, die insoweit noch Elemente einer Präsidialdemokratie aufwies. Die Mitwirkung des Bundespräsidenten bei der Wahl des Bundeskanzlers beschränkt sich nach Art. 63 Abs. 1 GG auf ein Vorschlagsrecht, und selbst dies nur im ersten Wahlgang. Einschränkungen des Vorschlagsrechts des Bundespräsidenten ergeben sich überdies aus Koalitionsverhandlungen, die der Wahl des Bundeskanzlers regelmäßig vorausgehen und bei denen sich die Koalitionspartner u. a. auf die Wahl eines Bundeskanzlers einigen. Die Vereinbarungen, die dort von den künftigen Regierungsparteien bzw. Regierungsfraktionen getroffen wurden, besitzen zwar keine rechtliche Bindungswirkung, sondern stellen nur politisch bedeutsame Abreden dar.3 Selbst wenn man ihnen – wie der Jubilar4 – den Charakter von (verfassungsrechtlichen) Verträgen beimisst, binden sie jedenfalls den Bundespräsidenten nicht, der auch an den Koalitionsgesprächen in der Regel gar nicht beteiligt ist. Das ändert aber nichts daran, dass diejenige Person vom Bundespräsidenten nach Art. 63 Abs. 1 GG vorgeschlagen wird, auf die sich die Koalitionspartner als Bundeskanzler geeinigt haben und die sich wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ihrer späteren Wahl gewiss sein darf. Der Vorschlag, eine andere Person zu wählen, wäre nicht nur eine – bisher noch nie dagewesene – politische Torheit des Bundespräsidenten, sondern dürfte sogar unter dem Aspekt der Verfassungsorgantreue ernste rechtliche Bedenken hervorrufen.5 Wenn der Bundespräsident gleichwohl 3
Schenke, in: Bonner Kommentar (Drittbearbeitung), Art. 63, Rn. 76 ff. Schmidt-Preuß, (Fn. 1), S. 477. 5 Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 63, Rn. 102 ff. 4
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einen solchen Vorschlag machte, würde der Kandidat, auf den sich die Koalitionspartner geeinigt haben, jedenfalls regelmäßig im zweiten Wahlgang gewählt. 2. Das materielle Kabinettbildungsrecht des Bundeskanzlers Anders als bei der Wahl des Bundeskanzlers besitzt der Bundestag bei der Bildung des Kabinetts keine Entscheidungsbefugnisse. Nach Art. 64 Abs. 1 GG werden die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Die Vorschrift stimmt damit – von den anderen Amtsbezeichnungen abgesehen – wörtlich mit Art. 53 WRV überein, wonach der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen wurden. Trotzdem interpretiert sie die heute ganz h.M.6 anders als Art. 53 WRV. Art. 53 WRV wurde in Übereinstimmung mit seinem Wortlaut und mit den präsidialdemokratischen Elementen der Weimarer Reichsverfassung noch vielfach in dem Sinn interpretiert, dass dem Reichskanzler nur ein den Präsidenten nicht bindendes Vorschlagsrecht zustehe, weswegen der Reichspräsident dessen Vorschlag zurückweisen könne.7 Demgegenüber besteht zu Art. 64 Abs. 1 GG heute weitgehend Einigkeit, dass der Bundespräsident prinzipiell durch den Vorschlag des Bundeskanzlers gebunden ist. Dem Bundeskanzler wird demgemäß ein ausschließliches materielles Kabinettbildungsrecht eingeräumt. Diese Auslegung ist nicht zuletzt eine Konsequenz des dem Grundgesetz zugrundeliegenden parlamentarischen Regierungssystems. Da der Bundespräsident dem Bundestag gegenüber nicht in derselben Weise politisch verantwortlich ist wie der Bundeskanzler, wäre ein materielles Kabinettbildungsrecht des Bundespräsidenten mit dem grundgesetzlichen parlamentarischen Regierungssystem, wie es u. a. in den Art. 63, 65 und Art. 67 GG seinen normativen Niederschlag Ausdruck gefunden hat, unvereinbar. Die Zentrierung des materiellen Kabinettbildungsrechts beim Bundeskanzler, der dem Bundestag politisch verantwortlich ist, gibt dem Bundestag eine ungleich größere politische Einflussmöglichkeit, als sie bei einer politischen Mitentscheidungsbefugnis des Bundespräsidenten in Bezug auf die Zusammensetzung des Kabinetts bestünde. Insbesondere der Ausschluss eines Misstrauensvotums gegenüber einem einzelnen Bundesminister und die sich daraus ergebende, notfalls über Art. 67 GG zu bewerkstelligende politische Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers für seine Kabinettsmitglieder sprechen zusätzlich dafür, ein ausschließliches materielles Kabinettbildungsrechts des Bundeskanzlers zu bejahen.
6 S. hierzu Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 64, Rn. 62 ff. mit eingeh. Nachweisen in Rn. 68, Fn. 51. 7 So z. B. Thoma, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 503, 506; Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. 8. 1919, 3. Aufl. 1932, Art. 53, Anm. 3c.
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Aus entsprechenden Gründen steht dem Bundeskanzler auch die Organisationsgewalt im Regierungsbereich zu.8 Sie steht in engem Zusammenhang mit dessen Personalgewalt im Regierungsbereich und ist wie diese in Art. 64 GG zu verankern. Auch insoweit ist der Unterschied zur WRV evident, bei der – im Einklang mit der starken Stellung des Reichspräsidenten – noch überwiegend davon ausgegangen wurde,9 dass die Organisationsgewalt dem Reichspräsidenten zustand. Sowohl die Personal- wie auch die Organisationsgewalt des Bundeskanzlers dürfen durch den parlamentarischen Gesetzgeber jedenfalls nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Trotzdem schließt dies im konkreten Fall einer Regierungsbildung Einflussmöglichkeiten der Regierungsparteien bzw. Regierungsfraktionen nicht aus.10 Gegenstand der Koalitionsverhandlungen, die der Regierungsbildung vorangehen, sind regelmäßig auch die personelle Zusammensetzung der Regierung sowie hiermit zusammenhängende organisatorische Fragen. Diese sind zwar unbestritten rechtlich nicht verbindlich für einen zukünftigen Bundeskanzler. Trotzdem kommt ihnen faktisch eine erhebliche Bedeutung zu. Gegenüber solchen faktischen Beschneidungen muss die Verfassung allerdings in gewissem Umfang auch rechtliche Barrieren errichten, da sonst die durch Art. 64 GG begründeten rechtlichen Kompetenzen des Bundeskanzlers völlig ausgehöhlt würden. So widerspräche eine von den Koalitionspartnern intendierte totale Einengung des Bundeskanzlers nicht nur „dem Geist der Verfassung“, sondern wäre verfassungswidrig.11 Dies träfe z. B. dann zu, wenn dem Bundeskanzler nicht nur die Mitglieder des Kabinetts, sondern zusätzlich die genaue Abgrenzung der den einzelnen Ministern zufallenden Ressorts aufgezwungen würde. Verfassungsrechtlich bedenklich wäre es auch, wenn einem Koalitionspartner für die ihm zugestandenen Ministerämter eine „faktische Präsentationsbefugnis“ eingeräumt würde. II. Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Bundestags bei der Erfüllung von Regierungsaufgaben Regierung im materiellen Sinn, verstanden als die Staatsleitung,12 wird in der parlamentarischen Demokratie keineswegs alleine durch die Regierung im formellen Sinn wahrgenommen, sondern obliegt (nach einer gern benutzten Formulierung Friesenhahns13) Regierung und Parlament zur gesamten Hand. Diese Formulierung bringt in plastischer Weise zum Ausdruck, dass Regierung und Parlament bei der Er8 Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 64, Rn. 64 ff. und 77 ff. mit eingeh. Nachweisen in Rn. 77, Fn. 75. 9 So z. B. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 53, Anm. 3 und 4. 10 S. dazu näher Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 64, Rn. 83 ff. 11 Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 64, Rn. 88 ff. 12 S. dazu Schenke, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 62, Rn. 39 ff. 13 Friesenhahn, VVDStRL Bd. 16 (1958), S. 9, 38.
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füllung dieser Aufgabe vielfach zusammenzuarbeiten haben. Sie macht allerdings alleine noch nicht hinreichend deutlich, dass diese Zusammenarbeit – je nach der wahrgenommenen Aufgabe – ganz unterschiedlich ausfällt und dass beiden obersten Staatsorganen hier von Verfassungs wegen verschiedene Rollen zugewiesen sind. So gibt es einerseits Regierungsaufgaben, deren Erfüllung ein Zusammenwirken von Regierung und Parlament notwendigerweise erfordert und die damit eine besondere Abhängigkeit der Regierung vom Parlament begründen, andererseits Regierungsaufgaben, die eines der beiden Staatsorgane allein wahrnehmen kann. 1. Das Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag beim Erlass von Bundesgesetzen a) Die Umsetzung von Regierungsentscheidungen im Rahmen des Gesetzesvorbehalts Materielle Regierung wird heute vor allem durch den Erlass von Gesetzen ausgeübt. Dieser obliegt in erster Linie dem Parlament. Soweit es zur Durchsetzung staatsleitender Entscheidungen des Erlasses von Gesetzen bedarf, ist die Bundesregierung zwingend auf eine Mitwirkung des Bundestags, bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen zusätzlich des Bundesrats, angewiesen. Ob es für die Realisierung staatsleitender Entscheidungen der Bundesregierung gesetzlicher Regelungen bedarf, bemisst sich nach der Reichweite des Gesetzesvorbehalts. Er wird von der heute h. M.14 meist anhand der sogenannten Wesentlichkeitsgarantie bestimmt. Danach bedürfen wesentliche staatliche Maßnahmen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Die Wesentlichkeit soll sich nach der Grundrechtsrelevanz richten. Freilich ist dieser Begriff der Wesentlichkeit wenig konturenscharf, soweit mit ihm auch Maßnahmen erfasst werden, die keine Grundrechtseingriffe darstellen, sondern erst der Effektuierung von Grundrechten dienen, was auch bei der Gewährung staatlicher Leistungen der Fall sein kann. Überzeugender wäre es deshalb wohl, wenn man bei der Bestimmung der Reichweite des Gesetzesvorbehalts neben dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt, der bei Eingriffen in die Grundrechte eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage fordert und durch die grundsätzliche Ausdehnung des Grundrechtsschutzes auch auf faktische (mittelbare) Beeinträchtigungen noch an Bedeutung gewonnen hat, zusätzlich auf Art. 80 GG zurückgriffe.15 Dies schlösse gesetzesunabhängige Verwaltungsvorschriften, die auf Dauer angelegt sind, die für eine unbestimmte Vielzahl von Personen relevant werden und denen – zumindest über die Brücke des Art. 3 Abs. 1 GG
14
Vgl. z. B. BVerfGE 49, 89, 126 f.; 77, 170, 230 f.; 98, 218, 251; 108, 282, 312; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 20, Rn. 48; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 6, Rn. 12 ff; Robbers, in: BK, Art. 20, Rn. 2027; näher zur Wesentlichkeitstheorie Hömig, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 273 ff. 15 S. dazu näher Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965, S. 313 ff.; s. auch Schenke, GewArch. 1977, 313 ff.
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(Selbstbindung der Verwaltung) – eine normgleiche Wirkung zukommt, grundsätzlich aus.16 b) Die Mitwirkung der Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren Dass die Regierung bei Führungsentscheidungen, deren Verwirklichung dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt, zwingend auf die Mitwirkung des Bundestags angewiesen ist, bedeutet allerdings nicht, dass die Regierung insoweit keine Rolle spielt. Zwar können Gesetzesinitiativen gem. Art. 76 Abs. 1 GG auch aus der Mitte des Bundestags eingebracht werden. Das ändert aber nichts daran, dass in der politischen Praxis die weitaus meisten Gesetzentwürfe durch die Bundesregierung eingebracht werden. Das ist kein Zufall, sondern hat seinen Grund darin, dass die Erstellung eines Gesetzentwurfs ein erhebliches Fachwissen und eine Professionalität voraussetzt, die beim Bundestag nicht in der gleichen Weise vorhanden sind wie bei der Bundesregierung. Der Ausbau des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vermag zwar dort bestehende Defizite teilweise auszugleichen, ändert aber nichts an dem prinzipiell vorhandenen Informations- und Wissensvorsprung der Bundesregierung, der sie in besonderer Weise befähigt, politische Initiativen zu ergreifen und deren gesetzgeberische Umsetzung auf den Weg zu bringen. Der Umstand, dass im parlamentarischen Regierungssystem Bundesregierung und Bundestagsmehrheit in der Regel dem gleichen politischen Lager angehören, führt dazu, dass die gesetzgeberischen Initiativen der Regierung in der Regel erfolgreich sind und im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens oftmals auch keine größeren inhaltlichen Umgestaltungen erfahren. Soweit gesetzgeberische Initiativen vom Bundesrat ausgehen, der sich das besondere Wissen und den Sachverstand der Länderexekutiven zu eigen machen kann, vermag die Bundesregierung die gesetzgeberische Arbeit des Parlaments dadurch zu fördern, dass sie nach näherer Maßgabe des Art. 76 Abs. 3 GG schon in einem frühen Stadium in das Gesetzgebungsverfahren eingeschaltet wird und insoweit ein Gegengewicht zu den Länderexekutiven zu bilden vermag. Art. 76 Abs. 3 S. 1 GG sieht zu diesem Zweck vor, dass Vorlagen des Bundesrats dem Bundestag prinzipiell innerhalb von sechs Wochen durch die Bundesregierung zuzuleiten sind und diese nach Art. 76 Abs. 3 S. 2 GG hierbei ihre Auffassung darzulegen hat. Bei Gesetzesinitiativen des Bundestags ergibt sich überdies ein Anspruch des Bundestags auf Information und Mithilfe durch die Bundesregierung und speziell das für diesen Bereich zuständige Ministerium aus dem Prinzip der Verfassungsorgantreue.17 Rechtlich unzulässig ist es nach richtiger, wenn auch sehr umstrittener Auffassung allerdings, wenn – was in der politischen Praxis zuweilen geschieht – die Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesregierung so weit geht, dass die Bundesregierung von ihr erarbei16
S. hierzu näher Schenke, in: BK, Vorb. zu Art. 62 – 69, 2017, Rn. 80 ff.; dort auch zum institutionellen Gesetzesvorbehalt, demgemäß juristische Personen des öffentlichen Rechts nur durch oder aufgrund eines Gesetzes gebildet werden können. 17 Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 101 ff.
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tete Gesetzesvorschläge aus der Mitte des Bundestags einbringen lässt und dadurch die in Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG vorgesehene Mitwirkung des Bundesrats ausschaltet.18 2. Regierungstätigkeiten, die ein Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag erfordern a) Zwingendes Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag bei gesetzgeberischen Entscheidungen Bei bestimmten Regierungstätigkeiten bedarf es zwar ebenfalls des Erlasses eines Bundesgesetzes, für den der Bundestag aber zwingend auf die Mitwirkung der Bundesregierung angewiesen ist. Klassisches Beispiel hierfür ist das Haushaltsgesetz. Der Haushaltsplan, der „ein Wirtschaftsplan und zugleich ein staatsleitender Hoheitsakt“19 ist, wird durch die Bundesregierung erstellt, bedarf aber gem. Art. 110 Abs. 4 GG der Feststellung durch das Haushaltsgesetz. Entsprechendes gilt gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur für völkerrechtliche Verträge, welche sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, sondern auch für solche, die politischen Beziehungen des Bundes regeln. Demnach bedürfen selbst solche Entscheidungen eines Zustimmungsgesetzes, welche nicht dem Gesetzesvorbehalt unterliegen, sondern nur die politischen Beziehungen des Bundes zum Gegenstand haben. Der früher mitunter unternommene Versuch,20 diese Vorschrift zu verallgemeinern und ihr zu entnehmen, dass staatsleitende Akte im Bereich der zentralen Planung über den Rahmen des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG hinaus einer Zustimmung durch Bundesgesetz bedürfen, ist allerdings abzulehnen. Dies schränkte den Handlungsbereich der Regierung in einer nicht hinzunehmenden Weise ein und höhlte insbesondere die dem Bundeskanzler gem. Art. 65 S. 1 GG zustehende Richtlinienkompetenz weitgehend aus. Nicht ausgeschlossen wird hierdurch jedoch, dass der Bundesgesetzgeber selbst solche Akte, die nicht dem Gesetzesvorbehalt unterfallen, im Einzelfall zum Gegenstand gesetzlicher Regelungen macht.21 Überdies vermag er in Bezug auf solche politische Entscheidungen Parlamentsbeschlüsse zu fassen, denen zwar grundsätzlich keine rechtliche Bindungswirkung zukommt, die jedoch von erheblicher politischer Bedeutung sind und an denen sich die von der Bundestagsmehrheit gestützte Bundesregierung in der Regel orientieren wird. Im Übrigen kann der Bundestag auch die Ausübung solcher Regierungstätigkeiten, die nicht vom Gesetzesvorbehalt erfasst sind, mit seinem vielfältigen Kontrollinstrumentarium überwa18 Dietlein, in: Epping/Hillgruber, GG, 2. Aufl. 2013, Art. 76, Rn. 31; Frenzel, JuS 2010, 119 f.; Kirn, ZRP 1974, 1, 3; Masing, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 76, Rn. 101; Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 94 f.; a. A. Bryde, in: v. Münch/Kunig, 6. Aufl., Art. 76, Rn. 21; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR Bd. V, 2007, § 102, Rn. 24 f; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, 14. Aufl. 2016, Art. 76, Rn. 3a. 19 BVerfGE 79, 311, 328 f.; 130, 318, 343; 135, 317 Rn. 201. 20 So früher Herzog, VVDStRL Bd. 24, S. 183, 205 f. 21 Schenke, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 62, Rn. 59.
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chen und gegebenenfalls auf Korrekturen hinwirken. Als äußerstes Mittel bleibt ihm hier die Möglichkeit, über Art. 67 GG auf einen Sturz des Bundeskanzlers und damit seiner gesamten Regierung (s. Art. 69 Abs. 2 GG) hinzuwirken b) Notwendiges Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag bei bewaffneten Auslandseinsätzen der Bundeswehr Bei bestimmten Regierungstätigkeiten ist die Bundesregierung auch außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens prinzipiell zwingend auf die Mitwirkung des Bundestages angewiesen. Für bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr gilt nach der Rechtsprechung des BVerfG zwar kein Gesetzesvorbehalt, wohl aber ein Parlamentsvorbehalt.22 Begründet wird dieser ungeschriebene Parlamentsvorbehalt vom BVerfG insbesondere mit einem Rückgriff auf die deutsche Verfassungstradition und mit dem Hinweis auf eine Reihe wehrrechtlicher Bestimmungen, die 1956 in das Grundgesetz eingefügt wurden und die eine verstärkte parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte und des Regierungshandelns im militärischen Bereich vorsehen (s. insbesondere Art. 45a, 45b und 87a Abs. 1 S. 2 GG sowie ergänzend Art. 87a Abs. 3, Abs. 4 S. 1 und 2, 115a sowie 35 Abs. 3 S. 2 GG). Die dogmatische Begründung dieses Parlamentsvorbehalts ist zwar zweifelhaft. Ungeachtet dessen ist sein Bestehen aber nunmehr als ein verfassungsrechtliches Faktum anzuerkennen. Von einem bewaffneten Einsatz der Bundeswehr, der dem Parlamentsvorbehalt unterliegt, ist bereits dann auszugehen, wenn nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist.23 Ob diese Voraussetzung vorliegt, kann das BVerfG voll überprüfen. Ein gerichtlich nur begrenzt überprüfbarer Einschätzungs- und Prognosespielraum steht der Bundesregierung nicht zu.24 Dieser wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt gilt, wie das BVerfG25 in seiner neueren Rechtsprechung klargestellt hat, nicht nur für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte innerhalb von Systemen kollektiver Sicherheit, sondern allgemein für bewaffnete Einsätze deutscher Soldaten im Ausland und überdies unabhängig davon, ob diese einen kriegerischen oder kriegsähnlichen Charakter aufweisen. Anderes gilt nur bei Gefahr im Verzug. In diesem Fall ist die Bundesregierung ausnahmsweise berechtigt, den Einsatz bewaffneter Streitkräfte vorläufig zu beschließen.26 Sie muss dann aber den Bundestag umgehend mit dem fortdauernden Einsatz befassen und die Streitkräfte auf Verlangen des Bundestages zurückrufen. 22 BVerfGE 90, 286, 381 ff.; 100, 266, 269; 104, 151, 208; 108, 34, 43; 121, 135, 154; 126, 55, 69 f.; 140, 160, 187 ff.; krit. hierzu näher Schenke, in: BK, 2011, Art. 65a, Rn. 68 ff. mit eingeh. Nachweisen zur Problematik in Art. 65a, Rn. 67, Fn. 179. 23 BVerfGE 121, 135 ff. und in Übereinstimmung hiermit § 2 ParlamentsbeteiligungsG. 24 BVerfGE 121, 135, 168 f. 25 BVerfGE 140, 160, 187 f. 26 S. hierzu näher Schenke, in: Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung), Vorb. zu den Art. 62 – 69, 2017, Rn. 87.
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Hat der Bundestag seine Zustimmung zu einem bewaffneten Einsatz der Bundeswehr vom Vorliegen tatsächlicher oder rechtlicher Zusammenhänge abhängig gemacht, so bedarf es beim Wegfall dieser Umstände eines erneuten Zustimmungsbeschlusses, um den Einsatz fortzuführen.27 c) Das Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag im Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union Die in Art. 23 GG geregelte Übertragung nationaler Zuständigkeiten der Bundesrepublik auf die Europäische Union hat über die hiermit unmittelbar verbundenen Kompetenzverlagerungen hinaus auch erhebliche Auswirkungen auf das innerstaatliche Kompetenzgefüge. In der Konsequenz einer solchen Übertragung ergeben sich Mitwirkungsbefugnisse des Bundeskanzlers und der Bundesminister im Unionsbereich aus ihrer Mitgliedschaft im Europäischen Rat bzw. im Rat der Europäischen Union. Insoweit werden, was die Bundesregierung anbetrifft, die aus der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU resultierenden Kompetenzverluste durch deren Mitwirkungsrechte in den Organen der EU abgemildert. Bezüglich des Bundestags bzw. des Bundesrats sieht das EU-Recht entsprechende Mitwirkungsbefugnisse hingegen nicht vor. Allerdings bindet Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG die Übertragung von Hoheitsrechten an ein mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassendes Gesetz. Von einer Übertragung i. S. des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ist dann auszugehen, wenn die unmittelbare Anwendung europäischer Hoheitsakte in Deutschland zugelassen wird und damit die Europäische Union direkt auf den innerstaatlichen Bereich zugreifen kann.28 Dabei ist der Begriff der Übertragung weit zu interpretieren. Erfasst werden davon nicht nur alle textlichen Änderungen des primären EU-Rechts sowie vergleichbare Regelungen wie besondere Vertragsänderungen, so z. B. die Einführung einer gemeinsamen Verteidigung. Erfasst werden auch die Nutzung der Kompetenzerweiterungsklausel des Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV und die Kompetenzergänzungsklausel des Art. 352 AEUV, ferner – so das BVerfG29 – ein Gebrauchmachen von der allgemeinen Brückenklausel des Art. 48 Abs. 7 EUV. Nach dieser kann der Europäische Rat einen Beschluss erlassen, demzufolge in den Fällen, in denen es nach dem AEUV oder nach Titel V EUVeines einstimmigen Beschlusses des Rates bedarf, Letzterer bereits mit qualifizierter Mehrheit entscheiden kann. Gleiches gilt für Beschlüsse des Europäischen Rates dann, wenn nach dem AEUV Gesetzgebungsakte bisher in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden mussten, nunmehr aber deren Erlass im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlaubt wird. Die Nutzung spezieller Brückenklauseln, die eine Änderung der Abstimmungsmodalitäten im Rat oder eine Änderung des Gesetzgebungsverfahrens erlauben, bedarf zwar mit Ausnahme 27
Näher hierzu BVerfGE 124, 267, 276 f. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 23, Rn. 24 m.w.N. 29 BVerfGE 123, 267, 390 f. 28
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des Art. 81 Abs. 3 AEUV keines Gesetzes nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG. Das BVerfG30 fordert jedoch hier unter dem Gesichtspunkt der Integrationsverantwortung einen zustimmenden Beschluss des Bundestages und, falls Gesetzgebungskompetenzen der Länder betroffen sind, des Bundesrats. Zur Verhinderung eines Übergriffs der EU in den Zuständigkeitsbereich das nationalen Gesetzgebers räumt Art. 23 Abs. 1a S. 1 GG dem Bundestag und dem Bundesrat das Recht ein, wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der EU gegen das Subsidiaritätsprinzip Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu erheben. Nach Art. 23 Abs. 1a S. 2 GG ist der Bundestag bereits auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet, eine solche Klage zu erheben. Aus demokratierechtlichen wie auch aus bundesstaatlichen Gesichtspunkten ergibt sich über Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG hinausreichend die Notwendigkeit, eine Mitwirkung des Bundestags wie auch des Bundesrats in Bezug auf von der EU getätigte Akte sicherzustellen. Nur auf diese Weise lassen sich die mit der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU verbundenen Kompetenzeinbußen des Bundestags und Bundesrats im nationalen Bereich kompensieren. Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG trägt dem Rechnung, indem er ausdrücklich vorsieht, dass in Angelegenheiten der Europäischen Union der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mitwirken. Der Begriff „der Angelegenheiten der Europäischen Union“ ist dabei weit zu interpretieren. Er umfasst nicht nur die Rechtsetzung, sondern schließt alle Tätigkeiten ein, die mit der Vorbereitung, Wahrnehmung und Vollziehung von Zuständigkeiten, Befugnissen und Zielsetzungen der EU in Verbindung stehen (s. näher § 3 Abs. 2 und § 5 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union [EUZBBG]). Zur Sicherung einer wirksamen Mitwirkung schreibt Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG vor, dass die Bundesregierung den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten hat. Diese Unterrichtungspflicht ist weitergehender als die Unterrichtungspflicht, die der Bundesregierung gem. Art. 43 GG und aufgrund des Interpellationsrechts der Abgeordneten obliegt. So besteht sie unabhängig von Anfragen der Gesetzgebungskörperschaften und ihrer Mitglieder von Amts wegen.31 Art. 23 Abs. 3 GG stärkt die Stellung des Bundestags speziell in Verbindung mit Rechtsetzungsakten der EU noch zusätzlich. Danach gibt die Bundesregierung dem Bundestag die Gelegenheit zur Stellungnahme, bevor sie an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union mitwirkt, und berücksichtigt die Stellungnahme des Bundestages bei den Verhandlungen. Aus der Berücksichtigungspflicht ergibt sich jedoch noch keine rechtliche Verbindlichkeit einer Stellungnahme des Bundestags. Das gilt entgegen einer häufig vertretenen Auffassung32 selbst dann, wenn der Bundestag in Form eines Bundesgesetzes Stellung nimmt. Die in Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG vorge30
BVerfGE 123, 267, 392. Näher hierzu Schenke, in: BK, Vorb. z. Art. 62 – 69, Rn. 93. 32 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Art. 23, Rn. 54; Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 23, Rn. 160. 31
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sehene Berücksichtigungspflicht untersagt es dem einfachen Gesetzgeber, eine für die Bundesregierung verbindliche Stellungnahme abzugeben. Die Berücksichtigungspflicht verlangt von der Bundesregierung allerdings, die Stellungnahme des Bundestags in ihre Willensbildung einzubeziehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. § 8 Abs. 2 EUZBBG sieht sogar vor, dass die Bundesregierung eine Stellungnahme des Bundestags ihren Verhandlungen zugrunde zu legen und den Bundestag fortlaufend über deren Berücksichtigung in den Verhandlungen zu unterrichten hat. Diese Vorschrift dürfte verfassungskonform dahin auszulegen sein, dass die Bundesregierung zwar zu Beginn ihrer Verhandlungen die Stellungnahme zugrunde zu legen hat, im weiteren Verlauf der Verhandlungen hieran aber nicht mehr strikt gebunden ist. Soweit die Stellungnahme des Bundestags in einem wesentlichen Belang nicht durchsetzbar ist, legt die Bundesregierung nach näherer Maßgabe des § 8 Abs. 4 EUZBBG einen Parlamentsvorbehalt ein und unterrichtet den Bundestag unverzüglich in einem Bericht hierüber. Vor der abschließenden Entscheidung bemüht sich die Bundesregierung, Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen. § 8 Abs. 4 S. 6 EUZBBG stellt das Recht der Bundesregierung klar, aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gesichtspunkten von der Stellungnahme des Bundestags abweichend zu entscheiden. 3. Regierungstätigkeiten, bei denen ein Zusammenwirken mit dem Bundestag nicht zwingend erforderlich ist Zur Wahrnehmung staatsleitender Tätigkeit (Regierung im materiellen Sinn), für die kein Gesetzes- oder Parlamentsvorbehalt besteht und für die eine Mitwirkung des Bundestags auch aus sonstigen Gründen verfassungsrechtlich nicht vorgeschrieben ist, ist prinzipiell die Bundesregierung befugt. Das betrifft sowohl innen- wie auch außenpolitische Initiativen und Aktivitäten. Die Verteilung der Kompetenzen innerhalb der Bundesregierung wird insbesondere durch Art. 65 GG geregelt, der sowohl die Zuständigkeiten des Bundeskanzlers wie auch die der Ressortminister und der Bundesregierung als Kollegialorgan anspricht. Wichtige Kompetenzregelungen finden sich im Grundgesetz aber auch außerhalb des Art. 65 GG. So regelt Art. 65a GG die Zuständigkeit des Bundesministers für Verteidigung und Art. 112 GG und Art. 114 GG Zuständigkeiten des Bundesministers der Finanzen. Überdies sieht das Grundgesetz an verschiedenen Stellen außerhalb des Art. 65 GG zahlreiche Zuständigkeiten der Bundesregierung vor.33 Der herausgehobenen Stellung des Bundeskanzlers entspricht seine in Art. 65 S. 1 GG statuierte Richtlinienkompetenz, die sein Kabinettbildungsrecht flankiert und insoweit auch einen Baustein der grundgesetzlichen Kanzlerdemokratie34 beinhaltet.
33 S. hierzu die Zusammenstellung bei Schenke, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 65, Rn. 109. 34 Zur grundgesetzlichen Kanzlerdemokratie s. näher Schenke, JZ 2015, 1009 ff.
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Die Richtlinienkompetenz35 räumt dem Kanzler die Befugnis ein, grundlegende politische Entscheidungen zu treffen; sie können auch einen Einzelfall zum Gegenstand haben.36 Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Entscheidung von grundlegender politischer Bedeutung ist, kommt dem Bundeskanzler ein weitreichender Beurteilungsspielraum zu.37 Jener reicht allerdings nicht so weit wie eine Kompetenz-Kompetenz.38 Die Richtlinien der Politik begrenzen nicht nur die den Ministern nach Art. 65 S. 2 GG zustehenden Ressortkompetenzen, sondern beziehen sich nach – freilich umstrittener – Ansicht auch auf verfassungsgesetzlich begründete Sonderbefugnisse, wie sie dem Bundesminister der Verteidigung gem. Art. 65a GG und dem Bundesminister der Finanzen gem. Art. 112 GG zustehen.39 Eine Erstreckung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers auf Entscheidungen der Bundesregierung als Kollegialorgan wird zwar überwiegend abgelehnt,40 dürfte aber, insbesondere was das Gesetzesinitiativrecht der Bundesregierung angeht, zu bejahen sein.41 Da Regierung heute zu einem erheblichen Teil im Einbringen von Gesetzentwürfen und dem Hinwirken auf deren Verwirklichung besteht, würde die Nichterstreckung der Richtlinienkompetenz auf das Gesetzinitiativrecht vor einer der bedeutsamsten Regierungskompetenzen Halt machen und damit die Rechtsstellung des Kanzlers im Regierungsgefüge in bedenklicher Weise einschränken. Auch dort, wo die Regierung für ihr Handeln nicht auf eine Mitwirkung des Bundestags angewiesen ist, bleibt es Letzterem grundsätzlich unbenommen, gesetzliche Regelungen zu treffen. Ein der Regierung vorbehaltener Sachbereich, der der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers entzogen wäre, existiert grundsätzlich nicht. Unzulässig wäre es allerdings, wenn ein Gesetz in bestimmten Bereichen, die der Regierung im materiellen Sinn zuzurechnen sind, rein negativ Aktivitäten der Bundesregierung und ihrer Mitglieder ausschlösse, ohne insoweit selbst Regelungen zu tref-
35 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 65, Rn. 3; Oldiges, in: Sachs, 7. Aufl. 2014, Art. 65, Rn. 15; s. zum Begriff der Richtlinien der Politik näher Schenke, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 65, Rn. 20 ff. 36 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 65, Rn. 7; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 65, Rn. 3. 37 Maurer, in: Festschrift für Thieme, 1993, S. 123, 129; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Rn. 3. 38 Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 65, Rn. 16; Schenke, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 65, Rn. 29. 39 Für Bindung aller Bundesminister Epping, in: Epping/Hillgruber, Art. 65, Rn. 4; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 65, Rn. 3; anders bezüglich des Art. 112 aber Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 24a. 40 So Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 65, Rn. 3; Uhle/Müller-Franken, in: SchmidtBleibtreu/Klein/Hofman/Henneke, GG, 13. Aufl. 2014; Hermes, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 65, Rn. 26. 41 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 645; Mager, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 65, Rn. 9; Schenke, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 65, Rn. 40 ff.
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fen.42 Die Unzulässigkeit einer Beschneidung der Initiativ- und Beratungsfunktion der Bundesregierung ergibt sich in Bezug auf das Gesetzgebungsverfahren ohnehin bereits aus Art. 76 GG. Deren Initiativ- und Beratungsfunktion ist aber auch außerhalb dieses Bereichs gesetzesfest.43 Zudem ist es dem Gesetzgeber verwehrt, die der Bundesregierung und ihren Mitgliedern zur Erfüllung ihrer Aufgaben zustehende Personal- und Organisationsgewalt grundsätzlich in Frage zu stellen. 4. Kontrollrechte des Bundestags Von essentieller Bedeutung für das parlamentarische Regierungsprinzip ist das Bestehen einer wirksamen Kontrolle der Regierung durch das Parlament. Ihr dienen im Grundgesetz insbesondere das Zitierrecht des Bundestags und seiner Ausschüsse (Art. 43 Abs. 1 GG), das in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG i. V. mit Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG angelegte Informations- und Fragerecht der Bundestagsabgeordneten und ihrer Fraktionen (das sogenannte Interpellationsrecht) sowie die Befugnis des Bundestags, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.44 a) Das Zitierrecht des Bundestags (Art. 43 Abs. 1 GG) Das in Art. 43 Abs. 1 GG statuierte Recht des Bundestags und seiner Ausschüsse, die Anwesenheit jedes Mitglieds der Bundesregierung zu verlangen, verpflichtet dieses nicht nur zum persönlichen Erscheinen und Verbleiben während der Dauer der Verhandlungen zu dem betreffenden Beratungsgegenstand. Aus Art. 43 Abs. 1 GG ergibt sich auch die Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Beantwortung von Fragen, soweit sich nicht aus der Verfassung Beschränkungen dieses parlamentarischen Informationsrechts ergeben.45 Die Bedeutung dieses Zitier- und Informationsrechts ist jedoch dadurch eingeschränkt, dass es nur der Mehrheit des Bundestags zusteht. Damit steht es der parlamentarischen Opposition, der die wichtigste Funktion bei der Kontrolle der Bundesregierung zukommt, jedenfalls von Verfassungs wegen nicht zur Verfügung. b) Das Interpellationsrecht Weit bedeutsamer für die parlamentarische Kontrolle durch die Opposition ist das Frage- und Informationsrecht des einzelnen Abgeordneten gegenüber der Bundesregierung, das sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 42
Schenke, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 62, Rn. 59. S. auch Hermes, in: Dreier, GG, Art. 62, Rn. 36. 44 Weitere Kontrollbefugnisse werden durch den Wehrbeauftragten (Art. 45b GG), den Petitionsausschuss (Art. 45c) und von einem durch den Bundestag bestellten Gremium zur Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes (Art. 45d GG) ausgeübt. 45 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 43, Rn. 3; Schröder, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 43, Rn. 32 ff. 43
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GG ableitet.46 Dieses Interpellationsrecht wird in § 105 der Geschäftsordnung des Bundestags (GeschOBT) bestätigt und in deren Anlage 4 näher ausgestaltet. Es steht auch den Fraktionen zu. Aus diesem Recht ergibt sich für die Mitglieder der Bundesregierung die grundsätzliche verfassungsrechtliche Pflicht, auf Fragen, die ihren Tätigkeitsbereich betreffen, Rede und Antwort zu stehen. Aus dem Gewaltenteilungsprinzip leiten sich jedoch Grenzen des Interpellationsrechts ab. In Konsequenz des Gewaltenteilungsprinzips ist ein Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung der Regierung anzuerkennen, der einer Kontrolle durch den Bundestag entzogen ist.47 Daraus folgt, dass der Bundesregierung und ihren Mitgliedern ein prinzipiell nicht ausforschbarer Beratungs- und Handlungsbereich zusteht. Begrenzungen des Interpellationsrechts können sich überdies in Bezug auf solche Umstände ergeben, die aus Gründen des Wohls des Bundes geheimhaltungsbedürftig sind. Insoweit bedarf es jeweils im Einzelfall einer Abwägung zwischen dem Geheimhaltungsinteresse des Bundes und dem Informationsrecht der Abgeordneten. Soweit die Bundesregierung sich weigert, die erbetenen Informationen zu geben, hat sie die hierfür maßgeblichen Gründe anzugeben. Diese Begründungspflicht leitet sich aus dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue ab.48 c) Das Recht zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Das schärfste parlamentarische Kontrollinstrument stellt das in Art. 44 GG statuierte Recht zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses dar. Diesem Recht kommt für die parlamentarische Kontrolle deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil der Bundestag nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG bereits auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet ist, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, und weil diesem ein Recht zur Beweiserhebung zusteht, auf das die Vorschriften der Strafprozessordnung sinngemäß Anwendung finden. Damit bietet sich hier für die parlamentarische Opposition eine effiziente Möglichkeit, ein Fehlverhalten der Bundesregierung näher zu untersuchen und den einschlägigen Sachverhalt durch Erhebung von Beweisen aufzuklären. Probleme ergeben sich freilich, wenn die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen – wie dies in der 18. Wahlperiode der Fall war – weniger als ein Vierteil der Bundestagsabgeordneten stellen. Der Annahme, hier sei eine Absenkung des für die Beantragung eines Untersuchungsausschusses erforderlichen Quorums verfassungsrechtlich geboten, steht der eindeutige Wortlaut des Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG entgegen. Sie lässt sich auch nicht auf einen Verfassungswandel stützen. Vergleichbares gilt auch für andere parlamentarische Minderheitsrechte (Art. 39 Abs. 3 S. 2, 23a Abs. 1 S. 2, 45a Abs. 1 S. 2 und 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Erwägenswert ist bei solchen 46 S. hierzu BVerfGE 139, 194, 223; Busse, in: Friauf/Höfling, GG, Bd. III, vor Art. 62, Rn. 15; Schröder, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 43, Rn. 6. 47 BVerfGE 67, 100, 139; 110, 199 ff.; 124, 161, 189. 48 BVerfGE 124, 161, 193.
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Mehrheitsverhältnissen eine gesetzliche Regelung, die den Oppositionsfraktionen eine zusätzliche Antragsbefugnis einräumt. Das BVerfG49 lehnt aber auch dies ab, da hierin eine verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Beeinträchtigung der Gleichheit der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse liege. Ob dem zu folgen ist, erscheint freilich zweifelhaft, da sich die Stellung der Oppositionsfraktionen wesentlich von der Stellung der Regierungsfraktionen unterscheidet. Letztere weisen eine besondere Nähe zur Regierung auf, weswegen für sie die Möglichkeit besteht, sich unabhängig von Art. 44 GG und anderen formellen Kontrollbefugnissen Informationen über und von der Regierung zu beschaffen und auf diese Weise ihre Kontrolle zu effektuieren. Darüber hinaus und vor allem kommt der Kontrolle durch die Regierungsfraktionen, die im gleichen politischen Lager wie die Regierung stehen, bei weitem nicht dieselbe Bedeutung zu wie der Kontrolle durch die Oppositionsfraktionen. Keine vollwertige Lösung der angesprochenen Problematik vermag eine Ausdehnung von Minderheitenrechten durch die GeschoBT zu bieten, wie sie § 126a GeschoBT für die 18. Wahlperiode vorsah. Der Beschluss zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses muss hinreichend bestimmt sein.50 Das Gewaltenteilungsprinzip verbietet es, dass erst der Ausschuss, bei dem es sich nur um ein Hilfsorgan des Bundestags handelt, den Umfang seines Untersuchungsauftrags absteckt. Aus dem Gewaltenteilungsprinzip folgt zudem, dass das Untersuchungsrecht dem Bundestag nur zu Kontrollzwecken zusteht und ihm kein Recht zum Mitregieren einräumt. Daraus ist abzuleiten, dass das Untersuchungsrecht sich grundsätzlich nur auf abgeschlossene Vorgänge erstreckt, hingegen nicht in laufende Verhandlungen und Entscheidungsvorbereitungen eingreifen darf.51 Wenn die Vorgänge bereits abgeschlossen sind, ist allerdings selbst die Willensbildung innerhalb der Bundesregierung und deren Vorbereitung nicht gänzlich aus der Untersuchung ausgeschlossen; die Untersuchung umfasst nicht nur verlautbarte Entscheidungsinhalte. Ob die Information über die Willensbildung innerhalb der Bundesregierung und deren Vorbereitung die Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung der Regierung beeinträchtigt und deshalb unzulässig ist, lässt sich nach dem BVerfG52 nur unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Umstände beurteilen. Die Notwendigkeit, hier zwischen gegenläufigen Belangen abzuwägen, entspreche der doppelten Funktion des Gewaltenteilungsgrundsatzes als Grund und Grenze parlamentarischer Kontrollrechte. Grenzen des Untersuchungsrechts ergeben sich überdies daraus, dass durch das Bekanntwerden geheimhaltungsbedürftiger Informationen das Staatswohl gefährdet werden kann. Allerdings wird diesem Anliegen in der Regel schon dadurch Rechnung getragen, dass der Umgang mit Informationen in einem Untersuchungsausschuss eigenen Geheimschutzbestimmungen unterliegt (s. § 15 PUAG). Deshalb rechtfertigt es nur das Vorliegen ganz besonderer 49 BVerfG, NVwZ 2016, 922, 928; Bedenken hiergegen bei Schenke, in: BK, Vorb. z. Art. 62 – 69 GG, Rn. 68; s. auch Hillgruber, JA 2016, 638 ff.; Lassahn, NVwZ 2016, 929, 930. 50 BVerfGE 124, 78, 118 f. 51 BVerfGE 67, 100, 139; 124, 78, 121. 52 BVerfGE 124, 78, 122.
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Umstände, dem Untersuchungsausschuss Akten unter Berufung auf das Staatswohl vorzubehalten.53 Zu dem für die Beweiserhebung erforderlich Quorum trifft Art. 44 GG zwar keine ausdrückliche Regelung. Zur wirksamen Ausübung des Untersuchungsrechts als eines wichtigen Kontrollrechts parlamentarischer Minderheiten ist es aber in Anlehnung an Art. 44 Abs. 1 GG erforderlich, dass Beweise bereits dann zu erheben sind, wenn dies von einem Vierteil der Mitglieder des Untersuchungsausschusses beantragt wird (so denn auch § 17 Abs. 2 S. 1 PUAG). Das Recht des Untersuchungsausschusses, bestimmte Beweise zu erheben, setzt im Übrigen nicht voraus, dass bereits bei Stellung eines entsprechenden Antrags feststeht, dass hierdurch tatsächlich beweiserhebliches Material gewonnen werden kann. Vielmehr reicht es aus, wenn eine entsprechende Möglichkeit besteht. Grenzen des Beweiserhebungsrecht werden im Übrigen nicht nur durch den Untersuchungsauftrag, durch einen schutzbedürftigen, einer Ausforschung nicht zugänglichen Eigenbereich der Regierung sowie durch geheimhaltungsbedürftige staatliche Interessen begründet, sondern auch durch die Grundrechte Privater, die durch eine solche Beweiserhebung betroffen sein können.54 III. Misstrauensvoten gegenüber dem Bundeskanzler und anderen Regierungsmitgliedern 1. Art. 67 GG als eine spezielle Ausformung des parlamentarischen Regierungsprinzips Art. 67 GG beinhaltet eine besondere Ausprägung des parlamentarischen Regierungssystems, für das die Abhängigkeit der Regierung bzw. ihrer Mitglieder vom Vertrauen des Parlaments konstituierend ist und Letzterem bei fehlendem Vertrauen die Möglichkeit zum Sturz der Regierung eingeräumt sein muss. Die Möglichkeit, auf einen Sturz der Bundesregierung hinzuwirken, kann dabei aber ganz unterschiedlich ausgestaltet sein. Das macht schon ein Vergleich des Art. 67 GG mit seiner Vorgängerregelung, dem Art. 54 WRV, deutlich. Im Hinblick auf die abgeschwächte Möglichkeit des Bundestags, eine nicht mehr sein Vertrauen genießende Bundesregierung zu stürzen, kann man die grundgesetzliche Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems als „gedrosseltes parlamentarisches Regierungssystem“ (so eine Formulierung von Dennewitz) bezeichnen. Deutlich wird dies daran, dass nach Art. 67 GG nur der Bundeskanzler, nicht aber die Bundesminister einem Misstrauensvotum unterliegen und überdies der Sturz eines Bundeskanzlers nur durch die Wahl eines neuen Bundeskanzlers mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags (s. Art. 121 GG) möglich ist. Ein Vertrauensverlust des Bundeskanzlers führt damit nach Art. 67 GG allein noch nicht zum Sturz der Bundesregierung. Art. 68 GG macht 53 54
BVerfGE 124, 78, 124. S. hierzu näher Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 44, Rn. 30 ff.
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dies zusätzlich deutlich. Danach besteht selbst dann, wenn der Bundeskanzler bei einer vom ihm gestellten Vertrauensfrage nicht die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags auf sich vereinen kann, für ihn keine Rücktrittsverpflichtung. Vielmehr wird ihm nur die Befugnis eingeräumt, beim Bundespräsidenten einen Antrag auf Auflösung des Bundestags zu stellen. 2. Die politische Bedeutung des Art. 67 GG Die Statuierung eines konstruktiven Misstrauensvotums durch Art. 67 unterscheidet sich deutlich von dem destruktiven Misstrauensvotum, wie es in Art. 54 WRV vorgesehen war. Die Bewertung der Neuregelung durch das staatsrechtliche wie auch das politikwissenschaftliche Schrifttum fällt sehr unterschiedlich aus. Teilweise wird sie, gemessen an Art. 54 WRV, als ein bedeutender Schritt in Richtung auf eine größere Regierungsstabilität angesehen.55 Andere halten Art. 67 GG für weitgehend wertlos,56 da eine Regierung, die das Vertrauen der Parlamentsmehrheit verliere, selbst dann ihre Regierungsfähigkeit einbüße, wenn sich eine opponierende Parlamentsmehrheit noch nicht auf einen neuen Bundeskanzler geeinigt habe. Richtig hieran ist, dass die Einführung eines konstruktiven Misstrauensvotums nicht jene zentrale Bedeutung besitzt, die ihr mitunter zugeschrieben wird, da eine Minderheitsregierung nicht bzw. nur unter größten Schwierigkeiten die für die Verwirklichung ihres Regierungsprogramms erforderlichen Gesetzes durchzusetzen vermag. Der Grund für die Schwäche zahlreicher Reichsregierungen in der Weimarer Republik lag denn auch nicht nur in der Zulassung eines destruktiven Misstrauensvotums, sondern zu einem wesentlichen Teil in der Radikalisierung des Parteienwesens sowie im Vorhandensein einer Vielzahl von Splitterparteien – zwei Faktoren, die jedenfalls bis heute, insbesondere nach Einführung von Sperrklauseln in den Wahlgesetzen, vermieden werden konnten. Allerdings wäre es verfehlt, wenn man dem durch Art. 67 GG bewirkten relativen Bestandsschutz einer Regierung jede Bedeutung abspräche. Die innen- und außenpolitische Handlungsfähigkeit sowie die Autorität einer aufgrund des Art. 67 GG noch im Amt befindlichen Minderheitsregierung sind jedenfalls größer als die einer gestürzten, nur noch geschäftsführenden Regierung. Zudem stehen einer Minderheitsregierung rechtliche Kompetenzen zu, die einer geschäftsführenden Regierung fehlen und denen gerade für die Krisenbewältigung eine erhebliche Bedeutung zukommt.57 Im Gegensatz zu einem nur geschäftsführenden Bundeskanzler ist ein Minderheitskanzler in der Lage, auf eine Auflösung des Bundestags gemäß Art. 68 GG hinzuwirken. Bei einer geschäftsführenden Bundesregierung kommt hingegen, soweit es an einer parlamentarischen Mehrheit für die Wahl eines neuen Bundeskanzlers fehlt, nur die weit beschwerlichere und langwie55
So z. B. früher Hamann/Lenz, GG, 3. Aufl. 1970, Art. 67, Anm. A, S. 508: Eine „der wichtigsten Organisationsnormen des GG“. 56 So Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, 2. Aufl. 1973, S. 632. 57 Busse, in: Friauf/Höfling, Art. 67, Rn. 8; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 67, Rn. 18; Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 67, 64; a. A. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 67, Rn. 11.
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rigere Möglichkeit in Betracht, über verschiedene, zunächst erfolglose Wahlgänge gem. Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG den Weg für eine Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten ausschließlich nach dessen Ermessen freizumachen. Indem Art. 67 GG – auch insoweit von Art. 54 WRV abweichend – nur ein Misstrauensvotum gegenüber einem Bundeskanzler, nicht jedoch gegenüber einem einzelnen Bundesminister vorsieht, schließt er ein „Herausschießen“ einzelner Bundesminister aus dem Kabinett aus. Das fördert die Stabilität der Bundesregierung und stärkt zugleich die Stellung des Bundeskanzlers gegenüber dem Parlament. Es entspricht auch dem in Art. 64 GG verankerten materiellen Kabinettbildungsrecht des Bundeskanzlers. Gleichzeitig liegt es in dessen Logik, dass ein über Art. 67 GG herbeigeführter Sturz des Bundeskanzlers nach Art. 69 Abs. 2 GG dazu führt, dass mit der Entlassung des Kanzlers auch das Amt der Bundesminister endet, die dessen Kabinett angehörten. 3. Unzulässige Umgehungen des Art. 67 GG Aus Art. 67 GG ergeben sich zugleich Bedenken gegen solche Vorgehensweisen des Bundestags, die auf eine Umgehung der dort genannten Voraussetzungen für den Sturz der Bundesregierung hinauslaufen. Bedeutsam ist dies in mehrfacher Hinsicht: Zum einen ergeben sich Bedenken gegen ein Verfahren des Bundestags, das zwar formal dem Art. 67 GG genügt, bei dem der Sturz des Bundeskanzlers aber von einer Bundestagsmehrheit erstrebt wird, die sich nicht auf die anschließende Führung einer Regierung durch einen neuen Bundeskanzler einigen kann und die die Wahl eines neuen Kanzlers einzig zu dem Zweck betreibt, den bisherigen Kanzler zu stürzen, um nach einem angestrebten Rücktritt des neu gewählten Kanzlers das Verfahren des Art. 63 GG in Gang zu setzen oder aber jenen eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage stellen zu lassen. Beide Male erschöpft sich die Funktion des neu gewählten Kanzlers darin, die bisherige Regierung abzuwickeln. Verfassungsrechtlich problematisch sind trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit überdies auch Parlamentsbeschlüsse, mit denen dem Bundeskanzler bzw. einem Bundesminister das Misstrauen ausgesprochen wird. a) Koppelung der Wahl eines neuen Bundeskanzlers mit dem Ziel eines alsbaldigen Rücktritts des Gewählten Wenn ein Misstrauensantrags mit dem erkennbaren Ziel gestellt wird, dass der neu gewählte Bundeskanzler alsbald nach seiner Ernennung zurücktritt, da er nicht das (materielle) Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags besitzt, so beinhaltet ein solches Procedere in der Tat eine verfassungswidrige Umgehung des
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Art. 67 GG.58 Die Wahl dient hier lediglich der „Abwicklung“ der bisherigen Regierung, nicht aber deren Ersetzung durch eine stabile, politisch handlungsfähige neue Regierung. Der Sache nach soll hier der bisherige Amtsinhaber durch eine rein negative Mehrheit gestürzt werden. Dies steht aber im offensichtlichen Widerspruch zur ratio des Art. 67 GG. Die Chance, nach dem Rücktritt des neu gewählten Kanzlers über eine Kanzlerwahl gem. Art. 63 GG wieder zu politischer Stabilität zu gelangen, dürfte in der Regel nicht bestehen. Ist sich nämlich die den Kanzlersturz betreibende oppositionelle Mehrheit nur in der Ablehnung des bisherigen Amtsinhabers einig, wird es auch nach Art. 63 GG nicht zur Wahl eines Mehrheitskanzlers kommen. Folglich ist die Ernennung eines Minderheitskanzlers oder, noch wahrscheinlicher, die Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten gem. Art. 63 Abs. 4 GG vorprogrammiert. Letzteres begründete überdies zusätzliche verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf Art. 68 GG, da hierdurch das Recht des vor dem konstruktiven Misstrauensvotum amtierenden Bundeskanzlers zur Stellung der Vertrauensfrage und zum Betreiben der Auflösung des Bundestags beeinträchtigt würde. Die Entscheidung über die Auflösung obläge – anders als nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG – nunmehr ausschließlich dem Bundespräsidenten, obwohl es bei Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG um die Ausübung einer außergewöhnlichen Befugnis des Bundespräsidenten geht, die mit seiner ansonsten schwachen Stellung schwer vereinbar ist und deshalb von vornherein eng begrenzt sein sollte. Die Bedenken gegen eine missbräuchliche Aushöhlung des Art. 67 GG und des Art. 68 GG erfahren eine zusätzliche Verstärkung durch das Prinzip der Verfassungsorgantreue,59 das eine Beschneidung der Rechtsstellung eines Minderheitskanzlers durch andere Verfassungsorgane auf die geschilderte Weise verbietet. Der Versuch, die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Vorgehensweise mit dem Argument zu rechtfertigen, dass der Bundespräsident (wie auch das Bundesverfassungsgericht) nicht Richter über die Motive der Abgeordneten sein könne,60 überzeugt demgegenüber nicht, denn die Frage einer Verletzung der Verfassung hängt nicht von deren Beweisbarkeit ab. b) Koppelung der Wahl mit einer anschließenden auflösungsgerichteten Stellung der Vertrauensfrage durch den Gewählten Verfassungsrechtlich bedenklich61 ist es gleichermaßen, wenn der über Art. 67 GG gewählte Kanzler alsbald nach seiner Ernennung in Abstimmung mit den ihn wählenden Oppositionsabgeordneten eine „unechte“ Vertrauensfrage mit dem Ziel stellen soll, nach der intendierten Versagung des Vertrauens die Auflösung des Bun58
Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 67, Rn. 17; Pieper, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 67, Rn. 4.1; Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 67, Rn. 80; a. A. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 67, Rn. 18. 59 Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 67, Rn. 80. 60 So Oldiges, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 67, Rn. 27a. 61 Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 67, Rn. 81.
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destags durch den Bundespräsidenten zu beantragen. Bei einer solchen Vorgehensweise ist der Bundespräsident – anders als nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG – zwar nur dann zur Auflösung des Bundestags befugt, wenn der neu gewählte Bundeskanzler einen entsprechenden Antrag stellt. Zudem ist die durch den neu gewählten Bundeskanzler gestellte auflösungsgerichtete Vertrauensfrage bei isolierter Betrachtung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da er nur zum Sturz des bisherigen Bundeskanzlers und zur Herbeiführung von Neuwahlen gewählt wurde und keine politische Mehrheit hat, die ihm eine Weiterführung der Regierungsgeschäfte erlaubt. Einem solchen Minderheitskanzler ist nach heute h.M. die Stellung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage grundsätzlich erlaubt.62 Das ändert jedoch nichts daran, dass die geschilderte Koppelung der Art. 67 und 68 GG verfassungsrechtlich unzulässig ist, weil sie auf eine Umgehung beider Vorschriften hinausläuft: Auch hier geht es der Sache nach um ein mit Art. 67 GG unvereinbares destruktives Misstrauensvotum, da der neu gewählte Kanzler tatsächlich nicht das Vertrauen des Bundestags besitzt und deshalb nach dem Willen seiner Wähler nicht die Regierungsgeschäfte weiterführen, sondern nur zur Auflösung des Bundestags beitragen soll. Zudem wird dem bisherigen Amtsinhaber unter Umgehung des Art. 68 GG die Möglichkeit genommen, frei darüber zu entscheiden, ob er eine Vertrauensfrage stellen und dadurch auf die Auflösung des Bundestags hinwirken will. Auch hier verstärkt das Prinzip der Verfassungsorgantreue die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen ein solches Prozedere zusätzlich. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass auch unter Zugrundelegung der hier vertretenen Ansicht der Sturz der Regierung Schmidt durch CDU/CSU und FDP im September 198263 unter dem Aspekt des Art. 67 GG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden war. Im Moment des Kanzlersturzes stand nämlich eine echte materielle Mehrheit hinter dem neu gewählten Kanzler Kohl, und die Wahl diente auch nicht lediglich dazu, durch ihn die Vertrauensfrage stellen zu lassen, sondern bezweckte u. a. die Verabschiedung des Haushalts durch die neu gewählte Regierung. Damals stellte sich folglich lediglich das Problem, ob der neue Bundeskanzler auch noch in dem Moment, in dem er die Vertrauensfrage stellte, Mehrheitskanzler war und ob – im Falle der Bejahung dieser Frage – seine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage gegen Art. 68 GG verstieß. c) Unzulässigkeit eines unverbindlichen destruktiven Misstrauensvotums Eine unzulässige Umgehung des Art. 67 GG liegt schließlich auch dann vor, wenn dem Kanzler oder einem seiner Minister durch einen schlichten Parlamentsbeschluss das Misstrauen ausgesprochen wird. Zwar kommt einem solchen Beschluss unbestrittenermaßen keine rechtliche Bindungswirkung zu. Es griffe aber zu kurz, 62 Zur Statthaftigkeit einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage eines Minderheitskanzlers s. Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 137 ff. 63 S. hierzu Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 97 und 230.
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wenn man seine politische Sprengkraft außer Acht ließe und aus seiner mangelnden Verbindlichkeit bereits seine rechtliche Unbedenklichkeit ableitete. Dabei kann es keine entscheidende Rolle spielen, ob durch den Beschluss dem Betroffenen das Misstrauen ausgesprochen, seine Amtsführung allgemein missbilligt, ihm das Vertrauen entzogen oder er zum Rücktritt oder zur Stellung der Vertrauensfrage aufgefordert wird.64 aa) Unzulässigkeit eines gegen den Bundeskanzler gerichteten Misstrauensvotums Sowohl ein Misstrauensvotum, das nicht mit der Wahl eines neuen Bundeskanzlers einhergeht, als auch vergleichbare Maßnahmen haben erhebliche politische Bedeutsamkeit. Sie schädigen das Ansehen des Bundeskanzlers, tragen zur Destabilisierung der Regierung bei und erzeugen trotz ihrer mangelnden rechtlichen Verbindlichkeit einen politischen Druck zum Rücktritt, dem sich der Kanzler – wie die Vorkommnisse in Verbindung mit dem Sturz der Regierung Erhard in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts zeigen – jedenfalls auf Dauer nicht zu entziehen vermag. Ein solches destruktives Misstrauensvotum ist deshalb unzulässig.65 Das entspricht auch dem Willen des Parlamentarischen Rats. Bei dessen Verhandlungen wurde ein im Hauptausschuss gestellter Antrag des Abgeordneten Dr. v. Mangoldt (CDU) mit 14 gegen 4 Stimmen abgelehnt, der eine Regelung vorgesehen hatte, die dem Parlament jederzeit die Möglichkeit eröffnen sollte, dem Bundeskanzler das Misstrauen auszusprechen. Der Bundeskanzler sollte dabei aber nur dann zum Rücktritt gezwungen sein, wenn der Bundestag zugleich mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger gewählt habe. Dieser Änderungsvorschlag stieß auf scharfe Ablehnung, da er eine Durchbrechung der erarbeiteten konstruktiven Neuerung und einen bedenklichen Rückschritt darstelle. Ein solcher Antrag dürfe daher erst gar nicht zur Abstimmung gestellt werden.66 bb) Unzulässigkeit eines einem einzelnen Bundesminister gegenüber ausgesprochenen Misstrauensvotum Da Art. 67 GG in bewusster Abkehr von Art. 54 WRV ein destruktives Misstrauensvotum nicht nur gegenüber dem Bundeskanzler, sondern auch gegenüber einzelnen Bundesministern ausschließt, kann auch bei Ministern die Unbedenklichkeit 64 S. zu diesen verschiedenen Varianten eines destruktiven Misstrauensvotums Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 67, Rn. 120 ff. 65 Eingehend Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 120; grundsätzlich auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 67, Rn. 42; Müller-Franken/Uhle, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Hofmann/Henneke, GG, Art. 67, Rn. 34; Pieper, in: Epping/Hillgruber, GG; a. A. Epping, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 67, Rn. 29; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art 67, Rn. 3. 66 Vgl. Abg. Dr. Katz, HptA-Sten.Ber., S. 644; s. auch die ablehnende Stellungnahme des Abg. Dr. Katz, HptA-Sten.Ber. S. 44 zu einem unverbindlichen destruktiven Misstrauensvotum, da dieses „die moralische Position der Bundesregierung erschüttern (könnte), ohne auch nur das geringste zu nützen“.
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eines solchen Votums nicht allein damit begründet werden, dass ihm unbestrittenermaßen keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt. Maßgeblich ist vielmehr auch insoweit die destabilisierende Wirkung, die einem derartigen Parlamentsbeschluss wegen seiner politischen Wirkungen zukommt. Da dieser Beschluss der Sache nach zugleich eine Aufforderung an den Bundeskanzler beinhaltet, dem Bundespräsidenten die Entlassung eines nicht von sich aus rücktrittswilligen Bundesministers gem. Art. 64 GG vorzuschlagen, stellte ein solches Misstrauensvotum überdies das materielle Kabinettbildungsrecht des Bundeskanzlers in Frage und erschütterte damit zugleich die Autorität des Bundeskanzlers. Obwohl in der politischen Praxis von der Zulässigkeit solcher Misstrauensvoten ausgegangen wird, bestehen deshalb gegen sie erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken.67 Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist ferner eine vom Bundestag geforderte Streichung eines Ministergehalts.68 Sie läuft auf eine Umgehung des Art. 67 GG hinaus und ist überdies mit § 11 BMinG unvereinbar. Die dort vorgesehenen Ministerbezüge werden durch Art. 66 GG garantiert, so dass selbst der einfache Gesetzgeber nicht in der Lage wäre, die Amtsbezüge zu streichen. IV. Die Vertrauensfrage des Art. 68 GG Prägende Wirkung für das bundesrepublikanische parlamentarische Regierungssystem kommt neben dem Art. 67 GG auch Art. 68 GG zu. Letzterer stellt eine wichtige Ergänzung des Art. 67 GG dar. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht: Zum einen leistet er einen Beitrag zur Förderung der Regierungsstabilität, indem die Stellung der Vertrauensfrage mit der Drohung des Bundeskanzlers verbunden ist, bei Versagung des Vertrauens die Auflösung des Bundestags zu beantragen. Zum anderen räumt Art. 68 GG dem Bundeskanzler die Befugnis ein, auf eine Auflösung des Bundestags und Neuwahlen hinzuwirken, wenn er die parlamentarische Mehrheit verloren hat, die für die Durchsetzung des Regierungsprogramms erforderlich ist. Damit eröffnet sich die Chance, durch die Herbeiführung von Neuwahlen eindeutige politische Mehrheitsverhältnisse wiederherzustellen und dadurch eine politisch handlungsfähige Regierung zu etablieren. Von der Möglichkeit, die Parlamentsmehrheit durch eine Vertrauensfrage auf Regierungskurs zu bringen bzw. sich die Gefolgschaft der Regierungsfraktionen zu sichern, wurde bekanntermaßen bisher nur zweimal Gebrauch gemacht.69 Mit der am 5. Februar 1982 gestellten (echten) Vertrauensfrage wollte der damalige Bundes67 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 67, Rn. 47 f.; Müller-Franken/Uhle, in: SchmidtBleibtreu/Klein/Hofmann/Henneke, Art. 67, Rn. 34; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 67, Rn. 31; Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 67, Rn. 126 mit eingeh. Nachw. in Fn. 170; a. A. Busse, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 67, Rn. 21; Hermes, in: Dreier, GG, Art. 67, Rn. 21; Mager, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 67, Rn. 15. 68 Dazu näher Schenke, in: BK (Drittbearbeitung), Art. 67, Rn. 123 f. 69 S. zu den bisher gestellten Vertrauenfragen Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 94 ff.
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kanzler Helmut Schmidt seine politische Handlungsfähigkeit wahren und das Zerbrechen der damaligen Koalitionsregierung von SPD und FDP verhindern. Obwohl dem Kanzler wunschgemäß das Vertrauen ausgesprochen wurde, konnte die Vertrauensfrage ihr Ziel, eine politische Mehrheit für den Kanzler zu sichern, nur kurzfristig erreichen. Die von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 16. November 2001 gestellte Vertrauensfrage, die der Kanzler mit der Entscheidung des Bundestags über den innerhalb der Regierungskoalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen umstrittenen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan verbunden hatte, führte dazu, dass dem Kanzler das erbetene Vertrauens ausgesprochen und damit zugleich der Einsatz der Bundeswehr gebilligt wurde. Die Stabilität der Regierungskoalition bestand hier bis zum Ende der Legislaturperiode. Drei andere Vertrauensfragen, die durch Willy Brandt am 22. September 1972, durch Helmut Kohl am 17. Dezember 1982 und durch Gerhard Schröder am 1. Juli 2005 gestellt wurden, besaßen demgegenüber einen ganz anderen Charakter. Anders als mit der Vertrauensfrage Helmut Schmidts und der 2001 gestellten Vertrauensfrage Gerhard Schröders wurde mit ihnen nicht die Bejahung, sondern die Verneinung des Vertrauens erstrebt, um auf diese Weise den Weg zu einer Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten freizumachen. Sie waren damit – anders als „echte“ Vertrauensfragen, bei denen es dem Kanzler um die Erteilung des Vertrauens geht – von vorneherein auf eine Ablehnung der Vertrauensfrage und eine spätere Auflösung gerichtet. Bei ihnen war damit die Frage zu beantworten, ob sie noch durch Art. 68 GG gedeckt waren. Das wird von der heute h.M.70 zurecht dann bejaht, wenn der Bundeskanzler unter Anerkennung seiner diesbezüglichen Entscheidungsprärogative davon ausgehen kann, über keine politische Mehrheit im Bundestag zu verfügen, er also ein Minderheitskanzler ist. In einem solchen Fall besteht ein nicht zu leugnendes Bedürfnis, im Einklang mit der ratio des Art. 68 GG wieder stabile Mehrheitsverhältnisse zu schaffen. Wenn sich die Parlamentsmehrheit nur in der Ablehnung des amtierenden Bundeskanzlers und seiner Regierung einig ist und ihr deshalb der Weg des Art. 67 GG versperrt ist, lässt sich diesem Interesse am besten durch Heranziehung des Art. 68 GG Rechnung tragen. Der noch erwägbare Weg eines Rücktritts und einer anschließenden Neuwahl gem. Art. 68 GG vermag schon deshalb nicht in gleicher Weise zu überzeugen, weil er den Kanzler nötigte, das Scheitern seiner Regierung zu offenbaren – was für ihn nicht erwünscht wäre und von ihm deshalb oftmals hinausgeschoben würde. Darüber hinaus stellte diese Lösung einen langwierigen und unnötigen Umweg bei der Herbeiführung der Auflösung des Bundestags dar. Eine Parlamentsmehrheit, die nur in der Ablehnung des bisherigen Bundeskanzlers einig wäre, wählte nur einen Minderheitskanzler, weswegen erst in der dritten Wahlphase eine Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten möglich wäre. Aus diesen 70 Epping, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. II, 6. Aufl. 2011, Art. 68, Rn. 12 ff.; Mager, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. I, Art. 68, Rn. 9 ff.; Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 248 mit eingehenden Nachweisen in Fn. 248.
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Gründen verdient ein Vorgehen gem. Art. 68 GG, bei dem der Bundeskanzler die Initiative zur Auflösung – anders als nach Art. 63 Abs. 4 GG – nicht aus der Hand gibt, den Vorzug. Bei einem Vorgehen gem. Art. 68 GG kann der Bundeskanzler schon im Interesse seiner politischen Glaubwürdigkeit nicht gezwungen werden, den Eindruck zu erwecken, er bemühe sich trotz der evidenten Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens ernsthaft, das Unmögliche möglich zu machen, indem er den Bundestag primär um eine positive Beantwortung der Vertrauensfrage ersuchte, die nichts am Fehlen seiner politischen Handlungsfähigkeit änderte. Wenn man dem Bundeskanzler dies zumutete, ergäbe sich für ihn bei der hier vorprogrammierten Ablehnung seines Vertrauensantrags ein zusätzlicher politischer Schaden, der seine Bereitschaft, vom Instrument des Art. 68 GG Gebrauch zu machen, zu mindern drohte. Die mit Art. 68 GG verfolgte Absicht, einer Bundestagsmehrheit, die nur in der Ablehnung des amtierenden Bundeskanzlers einig ist, eine Chance zu bieten, durch Versagung des Vertrauens auf die Auflösung des Bundestags und Neuwahlen mit der Chance der Schaffung stabiler politische Mehrheitsverhältnisse hinzuwirken, würde damit in Frage gestellt. Die Zulässigkeit einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage durch einen Minderheitskanzler beinhaltet aus diesem Grund sogar eine zwingende Ergänzung des Art. 67 GG. Deshalb war die 1972 durch Willy Brandt gestellte auflösungsgerichtete Vertrauensfrage, bei der der Bundeskanzler aufgrund einer eingetretenen politischen Pattsituation seine Handlungsfähigkeit eingebüßt hatte, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Vielmehr entsprach sie der Teleologie des Art. 67 GG. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen jedoch, wenn der Bundeskanzler trotz einer seine Politik unterstützenden Parlamentsmehrheit eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage stellt.71 Sie gewährte dem Bundeskanzler – um an eine Formulierung C. Schmitts anzuknüpfen – eine „überlegale Prämie auf den legalen Machtbesitz“, indem der Bundeskanzler in einem ihm politisch opportun erscheinenden Moment die Weichen in Richtung auf Neuwahlen stellen könnte. Ließe man eine solche Vorgehensweise erst einmal zu, fiele es dem Bundespräsidenten politisch schwer, sich einem solchen vom Bundeskanzler gewollten Appell an das Volk zu widersetzen. Die Zulassung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage erweckte aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlich gebotenen Chancengleichheit politischer Parteien (Art. 3 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 21 GG) verfassungsrechtliche Zweifel, sondern auch vor dem Hintergrund einer durch Art. 39 GG statuierten grundsätzlich vierjährigen Amtsperiode sowie im Hinblick auf den systematischen Zusammenhang des Art. 68 GG mit Art. 67 GG und Art. 81 GG. Eine durch eine solche Vertrauensfrage eröffnete Möglichkeit, an das Volk zu appellieren, veränderte zudem das repräsentativ-demokratische Verfassungsgefüge und reicherte das Grundgesetz mit plebiszitären Elementen an, die diesem sonst fremd sind. Vor allem wäre eine von einem Mehrheitskanzler initiierte auflösungsgerichtete Vertrauensfrage nicht mit dem Telos des Art. 68 GG in Einklang zu bringen, dem es um die Sicherung 71 Dazu näher Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 142 ff. mit eingehenden Nachweisen.
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einer handlungsfähigen Regierung geht. Diese Handlungsfähigkeit ist bei einem Mehrheitskanzler vorhanden, während sich bei über Art. 68 GG herbeigeführten Neuwahlen die Möglichkeit nicht ausschließen lässt, dass diese zu instabileren politischen Mehrheitsverhältnissen im Parlament führt. Politische Stabilität würde dann durch politische Instabilität ersetzt. Die Gründe, die bei einer von einem Minderheitskanzler initiierten auflösungsgerichteten Vertrauensfrage für die Zulässigkeit einer unechten Vertrauensfrage sprechen, treffen damit dort, wo ein Kanzler über eine politische Mehrheit verfügt, gerade nicht zu. Ließe man auch in diesem Fall ein auf eine Parlamentsauflösung zielendes Gebrauchmachen von Art. 68 GG zu, so stünde dies ferner im Widerspruch zu der durch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes eindeutig belegbaren Auflösungsfeindlichkeit des Verfassungsgebers.72 Jenem ging es vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen in der Weimarer Republik darum, die Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten auf eng begrenzte krisenhafte Ausnahmesituationen zu begrenzen. Eine solche Situation liegt aber nicht vor, wenn der Kanzler über eine Parlamentsmehrheit verfügt, die seine Regierungsfähigkeit sichert. Nur beim Vorliegen krisenhafter Ausnahmesituationen wird auch das politische Ermessen verständlich, das Art. 68 GG dem Bundespräsidenten in Bezug auf die Entscheidung über die Auflösung einräumt. Bei einer Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift durch unbegrenzte Zulassung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage würde dem Bundespräsidenten hingegen eine rechtliche Befugnis eingeräumt, der er im Hinblick auf die ihm vom Verfassungsgeber ansonsten nur eingeräumte schwache Rechtsstellung institutionell nicht gewachsen wäre. Die h.M.73 geht demgemäß auch heute zurecht davon aus, dass ein Bundeskanzler, der davon ausgehen kann, eine politische Mehrheit im Bundestag hinter sich zu haben, nicht befugt ist, eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage zu stellen, und dass die Nichtbeachtung dieser Beschränkung des Art. 68 GG zur Verfassungswidrigkeit nachfolgender, auf die Auflösung zielender Akte des mehrgliedrigen Verfahrens des Art. 68 GG führt. Auch das BVerfG74 teilt grundsätzlich diesen Standpunkt. Es stellt ihn aber im Ergebnis dadurch in Frage, dass es dem Bundeskanzler bei der Beurteilung seiner politischen Handlungsfähigkeit einen sehr weitreichenden Beurteilungsspielraum zubilligt. Überdies kann er sich auf eine verdeckte Minderheitssituation berufen, die von ihm nicht zu offenbaren ist. Deren tatsächliches Vorliegen zu überprüfen, seien weder der Bundespräsident noch das Bundesverfassungsgericht befugt. 72
S. hierzu ausführlich Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 157 ff. S. z. B. Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 749 ff.; Epping, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 3. Aufl. 2011, Art. 68, Rn. 12 ff.; Leisner, in: Sodan, GG, 3. Aufl. 2016, Art. 68, Rn. 2; Mager, in: v. Münch/Kunig, Art. 68, Rn. 9 ff.; Müller-Franken/Uhle, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Hofmann/Henneke, Art. 68, Rn. 21; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 68, Rn. 1 und 3; Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Rn. 142 mit eingehenden Nachweisen in Fn. 248. 74 BVerfGE 62, 1, 42 f.; 114, 153; zustimmend Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 38 III 1, S. 332. 73
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Hieran ist zwar richtig, dass dem Bundeskanzler bei der Einschätzung der politischen Mehrheitsverhältnisse wegen deren Komplexität ein Beurteilungsspielraum zugebilligt werden muss. Seine Einschätzung kann demgemäß nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft werden.75 Zu weit geht es aber, wenn das BVerfG – hiervon abweichend – sich nur befugt sieht zu überprüfen, ob die Einschätzung der Mehrheitsverhältnisse durch den Bundeskanzler evident fehlerhaft ist.76 Eine verdeckte Minderheitssituation zur Rechtfertigung der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage zu bemühen, droht das Tor für eine Auflösung des Bundestags jedenfalls bei knappen Mehrheitsverhältnissen trotz nach außen manifester mehrheitlicher Unterstützung des Kanzlers durch den Bundestag zusätzlich weit zu öffnen und die Umgehung der auch vom BVerfG anerkannten Barrieren gegen eine solche Vertrauensfrage erheblich zu erleichtern. Zu begrüßen ist es jedoch, dass das BVerfG schon in seiner 1983 ergangenen Entscheidung darauf hinwies, dass der Umstand, dass sich während einer Legislaturperiode für den Bundestag neue Fragen von staatsfundamentaler Bedeutung stellen, genauso wenig eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage zu legitimieren vermag wie der Umstand, dass der die Vertrauensfrage stellende Bundeskanzler sein Amt erst aufgrund eines konstruktiven Misstrauensvotums erlangt hat. Die Auffassung, für die Lösung neu aufgetretener Fragen fehle es dem Bundestag an einem Mandat,77 beruht auf der dem englischen Recht entnommenen und selbst hier nicht unumstrittenen Mandatstheorie. Ihrer Übertragung auf das deutsche Recht steht Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG im Wege, demzufolge der Abgeordnete nicht an Aufträge und Weisungen gebunden ist. Schon aus diesem Grund kann das Fehlen eines entsprechenden Wählerauftrags verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden. Von daher begegnet es freilich Bedenken, wenn Schröder seine 2005 gestellte auflösungsgerichtete Vertrauensfrage mit dem Argument zu rechtfertigen versuchte, „tatsächlich geht es um die Möglichkeit des Souveräns, die Grundrichtung der Politik selbst zu bestimmen“. Die Ansicht des BVerfG, es habe sich hier nur um eine „rhetorische Floskel“78 gehandelt, der als solcher für die verfassungsrechtliche Bewertung der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage keine Bedeutung zukomme, konnte schwerlich überzeugen. Voll zuzustimmen ist dem BVerfG79 hingegen, wenn es in seiner Auflösungsentscheidung von 1983 die in einem Minderheitsvotum des Senatsvorsitzenden Zeidler80 vertretene Ansicht zurückwies, dass einem Bundeskanzler, der durch ein konstruktives Misstrauensvotum an die Macht gelangte, wegen der Bedeutung der Bun75
Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 213. BVerfGE 68, 2; 52; 114, 161; s. hierzu näher kritisch Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 213 ff.; ebenso Schlaich, in: Festschrift für Bachof, S. 321, 335; Umbach, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz Bd. II, 2002, Art. 68, Rn. 48 f. 77 Näher dazu Schenke, in: BK (Viertbearbeitung), Art. 68, Rn. 185 ff. 78 BVerfGE 114, 166. 79 BVerfGE 62, 43. 80 Zeidler, BVerfGE 62, 67 ff. 76
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destagswahlen als Kanzlerwahlen und einem sich daraus für ihn ergebenden Legitimitätsdefizit eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage erlaubt sein müsse. Die Auffassung, wegen des Charakters der Bundestagswahlen als Kanzlerwahlen habe sich in Bezug auf Art. 68 GG ein Verfassungswandel vollzogen, durch welchen der ursprüngliche Anwendungsbereich des Art. 68 GG erweitert wurde und deshalb auch dem seiner Mehrheit gewissen, aber durch ein Misstrauensvotum ins Amt gelangten Bundeskanzler die Stellung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage erlaubt sein müsse, vermag nicht zu überzeugen. Ihr ist nicht nur entgegenzuhalten, dass es unter Zugrundelegung der sonst hierfür zu fordernden Voraussetzungen an einem Verfassungswandel fehlt. Vor allem aber stellte die Bejahung eines solchen Verfassungswandels die zentrale Bedeutung in Frage, die dem Art. 67 GG für das parlamentarische Regierungsprinzip zukommt, wenn man bei Wahl eines Bundeskanzlers durch ein konstruktives Misstrauensvotum von einer neben diese tretenden, erst durch Neuwahlen zu vermittelnden demokratischen Legitimität ausginge. Deshalb ist dem Mehrheitsvotum des Bundesverfassungsgerichts voll zu folgen, wenn es in diesem Zusammenhang ausführt: „Nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität. Eine andere Auffassung rührt an dem Sinn des demokratischen Grundprinzips der freien Wahl und des repräsentativen freien Mandats der Abgeordneten im Sinne des Art. 38 Abs. 1 GG“.81 V. Resümee Als Ergebnis ist festzuhalten, dass das Grundgesetz durch eine konsequente Umsetzung des parlamentarischen Regierungssystems gekennzeichnet ist. Die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament, die dafür charakteristisch ist, wird schon an der Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag deutlich und setzt sich nach der Regierungsbildung fort, indem die Bundesregierung bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben vielfach auf die Mitwirkung des Bundestags angewiesen ist und zudem einer durch vielfältige Instrumente abgesicherten parlamentarische Kontrolle unterliegt. Soweit die Regierung das Vertrauen des Bundestags verloren hat, kann sie durch Wahl eines neuen Bundeskanzlers, für die es der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags bedarf, gestürzt werden. Hat der Bundeskanzler zwar das Vertrauen der Mehrheit des Bundestags verloren, ist jener aber nicht in der Lage, einen neuen Bundeskanzler zu wählen, beinhaltet Art. 68 GG eine bedeutsame Ergänzung des in Art. 67 GG statuierten konstruktiven Misstrauensvotums. Zur Wiederherstellung stabiler parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse und zur Herbeiführung einer handlungsfähigen Bundesregierung, die nur noch durch Neuwahlen möglich erscheint, erlaubt Art. 68 GG einem Minderheitskanzler – anders als einem Bundeskanzler, der die Mehrheit des Bundestags hinter sich weiß – die Stellung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage.
81
BVerfGE 62, 1, 43.
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Das parlamentarische Regierungssystem hat sich denn auch in den knapp siebzig Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik insgesamt bewährt und die an es geknüpften Erwartungen erfüllt. Die Wahl des Bundeskanzlers fand bisher jeweils schon im ersten Wahlgang statt. Die Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Bundestags haben sich trotz des institutionell angelegten Wissens- und Informationsvorsprungs der Bundesregierung als prinzipiell wirksam erwiesen. Daran hat auch die Verlagerung von nationalen Hoheitsbefugnissen auf die Europäische Union und ein daraus resultierender Machtzuwachs der in den Organen der EU vertretenen Regierungsmitglieder im Verhältnis zum Bundestag nichts wesentlich geändert. Art. 23 GG und die hierzu ergangenen Ausführungsgesetze räumen dem Bundestag (teilweise auch dem Bundesrat) Handhaben zur Einflussnahme auf das Abstimmungsverhalten der Regierungsmitglieder ein. Das in Art. 67 GG statuierte konstruktive Misstrauensvotum leistete einen Beitrag zur Stabilität der Bundesregierung, auch wenn nicht zu übersehen ist, dass diese Stabilität zu einem nicht unwesentlichen Teil durch die mittels Sperrklauseln verhinderte Zersplitterung des Parteienwesens sowie durch das bisherige Vorhandensein zweier großer Volksparteien begünstigt wurde. Das konstruktive Misstrauensvotum hatte bisher nur einmal, im Jahr 1982, Erfolg. Andererseits haben die hohen Hürden, die Art. 67 GG für den Sturz einer Regierung aufstellt, bisher auch nicht zu einer gleichfalls problematischen Perpetuierung einer nicht mehr handlungsfähigen Regierung geführt. Ihr vermag eine verfassungsrechtlich zulässige auflösungsgerichtete Vertrauensfrage eines Minderheitskanzlers entgegenzuwirken. Sie ermöglichte es Bundeskanzler Brandt, eine 1972 nach Verlust der parlamentarischen Mehrheit eingetretene Regierungskrise durch Neuwahlen zu beheben. Bei den 1983 und 2005 gestellten auflösungsgerichteten Vertrauensfragen erschien es zwar fraglich, ob die sie stellenden Bundeskanzler tatsächlich das Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags verloren hatten und ob sie damit verfassungsrechtlich zulässig waren. Die seinerzeit durchgeführten Neuwahlen führten aber – obschon 2005 erst nach langen Wehen – zur Bildung neuer handlungsfähiger Regierungen. Trotz der aufgezeigten, insgesamt positiv ausfallenden Bilanz des grundgesetzlichen parlamentarischen Regierungssystems ist dieses freilich nicht frei von zukünftigen Gefährdungen. Eine solche drohte jedenfalls dann, wenn – wie es sich in der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2005 im praktischen Ergebnis bereits anbahnte – der Weg zu einer Auflösung des Bundestags noch weiter geöffnet würde. Ginge dies – wie es in dem Minderheitsvotum der früheren Bundesverfassungsrichterin Lübbe-Wolff bereits vertreten wurde – jedenfalls soweit, eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage zukünftig voraussetzungslos zuzulassen, begründete dies für den Bundeskanzler nicht nur die Möglichkeit, abweichend von Art. 39 GG einen für seine Partei günstigen Wahltermin zu bestimmen und damit die Opposition zu schwächen. Eine solche Befugnis implizierte auch eine unter dem Aspekt des parlamentarischen Regierungsprinzips problematische Stärkung der Stellung der Bundesregierung zu Lasten des Bundestags. Dem Bundeskanzler würde damit der Sache nach – in Umkehrung des parlamentarischen Regierungsprinzips und des Art. 67 GG – die Möglichkeit eingeräumt, einem nicht willfährigen Bundestag sein Vertrau-
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en zu entziehen. Damit böte sich dem Bundeskanzler ein Disziplinierungsmittel, mit dessen Einsatz er die innerparteiliche Demokratie und die durch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten untergraben und die Machtbalance zwischen Bundesregierung und Bundestag empfindlich stören könnte. Bei knappen Mehrheitsverhältnissen genügte es jedenfalls bereits, wenn wenige Abgeordnete der Regierungsfraktionen dem Kanzler wunschgemäß das Vertrauen versagten. Die Möglichkeit des Bundespräsidenten, sich einem Auflösungsantrag zu widersetzen, dürfte bei dessen im Übrigen schwacher Rechtsstellung nicht besonders hoch zu veranschlagen sein, zumal es ihm politisch schwerfallen müsste, sich einem vom Bundeskanzler demokratierechtlich begründeten Appell an das Volk – hält man diesen für zulässig – zu widersetzen. Allein die Existenz einer voraussetzungslosen „unechten“ Vertrauensfrage mit der in ihr enthaltenen latenten Drohung, auf eine Parlamentsauflösung hinzuwirken, implizierte jedenfalls, selbst wenn hiervon kein Gebrauch gemacht würde, eine Machtverschiebung zugunsten des Kanzlers. Stärkte die Zulässigkeit einer voraussetzungslosen auflösungsgerichteten Vertrauensfrage die Stellung des Bundeskanzlers gegenüber dem Bundestag, so darf doch auf der anderen Seite nicht außer Acht gelassen werden, dass aus ihr auch ein Handlungsdruck für den Bundeskanzler resultieren könnte und er sich u. U. sogar politisch genötigt sähe, auf eine Auflösung des Bundestags hinzuwirken. Bei sich neu stellenden, politisch umstrittenen Fragen drängte sich bei unbegrenzter Zulassung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage eine von der öffentlichen Meinung, aber auch von der parlamentarischen Opposition an den Kanzler gestellte Forderung auf, an das Volk zu appellieren und dessen Votum einzuholen. Damit würde ein dem Grundgesetz fremdes plebiszitäres Element in das grundgesetzliche Verfassungsgefüge eingefügt und das bewusst repräsentativ demokratische System des Grundgesetzes trotz politischer Handlungsfähigkeit der Regierung beeinträchtigt. Probleme können dem parlamentarischen Regierungssystem zukünftig aber auch aus einer Parteienzersplitterung und einer hiermit Hand in Hand gehenden Schrumpfung des Dualismus zwischen zwei großen Volksparteien erwachsen. Dieser politische Dualismus hatte die politische Landschaft der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit gekennzeichnet und günstige Voraussetzungen für eine effektive parlamentarische Opposition geboten. Entfällt er in Konsequenz einer veränderten Parteienlandschaft, die die Bildung einer großen Koalition nahelegt, ja u. U. sogar erzwingt, droht die für das parlamentarische Regierungssystem essentielle Kontrolle der Regierung durch die parlamentarische Opposition beeinträchtigt zu werden, wenn Letzterer im Hinblick auf die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag wichtige Kontrollinstrumente – wie die Befugnis zur Beantragung eines Untersuchungsausschusses oder zur Initiierung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG – nicht zur Verfügung stehen. Hier spricht viel dafür, die Stellung der Oppositionsfraktionen zu stärken und ihnen entsprechende Initiativbefugnisse gesetzlich einzuräumen. Soweit man, wie das
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BVerfG, eine solche Stärkung als nicht bereits durch das parlamentarische Regierungssystem gerechtfertigt ansieht, sind jedenfalls in diese Richtung zielende Verfassungsänderungen erwägbar.
Sozialbindung des Eigentums Von Foroud Shirvani, Bonn I. Einleitung Die Frage nach dem Proprium des „Eigentums“ ist nicht nur ein Thema der juristischen Dogmatik, sondern Ausdruck des Verständnisses über die Verfasstheit der existierenden oder anzustrebenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Das wird deutlich, wenn man sich die zahllosen Beschreibungen des Eigentums vor Augen führt, die seit über 2000 Jahren präsentiert werden und auf zum Teil diametral entgegengesetzten Staats- und Gesellschaftsvorstellungen beruhen: So kann man das Eigentum als „Verderber der Moral und Gegenspieler Gottes“, als „Geißel eines übersteigerten Individualismus“, als „Macht und Herrschaftsverhältnis“, aber auch als „geronnene Freiheit“ oder einfach nur als „Faktor des menschlichen Glücks“ deuten.1 Das Grundgesetz hat sich bekanntlich für ein freiheitliches Eigentumsverständnis entschieden. Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes steht in der Tradition der geistesgeschichtlichen Ideen der Aufklärungsphilosophie und der Verfassungen der Neuzeit, die die Eigentumsgewährleistung als Menschenrecht erachteten und von einer starken Interdependenz zwischen Freiheit und Eigentum ausgingen.2 Das in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG verankerte Eigentumsgrundrecht stellt, wie der Jubilar vor Jahren treffend formuliert hat, eine „Fundamentalgarantie“3 dar und ist ein „Grundpfeiler der freiheitlich-sozialen Wirtschaftsordnung des Grundgesetzes“4. Zum Kern des grundgesetzlichen Eigentumsverständnisses gehört das Recht eines jeden, sein Eigentum zu behalten, zu nutzen oder darüber nach eigener Willensentscheidung zu verfügen.5 Das Grundgesetz begnügt sich allerdings nicht mit der freiheitlichen Verbürgung des Eigentumsrechts, sondern erweitert in Art. 14 Abs. 2 das verfassungsrechtliche Bild des Eigentums um eine zusätzliche Grundierung: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Damit knüpft das Grundgesetz an die Vorgängernorm in Art. 153 Abs. 3 WRV an und hebt die „Sozialpflichtigkeit“ oder „Sozialbindung“ des Eigentums auf das konstitutionelle Po1
Vgl. Hösch, Eigentum und Freiheit, 2000, S. 79 f. m. w. N. Vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rn. 1. 3 Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1525); s. auch ders., in: Brinkmann/Shirvani (Hrsg.), Privatrecht und Eigentumsgrundrecht, 2016, S. 173 (179). 4 Schmidt-Preuß, AG 1996, 1 (1). 5 Shirvani, NZS 2014, 641 (641). 2
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dest.6 Nicht zuletzt weil Art. 14 Abs. 2 GG knapp und apodiktisch formuliert ist, wirft er einige Fragen auf, die Gegenstand der verfassungsrechtlichen wie auch rechtspolitischen Diskussion sind: So kann man fragen, ob es sich bei Art. 14 Abs. 2 GG um hehre Verfassungslyrik, um einen Appell an das Verantwortungsbewusstsein eines idealtypischen Eigentümers, der in der Praxis eine seltene Spezies ist, oder um bindendes Verfassungsrecht handelt. Auch über die Frage, wer Adressat der Sozialbindungsklausel ist, wie weit die Sozialbindung des Eigentums eigentlich reicht und wieviel am Ende von der Privatnützigkeit des Eigentums übrigbleiben muss, lässt sich trefflich streiten. Diese Fragen sind nicht nur von theoretischer, sondern auch von rechtspraktischer Bedeutung, wie aktuelle Beispiele zeigen. Genannt seien etwa die sog. „Mietpreisbremse“ und die Beschlagnahme von Immobilien für die Unterbringung von Flüchtlingen. Diese Beispiele werden weiter unten näher erläutert. II. Verfassungsgeschichtliche Vorläufer der Sozialbindungsklausel Die Verfassungen der deutschen Territorialstaaten im 19. Jahrhundert enthielten keine Bestimmungen über die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, obschon die Idee der gesellschaftlichen Ausrichtung des Eigentums zu jener Zeit durch namhafte Rechtsgelehrte, wie etwa durch Rudolph von Jhering, propagiert wurde.7 Erst die Weimarer Reichsverfassung nahm die Sozialbindungsklausel in den Verfassungstext auf. Während Art. 153 Abs. 1 S. 1 WRV die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Eigentums auf den Punkt brachte, formulierte Art. 153 Abs. 3 WRV in feierlichem Ton: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.“ Art. 153 Abs. 3 WRV wurde durch weitere Vorschriften flankiert, wie etwa diejenige über eine sozialgerechte Bodenreform oder die Sozialisierung privatwirtschaftlicher Unternehmen (Art. 155 f. WRV).8 Mit diesen und anderen Bestimmungen hatte sich der Weimarer Verfassungsgeber für eine Kompromisslösung zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ansätzen entschieden und einen „Mittelkurs zwischen Höchstforderungen“ des linken und rechten politischen 6 Vgl. dazu etwa Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 14 Rn. 66 ff.; Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 14 (2010) Rn. 305 ff.; Kimminich, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 14 (1992) Rn. 151 ff.; Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 2225 ff.; Leisner, Sozialbindung des Eigentums, 1972, S. 43 ff.; Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, 1996, S. 433 ff.; Henning, Der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, 2014, S. 286 ff.; Weiß, BayVBl. 2000, 417 ff. 7 Vgl. Jhering, Der Zweck im Recht, 1. Bd., 3. Aufl. 1893, S. 523 ff., 526 f.; s. ferner Schwab, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975, S. 65 (105 ff.); Wilhelm, in: Coing/Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. IV, 1979, S. 19 (27 ff.); Thormann, Abstufungen in der Sozialbindung des Eigentums, 1996, S. 46 ff. 8 Vgl. auch Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, 1975, S. 254; Scheuner, in: ders./ Küng (Hrsg.), Der Schutz des Eigentums, 1966, S. 5 (32).
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Spektrums gewählt.9 Nach herrschender Lesart sollte Art. 153 Abs. 3 WRV eine „Richtschnur“ sein, von der sich der Gesetzgeber bei der privat- oder öffentlichrechtlichen Regelung des Eigentums leiten lassen sollte. Unmittelbare Rechtspflichten für den Eigentümer sollten daraus nicht resultieren.10 In der gerichtlichen Praxis, insbesondere in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, wurde Art. 153 Abs. 3 WRV kaum relevant.11 Das hing damit zusammen, dass die Judikatur des Reichsgerichts sich auf die Enteignungsvorschrift der Weimarer Reichsverfassung (Art. 153 Abs. 2) fokussierte und diese Vorschrift gegenüber dem eigentumsbegrenzenden Gesetzgeber in Stellung brachte.12 Als vage Richtschnur für den Gesetzgeber konnte die Sozialbindungsklausel keine nennenswerte praktische Bedeutung entfalten.13 Ungeachtet dessen orientierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem die vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen am Weimarer Vorbild.14 In den 1947 verabschiedeten Verfassungen von Rheinland-Pfalz und Saarland finden sich etwa folgende Sätze: „Eigentum verpflichtet gegenüber dem Volk. Sein Gebrauch darf nicht dem Gemeinwohl zuwiderlaufen.“15 Die Hessische Verfassung von 1946 bestimmt in Art. 45 Abs. 2: „ Das Privateigentum verpflichtet gegenüber der Gemeinschaft. Sein Gebrauch darf dem Gemeinwohl nicht zuwiderlaufen.“ Der Parlamentarische Rat 9 Vgl. Kühne, in: FS v. Brünneck, 2011, S. 37 (40, 48); zu F. Naumanns Diktum über den „Verständigungsfrieden zwischen Kapitalismus und Sozialismus“, vgl. Kühne, ebd., S. 38 m. w. N.; s. ferner auch Shirvani, in: Depenheuer/Shirvani (Hrsg.), Die Enteignung, 2018, S. 25 (42). 10 Vgl. RG, Juristische Rundschau 1926, Bd. II Die Rechtsprechung, Sp. 532 (533); Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933 (ND 1960), Art. 153 Anm. 16; Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung, 3. Aufl. 1928, Art. 153 Anm. 10; Schelcher, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 3, 1930, S. 196 (246) spricht lediglich von einem „Appell“ an den Gesetzgeber. A. A. Wolff, in: Festgabe Kahl, 1923, Teil IV, S. 1 (10 f.), der der Vorschrift auch konkrete Pflichten entnimmt. 11 Vgl. allerdings RG, Juristische Rundschau 1926, Bd. II Die Rechtsprechung, Sp. 532 (533): Art. 153 Abs. 3 WRV beinhalte zwar nur Richtlinien für die Gesetzgebung, sei aber bei der Feststellung der Grenzen von Treu und Glauben und unerlaubter Rechtsausübung zu berücksichtigen; s. ferner RGZ 132, 69, 76. Vgl. zum Ganzen auch Böhmer, Der Staat, 24 (1985), 157 (188); ders., NJW 1988, 2561 (2571); E. Stein, in: FS G. Müller, 1970, S. 503 (512 f.); Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964, S. 343 f. 12 Vgl. zur Judikatur des Reichsgerichts Weber, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte II, 1954, S. 331 (338 ff.); Scheuner, in: ders./Küng (Fn. 8), S. 5 (38 ff.); Shirvani, in: Depenheuer/Shirvani (Fn. 9), S. 25 (46 ff.). 13 Vgl. auch die (knappen) Kommentierungen dieser Vorschrift, z. B. von Anschütz (Fn. 10), Art. 153 Anm. 16; Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 8. Aufl. 1931, Art. 153 Anm. 6; Poetzsch-Heffter (Fn. 10), Art. 153 Anm. 10; s. ferner E. Stein, in: FS G. Müller (Fn. 11), S. 503 (512 f.); v. Brünneck, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, 1984, S. 28. Zu Abgrenzungsansätzen zwischen Enteignung und Sozialbindung in der Weimarer Zeit vgl. Leisner (Fn. 6), S. 27 ff. 14 Vgl. zum Folgenden auch Shirvani, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VIII, 2017, § 239 Rn. 80. 15 Art. 60 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 51 Abs. 1 Verf. Saarland.
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hatte Art. 153 Abs. 3 WRV und die Regelungen in den Landesverfassungen im Blick, als er in Art 14 Abs.2 S. 1 den kürzesten Satz des Grundgesetzes formulierte:16 „Eigentum verpflichtet“. Dieser Satz sollte nach Auffassung des Vorsitzenden des Grundsatzausschusses Hermann von Mangoldt (CDU) eine „Grundpflicht“ hervorheben und das „soziale Eingeordnetsein des Eigentums“ zum Ausdruck bringen.17 Derjenige, der das Eigentum verwalte, solle „es so verwalten, daß er damit zu den Zielen der Gesamtheit“ beitrage.18 Anders als in der Weimarer Reichsverfassung wurde die Sozialbindungsklausel im Anschluss an die Vorschrift über die Inhaltsund Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) positioniert. Das hat, wie noch zu zeigen sein wird, auch Konsequenzen für die Auslegung der Sozialbindungsklausel.
III. Die Sozialbindungsklausel: eine Standortbestimmung Die Sozialbindungsklausel des Art. 14 Abs. 2 GG steht in einem systematischen Zusammenhang mit weiteren Verfassungsbestimmungen, die ein soziales Emblem aufweisen oder den Zugriff des Staates auf das Eigentum ermöglichen. Dabei ist erstens das Sozialstaatsprinzip zu nennen, das in Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 S. 1 GG seine verfassungsrechtliche Grundlage findet.19 Als Staatszielbestimmung beinhaltet das Sozialstaatsprinzip den Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber, für einen Ausgleich sozialer Gegensätze und für eine sozialgerechte Ordnung zu sorgen.20 Der Sozialstaatsgrundsatz wird im Eigentumsverfassungsrecht durch die Sozialbindungsklausel konkretisiert.21 Auch die Sozialbindungsklausel ist, wie noch zu zeigen ist, an den Gesetzgeber adressiert.22 Dieser muss dem im Grundgesetz angelegten dialektischen Verhältnis zwischen der verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheit und dem Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung in gleicher Weise Rechnung tragen.23 Ergänzend wird man hinzufügen, dass es verfassungsrechtlich unzu16 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Art. 14 Abs. 2 GG v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR N. F. 1 (1951), 1 (145 ff.); H.-P. Schneider, in: FS v. Brünneck, 2011, S. 67 ff. 17 So v. Mangoldt in der 26. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 30. November 1948, abgedruckt in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 5/II, S. 712 (725). 18 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 5/II, S. 712 (730). 19 Vgl. zur Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip Kimminich, in: Bonner Kommentar (Fn. 6), Art. 14 (1992) Rn. 172 f.; Leisner (Fn. 6), S. 63 ff.; Eschenbach (Fn. 6), S. 436 ff. 20 BVerfGE 22, 180, 204; 100, 271, 284; 110, 412, 445; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 20 Rn. 161. 21 Kimminich, in: Bonner Kommentar (Fn. 6), Art. 14 (1992) Rn. 172; Bryde, in: v. Münch/ Kunig (Fn. 6), Art. 14 Rn. 66; Berkemann, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. I, 2002, Art. 14 Rn. 511; Leisner (Fn. 6), S. 64; Breuer, Die Bodennutzung im Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, 1976, S. 41. Kritisch Eschenbach (Fn. 6), S. 437 ff. 22 Vgl. Abschn. IV. 23 BVerfGE 37, 132, 140; 56, 249, 275.
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lässig wäre, wenn man unter Berufung auf den Sozialstaatsgrundsatz die Sozialbindung des Eigentums duplizieren würde.24 Das würde der soeben erwähnten Konkretisierung des Sozialstaatsgrundsatzes durch die Sozialbindungsklausel widersprechen, den verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich zwischen der freiheitlichen und der sozialen Komponente des Eigentumsgrundrechts zu Lasten der ersteren verändern und die Freiheitskomponente des Eigentums schwächen. Die Sozialbindungsklausel steht zweitens in einem Kontext mit der Enteignungsvorschrift des Art. 14 Abs. 3 GG. In beiden Vorschriften ist vom „Wohle der Allgemeinheit“ die Rede. Während nach Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG der Gebrauch des Eigentums zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll, ist gemäß Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG eine Enteignung nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Die Aufgabe des Gesetzgebers besteht darin, den ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriff des „Wohls der Allgemeinheit“ im Rahmen dieser Vorschriften zu konkretisieren. Der Gesetzgeber geht aber unterschiedlich vor: Er verwirklicht die Sozialbindungsklausel, indem er den Inhalt und die Schranken des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG festlegt und die Eigentumsordnung ausgestaltet. Das Wohl der Allgemeinheit ist dabei eine „verbindliche Richtschnur“ bzw. „prinzipielle Anweisung“ für die Ausgestaltung der Eigentumsordnung durch den Gesetzgeber.25 Im Falle der Enteignung entzieht der Gesetzgeber zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben eine eigentumsfähige Rechtsposition oder autorisiert die Verwaltung zum Eigentumsentzug.26 Das Wohl der Allgemeinheit ist unabdingbare Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Enteignungsakts und dient – noch stärker als im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG – dem Schutz des Grundrechtsträgers.27 Schutzverstärkend ist zudem die Junktimklausel in Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG, der zufolge die enteignungsrechtliche Rechtsgrundlage Art und Ausmaß der Entschädigung regeln muss.28 Im Unterschied zur Enteignung ist die Sozialbindung des Eigentums prinzipiell entschädigungslos hinzunehmen.29 Für die Standortbestimmung der Sozialpflichtigkeitsklausel ist drittens die Abgrenzung von der Sozialisierungsvorschrift des Art. 15 GG von Relevanz. Nach Art. 15 S. 1 GG können Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch Gesetz in Gemeineigentum überführt werden. Im Unterschied zur Sozialpflichtigkeitsklausel ermächtigt Art. 15 GG ledig24
Forsthoff, VVDStRL 12 (1954), 8 (28); Leisner (Fn. 6), S. 64 f. BVerfGE 25, 112, 117; 37, 132, 140; 56, 249, 275; 83, 137, 150 f.; s. ferner Berkemann, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) (Fn. 21), Art. 14 Rn. 511; Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 218. 26 Vgl. Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG; s. zur Legal- und Administrativenteignung Wendt, in: Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Art. 14 Rn. 159. 27 Vgl. BVerfGE 56, 249, 275. 28 Vgl. zur grundrechtssichernden Funktion der Junktimklausel BVerfGE 46, 268, 286 f.; Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 14 (2010) Rn. 563; Axer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK-GG, Art. 14 (2017) Rn. 120. 29 Vgl. BVerfGE 100, 226, 241; BVerfG NJW 2017, 217 Rn. 245; Jarass, in: ders./Pieroth (Fn. 20), Art. 14 Rn. 53. 25
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lich den Gesetzgeber, ohne einen Verfassungsauftrag zu formulieren.30 Auch bezieht sich die Sozialisierungsvorschrift nur auf bestimmte Gegenstände, nicht auf alle eigentumsfähigen Rechtspositionen. Und schließlich kommt bei Art. 15 GG genauso wie bei der Enteignung die Junktimklausel zum Zuge: Das Sozialisierungsgesetz muss Art und Ausmaß der Entschädigung regeln.31 Im eigentumsverfassungsrechtlichen Normdreieck Sozialbindung, Enteignung und Sozialisierung hat die Sozialisierung die geringste praktische Relevanz. IV. Adressat der Sozialbindungsklausel Obschon die systematische Standortbestimmung der Sozialbindungsklausel erkenntnisfördernd ist, besteht eine der zentralen eigentumsdogmatischen Fragen darin, wer Adressat der Sozialbindungsklausel ist. Der Text des Art. 14 Abs. 2 GG ist mehrdeutig: Er gibt keine klare Auskunft darüber, wer Adressat des Pflichtgebots ist und welche konkreten Pflichten aus dem Eigentum resultieren.32 Auch aufgrund des systematischen Kontextes zu Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, der den Gesetzgeber beauftragt, den Inhalt und die Schranken des Eigentums zu bestimmen, nimmt die überwiegende Auffassung im Staatsrecht an, dass der Gesetzgeber der Adressat der Sozialbindungsklausel ist.33 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts hat der Gesetzgeber bei der Erfüllung des Auftrags nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG die Aufgabe, „das Sozialmodell zu verwirklichen, dessen normative Elemente sich einerseits aus der grundgesetzlichen Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG und andererseits aus der verbindlichen Richtschnur des Art. 14 Abs. 2 GG ergeben“.34 Als „prinzipielle Anweisung“35 an den Gesetzgeber steht Art. 14 Abs. 2 GG mithin in einem unmittelbaren Zusammenhang zu Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG.36 Der Auftrag an den Gesetzgeber bedingt, dass staatliche Behörden oder Gerichte das Eigen-
30 BVerfGE 12, 354, 363 f.; Wendt, in: Sachs (Hrsg.) (Fn. 26), Art. 15 Rn. 3; Durner, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 15 (2008) Rn. 19. 31 Vgl. dazu Wendt, in: Sachs (Hrsg.) (Fn. 26), Art. 15 Rn. 16; Bryde, in: v. Münch/Kunig (Fn. 6), Art. 15 Rn. 20 f. 32 Vgl. auch H.-P. Schneider, in: FS v. Brünneck (Fn. 16), S. 67 (67). 33 Vgl. BVerfGE 25, 112, 117; 56, 249, 275; 80, 137, 150 f.; 89, 1, 5; Papier, in: Maunz/ Dürig (Fn. 2), Art. 14 (2010) Rn. 306; Jarass, in: ders./Pieroth (Fn. 20), Art. 14 Rn. 35a; Rittstieg, in: AK-GG, Art. 14/15 (2001) Rn. 158; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1044 f.; Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985, S. 299 ff.; Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, 1998, S. 65 ff.; Hösch (Fn. 1), S. 199 ff.; Eschenbach (Fn. 6), S. 188 ff. 34 BVerfGE 37, 132, 140 (Zitat); 52, 1,29; 71, 230, 246. 35 So BVerfGE 56, 249, 275. 36 Vgl. BVerfGE 25, 112, 117; 37, 132, 140; 50, 290, 340; Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 14 (2010) Rn. 306; Leisner (Fn. 6), S. 44; Böhmer, NJW 1988, 2561 (2572); Dietlein, in: Stern (Fn. 6), S. 2227.
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tum nicht eigenmächtig der Sozialbindung unterwerfen können.37 Umgekehrt kann auch der Bürger keine subjektiven Grundrechtspositionen aus Art. 14 Abs. 2 GG herleiten.38 Art. 14 Abs. 2 GG enthält objektives Recht; subjektive, klagefähige Rechtspositionen können erst aufgrund der Vorschriften entstehen, die der Gesetzgeber in Erfüllung des verfassungsrechtlichen Auftrags erlässt.39 Abweichend von der skizzierten Auffassung gehen zahlreiche andere Stimmen – mit unterschiedlichen Nuancierungen – davon aus, dass Art. 14 Abs. 2 GG neben dem Gesetzgeber auch den Eigentümer verpflichte, also für den Eigentümer selbst unmittelbare Rechtspflichten generiere.40 So wird betont, dass der Eigentümer nicht nur die Pflicht habe, Handlungen zu unterlassen, die gesetzlich verboten seien, sondern auch „positiv verpflichtet“ sei, „den Gebrauch seines Eigentums so einzurichten, daß das Wohl der Allgemeinheit dadurch gefördert“ werde.41 Die Sozialgebundenheit nach Art. 14 Abs. 2 GG sei jedem Eigentum – unabhängig von gesetzlicher Konkretisierung – immanent.42 Art. 14 Abs. 2 GG beinhalte eine verfassungsunmittelbare Grundpflicht des Eigentümers und erschöpfe sich nicht in einer Richtschnur für den Gesetzgeber.43 Die Vorschrift sei als ein „subjektives Verhaltensgebot“ zu interpretieren; Verstöße dagegen sollten prinzipiell staatliche Sanktionen zur Folge haben.44 Legte man Art. 14 Abs. 2 GG – auch mit Blick auf seine Entstehungsgeschichte45 – als eine verfassungsunmittelbare Grundpflicht aus, wäre die Bestimmung eine „lex imperfecta“.46 Die Pflichten und Bindungen, denen der Eigentümer unter-
37 Vgl. BVerfGE 56, 249, 260; Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 14 (2010) Rn. 306; Jarass, in: ders./Pieroth (Fn. 20), Art. 14 Rn. 35a; Böhmer, NJW 1988, 2561 (2573). A. A. Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 108, der allerdings den Vorrang des Gesetzes bei gerichtlichen Konkretisierungen betont. 38 BVerfGE 80, 137, 150 f.; 89, 1, 5; Berkemann, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) (Fn. 21), Art. 14 Rn. 513. 39 BVerfGE 80, 137, 150 f.; Berkemann, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) (Fn. 21), Art. 14 Rn. 513. 40 Vgl. etwa BVerfGE 21, 73, 83; Kimminich, in: Bonner Kommentar (Fn. 6), Art. 14 (1992) Rn. 153 ff., 165 ff.; Bryde, in: v. Münch/Kunig (Fn. 6), Art. 14 Rn. 66 ff.; Wieland, in: Dreier (Hrsg.) (Fn. 37), Art. 14 Rn. 107 f.; Breuer (Fn. 21), S. 42 f.; Götz, VVDStRL 41 (1983), 7 (31 f.); Randelzhofer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 37 Rn. 33. Nach H.-P. Schneider, in: FS v. Brünneck (Fn. 16), S. 67 (80 f.) ist ausschließlich der Eigentümer, nicht der Gesetzgeber Adressat des Art. 14 Abs. 2 GG. 41 Kimminich, in: Bonner Kommentar (Fn. 6), Art. 14 (1992) Rn. 153. 42 Kimminich, in: Bonner Kommentar (Fn. 6), Art. 14 (1992) Rn. 165. 43 Bryde, in: v. Münch/Kunig (Fn. 6), Art. 14 Rn. 68; Wieland, in: Dreier (Hrsg.) (Fn. 37), Art. 14 Rn. 107. 44 H.-P. Schneider, in: FS v. Brünneck (Fn. 16), S. 67 (80). 45 Vgl. dazu Abschn. II. 46 Bryde, in: v. Münch/Kunig (Fn. 6), Art. 14 Rn. 68, wonach allerdings auch eine „lex imperfecta“ „lex“ sei.
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läge, wären ohne gesetzliche Konkretisierung kaum fassbar.47 Eine verfassungsunmittelbare Grundpflicht des Eigentümers ohne einfachgesetzliche Rückbindung wäre mit Rechtsunsicherheit verbunden, weil unterschiedliche politische, gesellschaftliche und ökonomische Vorstellungen über den gemeinwohlfördernden Gebrauch des Eigentums bestehen.48 Unabhängig davon, ob man die Sozialbindungsklausel als eine abstrakte Verfassungspflicht des Eigentümers, einen „ethischen Appel“ oder eine „allgemeine Grundrechtserwartung“ charakterisiert,49 kehrt man zum gleichen Ausgangspunkt zurück: Sollen justitiable, konkret einforderbare Eigentümerpflichten begründet werden, bedarf es einer gesetzlichen Eigentumsordnung.50 Solange normative pflichtenbegründende Vorgaben fehlen, kann der Eigentümer behördlich nicht in Anspruch genommen werden. Eine gerichtliche Durchsetzung der Sozialbindungsklausel ohne gesetzliche Konkretisierung ist mit Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG nicht kompatibel.51 Die Sozialbindung ist dem Eigentumsrecht nicht im Sinne eines inhaltsbeschränkenden Tatbestandmerkmals immanent, sondern gesetzesmediatisiert.52 Bei Art. 14 Abs. 1 S. 2 und Art. 14 Abs. 2 GG handelt es sich nicht um verschiedene Bindungen bzw. Beschränkungsmöglichkeiten des Eigentums, sondern um einen einheitlichen Gesetzes- und Ausgestaltungsvorbehalt.53 Damit wird auch die Besonderheit des Eigentumsgrundrechts als eines normgeprägten Grundrechts deutlich: Der Gesetzgeber erlässt nicht nur Regeln über die Entstehung, die Übertragung, den Verlust und den Schutz des Eigentums, sondern auch Bestimmungen über die dem Eigentümer obliegenden Pflichten.54 V. Inhalt der Sozialbindungsklausel Art. 14 Abs. 2 GG stellt eine „grundlegende Wertentscheidung“ des Grundgesetzes dar:55 Er enthält „die Absage an eine Eigentumsordnung, in der das Individual47
Dietlein, in: Stern (Fn. 6), S. 2227; Stern (Fn. 33), S. 1044; Depenheuer, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck (Fn. 25), Art. 14 Rn. 201; Isensee, DÖV 1982, 609 (613). 48 Vgl. Rozek (Fn. 33), S. 68. 49 Vgl. zu diesen beiden Zitaten Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 25), Art. 14 Rn. 199; s. ferner F. Becker, in: Stern/F. Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 14 Rn. 13. 50 Götz, VVDStRL 41 (1983), 7 (32). 51 Vgl. auch Böhmer, NJW 1988, 2561 (2573); Schmidt-Aßmann, in: FS der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986, S. 107 (115). A. A. Wieland, in: Dreier (Hrsg.) (Fn. 37), Art. 14 Rn. 108. 52 Vgl. auch Hösch (Fn. 1), S. 201 f. 53 Leisner (Fn. 6), S. 44; Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 14 (2010) Rn. 306; Stern (Fn. 33), S. 1045; Schmidt-Aßmann, in: FS der Juristischen Fakultät (Fn. 51), S. 107 (115); s. auch Wendt, in: Sachs (Hrsg.) (Fn. 26), Art. 14 Rn. 72. 54 Vgl. auch Böhmer, NJW 1988, 2561 (2568); Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 17. 55 Berkemann, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) (Fn. 21), Art. 14 Rn. 514.
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interesse den unbedingten Vorrang vor den Interessen der Gemeinschaft hat.“56 Das Eigentum ist demnach kein Recht isolierter Individuen, nicht der Inbegriff des materiellen Egoismus, sondern gemeinschaftsgebunden und ein Grundelement der Sozialordnung.57 Der Gebrauch des Eigentums ist Entfaltung persönlicher Freiheit und meist eigennützig, aber nicht unbegrenzt möglich und muss häufig mit den Belangen der Gemeinschaft austariert werden. Das Eigentum hat nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Bedeutung. Seine soziale Funktion besteht in einem weiteren Sinne darin, dass es „einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat“, also „letztlich eine Leistung für alle erbringt“.58 Das Eigentum sichert insoweit die ökonomischen Grundlagen des Sozialstaates und ermöglicht das „Soziale der Marktwirtschaft“.59 Die soziale Dimension des Eigentums ergänzt die freiheitsorientierte Zielsetzung der Eigentumsgarantie, darf diese aber nicht verdrängen. Im Unterschied zum vorherrschenden Verständnis in der Weimarer Staatsrechtslehre wird die Sozialbindungsklausel heute nicht mehr als ein Programmsatz, ein Appell oder eine – mehr oder weniger vage – Leitlinie für den Gesetzgeber angesehen, sondern als eine „verbindliche Richtschnur“ oder „prinzipielle Anweisung“ für die Rechtsetzung qualifiziert.60 Das Gemeinwohl nach Art. 14 Abs. 2 GG ist Legitimation für die Beschränkung der Eigentumsfreiheit und Direktive für eine „gerechte […] Ausgestaltung der Eigentumsordnung durch den Gesetzgeber“.61 Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber bestimmt Inhalt und Schranken des Eigentums, ohne dass seine Gestaltungsbefugnis an der bestehenden Eigentumsordnung und am Status quo bestehender Eigentumsrechte enden würde.62 Der Gesetzgeber kann die bestehende Eigentumsordnung gemeinwohlorientiert umgestalten und die Eigentumsherrschaft bereichsspezifisch neu regeln.63 Dabei muss er allerdings die schutzwürdigen Interessen des Eigentümers und die Belange des Gemeinwohls in einen gerechten Ausgleich bringen.64 Zu den Gemeinwohlbelangen gehören etwa der Natur- und Landschaftsschutz65, der Denkmalschutz66 oder die öffentliche Wasserversorgung67. 56
BVerfGE 21, 73, 83; 102, 1, 15; 134, 242 Rn. 167. Vgl. Wieland, in: Dreier (Hrsg.) (Fn. 37), Art. 14 Rn. 29; Ipsen, VVDStRL 10 (1952), 74 (85); zur „Gemeinschaftsbezogenheit“ des Eigentums s. BVerfGE 79, 29, 43. 58 So Häberle, in: Neumann (Hrsg.), Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte, 1984, S. 63 (95). 59 Vgl. Depenheuer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. V, 2013, § 111 Rn. 19. 60 Vgl. Abschn. IV. 61 Vgl. BVerfGE 56, 249, 275. 62 Rittstieg, in: AK-GG (Fn. 33), Art. 14/15 (2001) Rn. 162. 63 Vgl. auch Ipsen, VVDStRL 10 (1952), 74 (74 f); Rittstieg, in: AK-GG (Fn. 33), Art. 14/ 15 (2001) Rn. 162. 64 BVerfGE 100, 226, 240; BVerfG NJW 2017, 217 Rn. 268. 65 BVerfG NJW 1998, 367, 368. 66 Vgl. BVerfGE 100, 226, 242. 67 Vgl. BVerfGE 58, 300, 341. 57
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Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um öffentliche Interessen, auch private Interessen können erfasst werden.68 Das Gemeinwohl ist nicht nur Grund, sondern auch Grenze für die Belastungen, die dem Eigentum auferlegt werden. Eingriffe in die Eigentümerbefugnisse dürfen nicht weitergehen, als der Schutzzweck reicht, dem die Regelung dient. Der Gesetzgeber ist insbesondere an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden.69 Aufgrund dieser Vorgaben darf der die Sozialbindungsklausel konkretisierende Gesetzgeber das Privateigentum nicht einseitig oder gar willkürlich belasten. Nach Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG soll der Gebrauch des Eigentums „zugleich“, nicht aber allein oder ausschließlich dem Gemeinwohl dienen.70 Weder das Individualinteresse des Eigentümers noch die Gemeinwohlbelange haben von vornherein ein Übergewicht.71 Der Gesetzgeber darf den Kernbereich der Eigentumsgarantie, zu dem die Privatnützigkeit des Eigentums und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand gehören, nicht unter Berufung auf die Sozialpflichtigkeit aushöhlen.72 „Ebensowenig wie die Eigentumsgarantie eine die soziale Funktion eines Eigentumsobjektes mißachtende Nutzung schützt, kann Art. 14 Abs. 2 GG eine übermäßige, durch die soziale Funktion nicht gebotene Begrenzung privatrechtlicher Befugnisse rechtfertigen.“73 Die konkrete Reichweite der Sozialbindung hängt vom jeweiligen Sachbereich und von den Umständen des Einzelfalls ab und bedarf wiederum der Konturierung durch den Gesetzgeber.74 Der Gesetzgeber hat etwaige Konflikte zwischen Eigentümerinteressen, Gemeinwohlbelangen und Rechten Dritter aufzulösen.75 Er genießt hierbei Gestaltungsfreiheit, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts umso größer ist, je mehr das Eigentum in einem „sozialen Bezug und einer sozialen Funktion steht“.76 Der Vergleich zwischen Art. 14 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 GG einerseits und Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG andererseits zeigt, dass eine Beschränkung der Eigentumsfreiheit aus Gründen des Gemeinwohls prinzipiell nicht entschädigungspflichtig ist.77
68 Vgl. auch Schmidt-Aßmann, in: FS der Juristischen Fakultät (Fn. 51), S. 107 (115); F. Becker, in: Stern/F. Becker (Hrsg.) (Fn. 49), Art. 14 Rn. 179. 69 BVerfGE 52, 1, 29 f.; 100, 226, 241; BVerfG NJW 2017, 217 Rn. 268. 70 Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 211 (226); Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 14 (2010) Rn. 403. 71 BVerfGE 56, 249, 275; s. auch BVerfGE 52, 1, 29. A. A. Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 173 Rn. 146, 149, der von einem „vorrangige[n] Wertungsgewicht“ des Eigentums vor dem Allgemeinwohl spricht. 72 Vgl. BVerfGE 91, 294, 308; 100, 226, 241. 73 BVerfGE 37, 132, 140 f. 74 Vgl. auch BVerfG NJW 2017, 217 Rn. 268; Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) (Fn. 71), § 173 Rn. 148. 75 Vgl. auch Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) (Fn. 71), § 173 Rn. 148. 76 Vgl. etwa BVerfGE 50, 290, 340 (Zitat); 102, 1, 17. 77 Vgl. die Nachw. in Fn. 29.
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VI. Sozialbindungsklausel und Immobilieneigentum Die besondere verfassungsrechtliche Aktualität der Sozialbindungsklausel lässt sich anhand von zwei Beispielen veranschaulichen, über die in der jüngeren Vergangenheit häufig diskutiert worden ist: die sog. Mietpreisbremse und die Beschlagnahme von Immobilien zur Unterbringung von Flüchtlingen. Der Gesetzgeber greift in diesen Fällen in das Immobilieneigentum ein, um bestimmte gemeinwohlfördernde Zwecke zu erreichen. Auch wenn Grund und Boden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen gesteigerten Sozialbezug aufweisen und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sich dadurch erweitert,78 muss im Einzelfall geklärt werden, ob die grundgesetzlichen Kautelen zum Schutz des Eigentums eingehalten werden. 1. Mietpreisbremse Durch das Mietrechtsnovellierungsgesetz vom 21. April 2015 sind neue Bestimmungen zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten Wohnungsmärkten in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen worden.79 Mit den Bestimmungen will der Gesetzgeber auf den starken Anstieg der Mietpreise bei der Wiedervermietung von Bestandswohnungen in prosperierenden Ballungszentren oder attraktiven Städten reagieren.80 Hintergrund dieser Entwicklung ist der Befund, dass in innerstädtischen Lagen freiwerdende Mietwohnungen von einer Vielzahl von Mietsuchenden nachgefragt werden und dadurch zum Teil erhebliche Mietsteigerungen durchgesetzt werden können.81 Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sieht § 556d Abs. 1 BGB eine Mietpreisbegrenzung beim Abschluss von Wohnraummietverträgen vor.82 Nach § 556d Abs. 1 BGB darf der Mietpreis beim Abschluss eines Mietvertrags über Wohnraum die ortsübliche Vergleichsmiete höchstens um 10 Prozent übersteigen, wenn die Wohnung in einem Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt liegt. Ein solches Gebiet liegt vor, wenn die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen in einer Gemeinde oder einem Teil der Gemeinde zu angemessenen Bedingungen besonders gefährdet ist.83 Das kann etwa vor-
78 Vgl. zum Sozialbezug von Grund und Boden BVerfGE 52, 1, 32 f.; 104, 1, 12; zum Sozialbezug von vermietetem Wohnraum vgl. BVerfGE 38, 348, 370; 79, 292, 302; 82, 6, 16; Shirvani, in: Brinkmann/Shirvani (Hrsg.), Privatrecht und Eigentumsgrundrecht, 2016, S. 115 (119 f.). 79 Vgl. §§ 556d ff. BGB, eingeführt durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten Wohnungsmärkten und zur Stärkung des Bestellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung (Mietrechtsnovellierungsgesetz – MietNovG) vom 21. April 2015 (BGBl. I, S. 610). 80 BT-Drs. 18/3121, S. 11. 81 BT-Drs. 18/3121, S. 11. 82 Vgl. auch BT-Drs. 18/3121, S. 28. 83 § 556d Abs. 2 S. 2 BGB.
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liegen, wenn die Mieten deutlich stärker steigen als im bundesweiten Durchschnitt.84 Die Landesregierungen werden ermächtigt, Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten durch Rechtsverordnung für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu bestimmen.85 Mit der Mietpreisbremse verfolgt der Gesetzgeber nach der Gesetzesbegründung in erster Linie sozial- und siedlungspolitische Zwecke.86 Die Mietpreisbremse soll dazu beitragen, der Verdrängung wirtschaftlich schwächerer Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Wohnquartieren entgegenzuwirken (sog. Gentrifizierung).87 Durch die Begrenzung der Miethöhe bei der Wiedervermietung soll auch für einkommensschwächere Gruppen die Möglichkeit des Umzugs innerhalb ihres angestammten Bezirks erhalten bleiben.88 Der Gesetzgeber hält die Mietpreisbegrenzung für zulässig, da sie „die Sozialbindung des Eigentums“ konkretisiere.89 Die Vereinbarkeit der Mietpreisbremse mit Art. 14 GG wird unterschiedlich bewertet.90 Unstreitig hat der Vermieter das prinzipielle Recht, aus der Überlassung des Eigentumsgegenstands zur Nutzung Ertrag zu ziehen, insbesondere mit dem Vertragspartner eine Mieterhöhung zu vereinbaren.91 Fraglich ist, ob der Eingriff in das Eigentumsrecht des Vermieters gerechtfertigt ist. Auch wenn man die Verhinderung der Gentrifizierung als legitimen Zweck für die Beschränkung des Eigentumsgrundrechts anerkennt, ist etwa klärungsbedürftig, ob die Mietpreisbegrenzung überhaupt geeignet ist, diesen Zweck zu erreichen. Sind für die Auswahlentscheidung des Vermieters vor allem die Höhe des Preises, den der Wohnungssuchende zu zahlen bereit ist, und dessen Bonität maßgeblich und wird durch die Mietpreisbegrenzung das Preiskriterium zurückgedrängt, wird der Vermieter den Fokus auf die Bonität bzw. die Vermögensverhältnisse des Mieters legen. Hier bleiben einkommensstarke Mietinteressenten gegenüber einkommensschwächeren aber nach wie vor im Vorteil, weil bei ihnen das Mietausfallrisiko geringer ist.92 Die darin zum Ausdruck kommenden Zweifel an der Geeignetheit der Maßnahme ließen sich womöglich ausräumen, 84
§ 556d Abs. 2 S. 3 Nr. 1 BGB. § 556d Abs. 2 S. 1 BGB. 86 BT-Drs. 18/3121, S. 15, 18. 87 BT-Drs. 18/3121, S. 15, 11. 88 BT-Drs. 18/3121, S. 15. 89 BT-Drs. 18/3121, S. 18. 90 Vgl. dazu einerseits Lange, DVBl 2015, 1551 (1554 ff.); Fleindl, in: BeckOGK, § 556d BGB (2017) Rn. 7 ff.; Derleder, WuM 2013, 383 (390 f.); andererseits Blankenagel/Schröder/ Spoerr, NZM 2015, 1 (12 ff.); Leuschner, NJW 2014, 1929 (1932 f.); Börstinghaus, in: Schmidt-Futterer, Mieterecht, 12. Aufl. 2015, § 556d Rn. 9 ff. Einen Verstoß der Mietpreisbremse nach § 556d BGB gegen Art. 3 Abs. 1 GG nimmt LG Berlin Beschluss vom 14. 9. 2017, 67 S 149/17 (juris) an. 91 Vgl. BVerfGE 79, 292, 304; 101, 54, 74 f.); BGHZ 207, 246 Rn. 33; BT-Drs. 18/3121, S. 18. 92 Leuschner, NJW 2014, 1929 (1930, 1932); Blankenagel/Schröder/Spoerr, NZM 2015, 1 (17). 85
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wenn man es als ausreichend ansieht, dass durch die Mietpreisbremse ein erster Schritt unternommen wird, um den Mietpreisanstieg zu dämpfen und die Bezahlbarkeit bestimmter Wohnungsbestände für breitere Bevölkerungsschichten überhaupt zu ermöglichen.93 2. Beschlagnahme von Immobilien zur Unterbringung von Flüchtlingen Das zweite Beispiel, das die Aktualität der Sozialbindungsklausel verdeutlicht, ist die in den vergangenen Jahren geführte Diskussion über die Beschlagnahme von Immobilien zur Unterbringung von Flüchtlingen. Aufgrund der deutlich gestiegenen Flüchtlingszahlen benötigten viele Kommunen vor allem in den Jahren 2015 und 2016 zusätzliche Kapazitäten, um Flüchtlinge in geeigneten Unterkünften unterzubringen. In diesem Zusammenhang ist die Frage erörtert worden, inwieweit der Staat auf private Immobilien zugreifen und in diese auch ohne Zustimmung der Eigentümer Wohnungslose einweisen darf.94 Die Zwangseinquartierung von Personen, namentlich von Obdachlosen, in Wohnungen ist zwar kein juristisch unbekanntes Phänomen.95 Gleichwohl stellen derartige Maßnahmen erhebliche Eingriffe in das Eigentumsgrundrecht dar, die auch unter Berufung auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums nur unter engen Voraussetzungen zulässig sein können.96 Als Rechtsgrundlage für die Beschlagnahme von Immobilien zur Unterbringung von Wohnungslosen kommen die Polizei- und Ordnungsgesetze der Länder in Betracht.97 Bremen und Hamburg ergänzten 2015 ihre Polizeigesetze um spezielle Bestimmungen über die Sicherstellung privater Grundstücke zur Flüchtlingsunterbringung, die allerdings mittlerweile außer Kraft getreten sind.98 Auch jenseits solcher Spezialbestimmungen ist der Zugriff auf private Grundstücke nicht ausgeschlossen, wenn die besonderen gefahrenabwehrrechtlichen Voraussetzungen für die Inan-
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Vgl. BT-Drs. 18/3121, S. 19; Lange, DVBl 2015, 1551 (1555). Vgl. zur Diskussion etwa Guckelberger/Kollmann/Schmidt, DVBl 2016, 1088 ff.; Froese, JZ 2016, 176 ff.; Fischer, NVwZ 2015, 1644 ff.; Augustin, BauR 2015, 1934 ff.; Dombert, LKV 2015, 529 ff.; s. aus der Rechtsprechung OVG Lüneburg NVwZ 2016, 164 ff.; VG Lüneburg Beschluss vom 9. 10. 2015, 5 B 98/15 (juris). 95 Vgl. etwa Ewer/v. Dutten, NJW 1995, 353 ff.; Schwabenbauer, KommP BY 2014, 173 ff. 96 Vgl. auch OVG Lüneburg NVwZ 2016, 164 Rn. 30; NJW 2010, 1094, 1095; BayVGH NVwZ-RR 1991, 196, 196. 97 Vgl. zur Diskussion, ob die polizeirechtliche Generalklausel oder die Bestimmung über die Sicherstellung die richtige Rechtsgrundlage bildet, Augustin, BauR 2015, 1934 (1935 f.); Fischer, NVwZ 2015, 1644 (1645) jeweils m. w. N. 98 Vgl. § 26a BremPolG, eingeführt durch Gesetz vom 20. Oktober 2015 (Brem.GBl. S. 464), außer Kraft getreten gem. § 88 Abs. 3 BremPolG mit Ablauf des 31. März 2017; § 14a HmbSOG, eingeführt durch Gesetz vom 2. Oktober 2015 (HmbGVBl. S. 245), außer Kraft getreten gem. § 3 Abs. 1 dieses Gesetz mit Ablauf des 31. März 2017. 94
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spruchnahme nichtverantwortlicher Personen vorliegen.99 Soll der Immobilieneigentümer als sog. Nichtstörer in Anspruch genommen werden, muss eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr abzuwehren sein,100 etwa für die Gesundheit oder das Leben eines Wohnungslosen. Dies ist im Einzelfall gesondert festzustellen.101 Zudem dürfen die Behörden die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig selbst oder durch Beauftragte abwehren können.102 Will eine Kommune zur Unterbringung von Flüchtlingen privates Eigentum beschlagnahmen, dürfen weder kommunale Unterkünfte zur Verfügung stehen noch die Beschaffung geeigneter Unterkünfte bei Dritten zeitnah möglich sein.103 Die Kommune ist also zunächst verpflichtet, eigene Unterkünfte bereitzustellen oder fremde Wohnungen oder Wohncontainer zu mieten.104 Sie muss mit anderen Worten alle eigenen Unterbringungsmöglichkeiten ausgeschöpft haben, bevor sie einen Privateigentümer in Anspruch nimmt.105 Die Beschlagnahme darf zudem nur aufrechterhalten werden, solange die Abwehr der Gefahr nicht auf andere Weise möglich ist.106 Die zuständige Behörde muss auch nach der Beschlagnahme alle Maßnahmen ergreifen, um für eine Ersatzunterbringung der Wohnungslosen zu sorgen.107 Im Übrigen ist der Eigentümer für den Vermögensschaden zu entschädigen.108 Unter diesen Voraussetzungen kann der Eingriff in das Eigentumsgrundrecht aus Gemeinwohlgründen, nämlich zur Behebung von Wohnungsnot, gerechtfertigt sein und den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen. Eigentumsdogmatisch würde es sich nicht um eine Enteignung handeln, sondern um eine ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung.109 VII. Schluss Vor über 20 Jahren charakterisierte der Jubilar die Besonderheit des Eigentumsgrundrechts wie folgt: „Kaum ein Artikel des GG sieht sich in vergleichbarer Weise 99 Vgl. etwa Art. 10 BayPAG; § 6 PolG NRW; s. zu den einzelnen Voraussetzungen Guckelberger/Kollmann/Schmidt, DVBl 2016, 1088 (1089 ff.); Fischer, NVwZ 2015, 1644 (1646 f.); Augustin, BauR 2015, 1934 (1939 ff.); Ewer/v. Dutten, NJW 1995, 353 (353 ff.). 100 Vgl. etwa Art. 10 Abs. 1 Nr. 1 BayPAG; § 6 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW. 101 Vgl. zum Kriterium der gegenwärtigen Gefahr etwa OVG Lüneburg NVwZ 2016, 164 Rn. 24 ff. 102 Vgl. etwa Art. 10 Abs. 1 Nr. 3 BayPAG; § 6 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW. 103 OVG Lüneburg NVwZ 2016, 164 Rn. 30. 104 Vgl. OVG Saarlouis Beschluss vom 14. 4. 2014, 1 B 213/14, Rn. 7 (juris); Schoch, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, 2. Kap. Rn. 246; Ewer/v. Dutten, NJW 1995, 353 (355). 105 Vgl. auch Schoch, in: ders. (Hrsg.) (Fn. 104), 2. Kap. Rn. 246. 106 Vgl. etwa Art. 10 Abs. 2 BayPAG; § 6 Abs. 2 PolG NRW. 107 Vgl. BGHZ 35, 27, 31 f.; Ewer/v. Dutten, NJW 1995, 353 (356); Fischer, NVwZ 2015, 1644 (1647). 108 Vgl. etwa Art. 70 Abs. 7 BayPAG; § 67 PolG NRW i. V. m. § 40 Abs. 1 OBG NRW. 109 Vgl. dazu Guckelberger/Kollmann/Schmidt, DVBl 2016, 1088 (1096 ff.); Froese, JZ 2016, 176 (178).
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Herausforderungen gegenüber, die aus aktuellen wirtschafts-, gesellschafts- und ordnungspolitischen Problemlagen erwachsen.“110 Dieser Satz hat nach wie vor Gültigkeit, wie man an den beiden soeben skizzierten Beispielsfällen über die Mietpreisbremse und die Beschlagnahme von Immobilien zur Unterbringung von Flüchtlingen erkennen kann. Das Grundgesetz garantiert die Freiheit des Eigentums, fügt diesem zentralen Freiheitsversprechen aber gleichzeitig das Diktum über die Sozialbindung des Eigentums hinzu. Die Sozialbindung des Eigentums steht nicht, wie zum Teil unter der Weimarer Reichsverfassung noch angenommen, im schroffen Widerspruch zur liberalen Wirtschaftsordnung und zu den Interessen des Eigentümers.111 Sie rührt vielmehr aus der Erkenntnis, dass das Eigentum kein isoliertes vermögenswertes Herrschaftsrecht, kein reines Ausschlussrecht ist, sondern häufig die Belange der Allgemeinheit oder anderer Grundrechtsträger berührt und mit diesen auszugleichen ist. Obgleich über diese Erkenntnis heute Konsens herrscht, stellt sich in der Praxis immer wieder die Frage, ob der Gesetzgeber die Reichweite der Sozialbindung verfassungskonform markiert oder das Eigentum einseitig bzw. über Gebühr belastet. Die Berufung auf die Sozialbindungsklausel darf nicht dazu verführen, das freiheitliche Antlitz des Eigentumsartikels zu verhüllen, da sonst das Freiheitsversprechen der Eigentumsverfassung konterkariert werden würde.
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Schmidt-Preuß, AG 1996, 1 (1). Vgl. Kirchheimer, Die Grenzen der Enteignung, 1930, S. 37 ff.
Das Bundesverfassungsgericht und das deutsche Zivilrecht Von Udo Steiner, Regensburg I. Startschwierigkeiten Es gilt kurz in das Jahr 1996 zurückzugehen. Im Herbst dieses Jahres – es ist das Jahr, in dem der Jubilar auf der Staatsrechtslehrertagung in Dresden referiert – findet der 61. Deutsche Juristentag in Karlsruhe statt, und Josef Isensee klagt das BVerfG an.1 Ein schwieriges Jahr – 1995 – liegt hinter dem Gericht. Der Erste Senat hat die katholische Welt mit dem sog. Kruzifix-Beschluss verstört. Das wehrbereite Deutschland fühlt sich durch das BVerfG provoziert, das Kurt Tucholskys Aussage „Soldaten sind Mörder“ eine Interpretation gibt, die die erfolgreiche Berufung auf die Meinungsäußerungsfreiheit eröffnet. Josef Isensees Anklage zielt aber vor allem auf die Rechtsprechung des Ersten Senats, die sich in das Zivilrecht kräftig eingemischt hat. Es gilt, die Fremdherrschaft einer „Laienspielschar“ im Karlsruher Schlossbezirk – dem Sitz des Gerichts – über das hochprofessionell praktizierte, wertautonome Bürgerliche Recht zurückzuweisen. Besonders „strafwürdig“: Die Bürgschaftsentscheidung von 19932, schon vorher kritisiert die HandelsvertreterEntscheidung3 und dann bestürzt über die Rechtsprechung zum Besitzrecht des Mieters und dessen Eigentumsposition im Sinne des Art. 14 GG.4 Isensee fragt das Gericht: Quo vadis BVerfG, und fügt hinzu: Herr wir können Dir nicht folgen. Er ist sich sicher: Von der sog. Ausstrahlungswirkung der Grundrechte, in die Welt gesetzt durch die sog. Lüth-Entscheidung des BVerfG vom 15. Januar 1958, gehen Strahlenschäden für das deutsche Zivilrecht aus.
1
Isensee, JZ 1996, 1085 (1090). Die Verteidigung des BVerfG auf dem DJT 1996 hat Seidl unternommen (Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichte, in: DJT, Karlsruhe 1996, Band II/1, Teil O, 1996, S. 9). Federführend für das Zivilrecht: Diederichsen, AöR Bd. 198 (1998), S. 171 und Müller-Freienfels, in: FS Rittner, 1991, S. 423. 2 BVerfGE 89, 214 (Angehörigenbürgschaft). 3 BVerfGE 82, 242. 4 BVerfGE 81, 1; dazu Schmidt-Preuß, NJW 1995, 27, 28. Zur Diskussion siehe Shirvani, Eigentumsrechtliche Bezüge des Miet- und Wohnungseigentumsrechts, in: Brinkmann/Shirvani (Hrsg.), Privatrecht und Eigentum, 2016, S. 115 (118 f.).
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II. Verfassungsgerichtliche Gerichtskontrolle und verfassungsgerichtliche Normenkontrolle im Zivilrecht 1. Die verfassungsprozessuale Grundlage Alle genannten inkriminierten Entscheidungen des BVerfG waren möglich, weil es über eine Kompetenz verfügt, die den wenigsten Verfassungsgerichten der Welt zugestanden wird: die Zuständigkeit zur Entscheidung über sog. Urteilsverfassungsbeschwerden (§§ 90 Abs. 1, 92, 93 Abs. 1 BVerfGG). Es ist die Kombination dieses Verfahrens mit dem Dogma der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in das Privatrecht, das es dem BVerfG ermöglicht, das geltende Zivilrecht richterrechtlich mitzugestalten. In nicht wenigen Ländern, die eine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen, hat es die dortige oberste Gerichtsbarkeit verhindert, dass das Verfassungsgericht ihre Entscheidungen unmittelbar am Maßstab der Verfassung kontrolliert. Es ist auch in Deutschland so, dass der BGH, im Jahr 2016 älter geworden als das RG, als oberstes Zivilgericht einen besonderen Bedarf an Immunität gegenüber der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hat, die Aufhebung seiner Entscheidungen durch das BVerfG nicht immer als Bereicherung der Rechtsfindung bewertet. Dies gilt ganz besonders dann, wenn die Aufhebung von Senatsentscheidungen des BGH nach § 93c BVerfGG (ausnahmsweise) durch eine Kammer und damit durch drei Verfassungsrichter erfolgt. Statistisch eignen sich solche Aufhebungsfälle freilich nicht dazu, im Justizsystem stärkere Spannungen hervorzurufen. So sind mit Stand 2016 insgesamt 10.833 Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen des BGH erhoben worden. In 170 Fällen waren sie erfolgreich. Aber die Statistik interessiert nicht, es interessieren natürlich die big points im Streit des Karlsruher Höchstgerichts um das Primat der Interpretation im Zivilrecht. Zu diesen big points ist die Entscheidung des BVerfG5 zum Thema „Kind als Schaden“ zu rechnen, mit der immerhin der Erste Senat die Rechtsprechung des BGH bestätigt hat. Das BVerfG hat mit Senatsmehrheit entschieden: Die Rechtsprechung der Zivilgerichte zur Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation und fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung eines Kindes verstößt nicht gegen die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Entscheidung ist nach heftiger Diskussion, auch zwischen den Senaten, ergangen. In Weltanschauungsfragen solcher Art geraten alle Verfassungsgerichte dieser Welt an die Grenzen der Justiziabilität. 2. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle zivilrechtlicher Gesetze Der verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterliegen in Deutschland aber auch zivilrechtliche Gesetze. Die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle ist bekanntlich die Zuständigkeit des BVerfG, die am stärksten in der verfassungspolitischen Diskussion steht. Sie ist ein Kerngeschäft des deutschen Verfassungsrichters, nicht Gelegenheitsarbeit und begründet Erfahrungswissen. Dies verhindert Willkür. 5
BVerfGE 96, 375.
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Zudem: Das Verdikt der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes, das mit verfassungskonformer Auslegung nicht mehr gerettet werden kann, also nicht mit einer Art Notbeatmung durch Interpretation, muss von mindestens fünf Mitgliedern des Senats getragen werden. Die verfassungsrechtliche Prüfung eines Zivilgesetzes ist in der Praxis des BVerfG allerdings eher die Ausnahme. Immerhin finden sich Entscheidungen: Im sog. Handelsvertreter-Beschluss des BVerfG vom 7. Februar 1990 verlangt das Gericht unter Berufung auf Art. 12 Abs. 1 GG, im Zivilrecht Vorkehrungen zum Schutz der Berufsfreiheit gegen vertragliche Beschränkungen zu schaffen.6 Es geht dann 2005 um die Übertragung von Lebensversicherungsverträgen auf ein anderes Unternehmen, und das BVerfG7 erklärt eine Vorschrift des VAG wegen Verstoßes gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG und gegen die in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Vertragsfreiheit für verfassungswidrig, weil – vereinfacht – der Gesetzgeber nicht sichergestellt habe, dass die Belange der Versicherten bei dieser Übertragung gewährt sind. Eine andere Entscheidung des Ersten Senats8 betrifft die Auslegung wirtschaftsrechtlicher Vorschriften: Es ist mit dem durch Art. 14 GG in der Aktie verkörperten Anteilseigentum unvereinbar, bei der Bestimmung der Abfindung oder des Ausgleichs für außenstehende oder ausgeschiedene Aktionäre nach §§ 304, 305, 320b AktG den Börsenkurs der Aktien außer Betracht zu lassen. III. Eigene Wege: Arbeitsrecht, Familienrecht 1. Frühstarter Arbeitsrecht Es ist bekanntlich das Arbeitsrecht der Nachkriegszeit, mit Ansätzen bereits in der Weimarer Republik, das sich in einer sehr frühen Phase dem Geltungsanspruch der Grundrechte geöffnet hat.9 Die Arbeitsgerichtsbarkeit hat schneller als manch andere Gerichtsbarkeit begriffen, dass die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG allen Richtern gehören und nicht nur denjenigen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Grundrechtsluft macht Gerichtsbarkeit frei. In gewissen Grenzen haben die Grundrechte den Richter zum Herrn über das Gesetz gemacht. Der Arbeitsrichter hat nach dem Krieg schon zu einem Zeitpunkt Frauen und Männer gleichgestellt, als der parlamentarische Gesetzgeber noch in Verzug war. Ob es eine solche Entwicklung gegeben hätte, wäre es nicht in der Bundesrepublik Deutschland zu einer eigenständigen Arbeitsgerichtsbarkeit gekommen, darf man bezweifeln. Ein Grundrecht auf Arbeit kann der Ar6 BVerfGE 81, 242. Zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften des BGB über das Pflichtteilsrecht siehe BVerfGE 112, 332, 354 ff. 7 BVerfGE 97, 169; 97, 186. 8 BVerfGE 100, 305. 9 Siehe dazu Adomeit, Der Schutz des Schwächeren – Arbeitsrechtliche Erfahrungen und zivilrechtliche Entwicklungen, in: FS Konzen, 2006, S. 1; Steiner, NZA 2008, 73; Voßkuhle, Zur Einwirkung der Verfassung auf das Zivilrecht, in: FS Stürmer, 1. Teilband, 2013, S. 79 (80 f.).
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beitsrichter allerdings nicht konstituieren, und sollte es auch nicht. Aus nachvollziehbaren Gründen lebt ein solches Grundrecht, wo es in der Welt verfassungsrechtlich gewährleistet ist, in tiefer normativer Armut. Was allerdings der Gesetzgeber unternimmt, um Beschäftigung zu fördern, findet im Grundgesetz durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG (Persönlichkeitsrecht) Unterstützung. Das BVerfG10 hat formuliert: Durch Arbeit entfaltet der Einzelne seine Persönlichkeit, erfährt dadurch Achtung und Selbstachtung im Sinne der Wertordnung des Grundgesetzes. 2. Verfassungsgeprägtes Familienrecht Das Familienrecht weist im Zusammenhang mit dem Thema dieses Beitrags eine Besonderheit auf.11 Für die gesetzliche und richterliche Gestaltung dieses Rechtsgebiets stellt das Grundgesetz selbst fundamentale Aussagen zur Verfügung. Diese Aussagen sind im Schwerpunkt in Art. 6 GG enthalten, aber natürlich auch in Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG. Art. 117 Abs. 1 GG hatte die Geltung dieser Vorschrift, die im männlich dominierten Parlamentarischen Rat nicht gerade gefeiert wurde, nur bis zum 31. März 1953 ausgesetzt. So ernst hat der Gesetzgeber den Gleichberechtigungsgrundsatz zunächst nicht genommen, und es war das BVerfG, das dieser „Leseschwäche“ des Gesetzgebers abhalf, vor allem auf dem Weg zur Gleichberechtigung in der Ehe. Das BVerfG hat auch in anderen Bereichen des Familienrechts den Gesetzgeber immer wieder vor sich hergetrieben, so bei der Gleichstellung der nichtehelichen mit den ehelichen Kindern (Art. 6 Abs. 5 GG). Viele andere Themen und Gegenstände des Familienrechts sind in den vergangenen Jahrzehnten verfassungsgerichtlich geprägt worden. Dies gilt beispielsweise für die Stärkung von Kinderund Elternrechten, für das Recht auf Kenntnis der Abstammung, und das für die Deutschen so wichtige Namensrecht. Heute verstärkt der EGMR in Straßburg den Druck auf den deutschen Familiengesetzgeber durch eine extensive Interpretation des Art. 8 EMRK, der das Recht auf Achtung des Familienlebens unter Konventionsschutz stellt, dem unehelichen Vater juristisch stärker als das BVerfG zur Seite stand.12 Dies sei hier nur nachrichtlich vermerkt. In jüngerer Zeit ist ein spezieller Zugriff in Einzelfällen zu vermerken: Geht es um familiengerichtliche Entscheidungen mit Relevanz für das Kindeswohl, so behält sich das BVerfG wegen des besonderen Eingriffsgewichts im Einzelfall ausnahmsweise eine Kontrolle auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts vor.13
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BVerfGE 100, 271, 284; 103, 293, 307. Zum Folgenden Sanders, FuR 2016, 434; Schwab, Anwaltsblatt 2009, 557; Steiner, Schutz von Ehe und Familie, in: Merten/Papier (Hrsg.), HdbGR, Bd. IV, 2011, § 108 Rn. 1 ff. 12 Dazu Grabenwarter, EMRK, 6. Aufl. 2016, § 22 Rn. 16, 288 ff. 13 BVerfGE 136, 382, 391 Rn. 128; BVerfG, (Kammer-)Beschluss vom 13. 7. 2017, NZF 2017, 795. 11
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IV. Nachrichtlich: Die Grundrechte im Recht der Sportverbände Ein kurzer Blick sei auch auf das sog. Sportrecht geworfen, dem der sportaffine Jubilar besonders verbunden ist.14 Der Topos der Ausstrahlung der Grundrechte in das Privatrecht und hier vor allem das Sportverbandsrecht gibt den Gerichten längst, was sie brauchen, um den Raum des Sports zu betreten und ihn mit grundrechtlichen Vorstellungen zu besetzen. Man kann sagen, die Wertordnung des Grundgesetzes überformt auch die selbstgenerierten Regeln des Sports. Dabei mag es den Zutritt der Grundrechte vor allem zum professionalisierten Sport erleichtert haben, dass es sich häufig um Rechtsakte der sog. Verbandsgewalt handelt und damit eine Assoziation zur strukturellen Überlegenheit der öffentlichen Gewalt hergestellt wird. Dies gilt ganz prominent für das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG. Denn der Spitzensport wird von denen, die ihn betreiben, heute als Beruf auf Zeit wahrgenommen, aber auch von denen, die ihn professionell organisieren. Die schon klassische Spielpaarung lautet Verbandsautonomie, gestützt auf Art. 9 Abs. 1 GG, gegen Berufssportler, gestützt auf Art. 12 Abs. 1 GG, mit vielfältigen Varianten bei der Verhängung von Sanktionen wegen Dopings, Entscheidungen über die Nominierung von Sportlern für internationale Wettbewerbe und beim Abschluss von Athletenvereinbarungen. Es ist weiter der grundrechtliche Schutz der Persönlichkeitsrechte der Athleten15 (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), der in der hoch kommerzialisierten Sportszene zur Geltung gebracht werden muss. Zu erwähnen ist gewiss nicht zuletzt, dass die normative Kraft der Justizgrundrechte das Verfahren der Sportgerichtsbarkeit in eine rechtsstaatliche Form gebracht hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass der EuGH seine Rechtsprechung zur Drittwirkung der Grundfreiheiten nicht zuletzt an Fragen des Rechtsregimes der Sportverbände entwickelt hat.16
V. Die Geltung der Grundrechte in Zivilrechtsbeziehungen 1. Die Privatautonomie im Visier des Gesetzgebers Der Widerstand der deutschen Zivilrechtslehrer, nicht allerdings aller17, gegen die Eingriffe des BVerfG in die Judikatur der Zivilgerichte in den 1990er Jahren ist durchaus legitim von der Sorge getragen gewesen, das Verfassungsgericht treffe 14 Dazu Fritzweiler, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 3. Aufl. 2014, S. 43 ff.; Steiner, Von den Grundrechten im Sport zur Staatszielbestimmung „Sportförderung“, in: FS Stern, 1997, S. 509. 15 Siehe z. B. Röhl, Schutzrechte im Sport, 2012. 16 Siehe dazu Stein, Drittwirkung im Unionsrecht, 2016, S. 27 ff. Zur Drittwirkung der unionsrechtlichen Grundrechte im Profifußball siehe Kliesch, Der Status des Profifußballers im Europäischen Recht, 2017, S. 269 ff. 17 Siehe die Nachweise bei Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), HdbGR Bd. II, 2006, § 55 Rn. 16 ff. Vgl. auch Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999.
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das Herz des Zivilrechts, die Privatautonomie, und vor allem ihr „wichtigstes Medium“, die Vertragsfreiheit.18 Es ging um als schmerzhaft empfundene „Fremdherrschaft“. Im Idealzustand der Privatautonomie gestalten die Akteure auf der Ebene der Gleichordnung ihre Rechtsbeziehungen eigenbestimmt und selbstverantwortlich, sorgen also in diesem Freiraum für den notwendigen Interessenausgleich. Der Staat ist idealtypisch auf die Rolle des Hüters der allgemeinen Rechtsordnung beschränkt. Art. 2 Abs. 1 GG gilt als Gewährleistung dieser Freiheit, aber auch Art. 12 Abs. 1 GG im beruflichen Bereich. Längst ist die Privatautonomie freilich gefesselt durch eine hyperaktive Gesetzgebung, im europäischen und im nationalen Rechtsraum gleichermaßen, und beispielhaft zu nennen sind: Verbraucherrecht, Vergaberecht, Regulierungsrecht, Recht der Antidiskriminierung. Dem Gesetzgeber ist der Verlust an Privatautonomie anzulasten; das BVerfG ist allenfalls Gelegenheitstäter. Die Privatautonomie ist durch das BVerfG nicht wirklich „systemrelevant“ bedroht. Sie hat mächtigere Gegner: Auf die Fähigkeit zur Selbstbehauptung der Privatautonomie, etwa bei der Ausgestaltung eines europäischen Kaufrechts, also im europäischen Rechtsraum, sei hier nur hingewiesen.19 2. Die sog. Schumannsche Formel Zu den prominenten Versuchen einer dogmatisch kontrollierten Abschirmung der Zivilgerichtsbarkeit gegenüber verfassungsgerichtlichen Ingerenzen gehört die sog. Schumannsche Formel.20 Sie besagt: „Die gegen Zivilurteile gerichtete Sachinterpretationsverfassungsbeschwerde ist immer dann (aber auch nur dann) erfolgreich, wenn vom Zivilrichter eine Rechtsfolge angenommen wurde, die in einem Rechtssatz vom einfachen Gesetzgeber nicht vorgesehen werden dürfte, weil sie der Grundrechtsordnung widerspricht“. Dieser Ansatz ist auch in der Sache durch das BVerfG aufgenommen worden. Der Erste Senat hat ihn in Bezug auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG so formuliert21: „Eine solche Grundrechtsverletzung kann nicht nur vom Gesetzgeber begangen werden. Sie liegt vielmehr auch dann vor, wenn die Gerichte im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften zu einer dem Gesetzgeber verwehrten Differenzierung gelangen.“ Diese Formeln können Entscheidungshilfen sein, wenn es darum geht, der „Einmischung“ der Grundrechte in Zivilrechtsbeziehungen Grenzen zu setzen. 18
Grundlegend: Isensee, Vertragsfreiheit in Turbulenzen, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 240; ders., Privatautonomie, in: HdbStR Bd. VII, 2009, § 150; Jestaedt/Britz, in: VVDStRL 64 (2005), S. 298 ff.; Lobinger, Die Problematik rechtlicher Antidiskriminierungsprogramme, in: Isensee, a.a.O., S. 102. Siehe auch Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016. 19 Dazu etwa Wagner, Materialisierung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in: Blaurock/Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, 2010, S. 13 (17, 26, 35 f.). 20 Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, 1963, S. 219. 21 BVerfGE 99, 129, 139.
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3. Bekannte Streitfälle zwischen BVerfG und Rechtswissenschaft a) Sieht man die Rechtsprechung des BVerfG zur Geltung der Grundrechte im Zivilrecht auf der Grundlage der Wertordnungs-Entscheidung in der Sache des Erich Lüth durch, so finden sich überzeugende und weniger überzeugende Judikate. Das zugrundeliegende dogmatische Konzept ist geläufig: Die Generalklauseln des BGB (§§ 134, 138, 826 BGB) gelten als sog. Einfallstore der Grundrechte in das Zivilrecht. Einfallstor ist allerdings kein friedlicher Begriff. Definiert wird er als „geographisch günstige Stelle für Einfälle in ein anderes Land“.22 Betont das BVerfG, wenn es sich mit der Gesetzesauslegung von Zivilgerichten befasst, zu Beginn der Entscheidungsgründe deren alleinige Zuständigkeit für die Auslegung und Anwendung des Zivilrechts ganz besonders, ist dies erfahrungsgemäß ein Alarmzeichen. Man kann dies den palliativen Teil der Entscheidung nennen, der den Schmerz des dann folgenden verfassungsrechtlichen Eingriffs zu lindern versucht. b) Die Rechtsprechung des BVerfG zum Topos „Ausstrahlungswirkung“ vermittelt ein schwankendes Bild. Jede Entscheidung hat ihre eigene Geschichte. Den Begriff der „strukturellen Ungleichheit“ hat der Erste Senat im Zusammenhang mit der Vertragskontrolle zum Verdruss der Zivilrechtslehre geprägt, aber nicht dauerhaft in seinen Sprachgebrauch aufgenommen. Wenig überzeugend war sicher die Einbeziehung des Besitzrechts des Mieters in den Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG; man wollte eben im Rahmen der Verfassungsbeschwerde verfassungsprozessuale Waffengleichheit von Mieter und Vermieter herstellen. Nicht nur im Sport gibt es das Problem der Übermotivation. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre schien die Rechtsprechung des BVerfG zum Recht des türkischen Mieters auf eine Parabolantenne die Krönung der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zur Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG zu sein.23 Sie ist heute weithin Geschichte.24 In der von Seiten der Zivilrechtsdogmatik – der natürlichen Verbündeten der Zivilgerichte gegenüber dem BVerfG in Sachen Grundrechtsgeltung im Privatrecht – besonders stark kritisierten sog. Bürgschaftsentscheidung hat das BVerfG25 ein Gerechtigkeitsproblem gelöst, das eigentlich die Zivilgerichte selbst mit den Mitteln des BGB hätten lösen müssen. Man darf an den Sachverhalt erinnern, der dieser Entscheidung zugrunde lag: Die 21jährige Tochter des Schuldners hatte sich in einer vorgedruckten Bürgschaftsurkunde für einen Kredit in Höhe von 100.000 DM verbürgt. Die Bürgin war selbst vermögenslos, ohne Berufsausbildung, überwiegend arbeitslos und verdiente in einer Fischfabrik 1.150 DM monatlich. Der Vertreter der Stadtsparkasse als Gläubigerin hatte bei der Unterzeichnung der Bürgschaftsurkunde erklärt: „Hier bitte, unterschreiben Sie mal. Sie gehen dabei keine große Verpflichtung ein, ich brauche das für meine Akten.“ Das BVerfG entschied bekanntlich auf Nich22
Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Jubiläumsausgabe 1986, S. 386. BVerfGE 89, 1. 24 Siehe aber BVerfG, (Kammer-)Beschluss vom 31. 3. 2013, NJW 2013, 2180. 25 BVerfGE 89, 214; siehe vorher BGHZ 107, 92.
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tigkeit der Bürgschaftserklärung, und danach galt – so Max Vollkommer26– Schillers Vers nicht mehr: „Ich lasse den Freund Dir als Bürgen, ihn magst Du, entrinn ich, erwürgen.“ Die Zivilrechtslehre hat zwar privatrechtspezifische Lösungen angeboten.27 Das BVerfG konnte und kann sich ihrer jedoch nicht bedienen; sein Lösungsweg musste und muss ein anderer sein. c) Auch die intensiv diskutierte Rechtsprechung des BVerfG zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen28 hatte einen Fall zum Ausgangspunkt, in dem sich der männliche Vertragspartner schlechterdings unanständig – fachlich formuliert sittenwidrig – verhalten hatte. Die 26jährige Beschwerdeführerin, die aus erster Ehe ein fünfjähriges Kind zu versorgen hatte, stellte fest, dass sie von ihrem neuen Partner, dem späteren Ehemann schwanger war und drängte auf eine Heirat noch vor der Geburt des Kindes, damit es ehelich geboren würde. Es kam dann zu einem Ehevertrag, in dem die Frau für den Fall der Scheidung auf einen eigenen nachehelichen Lebensunterhalt verzichtete, trotz eines geringen eigenen Einkommens und der Sorge für zwei Kinder. Weiter wurde der Vater weitgehend von seiner Unterhaltspflicht für das gemeinsame Kind freigestellt. Das OLG hatte grundsätzlich entschieden, die Eheschließungsfreiheit der Beteiligten stehe einer Inhaltskontrolle des Vertrages entgegen. Man muss diesen Sachverhalt in Erinnerung bringen, um zu verstehen, weshalb das BVerfG die juristische Bewertung des Instanzgerichtes nicht akzeptieren konnte. Es formulierte: Die Eheschließungsfreiheit rechtfertigt nicht die Freiheit zu unbegrenzter Ehevertragsgestaltung und insbesondere nicht eine einseitige ehevertragliche Lastenverteilung. Als Kontrollmaßstab hat das Verfassungsgericht vor allem den Schutz der Mutter durch die Gemeinschaft in Art. 6 Abs. 4 GG herangezogen. Auch hier gelang die Umsetzung in der Praxis. Im Anschluss an diese Vorgaben des Verfassungsgerichts hat der BGH29 ein differenziertes System der gerichtlichen Kontrolle von Eheverträgen und Scheidungsvereinbarungen entwickelt, das in der notariellen Praxis durchaus zur Grundlage rechtssicherer Vereinbarungen wurde. d) Nicht immer geht es um die Berücksichtigung von Grundrechten durch die Zivilgerichte. Nicht selten bestehen auch Differenzen zwischen BVerfG und Zivilgerichten über die Interpretation von Grundrechten und deren Gewichtung in Kollisionslagen. Ein Beispiel sei aus der eigenen Gerichtserfahrung genannt: Es gibt Testamente im Hochadel, die den Verlust des Erbrechts vorsehen, wenn der männliche Erbe nicht „ebenbürtig“ heiratet, sich also für die Eheschließung mit einer Frau entscheidet, die nicht adlig geboren und nicht im deutschen Adelsregister geführt wird, einfacher gesagt: bürgerlichen Standes ist. Die Zivilgerichte haben bei der Beurteilung, ob eine solche erbrechtliche Verfügung sittenwidrig ist (§ 138 BGB), die Tes26
Vollkommer, Wertevermittlung im Zivilrecht, in: FS Stathopoulos, 2010, S. 3131 (3141). Roth, Die „Schumannsche Formel“ und das fehlerhafte Zivilurteil, in: Roth (Hrsg.), Symposium „50 Jahre Schumannsche Formel“, 2014, S. 19, 26 f.; vgl. ferner Schumann, Zur Entstehung der Formel, a.a.O., S. 49. 28 BVerfGE 103,89. 29 Siehe BGH, Beschl. vom 15. 3. 2017, NJW 2017, 1883. 27
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tierfreiheit des Erblassers als Ausfluss der Privatautonomie (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) in den Vordergrund gerückt. In seinem Hohenzollern-Beschluss vom 22. März 200430 hat dagegen das BVerfG entschieden, bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit einer solchen Ebenbürtigkeitsklausel sei immer auch zu prüfen, ob sie geeignet sei, auf den Erben einen für diesen unzumutbaren Druck bei der Entscheidung über die Eingehung einer Ehe mit einer bestimmten Partnerin auszuüben. Dies ergebe sich aus dem Grundrecht der Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG. Zu berücksichtigen sei dabei der Wert des Nachlasses, die Vermögensverhältnisse des Betroffenen und nicht zuletzt, ob er eine effektive Auswahlmöglichkeit im Hinblick auf seine Partnerin habe. Ob dies der Fall ist, muss das Zivilgericht wohl ermitteln, mit welchen Mitteln auch immer, vielleicht mit Hilfe von Wissenserwerb über den adelsrelevanten Kontaktmarkt. 4. Konstruktionsfragen Die Diskussion um die Abgrenzung der Zuständigkeit von Zivilgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit in Fragen des deutschen Bürgerlichen Rechts und der auf ihm beruhenden Rechtsgeschäfte wird weitergehen, weil es beim Verständnis des Grundgesetzes als allgemeiner Wertordnung bleibt. Ein Zurück hinter die LüthEntscheidung wird es nicht geben, also keine Entkonstitutionalisierung des Zivilrechts, mag man auch rechtskonstruktiv andere Wege gehen. Alternativ zur Dogmatik der „Ausstrahlung“ der Grundrechte in das Privatrecht, im wissenschaftlichen Schrifttum teilweise als „unscharf“ testiert31, bietet die Zivilrechtsdogmatik seit längerer Zeit die vom BVerfG in die Praxis eingeführte Rechtsfigur der grundrechtlich begründeten Schutzpflichten des Staates an.32 Für den Zivilrechtsstreit wird sie durch die Vorstellung anwendbar gemacht, dass auch der Richter und nicht nur der Gesetzgeber dazu verfassungsrechtlich berufen ist, den einzelnen Bürger vor „Übergriffen“ auch von Privaten zu bewahren. Materiell gelten im Schutzpflichtmodell die Grundrechte in Privatrechtsverhältnissen nach Art und Ausmaß wohl nicht wesentlich anders als in der Dogmatik der „Ausstrahlungswirkung“ auch, die eben bildhaft versucht zu vermitteln, auf welchem Wege die Grundrechte die juristische Optionen der Privat- und Vertragsautonomie modifizierten. Sie erfährt jedoch eine Art institutioneller Ergänzung: Die Figur der staatlichen Schutzpflicht ermächtigt und ver30 BVerfG, (Kammer-)Beschluss vom 22. 3. 2004, NJW 2004, 2008. Außer Streit war, dass die Testierfreiheit in die gesamte Wertordnung des Grundgesetzes integriert ist (BGH, Beschluss vom 2. 12. 1998, NJW 1999, 566). 31 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 65 f., 551. 32 Siehe dazu Barczak, Konstitutionalisierung der Privatrechtsordnung, in: Scheffczyk/ Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, 2017, S. 91 (104); Ruffert (Fn. 31), S. 141 ff.; Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 20; Voßkuhle (Fn. 9), S. 79 (84 ff.). Siehe auch aus jüngerer Zeit Linke, Ad Legendum 2016, 332; Michl, JA 2017, 1062; Starck, Wie kommen die Grundrechte ins Privatrecht und wie wirken sie dort?, in: FS Stürner, 1. Teilband, 2013, S. 61.
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pflichtet den Richter zu einer grundrechtskonformen Anwendung des geltenden Zivilrechts. Das BVerfG scheint offenbar kein Problem damit zu haben, beide Ansätze miteinander zu kombinieren.33 Die Idee einer Ausstrahlungswirkung von Grundrechten in das Zivilrecht ist im Übrigen kein deutscher Alleingang. Das Schweizer Recht kennt in Art. 35 Abs. 3 der Bundesverfassung sogar eine ausdrückliche Regelung zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Nach dieser Bestimmung haben die Behörden (unter Einschluss der Gerichte) dafür zu sorgen, „dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden“.34 VI. Das Sonderproblem: Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der zivilrichterlichen Rechtsfortbildung 1. Zivilrichterliche Rechtsfortbildung unter verfassungsgerichtlicher Kontrolle Das Verfassungsgericht kann im Wege der Verfassungsbeschwerde anrufen, wer durch eine Auslegung des geltenden Zivilrechts grundrechtlich beschwert wird35, etwa durch eine zivilgerichtlich begründete Forderung auf nachehelichen Unterhalt, durch eine Auslegung, die Grenzen überschreitet, die der richterlichen Rechtsfortbildung durch das Grundgesetz gezogen sind. Er kann sich darauf berufen, er sei in seinem Grundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG durch einen Richterspruch verletzt, der in verfassungswidriger Weise contra legem ergangen ist. Eine solche Kontrollkompetenz beansprucht bekanntlich das BVerfG auch in sehr umstrittener Weise gegenüber dem EuGH; das europäische Gericht dürfe nicht „ultra vires“ judizieren.36 Das ist zunächst einmal aus der Sicht der Rechtswissenschaft erstaunlich, ist das BVerfG selbst doch höchst innovativ, wenn es um die Auslegung des deutschen Grundgesetzes geht.37 2. Die deutsche Tradition des Richterrechts Wer in Deutschland wissen will, was rechtens ist, wird parlamentarische Gesetze suchen und oft Richterrecht finden. Die deutschen obersten Gerichtshöfe des Bundes formulieren mit besoldungsgestütztem Selbstbewusstsein Rechtssätze, vor allem dort, wo der Gesetzgeber zur Gesetzgebung nicht fähig ist. Beispiele dafür finden 33
BVerfGE 138, 377, 392 Rn. 39. Vgl. Jung, Europäische Integration als Gefahr für die Privatautonomie – Notizen aus der Schweiz, in: Stumpf u. a. (Hrsg.), Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungsrecht, 2015, S. 829; Müller, in: Merten/Papier (Hrsg.), HdbGR, Bd. VII/2, 2007, § 204 Rn. 34 ff. 35 Siehe z. B. BVerfGE 112, 332, 358 ff. zum Pflichtteilsrecht des BGB. 36 BVerfGE 126, 286; vgl. auch BVerfGE 140, 317, 338. 37 Dazu kritisch etwa Rieble, NJW 2011, 819. 34
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sich in großer Zahl in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Um ein besonders eindrucksvolles Beispiel aus der Rechtsprechung des BGH38 zu wählen: Welche Rechte der Bürger in einem Rechtsstaat hat, wenn der Staat ihm Unrecht tut, seine Gesundheit oder sein Vermögen schädigt, findet sich in keinem zeitnahen Gesetzbuch. Das Parlament der Bundesrepublik Deutschland war bisher nicht in der Lage, ein rechtsstaatliches Staatshaftungsrecht trotz inzwischen verfügbarer Gesetzgebungszuständigkeit (Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG) zu schaffen. Die Richter des Bundesgerichtshofs haben es geschafft. Den Richtern aller Gerichtsbarkeiten ist in Deutschland nicht zuletzt deshalb gegenüber der gesetzgebenden Gewalt eine so produktive Rolle zugewachsen, weil die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG eben allen Richtern und nicht nur denen der Verfassungsgerichtsbarkeit gehören. Die Grundrechte haben – natürlich in Grenzen – den Revisionsrichter gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber gestärkt. Speziell die Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof als Revisionsgericht (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO) hat eine große Tradition, spätestens seit der Schöpfung eines Schmerzensgeldanspruchs bei schweren Verletzungen des Persönlichkeitsrechts.39 3. Die Kontrollformeln des BVerfG a) Das BVerfG hat den Richter nicht darauf festgelegt, stets zu warten, bis der Gesetzgeber handelt. Es lässt auch den BGH gewähren, wenn er Grundgedanken der von der Verfassung geprägten Rechtsordnung mit systemimmanenten Mitteln weiterentwickelt. Das BVerfG hält die Rechtsfortbildung grundsätzlich für verfassungsrechtlich unbedenkliche richterliche Rechtsfindung, weil Rechtsfortbildung „im modernen Staat geradezu unentbehrlich“ sei.40 Grenzenlos ist die Freiheit zur Rechtsfortbildung freilich nicht. Immer wieder hat das BVerfG Entscheidungen der Fachgerichte mit der Begründung aufgehoben, die Grenzen für die richterliche Rechtsfortbildung seien überschritten.41 Es hat dabei auch versucht, die Grenzen durch Formeln sichtbar zu machen: Eingegriffen hat es, wo sich die Entscheidung des Zivilgerichts mit keiner der anerkannten Auslegungsmethoden begründen
38 Dazu Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, in: Canaris u. a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. III, 2000, S. 887 ff. 39 Dazu etwa v. Bar, in: Canaris u. a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. I, 2000, S. 595, 602 ff.; Ehmann, Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, a.a.O., Bd. I, S. 613 ff. 40 Grundlegend etwa: Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 503 ff.; siehe auch Foerste, JZ 2007, 122 und Schönberger, in: VVDStRL 71 (2012), S. 292 (325 f.). 41 Dazu Barzak (Fn. 32), S. 108; G. Kirchhof, DVBl. 2011, 1068; Neuner, JZ 2016, 435; Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504; W.-R. Schenke, Die Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen durch das BVerfG, in: FS Klein, 2013, S. 453; Schilling, Rechtsfortbildung und Höchstgericht, in: FS Kloepfer, 2013, S. 185; Schneider, Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung, 2017, S. 351; Steiner, Richterliche Rechtsfortbildung und Grundgesetz, in: FS Hirsch, 2008, S. 611.
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lässt.42 Der Richter müsse die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen.43 Die Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greife unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein. b) Man darf Zweifel haben, ob auf der Grundlage der zitierten Formeln der Instanz- und Oberstrichter die Grenze dessen zuverlässig sehen kann, was noch verfassungskonforme richterliche Rechtsfortbildung darstellt. In eine erkennbar sensible Zone gerät er allerdings, wenn Richterrecht die Grundlage für Eingriffe in Grundrechte als verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen abgeben soll, zu denen das Grundgesetz allein den parlamentarischen Gesetzgeber ermächtigt.44 Von allgemeinem verfassungspolitischem Interesse ist die dargestellte sogenannte Kontrollrechtsprechung des BVerfG deshalb, weil hier das Verfassungsgericht den Gesetzgeber, dem es selbst nicht ganz selten politischen Schmerz zufügt, gegenüber dem Richter in Schutz nimmt. VII. Ansätze einer Eigen- und Fremdkontrolle des BVerfG Das deutsche Zivilrecht gehört dem Gesetzgeber, gehört der Zivilgerichtsbarkeit und gehört den Lehrern des Zivilrechts. Die „normative Einlagerung“ der Grundrechte in das Zivilrecht seit „Lüth“ 1958 bewirkte – aufs Ganze gesehen – keine aufgedrängte Entreicherung.45 Es bestehen allerdings Zweifel, ob Bezeugungen von Respekt des BVerfG vor dem wertautarken Zivilrecht und der in ihren Streitgegenständen erfahrenen Zivilrechtsjudikatur das Gericht wirklich aufhalten, zivilrechtliche Gestaltungsakte und eben auch zivilgerichtliche Entscheidungen verfassungsrechtlich zu beanstanden. Der jeweilige Zugriff ist eben eine Einzelfallentscheidung. Er wird auch von unterschiedlichen Vorstellungen der einzelnen Richterinnen und Richter über die legitime Kontrollintensität der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gegenüber Zivilrecht und Zivilgerichtsbarkeit bestimmt. Deshalb ist auf die Qualität der Begründung zu vertrauen, auf die das deutsche BVerfG traditionell viel Ehrgeiz und Energie verwendet. Die Begründung gibt im wissenschaftlichen Modus Rechenschaft über den Entscheidungsausspruch. Sie stellt sich einer deutschen Rechtswissenschaft, die in professioneller Weise kritisch und wachsam gerade
42
BVerfGE 113, 88, 104 unter Berufung auf BVerfGE 93, 37, 81. Vgl. BVerfGE 128, 193, 210; 132, 99, 128 Rn. 76. 44 Siehe BVerfGE 138, 377, 392 f. Rn. 42; vgl. auch schon BVerfGE 57, 220, 242 ff.; 65, 182, 190 f. 45 Hager spricht von einem „Zuwachs an Rechtskultur“ (JuS 2006, 769). 43
Das Bundesverfassungsgericht und das deutsche Zivilrecht
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den Zugriff des BVerfG auf die Privatautonomie beobachtet und bewertet. Staatsrechtslehrer wie der Jubilar gehören zu diesem unentbehrlichen Umfeld der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit.
B. Deutsches und Europäisches Wirtschaftsrecht
Zur Zukunft der Rüstungsexportkontrolle Von Ulrich Battis, Berlin I. Als einer der führenden Wirtschaftsrechtler und als Promotor des Regulierungsrechts hat der Jubilar stets darauf hingewirkt, dass politische Initiativen zur Neugestaltung einer Rechtsmaterie in rechtlich geordneten Bahnen und systemverträglich umgesetzt werden.1 Dabei kam ihm zugute, dass er ein Wissenschaftler ist, der die ministerielle Innenwelt aus eigenem Wirken kennt. Ein Beitrag aus der Praxis politischer Beratung möge daher sein Interesse finden. Das Recht der Rüstungskontrolle ist völker-, unions-, verfassungs- und einfachgesetzlich geregelt, ergänzt um politische Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sensiblen Rüstungsgütern, die Geschäftsordnung des Bundessicherheitsrates und den Gemeinsamen Standpunkt 2008/94/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2008. Parlamentarische Initiativen, nicht nur der Opposition, die Medien und zivilgesellschaftliche Verbände drängen seit langem auf eine schärfere Kontrolle und Begrenzung der deutschen Rüstungsexporte.2 II. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung im Jahre 2016 eine vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gesteuerte Transparenzoffensive gestartet, zu der auch die Initiierung eines Konsultationsprozesses „Zukunft der Rüstungsexportkontrolle“ gehört. 1. Die zum Konsultationsprozess vom BMWi berufenen Sachverständigen tagten nach Gruppen getrennt und in einer Plenarsitzung. Die erste Gruppe bildeten Vertreter von Amnesty International Sektion Deutschland, die Gemeinsame Konferenz der 1
Z. B. als Mitherausgeber der Schriften der Wissenschaftlichen Vereinigung für das gesamte Regulierungsrecht oder des grundlegenden Werks Regulierung der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2016. 2 Der Spiegel 3/2017, S. 32; Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, BT-Drs. 18/3002.
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Kirchen und SIPRI-Stockholm, Peace Research Institute, die zweite die Bundesakademie für Sicherheitspolitik, die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik und SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik, die dritte IG Metall, BDI und der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie und die vierte Gruppe Prof. Dr. Wolffgang (Universität Münster) und der Verfasser. Alle Sitzungen wurden begleitet durch Mitglieder der Häuser, die dem Bundessicherheitsrat angehören, also des Bundesministeriums des Auswärtigen, des Inneren, der Justiz, der Finanzen, der Wirtschaft, der Verteidigung und für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter der Leitung von Ministerialdirigent K. Wendling aus dem BMWi. Die Anhörungen der jeweiligen Gruppen wurden von schriftlichen Stellungnahmen vorbereitet, in denen die unterschiedlichen Standpunkte verdeutlicht wurden, also friedens- und menschenrechtliche (1), sicherheitspolitische (2) und wirtschaftspolitische (3) Zielsetzungen, jeweils in den Gruppen weitgehend übereinstimmend laut Vorgaben des BMWi gegenüber den anderen Gruppen aber jeweils deutlich abgegrenzt. Die Anhörung der Rechtsexperten sollte „rechtliche und politische Grundlagen der Rüstungsexportkontrolle unter Einbeziehung außenpolitischer Rahmenbedingungen / Weiterentwicklung der Rüstungsexportpolitik und mögliche regulatorische Anpassung (z. B. Rüstungsexportkontrollgesetz)“ erörtern und zugleich die rechtliche Beurteilung der in den vorangegangenen Anhörungen verlautbarten inhaltlich recht unterschiedlichen Vorschläge erleichtern. Als Leitgedanken wurden den Sachverständigen vom BMWi vorgeschlagen: „1. Rolle des Parlaments: Stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten oder Befugnisse des Parlaments bei Rüstungsexportentscheidungen - Weitergehende Unterrichtung des Bundestages (ex-ante / ex-post) über Entscheidungen, tatsächliche Lieferungen und / oder entscheidungserhebliche Erwägungen? - Mitwirkung bei Rüstungsexportentscheidungen bis hin zu einer Verlagerung der Entscheidung auf das Parlament? - Spielräume / Grenzen derartiger Änderungsvorschläge unter Berücksichtigung des Urteiles des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Oktober 2014? - Möglichkeit eines Bestimmungsrechts des Bundestages über belieferbare Drittstaaten? - Erforderlichkeit von gesetzlichen Regelungen / Verfassungsänderungen für einzelne Maßnahmen? 2. Erhöhung der Transparenz von Rüstungsentscheidungen - Einführung einer gesetzlichen Begründungspflicht für die Bundesregierung? - Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes? 3. Bindungswirkung / Bestandskraft von Rüstungsexportentscheidungen - Genehmigungsvorbehalt – Widerrufsvorbehalt? - Bindung an Entscheidungen von Vorgängerregierungen?
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- Zeitlich unbegrenzte Bindung bei unveränderter / veränderter Sachlage? - Genehmigung als geschützte Eigentumsposition (Art. 14 GG) / Zulässigkeit einer entschädigungsfreien Rücknahme von Rüstungsexportgenehmigungen? - Einrichtung eines Entschädigungsfonds, gespeist aus Pflichtbeiträgen der Rüstungsindustrie? - Verbandsklage: Vergleichbarkeit mit der Situation im Umweltrecht? 4. Dualität KWKG / AWG - Gesetzliche Änderung: Verzicht auf ein doppeltes Genehmigungserfordernis bei der Ausfuhr von Kriegswaffen? - Administrative Verfahrenserleichterung analog zu früherer Komplementärgenehmigung? 5. Weitere regulatorische Änderungen - Sinnhaftigkeit eines neuzuschaffenden Rüstungsexportkontrollgesetzes? - Rechtsverbindliche Verankerung der politischen Grundsätze, insbesondere Schaffung einer rechtlich-verbindlichen Menschenrechtsklausel? - Generelle Ablehnung von Rüstungsexportgenehmigung für alle – bestimmte Drittstaaten? - Beseitigung des Rechtsanspruchs auf Erteilung einer Exportgenehmigung? - Verpflichtung der Rüstungsindustrie auf verbindliche menschenrechtliche Sorgfaltspflichten und Risikoabschätzungen?“
2. Diese anspruchsvolle Aufgabe wurde dadurch erleichtert, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 21. Oktober 20143 auf 88 Druckseiten und ohne Sondervotum Grundfragen der Rüstungskontrolle entschieden hat. Die Antragssteller, der Abgeordnete Ströbele und die Abgeordnete Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, konnten zwar insoweit obsiegen, als das Bundesverfassungsgericht die unzureichende Beantwortung einzelner Fragen, die die Lieferung von Waffen an Saudi Arabien und Algerien betrafen, bestätigte. Das Gericht entschied aber, dass die Bundesregierung die überwiegende Zahl der von den Abgeordneten gerichteten Fragen nicht beantworten musste. Die Kostenentscheidung sah daher keine Auslagenerstattung nach § 34a Abs. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz vor.4
3 4
BVerfGE 137, 185. BVerfGE 137, 185, Rn. 23.
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III. Im Folgenden werden die vom Verfasser in der vom Staatssekretär Machnig geleiteten Plenarsitzung am 7. März 2017 vorgetragenen 10 Thesen in erweiterter Fassung vorgestellt. Festzuhalten ist, dass zwischen den beiden juristischen Sachverständigen keine Meinungsverschiedenheiten bestanden, was den Kalauer „zwei Juristen drei Meinungen“ (für diesmal) widerlegte.5 1. Die dogmatische Figur des „Verfassungswandels“ gehört seit Georg Jellinek6 zum festen Bestand des Verfassungsrechts. Verfassungswandel besagt, dass eine Verfassungsnorm ohne Textänderung in veränderten Kontexten neue Auslegungen entstehen lässt.7 Auch die Auslegung des Grundgesetzes ist kontextabhängig. Beispiele sind die wechselvolle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung, zu Rundfunk- und Hochschulfreiheit, die Entdeckung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, die ebenfalls aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Befugnis des Einzelnen, selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu entscheiden8 oder das jüngste Urteil zum NPD-Verbot, das den Begriff der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 Satz 1 GG neu fasst.9 2. Ein weiteres Beispiel und für unseren Kontext ausschlaggebend ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Oktober 201410. Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG schreibt vor, dass „zur Kriegsführung bestimmte Waffen … nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden“ dürfen. In der Literatur ist seit langem die Rechtmäßigkeit des Willensbildungsprozesses zur Genehmigung nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG umstritten. Das Urteil referiert ausführlich diesen langjährigen Streit um die Auslegung von Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG,
5
Alle Stellungnahmen aller Sachverständigen sind abrufbar unter http://www.bmwi.de/ DE/Themen/Aussenwirtschaft/Ruestungsexportkontrolle/transparenz.html. 6 Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 1906. 7 S. Hofmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 9 Rn. 63; Michael, Rechtswissenschaft 2014, 426; s. a. Schuppert, Rechtswissenschaft 2016, 177: „Ordnung durch Bewegung – Recht als dynamisches System“ sowie speziell K. Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung, 2017. 8 BVerfGE 130, 1 (35). 9 BVerfG, NJW 2017, 611; dazu etwa Gusy, NJW 2017, 601; Shirvani, DÖV 2017, 477; Kloepfer, NVwZ 2017, 913. 10 BVerfGE 137, 185.
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entscheidet die Streitfrage nicht,11 stellt aber lapidar fest: „Zugunsten der Antragsteller kann daher davon ausgegangen werden, dass die Willensbildung der Bundesregierung in Bezug auf einen Kriegswaffenexportantrag mit dem jeweiligen Beschluss des Bundessicherheitsrates abgeschlossen ist.“12 3. Der Verlauf des Konsultationsprozesses hat die grundlegende Kontextveränderung eindringlich belegt. Der Wortlaut von Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG ist seit der Verabschiedung des Grundgesetzes unverändert. Art. 26 Abs. 2 GG ist aber nicht mehr Bestandteil der Verfassung eines Staates, der durch Besatzungsrecht erheblich eingeschränkt war, sondern befindet sich nunmehr im Kontext der Neukonzeption einer europäischen Sicherheitspolitik einschließlich einer „Europäisierung des Verteidigungsetats“ als Teil einer neuen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, maßgeblich bestimmt trotz der unterschiedlichen Praxis der Rüstungskontrolle durch den gemeinsamen Standpunkt 2008/944/GASP des Rates der EU, der 2019 überprüft werden soll. Sowohl Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG wie auch der Gemeinsame Standpunkt sind verbindliche Bestandteile im Europäischen Mehrebenensystem. Die nicht erst seit dem Amtsantritt von Präsident Trump an Deutschland und andere europäische NATO-Partner adressierten Forderungen nach einer intensivierten europäischen Sicherheitspolitik innerhalb der NATO sind an dieser Stelle nicht näher zu behandeln, aber sie bleiben wichtiger Bestandteil des Szenarios. 4. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem umfangreichen und eindringlichen Urteil ohne Sondervotum die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Rüstungsexportkontrolle konkretisiert. Das gilt insbesondere für die Unterscheidung des Verfahrens bis zur Entscheidung, der Zäsur durch die Entscheidung und daran anschließend, die nachträgliche Kontrolle durch Bundestag und Öffentlichkeit. Weitergehende Forderungen zur begleitenden Kontrolle des Entscheidungsverfahrens, wie sie von den Antragsstellern im Gerichtsverfahren formuliert und zum Teil auch danach im Parlament und insbesondere auch im Konsultationsprozess formuliert worden sind, haben sich damit für den laufenden Prozess der Politikberatung erledigt. Diese Einschätzung wird dadurch bestärkt, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner nachfolgenden Entscheidung zum NSA-Untersuchungsausschuss seine restriktive Linie fortgesetzt hat,13 indem es festgestellt hat, dass die wirksame Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten Verfassungsrang hat. Zurzeit und an dieser Stelle 11
BVerfGE 137, 185, Rn. 166. BVerfGE 137, 185, Rn. 167. 13 BVerfG, NVwZ 2017, 137; dazu Glauben, NVwZ 2017, 129 (131); krit. Möllers, JZ 2017, 271; Rusteberg, DÖV 2017, 319. 12
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ist nicht zu erörtern, ob auf mittlere oder längere Sicht das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung modifizieren wird, was selbstredend Auswirkungen auf die politische Praxis der Rüstungskontrolle hätte. 5. Der vom Bundesverfassungsgericht maßgeblich herangezogene Topos „des Schutzes des Kernbereichs exekutivischer Eigenverantwortung“ ist zwar in jüngster Zeit in der Literatur relativiert, aber nicht grundsätzlich infrage gestellt worden.14 Dadurch wird aber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 26 Abs. 2 GG nicht in Zweifel gezogen, sondern sogar bestätigt. Denn das Bundesverfassungsgericht verwendet den Topos „des Kernbereichs exekutivischer Eigenverantwortung“ nicht als „themenbestimmte“15 „Raummetapher“16, sondern stellt, wie von den Kritikern gefordert, auf Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereiche ab. 6. Der vom Bundesverfassungsgericht17 referierte aber offengelassene Streit darüber, ob Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt oder als repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt einzuordnen ist, bleibt zu Recht unbeantwortet. Die traditionelle Unterscheidung der beiden Genehmigungsarten wird durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit Art. 12 GG bei der gerichtlichen Kontrolle der Ermessensausübung eingeebnet.18 7. Nach der als Vorwirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangenen aber mit dieser übereinstimmenden neuen Transparenzpolitik der Bundesregierung19 ist ein Widerspruch zwischen den gesetzlichen Grundlagen einschließlich der politischen Leitlinien und der Praxis der Exportkontrolle nicht erkennbar. Das im Konsultationsprozess kritisierte „fragmentierte Normprogramm“, also die Regelung auf europäischer und auf nationaler Ebene, ist im europäischen Mehrebenensystem der Normalfall und angesichts des Gemeinsamen Standpunkts 2008/344/ EU unvermeidbar. Wegen der anstehenden Überprüfung des Gemeinsamen Standpunkts und der überfälligen Neukonzeption der Europäischen Sicherheits- und Au14 Cancic, ZParl 2014, 885; Lepsius, RuP 2016, 137 (138); Möllers, JZ 2017, 271; Groß, Der Staat 55 (2016), 489 (494). 15 So Lepsius, RuP 2016, 137 (138). 16 So Cancic, ZParl 2014, 885 (890). 17 BVerfGE 137, 185, Rn. 182. 18 Gusy, JA 1981, 8; Battis, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2009, S. 131 m.w.N. 19 Dazu BT-Drs. 18/3002 nebst Erläuterungen.
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ßenpolitik ist die Verabschiedung eines neuen deutschen Rüstungsexportgesetzes zurzeit jedenfalls nicht angezeigt. 8. Unterhalb der Schwelle einer Neukodifizierung, die wie dargelegt mangels anstehender grundlegender Neukonzeption ohnehin nicht geboten ist, erscheinen aber einige gesetzliche Ergänzungen sinnvoll, die zugleich die jüngeren Maßnahmen des BMWi zur besseren Transparenz der Rüstungsexportentscheidung bestätigen und stärken könnten. Und zwar - die gesetzliche Festschreibung des Genehmigungsverfahrens nach Art. 26 Abs. 2 GG, - die gesetzliche Festschreibung der Einrichtung, Zusammensetzung, der Kompetenzen und des Entscheidungsverfahrens des Bundessicherheitsrats, - insbesondere Festschreibung der vom Bundesverfassungsgericht in Rn. 165 f. festgestellten Rolle des Bundessicherheitsrates und - die gesetzliche Festlegung der Vorbereitung der Entscheidung durch die Ministerien. 9. Die alleinige Gesetzgebungskompetenz nach Art. 26 Abs. 2 Satz 2 GG erlaubt keine Abweichung von den Vorgaben des Abs. 2 Satz 1. Die generelle Einfügung eines Widerrufsvorbehaltes ohne Entschädigung wäre gerade im Hinblick auf die Gewichtung des Grundrechtsschutzes (Art. 12, Art. 14 GG) der Produzenten durch das Bundesverfassungsgericht20 unverhältnismäßig. Bei Dauerverwaltungsakten bedarf es nach geltendem Recht ohnehin keines zusätzlichen Widerrufsrechts, da dieses mit zunehmendem Zeitablauf und bei veränderter Lage bereits geregelt ist. § 49 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 6 VwVfG erlaubt seit langem zwischen öffentlichen und privaten Interessen flexibel einen Ausgleich zu finden. Die Finanzierung eines Ausgleichsfonds allein durch Zwangsabgaben der Rüstungsindustrie nach dem Vorbild der Indienstnahme Privater (H. P. Ipsen)21 scheidet vorliegend aus, weil nicht Private an der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe insoweit hinzugezogen werden, wie sie mit der Ausübung eines Berufs verbunden ist. Vielmehr würde ohne verfassungsrechtliche Ermächtigung eine Abgabe erhoben,
20
BVerfGE 137, 185 (243, 255 ff.); grundlegend jetzt Busche, Grundrechtlicher Schutz des Herstellens, Beförderns und Inverkehrbringens von Kriegswaffen, 2017. 21 BVerfGE 30, 292; BVerfGE 114, 196 (244); Jarass, in: ders./Pieroth, GG-Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 12 Rn. 14.
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auf die Ausübung der Grundrechte aus Art. 12 und 14 GG, ohne dass den Unternehmen ein Sondervorteil zuflösse. 10. Die Einführung einer Verbandsklage22 zur Rüstungskontrolle widerspricht schon dem Wortlaut von Art. 26 Abs. 2 GG. Verbandsklagen sollen Vollzugsdefiziten entgegenwirken. Sie zielen auf fehlerhaftes Verwaltungsverhalten. Das Rechtsregime des Art. 26 Abs. 2 GG weist die Kontrolle des Rüstungsexports der Regierung, nicht der Verwaltung zu. Es wäre mit Art. 26 Abs. 2 GG in der vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Auslegung unvereinbar, wenn jeder Verwaltungsrichter qua Verbandsklage oder einer Klage Privater Auskunft nach dem IFG Kontrollrechte oder gar Aufhebungsbefugnisse erhielte, die dem Bundestag versagt sind. Hinzukommt, dass durch die unter 8. vorgeschlagenen gesetzlichen Verfahrensregeln die Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit verbessert werden kann. Die gesetzliche Fixierung des Verfahrens effektuiert zugleich den verwaltungsgerichtlichen Rechtschutz, der, wie jüngste Entscheidungen des VG Frankfurt am Main23 und des VGH Kassel24 belegen, durchaus nicht mehr wirkungslos bleibt. IV. Es bleibt zu hoffen, dass der Konsultationsprozess „Zukunft der Rüstungsexportkontrolle“ ein wenig mit dazu beiträgt, den Umgang von Politik und Öffentlichkeit mit dieser Problematik durch mehr Transparenz ehrlicher zu machen. Es ist wenig überzeugend, wenn der Wirtschaftsminister jahrelang darauf hinarbeitet die ungeliebte Federführung im Prozess der Rüstungskontrolle gemäß Art. 26 Abs. 2 GG an das Auswärtige Amt abzugeben, sofort nach dem Wechsel ins Auswärtige Amt aber auf der weiteren Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums beharrt oder wenn seine Nachfolgerin im Wirtschaftsministerium der öffentlichen Vorlage des Rüstungsexportberichtes demonstrativ fernbleibt. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit von Politik.
22
Dazu allgemein Gärditz, 71. DJT 2016; Wegener, JZ 2016, 820. VG Frankfurt a.M., NVwZ 2016, 1346 m. Anm. v. Glawe. 24 VGH Kassel, DVBl 2016, 1399; dazu auch Reiner, DVBl 2017, 333. 23
Der sog. Grundsatz der Selbstorganschaft als Privatisierungsgrenze Von Martin Burgi, München I. Einleitung Das weite Feld der Arbeitsteilung zwischen Staat und Privaten ist immer wieder neu vermessen worden. Dabei hat der Vortrag des Jubilars bei der Dresdener Staatsrechtslehrertagung im Jahre 1996 mit dem Titel „Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung“ zahlreiche Wegmarken gesetzt, an die auch bei künftigen Bemühungen zu diesen Themen mit Aussicht auf Gewinn angeknüpft werden kann. Deshalb, und weil sich der Jubilar über Festschriften-Beiträge noch mehr freut als über Sitzplatzkarten im Stadion des FC Bayern, soll der Frage nachgegangen werden, ob der durch verschiedene Oberverwaltungsgerichte seit 2006 entfaltete sog. Grundsatz der Selbstorganschaft eine bei der Einschaltung von Verwaltungshelfern (d. h. bei einer funktionalen Privatisierung) beachtliche Grenze bildet, und falls ja, in welchem Umfang. Im Schrifttum hat der „Grundsatz der Selbstorganschaft“ bislang nicht Anerkennung gefunden, weder die Lehrbücher noch eine soeben erst erschienene Monographie zum Thema „Verwaltungshilfe zwischen Werkzeugtheorie und funktionaler Privatisierung“1 erwähnen ihn. In den VwVfG-Kommentaren kommt er, wenn überhaupt, kurz vor, jeweils allerdings lediglich im Zusammenhang mit einem Bericht über die nachfolgend behandelte Rechtsprechung.2 Daher findet in diesem Beitrag das Attribut „sog.“ Verwendung. In der Sache geht es darum, in welchem Umfang einzelne Teilbeiträge von einer weiterhin durch staatliche Verwaltungsstellen wahrgenommenen Verwaltungsaufgabe abgespalten werden dürfen. Da es sich um einen „Grundsatz“ und mithin nicht um eine „Regel“ handelt, steht von vornherein fest, dass es nicht darum geht, dass jede einzelne Aufgabe stets zu 100 % durch staatliche Verwaltungsstellen erfüllt werden muss. Im Hinblick auf immer neue, unverändert zahlreiche Vorgänge der funktionalen Privatisierung auf allen staatlichen Ebenen, insbesondere bei den Kommunen, teilweise aber auch bei der Kammerverwaltung, erscheint eine vertieftere Auseinandersetzung mit dieser etwaigenfalls veritablen Privatisierungsgrenze lohnend.
1
Ackermann, 2016. So bei v. Alemann/Scheffczyk, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), VwVfG, 2. Aufl. 2016, § 35 Rn. 132; Windoffer, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz (Hrsg.), VwVfG, 2014, § 35 Rn. 44. 2
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II. Verwaltungshilfe als Ergebnis einer funktionalen Privatisierung 1. Privatisierungsformen Während sich bei einer sog. Aufgabenprivatisierung die staatliche Verwaltung gänzlich von der betreffenden Aufgabe zurückzieht (z. B. Schließung eines Freibades) und bei der sog. Organisationsprivatisierung lediglich die privaten Rechtsformen zum Einsatz gelangen (z. B. Stadtwerke GmbH), ist die funktionale Privatisierung dadurch gekennzeichnet, dass Teilbeiträge von der fortbestehenden staatlichen Verantwortung abgespalten und einem sog. Verwaltungshelfer anvertraut werden. Dabei kann es sich um Teilbeiträge durchführenden Charakters handeln (so etwa bei den sog. Betreiber- oder Betriebsführungsmodellen, nach denen bundesweit in erheblichem Umfang die Abfall- oder Abwasserentsorgung strukturiert ist; auch das Abschleppen von Fahrzeugen durch private Abschleppunternehmer ist ein Beispiel hierfür). Denkbar ist aber auch die Abspaltung von Beiträgen vorbereitenden Charakters, etwa wenn Private im Bauplanungs- oder Fachplanungsrecht Entwürfe fertigen oder als Berater von Verwaltungsstellen agieren. Auch die Einbeziehung von unterstützenden Leistungen in Verwaltungsverfahren, für die sich teilweise der Begriff „Verfahrensprivatisierung“ etabliert hat, gehört hierher.3 Wichtig ist, dass es sich bei den Begriffen „funktionale Privatisierung“ bzw. „Verwaltungshilfe“ – anders etwa als bei den Begriffen „Verwaltungsakt“ oder „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ – nicht um Rechtsbegriffe in dem Sinne handelt, dass einem eindeutig normativ fixierten Tatbestand bestimmte Rechtsfolgen zugeordnet werden könnten. Vielmehr handelt es sich um Begriffe, mit denen bestimmte Phänomene der Verwaltungswirklichkeit beschrieben und zusammengefasst werden können. Dies bedeutet, dass daraus, dass eine bestimmte Konstellation angeblich unter die Verwaltungshilfe fällt, nicht auf ihre Statthaftigkeit geschlossen werden kann (und umgekehrt). Die Frage nach der Begriffszuordnung darf also nicht mit der Frage nach der Statthaftigkeit vermengt werden. Auch die teilweise im Schrifttum verwendeten Begriffsmerkmale „technisch“ oder „untergeordnet“4 (für die Verwaltungshilfe) bieten keine Anhaltspunkte für die Statthaftigkeit der Vornahme einer funktionalen Privatisierung im Hinblick auf bestimmte Verwaltungsaufgaben, was man schon daran sieht, dass von der Rechtsprechung vielfach Erscheinungsformen rechtlich akzeptiert werden, bei denen nicht nur technisch, sondern konzeptionell, und auch nicht nur untergeordnet oder 3 Ausführlich zum Gesamtspektrum mit zahlreichen weiteren Nachweisen Burgi, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 10 Rn. 30; Ackermann, Verwaltungshilfe (Fn. 1), S. 82 ff.; Schmidt am Busch, Die Verwaltung 49 (2016), S. 206 ff.; ferner Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 1 Rn. 134; speziell mit Blick auf das Wirtschaftsverwaltungsrecht Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 18. Aufl. 2015, S. 273 f. 4 Vgl. nur Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 23 Rn. 59.
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unselbstständig, sondern teilweise über Jahrzehnte hinweg mit erheblichem Entscheidungspotenzial Teilbeiträge durch private Helfer erbracht werden, etwa beim Betrieb kommunaler Einrichtungen. Diese wurden von der Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen auch dann unverändert als „kommunale öffentliche Einrichtungen“ beurteilt,5 wenn sie durch externe Private betrieben werden. Eine weitere Privatisierungsoption bildet schließlich die Beleihung. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Private durch Gesetz dazu befugt werden, die dem Staat vorbehaltenen Handlungsformen des öffentlichen Rechts, insbesondere die Handlungsform des Verwaltungsakts, selbstständig einzusetzen.6 Fehlt eine erforderliche gesetzliche Grundlage, dann spricht man von einer sog. De-facto-Beleihung.7 Es handelt sich nicht etwa um eine (unstatthafte) Verwaltungshilfe. Sobald namentlich Verwaltungsakte mit abschließenden Entscheidungen, vor allem Gebühren- und Beitragsbescheide von der jeweils zuständigen staatlichen „Behörde“ i.S.d. § 35 VwVfG oder eben von einem Beliehenen erlassen werden, hat man es mithin mit einer funktionalen Privatisierung zu tun, auch wenn Private in noch so weitem Umfang in die Vorbereitung und Durchführung jener Bescheide einbezogen worden sind. Die in der Rechtsprechung teilweise erörterte Unterscheidung zwischen Nichtakt (Scheinverwaltungsakt) und (u. U. rechtswidrigem) Verwaltungsakt8 wirkt sich mithin dann nicht aus, wenn die zuständigen Behörden nach außen eindeutig erkennbar über Briefbögen, die Versendung der Rechtsbehelfsbelehrung etc.9 selbst gehandelt haben. 2. Öffentliche Unternehmen und externe Private als Verwaltungshelfer In der Praxis sind sehr häufig als Verwaltungshelfer keine „echten“ Privaten tätig, sondern öffentliche Unternehmen, die von dem jeweiligen Verwaltungsträger gegründet worden sind. In der Sache handelt es sich um eine Kombination von funktionaler Privatisierung und Organisationsprivatisierung. Dabei sind entweder Eigengesellschaften (die in der GmbH-Form vollständig dem jeweiligen Verwaltungsträger gehören) oder gemischtwirtschaftliche Unternehmen, an denen auch Private beteiligt sind, aktiv. Denkbar ist schließlich auch, dass mehrere Verwaltungsträger gemeinsam ein solches öffentliches Unternehmen eingerichtet haben, dies auch wiederum mit oder ohne zusätzliche Beteiligung Privater. Eine solche gemischt-öffentlich und -private Gesellschaft fungierte beispielsweise in der Rechtssache, die zum 5
St. Rspr.; zuletzt NdsOVG, DVBl. 2013, 253; vgl. noch IV.2.b). Vgl. zum Beleihungsbegriff wiederum stellv. Burgi, in: Ehlers/Pünder (Fn. 3), § 10 Rn. 22 m.w.N. 7 Vgl. hierzu VGH BW, DVBl. 2010, 196 („Gebührenrechnung“ eines Privaten ist kein Verwaltungsakt); Hess VGH, NVwZ 2010, 1254. 8 Siehe BVerwG, Beschl. v. 30. 08. 2006, 10 P 38/06, Rn. 6; BVerwG, DVBl. 2012, 49. 9 Explizit: Nds OVG, NVwZ 2009, 670. 6
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Urteil des ThürOVG vom 14. Oktober 200910 (betreffend die Statthaftigkeit der Verwaltungshilfe beim Erlass von Gebührenbescheiden; dazu noch ausführlich IV.) geführt hat, als Verwaltungshelfer.11 Die durch den Verf. in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1999 zum Thema „Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe“ vorgeschlagene Titulierung dieser Konstellation als „unechte Verwaltungshilfe“12 mag man verwenden oder nicht; wichtig ist für die rechtliche Beurteilung des Folgerechts (sogleich 4.) im Auge zu behalten, dass neben der durch einen schuldrechtsähnlichen Einzelvertrag bewirkten Begründung der eigentlichen Verwaltungshilfe in Fällen dieser Art ein zweiter Strang der Steuerung und Kontrolle in Gestalt des jeweils zugrunde liegenden Gesellschaftsvertrags und der damit verbundenen Mechanismen besteht. 3. Gründe Die durch die jeweils betroffenen Verwaltungsträger zugunsten einer funktionalen Privatisierung ins Felde geführten Gründe liegen zum Ersten in spezifischen Anforderungen der jeweils betroffenen Verwaltungsaufgaben begründet, sind vielfach (zweitens) auch durch finanzielle Überlegungen motiviert und entspringen (drittens) bestimmten politisch-ökonomischen Vorstellungen der jeweils Verantwortlichen über die Rolle, die Stärken und die Schwächen der in Betracht kommenden Akteure. Betrachtet man beispielsweise die den Industrie- und Handelskammern durch § 34a GewO übertragene Aufgabe der Unterrichtung im Bewachungsgewerbe, so geht es oftmals um sehr service-, zeit- und raumintensive Tätigkeiten, die für einen großen Personenkreis (das Personal der Sicherheitsdienstleister) erbracht werden müssen, welcher in Zahl und Zusammensetzung schwankt. Es liegt auf der Hand, dass eine praxisnahe Unterrichtung in erheblichem Maße eigene praktische Anschauungen im Bewachungsgewerbe voraussetzt und auch die Gewinnung von Trainern und Unterrichtenden beträchtlich erleichtert wird, wenn entsprechende Vernetzungen in jener Branche bestehen. 4. Blick auf das Privatisierungsfolgenrecht a) Grundlagen der staatlichen Gewährleistungsverantwortung Dass der Staat nach erfolgter Privatisierung nicht aus seiner Verantwortung entlassen ist, sondern in einer wenn auch veränderten Rolle weiterhin agiert, ist heute unumstritten und gilt insbesondere für die funktionale Privatisierung, bei der ja die eigentliche Verwaltungsaufgabe gar nicht aufgegeben wird. Zur Kennzeichnung 10
ThürOVG, Urt. v. 14. 10. 2009, 4 EO 26/09. Zum Gesamtspektrum vgl. wiederum stellv. Burgi, in: Ehlers/Pünder (Fn. 3), § 10 Rn. 13 ff. m.w.N. 12 S. 161. 11
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der neuen Rolle hat sich der Begriff der „Gewährleistungsverantwortung“ eingebürgert.13 Sie ist bezogen auf diejenigen Tatbeiträge durchführenden und/oder vorbereitenden Charakters, die im Zusammenhang mit einer funktionalen Privatisierung statthafterweise übertragen worden sind. Rechtliche Grundlage der Gewährleistungsverantwortung ist ganz allgemein gesprochen die fortbestehende staatliche Letztverantwortung für das Gemeinwohl, hinzu treten das Gebot der demokratischen Legitimation allen Verwaltungshandelns, das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechtsbindung. Auch die nachfolgend zu III. entfaltete Zuständigkeitsordnung impliziert, dass der Staat nach einer funktionalen Privatisierung weiterhin für die Verwirklichung der durch den Gesetzgeber in seine Zuständigkeit gegebenen öffentlichen Gemeinwohlbelange Sorge tragen muss.14 So betrachtet, bildet die Gewährleistungsverantwortung das Korrelat dafür, dass die Rechtsordnung unter den nachfolgend thematisierten Voraussetzungen der Verwaltung die Einbeziehung Privater in die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben ermöglicht. b) Einstehenmüssen für Rechtmäßigkeit und Effektivität Zunächst geht es selbstverständlich darum, dass das von der jeweiligen staatlichen Stelle zu verantwortende Verwaltungshandeln nach außen weiterhin rechtmäßig bleiben muss. Dies bedeutet konkret, dass Zulassungsansprüche zu öffentlichen Einrichtungen nicht grundlos abgelehnt oder etwa eine Unterrichtsbescheinigung nach § 34a GewO nicht erteilt werden darf, wenn gar keine Unterrichtung stattgefunden hat. Fehler, die den eingeschalteten Privaten unterlaufen, werden mithin der jeweils zuständigen staatlichen Stelle zugerechnet und „infizieren“ gleichsam die von dieser getroffenen Entscheidungen. Dies ist in den vergangenen Jahren insbesondere im Hinblick auf die hier im Vordergrund stehende Betrauung Privater mit Teilbeiträgen vorbereitenden Charakters (im Hinblick auf später zu treffende Verwaltungsentscheidungen) herausgearbeitet worden.15 In jüngerer Zeit ist gezeigt worden, dass hierbei auch der Untersuchungsgrundsatz nach § 24 Abs. 1 S. 1 VwVfG maßgeblich ist, indem aus ihm die Folgerung gezogen werden muss, dass die zuständige Behörde sich nicht blind auf von Privaten ermittelte Einschätzungen stützen darf, sondern jeweils selbst in der Lage bleiben muss, die vorgelegten Ergebnisse „zu prüfen und für 13
Vgl. statt vieler Voßkuhle, VVDStRL 62 (2002), 266 (307 ff.); Burgi, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HdbStR IV, 3. Aufl. 2006, § 75 Rn. 30, sowie ders., Gutachten zum 67. DJT, S. 94 ff. Aus der Rechtsprechung: ThürOVG/3 Az. 4 ZKO 711/11, Rn. 20 f.; SächsOVG, Urt. v. 18. 12. 2014, 5 A 193/12, Rn. 47. Als aktuellster Beitrag im Schrifttum: Schmidt am Busch, Die Verwaltung 49 (2016), 205. 14 Bündig zusammengestellt jüngst bei Schmidt am Busch, Die Verwaltung 49 (2016), 212 ff. 15 Grundlegend bei Burgi, Die Verwaltung 33 (2000), 183; nachfolgend u. a. Appel, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts II, 2. Aufl. 2012, § 32 Rn. 77 ff.
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richtig zu befinden“.16 Neben der Rechtmäßigkeit umfasst die Gewährleistungsverantwortung aber auch die Effektivität des Verwaltungshelferhandelns in dem Sinne, dass die diesem übertragenen Teilbeiträge in der vorgesehenen Zeit und mit dem vorgesehenen Leistungsumfang erbracht werden.17 Bei Vorliegen der weiteren hierfür beachtlichen Voraussetzungen kann zudem der Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG in Betracht kommen. Hatte der BGH zunächst die Zurechnung bestimmter Teilbeiträge von Verwaltungshelfern mit deren angeblichem Charakter als „Werkzeuge“ der Verwaltung verknüpft,18 hat er sich in neuerer Zeit hiervon gelöst und stellt mittlerweile allgemein darauf ab, „ob auf privatrechtlicher Grundlage … (eine) Heranziehung privater Unternehmer zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben“ erfolgt ist. Sodann heißt es: Je stärker der hoheitliche Charakter der Aufgabe in den Vordergrund tritt, je enger die Verbindung zwischen der übertragenen Tätigkeit und der von der Behörde zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe und je begrenzter der Entscheidungsspielraum des Unternehmers ist, desto näher liegt es, ihn als Beamten im haftungsrechtlichen Sinne anzusehen. Danach kann sich die öffentliche Hand jedenfalls im Bereich der Eingriffsverwaltung der Amtshaftung für fehlerhaftes Verhalten ihrer Bediensteten grundsätzlich nicht dadurch entziehen, dass sie die Durchführung einer von ihr angeordneten Maßnahme durch privatrechtlichen Vertrag auf einen privaten Unternehmer überträgt.“19 In dieser Entscheidung wurde eine als „Verifizierer“ tätige sachverständige Person nach dem Treibhausgasemissionshandelsgesetz 2004 als „Beamter im verfassungsrechtlichen Sinne“ qualifiziert.20 c) Instrumente Das zentrale Instrument der Wahrnehmung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung bildet der jeweils abgeschlossene Vertrag, typischerweise ein privatrechtlicher Kooperationsvertrag. Bei der Option der sog. unechten Verwaltungshilfe treten die Steuerungs- und Kontrollmechanismen des Gesellschaftsrechts hinzu.21 Sie eröffnen bei tatkräftiger Handhabung einen zweiten Pfad, auf dem das Einstehenmüssen für Rechtmäßigkeit und Effektivität des Verwaltungshelferhandelns zusätzlich erreicht werden kann, insbesondere durch das Instrument der gesellschaftsrecht-
16 So die Formulierung des OVG Schleswig, NordÖR 2006, 263; vgl. näher hierzu auch Ackermann, Verwaltungshilfe (Fn. 1), S. 209 f. 17 Näher zum Maßstab der Effektivität zuletzt Schmidt am Busch, Die Verwaltung 49 (2016), 220. 18 So namentlich noch BGHZ 121, 161 (Abschleppunternehmer). 19 BGHZ 161, 6 (11); BGH, NVwZ 2006, 966, und zuletzt BGH, NVwZ 2012, 381. 20 Diese Rechtsprechungslinie ist bündig nachvollzogen bei Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 24 f. 21 Allg. zu diesen Zusammenhängen vgl. Burgi, in: Gutachten D zum 67. DJT, 2006, S. 103 ff.
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lichen Weisung.22 Am wichtigsten sind vertragliche Regelungen über die einzelnen durch den Verwaltungshelfer zu erbringenden Leistungen nach Ort, Umfang und Qualität. Flankierend müssen Informations-, Berichts- und Dokumentationspflichten hinzutreten. Werden Verfahrensergebnisse durch die zuständige Verwaltungsbehörde rezipiert, die der Verwaltungshelfer zu Tage gefördert hat,23 ist eine nachvollziehende Prüfung und Befassung zu gewährleisten. Dies bedeutet, dass bei Zweifeln oder gar Verdachtsmomenten umgehend vertiefter nachgeprüft und stets zumindest stichprobenartige Kontrollermittlungen vorgenommen werden (nach Art einer „nachvollziehenden Amtsermittlung“).24 Jenseits der Rezeptionsphase ist durchgehend eine nachträgliche Kontrolle sicherzustellen. Dies kann geschehen durch einzelne Weisungen, durch Anpassung abstrakt-genereller Handlungsanweisungen, sowie durch die Einräumung des Zugriffs auf Unterlagen, handelnde Personen und Räume aus dem Bereich des Verwaltungshelfers. Treten im Verlaufe der Zusammenarbeit mit dem Verwaltungshelfer Schwierigkeiten auf, die nicht mit Hilfe der vorstehend beschriebenen Elemente dauerhaft bewältigt werden können, muss eine Anpassung der vertraglichen Verhältnisse und erforderlichenfalls deren Beendigung möglich sein.25 Der abgeschlossene Vertrag muss von vornherein solche Optionen vorsehen. Verwaltungspraktisch bedarf es für diesen Fall zudem eines „Plans B“, d. h. das Bestehen von Rückholoptionen und von Möglichkeiten zum Selbsteintritt oder zumindest zur raschen Einbeziehung eines anderen Verwaltungshelfers.26 Noch vor dem Abschluss eines Vertrages, also in der Auswahlphase, fungiert das Vergaberecht als Instrument der Gewährleistungsverantwortung. Dabei sind Fachkunde und Leistungsfähigkeit die Kategorien die zum Ausdruck bringen, dass an Personen, die in staatlichem Auftrag Dienstleistungen erbringen sollen, bestimmte Anforderungen gestellt werden müssen. Nach § 122 Abs. 2 GWB ist ein Unternehmen dann geeignet, „wenn es die durch den öffentlichen Auftraggeber im Einzelnen zur ordnungsgemäßen Ausführung des öffentlichen Auftrags festgelegten Kriterien (Eignungskriterien)“ erfüllt. Diese betreffen u. a. nach neuem Vergaberecht „1. Die Befähigung und Erlaubnis zur Berufsausübung“ (früher: Fachkunde) und
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Eingehend zu den Steuerungsmöglichkeiten von Verwaltungsstellen gegenüber eigenen öffentlichen Unternehmen aus neuerer Zeit Burgi, in: Herrler (Hrsg.), Aktuelle gesellschaftsrechtliche Herausforderungen. Symposium des Instituts für Notarrecht an der Universität Würzburg, 2015, S. 49 ff. 23 Begriff nach Appel, in: Grundlagen II (Fn. 15), § 32 Rn. 89 ff. 24 Begriff nach Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung bei der Umweltverträglichkeitsprüfung, 1991, S. 126 ff.; Ackermann, Verwaltungshilfe (Fn. 1), S. 209 f.; zu den Einzelheiten vgl. vertiefend Appel, in: Grundlagen II (Fn. 15), § 32 Rn. 90 ff. 25 Vgl. hierzu Bauer, DÖV 1998, 89. 26 Siehe dazu näher Burgi, in: Gutachten D zum 67. DJT, S. 96.
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„2. die wirtschaftliche und finanzielle“ sowie „3. die technische und berufliche Leistungsfähigkeit“.27 Welche Anforderungen im Einzelnen an die Fachkunde und Leistungsfähigkeit der Verwaltungshelfer zu stellen sind, ergibt sich aus dem Charakter der jeweils betroffenen Tätigkeiten und dem normativen Kontext der jeweils infrage stehenden Verwaltungsaufgaben. Hinzu tritt § 20 VwVfG, der nach neuerdings von der Rechtsprechung bekräftigter Sicht das Erfordernis der Mitwirkung ausschließlich nichtbefangener Personen in einem Verwaltungsverfahren, d. h. in einem Verfahren, an dessen Ende der Erlass von Verwaltungsakten steht, normiert. Wie der BayVGH mit Urteil vom 25. Februar 2013 festgestellt hat,28 gehören zu dem von Art. 20 Abs. 1 BayVwVfG erfassten Personenkreis in diesem Zusammenhang nicht nur Amtsträger, „sondern alle Personen, denen von der Behörde eine aktive Rolle in einem Verwaltungsverfahren zugewiesen wurde, die sich nicht in gänzlich untergeordneten … Verrichtungen erschöpft“. Damit ist das Erfordernis der Unbefangenheit (Neutralität) explizit als Bestandteil der Gewährleistungsverantwortung normiert. Strukturell vergleichbar treten als personen- bzw. unternehmensbezogene Anforderungen das Vorhandensein von Sachverstand und einer leistungsfähigen Binnenstruktur auf Seiten des Verwaltungshelfers hinzu. Aus der Gewährleistungsverantwortung folgt mithin eine bei der Auswahl des Verwaltungshelfers zu realisierende Verantwortung für bestimmte organisatorische und verfahrensmäßige Strukturen in seinem künftigen Tätigkeitsbereich.29 Bei der Formulierung der Eignungskriterien im Zusammenhang mit der Gewinnung bzw. Auswahl von Verwaltungshelfern muss die zuständige Verwaltungsstelle mithin auf diese Erfordernisse achten. Ebenfalls bereits in der Auswahlsituation sind die Vorstellungen der zuständigen Verwaltungsstelle an die Qualität der Leistungserbringung zu formulieren und (bei Eingreifen von Transparenzpflichten) entsprechend zu kommunizieren. Insoweit ermöglicht namentlich das seit April 2016 reformierte neue GWB-Vergaberecht gemäß § 127 Abs. 1 S. 3 GWB neben dem Preis oder den Kosten explizit auch die Berücksichtigung „qualitativer Aspekte“. Bei der Formulierung der Qualitätsanforderungen ist der Auftraggeber von Vergaberechts wegen weitgehend frei. Neuerdings ist es ihm sogar explizit möglich, innerhalb der Prüfung der Zuschlagskriterien ein sog. „Mehr an Eignung“ zu berücksichtigen. Gemäß § 58 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 VgV kann die „Organisation, Qualifikation und Erfahrung des mit der Ausführung des Auftrags betrauten Personals, wenn die Qualität des eingesetzten Personals erheblichen Einfluss auf das Niveau der Auftragsausführung haben kann“ nicht nur auf der Stufe der Eignungskriterien, sondern zusätzlich, d. h. als Wertungskriterium, auf der Stufe der Formulierung von Zuschlagskriterien und sodann bei der Wertung von An-
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Vgl. statt vieler Burgi, Gutachten D zum 67. DJT, S. 101 f. BayVBl. 2014, 50. 29 Grundlegend Burgi, Die Verwaltung 33 (2000), 183; nachfolgend Appel, in: Grundlagen II (Fn. 15), § 32 Rn. 79 ff. 28
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geboten berücksichtigt werden.30 All dies ist erst recht möglich, wenn die Auswahlentscheidung außerhalb des GWB-Vergaberechts erfolgen kann. III. Verfassungs- und einfachrechtliche Grenzen der funktionalen Privatisierung im Überblick 1. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen Das Grundgesetz enthält kein allgemeines Verbot der Einbeziehung Privater in die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben. Ihm lassen sich aber für bestimmte Situationen Aussagen entnehmen, die einer Privatisierung entgegenstehen können. Da freilich die funktionale Privatisierung nur Teilbeiträge betrifft, ist sie verfassungsrechtlich vergleichsweise unproblematisch.31 Die klassischen Privatisierungsgrenzen für die Felder der Sicherheit, der Vollstreckung, namentlich des Polizei- und Justizwesens sowie die Infrastrukturgewährleistungspflichten, wie sie etwa in Art. 87e oder 87 f GG vorgesehen sind, sind normalerweise nicht tangiert. Aber auch Art. 33 Abs. 4 GG, der vorsieht, dass die Ausübung „hoheitsrechtlicher Befugnisse … als ständige Aufgabe in der Regel“ Berufsbeamten zu übertragen ist, greift nicht ein. Zwar kann er durchaus Wirkungen entfalten, wenn Privaten durch ein Gesetz die sonst dem Staat vorbehaltenen öffentlich-rechtlichen Handlungsbefugnisse übertragen werden sollen; er bildet also nicht nur einen Maßstab für das Verhältnis zwischen dem Einsatz von Beamten und dem Einsatz von Angestellten.32 Ziel des Befugnisvorbehalts ist es, „zum Schutz des Bürgers die Wahrnehmung hoheitsrechtlicher Befugnisse in die Hand eines fachlich besonders qualifizierten und sachkundigen Bedienstetentypus zu legen“.33 Das, was Private nach einer funktionalen Privatisierung tun, ist aber kein Fall der „Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse“, was den Verwaltungshelfer gerade vom Beliehenen unterscheidet.34 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Privatisierung von Aufgaben des Maßregelvollzugs (einer Beleihungskonstellation) festgestellt, dass es sich dann um eine Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse handle, wenn dem Privaten „Befugnisse zum Grundrechtseingriff im engeren Sinne“ übertragen würden, d. h. wenn „durch Befehl oder Zwang unmittelbar beschränkend auf grundrechtlich geschützte Freiheiten“ eingewirkt würde.35 Davon kann im Hinblick auf die typischerweise auf Verwaltungshelfer übertragenen Beiträge keine Rede sein. 30
Zu den Einzelheiten vgl. Burgi, Vergaberecht, 2016, § 17 Rn. 11. Als Gesamtüberblick: Burgi, in: HdbStR IV (Fn. 13), § 75, Rn. 16 ff. 32 So zuletzt BVerfG, Urt. v. 18. 01. 2012, 2 BvR 133/10, Rn. 135 f. (Maßregelvollzug). 33 So Lecheler, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR VI, 3. Aufl. 2007, § 110 Rn. 15. 34 Vgl. Burgi, Gutachten D zum 67. DJT, 2008, S. 59 f.; Ackermann, Verwaltungshilfe (Fn. 1), S. 189 ff.; a.A., jedoch ohne Begründung, Stelkens, Verwaltungsprivatrecht, 2005, S. 170 f. 35 BVerfG, Urt. v. 18. 01. 2012, 2 BvR 133/10, Rn. 138 ff. 31
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2. Einfachgesetzliche Rahmenbedingungen Indem der Gesetzgeber in den jeweils einschlägigen Normen einer bestimmten Verwaltungsstelle bestimmte Zuständigkeiten übertragen hat, hat er zugleich die Aufgaben, auf die sich die Zuständigkeit bezieht, zu Pflichtaufgaben erklärt. Dies hat im Hinblick auf Privatisierungen zur Konsequenz, dass ein vollständiger Rückzug, d. h. eine Aufgabenprivatisierung, insoweit ausgeschlossen ist. Diese Konsequenz ist von den sog. kommunalen Pflichtaufgaben her bekannt.36 Da die funktionale Privatisierung aber gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass die jeweilige Verwaltungsstelle die Zuständigkeit behalten und lediglich Tätigkeiten durchführenden bzw. vorbereitenden Charakters auf Private übertragen will, ergibt sich nicht bereits aus der pflichtigen Übertragung jener Aufgaben ein Privatisierungsverbot. Wie bereits festgestellt, erfordert die Beleihung, d. h. die Ermächtigung Privater, die sonst dem Staat vorbehaltenen öffentlich-rechtlichen Befugnisse auszuüben, eine gesetzliche Grundlage.37 Bei der Verwaltungshilfe greift ein solcher institutioneller Gesetzesvorbehalt nach allgemeiner Einschätzung nicht ein, weil die Zuständigkeitsordnung hierdurch nicht verändert wird und die Verwaltungshelfer nicht etwa als „Behörden“ i.S.v. § 1 Abs. 4 VwVfG agieren.38 Sofern es teilweise in der Rechtsordnung Vorschriften gibt, die ausdrücklich die Einschaltung „Dritter“ als Verwaltungshelfer erlauben (wie namentlich § 56 S. 3 WHG39 oder § 22 S. 1 KrWG40), handelt es sich nach einhelliger Auffassung um Normen mit deklaratorischer Bedeutung. Soweit in der Rechtsprechung teilweise erwogen wird, eine gesetzliche Grundlage für bestimmte Formen der Verwaltungshilfe dann zu fordern, wenn sich mit ihr ein „Mandat“ verbindet, d. h. Teilbeiträge in einem solchen Ausmaß übertragen werden, dass dies einer „ständigen Aufgabenübertragung gleichkommt“,41 beruht dies auf der zuvor gebildeten Einschätzung, dass ein Verstoß gegen den sog. Grundsatz der Selbstorganschaft vorliegt (zu ihm IV.); dieser Grundsatz könne dann durchbrochen werden, wenn der Gesetzgeber selbst die Durchbrechung gestattet. Im Allgemeinen liegen die Dinge so, dass eine darauf bezogene gesetzliche Grundlage fehlt. Mithin hängt die Beurteilung der Statthaftigkeit der jeweils infrage stehenden Vorgänge der funktionalen Privatisierung allein davon ab, ob der sog. Grundsatz der Selbstorganschaft überhaupt beeinträchtigt ist, ob es sich mithin um eine Übertragung von Teilbeiträgen handelt, die einer „ständigen Aufgabenübertragung gleichkommt“. Ist dies 36 Vgl. insoweit etwa OVG Rh.-Pf., DVBl. 1985, 176 (177); Burgi, in: Ehlers/Pünder (Fn. 3), § 10 Rn. 30. 37 Vgl. nur BVerwGE 98, 280 (298); BremStGH, NVwZ 2003, 81; zuletzt Ackermann, Verwaltungshilfe (Fn. 1), S. 172 ff. 38 Aus dem Schrifttum Burgi, Funktionale Privatisierung, 1999, S. 287 f.; Appel, in: Grundlagen II (Fn. 15), § 32 Rn. 74; jüngst Ackermann, Verwaltungshilfe (Fn. 1), S. 177 ff. 39 Vgl. nur Ganske, in: Landmann/Rohmer, WHG, Januar 2017, § 56 Rn. 28. 40 Vgl. nur Beckmann, in: Landmann/Rohmer, KrWG, September 2016, § 22 Rn. 4. 41 So insb. das ThürOVG in mehreren Entscheidungen (vgl. hier nur Beschl. v. 19. 10. 2009, 4 EO 26/09, Rn. 25; näher sogleich IV.1.a).
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der Fall, würde sich die hier zu beurteilende funktionale Privatisierung als unstatthaft erweisen. Im anderen Fall wäre jener Grundsatz nicht beeinträchtigt und es bedürfte auch keiner gesetzlichen Grundlage. IV. Existenz und Reichweite des sog. Grundsatzes der Selbstorganschaft 1. Bedeutung und Inhalt a) Rechtsprechung Der Sache nach befasste sich, soweit ersichtlich, als erstes das OVG Schleswig in seinem Urteil vom 15. März 2006 betreffend die Einschaltung von Verwaltungshelfern bei der Erstellung von Abgabenbescheiden mit diesem Grundsatz, freilich ohne ihn explizit zu nennen. Nach dieser Entscheidung dürften Verwaltungshelfer beim Einzug von Gebühren allenfalls „in der technischen Abwicklung“ eingeschaltet werden, während die jeweils von ihnen u. U. vorbereiteten Entwürfe von zuständigen Bediensteten „geprüft und für richtig befunden“ sein müssten.42 Am häufigsten und intensivsten hat sich sodann das ThürOVG mit dieser Thematik befasst, wiederum ausschließlich im Zusammenhang mit Abgabenbescheiden. Die erste Entscheidung (nachfolgend: ThürOVG/1) datiert vom 19. Oktober 2009.43 In ihr wird ausdrücklich festgestellt, dass Behörden „grundsätzlich zur Erfüllung ihrer Aufgaben in Selbstorganschaft verpflichtet“ seien. Ausgeschlossen sei daher die Einbeziehung Privater in einem Umfang, der „einer ständigen Aufgabenübertragung gleichkomme“.44 Das ThürOVG hat dies in einem Urteil vom 14. Dezember 2009 bekräftigt.45 Demnach verbindet sich mit dieser Pflicht auch, dass die betroffene Verwaltungsstelle selbst „fachlich geeignetes Verwaltungspersonal anstellen“ müsse. Erneut wird betont, dass die Einbeziehung von Privaten zwar möglich sei, aber nicht in der Weise, dass Sie einer „ständigen Aufgabenübertragung“ gleichkomme.46 Hieran hat das OVG auch in seinem Beschluss vom 23. Februar 2012 festgehalten.47 Danach dürfe sich die zuständige Verwaltungsstelle nicht ausschließlich auf Überwachungsund Kontrolltätigkeiten beschränken. Vielmehr müsse sie die einzelnen Entscheidungen „auch inhaltlich verantworten“ können.48 Daran anknüpfend hat auch das SächsOVG in mehreren Entscheidungen die funktionale Personalisierung beim Er-
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NordÖR 2006, 263. Az. 4 EO 26/09. 44 Rn. 24 u. 25. 45 Az. 4 KO 482/09 (nachfolgend: ThürOVG/2). 46 Rn. 30 – 33. 47 Az. 4 ZKO 711/11. 48 Rn. 22 f. (nachfolgend: ThürOVG/3).
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lass von Abgabenbescheiden kritisch beurteilt.49 Das BVerwG hat in seiner das zweitgenannte Urteil des ThürOVG bestätigenden Entscheidung vom 23. August 201250 den „Grundsatz der Selbstorganschaft“ lediglich beiläufig erwähnt, ihn hingegen weder näher begründet noch entfaltet. Wie dem Urteil des ThürOVG vom 14. Dezember 200951 entnommen werden kann, beruht die Annahme des Bestehens eines solchen Grundsatzes auf der Überlegung, dass Zuständigkeitsnormen nicht nur formell darüber bestimmen würden, über welche Behörden einem Verwaltungsträger eine bestimmte Handlung zugerechnet werden soll. Vielmehr werde in ihnen auch (mithin materiell) ausgedrückt, „dass der Kompetenzinhaber selbst die ihm eingeräumten Kompetenzen ausüben soll, weil er dem Gesetzgeber nach seiner organisatorischen Stellung im Staatsgefüge, seiner Betrauung mit anderen Aufgaben, seiner personellen und sächlichen Ausstattung als geeignet erscheint, die zugewiesene Aufgabe wahrzunehmen“. In diesem Zusammenhang sei ferner der Umstand von Bedeutung, dass die betreffenden Organe eine jeweils eigene demokratische Legitimation besäßen und unmittelbar der staatsaufsichtlichen Kontrolle unterworfen seien. Fasst man zusammen, was nach Einschätzung dieser Rechtsprechungslinie (bezogen auf Abgabenbescheide) ausgeschlossen sein soll, dann lässt sich dies wie folgt beschreiben: Es dürfe nicht „praktisch die gesamte öffentliche Aufgabe von einem privaten Dritten erfüllt“ werden.52 Es dürfe ferner nicht so liegen, dass die zuständige Verwaltungsstelle über „keinerlei eigenes Personal verfüge“53, bzw. dass die übertragenen Tätigkeiten in ihrer Summe und Intensität „einer ständigen Aufgabenübertragung gleichkommen“.54 Die Verteilung des Gebührenaufkommens, d. h. die Höhe des Anteils aus den Gebührenaufkommen, der durch das Entgelt des Verwaltungshelfers gebildet wird, spielt dabei keine Rolle, weil sie keine Auskunft über die Intensität der Einbeziehung und die Nähe zur weiterhin hoheitlichen Entscheidung gibt; im Gegenteil sind gerade weniger intensive, entscheidungsfernere Tätigkeiten (man denke an Vorgänge wie Abschleppen, Abtransportieren, Aufbewahren oder Unterrichten) vergleichsweise zeit- und personalaufwendiger und damit auch teurer. Wie stets beim Umgang mit Gerichtsentscheidungen kommt es freilich nicht nur auf deren sorgfältige Lektüre, sondern auch darauf an, deutlich zwischen den jeweils zugrundeliegenden Sachverhalten und den rechtlich gebildeten Obersätzen zu unterscheiden. So wird im Urteil des ThürOVG vom 14. Dezember 200955 zwar in einer 49 Beschl. v. 23. 02. 2012, 5 A 331/10, Rn. 22 f.; Urt. v. 3. 12. 2013, 4 A 567/11, Rn. 23; Urt. v. 18. 12. 2014, 5 A 193/12, Rn. 21 f. 50 DVBl. 2012, 49 (50). 51 4 KO 482/09, Rn. 33; vgl. auch Stelkens, Verwaltungsprivatrecht (Fn. 34), S. 166. 52 OVG SH, NordÖR 2006, 263 ff.; ThürOVG/2, Rn. 35. 53 ThürOVG/1, Rn. 22. 54 ThürOVG/1, Rn. 25; ThürOVG/2, Rn. 34; ähnlich SächsOVG, Urt. v. 3. 12. 2013, 4 A 567/11, Rn. 24. 55 ThürOVG/2, Rn. 31.
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umfangreichen Aufzählung mitgeteilt, dass dort der private Verwaltungshelfer u. a. mit der „Durchführung von Bürgerinformationsveranstaltungen“ befasst war. In der nachfolgenden juristischen Prüfung am Maßstab des „Grundsatzes der Selbstorganschaft“56 wird dann aber nicht festgestellt, dass die Übertragung gerade dieser Tätigkeit (die äußerlich am Ehesten an die eingangs erwähnten Unterrichtungsleistungen im Zusammenhang mit der Gewerbeordnung vergleichbar ist) ausgeschlossen wäre. b) Schrifttum Im Schrifttum, dem bislang keine durchgehende Anerkennung jenes Grundsatzes zu entnehmen ist (vgl. I.), befassen sich ausführlicher (und unter Bezug auf die eigene Monographie mit dem Titel „Verwaltungsprivatrecht“)57 Stelkens58 und sodann Schmitz hiermit. Dabei stellt allerdings der Autor Stelkens, der sich insgesamt am umfangreichsten mit jenem Grundsatz beschäftigt hat, ausdrücklich fest, dass die Einbeziehung Privater im Hinblick auf den Grundsatz jedenfalls weniger rechtfertigungsbedürftig sei als eine Verlagerung der Aufgabenerfüllung zwischen staatlichen Behörden, jedenfalls sei eine „auf Dauer angelegte funktionale Privatisierung nicht“ ausgeschlossen.59 Der Begriff selbst ist, soweit ersichtlich, von Hufeld60 geprägt worden. Der Sache nach liegt er auch den sogleich näher aufgegriffenen Überlegungen von Remmert61 zugrunde. 2. Anwendungsbereich (tatbestandliche Voraussetzungen) a) Bisherige Rechtsprechung: Erlass von Abgabenbescheiden Die soeben referierte Rechtsprechung betrifft durchgehend und ausschließlich Abgabenbescheide, mithin Verwaltungsakte i.S.d. § 35 VwVfG. Das ThürOVG62 spricht explizit davon, dass im Hinblick auf solche Bescheide „ein bloßer Hoheitstorso“ verbleibe, wenn Private in der von ihm negativ beurteilten Intensität beim Erlass dieser Bescheide einbezogen würden. Wiederholt betont das Gericht, dass es „nur darum“ gehe, dass unter den genannten Voraussetzungen eine zuständige Verwaltungsstelle nicht durch Dritte „hoheitlich Abgaben … erheben lassen“ dürfe.63 Dabei ist auch zu bedenken, dass die Kalkulation und Berechnung von Abgaben gerade im Abwasser- und Wasserbereich von besonderer Kompliziertheit und Fehlerträchtigkeit ist. 56
In Rn. 33 f. Stelkens, Verwaltungsprivatrecht (Fn. 34), S. 166 ff. 58 Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 35 Rn. 59. 59 Verwaltungsprivatrecht (Fn. 34), S. 171. 60 Die Vertretung der Behörde, 2003, S. 21 f. 61 Private Dienstleistungen im staatlichen Verwaltungsverfahren, 2003, S. 217 mit Fn. 162. 62 ThürOVG/1, Rn. 23, und ThürOVG/2, Rn. 21. 63 ThürOVG/1, Rn. 23; ThürOVG/2, Rn. 31. 57
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b) Unterscheidung zwischen entscheidungsbezogenen und sachmaterienbezogenen Zuständigkeiten Im Anschluss an Remmert64 erscheint zur besseren Einordnung der referierten Rechtsprechungsrichtlinie die Unterscheidung danach hilfreich, ob sich eine bestimmte Zuständigkeit gleichsam punktbezogen auf den Erlass von Entscheidungen bezieht oder ob sie, unspezifischer, auf eine ganze Sachmaterie bezogen ist. Im ersteren Fall wäre der Grundsatz streng zu handhaben, d. h. in Anwendung der von der Rechtsprechung entwickelten, allein auf diese Situationen bezogenen Grundsätze. Im zweiten Fall, in dem sich die Zuständigkeit nicht auf einzelne, konkrete Entscheidungen, sondern auf ganze Sachmaterien bezieht, indem sie etwa auf die „Sicherung eines Bildungsangebots“ oder den „Betrieb einer Einrichtung“ bezogen ist, besteht von vornherein wesentlich mehr Spielraum für die Einbeziehung Privater. So ist in der Rechtsprechung seit jeher vollkommen unangefochten anerkannt, dass beispielsweise über Jahrzehnte hinweg ganze öffentliche Einrichtungen (Mehrzweckhallen, Märkte etc.) von „echten“ Privaten betrieben werden dürfen (vgl. bereits II. 1.) oder dass Entsorgungstätigkeiten in weitem Umfang funktional privatisiert werden dürfen (dies betont explizit auch das ThürOVG in seiner Entscheidung vom 23. Februar 2012)65, was „insbesondere den Bau und den Betrieb der Abwasserbeseitigungsanlagen“ einschließt; das Bundesverwaltungsgericht hat es gebilligt, dass ein Jugendhilfeträger im Rahmen seiner Zuständigkeit für die „Beratung und Unterstützung von Pflegepersonen“ die entsprechenden Durchführungstätigkeiten in weitem Umfang auf freie Träger übertragen hat.66 3. Abschließende Beurteilung Käme es allein auf die bisherige Rechtsprechung, die ja ausschließlich auf den Erlass von Abgabenbescheiden bezogen ist, an, stünde der sog. Grundsatz der Selbstorganschaft der funktionalen Privatisierung nur entgegen, wenn Verwaltungshelfern Tätigkeiten wie die „Erstellung der Gebührenkalkulationen“, die „Erstellung von Gebührenordnungen“, die „Vorbereitung und Durchführung von entscheidenden Sitzungen“, die „Aufstellung der Wirtschaftspläne“, die „Bilanzführung und Buchhaltung“ sowie die „Einziehung der Forderungen“ und die „Vollstreckung“ übertragen werden.67 Wenn Verwaltungshelfer lediglich gebührenrelevante Daten erfassen und bei der Ausfertigung und Versendung von Abgabenbescheiden mitwirken, kann m. E. ohne Weiteres von einer lediglich „technischen Abwicklung“ gesprochen werden,68 die dem Grundsatz nicht widersprechen würde.
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Private Dienstleistungen (Fn. 61), S. 219 ff. ThürOVG/3, Rn. 12 ff. 66 NVwZ-RR 2010, 148. 67 So die Formulierungen in der Entscheidung des ThürOVG/1, Rn. 22. 68 I.S.d. Formulierung des OVG Schleswig, NordÖR 2006, 232.
65
Der sog. Grundsatz der Selbstorganschaft als Privatisierungsgrenze
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Aber auch wenn man, insofern über die bisherige Rechtsprechungslinie hinausgehend, im Anschluss an die soeben zu 2. b) eingeführte Differenzierung zwischen entscheidungsbezogenen und sachmaterienbezogenen Zuständigkeiten den Anwendungsbereich des sog. Grundsatzes der Selbstorganschaft weiter zieht, erweisen sich die meisten in der Praxis erfolgenden Vorgänge der funktionalen Privatisierung als mit der Zuständigkeitsordnung vereinbar. Dies sei abschließend am Beispiel der Tätigkeiten der „Unterrichtung“ nach § 34a GewO illustriert: Solange sämtliche „Entscheidungen“ bei der Kammerverwaltung verbleiben, darunter die Ausstellung der Unterrichtungsbescheinigungen und der Erlass von Gebührenbescheiden, wird die Privatisierungsgrenze nicht berührt. Als sachmaterienbezogen erweisen sich die Zuständigkeiten für das „Erfolgen lassen“ der Unterrichtung und des „Sich überzeugen lassen“ vom Erfolg der Unterrichtung i.S.d. § 2 S. 1 BewachV. Diesbezüglich sind die Spielräume für die zuständige Verwaltungsstelle, sich zugunsten der Einbeziehung Privater entscheiden zu können, mithin von vornherein deutlich größer, insbesondere dann, wenn es sich bei ihnen um Körperschaften mit Selbstverwaltungsbefugnissen handelt, wie bei den Kammern oder den Kommunen. V. Fazit Der in der Rechtsprechung teilweise herangezogene sog. Grundsatz der Selbstorganschaft bildet nur in eng umgrenzten Fällen eine unüberwindbare Grenze der funktionalen Privatisierung. Denn in die unmittelbar vorbereitenden und durchführenden Tätigkeiten beim Erlass von Gebühren- und Beitragsbescheiden sind die Verwaltungshelfer zumeist nicht einbezogen, allein hierauf bezieht sich aber die bisherige Rechtsprechung. Selbst wenn man, insofern über die bisherige Rechtsprechungslinie hinausgehend, den Anwendungsbereich des Grundsatzes der Selbstorganschaft weiter fasst und damit zwischen entscheidungsbezogenen und sachmateriebezogenen Zuständigkeiten differenziert (mit der Konsequenz, dass der Grundsatz bei entscheidungsbezogenen Zuständigkeiten strenger gehandhabt werden müsste), erweisen sich die in der Praxis vorfindlichen und auch in Zukunft zu erwartenden Vorgänge der funktionalen Privatisierung ganz überwiegend als mit der Zuständigkeitsordnung vereinbar. Im Hinblick auf Verwaltungsstellen, die als Körperschaften des Öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltungsbefugnissen ausgestattet sind (wie etwa die Kammern und die Kommunen), kommt hinzu, dass ihnen der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit innerhalb bestehender Spielräume beim Ausschöpfen von Zuständigkeiten zusätzlich Freiraum verschaffen kann.
Die Reform der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion: vor einem Systemwechsel bei Risiko und Haftung Von Matthias Herdegen, Bonn In der Europäischen Union lösen die gegenwärtigen Verwerfungen in der Eurozone und das Gefühl des Stillstandes rituelle Prozesse aus, die schon aus früheren Krisen der europäischen Integration bekannt sind: Es erschallt der Ruf, Europa müsse sich „neu erfinden“ und zu weiterer Integrationstiefe gelangen. Auch die neuen Forderungen nach einer „Reform“ der Wirtschafts- und Währungsunion richten sich wieder auf die Verlagerung von Kompetenzen und von neuen finanziellen Ressourcen auf die Europäische Union. Dabei steht nicht die fortschreitende Verschiebung weitreichender Entscheidungen nach Brüssel in der öffentlichen Wahrnehmung unter Rechtfertigungszwang. Verdächtig vielmehr ist der Widerstand gegen Entmachtung der Mitgliedstaaten. Kaum gestellt wird die Frage, ob gerade die Entlassung nationaler Politik aus der Verantwortung wesentlich zur Malaise Europas beiträgt. Die aktuellen Forderungen aus Paris und Brüssel stellen Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten vor die Frage, welchem Leitprinzip die Wirtschafts- und Währungsunion künftig folgen soll. I. Das System von Maastricht Das System von Maastricht ruht auf der Eigenverantwortung der Euro-Staaten mit der Alleinhaftung für eingegangene Verbindlichkeiten. In der Logik dieser exklusiven Eigenverantwortung liegt der Gleichlauf von eingegangenem Risiko und Folgelasten. Dies ist die Kernaussage der „no bail out“-Klausel des Art. 125 AEUV. Jedoch bleibt es den Euro-Staaten unbenommen, freiwillig bilateralen oder kollektiven Beistand zu leisten, solange die Verpflichtungen zur Haushaltsdisziplin nicht unterlaufen werden.1 Wichtigster Baustein dieser Solidarität ist der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM). Die Sicherung der Haushaltsdisziplin ruht auf zwei Säulen. Einmal sieht der AEU-Vertrag (Art. 121, 126) in Verbindung mit dem sog. „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ ein komplexes System der Überwachung und Sanktio1 s. EuGH, Rs. C-370/12, EU:C:2012:756, Rn. 136 f. – Pringle; Art. 136 Abs. 3 AEUV. Zur Zulässigkeit bilateraler Stützungen schon Herdegen, Das belastbare Grundgesetz, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04. 04. 2012.
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nierung durch die Kommission und den Rat der Europäischen Union vor. Dieses Überwachsungs- und Sanktionsregime ist durch Sekundärrecht (sog. „six pack“ und „two pack“) ausgebaut und verfeinert worden.2 Ergänzend haben die Eurostaaten den außerhalb des EU-Rechts stehenden Fiskalpakt als eine Art „Sonderunionsrecht“ geschlossen. Das institutionelle Überwachungssystem des AEU-Vertrages darf man getrost als gescheitert betrachten. Hier haben Deutschland und Frankreich wesentlichen Anteil. Denn im Jahre 2005 haben sich beide Regierungen im Verein mit anderen Euro-Staaten im ECOFIN-Rat erfolgreich für eine Aussetzung von Defizitverfahren eingesetzt. Von allen Euro-Staaten haben bislang nur Finnland und Estland die Defizitverpflichtungen eingehalten. In keinem Fall wurde förmlich eine Verletzung der Defizitregeln festgestellt. Überschuldete Euro-Staaten werden nicht mit den vertraglich vorgesehenen Sanktionen noch einen Schritt näher an den Abgrund (den Staatsbankrott) herangeführt, sondern können auf den Euro-Rettungsschirm vertrauen. Als zweite Säule der Haushaltsdisziplin soll die Reaktion der Kapitalmärkte auf übermäßige Defizite fungieren. Die Kapitalmärkte sollen nach dem System von Maastricht über Risikoaufschläge die Euro-Staaten bei der Verschiebung von Schuldenlasten in die Zukunft disziplinieren. Die Kapitalmärkte sind auch Adressaten der förmlichen Feststellung eines übermäßigen Haushaltsdefizits durch den Rat (Art. 126 Abs. 6 AEUV). Die Überwachungsfunktion der Kapitalmärkte spielt im System von Maastricht eine zentrale Rolle für die Sicherung der Stabilität der Eurozone. Jedoch haben die EZB-Politik mit dem großzügigen Ankauf von Staatsanleihen und die kollektiven Beistandsmechanismen die Kapitalmärkte lange sediert. Damit haben die EZB und die Euro-Staaten die Wächterfunktion der Kapitalmärkte nicht ganz, aber doch weitgehend ausgeschaltet. Die Folge ist, dass die Zinsen für Staatsanleihen im Euroraum sich deutlich stärker angenähert haben, als es die Bonitätsbewertungen der einzelnen Staaten nahelegen. Die jetzt an die Billionenschwelle heranreichenden Target-Salden3 zugunsten der Bundesbank werden gerne als bloße Verrechnungsposten verniedlicht. Sie dürften aber spätestens beim Austritt eines Schuldnerlandes aus der Eurozone dramatische Nachschusspflichten für den Bund auslösen. Die hinter den Target-Salden stehenden Kapitalströme in die als solider wahrgenommenen Euro-Staaten sind schon jetzt ein klares Votum der Anleger. Die Folge all dieser Entwicklungen ist eine Art Schwebezustand. Das formal im Vertrag von Lissabon fortgeltende System von Maastricht ist einer – konditionierten – Solidarität gewichen. Die Konditionalität hat bei der Stützung strauchelnder Euro-Staaten einen erheblichen Beitrag zur finanziellen Konsolidierung geleistet. Ein neues Modell der echten Vergemeinschaftung von Risiken ist noch nicht an 2
Herdegen, Europarecht, 19. Aufl. 2017, § 23 Rn. 6. https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Aufgaben/Unbarer_Zahlungsver kehr/Target2/2017_12_mb_target2_saldo.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 16. 01. 2018). 3
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die Stelle des Maastrichter Vertragsregimes getreten. Jetzt zielen die von Paris und Brüssel geforderten „Reformen“ auf einen schleichenden, aber deutlichen Systemwechsel. II. Die Vorschläge zur Reform der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion Die Vorschläge von Präsident Macron zu einer Vertiefung der Europäischen Union4 und die etwas bescheideneren Vorstellungen der Europäischen Kommission5 bringen Deutschland in Zugzwang. Vor allem die französischen Vorschläge bedienen unter der Flagge „mehr Europa“ in eleganter Weise mediterrane Interessen mit, die seit langem am System von Maastricht rütteln. Dabei geht es um einen eigenen Haushalt für die Eurozone oder zumindest neue Finanzmittel der Europäischen Union für schwankende Euro-Staaten, einen Europäischen Finanzminister und einen Europäischen Währungsfonds. Diese Vorschläge bedeuten nicht weniger als einen schleichenden Systemwechsel. Dies gilt auch für die von der Kommission hartnäckig betriebene Vergemeinschaftung der Einlagensicherung im Interesse südlicher Euroländer mit schwächelnden Bankensektoren. All diese „Reformen“ bedeuten den Abschied von den in Maastricht vereinbarten Grundlagen der Wirtschafts- und Währungsunion, denen der deutsche Gesetzgeber mit breiter Mehrheit zugestimmt hat. Weiterhin im Raum stehen schließlich Forderungen nach einer Sozialisierung von Haftungsrisiken. So fordert eine Gruppe von deutschen und französischen Ökonomen in einem gemeinsamen Papier mehr Bereitschaft Deutschlands zur „Risikoteilung“.6 Auch die Europäische Kommission7 und andere Akteure favorisieren eine Bündelung und Vermischung von Risiken bei Staatsanleihen. Die schärfste Form der Vergemeinschaftung des Ausfallrisikos wären „Eurobonds“, bei denen alle emittierenden Staaten gesamthänderisch für die volle Summe haften. Jetzt wird eine andere Variante ins Spiel gebracht, bei der Staatsanleihen verschiedener Euroländer in gebündelter Form verbrieft werden, sog. „European Safe Bonds“.
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Rede des französischen Staatspräsidenten Macron an der Sorbonne am 26. 09. 2017, abrufbar unter https://de.ambafrance.org/Initiative-fur-Europa-Die-Rede-von-Staatsprasident-Ma cron-im-Wortlaut (zuletzt abgerufen am 16. 01. 2018). 5 Fahrplan der Kommission für die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion vom 06. 12. 2017, Pressemitteilung unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17 – 5005_de.htm (zuletzt abgerufen am 16. 01. 2018). 6 Deutschland sollte mehr Risikoteilung akzeptieren, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 09. 2017. 7 Grünbuch der Europäischen Kommission über die Durchführbarkeit der Einführung von Stabilitätsanleihen, KOM (2011) 818, abrufbar unter http://ec.europa.eu/transparency/regdoc/ rep/1/2011/DE/1 – 2011 – 818-DE-F1 – 1.Pdf (zuletzt abgerufen am 16. 01. 2018).
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1. Ein eigener Haushalt für die Eurozone Ein eigener Haushalt der Eurozone, wie ihn Frankreich ins Spiel gebracht hat, würde den Graben zwischen der Eurozone und der Rest-Union auch politisch vertiefen. Seine Logik läge in der Stützung schwächelnder Schuldnerländer und der Überwälzung der Folgen nationaler Politik auf die Gemeinschaft der Euro-Staaten. Eine derartige haushaltsrechtliche Verselbständigung der Eurozone innerhalb der Europäischen Union zielt auf die finanzielle Abmilderung der Folgen von Risiken, die in nationaler Verantwortung liegen. Hierfür bedürfte es einer Vertragsänderung. Da sie mit der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union verbunden ist, verlangt das Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. 2. Neue Mittel aus dem Haushalt der Europäischen Union für strauchelnde Euro-Staaten Die Europäische Kommission strebt keinen eigenen Haushalt für die Euro-Zone an, sondern die Bereitstellung von neuen Haushaltsmitteln im Haushalt der Europäischen Union für Investitionszwecke oder sonst zur wirtschaftlichen Stützung von Schuldnerländern in der Eurozone. Auch dies bedarf einer Vertragsänderung, soweit damit eine Erweiterung der zulässigen Mittelverwendung verbunden ist. Hierzu gehört auch der finanzielle Ausgleich von Belastungen, die sich vorübergehend und kurzfristig aus einer langfristigen Haushaltskonsolidierung und Wirtschaftsreformen ergeben. Eine solche Mittelzuwendung für die schlichte Erfüllung von vertraglichen Verpflichtungen zur Haushaltsdisziplin ist ein Fremdkörper im noch geltenden System von Maastricht. Nach der Logik von Maastricht gehören Staaten, die durch einen anhaltenden Mangel an Haushaltsdisziplin solcher Zuwendungen bedürfen nicht in die Eurozone. Nur bei unvorhergesehenen, kurzfristig eintretenden Notlagen, die nicht durch strukturelles Versagen bedingt sind, sieht Art. 230 Abs. 2 AEUV einen solidarischen Beistand aus Haushaltsmitteln der Europäischen Union vor. Voraussetzung hierfür ist, dass „ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht“ ist. Diese Unterstützungsklausel bildet die vertragliche Basis für die Schaffung des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM), der seit 2015 vor allem der Unterstützung notleitender Nicht-Euroländer dient, während sich Euro-Staaten an den Europäischen Stabilitätsmechanismus wenden. 3. Ein Europäischer Währungsfonds Nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission soll der Europäische Stabilitätsmechanismus zu einem „Europäischen Währungsfonds“ ausgebaut werden.
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Zunächst soll der Europäische Stabilitätsmechanismus die Letztabsicherung des Europäischen Bankenabwicklungsfonds (SRM) durch Kredite übernehmen, falls die Eigenmittel des SRM nicht ausreichen. Diese Funktionserweiterung ließe sich durch eine Änderung des ESM-Vertrages herbeiführen. Aber die Vorschläge der Kommission reichen erheblich weiter. Danach soll der Europäische Stabilitätsmechanismus von einer Organisation der Euro-Staaten auf völkervertraglicher Grundlage unter das Dach der Europäischen Union überführt und von der Europäischen Kommission geführt werden. Entscheidungen über die Mittelvergabe an Krisenländer sollen auf Vorschlag der Kommission unter Beteiligung des Europäischen Parlaments von den Finanzministern getroffen werden. Dabei droht die bisherige Veto-Position, welche die Bundesrepublik Deutschland (die an den Bundestag rückgebundene Bundesregierung) hat,8 verloren zu gehen, sofern nicht das Prinzip der Einstimmigkeit oder der qualifizierten Mehrheit im Sinne der bisherigen ESM-Entscheidungsmechanismen eingeführt wird. Dem Europäischen Währungsfonds soll die Aufgabe zukommen, „externe (asymmetrische) Schocks“ abzumildern. Dies wäre nur scheinbar eine scharfe Begrenzung der Mittelvergabe. Denn allen Akteuren ist klar, dass die Probleme in der Eurozone mit schwankenden Mitgliedstaaten nicht auf externen Ursachen, sondern auf Politikversagen beruhen. So würde die Funktionsumschreibung in der Praxis einen Zugriff auf die Fondsmittel nach Belieben erlauben. Auch dies würde den „moral hazard“ beflügeln: Solidarität als Anreiz für unsolidarisches Risikoverhalten. Im Übrigen würde die Logik eines Europäischen Währungsfonds verlangen, dass ein Insolvenzregime für überschuldete Euro-Staaten entwickelt wird. Auch dies wäre ein Systemwechsel. Die noch geltende vertragliche Ordnung nimmt mit der „no bail out-Klausel“ den Staatsbankrott als mögliche Folge einer völligen Überschuldung hin. Gerade diese Eventualität steht hinter dem marktorientierten Ansatz einer Disziplinierung von Schuldnerländern durch Risikoaufschläge, die sich an der Ausfallwahrscheinlichkeit orientieren. 4. Europäischer Finanzminister Nach den Vorschlägen der Europäischen Kommission soll mit der der nächsten Amtsperiode für die EU-Kommission 2019 das Amt eines Europäischen Finanzministers geschaffen werden. Dieser soll Vizepräsident der EU-Kommission und zugleich Chef des Gremiums der Eurofinanzminister werden. Über Funktionen des Euro-Finanzministers herrscht bislang wenig Klarheit. Frankreich und andere mediterrane Staaten sehen in ihm wohl eher einen Moderator finanzieller Wohltaten, andere Euroländer wie Deutschland eher einen Kontrolleur der Haushaltsdisziplin und Motor für Wirtschaftsreformen.
8 Zu den Zustimmungserfordernissen nach dem ESM-Vertrag Ketterer, Zustimmungserfordernis beim Europäischen Stabilitätsmechanismus, 2016.
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Aus der Sicht des deutschen Staatsrechts würden Befugnisse der Europäischen Union zu einem direkten Eingriff in die nationale Haushaltsautonomie einen Eingriff in die unaufgebbare Verfassungssubstanz bedeuten (Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 GG).9 5. Europäische Einlagensicherung Ähnlich bedeutet die Vergemeinschaftung der Einlagensicherung,10 dass die Banken (und Einleger) in Deutschland und anderen Ländern für wohlbekannte systemische und wettbewerbsverzerrende Defizite des Bankensektors in bestimmten Mitgliedstaaten haften müssten. Deutsche und andere Banken müssten die risikoreichen Strategien ihrer eigenen Wettbewerber mittelbar auch noch finanzieren. Der Ruf nach einer Sozialisierung von Risiken unter den Euroländern, wie sie Frankreichs Präsident schon im Sommer gefordert hat, hat auch den „Eurobonds“ wieder Auftrieb gegeben. Ihren Sinn können sie nur bei einer vollen solidarischen Haftung aller emittierenden Staaten für die ganze Haftungssumme erfüllen. Dem stehen sowohl das vertragliche Prinzip des „no bail out“ als auch die verfassungsrechtlich gebotene Haushaltsverantwortung des deutschen Parlaments entgegen, die sich gegen die Übernahme fremdverantworteter Haftungsrisiken richten. Frankreichs nachhaltige Fähigkeit seine gigantische Staatenschuld von knapp 100 % des BIP aus eigener Kraft zu schultern, ist zweifelhaft. Der „moral hazard“ hat die italienische Schuldenquote noch weiter hochgetrieben (135 % des BIP). Umso erstaunlicher ist, dass jetzt auch deutsche Ökonomen verlangen, Deutschland solle sich auf eine stärkere Risikoteilung im Sinne französischer Wünsche einlassen. Hier äußert sich vielleicht eine neue akademische Courtoisie. Man möchte der französischen Reforminitiative wider besseres Wissen doch etwas abgewinnen, auch wenn am Ende der deutsche Steuerzahler dafür einstehen muss. III. Die Europäische Union als „Rechtsgemeinschaft“: ein brüchiges Konzept All diese Vorschläge verlangen eine förmliche Änderung der Verträge über die Funktionsweise der Europäischen Union. Dies bedeutet die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit für die Zustimmung zur Vertragsänderung in Bundestag und Bundesrat. Dieser klare Befund ist aber nicht allen in Brüssel klar. So möchte die Kommission die Vergemeinschaftung der Einlagensicherung ohne eine Vertragsänderung als schlichte Rechtsangleichung auf den Weg bringen. Hier zeigt sich exem9
BVerfGE 123, 267, 361 f. Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission, KOM (2015) 586, abrufbar unter https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2015/DE/1 – 2015 – 586-DE-F1 – 1.PDF (zuletzt abgerufen am 16. 01. 2018); Herdegen, Der Verordnungsvorschlag der EU-Kommission zur Schaffung eines Europäischen Einlagenversicherungssystems: Würdigung aus europa- und staatsrechtlicher Sicht, Teil I, WM 2016, 1857 ff.; Teil II, WM 2016, 1905 ff. 10
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plarisch ein Grundproblem der deutschen Europapolitik. Sie geht von der Europäischen Union als „Rechtsgemeinschaft“ aus, in der feste Kompetenzschranken herrschen, wie sie die deutsche Staatsrechtslehre und das Bundesverfassungsgericht ständig und drohend anmahnen. In der Praxis aber hat die Bundesregierung immer wieder vollmundig vertretene Rechtspositionen zur Erforderlichkeit einer Vertragsänderung geräumt und am Ende einer Kompetenzüberschreitung zugestimmt. So bei der Bankenaufsicht durch die EZB, so auch beim Europäischen Restrukturierungsfonds. Bei der Europäischen Einlagensicherung, welche die Bunderegierung zunächst als klar vertragswidrig erkannt hat, zieht sie sich jetzt auf bestimmte Bedingungen zurück, die erst erfüllt sein müssten. So entstehen Handlungsmuster, welche die Ernsthaftigkeit des rechtlichen Arguments zerstören. Das romanisch-mediterrane Verständnis der EU geht seit jeher elastisch mit den für sach- oder selbstdienlich angesehenen Befugnissen der EU um. IV. Verschiedene Grundverständnisse Bei der Reformdiskussion und dem Systemwechsel in der Wirtschafts- und Währungsunion geht es nicht um technische Details, sondern um fundamental unterschiedliche Verständnisse einer Gestaltung der Wirtschaftsordnung. Dem System von Maastricht liegt ein rationales Modell des Gleichlaufes von Risiken und Verantwortung zugrunde; hier belegt der Markt unsolides Haushalten, ein „über die Verhältnisse Leben“ in der nationalen Politik mit spürbaren Konsequenzen. Das Gegenmodell ist der etatistische Glauben an eine Steuerung der Märkte und das Streben nach Ansammlung von Finanzmitteln in staatlicher Regie zur Stimulierung von Investitionen und Abdeckung systemischer Schwächen. Den vertraglichen Bestimmungen zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion liegt klar die Vorstellung zugrunde, dass Konvergenz und Homogenität Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in der Eurozone sind. Die gegenwärtigen Reformvorschläge zu einer Vertiefung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion mit neuen Stützungsmechanismen für schwächelnde oder völlig überschuldete Euro-Länder stellen dieses Modell auf den Kopf. Denn sie machen die bisherige Geschäftsgrundlage der Eurozone zu einem Ziel asymptotischer Annäherung und damit zur nachhaltigen Last auch für die Steuerbürger, die hierfür verantwortliche Regierungen weder gewählt haben noch abwählen können. Man mag darüber streiten, ob ein solches System wünschenswert ist oder nicht. Aber Rechtswissenschaft und Politik sollten sich darüber im Klaren sein, dass damit eine neue Richtung mit einer massiven Interessenverschiebung eingeschlagen wird. Manches an der europapolitischen Debatte erinnert an Mark Twain: „Als wir die Richtung verloren hatten, verdoppelten wir die Geschwindigkeit“. Dies darf nicht Maxime einer Reform der Europäischen Union sein.
Öffentlich-rechtliche Informationsrechte versus aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten Von Jens Koch, Bonn I. Einführung Das öffentliche Wirtschaftsrecht nimmt im Werk von Matthias Schmidt-Preuß einen ganz besonderen Stellenwert ein. Dieser Schwerpunktsetzung ist es zu verdanken, dass auch zivilrechtliche Querbezüge in seinen Schriften eine deutlich größere Rolle spielen als bei manch anderem Vertreter des öffentlichen Rechts. Die Brücke zum Zivilrecht schlägt das öffentliche Wirtschaftsrecht insbesondere dort, wo sich die öffentliche Hand zur Erfüllung ihrer Aufgaben privatrechtlicher Gestaltungsformen bedient. Welche Vorzüge die Wahl einer privatrechtlichen Organisationsform aus Sicht der Verwaltung haben kann, wurde in der Vergangenheit schon oft dargelegt.1 Ebenso häufig wurde aber davor gewarnt, die öffentliche Hand dürfe sich nicht durch eine „Flucht in das Privatrecht“ ihrer öffentlich-rechtlichen Pflichten entziehen.2 Gerade aus dieser letztgenannten Perspektive ist es ohne weiteres einsichtig, dass der Hoheitsträger öffentlich-rechtliche Pflichten mit sich trägt, die er mit der Entscheidung für eine privatwirtschaftliche Organisationsform nicht abstreifen kann. Dennoch darf umgekehrt nicht verkannt werden, dass sich diese zusätzlichen Pflichten für das Unternehmen als Hypothek auswirken können. Das mag man noch hinnehmen können, wenn es sich um ein Unternehmen handelt, das zu 100 % im Eigentum der öffentlichen Hand steht. Spätestens dann, wenn private Anleger ebenfalls an der Gesellschaft beteiligt sind, ist es aus ihrer Perspektive aber schon weniger einsichtig, warum ihre Gesellschaft mit einem öffentlich-rechtlichen Pflichtenbündel belastet werden soll. Wie weit diese Belastungen gehen können, soll im Folgenden anhand einiger neuerer Gerichtsentscheidungen zu öffentlich-rechtlichen Informations- und Transparenzpflichten dargelegt werden, die in ein Spannungsverhältnis mit dem Unternehmensinteresse treten können, seine Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zu wahren. Um der Untersuchung ein klares Referenzmodell zu geben, wird sie auf die Beteiligung an einer Aktiengesellschaft verengt, wo der Gesetzgeber ursprünglich noch be1 S. dazu etwa Huber/Fröhlich, in: Großkomm AktG, 4. Aufl., 2015, Vor §§ 394, 395 Rn. 10 f.; Mann, AG 2018, 57 (58 f.); R. Schmidt, ZGR 1996, 345 (348); Schwintowski, NJW 1990, 1009. 2 Vgl. aus jüngerer Vergangenheit etwa BGH, NJW 2017, 3153 Rn. 21; OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 34.
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sonders darum bemüht war, die gesellschaftsrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Anliegen einem sachgerechten Ausgleich zuzuführen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ist dieser Ausgleich in den vergangenen Jahren zu Lasten der Unternehmen verzerrt worden. II. Berichterstattung nach §§ 394, 395 AktG 1. Gesetzliche Ausgangslage Aktienrechtlicher Ausgangspunkt für den Umgang mit Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen bei hoheitlicher Beteiligung ist § 394 AktG. Danach unterliegen Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt worden sind, hinsichtlich der Berichte, die sie der Gebietskörperschaft zu erstatten haben, keiner Verschwiegenheitspflicht. Die damit vorausgesetzte Berichtspflicht findet ihre Grundlage allerdings nicht in § 394 S. 1 AktG selbst, sondern wird dort lediglich vorausgesetzt. Sie kann sich nach § 394 S. 3 aus dem Gesetz (nach ganz hM einschließlich einer beamtenrechtlichen Weisungsbindung3), der Satzung oder aus einem dem Aufsichtsrat in Textform mitgeteilten Rechtsgeschäft ergeben. Ihre gedankliche Fortführung findet diese Anordnung in § 395 AktG. Danach sind Personen, die damit betraut sind, die Beteiligungen einer Gebietskörperschaft zu verwalten, dazu verpflichtet, über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs-oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen aus Berichten nach § 394 AktG bekannt geworden sind, Stillschweigen zu wahren. Dasselbe gilt für Amtsträger, deren Aufgabe es ist, für eine Gebietskörperschaft die Gesellschaft, die Betätigung der Gebietskörperschaft als Aktionär oder die Tätigkeit der auf Veranlassung der Gebietskörperschaft gewählten oder entsandten Aufsichtsratsmitglieder zu prüfen. Im Zusammenspiel dieser beiden Normen wird die Verschwiegenheitspflicht hinsichtlich der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse also nur punktuell gegenüber einzelnen Vertretern der öffentlichen Hand aufgehoben, die Wahrung der Geheimnisse dann aber dadurch gewährleistet, dass diese Vertreter selbst der Schweigepflicht unterworfen werden.
3 Vgl. etwa Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 40; Schall, in: Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, 3. Aufl., 2015, § 394 Rn. 10; Schürnbrand, in: MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2017, § 394 Rn. 23; Stehlin, in: Heidel (Hrsg.), Aktienrecht, 4. Aufl., 2014, § 394 Rn. 5; Lutter/Grunewald, WM 1984, 385 (397); Martens, AG 1984, 29 (33); Will, VerwArch 94 (2003), 248 (262); wohl auch AusschussB Kropff, S. 496; a.A. aber etwa Kersting, in: Kölner Komm AktG, 3. Aufl., 2016, §§ 394, 395 Rn. 128; Oetker, in: K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, 3. Aufl., 2015, § 394 Rn. 15 ff.
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2. Person des Berichtsempfängers Inwieweit durch diese Anordnung die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Gesellschaft beeinträchtigt werden, entscheidet sich namentlich an der Frage, wer Empfänger der nach §§ 394, 395 AktG erstatteten Berichte ist. Ist es ein einzelner, zur Verschwiegenheit verpflichteter Amtsträger, so mag man auf die Funktionsfähigkeit der Verschwiegenheitsanordnung vertrauen können. Ist es dagegen ein größeres Gremium, wie ein Gemeinderat, der möglicherweise gar in öffentlicher Sitzung über den Bericht des Aufsichtsratsmitglieds berät, wird jede Hoffnung auf Wahrung des Geschäftsgeheimnisses zerschlagen. Auf zu Recht einhellige Ablehnung ist aus diesem Grund etwa ein Ansatz im Referentenentwurf zur Aktienrechtsnovelle 20164 gestoßen, der aus Transparenzgründen darauf abzielte, Aufsichtsratssitzungen im Falle einer öffentlichen Beteiligung bei entsprechender Satzungsmaßgabe auch öffentlich abhalten zu können.5 In die Regierungsbegründung wurde dieser Vorstoß daher nicht mehr übernommen.6 Über den Berichtsadressaten entscheiden grundsätzlich die Organisationsgesetze der jeweiligen Gebietskörperschaft bzw. die sonstigen Regelungen, die eine Berichtspflicht begründen.7 In der Regel wird dies die Exekutive sein, die die Eigentümerfunktion im Außenverhältnis für die Gebietskörperschaft wahrnimmt; auf Bundesebene sind dies etwa die beteiligungsführenden Bundesministerien.8 Es ist allerdings auch eine anderweitige Zuständigkeitszuweisung denkbar, was nach dem oben Gesagten dann zu Problemen führt, wenn auf der Ebene der Verwaltungsorganisation ein Berichtsadressat vorgesehen ist, der seinerseits nicht die auf ihn nach § 395 AktG erstreckte Verschwiegenheitspflicht gewährleisten kann.9
4 Vgl. dazu den bereits aus dem Jahr 2011 stammenden Referentenentwurf Aktienrechtsnovelle, S. 5; abrufbar unter: www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Archiv/ RefE_Aktienrechtsnovelle%202011.html; zuletzt abgerufen am 28. 2. 2018. 5 Vgl. zur Kritik Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 36; Handelsrechtsausschuss des DAV, NZG 2011, 217 (221); Bayer, AG 2012, 141 (153); Bettenburg/Weirauch, DÖV 2012, 352 ff.; Bormann, NZG 2011, 926 ff.; Bungert/Wettich, ZIP 2011, 160 (164); Weber-Rey/Buckel, ZHR 177 (2013), 13 (20 f.). 6 Vgl. dazu auch Seibert/Böttcher, ZIP 2012, 12 (17). 7 Huber/Fröhlich, in: Großkomm AktG, 4. Aufl., 2015, § 394 Rn. 39; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 42; Kersting, in: Kölner Komm AktG, 3. Aufl., 2016, §§ 394, 395 Rn. 176; Schall, in: Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, 3. Aufl., 2015, § 394 Rn. 14; Schürnbrand, in: MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2017, § 394 Rn. 36; Ganzer/Tremml, GewArch 2010, 141 (148 f.); a.A. Wilting, AG 2012, 529 (533). 8 Insoweit zutr. Wilting, AG 2012, 520, 533. 9 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 42.
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3. Ausnahme von Berichtspflicht bei unzureichender Gewährleistung der Geheimhaltung Um auch in diesem Fall die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse schützen zu können, leitet die herrschende Meinung aus §§ 394, 395 AktG eine ungeschriebene Ausnahme von der Berichtspflicht ab. Sie erlaubt eine Weitergabe vertraulicher Informationen nur dann, wenn eine hinreichende Gewähr für die tatsächliche Wahrung der Vertraulichkeit besteht, was etwa zur Folge hat, dass eine direkte Berichterstattung an Parlamente oder an den Gemeinderat grundsätzlich unzulässig ist.10 Etwas anderes gilt nur dort, wo entsprechende organisatorische Sicherungen den Schutz der Vertraulichkeit gewährleisten.11 Ist das nicht der Fall, bleibt vorbehaltlich einer verdrängenden Spezialvorschrift die Geheimhaltungspflicht bestehen. Aus landesrechtlichen Vorschriften, namentlich aus den Gemeindeordnungen, können sich solche Spezialregelungen aber nicht ergeben, weil nach der in Art. 31 GG vorgesehenen Normenhierarchie die aktienrechtliche Regelung auf Bundesebene der landesrechtlichen Vorgabe zwingend vorgeht.12 Bundesrechtliche Regelungen, die eine Korrektur dieser ungeschriebenen Ausnahme erforderlich machen, sind jedenfalls auf einfachgesetzlicher Ebene nicht ersichtlich.13 Auf eine Kollision mit der verfassungsrechtlichen Vorgabe aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 und Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG wird unter V. noch näher eingegangen.
10 Grundlegend Schmidt-Aßmann/Ulmer, BB 1988, Beil., 13, 9; vgl. ferner Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 42; Kersting, in: Kölner Komm AktG, 3. Aufl., 2016, §§ 394, 395 Rn. 177; Müller-Michaels, in: Hölters (Hrsg.), AktG, 3. Aufl., 2017, § 395 Rn. 3; Oetker, in: K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, 3. Aufl., 2015, § 394 Rn. 27; Schürnbrand, in: MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2017, § 394 Rn. 37; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl., 2014, Rn. 1432; Belcke/Mehrhoff, GmbHR 2016, 576 (579); van Kann/Keiluweit, DB 2009, 2251 (2253); Land/Hallermayer, AG 2011, 114 (119 ff.); Schwintowski, NJW 1990, 1009 (1014); Weber-Rey/Buckel, ZHR 177 (2013), 13 (18 f.); a.A. P.H. Huber/Fröhlich, in: Großkomm AktG, 4. Aufl., 2015, § 394 Rn. 40 ff.; 45 f.; Rachlitz, in: Grigoleit (Hrsg.), AktG, 2013, § 394 Rn. 24; Schall, in: Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, 3. Aufl., 2015, § 394 Rn. 14; Wilting, AG 2012, 529 (536, 541); vermittelnd Mann, AG 2018, 57 (61 f.) mit allerdings dogmatisch und praktisch gleichermaßen bedenklicher Reduktion auf 21 Mitglieder in Anlehnung an § 95 AktG. 11 Vgl. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 42; Land/Hallermayer, AG 2011, 114 (119 f.). 12 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 43; Schürnbrand, in: MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2017, § 394 Rn. 37. 13 Schürnbrand, in: MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2017, § 394 Rn. 37.
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III. Überlagerung aktienrechtlicher Verschwiegenheitspflichten durch Informationsfreiheits- und Transparenzgesetze 1. Anwendungsbereich und Erstreckung auf juristische Personen des Privatrechts Während diese Probleme im unmittelbaren Anwendungsbereich der §§ 394, 395 AktG namentlich im Zusammenspiel mit kommunalrechtlich verankerten Auskunftspflichten schon seit längerem erörtert wurden, sind in der jüngeren Diskussion weitere Konfliktlagen in den Mittelpunkt gerückt. Insbesondere geht es dabei um spezielle öffentlich-rechtliche Informationspflichten, die nicht an die Organmitglieder der Aktiengesellschaft gerichtet werden, sondern an die hoheitlich beherrschte Gesellschaft selbst bzw. die öffentliche Hand in ihrer Funktion als Anteilseigner. Hier stellt sich die Frage, ob der in §§ 394, 395 AktG angelegte Ausgleich von öffentlichem Steuerungs- und unternehmerischem Geheimhaltungsinteresse in gleicher Weise auch auf diese Gesetze übertragen werden kann oder ob hier andere Regeln zur Anwendung kommen. Diese Diskussion wurde zunächst für die bundes- und landesrechtlichen Informationsfreiheits-, Informationszugangs- und Transparenzgesetze geführt, die Behörden dazu verpflichten, den freien Zugang zu den bei den öffentlichen Stellen vorhandenen Informationen zu gewähren.14 Ihr Anwendungsbereich ist üblicherweise auf die Verwaltungstätigkeit der Behörden, Einrichtungen und sonstigen öffentlichen Stellen des Landes der Gemeinden und Gemeindeverbände beschränkt (vgl. etwa § 1 Abs. 1 S. 2 und 3 IFG Bund, § 2 Abs. 1 IFG NRW, § 1 Abs. 1 S. 1 LTranspG Rh.Pf.), erfährt aber eine für den hier behandelten Untersuchungsgegenstand maßgebliche Erweiterung: Sofern nämlich eine natürliche oder juristische Person des Privatrechts öffentliche Aufgaben wahrnimmt, gilt auch sie als Behörde im Sinne der jeweiligen Gesetze (vgl. dazu etwa § 1 Abs. 1 S. 3 IFG Bund, § 2 Abs. 4 IFG NRW oder § 3 Abs. 2 S. 2 LTranspG Rh.-Pf.). 2. Öffentlich-rechtliche Aufgabe Es liegt auf der Hand, dass auch durch diese Anordnung die Geschäftsgeheimnisse eines Unternehmens gefährdet werden können. Aus diesem Grund begegnen in der Literatur zahlreiche Einschränkungen, um diese Gefahren so weit wie möglich einzudämmen. Einen Ansatzpunkt dazu findet man im Wortlaut der jeweils einschlägigen Vorschriften, der in mehreren Landesgesetzen nicht nur verlangt, dass eine „öffentliche“ Aufgabe, sondern eine „öffentlich-rechtliche“ Aufgabe von privater Seite wahrgenommen wird (vgl. etwa § 1 Abs. 1 S. 3 IFG Bund; § 2 Abs. 4 IFG NRW; anders dagegen § 3 Abs. 2 S. 2 LTranspG Rh.-Pf.). So wird etwa vertreten, dass eine öffentliche Aufgabe erst dann vorliege, wenn die öffentliche Hand unter Verwendung 14 Überblick über die landesrechtlichen Regelungen bei Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, 2. Aufl., 2016, Einl. Rn. 199 ff.; Spannowsky, ZfBR 2017, 112 ff.
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öffentlicher Mittel oder Handlungsformen des öffentlichen Rechts tätig werde (namentlich durch Verwaltungsakt) oder wenn sie zur Wahrnehmung der Aufgabe verpflichtet sei.15 In einer neueren Entscheidung vom 10. Juni 2016, die den Zugang zu städtischen Informationen über die Planung eines Kohlekraftwerkes betraf, ist das OVG Koblenz solchen Deutungen entgegengetreten und hat den Begriff der öffentlichen und öffentlich-rechtlichen Aufgaben gleichermaßen weit gefasst. Ausschlaggebend für die Zuordnung sei, dass sich die Tätigkeit (nach Maßgabe des materiellen Verwaltungsbegriffs) als Wahrnehmung einer im öffentlichen Recht wurzelnden Verwaltungsaufgabe – im Gegensatz zur Rechtsprechung und Rechtsetzung – darstelle.16 Weder bedürfe es eines hoheitlichen Handelns noch müsse die Behörde aufgrund einer öffentlichrechtlichen Norm zum Handeln verpflichtet sein.17 Nur eine solche möglichst weite Auslegung des Begriffs „öffentlich-rechtliche Aufgaben“ werde dem Zweck gerecht, eine „Flucht ins Privatrecht“ zu verhindern.18 Das gelte auch in Anbetracht der Erwägung, dass das Gesetz dann prinzipiell ein Einfallstor bieten könne, um an Informationen von privaten Unternehmen zu gelangen. Dies sei vielmehr wegen der Zielsetzung, den Anspruch auf Informationszugang umfassend auszugestalten, hinzunehmen, zumal ihren berechtigten Belangen durch die Schutzbestimmungen in §§ 9 ff. des Rheinland-Pfälzischen IFG und weiteren Vorschriften Rechnung getragen werde.19 3. Energieversorgung als öffentlich-rechtliche Verwaltungsaufgabe Speziell für die Energieversorgung hat das OVG Koblenz auf dieser Grundlage eine Zuordnung zu den im öffentlichen Recht wurzelnden Verwaltungsaufgaben bejaht. Sie gehöre zum Bereich der Daseinsvorsorge und sei eine Leistung, deren der
15 Vgl. zur ersten Deutung VG Schleswig, Die Gemeinde SH 2006, 115 (116); vgl. zur zweiten Deutung Debus, in: BeckOK Informations- und Medienrecht, Stand: 1. 11. 2017, § 1 IFG Rn. 147; Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, 2. Aufl., 2016, § 1 Rn. 220; Dünchheim, KommJur 2016, 441 (443); Haas, Private als Auskunftsverpflichtete nach den Umweltinformations- und Informationsfreiheitsgesetzen, 2013, S. 161 ff. 16 So OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 31 und 34 unter Berufung auf die Rheinland-Pfälzische LT-Drs. 16/5173, S. 33 und die Begründung des Gesetzentwurfs, RheinlandPfälzische LT-Drs. 15/2085, S. 11; Nichtzulassungsbeschluss verworfen durch BVerwG, BeckRS 2017, 107957; zust. auch Gödeke/Jördening, ZIP 2017, 2284 (2285 ff.). 17 OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 31. 18 OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 34. 19 OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 36. Das Gericht nimmt hinsichtlich der beiden letztgenannten Äußerungen Bezug auf die Vorschriften des mittlerweile außer Kraft getretenen Landesinformationsfreiheitsgesetzes (vgl. dazu OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 26). Nach dem heute geltenden Landestransparenzgesetz sind nunmehr §§ 14 ff. LTranspG Rh.-Pf. einschlägig.
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Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedürfe.20 Insoweit bestehe – auch nach der Liberalisierung des Energiesektors – ein Gewährleistungsauftrag des Staates, obwohl dieser nicht ausdrücklich geregelt sei. Schon dadurch wurzele die Aufgabe der Energieversorgung im öffentlichen Recht. Selbst Energieversorger müsse der Staat zwar nur werden, wenn es an einer flächendeckenden Versorgung durch private Unternehmen fehle; übernehme er dennoch freiwillig diese Aufgabe im Rahmen der Leistungsverwaltung, bleibe es aber auch für diesen Fall bei der öffentlich-rechtlichen Verwurzelung. 4. Aktienrechtliche Gegenkräfte Allerdings ist das OVG Koblenz bei dieser Einordnung nicht stehen geblieben, sondern hat auch den aktienrechtlichen Gegenkräften Rechnung getragen und die Klage deshalb letztlich abgewiesen. Es weist darauf hin, dass die beklagte Stadt ihre Beteiligungsrechte grundsätzlich nur über die Hauptversammlung ausüben könne, namentlich in Gestalt ihrer Auskunftsrechte nach § 131 Abs. 1 AktG.21 Auch über den Aufsichtsrat, in den die Stadt ihren Oberbürgermeister sowie weitere Stadtratsmitglieder entsandt habe, könne sie die Informationen nicht herausverlangen, da kein allgemeines Auskunftsrecht einzelner Aufsichtsratsmitglieder bestehe. Letztlich konnte das Gericht die Frage, ob ein Herausgabeanspruch besteht, aber offen lassen, weil ihm jedenfalls die aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten entgegenstünden. Das Gericht verweist insofern auf die Gesetzesbegründung, wonach die gesellschaftsrechtlichen Geheimhaltungspflichten auch von den Bediensteten öffentlicher Stellen zu beachten seien und vom Landesgesetzgeber nicht gelockert werden könnten. Die transparenzpflichtige Stelle könne daher nur solche Informationen zugänglich machen, für die dies nach dem Gesellschaftsrecht zulässig sei.22 Speziell für eine Aktiengesellschaft stünden dem aber § 93 Abs. 1 S. 3 iVm § 116 S. 1 und 2 AktG entgegen, die Vorstand und Aufsichtsrat auch gegenüber ihren Aktionären zur Verschwiegenheit verpflichteten.23 Daran änderten auch die Spezialregelungen in §§ 394, 395 AktG nichts, die die Verschwiegenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern lediglich im Verhältnis zu ihrer Gebietskörperschaft einschränkten, der sie berichterstattungspflichtig seien.24 Etwas anderes folge auch nicht daraus, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats (zum Teil) von einer Gebietskörperschaft entsandt worden seien, die dem Landestranspa20 Vgl. dazu und zum Folgenden OVG Koblenz BeckRS 2016, 48854 Rn. 39 unter Berufung auf BVerfGE 66, 248 = NJW 1984, 1872; auch insofern zust. Gödeke/Jördening, ZIP 2017, 2284 (2286). 21 Vgl. dazu und zum Folgenden OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 45. 22 Bezugnahme in OVG Koblenz BeckRS 2016, 48854 Rn. 46 auf die Gesetzesbegründung zum Rheinland-Pfälzischen IFG, LT-Drs. 16/5173, S. 34. 23 OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 47. 24 OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 48.
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renzgesetz unterliege, weil den Kommunen als wirtschaftlichen Unternehmen kein Sonderstatus zukomme.25 Vielmehr unterlägen sie – mit den Einschränkungen in §§ 394, 395 AktG – wie jeder Aktionär umfassend den Vorschriften des Aktienrechts. Rechte und Pflichten der Gesellschaftsorgane und ihrer Mitglieder richteten sich deshalb ausschließlich nach dem bundesgesetzlichen Gesellschaftsrecht; der für das Kommunalrecht zuständige Landesgesetzgeber könne in diesen Bereich nicht eindringen. Die Gemeinde, die sich an Gesellschaften beteilige, unterwerfe sich dem für dieses geltende Recht und müsse es so hinnehmen, wie es ausgestaltet sei.26 Mit dem Landestransparenzgesetz könne der Landesgesetzgeber nach Art. 31 GG nicht über diese gesellschaftsrechtlichen Regelungen hinausgehen.27 5. Unmittelbare Inanspruchnahme der Aktiengesellschaft In der Entscheidung des OVG Koblenz nicht unmittelbar angesprochen ist die Frage, ob nach § 3 Abs. 2 LTranspG Rh.-Pf. die Gesellschaft auch unmittelbar auskunftsverpflichtet sein kann. Das Gericht hatte keinen Anlass, zu dieser Frage Stellung zu beziehen, da die Klage ausschließlich gegen die Stadt gerichtet war. Dennoch erscheint insbesondere aus Klägerperspektive auch eine solche Anspruchsrichtung erwägenswert, weil der Bundesgerichtshof für einen Auskunftsanspruch aus dem Landespressegesetz NRW eine Auskunftspflicht der Gesellschaft bejaht und ihr dabei die Berufung auf § 394, 395 AktG verweigert hat (vgl. dazu noch die Ausführungen unter IV.). Letztlich erweist sich diese Überlegung indes als nicht weiterführend, weil eine solche Verpflichtung des Privatrechtssubjekts für Auskunftsansprüche aus den Informationsfreiheitsgesetzen von der ganz herrschenden Meinung zu Recht abgelehnt wird. Auch wenn der Wortlaut mancher Gesetzesfassungen diese Deutung nahelegen mag, ist Anspruchsgegner doch stets die Behörde, deren Aufgaben von dem Privaten erfüllt werden.28 Entscheidend für diese Deutung spricht die herkömmliche Ausgestaltung des Antragsverfahrens, wonach der Antrag auf Informationszugang auch bei Einschaltung Privater stets an diejenige Behörde zu richten ist, die sich des Privatrechtssubjekts zur Erfüllung ihrer öffentlich-rechtlichen Aufgabe bedient (vgl. dazu etwa § 7 Abs. 1 S. 2 IFG Bund, § 11 Abs. 1 S. 3 LTranspG Rh.-Pf.). Speziell für das IFG Bund wird diese Deutung auch durch die Regierungsbegründung bestätigt, wo ausdrücklich festgestellt wird, dass allein die Behörde Anspruchsgegner sein 25
Vgl. zum Folgenden OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 50. OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 50 im Anschluss an VGH Kassel, AG 2013, 35 (37 f.). 27 OVG Koblenz, BeckRS 2016, 48854 Rn. 50; zust. Spannowsky, ZfBR 2017, 112 (115). 28 Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, 2. Aufl., 2016, § 1 Rn. 235; Blatt/Franßen, NWVBl 2014, 412 (413); Haas, Private als Auskunftsverpflichtete nach den Umweltinformations- und Informationsfreiheitsgesetzen, 2013, S. 103 (153 f.); Püschel, AfP 2006, 401 (404); Schmitz/Jastrow, NVwZ 2005, 984 (988); Sellmann/Augsberg, WM 2006, 2293 (2295 f.). 26
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könne, das IFG also keinen Anspruch gegen Private gewähre.29 Aus diesen Gründen ist ein Auskunftsanspruch gegen die Gesellschaft selbst jedenfalls auf dieser Grundlage also zu verneinen. 6. Zwischenfazit In der Gesamtschau bleibt mit dieser Auslegung der Informationsfreiheitsgesetze in der Lesart des OVG Koblenz die Balance zwischen öffentlich-rechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Belangen entsprechend den in §§ 394, 395 AktG angelegten Gesetzesvorgaben gewahrt. Der Begriff der öffentlichen Belange wird zwar im Sinne umfassender Transparenz grundsätzlich großzügig ausgelegt, doch findet diese Transparenz dort eine Grenze, wo ihr ein berechtigtes Geheimhaltungsanliegen der Gesellschaft entgegensteht. IV. Presserechtliche Überlagerung der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten 1. Ausdehnung auf juristische Personen des Privatrechts Größere Gefahren für die Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse drohen dagegen durch eine Entscheidung des I. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs. In einem Urteil vom 16. März 2016 hatte er darüber zu entscheiden, ob auch eine Aktiengesellschaft Behörde im Sinne des presserechtlichen Auskunftsanspruchs gem. § 4 Abs. 1 PresseG NRW sein könne, wenn sie von der öffentlichen Hand beherrscht und zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben eingesetzt werde. Gegenstand des Auskunftsverlangens war die Frage, ob die in Anspruch genommene Gesellschaft während des Bundestagswahlkampfs 2013 zur Unterstützung des damaligen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück den Internetblog „peerblog“ finanziert habe. Der Bundesgerichtshof hat in dieser Konstellation einen unmittelbar gegen die Gesellschaft bestehenden Auskunftsanspruch bejaht.30 Der Behördenbegriff des Presserechts sei nicht organisatorisch-verwaltungstechnisch, sondern funktionell-teleologisch zu verstehen.31 Sinn und Zweck des Auskunftsanspruchs nach § 4 Abs. 1 PresseG NRW sei es, der Presse die ihr durch Art. 5 GG garantierte und in § 3 PresseG NRW garantierte Funktion im Rahmen der demokratischen Meinungs- und Willensbildung zu gewährleisten und es ihr so zu ermöglichen, Informationen über Geschehnisse von öffentlichem Interesse umfassend und wahrheitsgetreu zu erhalten. Die Berichterstattung der Presse über Vorgänge im staatlichen Bereich beschränke sich nicht auf die staatliche Eingriffsverwaltung als typische Form staatlichen Han29
RegBegr., BT-Drs., 15/4493 S. 8. Vgl. zum Folgenden BGH, NJW 2017, 3153 Rn. 18; in Bestätigung von OLG Hamm, NVwZ 2016, 551; zust. Gödeke/Jördening, ZIP 2017, 2284 (2287 ff.). 31 Anders zuvor etwa noch Dünchheim, KommJur 2016, 441 (443 f.). 30
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delns, sondern umfasse auch die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben im Bereich der Leistungsverwaltung. Überall dort, wo zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben öffentliche Mittel eingesetzt würden, von deren konkreter Verwendung Kenntnis zu erlangen ein berechtigtes öffentliches Interesse bestehe, werde auch ein Informationsbedürfnis der Presse und der Bevölkerung begründet. Auf dieses Bedürfnis habe es keinen Einfluss, ob sich die Exekutive zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben im Einzelfall einer privatrechtlichen Organisationsform bediene.32 Der Behördenbegriff im Sinne von § 4 PresseG NRW erfasse daher auch juristische Personen des Privatrechts, die von der öffentlichen Hand beherrscht und zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben, namentlich im Bereich der Daseinsvorsorge, eingesetzt werden.33 Das gelte nicht nur für öffentliche Unternehmen, die vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand stehen, sondern auch für gemischtwirtschaftliche Unternehmen, wenn diese von der öffentlichen Hand beherrscht werden. Eine Beherrschung sei in der Regel anzunehmen, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen.34 2. Berücksichtigung der aktienrechtlichen Gegenkräfte Den Bogen zu den aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten schlägt der Bundesgerichtshof sodann über § 4 Abs. 2 Nr. 2 PresseG NRW. Danach besteht ein Anspruch auf Auskunft nicht, soweit Vorschriften über die Geheimhaltung entgegenstehen. Geheimhaltungsvorschriften in diesem Sinne sind nach Auffassung des Bundesgerichtshof aber nur solche Bestimmungen, die den Schutz öffentlicher Geheimnisse bewirken sollen und der auskunftsverpflichteten Behörde als solcher die Preisgabe der in Rede stehenden Information schlechthin untersagen. Hierzu zählten Gesetzesbestimmungen über Staats- und Dienstgeheimnisse im Sinne von §§ 93 ff., 353b StGB, 174 Abs. 2 GVG und § 43 DRiG.35 Die Bestimmungen der §§ 93 Abs. 1 S. 3, 116 S. 1, 131 Abs. 3 Nr. 1, 404 Abs. 1 Nr. 1 AktG stellen dagegen nach Auffassung des Bundesgerichtshof keine dem presserechtlichen Auskunftsanspruch entgegenstehenden Geheimhaltungsvorschriften dar. Die darin geregelten Pflichten von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern zum Stillschweigen über Geschäftsgeheimnisse der Aktiengesellschaft beträfen bereits keine öffentlichen Geheimnisse und träfen zudem nicht die zur Auskunft ver-
32
BGH, NJW 2017, 3153 Rn. 18 unter Berufung auf BGH, NJW 2005, 1720; OVG Saarlouis, BeckRS 1998, 21320; VGH München, NVwZ-RR 2007, 767; OVG Münster, BeckRS 2008, 40250 Rn. 4; VG Gelsenkirchen, BeckRS 2014, 54961. 33 BGH, NJW 2017, 3153 Rn. 19. 34 BGH, NJW 2017, 3153 Rn. 21 unter Berufung auf BVerfGE 128, 226, 246 f. = NJW 2011, 1201; VG Berlin, BeckRS 2012, 50999; Soehring, in: Soehring/Hoene (Hrsg.), Presserecht, 5. Aufl., 2013, § 4 Rn. 19a; Löffler/Burkhardt, Presserecht, 6. Aufl., 2015, § 4 LPG Rn. 63; Thelen, NVwZ 2016, 554. 35 BGH, NJW 2017, 3153 Rn. 48.
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pflichtete Gesellschaft selbst.36 Auch § 203 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StGB stehe nicht entgegen, weil dieser lediglich die unbefugte Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen verbiete, die aber nicht vorliege. Letztlich sieht der Bundesgerichtshof den Schutz der Geschäftsgeheimnisse allein § 4 Abs. 2 Nr. 3 PresseG NRW überlassen, der aber auch nach Auffassung des Gerichts keinen absoluten Schutz bietet.37 Vielmehr sei bei der Prüfung dieses Ausschlussgrundes das durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Informationsinteresse der Öffentlichkeit und das Geheimhaltungsinteresse der Behörde und der von der Auskunft betroffenen Dritten im Einzelfall umfassend gegeneinander abzuwägen und in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.38 Dabei sei zu berücksichtigen, dass Geschäftsgeheimnisse eines Privatunternehmens Bestandteil seiner durch Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3 GG garantierten Berufsfreiheit sein könnten. Entscheidend müsse letztlich sein, wie hoch das öffentliche Informationsinteresse an der begehrten Auskunft zu bewerten sei und wie stark durch die Erteilung der Auskunft die schützenswerten Belange der auskunftspflichtigen Behörde oder Dritte beeinträchtigt würden.39 3. Zwischenfazit Mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird durch die presserechtlichen Auskunftsansprüche das in §§ 394, 395 AktG angelegte System zum Schutz unternehmerischer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse deutlich relativiert, und zwar auch dann, wenn es sich um landesrechtliche Pressevorschriften handelt. Als Einbruchstelle erweist sich dabei insbesondere der Umstand, dass anders als nach den Informationsfreiheitsgesetzen unmittelbar die Aktiengesellschaft in die Rolle des Auskunftsverpflichteten gerückt wird, so dass der Schutzmechanismus der §§ 394, 395 AktG umgangen wird.
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BGH, NJW 2017, 3153 Rn. 49. Vgl. zu weiteren möglichen Anspruchsbeschränkungen auch Gödeke/Jördening, ZIP 2017, 2284 (2288 f.). 38 BGH, NJW 2017, 3153 Rn. 52 unter Berufung auf VGH Kassel, AfP 2012, 308 (310); OVG Münster, AfP 2012, 590 (592); OVG Münster, AfP 2014, 181 (186); VGH Mannheim, AfP 2015, 89 (91); VG Düsseldorf, ZD 2012, 188 (190); Soehring, in: Soehring/Hoene (Hrsg.), Presserecht, 5. Aufl., 2013, § 4 Rn. 24a. 39 BGH, NJW 2017, 3153 Rn. 52. 37
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V. Überlagerung aktienrechtlicher Verschwiegenheitspflichten durch das parlamentarische Frage- und Informationsrecht 1. Gegenstand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. November 2017 Eine dritte aktuelle Entscheidung, die sich für den hier behandelten Untersuchungsgegenstand als aufschlussreich erweist, betrifft schließlich das Verhältnis der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten zum parlamentarischen Frageund Informationsrecht mit Bezug zur Deutschen Bahn AG und zur Finanzmarktaufsicht. Hier hatte das Bundesverfassungsgericht zunächst darüber zu entscheiden, inwiefern die Bundesregierung aufgrund eines aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 und Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG abgeleiteten parlamentarischen Informationsanspruchs dazu verpflichtet sein könne, Informationen über Gespräche zwischen der Bundesregierung und der Deutschen Bahn AG über Netzinvestitionen, das Projekt „Stuttgart 21“, über die Gewinnerwartung von Tochterunternehmen sowie über Zugverspätungen zu erteilen. Die Bundesregierung hatte zu einigen dieser Fragen die Beantwortung unter Hinweis auf die Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse der Deutschen Bahn AG, namentlich unter Verweis auf die Verschwiegenheitspflichten nach §§ 116, 395 AktG, abgelehnt. Im Übrigen seien die Fragen dem unternehmerischen Verantwortungsbereich der Deutschen Bahn AG zuzuordnen, dem Verantwortungsbereich der Bundesregierung mithin entzogen. Weitere Fragen betrafen aufsichtsrechtliche Maßnahmen der BaFin gegenüber mehreren Banken in den Jahren 2005 bis 2008. 2. Normenhierarchische Ausgangssituation Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist sehr ausführlich gefasst, wobei sich aber nur wenige Stellen mit dem Verhältnis zu den aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten beschäftigen. Eine erste Erwähnung findet das Aktienrecht, wenn das Gericht feststellt, eine einfachgesetzliche Verschwiegenheitsregelung sei für sich genommen nicht geeignet, das verfassungsrechtlich abgeleitete Frage- und Informationsrecht zu beschränken. Allenfalls könnten einfachgesetzliche Regelungen insoweit von Relevanz sein, als sie einen sich möglicherweise innerhalb des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bewegenden Ausgleich konfligierender Verfassungsrechte darstellten.40
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3. Keine Überwölbung aktienrechtlicher Organisationsstrukturen zum Ausgleich von Legitimationsdefiziten a) Öffentlich-rechtliches Legitimationsdefizit bei Beteiligung der öffentlichen Hand an einer Aktiengesellschaft Sodann steckt das Gericht den Anwendungsbereich der Regierungsverantwortung ab und unterstellt ihm auch die mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Bundes befindlichen Unternehmen in Privatrechtsform. Das folge aus der Legitimationsbedürftigkeit erwerbswirtschaftlicher Betätigung der öffentlichen Hand.41 Das Gericht führt dazu aus, dass ein solcher demokratischer Legitimationszusammenhang grundsätzlich auch bei einer privatwirtschaftlichen Betätigung gegeben sein könne, bei der Deutschen Bahn AG namentlich durch die organisatorisch-personelle Legitimation.42 Die folgende Aussage scheint dagegen sowohl aus öffentlich-rechtlicher als auch aus aktienrechtlicher Perspektive eine erhebliche Sprengkraft in sich zu bergen: Das Gericht stellt nämlich fest, dass dem Bund durch diese Personalgewalt auch Prüfungs- und Aufsichtsrechte in den Personen ihrer Aufsichtsratsmitglieder eröffnet würden, die aber begrenzt seien, weil die Mitglieder des Aufsichtsrates dem Interesse der Gesellschaft verpflichtet seien und im Grundsatz ohne Bindung an Weisungen agieren müssten. Die Wahl privater Unternehmensformen für die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben könne daher zu einem Kontroll-, Steuerungs- und Legitimationsdefizit führen.43 b) Keine Anpassung des Gesellschaftsrechts an Steuerungsbedürfnisse des Staates Das ist eine möglicherweise ausgesprochen folgenreiche Aussage, weil sie letztlich die Beteiligung der öffentlichen Hand an Unternehmen in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft gänzlich in Frage zu stellen scheint: Wenn die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand zwingend demokratischer Legitimation bedarf, diese in der Aktiengesellschaft aber nicht gewährleistet werden kann, dann muss dieser Widerspruch aufgelöst werden. Wie das zu bewerkstelligen ist, lässt sich der Entscheidung aber nicht entnehmen, sondern es wird darin lediglich erläutert, wie der Widerspruch nicht aufgelöst werden kann: Das beschriebene Legitimationsdefizit könne nicht dazu führen, dass das Gesellschaftsrecht an die Steuerungsbedürfnisse des Staates als Anteilseigner anzupassen sei, sondern dieser selbst habe die Rechtsform für die ihm obliegende Aufgabenwahrnehmung zu wählen, die die erforderlichen Einwirkungsmöglichkeiten gewährleiste.44 41
BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 216 f. BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 218 ff., 224. 43 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 225. 44 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 225.
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Mit dieser klaren Aussage wird solchen Ansätzen eine begrüßenswerte Absage erteilt, die jedenfalls für eine 100 %ige Tochtergesellschaft annehmen, die Gemeinwohlbindung der öffentlichen Hand könne gesellschaftsrechtliche Strukturen überlagern.45 Vielmehr versteht das Bundesverfassungsgericht die Ingerenzbindung der öffentlichen Hand auch hier lediglich als eine der Gesellschaftsbeteiligung vorgeschaltete Eingangskontrolle der öffentlich-rechtlichen Körperschaft, die sie dazu verpflichtet, sich ausschließlich solcher Rechtsformen zu bedienen, in denen ihr hinreichender Einfluss eingeräumt werden kann.46 c) Fortdauernde verfassungsrechtliche Auskunftspflicht der Regierung Welche konkreten Rechtsfolgen sich aus der dennoch ausdrücklich attestierten „defizitären Legitimationskette“ für die Zulässigkeit einer solchen Beteiligung ergeben, lässt das Gericht offen und beschränkt sich stattdessen darauf, die Folgen dieses Defizits für das parlamentarische Auskunftsrecht festzustellen. Auch dort, wo die Möglichkeiten der Einflussnahme hinter dem fachaufsichtlichen Instrumentarium aus umfassenden Informations- und unbeschränkten Weisungsrechten zurückbleiben, könne sich die Regierung nicht ihrer Verantwortung begeben. Eine parlamentarische Verantwortlichkeit und damit eine Antwortpflicht bleibe – ähnlich wie bei Handlungen jenseits der rechtlichen (Zuständigkeits-) Grenzen – auch bei einer defizitären Legitimationskette bestehen.47 4. Verdrängung der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflicht Auch wenn jede dieser Aussagen in sich stimmig ist, lassen sie den Rechtsanwender in ihrem Zusammenspiel doch einigermaßen ratlos zurück. Das gilt nicht nur für die generelle Frage, ob der Staat sich trotz des deutlich konstatierten Legitimationsdefizits künftig überhaupt noch an einer Aktiengesellschaft beteiligen darf, sondern auch hinsichtlich des Zusammenspiels von Auskunfts- und Verschwiegenheitspflichten. Wenn die Regierung die gesellschaftsrechtlich vorgegebenen Rechtsformen so zu respektieren hat, wie sie im Gesetz ausgeformt sind, dann muss sie auch die gesellschaftsrechtlichen Verschwiegenheitspflichten beachten. Wenn sie aber dennoch zur Auskunft verpflichtet bleibt, ist ihr das nicht möglich. Die 45 Dafür etwa v. Danwitz, AöR 120 (1995), 595 (615); Ossenbühl, ZGR 1996, 504 (510 ff.); Spannowsky, ZGR 1996, 400 ff.; dagegen bereits Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 2d; Schürnbrand, in: MünchKomm AktG, 4. Aufl., 2017, Vor § 394 Rn. 17; Weber-Rey/ Buckel, ZHR 177 (2013), 13 (21). 46 So auch bereits VGH Kassel, AG 2013, 35 (37 f.); Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 2b, 2d; Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, S. 109 ff.; Engellandt, Die Einflußnahme der Kommunen auf ihre Kapitalgesellschaften über das Anteilseignerorgan, 1995, S. 24 ff.; Th. Mann, Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 2002, S. 173 ff.; ders., VBlBW 2010, 7 (8 f., 14 f.); H. Schmid, ZKF 2004, S. 1; R. Schmidt, ZGR 1996, 345 (356 ff.); Wehrstedt, MittRhNotK 2000, 269 (278). 47 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 225 f.
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Frage, wie das somit verbleibende Spannungsverhältnis letztlich aufgelöst werden kann, findet dann im Urteil aber nur noch eine ausgesprochen unbefriedigende Antwort. Wörtlich lautet sie: „Die schlichte Berufung auf die Verschwiegenheitspflicht des Aktienrechts ist zur Begründung der Antwortverweigerung nicht ausreichend. Die Frage, ob das aus Art. 38 I 2 GG und Art. 20 II 2 GG abgeleitete Frage- und Informationsrecht des Bundestages gegenüber der Regierung eine (verfassungskonforme) Auslegung der §§ 394, 395 AktG erfordert, wonach stets eine öffentliche Information des Bundestages zu erfolgen hat, die auch eine Veröffentlichung als BT-Drs. erlaubt, bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung, da die Ag. die Antwort gänzlich verweigert hat.“48
Diese Positionierung ist deshalb so überraschend, weil sie die zuvor konstatierte Bindung der öffentlichen Hand an die Vorgaben der von ihr gewählten Rechtsform zu konterkarieren scheint. Die oben getroffenen Feststellungen scheinen die aktienrechtliche Kompetenzordnung auch dann zu schützen, wenn sich die öffentliche Hand an einer Gesellschaft beteiligt. Der Hoheitsträger kann nicht erwarten, dass das Aktienrecht hoheitlich überwölbt wird, wenn er eine Rechtsform wählt, die den öffentlich-rechtlichen Vorgaben nicht genügt. Aber am Ende wird das aus der Rechtsformverfehlung folgende Spannungsverhältnis dann doch zu Lasten der Gesellschaft aufgelöst. Der Hoheitsträger bleibt trotz der defizitären Legitimationskette in der verfassungsrechtlichen Auskunftspflicht und gegen diese Pflicht können aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten nicht eingewandt werden. Obwohl das Bundesverfassungsgericht den Grund für diesen augenscheinlichen Widerspruch an dieser Stelle nicht näher erläutert, dürfte es letztlich die schon im zweiten Leitsatz der Entscheidung hervorgehobene Normenhierarchie sein, die die aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten aushebelt. Das kann sich für das Unternehmen noch schwerwiegender auswirken als die zuvor geschilderte Gefährdung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse durch die presserechtlichen Auskunftsansprüche (dazu unter IV.), weil das Bundesverfassungsrecht gegenläufige Schutzbelange nur äußerst restriktiv anerkennt (dazu noch im Folgenden unter V. 5.). Als Einschränkung des parlamentarischen Auskunftsanspruchs erkennt es allenfalls konfligierende Verfassungsrechte an, versagt es einem öffentlich beherrschten Unternehmen aber zugleich, sich auf grundrechtlich geschützte Positionen zu berufen. Das Unternehmen muss in einer solchen Konstellation also tatsächlich damit rechnen, dass seine Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse offengelegt werden und kann noch froh sein – denn das hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich offen gelassen – wenn sie nicht auch noch in einer Bundestagsdrucksache veröffentlicht werden.
48
BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 296.
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5. Voraussetzungen der Auskunftspflicht a) Ausdehnung auf Landesbeteiligungen? Kann das Unternehmen sich danach nicht mehr auf den Schutz seiner Unternehmensgeheimnisse nach §§ 394, 395 AktG verlassen, so gewinnt die Frage an Bedeutung, unter welchen Voraussetzungen eine solche Offenlegung konkret zu befürchten steht. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob allein Unternehmen mit Bundesbeteiligung eine solche weitgehende Offenlegung ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse droht oder ob auch Unternehmen mit Landesbeteiligungen ähnliches Ungemach zu befürchten haben. Folgt man der hier vertretenen Lesart, dass es letztlich der Grundsatz der Normenhierarchie ist, der die Bindung der Bundesregierung an ihre aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten aushebelt, dann hängt die Beantwortung dieser Frage davon ab, ob das bundesrechtliche Aktienrecht nach Art. 31 GG auch das Landesverfassungsrecht bricht oder ob speziell für das Verfassungsrecht diese Anordnung keine Geltung beansprucht. Bereits diese Frage, die hier nicht vertieft erörtert werden kann, scheint im öffentlichen Recht aber noch nicht abschließend geklärt zu sein. So heißt es in einer Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshof aus dem Jahr 2006 speziell zu der hier interessierenden Kollision eines parlamentarischen Auskunftsanspruchs mit bundesrechtlichen Geheimhaltungspflichten: „Die unterschiedlichen Interessen müssen einander im Weg der praktischen Konkordanz so zugeordnet werden, dass beide soweit wie möglich ihre Wirkungen entfalten. Diese Bewertung ist einzelfallbezogen anhand der jeweiligen konkreten Gesamtumstände vorzunehmen (…). Dabei wird das landesverfassungsrechtlich verankerte Fragerecht der Abgeordneten durch bundesrechtlich geregelte Geheimhaltungspflichten nicht zwangsläufig überlagert. Art. 31 GG kommt insoweit nicht zur Anwendung, da die Verfassungsräume von Bund und Ländern grundsätzlich selbstständig nebeneinander stehen und im Übrigen das Erfordernis parlamentarischer Kontrolle auf Landesebene über Art. 28 I 1 GG auch bundesverfassungsrechtlich vorausgesetzt wird (Poppenhäger, ThürVBl 2000, 152 [155]).“49
Folgt man dem, müssen auch Aktiengesellschaften mit bloßer Landesbeteiligung eine Offenlegung ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse auf diesem Wege befürchten. b) Beteiligungshöhe Weitere Voraussetzung für eine Überlagerung der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten ist, dass sich der Staat bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben eines – vollständig oder mehrheitlich – in staatlicher Hand befindlichen Unternehmens in Privatrechtsform bedient.50 Wird das Unternehmen in dieser Weise in den 49 BayVerfGH, NVwZ 2007, 204, 207; krit. aber Hellermann, in: BeckOK GG, 35. Edition, Stand: 15. 11. 2017, Art. 31 Rn. 14.2. 50 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 219.
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Verantwortungsbereich der öffentlichen Hand eingebunden, verliert es zugleich die Möglichkeit, sich zum Schutz seiner Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse auf Art. 12 Abs. 1 GG oder das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zu berufen. Das Bundesverfassungsgericht spricht die Grundrechtsfähigkeit nicht nur solchen juristischen Person des Privatrechts ab, deren Anteile sich ausschließlich in den Händen des Staates befinden, sondern auch den sogenannten gemischtwirtschaftlichen Unternehmen, sofern der Staat mehr als 50 % der Anteile an diesen juristischen Personen hält.51 c) Gegenläufige Geheimhaltungsbelange Es verbleiben damit letztlich nur noch Regierungsinteressen, die dem parlamentarischen Auskunftsbegehren als gegenläufige Geheimhaltungsbelange entgegengehalten werden können. So wird es der Regierung gestattet, unter Berufung auf den Grundsatz der Gewaltenteilung Eingriffe in den Bereich der exekutiven Entscheidungsvorbereitung abzuwehren und geheim zu haltende Tatsachen aus dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung nicht mitzuteilen.52 Auch die Wahrung von Dienstgeheimnissen nach Maßgabe der parlamentarischen Geheimschutzordnung wird der Regierung gestattet.53 Schutzwürdige Unternehmensbelange spielen dagegen in dieser Konzeption keine Rolle. Die Verantwortlichkeit der Regierung und damit korrespondierend auch ihre Auskunftspflicht werden vielmehr auf die gesamte unternehmerische Tätigkeit der Deutschen Bahn AG erstreckt.54 Die Wahrung ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse kann höchstens noch eine Rolle spielen, wenn deren Offenlegung Auswirkungen auf das Geschäftsergebnis haben kann und in dieser Weise die Gewinnabschöpfung mindert oder gar Zuschüsse aus dem öffentlichen Haushalt erforderlich macht.55 Es ist also nicht mehr das Unternehmensinteresse, sondern allein das öffentliche Interesse an einer möglichst effektiven Verwendung staatlicher Gelder, das unter bestimmten weiteren Voraussetzungen einem Auskunftsbegehren entgegengehalten werden kann.56
51 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 241 im Anschluss an BVerfGE 45, 63, 79 f. = NJW 1977, 1960; BVerfGE 68, 193, 212 f. = BeckRS 1984, 05449; BVerfGE 143, 246 Rn. 190 = NJW 2017, 217 zur erstgenannten Konstellation und an BVerfGE 143, 246 Rn. 190 = NJW 2017, 217 zur letztgenannten Konstellation; entsprechend zur Frage der Grundrechtsbindung auch schon BVerfGE 128, 226, 244, 246 f. = NJW 2011, 1201. 52 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 227 ff. 53 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 244 ff. 54 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 263 ff. 55 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 282. 56 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 283.
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6. Zwischenfazit Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird das Interesse einer öffentlich beherrschten Aktiengesellschaft an der Wahrung ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse in einem Maße relativiert, das weit über die bislang diskutierten öffentlich-rechtlichen Auskunftspflichten hinausreicht. Insbesondere darf eine Gesellschaft nicht erwarten, dass ihre schutzwürdigen Belange ein Recht zur Geheimhaltung begründen können, sofern sich daraus nicht mittelbar auch ein öffentliches Eigeninteresse der Regierung ergibt. VI. Gesamtwürdigung Kehrt man von diesem Überblick über die neueren Entwicklungen in der Rechtsprechung zu der Ausgangsfrage zurück, wie sich eine Beteiligung der öffentlichen Hand auf die Betriebs-und Geschäftsgeheimnisse einer Aktiengesellschaft auswirkt, so gelangt man in der Gesamtschau zu einem niederschmetternden Befund. Auch von den höchsten deutschen Gerichten wird der Blick zumeist ausschließlich auf das Anliegen gerichtet, der öffentlichen Hand eine Flucht in das Privatrecht abzuschneiden. Das ist zweifellos ein legitimes Anliegen, doch wird darüber oft übersehen, dass es auch andere schutzwürdige Belange zu berücksichtigen gilt. Speziell bei einer Gesellschaft, die nicht zu 100 % im öffentlichen Eigentum liegt, ist es eben nicht nur der Hoheitsträger, der in die Shareholder-Rolle rückt, sondern es sind auch die Interessen weiterer Share- und Stakeholder zu beachten, die in einer Aktiengesellschaft zusammengeschlossen sind, neben den sonstigen Anlegern namentlich die Gläubiger, Geschäftspartner und Arbeitnehmer. So richtig es sein mag, dass ein Hoheitsträger sich nicht durch die Wahl einer Privatrechtsform seinen öffentlich-rechtlichen Bindungen entziehen darf, so ist es doch auch nicht einsichtig, dass eine Rechtsformverfehlung ausschließlich auf Kosten dieser sonstigen Gruppierungen sanktioniert wird. Das ist der zutreffende Kern des Gedankens, den auch das Bundesverfassungsgericht aufgegriffen hat: Wenn sich die öffentliche Hand in einer Rechtsform wirtschaftlich betätigt, die öffentlich-rechtlichen Vorgaben nicht genügt, kann das nicht dazu führen, dass die Rechtsform den hoheitlichen Steuerungsbedürfnissen angepasst wird: Die öffentliche Hand hat die Rechtsform vielmehr so hinzunehmen, wie sie sie vorfindet.57 Das ist in der Rechtsprechung schon in den 1960er Jahren, namentlich mit Blick auf die Weisungsbindung von Aufsichtsratsmitgliedern anerkannt worden, die auf Initiative der öffentlichen Hand gewählt wurden,58 und wird heute sowohl von Seiten des Gesellschaftsrechts als auch von Seiten des öffentlichen Rechts weitestgehend akzeptiert.59 57
Vgl. dazu die Ausführungen unter V. 3. b). Vgl. dazu BGHZ 36, 296 (306) = NJW 1962, 864; BGHZ 69, 334 (340) = NJW 1978, 104; BVerwGE 140, 300 Rn. 20 ff. = NJW 2011, 3735; OVG Münster, AG 2009, 840 (842 f.); VGH Kassel, AG 2013, 35 (37 ff.). 58
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Hinsichtlich der Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse scheint dieser Konsens mittlerweile aber aufgebrochen zu sein. Allein das OVG Koblenz hat sich noch darum bemüht, gesellschaftsrechtliche und öffentlich-rechtliche Regelungsanliegen in einen sinnvollen Ausgleich zu bringen. Selbst wenn diese ausgewogene Linie höchstrichterlich bestätigt werden sollte, schützt sie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse einer Gesellschaft aber nur vor solchen Informations- und Transparenzgesetzen, nach denen – wie in der vom OVG Koblenz zu beurteilenden Konstellation – ausschließlich die öffentliche Hand selbst auf Auskunfterteilung verklagt werden kann. Wo ein Gesetz – wie das PresseG NRW – unmittelbar einen Auskunftsanspruch gegen die Unternehmen selbst eröffnet, verlieren sie den Schutz der §§ 394, 395 AktG, weil diese eben nicht für die Gesellschaft selbst, sondern nur für die Organmitglieder gelten. Es bleiben ihnen dann nur die jeweiligen Ausformungen der Geheimhaltungsschutzvorschriften in den entsprechenden Bundes- oder Landesrechten, bei denen es aber in den Sternen steht, inwiefern sie auf aktienrechtliche Belange Rücksicht nehmen. Gerade mit Blick auf den im öffentlichen Recht zutreffend konstatierten legislativen „Paradigmenwechsel“ zu umfassender Transparenz und Öffentlichkeit60 ist es hochproblematisch, wenn auch private Unternehmen in diese solchermaßen neu geordnete Pflichtenlage eingebunden werden. Diese Gesetzeslage ist für die davon betroffenen Unternehmen höchst unerfreulich und sie ist auch in sich nicht mehr stimmig. Die filigrane Abwägung von unternehmerischen und öffentlich-rechtlichen Interessen, die in §§ 394, 395 AktG angelegt ist, wird aufgegeben, wobei es weitgehend von der gesetzestechnischen Festlegung des Regelungsadressaten abhängt, in welchem Maße die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Gesellschaft geschützt werden können. Selbst dort, wo öffentlich-rechtliche Vorschriften ebenfalls einen Geheimnisschutz vorsehen, ist dieser doch nicht hinreichend auf die aktienrechtlichen Vorgaben abgestimmt. Damit wird auch die strenge Begrenzung des aktienrechtlichen Auskunftsrechts in § 131 AktG zu weiten Teilen konterkariert. Wo einem Aktionär aufgrund der restringierenden tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift eine Auskunft verweigert wird, kann er immer noch versuchen, sie sich auf der Grundlage öffentlich-rechtlicher Informationsvorschriften beschaffen zu können.61 Auch die Schutzbelange des § 131 AktG werden damit ausgehöhlt. Die gravierendsten Einschnitte drohen über die parlamentarischen Informationsrechte in der Lesart des Bundesverfassungsgerichts. Hier muss ein Unternehmen, bei dem die vom Bundesverfassungsgericht vorausgesetzten Beteiligungsanforderungen erfüllt sind, damit rechnen, dass seine Geschäftsgeheimnisse mehr oder weniger ungeschützt der Öffentlichkeit preisgegeben werden können. 59
Umfassender Überblick über den Streitstand bei Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 394 Rn. 28 f. 60 Vgl. dazu etwa Hong, NVwZ 2016, 953 ff.; zust. Spannowsky, ZfBR 2017, 112. 61 Zu dafür einzusetzenden „Strohmann“-Gestaltungen vgl. Gödeke/Jördening, ZIP 2017, 2284 (2288).
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VII. Praktische Konsequenzen Man kann über die juristische Tragfähigkeit der genannten Judikate lange streiten. Aber gerade angesichts der beiden besonders problematischen Urteile in Sachen Deutsche Bahn AG und Peerblog, die jeweils von der höchsten Ebene des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs stammen, muss die Praxis sich auf die solchermaßen ausgedeutete Rechtslage einrichten. Unternehmen mit hoheitlicher Beteiligung müssen damit rechnen, sensible Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nicht hinreichend schützen zu können. Das kann für die betroffenen Unternehmen und ihre Arbeitnehmer, Geschäftspartner und Gläubiger zu erheblichen Belastungen führen.62 Ganz besonders sind aber Privatanleger vor der Beteiligung an Gesellschaften zu warnen, die in dieser Weise von der öffentlichen Hand beherrscht werden. Sie investieren in ein Unternehmen, das in zum Teil scharfer Konkurrenz mit privaten Anbietern steht (man denke etwa an den stark umkämpften Markt der Energieversorgung63), dabei aber einen Wettbewerbsnachteil mit sich trägt, mit dem kein Anleger sein Investment ohne Not belasten sollte. Die wirtschaftliche Betätigung in privatrechtlicher Form mag zwar für die öffentliche Hand auch weiterhin attraktiv sein,64 doch ist es umgekehrt zumindest unter diesem Aspekt nur bedingt attraktiv, sich als privater Anleger an einer Gesellschaft zu beteiligen, die von der öffentlichen Hand beherrscht wird. Diese Zurückhaltung wird über kurz oder lang womöglich auch die öffentliche Hand selbst zu spüren bekommen. So sind etwa schon im Urteil des Bundesverfassungsgerichts Pläne der Deutschen Bahn AG angesprochen worden, die 100 %ige Staatsbeteiligung aufzugeben und private Anleger (möglicherweise auch im Zuge eines immer mal wieder erwogenen Börsengangs) an der Gesellschaft zu beteiligen.65 Soweit die Bundesbeteiligung dabei nicht vollständig oder doch jedenfalls weitgehend aufgegeben wird, fällt die Anlageempfehlung für private Investoren im Lichte der geschilderten Urteile eindeutig aus. Sie lautet: Finger weg!
62
Vgl. zu diesen Belastungen etwa Mann, AG 2018, 57 (59). Vgl. speziell dazu auch Gödeke/Jördening, ZIP 2017, 2284 (2288). 64 Vgl. schon die Nachw. in Fn. 1. 65 BVerfG, NVwZ 2018, 51 Rn. 273. 63
Verfassungsrechtliche Zukunftsfragen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion Von Matthias Ruffert, Berlin I. Aufgaben Seit Anfang 2010 befindet sich die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion im Krisenmodus. Hatte die Staatsschuldenkrise seinerzeit sowohl für intensive politische Auseinandersetzungen als auch für ein kaum überschaubares Anwachsen der wissenschaftlichen Literatur gesorgt, so stellt sich die Situation heute anders dar. Politische Initiativen sind jedenfalls in Deutschland kaum zu verzeichnen. Am rechten Rand des politischen Spektrums sind Stimmen erstarkt, die allenfalls zu wissen vorgeben, was und wie es nicht weitergeht – eine Haltung, die sich in diesem Punkt kaum von derjenigen am linken Rand unterscheidet. Im Bundestagswahlkampf 2017 hat die Europapolitik keine Rolle gespielt; die rückblickende Beurteilung der migrations- und sicherheitspolitischen Entscheidungssituation von Ende August 2015 schien wichtiger. Die Bewertung dieser eigentümlichen Perspektivlosigkeit ist nicht in erster Linie Sache des Verfassungsrechtlers. Erstaunlich ist aber vor allem, dass sich dieses Fehlen einer politischen Perspektive in Deutschland auch auf den rechtswissenschaftlichen Diskurs erstreckt. Abgesehen vielleicht von einem kurzen Aufflammen der Debatte im Sommer 2015, als die griechische Regierung mit ihrem im Stil eines Halbstarken agierenden Finanzminister Europa in Atem hielt (und von dem wenige Wochen später dominierenden, eigentlichen Problem Europas ablenkte), scheinen die Probleme abgehandelt. Das ist angesichts der tatsächlichen Situation bemerkenswert: Die EZB hat seit Beginn der unter dem Begriff „Quantitative Easing“ zusammengefassten Programme 2015 Anleihen im Wert von ca. E 2 Billionen erworben. Das bedeutet, dass das EZB-System in diesem Kontext ca. das Sechsfache des Bundeshaushaltes 2017 an Außenständen hat, überwiegend bei den Mitgliedstaaten.1 Die Bilanzsumme des EZB-Systems hat sich seit der Einführung des Euro bis 2017 mehr als vervierfacht. Juristische Publikationen hierzu sind Mangelware – man dürfte zu diesem ökonomisch existentiellen Problem weniger Aufsätze finden als zu beliebigen Banalitäten des Verwaltungsrechts, so dass das Bundesverfassungsgericht nun mit einer brillanten Analyse in einem erneuten Vorlagebeschluss in die Bresche springen musste.2 Andere Problemfelder harren vor allem in der Sache weiter einer Lösung. 1 2
Zahlenangaben in BVerfG, EuGRZ 2017, 606 (608 und 612). BVerfG, EuGRZ 2017, 606.
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Griechenland schuldet dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) E 40,2 Milliarden und seiner Vorgängerinstitution, der EFSF, E 130,9 Milliarden mit einer Laufzeit von durchschnittlich etwas über 30 Jahren.3 Die Staatsverschuldung im Euroraum liegt bei knapp unter 70 % des Bruttoinlandsprodukts, in Italien bei über 130 %.4 Das Wirtschaftswachstum dort liegt knapp über dem Nullpunkt. Während in Deutschland nahezu Vollbeschäftigung herrscht, liegt die Arbeitslosenquote im Euroraum knapp unter 10 %, in Italien bei 11,9 %, in Frankreich bei 10,0 %, in Spanien bei entsetzlichen 18,7 % – eine Zahl, die nicht einmal mehr im sachsenanhaltinischen Mansfeld oder in der brandenburgischen Uckermark erreicht wird.5 Vielleicht liegt es an der verhältnismäßig komfortablen Situation in Deutschland, dass Initiativen zur Reform der Eurozone überwiegend von außerhalb ergriffen werden. Deren Darstellung (unter II.) und Analyse (III.) ist dieser Beitrag gewidmet. Es würde Matthias Schmidt-Preuß sicher freuen, wenn sich in der ihm gewidmeten Festschrift fände, was der Beck-Verlag vor einigen Jahren auf die Werbebanderole eines Europarechtskommentars gedruckt hat: „Lösungen für Krisenzeiten“.6 Nicht alle Wünsche des Jubilars wird der Beitrag insoweit erfüllen können, aber zumindest sollen mögliche Lösungsansätze skizziert werden (unter IV.).
II. Initiativen 1. Initiativen der Unionsorgane Die Krise der Wirtschafts- und Währungsunion rührt an den Grundfesten des europäischen Integrationsprozesses. Konsequenterweise haben die Unionsorgane seit Beginn der Staatsschuldenkrise selbst die Initiative zur Reform ergriffen. Eine Fülle von Maßnahmen ist bereits realisiert worden, allen voran die Errichtung der „Rettungsschirme“ bis hin zum ESM, aber auch die Verschärfungen der präventiven und repressiven Kontrolle über mitgliedstaatliches Handeln durch „Sixpack“ und „Twopack“ und der Fiskalpakt (VKSV).7 Außerdem ist binnen kurzer Zeit ein europäisches Finanzmarktaufsichtssystem einschließlich eines Systems der Bankenabwicklung errichtet worden.8 Wer der Europäischen Union (EU) Handlungsunfähigkeit vorwirft, muss sich mit diesem beeindruckenden Ergebnis auseinandersetzen. Welche internationale Organisation ist im Weltmaßstab in der Lage, in kurzer Zeit 3
Übersicht: https://www.esm.europa.eu/assistance/greece#bringing_greece_back_to_growth. Daten: http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de&pco de=teina225&plugin=1. 5 Daten für die EU: http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&langu age=de&pcode=teilm020 &plugin=1; für Deutschland: https://statistik.arbeitsagentur.de/Navi gation/Statistik/Statistik-nach-Regionen/Politische-Gebietsstruktur-Nav.html. 6 Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012. 7 Umfassend Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, § 3 Rn. 80 ff., und § 4 Rn. 54 ff. 8 Kaufhold, Die Europäische Bankenunion, ZG 2017, 18. 4
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derart ambitionierte Vorhaben umzusetzen? Welcher demokratische Staat von der Größe der EU wäre zu Vergleichbarem in der Lage – die USA, in denen infolge eines dysfunktionalen Verfassungssystems über sechs Jahre der Kongress sämtliche Initiativen des Präsidenten blockieren konnte? Alle bisherigen Reformen können jedoch nicht vom weiteren Reformbedarf ablenken. Zwei Reformlinien laufen dabei parallel: Zunächst ist ein Zusammenwirken aller Unionsorgane zu verzeichnen. Insbesondere der Europäische Rat nimmt hier seine Initiativfunktion wahr, teilweise bis an die Grenze der verfassungsrechtlichen Möglichkeiten, denn der Europäische Rat kann nicht gesetzgeberisch tätig werden (Art. 15 EUV).9 Konkretes Ergebnis dieses Zusammenwirkens ist der sog. „Fünf-Präsidenten-Bericht“ unter dem Titel „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“ vom Juni 2015. Die Präsidenten der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates, der Europäischen Zentralbank, des Europäischen Parlaments (EP) und der Eurogruppe präsentieren dort ihre Vorschläge zur Weiterentwicklung der EWWU. In zwei Stufen (1) bis Mitte 2017 und (2) bis 2025 soll die EWWU vollendet werden.10 Teilweise geht es in dem Vorschlag um die Vertiefung und Verbesserung vorhandener Instrumente, teilweise aber auch um institutionelle Neuerungen, z. B. in der ersten Stufe um die Errichtung eines euroraumweiten Systems von Einrichtungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und eines beratenden Europäischen Fiskalausschusses zur unabhängigen Bewertung der mitgliedstaatlichen Haushalte.11 Vorgeschlagen wird aber auch eine Stärkung der parlamentarischen Kontrolle der EWWU, auch durch eine intensivierte Zusammenarbeit des Europäischen Parlaments mit den nationalen Parlamenten. Die Außenvertretung des Euro-Währungsgebiets soll vereinheitlicht und der Fiskalvertrag wie Teile des Euro-Plus-Pakts sollen in Unionsrecht übergeführt werden. In der zweiten Phase (die letztlich schon seit Mitte 2017 läuft) ist eine Intensivierung der institutionellen Reformen avisiert. Ein Europäisches Schatzamt soll geschaffen werden, außerdem eine „Funktion zur makroökonomischen Stabilisierung des Euro-Währungsgebiets“. Dann ist auch der ESM in den EU-Rechtsrahmen zu überführen. Die zweite Reformlinie befindet sich in den währungspolitischen Teilen der von der EU-Kommission, namentlich ihrem Präsidenten Jean-Claude Juncker angestoßenen Debatte um die Zukunft der Europäischen Union. Hier ist im Frühjahr 2017 ein Weißbuch mit fünf Optionen vorgelegt worden12, und in seiner „State-of-the9 Instruktiv Calliess, in: ders./Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 15 EUV Rn. 11 f. 10 Der Bericht der fünf Präsidenten: Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden, vorgelegt von Juncker, in enger Zusammenarbeit mit Tusk, Dijsselbloem, Draghi und Schulz, 22. 6. 2015, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/5presidents-report_de_0.pdf. 11 Die Einrichtung einer europäischen Einlagensicherung (S. 13) ist ein Sonderproblem, dass hier aus Raumgründen nicht weiter behandelt werden soll. 12 Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/weissbuch_zur_ zukunft_europas_de.pdf.
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Union“-Rede vom September 2017 hat Juncker seine Vorstellungen in einem Punkt präzisiert.13 Zum Weißbuch gibt es ein Strategiepapier vom Frühsommer 2017.14 Dieses ist allerdings inhaltlich aussagearm und betont weniger wirtschafts- und währungspolitische als soziale Zielsetzungen15. Die institutionellen Vorschläge bleiben im Übrigen offen: „Eine stärkere Wirtschafts- und Währungsunion läßt sich nur erreichen, wenn die Mitgliedstaaten bereit sind, in Angelegenheiten des Euro-Währungsgebiets innerhalb eines gemeinsamen Rechtsrahmens mehr Verantwortung zu teilen und mehr Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Dafür könnten sie auf die EU-Verträge und -Institutionen zurückgreifen, einen zwischenstaatlichen Ansatz verfolgen oder beide Ansätze miteinander kombinieren, wie dies gegenwärtig der Fall ist. Die weitere politische Integration könnte dazu führen, die Kompetenzverteilung zwischen der Kommission und der Euro-Gruppe zu überdenken. Außerdem könnte sie die Ernennung eines ständigen hauptamtlichen Vorsitzes und die Vereinheitlichung der Außenvertretung des Euro Währungsgebiets rechtfertigen. Die Idee eines Schatzamts für den Euroraum – verbunden möglicherweise mit einem eigenen Haushalt für den Euroraum – und eines Europäischen Währungsfonds ist Gegenstand öffentlicher Debatten. Diese Vorstellungen könnten in einer späteren Phase der Vertiefung der Wirtschaftsund Währungsunion innerhalb des EU-Rahmens aufgegriffen werden.“16
Nach Auffassung Junckers in seiner Rede vom September 2017 ist schließlich die Ausdehnung des Euro auf die ganze EU in Angriff zu nehmen und ein Vorbeitrittsinstrument zu schaffen.17 Am 6. Dezember 2017 hat die Europäische Kommission – beide Reformlinien aufgreifend – schließlich ein umfangreiches Maßnahmenpaket vorgelegt, das aus vier Teilen besteht18: (1) Die Umwandlung des ESM in einen Europäischen Währungsfonds (EWF)19, (2) die Bildung einer eigenen Euroraum-Haushaltslinie im allgemeinen EU-Haushalt,20 (3) die Integration des Fiskalpaktes/VKSV 13 Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/state-union2017-brochure_de.pdf. 14 Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-pa per-emu_de.pdf. 15 Man könnte auch sagen, wenn man einen französischen Sozialisten mit der Erarbeitung eines Papiers betraut, wird französischer Sozialismus herauskommen. 16 So in der Zusammenfassung unter: https://ec.europa.eu/commission/publications/reflec tion-paper-deepening-economic-and-monetary-union_de. 17 s. Juncker (Fn. 13), S. 15. 18 Gesamtdarstellung: Mitteilung der Kommission, Weitere Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion Europas: Ein Fahrplan, Dok. KOM(2017) 821 endg. Das gesamte Maßnahmenpaket einschließlich einer Roadmap ist (auch in deutscher Sprache) abrufbar auf https://ec.europa.eu/commission/publications/completing-europes-economic-and-mo netary-union-factsheets_de. 19 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds, Dok. KOM(2017) 827 endg. 20 Mitteilung der Kommission, Neue Haushaltsinstrumente für ein stabiles Euro-Währungsgebiet innerhalb des Unionsrahmens, Dok. KOM(2017) 822 endg. Außerdem: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezem-
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in das EU-Recht21 und (4) die Einrichtung des Amtes eines europäischen Ministers mit „Doppelhut-Funktion“ (Chef der Eurogruppe und Mitglied der EU-Kommission) für Wirtschaft und Finanzen.22 2. Weitere Initiativen aus Politik und Wissenschaft a) Glienicker Gruppe Schon seit 2013 liegt der Vorschlag der Glienicker Gruppe auf dem Tisch, einer unabhängigen Gruppe von elf deutschen Ökonomen, Juristen und Politologen – und, soweit ersichtlich, der letzte der aus Deutschland stammenden Vorschläge.23 Das Konzept der Gruppe ist sehr differenziert, und manche Elemente sind bereits verwirklicht wie die Bankenunion mit einem Abwicklungsmechanismus. Insofern spricht sich die Gruppe auch für eine Stärkung der stabilisierenden Mechanismen in der Eurozone (z. B. No-Bail-Out-Klausel) aus. Parallel rückt sie die Situation in den Programmländern in den Mittelpunkt. Übermäßige soziale Verwerfungen in Staaten wie Griechenland oder ein Ausfall zentraler staatlicher Funktionen dort, die auch für eine funktionierende EU unverzichtbar sind (man denke nur an die Sicherung der Außengrenzen). Hier solle die Stabilitätsorientierung eine Modifikation erfahren und durch Transferkonzepte ergänzt werden, namentlich in Gestalt einer gemeinsamen europäischen Arbeitslosenversicherung. Keine Einigkeit hat die Gruppe in der Frage gefunden, wie eine stärkere wirtschaftspolitische Steuerung („Wirtschaftsregierung“) parlamentarisch legitimiert werden kann, ob durch die EP-Abgeordneten aus der Eurozone oder stärker durch die nationalen Parlamente. b) „T-Dem“ Deutlich neueren Datums ist ein Vorschlag aus Frankreich, einen „Treaty on the Democratisation of the Governance of the Euro-Area“, kurz T-Dem, abzuschließen. Initiatoren sind eine Gruppe von Wissenschaftlern und Publizisten aus dem Umfeld ber 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds, sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates in Bezug auf die Unterstützung von Strukturreformen in den Mitgliedstaaten, Dok. KOM(2017), 826 endg. 21 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Bestimmungen zur Stärkung der haushaltspolitischen Verantwortung und der mittelfristigen Ausrichtung der Haushalte in den Mitgliedstaaten, Dok. KOM(2017) 824 endg. 22 Mitteilung der Kommission, Ein Europäischer Minister für Wirtschaft und Finanzen, Dok. KOM(2017) 823 endg. 23 Abrufbar unter: http://glienickergruppe.eu/de/aufbruch-in-die-euro-union/ (nicht paginiert).
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des französischen Parti Socialiste, darunter der Bestsellerautor Thomas Piketty. Der im Wortlaut entworfene Vertrag soll die unabsehbar lange Zeit bis zu einer umfassenden Vertragsreform in der EU überbrücken und für diesen Zeitraum eine bessere demokratische Legitimation der Maßnahmen in der Eurozone sowie eine demokratisch abgesicherte europäische Wirtschaftspolitik erreichen.24 Zu diesem Zweck wird eine neue parlamentarische Versammlung in Form eines Eurozonen-Parlaments errichtet, zu vier Fünfteln aus den Abgeordneten der Eurozone, zu einem Fünftel aus dem Europäischen Parlament. Die bisherige demokratische Rückkopplung insbesondere der Maßnahmen des ESM in den nationalen Parlamenten sei nicht hinreichend. Der Vorschlag ist aber nicht auf das Institutionelle beschränkt. Gefordert wird der Aufbau eines Haushalts für die auf diese Weise parlamentarisierte Eurozone, gefüllt durch eine europäische Unternehmenssteuer, die vom Eurozonen-Parlament beschlossen und unter seiner Kontrolle verwaltet werden soll.25 Insgesamt geht es den Initiatoren um viel; sie sprechen sich in einer auch in deutscher Sprache erschienenen Publikation „Für ein anderes Europa“ aus,26 und auf der Banderole wird Piketty zitiert: „Holt Euch die Kontrolle über Europa zurück!“ c) Emmanuel Macron Die jüngste und vielleicht gegenwärtig bekannteste Initiative stammt vom Präsidenten der französischen Republik, Emmanuel Macron, die dieser in seiner Rede an der Pariser Sorbonne am 26. September 2017 formuliert hat,27 wobei der Hinweis erlaubt sein mag, dass einige Elemente der Rede von Macron schon an der HumboldtUniversität zu Berlin am 10. Januar 2017 vorgetragen worden waren.28 Die Sorbonne-Rede des französischen Präsidenten erfasst nicht nur die EWWU, sondern erstreckt sich auch auf andere Politikbereiche. Wirtschaftspolitisch greift sie den Gedanken einer Finanztransaktionssteuer wieder auf, die für Zwecke der Entwicklungspolitik eingesetzt werden soll. Eine weitere Steuer soll Unternehmen treffen, die sich zur Steuerflucht außerhalb Europas niedergelassen haben. Im Kern steht jedoch die Souveränität Europas im Bereich der industriellen Wirtschaft und der Währungspolitik. Macron fordert insoweit ein Budget für die Eurozone, um die ambitionierten wirtschaftspolitischen Ziele zu erreichen. Quellen für dieses Budget könnten eine Besteuerung im Bereich des Digitalen, Umweltabgaben sowie eine harmonisierte 24 Abrufbar unter: http://piketty.pse.ens.fr/fr/files/T-DEM%20-%20Final%20english%20ver sion%209march 2017.pdf. 25 Hennette/Piketty/Sacriste/Vauchez, Für ein anderes Europa, 2017 (Original: Pour un traité de démocratisation de l’Europe, Paris 2017), Art. 12 des Vertragsentwurfs, S. 67 ff. Eine Begründung für diese Steuer und auch eine Einschätzung, wie realistisch ihre Einführung ist, findet sich im Vertragsentwurf nicht. 26 Hennette/Piketty/Sacriste/Vauchez, Für ein anderes Europa, 2017 (Original: Pour un traité de démocratisation de l’Europe, Paris 2017). 27 Abrufbar unter: http://www.elysee.fr/declarations/article/initiative-pour-l-europe-dis cours-d-emmanuel-macron-pour-une-europe-souveraine-unie-democratique/ (nicht paginiert). 28 Abrufbar unter: https://www.rewi.hu-berlin.de/de/lf/oe/whi/FCE/2017.
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Unternehmensbesteuerung sein. Die politische Steuerung dieses Budgets müsse über eine europäische Wirtschaftsregierung mit entsprechender parlamentarischer Absicherung erfolgen.29 d) Weitere Initiativen Auch im rechtswissenschaftlichen Diskurs – außerhalb Deutschlands – finden sich vereinzelt Vorschläge zur Zukunft der Eurozone. In seiner Dissertation, Economic Governance in Europe‘ schlägt Federico Fabbrini einen Ausbau der Befugnisse des Europäischen Rates (mit Direktwahl seines Präsidenten) vor.30 Auch Fabbrini plädiert für eine Verbreiterung der finanziellen Basis der Eurozone durch die Finanztransaktionssteuer.31 Die an der Universität Luxemburg erscheinende Online-Zeitschrift „Revue de l’euro“ enthält eine Fülle von Vorschlägen unterschiedlichster Ausrichtung.32 III. Maßstäbe 1. Demokratie a) Das Demokratieprinzip im Unionsrecht Unabhängig vom Ursprung des jeweiligen Reformvorschlages muss dieser mit dem Unionsrecht vereinbar sein – was für manche Initiatoren nicht im Mittelpunkt steht. Ein erster zentraler rechtlicher Maßstab ist das Demokratieprinzip, das mit dem Vertrag von Lissabon nicht nur als Wert der EU in Art. 2 S. 1 EUV verankert worden ist, sondern bekanntermaßen auch als Maßstab für die Arbeitsweise der EU in Art. 9 ff. EUVentfaltet wurde. Zentrale Norm ist Art. 10 Abs. 2 EUV: Die demokratische Legitimation der Unionsebene erfolgt über die Repräsentation im Europäischen Parlament; soweit Vertreter der Mitgliedstaaten in der Union handeln (über ihre Vertreter im Rat), müssen sie ihrerseits über demokratische Legitimation verfügen, und zwar nicht nur kraft nationalen Verfassungsrechts, sondern auch nach unionsrechtlicher Vorgabe (Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV).33 Sofern Reformvorschläge also eine „Demokratisierung“ der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion erstreben, müssen sie vor diesen Maßstäben Bestand haben.
29 s. insoweit auch die Zusammenfassung der Vorschläge unter: http://www.elysee.fr/assets/ Initiative-pour-lEurope-une-Europe-souveraine-unie-et-democratique-Emmanuel-Macron.pdf. 30 Fabbrini, Economic Governance in Europe, 2016, S. 233 ff. 31 Fabbrini (Fn. 30), S. 151 ff. 32 https://resume.uni.lu/publications/revue-ecu-euro. 33 s. Ruffert, in: Calliess/ders. (Fn. 9), Art. 10 EUV Rn. 5 ff.
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b) Demokratiedefizit der gegenwärtigen Wirtschafts- und Währungsunion? Außerdem ist das Demokratieprinzip im Unionsrecht der Maßstab für die Bewertung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Währungsunion in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung. Hier steht zunächst das Argument im Raum, sie sei „asymmetrisch“ konstruiert: Die Parlamente der „Geberländer“ (gemeint ist natürlich der Deutsche Bundestag) könnten auf die im ESM beschlossenen Hilfsmaßnahmen Einfluß nehmen, die Parlamente der „Nehmerländer“ (allen voran das Parlament Griechenlands) müsste demokratisch nicht kontrollierte Konditionalitäten umsetzen. Hierin läge eine Verletzung des Demokratieprinzips.34 Diese Behauptung wird durch ihre häufige Wiederholung nicht richtiger. Nur auf den ersten Blick gibt es eine eklatante Diskrepanz zwischen der Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages einerseits35 und den kaum rechtlich sauber lösbaren Friktionen im griechischen Verfassungsrecht.36 Dem ist jedoch ein viel zu selten thematisierter Zurechnungszusammenhang entgegenzuhalten37: Die Verantwortlichkeit der EU bzw. der Eurozonen-Mitgliedstaaten beruht allein auf der Entscheidung, die Programmländer durch Finanzhilfen zu unterstützen; für Griechenland konkret Anfang Mai 2010 getroffen. Rechtlich geboten war dies keinesfalls; Art. 125 Abs. 1 AEUV stand dieser Lösung eher entgegen als dass er sie sogar forderte.38 Die gravierenden Folgen für den griechischen Staatshaushalt und die Gestaltungsmöglichkeiten künftiger griechischer Parlamente wären jedoch mindestens ebenso gravierend gewesen, hätten die anderen Mitgliedstaaten vom Hilfspaket abgesehen. Es fehlt also schlicht an der Kausalität der Konditionalität für die Begrenzung des politischen Handlungsspielraums in Griechenland. Gleichwohl ist die Frage nach der parlamentarischen Unterfütterung des ESM komplexer. Eine Beteiligung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente ist in der Tat im ESMV nicht vorgesehen, insbesondere nicht bei der Gewährung von Stabilitätshilfen durch den ESM nach Art. 13 Abs. 2 ESMV. Sie kann aber nicht nur aufgrund nationalen Verfassungsrechts erforderlich sein, sondern ist auch nach europäischem Primärrecht geboten. Je geringer die Legitimation durch das Europäische Parlament, um so höher die Notwendigkeit einer Beteiligung der nationalen Parlamente. Christian Calliess spricht insoweit von kommunizierenden Röh34 Triantafyllou, Die asymmetrische Demokratie, EuR 2014, 458. Übereinstimmung in engen Grenzen bei Elefhteriadis, Democracy in the Eurozone in: Ringe/Huber (Hrsg.), Legal Challenges in the Global Financial Crisis, 2014, S. 27 (42 f.). 35 BVerfGE 129, 124 (182 ff.); BVerfG, EuGRZ 2014, 193 Rn. 175. 36 Triantafyllou (Fn. 34), 458 (463). 37 s. zum Thema bereits Ruffert, Europäische Demokratie in der Krise?, in: Stumpf/Kainer/ Baldus (Hrsg.), Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungsrecht, FS Müller-Graff, 2015, S. 710 ff. 38 Statt vieler Palmstorfer, To Bail Out or Not to Bail Out? The Current Framework of Financial Assistance for Euro-Area Member States Measured Against the Requirements of EU Primary Law, ELRev. 37 (2012), 771.
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ren.39 Erreicht wird dies in der konkreten Ausgestaltung des ESM dadurch, dass Stabilitätshilfen im gegenseitigen Einvernehmen gewährt werden, d. h. durch einstimmigen Beschluss des Gouverneursrats (Art. 13 Abs. 2, 4 Abs. 2 S. 1, 5 Abs. 6 lit. f ESMV). Alle Staaten der Eurozone können somit eine Stabilitätshilfe verhindern, und so kann – bei entsprechender Bindung der Regierungen an ihre Parlamente – jedes nationale Parlament an der Entscheidung beteiligt werden. Auch der von der Kommission vorgeschlagene EWF soll hieran nichts ändern.40 Grenzen findet dieser Mechanismus allerdings im Dringlichkeitsverfahren nach Art. 4 Abs. 4 ESMV; hier reicht eine qualifizierte Mehrheit von 85 % nach dem Gewicht der einzelnen Staaten im Euro (Anhang I zum ESMV). Gibt es keine „harten“ unionsverfassungsrechtlichen Argumente gegen die gegenwärtige Ausgestaltung der Stabilisierungshilfen, bleiben rechtspolitische Argumentationslinien im Raum. Als unbefriedigend empfunden wird die fehlende Eingliederung des ESM in das EU-Vertragswerk; hier ist von „Ersatzunionsrecht“ die Rede.41 Politisch unbefriedigend kann auch die Gegenüberstellungen von Gebern hier, Nehmern dort sein. Die durch Parlamente rückgebundene Verhandlungssituation verändert das politisch-institutionelle Gefüge der EU. Vorteilhaft könnte es daher sein, eine europäische „Wirtschaftsregierung“ durch entsprechende supranationale parlamentarische Strukturen zu unterfüttern. Das geschieht ansatzweise in Art. 5 der von der Kommission vorgeschlagenen EWF-Verordnung.42 c) Zur Idee eines Eurozonenparlaments Viele rechtspolitische Vorschläge setzen darauf, eine derartige Wirtschaftsregierung zu schaffen, ein entsprechendes Budget einzurichten und dieses parlamentarisch zu steuern. Es bedürfe eines Parlaments für die Eurozone, ob allein aus den Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die in den Staaten der Eurozone gewählt wurden,43 oder aber – wie im Vorschlag T-Dem – aus EP-Abgeordneten und nationalen Abgeordneten der Eurozonenmitglieder.44 Diese Vorschläge sind indes abzulehnen. Zweierlei kann dagegen vorgebracht werden:
39 Vgl. Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, 1 (2). 40 s. o. Fn. 19. 41 Begriff: Lorz/Sauer, Ersatzunionsrecht und Grundgesetz. Verfassungsrechtliche Zustimmungsgrundlagen für den Fiskalpakt, den ESM-Vertrag und die Änderung des AEUV, DÖV 2012, 573. 42 s. o. Fn. 19. S. dort Art. 6 zur Verantwortlichkeit gegenüber den nationalen Parlamenten. 43 Differenzierend Glienicker Gruppe (Fn. 23), S. 5. Zu Plänen für eine solche Wirtschaftsregierung s. auch Cromme, Die Einführung einer Wirtschaftsregierung der EU, EuR 2014, 448. s. ferner den Vorschlag für einen sehr komplexen Neuaufbau der Institutionen von Piris, The Future of Europe, 2012, S. 121 ff. 44 s. o. Fn. 24.
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Erstens sprechen gegen eine Konstruktion mit entsandten Abgeordneten („Parlamentarisierung zweiter Ordnung“) alle bekannten Nachteile einer solchen parlamentarischen Versammlung. Die Vertreter der nationalen Parlamente werden nicht als Parlamentarier agieren, sondern als Staatenvertreter; die entstehende Versammlung wird sich entsprechend nach Nationalität und nicht primär nach Fraktionen organisieren. Nicht von ungefähr wurde in der Direktwahl zum Europäischen Parlament von 1979 ein entscheidender Schritt nach vorn gesehen. Abgeordnete, die in zwei Parlamenten vertreten sind – dem nationalen Parlament und der Eurozonenversammlung – werden zudem große Schwierigkeiten haben, ihre Arbeitskraft entsprechend einzuteilen.45 Zweitens ist die Argumentation schief, wonach im Europäischen Parlament Abgeordnete aus allen Mitgliedstaaten vertreten seien, somit auch solche, die den Euro nicht als Währung eingeführt haben und die dann – so die Argumentation – zu Unrecht über den Euro betreffende Fragen mitentscheiden könnten.46 Verfassungsrechtlich steht hinter dieser Argumentation ein fundamentales Missverständnis sowohl der Währung Euro als auch der Institution Europäisches Parlament. Der Euro ist Währung der gesamten EU (Art. 3 Abs. 4 EUV); für einige Mitgliedstaaten gilt eine Ausnahmeregelung, solange sie die Konvergenzkriterien nicht erfüllen (s. Art. 139 f. AEUV) und ein Mitgliedstaat (Schweden) hat den Euro unionsrechtswidrig nicht eingeführt. Lediglich Dänemark und – noch – das Vereinigte Königreich können für sich eine Abweichung von Art. 3 Abs. 4 EUV in Anspruch nehmen. Das ändert aber nichts an der Legitimationsstruktur des Europäischen Parlaments als Vertretung aller Unionsbürger.47 Konsequenterweise enthält Art. 139 Abs. 4 AEUV Modifikationen der Abstimmungsregeln allein für den Rat. Auch hier scheint wieder eine politische Vorstellung durch, die dem Europäischen Parlament seine verfassungsrechtlich verankerte Legitimationsleistung nicht zutraut. Die Legitimitätsdefizite des Europäischen Parlaments sind bekannt. Eine Wahlrechtsreform, die die vom Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil herausgearbeitete Wahlrechtsungleichheit zumindest zu mildern erstrebt, ist unverzichtbar. Hinzu tritt Reformbedarf im Recht der europäischen politischen Parteien. Diese Re-
45 Ruffert, Parlamentarisierung von Herrschaft im Mehrebenensystem, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 42 Rn. 34 ff. 46 Abschlussbericht der Gruppe zur Zukunft Europas, 17. 9. 2012, S. 2; Kadelbach, Lehren aus der Finanzkrise – Ein Vorschlag zur Reform der Politischen Institutionen der Europäischen Union, EuR 2013, 489 (499); v. Ondarza, Auf dem Weg zur Union in der Union. Institutionelle Auswirkungen der differenzierten Integration in der Eurozone auf die EU, Integration 2013, 17 (30 ff.). – Zum Folgenden bereits Ruffert, Politische Gestaltung durch das Europäische Parlament, in: Capitant/Jestaedt/Masing/Le Divellec (Hrsg.), Politische Gestaltung durch Repräsentativorgane, 2018, i.E. 47 Im Ergebnis wie hier Maurer, Mehrebenenparlamentarismus und Interparlamentarische Zusammenarbeit in der Europäischen Union, in: Franzius/Mayer/Neyer (Hrsg.), Modelle des Parlamentarismus im 21. Jahrhundert, 2015, S. 359 (374 ff.), allerdings auch aufgrund einer fragwürdigen Argumentation aufgrund aktueller Mehrheitsverhältnisse.
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formschritte sind aber ungleich einfacher zu bewältigen (es gibt bereits Ansätze48) als der institutionelle Komplettumbau. Losgelöst von möglichen Reformen für das EP hat die Kommission in ihrem Reformpaket vom 6. Dezember 2017 keinen institutionellen Umbau auf parlamentarischer Ebene vorgeschlagen, den „Europäischen Finanzminister“ allerdings auch nicht mit besonderen Befugnissen ausgestaltet, sondern lediglich eine bessere Verzahnung von Eurogruppe und Kommission erstrebt.49 2. Wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand a) Stabilität durch Kontrolle Die in einer Reform liegenden Legitimationsreserven werden auch benötigt, um die Kontrolle der Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten effektiver auszugestalten. Die präventiven Elemente in Six-Pack und Two-Pack sind hier an Grenzen geraten, weil das Primärrecht Steuerungsautomatismen nur bedingt trägt. Die ursprüngliche Konzeption der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion war durch eine Kombination von marktmäßiger und administrativer Steuerung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik geprägt: Verschiedene vertragsunmittelbare Verbote (Bail-out-Verbot, Verbot der monetären Staatsfinanzierung) sollten für Haushaltsdisziplin und eine nachhaltige, stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik sorgen, flankiert durch ein administratives Verfahren der Defizitkontrolle.50 Entgegen der landläufigen Annahme ist die Eurozone im Ansatz mithin nicht asymmetrisch konstruiert – die Konstruktion wurde allerdings nicht durchgehalten und spätestens seit dem deutsch-französischen „Sündenfall“ von 2004 aufgeweicht und in Richtung politische Steuerung entwickelt,51 erst recht nach Ausbruch der Krise 2010. Politische Steuerung bedarf aber demokratischer Legitimation. Sie ist in den gegenwärtigen Mechanismen des Europäischen Semesters mühsam vom Parlament durchgesetzt worden (Stichwort: Wirtschaftlicher Dialog52). Eine ernstzunehmende Rolle kann das Europäische Parlament aber nur spielen, wenn es die Initiative zur Reform selbst
48 Zweiter Bericht über einen Vorschlag zur Änderung des Akts vom 20. 9. 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments (2009/2134(INI)), Ausschuss für konstitutionelle Fragen, Berichterstatter: Duff, Dok. EP A7 – 0027/2012 v. 2. 2. 2012; Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. 11. 2015 zu der Reform des Wahlrechts der Europäischen Union (2015/2035(INL)), Dok. EP P8_TAPROV(2015)0395. Im Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit an diesem Beitrag war die Umsetzung der Reform allerdings nicht absehbar. 49 Graphische Darstellung in Mitteilung der Kommission (Fn. 22), S. 3. 50 Vgl. Ruffert, Mehr Europa – eine rechtswissenschaftliche Perspektive, ZG 2013, 1. 51 Weniger kritisch Häde, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 126 AEUV Rn. 12 ff. 52 Art. 2–ab der VO (EU) Nr. 1175/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 11. 2011 zur Änderung der VO (EG) Nr. 1466/97 des Rates über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl.EU 2011, Nr. L 306/12.
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in die Hand nimmt. Es ist besonders tragisch, dass dies momentan nicht im Ansatz geschieht – und dass die Öffentlichkeit von diesem Versagen keine Notiz nimmt. Die vorliegenden Reformvorschläge nehmen die Stabilitätsperspektive erstaunlich wenig in den Blick. Allein der Fünf-Präsidenten-Bericht schlägt mit dem euroraumweiten System von Einrichtungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit eine institutionelle Veränderung vor,53 die aber angesichts der geschilderten Legitimationsschwierigkeiten ein kaum tragfähiger Lösungsansatz sein dürfte. Bedauerlich ist auch die Aufweichung des Fiskalpakts in der von der Kommission vorgeschlagenen Richtlinie. Eine scharfe Schuldenbremse findet sich dort nicht mehr54 – ganz davon abgesehen, dass es große Zweifel an der Einhaltung einer solchen Schuldenbremse gibt. b) Wohlstandssicherung durch Abwehr asymmetrischer Schocks Prominenter in den einzelnen Vorschlägen sind Ansätze zum Aufbau eines Eurozonen-Budgets, und hierfür wird letztlich auch die Gründung eines Eurozonenparlaments vorgeschlagen. Es liegt auf den ersten Blick nicht fern, die gewaltigen Summen, die seit Krisenausbruch zur Währungsstabilisierung eingesetzt wurden, der EU als Ganzer zuzuordnen.55 Es gibt andererseits aber auch gewichtige Gegenargumente. Erstens drängt sich die Frage auf, wie die Einnahmenseite des Eurozonenhaushalts gestaltet werden könnte. Teilweise gibt es hier große Hoffnungen in eine Finanzmarkttransaktionssteuer, ohne dass eine solche Steuer politisch in Sicht wäre und ohne dass man Ertragserwartungen hätte, die nur halbwegs geeignet wären, diese Hoffnungen zu erfüllen. Die Vorschläge Macrons beziehen Vorstellungen über neue Steuerquellen ein.56 Zweitens spricht vieles dagegen, die öffentlichen Haushalte in Europa weiter aufzublähen; jedenfalls ist politischer Konsens hierüber nicht zu verzeichnen. Drittens schließlich wecken neue Haushalte alte Begehrlichkeiten. Die Kategorie des moral hazard ist als Marktversagenstypus bekannt, und sie spielt auch in diesem Kontext bekanntermaßen eine Rolle: Reformanstrengungen werden unterlassen, wenn Mittel aus neuer Quelle in Aussicht sind. Gleichwohl hat der Verlauf der Krise seit 2010 gezeigt, dass der Einsatz von Haushaltsmitteln zur Abwehr asymmetrischer Schocks eine sachliche Rechtfertigung haben kann. So hat Irland aus EFSM und EFSF (sowie vom IWF) Garantien von insgesamt E 67,5 Milliarden in Anspruch genommen, mit dieser Unterstützung tiefgreifende (und für die Bevölkerung schmerzhafte) Reformen unternehmen können und später die Verbindlichkeiten gegenüber den Rettungsinstitutionen wieder beglichen. 53
s. o. Fn. 10. s. Art. 3 des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Bestimmungen zur Stärkung der haushaltspolitischen Verantwortung und der mittelfristigen Ausrichtung der Haushalte in den Mitgliedstaaten (Fn. 21). 55 s. o. Fn. 3. 56 s. o. Fn. 27. 54
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Irland ist seit geraumer Zeit auf den Kapitalmärkten refinanzierungsfähig. Ähnliche Effekte sind für Portugal zu beobachten. Vorbildwirkung für die Errichtung einer „Fiskalkapazität“ – oder wie immer man den Mitteleinsatz auch bezeichnen will – findet man also im irischen, vielleicht auch im portugiesischen Beispiel. Die von der Kommission vorgeschlagene Haushaltslinie für den EU-Haushalt ist insofern moderat, wenngleich die „Stabilisierungsfunktion“ in ihren Grenzen noch unscharf ist57; überdies könnte das zentrale Risiko in der geplanten „Letztsicherung für die Bankenunion“ liegen.58 c) Austerität? Die gegenwärtige haushalts- und wirtschaftspolitische Praxis in der EU wird häufig als „Austeritätspolitik“ bezeichnet, ja gebrandmarkt. Austerität bezeichnet in wirtschaftspolitischen Zusammenhängen eine Politik, die auf strenge Sparsamkeit und restriktives Ausgabenverhalten orientiert ist.59 Die Kennzeichnung der gegenwärtigen Situation in der EU mit diesem Begriff muss mindestens Erstaunen hervorrufen, nimmt man das eingangs erwähnte immense Anleihekaufvolumen durch die EZB in den Blick. Sehr zu Recht fragt das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle, ob nicht doch verdeckte monetäre Haushaltsfinanzierung betrieben wird, und es bringt hierbei die vom EuGH in der Gauweiler-Entscheidung formulierten Kriterien zum Tragen.60 Dabei wird hoffentlich auch seine im OMT-Endurteil formulierte Kritik Berücksichtigung finden, wonach der EuGH die geldpolitische (nicht wirtschaftspolitisch) Ausrichtung des OMT-Programms ohne nähere Prüfung angenommen habe (ähnliches wird man auch bei QE prüfen können), eine Gesamtbetrachtung der Wirkung der Anleihekäufe unterlassen und sich schließlich nicht mit dem Problem der demokratischen Legitimation einer in ihren Kompetenzen weit vom Ursprungskonzept entfernten EZB auseinandergesetzt hat.61 Nur am Rande sei hier erwähnt, dass die EZB in den hier vorgestellten Reformvorschlägen eine erstaunlich geringe Rolle spielt. 3. Grundrechte Überlegungen zur Zukunft der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sind keine art pour l’art. Wenn wir es auch gegenwärtig in Deutschland nicht in gleicher Weise wahrnehmen, gibt es an anderen Orten in der EU massive ökonomische 57
Mitteilung der Kommission (Fn. 20), S. 16 Mitteilung der Kommission (Fn. 20), S. 13 ff. 59 In der juristischen Literatur ist der Begriff seltener: Hufeld, Das Recht der Europäischen Wirtschaftsunion, in: Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht, EnzEuR, Band 4, 2015, § 22 Rn. 106, 159 ff. 60 EuGH, Rs. C-62/14, ECLI:EU:C:2015:400, insbesondere Rn. 66 ff. und 93 ff. (Gauweiler). 61 BVerfG, EuGRZ 2017, 440 (468 f.). 58
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Verwerfungen. Die Arbeitslosigkeit in Frankreich, Italien und Spanien wurde bereits genannt, die allseits hohe Jugendarbeitslosigkeit in diesen und anderen Ländern muss unbedingt Erwähnung und Beachtung finden. Wird die Politik der EU als zukunftszerstörend empfunden, kann sie wenig Zukunft haben. Eine neuere Tendenz im Schrifttum geht dahin, die in den Programmländern entstehenden Probleme unionsgrundrechtlich zu überformen.62 In der Tat ist die grundrechtliche Dimension der Sanierung einzelner Staaten in der Eurozone nicht neu. Der Ausschuss des Europarates für Soziale Rechte hat sich schon früh der Situation in Griechenland angenommen,63 und aus Portugal ist die Kontrolle einzelner Maßnahmen durch die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit bekannt.64 Nun aber lautet die Argumentation, dass insbesondere die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank durch ihre Politik konkrete Grundrechte aus der GRCh (Eigentum, Koalitionsfreiheit, soziale Grundrechte) in den Programmländern verletzen. Der EuGH hat in der Rechtssache Ledra Advertising hierzu Stellung genommen und eine Haftung der Unionsorgane nach Art. 340 Abs. 2 AEUV für möglich gehalten, wenn auch im konkreten Fall verneint.65 Dort ging es um die Ansprüche von Gläubigern zypriotischer Banken, die infolge der Bankenrestrukturierung auf Zypern gravierende Vermögenseinbußen erlitten hatten. Kommission und EZB seien für ihren Anteil an den Sanierungsmaßnahmen aber grundrechtsgebunden und müssten daher, so der EuGH – im Gegensatz zu EuG und Generalanwalt66 –, für Grundrechtsverletzungen im Rahmen der Maßnahmen haften.67 Die konkrete Grundrechtsverletzung verneinte der EuGH allerdings – der Zugriff auf das Eigentum der Betroffenen sei durch das Ziel der Sicherung der Stabilität des Bankensystems im Euroraum gedeckt und verhältnismäßig gewesen.68 Schrifttum wie EuGH-Urteil halten einer europarechtsdogmatischen Analyse nicht stand. Ausgangspunkt kann durchaus die Feststellung sein, dass die Unionsorgane für ihren Mitwirkungsanteil am Handeln des ESM eine primäre (ggf. durch Anfechtung identifizierbarer Teilmaßnahmen) wie sekundäre (Haftung) Verantwortung trifft. Im Licht der Pringle-Rechtsprechung ist es plausibel, hier eine Zurechnung zu bejahen. Eine hiervon zu unterscheidende Frage ist aber die konkrete Zurechnung 62 Vor allem Poulou, Financial Assistance Conditionality and Human Rights Protection: What is the Role of the EU Charter of Human Rights, CMLRev. 54 (2017), 991 (994 m.w.N. in Fn. 10; sowie insbesondere 1013 f.); dies., Austerity and European Social Rights: How Can Courts Protect Europe’s Lost Generation?, GLJ 15 (2014), 1145; Fischer-Lescano, Troika in der Austerität – Rechtsbindungen der Unionsorgane beim Abschluss von Memoranda of Understanding, KJ 2014, 2. 63 Referiert bei Poulou (Fn. 62), 1015 und 1021. 64 Poulou (Fn. 62), 1018 f. 65 EuGH, Verb. Rs. C-8/15 P bis C-10/15 P, ECLI:EU:C:2016:70 (Ledra Advertising). 66 EuG, Rs. T-289/13, EU:T:2014:981, Rn. 44 – 47; GA Wahl, Schlussantr. v. 21. 4. 2016, ECLI:EU:C:2016:290, Rn. 85 ff. 67 EuGH (Fn. 65), Rn. 57 ff. 68 EuGH (Fn. 65), Rn. 74.
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einzelner Maßnahmen zu jenem Mitwirkungsanteil. Die Aushandlung der Memoranda of Understanding mit dem betreffenden Eurozonen-Programmland ist vertraulich, so dass nach außen unklar bleibt, auf wen eine bestimmte Maßnahme zurückgeht – die Kommission, die EZB oder den Mitgliedstaat oder – soweit er beteiligt ist – den IWF.69 Eine mittäterschaftliche Haftung für die gesamte Sanierungstätigkeit wäre völker- und unionsrechtlich ein Novum, für das sich keine Anhaltspunkte ausfindig machen lassen.70 Hinzu kommt, dass die „Eingriffe“ in die jeweils postulierten Grundrechtspositionen sich stets aus übergeordneten Gemeinwohlüberlegungen rechtfertigen lassen und dass in wirtschaftspolitischen Zusammenhängen weite Gestaltungsspielräume anerkannt werden. Solange es bei der primären Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für ihre Sozial- und Wirtschaftspolitik bleibt, geht es daher bei der sozialen Ausgestaltung der Sanierungsmaßnahmen im Kern um eine politische Aufgabe, nicht um eine Aufgabe unionsverfassungsrechtlicher Optimierung. Auch hier ist die in der exorbitanten Staatsverschuldung liegende Ursache für wirtschaftliche Not zu berücksichtigen.71 IV. Zum rechtlichen Rahmen für Lösungsansätze Das Europarecht zeichnet seine künftige Gestalt nicht vor. Die politischen Entscheidungen zur Zukunft der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion werden von den politischen Akteuren getroffen. Die vorstehenden Überlegungen zeigen aber den rechtlichen, bisweilen rechtspolitischen Handlungsrahmen auf, in dem europapolitisch agiert werden kann. Drei Orientierungspunkte sind in ihrem Ergebnis festzuhalten: 1. Die Reform der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion muss die Struktur der demokratischen Legitimation der EU beachten. Soweit der EU in diesem Bereich neue Kompetenzen zuwachsen, etwa in der Kontrolle mitgliedstaatlicher haushaltswirksamer Politiken oder in der Verwaltung neuer budgetärer Ressourcen, ist das Europäische Parlament zu stärken und zu aktivieren. Soweit die Mitgliedstaaten zuständig bleiben, etwa in der Bereitstellung von Ressourcen, sind auch die mitgliedstaatlichen Parlamente entscheidungsbefugt. Von überkomplexen institutionellen Konstruktionen ist abzusehen. 2. Der Aufbau monetärer Ressourcen zur Abwehr „asymmetrischer Schocks“ bedarf einer ökonomischen Rechtfertigung. Selbst wenn diese vorliegt, ist er nur vertretbar, wenn daneben die Stabilitätsorientierung nicht verlorengeht und der Druck auf die Mitgliedstaaten erhalten bleibt, notfalls ihre Wirtschafts- und insbesondere Steuersysteme zu reformieren. 69
Mönning, Internationales Staatensanierungsverwaltungsrecht, 2018, S. 110 ff. s. auch Poulou (Fn. 62), 1013, die der Auffassung ist, der EuGH habe seine Lösung „not thoroughly explained“. Kritisch zum Urteil auch dies., The Liability of the EU in the ESM framework, Maastricht Journal of European and Comparative Law 24 (2017), 127 (133 ff.). 71 s. o. III 1. b). 70
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3. Ziel von Reformen muss die Beseitigung der gravierenden wirtschaftlichen Notlage (z. B. Jugendarbeitslosigkeit) in einigen Programmländern sein. Dies ist jedoch ein politisches Ziel, keine Konsequenz aus zwingenden grundrechtlichen Vorgaben.
Begrenzung der Übermacht im Vertragsrecht durch iustitia correctiva oder durch Wettbewerb Von Franz Jürgen Säcker, Berlin I. Einleitung Die Übermachtkontrolle im Vertragsrecht ist erst im späten 20. Jahrhundert zum zentralen Thema geworden.1 Im 19. Jahrhundert war „Macht im Zivilrecht“ – anders als im Staatsrecht2 – noch kein Gegenstand juristischer Erörterung. Im Staatsrecht ging es um die Frage, ob staatliche Macht auf Anerkennung durch das Staatsvolk oder auf Gewalt basiere. Ziel war eine konstitutionelle Legitimierung der staatlichen Macht, die nicht mehr als von Gott gegeben und per se als Recht angesehen wurde. Die Vollendung des im Jahr 1776 in den USA begonnenen und 1789 in Frankreich fortgeführten europäisch-amerikanischen Projekts, nach dem der moderne Staat an unveräußerliche Menschenrechte, an demokratische Wahlakte und an Gewaltenteilung gebunden sei, bewegte die Diskussion – wenngleich zunächst ohne politisch durchgreifenden Erfolg.3 In der zivilistischen Dogmatik des 19. Jahrhunderts wurde ungleiche Machtverteilung dagegen nur dann als Rechtsproblem gesehen, wenn sie in konkreten Rechtsnormen in Verbindung mit weiteren Tatbestandsmerkmalen, wie z. B. in Wucherparagraphen (heute: § 138 Abs. 2 BGB), ihren Ausdruck fand.4 Dass Übermacht als 1 Der Aufsatz führt Überlegungen weiter, die der Verfasser am 14. 6. 2017 an der Universität Athen anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde vorgetragen hat. 2 Dazu Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 3. Aufl. 1863, Bd. I, Teil 2, S. 269 ff.; näher zur Verfassungsbewegung: Hansemann, Die deutsche Verfassungsfrage, 1848; mit Quellen Botzenhart, Die deutsche Verfassungsfrage 1812 – 1848, 1968; ausführlich Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II, Der Kampf um Einheit und Freiheit, 3. Aufl. 1960, S. 774 ff.; zur Entstehung und Bedeutung der Grundrechte in der Frankfurter Reichsverfassung vgl. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 296 ff. u. 327 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, Bismarck und das Reich, 3. Aufl. 1963, S. 24 f.; zu den verschiedenen staatsrechtlichen Positionen zwischen 1815 und 1914 ausführlich Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II, Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1880 – 1914, 1992; speziell in Bezug auf die Freiheitsrechte Lotzenburger, Die Grundrechte in den deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts, 2015, S. 259 f. 3 Dazu Stolleis (Fn. 2), S. 371 f.; speziell zum Verhältnis amerikanischer Menschenrechtserklärung und deutschem Frühkonstitutionalismus Hilker, Grundrechte im Deutschen Frühkonstitutionalismus, 2005, S. 69 ff. 4 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 480 f.
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solche die Gültigkeit von Verträgen in Frage stellen könnte, war nicht nur für Savigny5 in der ersten Hälfte, sondern auch für Jhering6 und Windscheid,7 die bedeutendsten deutschen Juristen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, noch unvorstellbar. Der Begriff Macht tauchte selbst bei Jhering, der in vieler Hinsicht bereits das rechtswissenschaftliche Denken der Moderne repräsentiert, ausschließlich als rechtliche Gestaltungsmacht des Individuums beim Abschluss von Verträgen auf.8 Den Vertrag begleitende und korrigierende Gerechtigkeitsnormen als inhaltliche Normen höherer rechtsquellentheoretischer Ordnung,9 die ungerechten Verträgen Grenzen setzten, waren im 19. Jahrhundert unbekannt.10 Die allein auf die Willensübereinstimmung abstellende formale Vertragsethik sah sich voll in Übereinstimmung mit der griechisch-römischen Tradition.11 In der nikomachischen Ethik12 räumt Aristoteles der kommutativen Austauschgerechtigkeit nur einen relativ bescheidenen Raum ein. Der Austauschvertrag diene der wechselseitigen Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse der Vertragsparteien.13 Bei Vertragsstörungen müsse der Wert der nicht oder nur fehlerhaft erbrachten Leistungen ausgeglichen werden.14
5 Savigny (System des heutigen Römischen Rechts, 1840, Bd. 1, S. 57) kennt nur die „Macht“ des Individuums zur Vertragsgestaltung („dem individuellen Willen freye Macht“). 6 Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. I, 1877, zitiert nach der unveränderten Ausgabe 1904, Bd. I, S. 261 ff. 7 In seinen Pandekten bezieht sich auch Windscheid nur auf die „von der Rechtsordnung verliehene Willensmacht oder Willensherrschaft“, Pandekten, 7. Aufl. 1881, Bd. I, S. 88. 8 Jhering (Fn. 6), S. 261 ff. 9 Vgl. dazu: Jansen, Die Struktur der Gerechtigkeit, 1998, S. 46 ff. 10 Säcker, Macht im Zivilrecht, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, 2013, S. 9, 14 ff. 11 Nach Gaius war für den Abschluss eines Konsensualvertrages die Übereinstimmung der Willenserklärungen notwendig (Gaius 3, 89 ff., 128, 135 ff.). 12 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V 1129a 6 ff., 1130b 20 ff. (übersetzt von U. Wolf, Aristoteles’ Nikomachische Ethik, 2006, S. 160 ff.); Weinrieb, Aristotle’s Forms of Justice, in: Panagiotou, Justice Law and Method in Plato and Aristotles, 1987, S. 133 ff.; Keyr, Aristotle’s Theory of Distributive Justice, in: Miller/Keyr (eds.), A Comparison in Aristotle’s Politics, 1991, S. 238 ff.; Gordon, Aristoteles über Gerechtigkeit, 2007, S. 112 ff., 165 ff.; Aubenque, The Twofold Natural Foundation of Justice According to Aristotle, in: Heinaman (ed.), Aristotle and Moral Realism, 1995, S. 39 ff.; G. Bien, Gerechtigkeit bei Aristoteles, in: Höffe (Hrsg.), Aristoteles Nikomachische Ethik, 3. Aufl. 2010, S. 135 ff.; I. Englard, Corrective and Distributive Justice – From Aristotle to Modern Times, 2009; vgl. aus der juristischen Literatur: Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1995, S. 9 ff.; Trude, Der Begriff der Gerechtigkeit in der aristotelischen Rechts- und Staatsphilosophie, 1955, S. 4 ff., 106 ff.; Arnold, Vertrag und Verteilung, Die Bedeutung der iustitia distributiva im Vertragsrecht, 2014, S. 28 ff.; Honsell, Iustitia distributiva iustitia commutativa, in: Schermaier/Rainer/Winkel (Hrsg.), Iurisprudentia universalis, 2002, S. 287 ff.; Manthe, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung, 1996, S. 1 ff. 13 Aristoteles (Fn. 12), S. 166. 14 Aristoteles (Fn. 12), S. 161.
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Der Soziologe Arnold Gehlen beschreibt in seinem viel beachteten Werk „Urmensch und Spätkultur“15 den Prozess des Aushandelns entsprechend den Bedürfnissen der Beteiligten anhand eines anschaulichen Beispiels: Zwei miteinander verfeindete und am Tag Krieg gegeneinander führende Stämme in Afrika ohne gemeinsame Sprache tauschen Produkte in der Weise aus, dass eine Seite Waren, die sie tauschen möchte, des Nachts auf eine Waldlichtung legt. Der gegnerische Stamm prüft in der nächsten Nacht das Angebot, ohne die Waren mitzunehmen, und stellt seinerseits Waren bereit, die er als Gegenleistung anbietet. In der dritten Nacht prüft der Anbieter, ob ihm die vom anderen Stamm angebotenen Waren als Gegenleistung ausreichen. Bejaht er dies, nimmt er die Waren mit und lässt seine eigenen Waren liegen, die dann in der vierten Nacht abgeholt werden. Reicht ihm die Gegenleistung nicht, nimmt er seine eigenen Waren zurück. Der Vertrag ist dann gescheitert. Dies ist ein Beispiel dafür, wie „Urmenschen“ Verträge auch ohne rechtlichen Rahmen schließen konnten. Die Prüfung der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung nahmen die Parteien in diesem selbstregulierten Prozess des Aushandelns ohne Einschaltung Dritter nach ihren subjektiven Bedürfnissen vor. Auch der Austauschvertrag bei Aristoteles kannte keinen Dritten als Mediator oder Streitschlichter. Aus heutiger Perspektive war Aristoteles ein Vorläufer des klassischen Liberalismus,16 der das später von Thomas von Aquin17 entwickelte Konzept eines iustum pretium und einer laesio enormis bei erheblicher Überschreitung des gemeinen Wertes noch nicht in seine Überlegungen aufgenommen hatte. Dagegen sah Aristoteles die Notwendigkeit, Prinzipien für die gerechte Verteilung knapper Güter durch staatliche oder private Institutionen aufzustellen. Wenn jemand mehr erhalte, als ihm zustehe, sei das ungerecht, und wenn jemand weniger erhalte, als ihm gebühre, sei das auch ungerecht.18 Das richtige Maß sei deshalb die Mitte. Hierfür entwickelte er seine mesos-Lehre mit dem Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit. Wenn z. B. bei einem Wettbewerb um das beste Flötenspiel der Veranstalter die Flöten für den Wettbewerb zu verteilen habe, so gebühre die beste Flöte der besten Spielerin – unbeschadet ihrer Herkunft, ihres Standes, ihres Alters oder ihrer Bedürftigkeit.19 Parallele Überlegungen zu Kriterien der iustitia commutativa finden sich in der Nikomachischen Ethik nicht, auch wenn manche Aristoteles-Interpreten mit dem rechtsphilosophisch geschärften Blick der Gegenwart Grundelemente einer immanenten Vertragsgerechtigkeit bereits in seinen Texten zu entdecken glauben. 15
Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 7. Aufl. 2016. Höffe in: ders. (Hrsg.), Aristoteles: Politik, 2. Aufl. 2011, S. 163 ff. 17 Thomas v. Aquin, Summa theologica, 1273, lib. 2, pars 2, quaestio 77 (zitiert nach der Ausgabe: Summe der Theologie, 1985), wonach der Betrug durch zu teures Verkaufen gegen die Natur des vertraglichen Leistungsaustausches gerichtet ist. Siehe dazu auch Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 1997, S. 107. 18 Aristoteles (Fn. 12), S. 160 ff. 19 Weitere Ausführungen zur mesos-Lehre bei Rottleuthner, Ungerechtigkeiten, 2008, S. 12 ff.; Wolf, in: Höffe (Fn. 12), S. 83 ff. 16
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II. Kritik der formalen Vertragsethik im 19. Jahrhundert Eine grundlegende privatrechtsdogmatische Studie, die die Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit als bilateraler Selbstbestimmungsordnung in der sich rasch entfaltenden Industriegesellschaft analysierte, blieb im 19. Jahrhundert aus. Karl Marx verhallte im privatrechtlichen Schrifttum ungehört.20 Ein unbefangener Blick in die soziale Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts zeigt jedoch, dass sich hinter der Verankerung von Freiheit und Gleichheit in der Rechtsordnung Ungleichheit und Unfreiheit versteckten.21 Der von Adam Smith22 begründete liberale Glaube an die quasi-automatische Ordnungskraft des freien Marktes hatte ein formales Äquivalenzprinzip zum Maßstab der Vertragsfreiheit erhoben, das reale Ungleichheit ignorierte. Mit der sozialen Lage des Vierten Standes war – so die damals herrschende Auffassung – eine „bestimmte rechtliche Wirkung nicht verbunden“.23 Der auf den Fabrikarbeiter angewandte „abstracte“ Begriff der individuellen Freiheit hatte diesen, wie der Staatsrechtler in seinem 1852 erstmals erschienenen „Allgemeinen Staatsrecht“24 feststellte, unter dem Schein der Freiheit dem Despotismus des Kapitals schutzlos preisgegeben. Die Anerkennung von Freiheit und Gleichheit des Individuums als Folge der französischen Revolution erwies sich so als „Danaer-Geschenk“,25 als unübersteigbare Schranke auf dem Weg zum Schutz der Arbeitnehmer, die durch das Dogma von der rechtlichen Freiheit und Gleichheit aller den früheren, zwar begrenzten, aber auch nicht völlig unwirksamen Schutz agrarischer und zunftgeprägter Gesellschaftsstrukturen in Deutschland verloren hatten.26 Mit der begrifflich-logischen Verankerung der Privatautonomie im Rechtssystem wurden die Folgen des Vertragsschlusses aus dem Rechtsanwendungsprozess ausgeklammert. Der Wert des Auslegungsergebnisses war kein hermeneutisches Kriterium im Kanon der von Savigny definierten klassischen Interpretationstheorie.27
20
Säcker, Macht im Zivilrecht (Fn. 10), S. 14 f. Vgl. näher: Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, 1972. 22 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, University of Chicago Press, Chicago 1976, S. 477, der von der „invisible hand“ des Marktes als Ordnungsmacht spricht. 23 Beseler, System des gemeinen deutschen Staatsrechts, 1. Aufl. 1847/55, Bd. III, S. 5. 24 Bluntschli (Fn. 2), S. 165. 25 Krause, JuS 1971, 313 (318). 26 Vgl. Bluntschli, Deutsches Privatrecht, 3. Aufl. 1894, S. 685 ff. 27 Savigny (Fn. 5), S. 213 ff. unterschied vier Auslegungsweisen (sog. Canones): „Das grammatikalische Element der Auslegung“, „Das logische Element der Auslegung“, „Das historische Element der Auslegung“ und „Das systematische Element der Auslegung“. Eine teleologische Auslegung der Norm, bei der sich im Konfliktfall der Normzweck gegenüber dem zu engen oder zu weiten Wortlaut der Norm durchsetzt, lag für Savigny jenseits der Aufgabe des Interpreten. 21
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Die Privatrechtsdoktrin des 19. Jahrhunderts hatte sich damit begnügt, die Institution der Geschäftsfähigkeit i.S. eines intellektuellen Mindeststandards für die Selbstbestimmungsfähigkeit zu typisieren und mit der Anfechtung der Willenserklärung bei rechtswidriger Drohung einen Schutz vor unerlaubten Fremdeinwirkungen auf die Freiheit der Willensbildung zu etablieren.28 Eine Korrektur der Einigung bei freiheitsbeeinträchtigender asymmetrischer Machtverteilung stand nicht auf der rechtspolitischen Agenda. Auch nicht diskutiert wurde die Frage, ob bei Armut fundamentale Selbstverwirklichungschancen bestünden und die rechtsgeschäftliche Fähigkeit („capability“) vorhanden sei, ein Leben auf der Grundlage der Selbstachtung zu führen, weil die Freiheit zur Selbstbestimmung bei Mittellosigkeit nicht davor schützt zu verhungern.29 Erst der moderne Sozialstaat erlaubt es, diese der Vertragsfreiheit vorgelagerte Frage aus dem System der Privatautonomie auszuklammern und die Selbstbestimmungsfähigkeit nicht einer Armutsprüfung zu unterwerfen. Die Privatrechtslehre fragte nicht, wie eine Einigung gelungen war, wenn sie denn nur formal vorlag. Zwar beklagten Autoren aus der Sicht der deutschen Rechtsgeschichte den übergroßen Einfluss des römischen Rechts und kritisierten die Apotheose einer unbegrenzten Vertragsfreiheit ohne jede ethische Pflichtbindung. Die durch Vertragsfreiheit verliehene Gestaltungsmacht sei nicht nur, wie das römische Recht lehre, durch äußere Schranken (§§ 134, 138 BGB), sondern auch durch immanente Schranken begrenzt, die sich aus der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die gleichen Rechte der Vertragspartner ergäben.30 Das Reichsgericht ließ sich von solcher Kritik aber nicht beeinflussen. Es entschied 1883 zwar mitfühlend, aber rechtlich unbeeindruckt: „So wenig billig und gerecht auch die völlige Abwälzung einer Haftung sei, so fehlt es doch mangels einer gesetzlichen Einschränkung der Vertragsfreiheit an der Möglichkeit, der betreffenden vertraglichen Bestimmung die Gültigkeit zu versagen.“31 Das Reichsgericht32 führte diese Judikatur auch nach Inkrafttreten des BGB noch bis in die frühen Jahre der Weimarer Zeit fort. So heißt es z. B. in einer Entscheidung des Gerichts vom 22. Februar 1922,33 es könne „keinem Zweifel unterliegen, dass grundsätzlich jeder Verkäufer in der Aufstellung seiner Verkaufsbedingungen voll28 Vgl. Motive BGB, 1888, Bd. I § 103; näher dazu: Schwimann, Die Institution der Geschäftsfähigkeit, 1965, S. 99 f. mwN; Raiser, JZ 1958, 1 (2). 29 Vgl. Sen, Ökonomie für den Menschen, 5. Aufl. 2011, S. 28 ff.; dazu Scholtes, in: Volkert (Hrsg.), Armut und Reichtum an Verwirklichungschancen, 2005, S. 23 ff.; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999, S. 219 ff. 30 Vgl. Jhering (Fn. 6), S. 261 ff.; näher dazu Menger, Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 4. Aufl. 1904; Neuhäuser, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 2010, S. 542 ff. 31 RGZ 11, 100 (110). 32 Überblick bei Raiser, Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935, S. 302 ff.; Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen, einseitig gestellte Vertragsbedingungen und die allgemeine Rechtsgeschäftslehre, 2010, S. 287 ff. 33 RGZ 104, 98 (101).
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kommen freie Hand habe“. Den Unternehmen könne – so das Reichsgericht in paläoliberaler Naivität – „die Ausnutzung ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit“34 durch Kartellbildung zur Verbesserung ihrer Erlössituation nicht versagt werden. Erst Jahre später begann das Reichsgericht, mit Hilfe von § 138 BGB (Verstoß gegen die guten Sitten) wenigstens der Ausübung monopolistischer Marktmacht Grenzen zu setzen, allerdings nur bei lebensnotwendigen Gütern der Daseinsvorsorge (Strom, Gas, Wasser, Eisenbahnverkehr), da der Einzelne auf diese Güter angewiesen sei.35 Bei allen anderen Gütern lehnte das Gericht die Anwendung von § 138 BGB ab, weil der Kunde sich dem Monopol durch Verzicht auf den Erwerb entziehen könne.36 III. Die Entwicklung einer materiellen Vertragsethik im 20. Jahrhundert Anklänge an das Leitbild eines iustum pretium finden sich erst in der sozialstaatsorientierten Privatrechtsdogmatik nach 1970, besonders deutlich im Verbraucherkredit- und im Arbeitsvertragsrecht.37 Liegt der Darlehenszins mehr als 100 % über dem für Verbraucherkreditverträge durchschnittlichen Zinssatz, so ist die Zinsvereinbarung unwirksam.38 Übersteigt die Arbeitsleistung das Entgelt um 100 % der üblichen Vergütung, so ist die Entgeltabrede nichtig.39 Bei einem mehr als 50 % über der marktüblichen Vergütung liegenden Lohn bedarf es dagegen zusätzlicher Umstände für die Bejahung der Nichtigkeit. Wie beide Beispiele zeigen, wurde das iustum pretium mangels objektiver naturrechtlicher Kriterien durch den Bezug auf den üblichen Marktpreis konkretisiert.40 Die Schwäche dieses Kriteriums liegt jedoch auf der Hand. Wenn die Anbieter mittels Kartells, mittels „tacit collusion“41 oder als Folge überoptimaler Reaktions34
RGZ 104, 98 (101). RGZ 45, 162 (166); RGZ 79, 224 (229); RGZ 115, 122 (128). 36 RGZ 20, 115 (118); RGZ 62, 264 (266). 37 Überblick bei Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982, S. 140 ff.; speziell zum Verbraucherkreditrecht vgl. Artz, Der Verbraucher als Kreditnehmer, 2001, S. 35 ff. mwN; zum Arbeitsvertragsrecht Zöllner, AcP 176 (1976), 221 ff.; Thüsing, in: FS Wiedemann, 2002, S. 559 ff. 38 Vgl. BGHZ 99, 333 (336) und BGHZ 128, 255 (265); für die Bejahung von § 138 BGB genügt aber auch ein absoluter Zinsunterschied von 12 Prozentpunkten; näher Canaris, AcP 200 (2000), 273 (303 f.). 39 Vgl. BAG NZA 2016, 494; BAG, 18. 11. 2015, AZR 814/14; BAGE 141, 349 = NZA 2012, 974. 40 Näher dazu Baker, Der bereicherungsrechtliche Nutzungsanspruch, 2017. 41 EuGH, 26. 1. 2017, C-625/13 P; näher: Kerber/Schwalbe, in: Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Kartellrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2015, Einl., Rn. 290; Schuchmann, Die Behandlung von tacit collusion im europäischen und deutschen Kartellrecht, 2017. 35
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verbundenheit auf homogenen Oligopolmärkten42 sich einig sind, auf einen Preiskampf gegeneinander zu verzichten, und lieber hohe Preise vereinbaren, ist der Marktpreis ein iniustum pretium.43 Die marxistische Kritik, die Rechtsprechung habe sich hier als Instrument der ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse erwiesen, liefert allerdings ein Zerrbild der realen Verhältnisse. Das Recht entsteht, worauf Pareto44 als erster hingewiesen hat, im Kampf einer Vielzahl von Interessengruppen um die Macht. Die Theorie vom alleinigen Primat der ökonomischen Macht ist einer strukturell-funktionalen Analyse der Kräfteverhältnisse zwischen den teilautonomen innergesellschaftlichen Handlungssystemen gewichen, die ein zwar in den Rändern fragiles, doch im Kern stabiles Gleichgewicht zwischen den divergierenden Gruppeninteressen zur Folge haben. Die Vielfalt dieser differenzierten Herrschaftsbeziehungen führt zu einem komplexen Gesamtsystem ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen, die sich wechselseitig befruchten mit der Folge, dass daraus, wie Foucault45 es nennt, eine „Gesamtdispositive der Macht“ entsteht. Eine generelle Warnung vor den negativen Folgen ökonomischer Machtverhältnisse lässt sich aus diesen Analysen nicht ableiten. Macht ist nicht per se böse oder gut; sie ist aber einer rechtlichen Regulierung zu unterwerfen, um die positiven Effekte zu fördern und ihren Missbrauch zu verhindern.46 Eine Beseitigung der ökonomischen Macht etwa durch Entflechtung der Großunternehmen ist kein zweckmäßiges Mittel zur Machtbegrenzung. Technischer Fortschritt und dynamische Wirtschaft setzen für die Mehrzahl der Produkte unter dem Aspekt von „economy of scale“ technisch optimale Betriebsgrößen voraus.47 Handgefertigte Autos oder Elektronikprodukte könnte kaum jemand bezahlen. Es kann daher allein darum gehen, private Macht durch effektiven Wettbewerb so zu domestizieren, dass die Unternehmen gezwungen sind, durch Qualität und günstige Preise ihren Absatz und damit ihr Überleben zu sichern. Durch die bei effektivem Wettbewerb bestehenden Ausweichmöglichkeiten der Konsumenten wird Übermacht kompetitiv gebändigt und damit die Grundlage für einen interessenausgleichenden Vertragsschluss geschaffen.48 Auch eine Verstaatlichung marktmächtiger Unternehmen als Alternative zur Entflechtung würde das Machtproblem nicht lösen – ganz abgesehen von der Bezahlung 42
Vgl. näher Säcker, Zielkonflikte und Koordinationsprobleme im Wettbewerbsrecht, 1971, S. 86 ff. 43 Dazu exemplarisch: EuGH, WuW 2017, 196 ff. 44 Pareto, Les systèmes socialistes, tome 1, Paris 1902. 45 Foucault, in: Defert/Ewald (Hrsg.), Analytik der Macht, 2005, S. 220 ff. 46 Vgl. auch Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl. 1984, S. 136 ff., 369 ff. 47 Schmidt/Haucap, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht: Eine interdisziplinäre Einführung, 10. Aufl. 2013, S. 114 ff.; Rasmussen, Production Economics, 2. Aufl. 2013, S. 111 ff. 48 Vgl. Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, S. 3 f.; Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, 2. Aufl. 2011, S. 3 ff.
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der Enteignungsentschädigungen. Der Staat als Träger der Wirtschaftsaufsicht wäre mit der Doppelrolle als öffentlich-rechtliches Aufsichtsorgan über alle Unternehmen und als gleichzeitiger Eigentümer dieser Unternehmen überfordert.49 Machtmissbrauch und Ineffizienz werden durch die Verstaatlichung der Unternehmen nicht verhindert, sondern durch personelle Verquickungen tendenziell noch gesteigert, wie die industrieökonomische Erfahrung nicht nur mit kommunistischen Planwirtschaften in Russland und Osteuropa gezeigt hat.50 Bei ideologisch unvoreingenommener Analyse ist Macht also nicht eliminierbar oder sublimierbar, sondern muss durch wirksame rechtliche Institutionen an missbräuchlicher Ausübung zum Nachteil Dritter gehindert werden. Die Rechtsordnung muss daher darüber entscheiden, ob Privatautonomie, wie Mestmäcker51 formuliert hat, „zum Instrument spätkapitalistischer Feudalsysteme“ verkommt oder ob sie rechtlich so gestaltet werden kann, dass die mit der Vertragsfreiheit verfolgten Zwecke erreicht werden. IV. Mehr Gerechtigkeit im Privatrecht durch Verbotsnormen? Vertreter paternalistischer Privatrechtstheorien von rechts und links haben den Versuch, Privatautonomie mit Hilfe des Wettbewerbs zu schützen, allerdings von vornherein für aussichtslos erklärt.52 Wiethölter hat 1968 die Wettbewerbsgesetzgebung als „Papiertiger“53 gekennzeichnet, die lediglich Alibicharakter zur Verbrämung bestehender Ungerechtigkeit habe. Die Anhänger dieser Ansicht wollen die Schutzfunktion des Sozialstaats durch immer neue und immer mehr Gleichheitsgesetze, die weit über das primäre und sekundäre EU-Recht hinausgehen, ausweiten.54 Dabei ersetzen sie den auf dem Willen des Individuums basierenden Freiheitsbegriff durch einen normativen Zweckbegriff und sehen in der Möglichkeit der Anfechtung einer fehlerhaften Erklärung nach § 119 Abs. 1 BGB eine Einschränkung gleicher Freiheit55 als Grundidee der Privatautonomie (Privatautonomie als Selbstbestimmung). Sie berufen sich dabei rechtsphilosophisch auf Sokrates und Platon. In der Tat: Freiheit wurde bei Sokrates als „Tugend des Besten“, bei Aristipp als „Lust 49
Dazu Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 1985, S. 261 ff. Vgl. Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, S. 53 ff.; Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl. 1984, S. 33 ff.; Wolf, in: Stober/Vogel (Hrsg.), Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, 2000, S. 10 ff. 51 FAZ Nr. 62 v. 14. 3. 1970. 52 Vgl. dazu Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, 2015, S. 367 ff., 444 ff.; ferner Rückert, „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, 2006, S. 15 ff. 53 Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 259. 54 Vgl. exemplarisch M. Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht, 2013, S. 363 ff., 952 ff.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996. 55 So Rödl (Fn. 52), S. 347 ff. 50
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am Sittlich-Schönen“ verstanden. Von diesem Standpunkt aus besteht Freiheit in der Einsicht in das vom Gesetz vorgegebene Sittliche und Vernünftige.56 Bei Platon wird Freiheit als die sittliche Freiheit der Logos-Natur des Menschen und der aus dieser abgeleiteten Tugend interpretiert, um deren Verwirklichung der Staat durch Gesetze besorgt sein müsse. Frei handle nur der, dessen Tun mit Hilfe von vernünftiger Überlegung und Selbstbeherrschung in einem Prozess des mit sich zu Rate Gehens auf das Gute gerichtet sei.57 Auf dieser Grundlage wollen paternalistische Privatrechtskonzepte durch Schaffung tugendorientierter Gleichheitsgebote die Vertragsfreiheit als „Willensbereinigung“58 einschränken.59 Gleichheitsnormen sind aber nicht anders als Diskriminierungsverbote, da sie ein Handeln entgegen den Gleichheitsgeboten verbieten. Die Privatrechtsordnung wandelt sich damit um in eine Verbotsordnung, wo die Inanspruchnahme von Freiheit bei Ungleichheit für andere der Rechtfertigung bedarf.60 Der Vertrag fällt aus seiner positiven Rolle als Instrument bilateraler Selbstbestimmung in die negative Rolle als beiderseitige Freiheitseinschränkung durch Recht. Derjenige, dessen Entscheidung dem einen Vorteile, dem anderen Nachteile bringt, hat den Nachweis zu führen, dass für die konkrete Handlung ein anerkennenswertes Interesse besteht. Das bedeutet z. B., dass ein Wohnungseigentümer, der sich für einen von 100 Mietinteressenten entscheidet, jedem einzelnen gegenüber notfalls vor Gericht den Nachweis erbringen muss, dass seine Entscheidung aus objektiv einleuchtenden, nicht diskriminierenden Gründen erfolgt ist.61 Die Anerkennung der Privatautonomie nur unter der Voraussetzung ihrer vernünftigen, niemanden diskriminierenden Ausübung missachtet den in der menschlichen Natur wurzelnden Wunsch nach Selbstbestimmung; denn der Inhalt der Freiheit wird dann durch die von dritter Seite bestimmten, scheinbar objektiven Regeln der Vernunft heteronom eingehegt. Die bislang für den Staat geltende Richtschnur: „Pro vo-
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Vgl. Säcker, Freiheit durch Recht, 2016, S. 65 ff. Vgl. dazu mit Nachweisen Ritter/Spaemann, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972. 58 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, 1887, § 69, S. 190 Fn. 2; damit übereinstimmend die h.L. vgl. Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2012, § 37 Rn. 1; Wieling, AcP 172 (1972), 297 (302 ff.); Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, S. 74 ff. 59 Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen nichtiger Willenserklärungen, 1966, S. 232 ff.; dagegen Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, S. 608 ff.; Schmidt-Salzer, NJW 1970, 8 (9 f.). 60 Vgl. etwa Rödl (Fn. 52), S. 30 ff.; Grünberger (Fn. 54), S. 967 ff.; dagegen die Kritik von Picker, Die Privatrechtsgesellschaft und ihr Privatrecht, in: Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 207 ff. 61 Nur Rechtsgeschäfte, die mit der Privatsphäre in engstem Zusammenhang stehen, sind trotz Kritik aus dem Anwendungsbereich des zivilrechtlichen Benachteiligungsgebots des AGG ausgenommen; vgl. dazu Thüsing, in: Münchener Kommentar BGB, 7. Aufl. 2015, § 19 AGG Rn. 112. 57
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luntate stat ratio!“ tritt dann an die Stelle der das private Vertragsrecht bislang beherrschenden Maxime: „Pro ratione stat voluntas!“. Die Vertragsfreiheit steht indes in einem freiheitlich-demokratischen Staat, der auf der Trennung von Staat und Gesellschaft beruht, nicht im Dienste des Gemeinwohls. Dieses ist keine innere Richtnorm für die Ausübung der Privatautonomie, sondern deren äußere Grenznorm. Die Beschränkung der Freiheit auf einen als vernünftig beurteilten Willen gibt den Bezug des Privatrechts auf den ideellen Grundbegriff der Rechtsgeschäftslehre, nämlich auf den empirisch-realen Willen des zu sich selbst Stellung nehmenden und sich in seiner Subjektivität erlebenden Menschen, auf62 und beseitigt damit zugleich die Faszinationskraft einer freien, vom Staat nicht präformierten und durchnormierten Privatrechtsgesellschaft. Auch die Menschenrechte (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG) schützen die freie Entfaltung der Persönlichkeit.63 Sie gewährleisten nicht nur vernünftige positive Freiheitsentfaltungen, sondern sie schließen, um eine Formulierung von Immanuel Kant aufzugreifen, auch die negative Freiheit des sich so oder so verhalten-Könnens ein und überlassen es dem Einzelnen, in seiner Sphäre zu tun und zu lassen, was ihm beliebt. Der liberale Staat der Neuzeit schreibt nicht vor, was gerecht, tugendsam, vernünftig und gut für den einzelnen ist. Übermachtkontrolle im Privatrecht darf nicht zum Deckmantel für eine universelle Kontrollhypertrophie werden. Folgen wir lieber Cicero (Paradoxa stoicorum): „Quid est enim libertas? Potestas vivendi, ut velis.“64 Ausgehend von diesem Verständnis der Privatautonomie spricht alles dagegen, Privatrecht als Verbotsordnung zu konzipieren. Wer Gleichheit zur Normalität und Ungleichheit zur rechtfertigungsbedürftigen Anomalie macht, entkernt die Privatautonomie in ihrer Substanz. Wie sieht demgegenüber eine freiheitsadäquate Alternative zu einer Übermachtkontrolle durch umfassende Gleichheitsnormen aus? Das dem europäischen Recht entsprechende Ordnungsmodell dafür liefert Art. 3 Abs. 3 EUV mit dem Leitbild der möglichst kompetitiven, sozialen Marktwirtschaft.
62 Es ist „rätselhaft“, wenn Rödl ([Fn. 52], S. 341 Fn. 178) die Feststellung, ob tatsächliche Willensübereinstimmung bestehe, von einer normativen Auslegung abhängig machen will. Wenn die Parteien autonom die tatsächliche Übereinstimmung erklären oder durch Zeugen nachweisen, hat diese Feststellung nach ständiger Rechtsprechung zu Recht Vorrang vor einer normativen Auslegung. 63 Dies entspricht auch der Konzeption des Unionsrechts: Zwar ist ein allgemeines Freiheitsrecht wie die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG in der GRC nicht ausdrücklich geregelt, folgt aber auf europäischer Ebene entweder aus Art. 6 GRC (Calliess, in: ders./Ruffert [Hrsg.], EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 6 GRC, Rn. 12) oder aus der Geltung der allgemeinen Rechtsgrundsätze nach Art. 6 Abs. 3 EUV (Hatje, in: Schwarze [Hrsg.], EUKommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 6 EUV Rn. 22). 64 Zutreffend Zöllner, AcP 196 (1996), 1 ff.; Westermann, AcP 178 (1978), 150 ff.
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V. Die Verwirklichung einer möglichst kompetitiven sozialen Marktwirtschaft (Art. 3 Abs. 3 EUV) als Grundlage eines interessenausgleichenden Vertragsrechts Als Wiethölter, der hier exemplarisch zitiert sei, das Wettbewerbsrecht 1968 als Papiertiger delegitimierte, war es in einem frühen status crescendi, als viele in Kartellverstößen noch Kavaliersdelikte sahen und Unternehmer zynisch erklärten: „Der Markt ist stärker als die Moral. Dagegen mag man sich noch so sehr wehren; an der Realität ändert man nichts“ (Eric de Rothschild). Die Sünde eines Kartellverstoßes galt als süß, die Tugend als lästig. Es gab, als Wiethölter sich äußerte, noch keine Fusionskontrolle, keine effektive Preismissbrauchsbekämpfung, kein an die Marktfolgen anknüpfendes Kartellverbot, keine Kronzeugenregelung, keine schmerzhaften Bußgeldbescheide, keine Konzernhaftung für Bußgelder, keine kollektive Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen bei Wettbewerbsverstößen, keine Unwirksamkeit wettbewerbswidrig abgeschlossener Folgeverträge, keine ausgebaute Preiserhöhungskontrolle bei langfristigen Verträgen, keine Einschränkung der Passing-on-Defence und keine Ex-anteRegulierung natürlicher Infrastrukturmonopole.65 All dies ist heute geschaffen; das Recht hat sich als stärker erwiesen als der Markt. Allein seit 1970 haben sich die Vorschriften des allgemeinen Schuldrechts durch Einfügung zwingender verbraucherschutzrechtlicher Normen um 30 von 191 auf 220 Normen erhöht, um unternehmerische Übermacht gegenüber dem Konsumenten zu begrenzen. Wiethölters Kritik ist heute schlicht überholt. Wie hat sich die Privatrechtsordnung seit 1970 zu einer sozial abgefederten Marktwirtschaft entwickelt? 1. AGB-Kontrolle Eine wirksame Kontrolle der für das moderne Wirtschaftsrecht typischen Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) ist heute mit dem Instrument des Zivilrechts möglich. Das Reichsgericht bediente sich in seiner späten Rechtsprechung der verdeckten Inhaltskontrolle. Unbillige Abweichungen vom dispositiven Recht, insbesondere von den Kardinalpflichten des Vertrages, seien – so das Reichsgericht – nicht in den rechtsgeschäftlichen Willen des Kunden aufgenommen; der Vertrag sei daher ohne unbillige Klauseln zustande gekommen.66
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Vgl. zu dieser Entwicklung mit Nachweisen Säcker (Fn. 56), S. 327 ff., 449 ff. Vgl. RG (28. 11. 1917); RGZ 103, 84; RG (25. 9. 1928); Überblick bei Hellwege (Fn. 32), S. 254 ff.; Spruß, Die Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen im deutschen Recht unter besonderer Berücksichtigung des europäischen Rechts und des UN-Kaufrechts, 2010, S. 130 ff. 66
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Der Bundesgerichtshof67 ging dann zu einer offenen Inhaltskontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedingungen über. Seit 1970 lautet der immer wiederkehrende Satz in seinen Entscheidungen: „AGB sind unwirksam, soweit derjenige, der sie abfasst, es unterlässt, die Interessen seiner künftigen Vertragspartner angemessen zu berücksichtigen und nur seine eigenen Interessen zur Geltung bringt.“68
Bringt eine Partei nur ihre eigenen Interessen zur Geltung, so missbraucht sie die Vertragsfreiheit.69 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Sichtweise einer materiellen Vertragsethik verteidigt.70 Das Verbot missbräuchlicher Klauseln sei eine zwingende Bestimmung, die darauf abziele, die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen. Ebenso hat der Europäische Gerichtshof mehrfach entschieden.71 Die Sicherung der Ausgewogenheit der vom Unternehmen vorformulierten Vertragsbedingungen ist damit zu einem wichtigen Mittel des fairen Interessenausgleichs zwischen den Vertragsparteien geworden.72 Mit der EU-Klauselrichtlinie73 und den diese Richtlinie umsetzenden nationalen Vorschriften ist heute ein allen Privatrechtsordnungen der Mitgliedstaaten vorgegebenes modernes Verbraucherschutzrecht entstanden.74 2. Entwicklung der Preiskontrolle An das Kernproblem, die Kontrolle der Angemessenheit der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung bei Marktversagen, hat sich das Verbraucherschutzrecht allerdings nicht getraut (Art. 4 Abs. 2 der EU-Klauselrichtlinie, § 307 Abs. 3 BGB).75 Wenn man die Begründung der Rechtsprechung zur Rücksichtnahmeverpflichtung auf die Interessen der Gegenseite ernst nimmt, kann die Angemessenheitsprüfung nicht bei einer Klauselkontrolle stehenbleiben. Der Vertrag kann einen fairen Interessenausgleich nur bewirken, wenn bei Monopol- und Oligopolsituationen auch der Preis angemessen ist. Deshalb muss das Privatrecht durch Kontrolle der Entscheidungen marktbeherrschender Unternehmen gewährleisten, dass diese sich in 67
BGH, NJW 1970, 1596 (1597); BGH, NJW 1976, 672. Vgl. nur BGH, NJW 1976, 672. 69 BGH, NJW 1965, 246; BGH, NJW 1970, 1596 (1597); BGH, NJW 1976, 672. 70 BVerfG, NJW 1994, 36 ff.; euphorisch Löwe, ZIP 1993, 1759, der die Entscheidung als „Meilenstein zur Gewährleistung der Vertragsgerechtigkeit“ bezeichnet; ihm zustimmend Honsell, NJW 1994, 565 (566). 71 EuGH, NJW 2000, 2571 (2573); NJW 2007, 135; NJW 2012, 2257 ff. 72 EuGH, Rs. C-618/10, NJW 2012, 2257 (2258). 73 RL 93/13/EWG; ein Überblick zu Regelungsinhalt und Umsetzung findet sich bei Basedow, in: Münchener Kommentar BGB, 7. Aufl. 2016, Vorb. zu §§ 305 ff., Rn. 18 ff. 74 Vgl. dazu das Fazit von Schulte-Nölke, NJW 1999, 3176; kritischer dagegen: Graf v. Westphalen, NJW 2013, 961 (965). 75 Siehe nur Stoffels, JZ 2001, 843 (847 f.) mwN; Wurmnest, in: Münchener Kommentar BGB, 7. Aufl. 2016, § 307 Rn. 1. 68
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ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse so verhalten, als ob sie wirksamem Preiswettbewerb ausgesetzt seien.76 Das Wettbewerbsrecht bekämpft heute sowohl Preiskartelle als auch die missbräuchliche Ausnutzung dominanter Marktpositionen, die es erlauben, höhere Preise durchzusetzen, als sie bei wirksamem Wettbewerb möglich wären (Maßstab des AlsOb-Wettbewerbs). Das Verbot des Preismissbrauchs gem. Art. 102 AEUV gilt nicht nur für lebensnotwendige Güter, sondern für alle Güter. Der Als-Ob-Wettbewerbspreis wird anhand einer Vergleichsmarktbetrachtung ermittelt. Wenn die Höhe des Preismissbrauchs mangels geeigneter kompetitiver Vergleichsdaten nicht sicher festgestellt werden kann, bedient sich die Rechtsprechung analytischer und ingenieurwissenschaftlicher Methoden, bei denen die Kosten einer Effizienzprüfung unterworfen werden, um so festzustellen, ob das geforderte Entgelt die Kosten einer effizienten Leistungsbereitstellung deutlich übersteigt. Der Bundesgerichtshof77 hat diese Grundsätze – zuletzt in seiner Entscheidung vom 24. Januar 2017 – nochmals bekräftigt: „[Ein missbräuchliches Verhalten] liegt insbesondere vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen Entgelte fordert, die von denjenigen abweichen, die sich bei wirksamem Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben würden. Eine solche Abweichung kann […] nicht nur aufgrund einer Vergleichsmarktbetrachtung festgestellt werden, sondern auch dadurch, dass die Preisbildungsfaktoren daraufhin überprüft werden, ob und inwieweit sie darauf schließen lassen, dass ein wirksamem Wettbewerb ausgesetztes Unternehmen zur bestmöglichen Ausnutzung seines Preissetzungsspielraums abweichend kalkulieren würde […]. Die Abweichung des […] geforderten Entgelts von demjenigen, das sich bei wirksamem Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergäbe, kann danach grundsätzlich auch durch den Verweis darauf dargetan werden, dass das geforderte Entgelt die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung für eine vergleichbare Leistung deutlich übersteigt.“
Für die Preiskontrolle übernimmt damit das Wettbewerbsrecht die Rolle, die die EU-Klauselrichtlinie bei der Angemessenheitsprüfung Allgemeiner Geschäftsbedingungen spielt. Fordert ein Marktbeherrscher einen überhöhten Preis, so kommt zivilrechtlich ein Vertrag nur zu dem angemessenen Preis zustande. Hat der Kunde schon gezahlt, steht ihm aus ungerechtfertigter Bereicherung bzw. aus Deliktsrecht i.V. mit Art. 102 AEUV ein Rückzahlungsanspruch in Höhe des wettbewerbswidrigen Übermaß-Betrages78 zu. Diese Rechtsfolgen sind gesichert durch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs, der die nationalen Mitgliedstaaten ver-
76 Exemplarisch BGH, WuW 2017, 286 ff.; vgl. außerdem Wolf, in: Montag/Säcker (Fn. 41), § 19 GWB Rn. 92 ff. 77 BGH, WuW 2017, 286 (288); ferner BGH, NJW 2012, 3243 (3244); ähnlich BVerwG, NVwZ 2013, 1418. 78 Vgl. dazu Säcker (Fn. 56), S. 347 ff.; Mohr, ZWeR 2011, 383 (397 f.); Faber, Gesetzesverstoß und Vertrag im Wettbewerbs- und Regulierungsrecht, 2008.
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pflichtet hat, bei Verletzung kartellrechtlicher Normen dem Geschädigten zumindest einen Schadensersatzanspruch zuzubilligen.79 Für manche Zivilrechtler ist dies immer noch ein Dorn im Auge. Sie wollen den Einfluss des Kartellrechts auf das Zivilrecht möglichst gering halten. Was das Zivilrecht als institutionelle Gegebenheit zulasse, dürfe durch das Kartellrecht nicht beeinträchtigt werden.80 Langfristige, exklusive Gas- und Stromlieferverträge seien deshalb vom Verbot vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen nicht betroffen. Ein solches Alles oder Nichts-Prinzip ist heute Schnee von gestern. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in solchen Fällen zwischen Wettbewerbsfreiheit und Vertragsfreiheit aus der Sicht des Schutzes der Wettbewerbsfreiheit abzuwägen.81 Deshalb werden ancillarische Nebenabreden wie z. B. Wettbewerbsverbote, die dem kartellrechtsneutralen Hauptzweck eines Dienst- oder Gesellschaftsvertrages dienen, vom Kartellrecht nicht berührt;82 Ausschließlichkeitsbindungen wurden grundsätzlich auf 5 Jahre begrenzt. Die Harmonisierung von Wettbewerbs- und Vertragsrecht ist eine zentrale Aufgabe der Zivilrechtsdogmatik, die dem Ziel des Art. 3 Abs. 3 EUV zu dienen hat. Handeln Rechtsprechung und Behördenpraxis entsprechend, so ist das Machtproblem im Vertragsrecht rechtstheoretisch und rechtspraktisch bewältigt. Da die einzelnen Verbraucher aus vielfältigen Gründen – häufig aus rationaler Apathie83 – ihre Interessen nicht selber wahrnehmen, ist es in Ergänzung zur Möglichkeit der individuellen Schadensersatz- und Beseitigungsklage notwendig, dass nicht nur die in ihrer personellen Kapazität begrenzten Kartellbehörden, sondern private Verbraucherschutzverbände zum Schutz des Wettbewerbs agieren können.84 Hier schließt die Neunte Kartellgesetznovelle auf der Grundlage der EU-Richtlinie zur Zulassung kollektiver Klagen bei Verletzung von Kartellnormen eine Lücke im Rechtsschutz. Eine funktionierende Privatrechtsordnung braucht auch ein effektives private enforcement. 79 EuGH, EuZW 2001, 715 ff., Rn. 26; EuZW 2006, 529 ff., Rn. 60; EuZW 2007, 113 ff., Rn. 33; umfassend zum unionsrechtlichen Kartellschadensersatzanspruch Kamann, in: ders./ Ohlhoff/Völcker (Hrsg.), Kartellverfahren und Kartellprozess, 2017, S. 676 ff. 80 So exemplarisch Büdenbender, et 2000, 299 (366 ff.). 81 Vgl. BGH, WuW/E 1517; näher dazu Kaeding, Ungeschriebene Ausnahmen vom Verbot wettbewerbsbeschränkender Verhaltenskoordinierungen?, 2017, S. 291 ff. 82 Vgl. Säcker/Molle, in: Montag/Säcker (Fn. 41), AEUV Art. 101 Abs. 1 Rn. 115 ff.; umfassend Molle, Zur Beurteilung „begleitender“ Wettbewerbsverbote im Rahmen von Art. 81 Abs. 1 EG und § 1 GWB, 2005. 83 Damit ist gemeint, dass der Geschädigte bei geringen Schäden meist von der Geltendmachung etwaiger Ansprüche absieht, da der Aufwand der Rechtsdurchsetzung außer Verhältnis zum möglichen Prozessgewinn steht. Vgl. Hempel, NZKart 2013, 494 f. 84 Grünbuch der Kommission zu Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, KOM (2005) 672, S. 9 f.; Weißbuch der Kommission zu Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, KOM (2008) 165, S. 4 f.; vgl. auch Hempel, in: Möschel/Bien (Hrsg.), Kartellrechtsdurchsetzung durch private Schadensersatzklagen?, 2010, S. 71 ff.; Böni/Wassmer, EWS 2015, 130 ff.
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VI. Resümee 1. Der moderne Sozialstaat ist der Freiheit seiner Bürger verpflichtet. Er hat durch freiheitsgewährleistende Rahmengesetze die Funktionsbedingungen der Privatautonomie zu sichern. Das Vertragsrecht hat daher nicht lediglich die formale Übereinstimmung der Willenserklärungen als Voraussetzung für einen gültigen Vertrag festzustellen, sondern es hat einen fairen Interessenausgleich durch missbrauchsabwehrende Normen bei Fehlen wesentlichen Wettbewerbs zu ermöglichen. 2. Die Sicherung der Freiheit für alle ist eine essentielle Aufgabe des auf das bonum commune bezogenen Sozialstaates, der sich dabei am Leitbild von Art. 3 Abs. 3 EUV zu orientieren hat. Art. 14 AEUV i.V. mit dem Protokoll Nr. 26 zum Vertrag von Lissabon konkretisiert dieses Leitbild mit der Verpflichtung, dass alle universellen Dienstleistungen sicher und für jedermann erschwinglich (bezahlbar) sein müssen. Für den Wettbewerbsrechtler ist diese Aufgabe selbstverständlich; denn durch den Schutz der schöpferischen Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen kann in einer sozialen Marktwirtschaft das Gemeinwohl am ehesten und schnellsten verwirklicht werden. 3. Das Bestreben, ausgleichende Gerechtigkeit im Vertragsrecht durch umfassende Prävention mittels Gleichheitsgeboten (iustitia correctiva) herzustellen, um ein soziales Defizit des Privatrechts auszugleichen, reduziert individuelle Freiheit auf ein Schattendasein und transformiert das Vertragsrecht von einer Ordnung der Freiheit in eine Rechtfertigungsordnung. 4. Die auf Platon zurückgehende, von Thomas von Aquin christlich-naturrechtlich begründete Beschränkung der Freiheit auf Tugend und des freien Willens auf Vernunft hat in der französischen „Tugendrepublik“ unter Robespierre ihr Potential zum Missbrauch gezeigt, als im Namen der Tugend die Guillotine Tag und Nacht zu arbeiten hatte. Das Vertragsrecht als Selbstbestimmungs- und Selbstverantwortungsordnung gleicher Freiheit bedarf keiner zusätzlichen „pluralistischen“ Legitimierung. In Fällen gestörter Vertragsparität („Marktversagen“) hat der Sozialstaat durch zwingende wettbewerbs- und regulierungsrechtliche Rahmenregelungen gleiche Freiheit zu umhegen. 5. Individuelle Lebensformen sind genauso wenig wie die Liebe mit Diskriminierungsverboten eingrenzbar, weil Liebe immer ungleich ist. Die Ausübung der individuellen Freiheit kann daher nicht mit Diskriminierungsverboten und Rechtfertigungszwängen innerlich ausgehöhlt werden. Eine sozialstaatlich ergänzte, effektive Wettbewerbsordnung ist der zwar immer unvollkommen, aber im Vergleich zu allen anderen Alternativen beste Weg, Freiheit für alle zu ermöglichen.
Leistungsbilanzausgleich im rechtlosen Raum Von Reiner Schmidt, Augsburg I. Einleitung „Wohl bald ein neues EU-Verfahren gegen Deutschland“ titelt die FAZ im Februar 2017.1 Deutschland müsse sich auf ein neues EU-Ungleichgewichtsverfahren einstellen. Worum geht es? Geht es um „gute Leistung, böse Leistung?“ wie vier Mitglieder des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Lars P. Feld, Christoph M. Schmidt, Isabel Schnabel und Volker Wieland fragen?2 Der Sachverhalt ist einfach. Deutschland exportiert viel mehr als es importiert. Dürfen Leistungsbilanzunterschiede durch die EU geglättet werden? Oder kann seitens der EU nur politischer Druck auf Deutschland ausgeübt werden? Lassen wir zunächst die Frage offen, worauf Leistungsbilanzunterschiede zurückzuführen sind, ob etwa ein Leistungsbilanzüberschuss möglicherweise nur Ausdruck einer besonderen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist. Hier soll primär die Kompetenzfrage interessieren. Auch diese scheint einfach: während für die Ausübung der währungspolitischen Befugnisse das Europäische System der Zentralbanken zuständig ist, betrachten die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamen Interesse und koordinieren sie im Rat (Art. 121 AEUV). Im Gegensatz zur Währungspolitik also, die vergemeinschaftet wurde, wird die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten nur koordiniert und haushaltspolitisch überwacht (Art. 126, 136 AEUV). Im Bereich der Wirtschaftspolitik hat die Union weder eine ausschließliche noch eine geteilte Zuständigkeit (vgl. Art. 5 AEUV). Gewiss, Kernstück der Wirtschaftsunion ist die Koordinierung, mit der wirtschaftliche Ungleichgewichte vermieden oder abgebaut werden sollen. Art. 121 AEUV begründet aber keine Zuständigkeit für verbindliche Entscheidungen. Es handelt sich vielmehr gemäß Art. 5 AEUV um eine spezielle Zuständigkeit für die Koordinierung und präventive mitgliedstaatliche Haushaltsüberwachung.3
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FAZ v. 14. 02. 2017, Nr. 38, S. 17. FAS v. 26.02. 2017, Nr. 8, S. 22. 3 Näheres bei Schmidt, in: Schmidt/Wollenschläger (Hrsg.), Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl., 2016, § 5 Wirtschafts- und Währungspolitik, Rn. 11 f. 2
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II. Hauptteil 1. Die Ausgangslage Zum Ausgleich unerwünschter Ungleichgewichte wurde im Zuge der Eurokrise im Herbst 2011 ein Ausgleichsverfahren eingeführt. Bei dem Gesamtwirtschaftlichen oder Makroökonomischen Ungleichgewichtsverfahren (MIP) handelt es sich um ein Überwachungs- und Durchsetzungsverfahren, mit dem die Früherkennung und Behebung von Ungleichgewichten in den Mitgliedstaaten erleichtert werden soll. Zu fragen ist zunächst, ob dem vom Bundesfinanzministerium mit dem Tenor Stärkung einer „Europäischen Stabilitätskultur“4 vorgestellten Verfahren überhaupt ein akzeptables Anliegen zugrunde liegt. Schließlich geht es bei der in Art. 121 AEUV behandelten Regelung nicht um etwaige Leistungsbilanzunterschiede, sondern primär um die finanzielle Seite staatlicher Wirtschaftspolitik, nämlich um Haushaltspolitik. Aus dem System der Verträge kann geschlossen werden, dass zu den festen Bestandteilen der Wirtschaftsunion die Verwirklichung des Binnenmarktes, die gemeinsame Wettbewerbsordnung und die unionsweite Strukturpolitik zählen.5 Das Spannungsverhältnis zwischen lediglich koordinierter, dezentral durchgeführter Wirtschafts- und Haushaltspolitik und einheitlicher Geldpolitik mit den damit verbundenen Risiken ist bewusst geschaffen und sehenden Auges in Kauf genommen worden.6 Deutschland bewegt sich in diesem rechtlich vorgegebenen Spannungsfeld erfolgreich. Trotzdem wird es durch die Kommission seit mehr als 10 Jahren wegen seiner hohen Leistungsbilanzüberschüsse kritisiert. Das makroökonomische Ungleichgewicht hemme die Erholung im Euroraum. Es droht deshalb zum wiederholten Mal ein im Herbst 2011 im Zug der Eurokrise eingeführtes „Gesamtwirtschaftliches Überwachungsverfahren“ oder „Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten“ (auf Englisch: Macroeconomic Imbalance Procedure [MIP]). Dieses Verfahren dient zur Prävention und Korrektur von riskanten makroökonomischen Entwicklungen, wie z. B. hohe Leistungsbilanzdefizite oder Überschüsse, übermäßige Privatverschuldung oder Immobilienblasen. Mit der Einführung eines „Verfahrens“ wird die Grenze zwischen unverbindlicher Empfehlung und Eingriff überschritten, ganz abgesehen davon, dass auch das verfolgte Anliegen unberechtigt ist. Folgte die deutsche Wirtschaftspolitik den Ratschlägen, dann würde man die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen schwächen. Aus Leistungsbilanzgründen angehobene Löhne würden die private Investitionstätigkeit erschweren. „Die Einschätzung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses anhand von aggregierten Indikatoren, die von ausländischen Kritikern typischerweise herangezogen werden, greift zu kurz. Ein vollständiges und differenziertes Bild erfordert, dass beide Seiten der Leistungs4
Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht, 22. 12. 2011, S. 7. So Ohler, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Kommentar, 2013, Art. 121 AEUV Rn. 8 unter Hinweis auf den Delors-Bericht. 6 So Ohler (Fn. 5), Art. 120 AEUV Rn. 7. 5
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bilanz diskutiert werden, die Seite der Finanzierung ebenso wie die realwirtschaftliche Seite. So haben (…) die privaten Haushalte ihre Nettoinvestitionen bei einer weitgehend konstanten Sparquote eingeschränkt und die Unternehmen ihre Eigenkapitalquote erhöht. Darüber hinaus haben die Unternehmen ihre im Ausland erwirtschafteten Gewinne überwiegend dort reinvestiert“.7
Man kann dies auch noch grundsätzlicher sehen: „Da ein Leistungsbilanzüberschuss lediglich Symptom für die Entwicklung ist, ist er keine geeignete Zielgröße für die Wirtschaftspolitik“.8 Geradezu grotesk wird es, wenn dem betroffenen Mitgliedstaat vom Ministerrat unter Federführung der Kommission ein Maßnahmeplan zur Korrektur des übermäßigen Ungleichgewichts vorgegeben wird. Dieser Maßnahmeplan ist zwar an sich unverbindlich. Ein Mitgliedstaat kann aber trotzdem mit Geldbußen belegt werden, wenn er die Vorgaben nicht umsetzt. Verkürzt gesagt: Die Kommission schreibt in einem Bereich, in dem sie keine Kompetenz hat, bußgeldbewehrte Maßnahmen vor, welche volkswirtschaftlich verfehlt sind.9 Zwar hat Finanzminister Schäuble EZB-Präsident Draghi angeblich darauf hingewiesen, dass dessen expansive Geldpolitik den deutschen Exportüberschuss nach oben treibe, bewirkt hat dies offensichtlich nichts. Nach Schätzungen der OECD betrug der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands im Jahr 2016 etwa 320 Milliarden Dollar. Dies sei, wie oft behauptet wird, eine Folge der von Deutschland in der Eurozone erzwungenen „Austeritätspolitik“. Ein Blick auf die Entwicklung des Einlagesatzes der EZB und den handelsgewichteten Wechselkurs des Euro zeigt aber, dass der Wechselkurs mit der Eurokrise ab 2010 und mit der lockeren Geldpolitik der EZB nachgab. Erst ab Mitte 2011 bis Ende 2016 stieg der durchschnittliche jährliche Leistungsbilanzüberschuss der Eurozone überproportional auf 373 Milliarden Dollar. Davon entfielen 352 Milliarden Dollar auf Deutschland und die Niederlande sowie 21 Milliarden auf den Rest der Eurozone. Der hohe deutsche Überschuss geht offensichtlich auf die Geldpolitik der EZB zurück, die mit einem schwachen Euro die Krisenstaaten innerhalb der Währungsunion besser stabilisieren konnte. Eine Folge davon ist der Aufbau eines gigantischen Leistungsbilanzüberschusses des Eurogebietes, mit Deutschland und den Niederlanden an der Spitze.10
7
Feld/Schmidt/Schnabel/Wieland (Fn. 2). Feld/Schmidt/Schnabel/Wieland (Fn. 2). 9 Vgl. auch Bast/Rödl, die von einem autoritären, rechtswidrigen und unsozialem Handeln der Kommission sprechen, vgl. Jenseits der Koordinierung? Zu den Grenzen der EU-Verträge für eine europäische Wirtschaftsregierung, EuGRZ 2012, 269 – 278. 10 Vgl. OECD, Jahresbericht Deutschland, 2016, S. 7; Die OECD in Zahlen und Fakten, Internationaler Handel, abgerufen am 7. Mai 2017, und Mayers Weltwirtschaft, FAZ v. 11. 02. 2017. 8
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2. Das EU-Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte Die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 veranlasste die Kommission im Jahr 2010 zu einer Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Mit dem sog. „SixPack“ wurde die Aufweichung des im Jahr 2005 beschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspaktes korrigiert.11 Die mit dem „Six-Pack“ verwirklichte Reform im November 2011 änderte das System von Art. 121 und Art. 126 AEUV weitreichend.12 Damit wurde die haushaltspolitische Kontrolle um den Aspekt des Schuldenstandes erweitert und erstmals ein Verfahren zur Überwachung übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte geschaffen.13 Auf Grundlage des Art. 136 AEUV werden Sanktionsmöglichkeiten gegen Mitgliedstaaten des Euroraumes bereits im Rahmen der präventiven haushaltspolitischen Überwachung nach Art. 121 AEUV sowie im Rahmen der Überwachung übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte ermöglicht.14 Ein neues Abstimmungsverfahren im Rat, gestützt auf Art. 136 AEUV, wirkt quasi automatisch, weil es eine qualifizierte Mehrheit gegen die Annahme eines Sanktionsbeschlusses erfordert. Für diese neuen Abstimmungs- und Sanktionsregeln, die das System der Art. 121 und Art. 126 AEUV verändern, ist Art. 136 AEUV keine zureichende Rechtsgrundlage.15 Um genauer zu erfassen, ob sich das Verfahren zur Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte im Rahmen der im AEUV vorgesehenen Kompetenzen hält, ist ein näherer Blick erforderlich: Ziel des Verfahrens ist es, frühzeitig schädliche makroökonomische Ungleichgewichte zu identifizieren und ihre Korrektur zu bewirken. Ein Frühwarnmechanismus soll helfen, makroökonomische Risiken in den EU-Mitgliedstaaten zu erkennen. Schlägt das Frühwarnsystem bei einem Mitgliedstaat Alarm, wird dieser einer eingehenden Analyse unterzogen. Gegebenenfalls werden Empfehlungen an den Mitgliedstaat gerichtet. Das System ist mit einem sog. präventiven Arm, einem Frühwarnsystem und mit einem korrektiven Arm ausgerüstet. Zehn Indikatoren, ein sog. „Scoreboard“, dienen zur frühzeitigen Erkennung ungünstiger Entwicklungen. Hierzu zählt der Leistungsbilanzsaldo (gleitender Dreijahresdurchschnitt in Prozent des BIP: – 4 % / + 6 %). Die weiteren betreffen das Nettoauslandsvermögen, die Exportanteile, die Lohnstückkosten, reale effektive Wechselkurse, die Verschuldung des Privatsektors, die Kreditvergabe an den privaten Sek11
Schmidt (Fn. 3), § 5 Rn. 22. Calliess/Schoenfleisch, Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion“? – Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im Kontext des Fiskalvertrages, JZ 2012, 477 ff. 13 Verordnung (EU) Nr. 1176/2011, ABl. 2011/L 306/25. 14 Verordnung (EU) Nr. 1174/2011, ABl. 2011/L 306/8. 15 So die h. M., vgl. Ohler (Fn. 5), Rn. 29 mit weit. Nachw.; a. A. ohne ausreichende Begründung Herrmann/Dausinger, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, Art. 136 AEUV Rn. 9. Vgl. auch Calliess/Schoenfleisch (Fn. 12), 480 f. 12
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tor, Immobilienpreise, die öffentliche Verschuldung und schließlich die Arbeitslosenquote. Für alle Indikatoren sind Grenzwerte angegeben. Kommt die Europäische Kommission in ihrer ökonomischen Auswertung des „Scoreboard“ zum Ergebnis, dass in einem Mitgliedstaat problematische Ungleichgewichte bestehen, wird dieser im Rahmen einer sog. vertieften Länderstudie untersucht. Insgesamt ist das Verfahren asymmetrisch auf Mitgliedstaaten mit Schwächen in der Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet, weil diese durch makroökonomische Ungleichgewichte die eigene Wirtschaft, die des Euroraums und die der EU als Ganzes gefährden könnten. Auf Vorschlag der Kommission entscheidet der Rat, inwieweit die Entwicklung in einem Mitgliedstaat als problematisch anzusehen ist. Stellt er ein einfaches Ungleichgewicht fest, dann erhält der Mitgliedstaat auf Vorschlag der Kommission eine Empfehlung nach Art. 121 Abs. 2 AEUV, wie das Ungleichgewicht beseitigt werden soll. Europäisches Parlament und Öffentlichkeit werden informiert. Im Fall eines schädlichen oder potentiell schädlichen Ungleichgewichts wird vom Rat ein Verfahren im Rahmen des sog. korrektiven Arms des Verfahrens eröffnet. Er richtet auf Vorschlag der Kommission eine Empfehlung nach Art. 121 Abs. 4 AEUV an den betreffenden Mitgliedstaat, in der die Art und die Auswirkungen der Ungleichgewichte erläutert und eine Reihe von zu befolgenden Empfehlungen gegeben werden. Der Mitgliedstaat ist binnen einer festgelegten Frist gefordert, einen Korrekturmaßnahmenplan vorzulegen. In regelmäßigen Abständen überwachen Kommission und Rat die Umsetzung des Korrekturmaßnahmenplans. Wird wiederholt Fehlverhalten festgestellt, drohen Sanktionen. In der ersten Sanktionsform werden die Staaten verpflichtet, eine verzinsliche Einlage zu leisten, wenn der Rat diesen Vorschlag der Kommission beschließt. Stellt der Rat zweimal aufeinanderfolgend fest, dass die Korrekturmaßnahmen unzureichend umgesetzt wurden, wird die verzinsliche Einlage in eine Geldbuße umgewandelt. Die Einnahmen aus der Geldbuße werden dem permanenten europäischen Stabilitätsmechanismus zugewiesen. Die im Rahmen des korrektiven Arms erstellten Dokumente werden veröffentlicht. Die EZB wird in die Überwachung einbezogen.16 Das Ungleichgewichtsverfahren ist in das sog. europäische Semester eingebunden. Es soll zur Sicherung einer engeren Koordinierung der Wirtschaftspolitik und einer dauerhaften Konvergenz der Wirtschaftsleitung der Mitgliedstaaten führen.17 Das europäische Semester umfasst - die Bestimmung und Überwachung der Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Union nach Maßgabe von Art. 121 Abs. 2 AEUV,
16 Zum Ganzen vgl. Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht v. 22. 12. 2011: Das neue EU-Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte. 17 Übersicht hierzu: BMF, Monatsbrief des BMF, Februar 2013, S. 25.
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- die Bestimmung und Prüfung der Umsetzung der von den Mitgliedstaaten nach Art. 148 Abs. 2 AEUV zu berücksichtigenden beschäftigungspolitischen Leitlinien, - die Übermittlung und Bewertung der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme der Mitgliedstaaten, - die Übermittlung und Bewertung der nationalen Reformprogramme der Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Strategie der Union für Wachstum und Beschäftigung und - die Überwachung zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte.18 Ein Frühwarnbericht steht am Anfang des europäischen Semesters, die vertieften Länderstudien in seiner Mitte und die Empfehlung nach Art. 121 Abs. 2 AEUV, um Ungleichgewichte abzubauen, sind Bestandteil der länderspezifischen Empfehlungen am Ende des Semesters. Im Semester sollen Empfehlungen auf eine stabilitätsorientierte Finanz- und Wirtschaftspolitik und wachstumsfördernde Strukturreformen in den Mitgliedstaaten hinwirken. Nach Auffassung des Bundesministeriums der Finanzen handelt es sich um „einen starken Eingriff in die national verantwortete Wirtschaftspolitik und (…) eine neue Qualität der wirtschaftspolitischen Koordinierung“.19 3. Die Kompetenzfrage Das Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte ist einzuordnen in die grundsätzliche Kompetenzverteilung, die gekennzeichnet ist durch das Auseinanderfallen der Zuständigkeiten für die europäische Währungspolitik einerseits, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten andererseits. Hierin liegen zweifelsohne einige der Gründe für die Krise der Eurozone. Wegen der europäischen Zuständigkeit für die Währungspolitik verbleibt den Mitgliedstaaten nur noch eine beschränkte Abhilfemöglichkeit in Bezug auf ihre Wirtschafts- und Haushaltslage.20 Vor einer Erörterung der Kompetenzfrage zur Beseitigung von Ungleichgewichten im Einzelnen ist die allgemeine Regelung in den Blick zu nehmen. Sie ist, wie gesagt, gekennzeichnet durch das Auseinanderfallen der Kompetenzen für die Geldpolitik einerseits und die für die allgemeine Wirtschaftspolitik andererseits. Die Wirtschaftspolitik soll grundsätzlich im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten verbleiben. Es sollte ausdrücklich keine Wirtschaftsunion errichtet werden. Die grundlegenden Bestimmungen sind die Art. 120 bis 126 AEUV. Sie haben die Auf18
Näheres in Art. 2a VO Nr. 1466/97. Vgl. auch Schmidt (Fn. 3), § 5 Rn. 23. BMF, Monatsbericht v. 22. 12. 2011, 2.4. 20 Calliess, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtssetzung, VVdStRL 71 (2012), 113 (167). 19
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gabe, die auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik vor Gefährdungen seitens der in den Kompetenzen der Mitgliedstaaten verbleibenden Wirtschafts- und Fiskalpolitik abzusichern. Zu diesem Zweck werden wirtschaftspolitische Verbote verankert, die den Ordnungsrahmen abstecken: Es geht um das Verbot der monetären Finanzierung nach Art. 123 AEUV, das Verbot des bevorrechtigten Zugangs zu den Finanzinstituten nach Art. 124 AEUV, das Verbot der gemeinschaftlichen Haftung für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten gem. Art. 125 AEUV sowie das Verbot übermäßiger öffentlicher Defizite nach Art. 126 AEUV.21 Kern der Kompetenzbestimmungen im Bereich von allgemeiner Wirtschaftspolitik einerseits und Geldpolitik andererseits ist Art. 126 AEUV. Diese Bestimmung ist die Grundlage für ein komplexes Bündel primär- und sekundärrechtlicher Vorschriften, mit denen auf Dauer eine tragfähige Finanzlage in den Mitgliedstaaten geschaffen werden sollte. Hier hat sich eine eigenständige Regelungsmaterie entwickelt, die durch eine enge Verschränkung ihrer primär- und sekundärrechtlichen Teile gekennzeichnet ist.22 Das Regelwerk zur Koordinierung von Leistungsbilanzungleichgewichten kann als Anfang einer europäischen Wirtschaftsregierung gewertet werden. Die Union hält sich für Sanktionen gegenüber den Mitgliedstaaten für berechtigt, um sie zur Beseitigung sog. makroökonomischer Ungleichgewichte anzuhalten. Gleichzeitig wird ein Entscheidungsmodus kreiert, nach dem entsprechende Sanktionen nur von einer qualifizierten Mehrheit im Rat blockiert werden können. Vom Bundesfinanzministerium wird dies „umgekehrte Mehrheit“ genannt.23 Die Gestaltung im Einzelnen ist in zwei Verordnungen geregelt, welche die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte bezwecken24 und welche die Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte näher beschreiben.25 Die Regelungen im Ganzen erfassen die mitgliedstaatliche Wirtschaftspolitik in vollem Umfang oder anders: Korrekturmaßnahmepläne beschränken sich nicht auf die der Union zugestandenen regulativen Kompetenzen wie auf den Bereich des Wettbewerbs, sondern sie sind viel breiter angelegt. „Da das Ziel dieser Verordnung, nämlich die wirksame Durchsetzung der Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet, aufgrund der tiefen Handels- und Finanzverflechtungen zwischen den Mitgliedstaaten und der Ansteckungseffekte der nationalen Wirtschaftspolitik auf die Union und das Euro-Währungsgebiet insgesamt von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann und daher besser auf der Ebene der Union zu verwirklichen ist, kann die Union im Einklang
21
Vgl. Gaitanides, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Kommentar, 2013, Art. 126 Rn. 72. Zum Ganzen vgl. Gaitanides (Fn. 21), Art. 126 AEUV Rn. 68. 23 So Bast/Rödl (Fn. 9), S. 269. 24 Verordnung (EU) Nr. 1176/2011. 25 Verordnung (EU) Nr. 1174/2011.
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mit dem in Art. 5 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden.“26
Angeblich, so die Präambel der Korrekturverordnung, besitzt die EU die Zuständigkeit zum Erlass der Verordnungen aufgrund von Art. 136 AEUV i. V. m. Art. 121 Abs. 6 AEUV. Einer Nachprüfung hält dies nicht stand. In Art. 136 AEUV wird nur der Rat mit einer Kompetenz ausgestattet, nicht aber Parlament und Rat gemeinsam. Allerdings wird neben Art. 136 AEUV auch Art. 121 Abs. 6 AEUV zitiert. Eine nähere Untersuchung ergibt allerdings, dass die von der Union in Anspruch genommene Kompetenz aus Art. 121 Abs. 6 AEUV i. V. m. Art. 136 AEUV die Bestimmungen der Durchsetzungsverordnung nicht trägt. „Weder das Verfahren multilateraler Überwachung nach Art. 121 Abs. 3 und 4 AEUV noch die besondere Vorschrift über die Mitglieder der Eurozone in Art. 136 Abs. 1 lit. b) AEUVermächtigen den Rat zur Begründung solcher staatsgerichteter Verpflichtungen.“ Folglich kann auch der nach Art. 121 Abs. 6 AEUV lediglich zur Festlegung der Einzelheiten des Verfahrens multilateraler Überwachung berufene Mitentscheidungsgesetzgeber keine entsprechenden Handlungsbefugnisse des Rates vorsehen - ein Ergebnis, zu dem die Autoren Bast und Rödl nach sorgfältiger Argumentation kommen.27 Man mag durchaus der Meinung sein, dass angesichts der wirtschaftlichen Schwäche vieler Mitgliedstaaten ein Überwachungsverfahren zur frühzeitigen Erfassung gesamtwirtschaftlicher Fehlentwicklungen sinnvoll ist. Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung wie es in Art. 5 Abs. 2 EUV kodifiziert ist, verbietet aber eine rechtsüberschreitende Politik, auch wenn sie, zumindest auf den ersten Blick, plausibel wirkt. „Nach Maßgabe der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Präambel, Art. 20, Art. 79 Abs. 3 und Art. 146 GG kann es für die europäische Unionsgewalt kein eigenständiges Legitimationsobjekt geben, das sich unabgeleitet von fremden Willen und damit aus eigenem Recht gleichsam auf höherer Ebene verfassen könnte.“28 Aber fassen wir zunächst noch einmal vorläufig zusammen. Das „Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht“ (Excessive Imbalance Procedure) soll anhand eines Scoreboards makroökonomische Ungleichgewichte erkennen lassen. Die Auslösung eines Warnmechanismus führt zur Überprüfung durch die Kommission. Stellt diese ein Ungleichgewicht fest, dann unterrichtet sie den Rat, das Europäische Parlament, die Eurogruppe sowie weitere Aufsichtsbehörden. Schließlich kann der Rat Empfehlungen an den betreffenden Mitgliedstaat richten, die von der Kommission überwacht werden. Gegen untätige Mitgliedstaaten kann auf Empfehlung der Kommission eine verzinsliche Einlage bzw. eine jährliche Geldbuße verhängt werden. Unabhängig davon, dass für das Verfahren in der dargestellten Form die Kompetenz fehlt, widerspricht es den Grundlagen der Wirtschaftsverfassung der Europäi26
So Erwägungsgrund 20 der Korrekturverordnung, Verordnung (EU) Nr. 1174/2011. Bast/Rödl (Fn. 9), S. 275. 28 BVerfGE 123, 267, 349.
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schen Union.29 Die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung, die dem ganzen Vertragswerk zugrunde liegt (Art. 120 AEUV) gerät durch die Maßnahmen zum Ausgleich von Ungleichgewichten völlig aus dem Blick. Die Sicherung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit soll nach dem Vertrag Aufgabe der einzelnen Unternehmen sein. Diese sind in ihrer Freiheit auch durch Art. 16 GRCh geschützt. Beispielsweise sind Lohnabschlüsse eine autonome Angelegenheit der Tarifparteien (Art. 28 GRCh). Art. 120 AEUV garantiert wirtschaftspolitische Autonomie. Die Bewältigung makroökonomischer Ungleichgewichte obliegt nicht einer gegen die Grundgedanken des Vertrags installierten Wirtschaftsregierung, sondern sie ist im mikroökonomischen Bereich etwa durch Gesellschaftsrecht, Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht zu leisten.30 4. Leistungsbilanzausgleich Unausgeglichene Leistungsbilanzen erregen vor allem die Gemüter der Politiker. So warf Donald Trumps Wirtschaftsberater Navarro Deutschland vor kurzem vor, es manipuliere den Euro, um sich auf Kosten anderer zu bereichern.31 Der Vorwurf ist schon deshalb absurd, weil der Außenwert des Euro durch die unabhängige EZB bestimmt wird. Trotzdem dienen die schon seit langem bestehenden Exportüberschüsse Deutschlands immer wieder als Argument dafür, welche Vorteile die Deutschen vom Euro hätten. Auch die deutsche Bundeskanzlerin Merkel macht hier keine Ausnahme: „Wir sind uns in Deutschland sehr wohl bewusst, dass wir als Exportnation vom Euro in besondere Weise profitieren“.32
Hierzu einige Fakten: Der deutsche Überschuss in der Leistungsbilanz im Jahr 2016 in Höhe von 261 Milliarden Euro ist vor allem Beweis für die Stärke unserer Wirtschaft. Exzellente Unternehmen produzieren offensichtlich vom Ausland begehrte Produkte, was hierzulande Arbeitsplätze schafft, um die Auslandsnachfrage zu befriedigen. Die USA werden dagegen zu Lasten von deren einfachen Arbeitern mit Importen überflutet. Auf der Finanzierungsseite hat die deutsche Volkswirtschaft im Jahr 2016 261 Milliarden Euro weniger im Inland investiert als möglich gewesen wäre. Das Geld wurde gespart und im Ausland angelegt. Das Land hat mehr Kapital verlassen als hineingeflossen ist. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist die Demographie: eine reiche alternde Gesellschaft spart und legt diversifiziert Geld im Ausland an. Während in Deutschland Vollbeschäftigung herrscht, ist die Jugendarbeits29
Grundlegend Schmidt-Preuß, Die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, in: FS für Franz Jürgen Säcker, 2011, S. 969 ff. 30 So überzeugend Ohler (Fn. 5), Art. 121 Rn. 33. 31 Vgl. FAZ v. 02. 04. 2017. 32 Merkel, Die Europa-Rede. Pergamon Museum Berlin, 9. November 2010. Vgl. auch Sinn, Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel, 2015, S. 130 ff.
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losigkeit in Südeuropa auf hohem Niveau. Dies ist für die EZB ein Grund für eine extrem lockere Geldpolitik, die den Euro billig hält. Der Euro und gefährdete Banken sollen am Leben gehalten werden, keineswegs soll die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen gestärkt werden. Dies ist neben der deutschen Lohnzurückhaltung nur ein Nebeneffekt.33 Die fehlende Binnennachfrage in Deutschland, vor allem im Investitionsgüterbereich, führte dazu, dass nicht genügend Arbeitsplätze geschaffen wurden. Da die deutschen Einkommen nur noch wenig wuchsen, gingen auch die Importe zurück. Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss war deshalb „zunächst vor allem ein Importdefizit“.34 Bis zur Eurokrise war Deutschland das Flautegebiet, die europäische Peripherie war das Boomgebiet. Es ist absurd, einem Land, dessen Kapital in andere Länder abwandert und dort Arbeitsplätze und Einkommen zulasten des Heimatlandes schafft, vorzuwerfen, es würde speziell durch den Euro begünstigt. Gewiss entstehen durch die Exportüberschüsse Arbeitsplätze in der deutschen Exportwirtschaft. Aber ohne die Kapitalexporte wären die Finanzmittel in die inländische Nachfrage geflossen und hätten „Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft, beim Maschinenbau, im Dienstleistungssektor oder in anderen Branchen erzeugt. Die Exportüberschüsse kennzeichnen also keinen positiven Nettoeffekt zugunsten der deutschen Arbeitnehmer“.35 Unsere gegenwartsbezogene Betrachtung soll ergänzt werden durch die Ausführungen des Sachverständigenrats zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung aus dem Jahresgutachten 2010/2011 “Deutschland und die europäischen Ungleichgewichte“.36 Der Sachverständigenrat nimmt in seinem Jahresgutachten die vergangenen zwei Jahrzehnte in den Blick, in denen Deutschland vom „kranken Mann Europas“ zum Motor des wirtschaftlichen Erholungsprozesses in Europa geworden ist. „Seit einigen Jahren haben die wichtigsten Akteure auf diese verfestigte Schieflage reagiert. Die Gewerkschaften hielten sich bei ihren Lohnforderungen zurück und die Unternehmen nahmen die Herausforderungen an, ihre Aufbau- und Ablauforganisationen grundlegend auf den Prüfstand zu stellen…Zusammen mit den Restrukturierungen der Unternehmen und der Umsetzung wegweisender Reformen auf dem Arbeitsmarkt, in den sozialen Sicherungssystemen und bei der Unternehmensbesteuerung gelang es auf diese Weise, eine Trendumkehr auf dem Arbeitsmarkt und bei den privaten Investitionen zu erreichen (…). Parallel dazu kam es zu einer unterschiedlichen Entwicklung der Leistungsbilanzsalden im Euro-Raum. Einige Länder wiesen im vergangenen Jahrzehnt teilweise erhebliche Leistungsbilanzüberschüsse beziehungsweise Leistungsbilanzdefizite auf. Deutschland gehörte dabei zu der Gruppe der Überschussländer. Vor allem auf internationaler Ebene interpretieren einige Politiker und Ökonomen die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse immer wieder als Ausdruck einer unfairen Beggar-thy-neighbour-Politik (…) mittels derer Deutsch33
Zum Ganzen Südekum/Felbermayr, Exportiert Deutschland zu viel? FAZ v. 02. 04. 2017. So Sinn (Fn. 32), S. 133. 35 Zum Ganzen Sinn (Fn. 32), S. 130 ff. 36 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2010/2011, Chancen für einen stabilen Aufschwung, 2010. 34
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land seine ,Erfolge‘ auf Kosten der Defizitländer erreiche. Die Kritiker verweisen dabei auf eine ,übermäßige‘ Lohnmoderation, durch die Deutschland eine preisliche Wettbewerbsfähigkeit erlangt habe…Zudem wird von Deutschland verlangt, eine expansivere Lohn- und Fiskalpolitik zu betreiben, um Leistungsbilanzüberschüsse abzubauen. Mit seinem Weg einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die den Tarifvertragsparteien die Verantwortung für die Lohnfindung zuweist (…), verfolgt Deutschland aber die richtige Strategie, sowohl im eigenen Sinne als auch in dem seiner Handlungspartner. So unterstellt die Forderung nach höheren Löhnen zum Abbau der Ungleichgewichte fälschlicherweise, dass in Deutschland die Löhne zentral gesetzt und gesteuert werden könnten. Die deutsche Wirtschaftsordnung setzt jedoch bewusst auf eine dezentrale Lohnfindung, um zu verhindern, dass Unternehmen und Arbeitnehmer mit unterdurchschnittlicher Produktivität durch eine bloße Mehrheitsentscheidung oder eine Lohnsetzung durch die Politik aus dem Markt beziehungsweise in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden (…). Da Lohnsteigerungen ab einer gewissen Höhe die Arbeitslosigkeit ansteigen lassen (…) könnte bei einer Politik der einseitigen Lohnsteigerung – wenn dies denn so einfach ginge – die Importe stärker als die Exporte zurückgehen, was dann zu einem Anstieg des Leistungsbilanzsaldos führen würde (…). Auch eine expansive Fiskalpolitik in Deutschland ist kein zielführendes Instrument zum Abbau internationaler Ungleichgewichte (…).“37
Udo Di Fabio hat am kürzesten auf den Punkt gebracht, wie diese volkswirtschaftliche Grundsituation juristisch zu qualifizieren ist: „Die Angleichung der Außenhandelsbilanzen ist (…) von der Währungsunion funktionell nicht erfordert und tendiert auch – um erfolgreich sein zu können – zu einem zentralistisch-bürokratischen Instrumenteneinsatz, der weder mit dem Grundkonzept einer nach den Grundsätzen einer wettbewerbsfähigen, offenen sozialen Marktwirtschaft, noch mit der vertraglichen Kompetenzordnung zu vereinbaren ist. Die Kontrolle und der Sanktionsmechanismus die Außenhandelsbilanzen betreffend zwingen im Grunde ein freiheitliches System wie das in Deutschland etablierte der sozialen Marktwirtschaft dazu, in die Freiheit der Tarifvertragsparteien (Art. 9 Abs. 3 GG) einzugreifen“.38 5. Besinnung auf die Grundlagen Befreien wir uns vom politischen Tagesgezänk und besinnen wir uns auf den eigentlichen Ausgangspunkt wie der legendäre Ire, der nach der Richtung befragt, antwortete: „If I were you, I wouldn’t start from here“.39 Gehen wir also zurück zum ursprünglichen Ausgangspunkt. Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die 37
Sachverständigenrat (Fn. 36), S. 103 f. Di Fabio, Die Zukunft einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion. Verfassungssowie europarechtliche Grenzen und Möglichkeiten, Gutachten für die Stiftung Familienunternehmen, München 2013, S. 39. 39 Zitiert nach Simms, The treaties of Rome, 60 years on. Where do the European and the United Kingdom go from here? In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften (ZSE), 2017, 119. 38
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Ausübung der Währungspolitik stehen unter der Zielbestimmung des Art. 3 EUV. Unter der dort genannten Zieltrias interessiert hier „das Wohlergehen der Völker der Union“. Ausdrückliches Ziel der Union ist nach Art. 3 Abs. 4 EUV die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist. Die Union errichtet einen Binnenmarkt mit wirtschaftlichen Grundfreiheiten und Wettbewerb. Zum Wohlergehen der Völker gehört als Unionsziel nach Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV die Preisstabilität im Rahmen der wirtschaftsverfassungrechtlichen Grundentscheidung für die Marktwirtschaft.40 Seit dem Maastrichter Vertrag vom 1. November 1993 sind die dem genannten Marktprinzip entgegen laufenden interventionistischen Politiken im Vordringen. Speziell die Methode der offenen Koordinierung ist ein „in der Tendenz (system-) wettbewerbsfeindliches und zentralistisches Verfahren“.41 Das Hauptziel der EU, die Schaffung eines Europas auf der Grundlage im Wettbewerb stehender selbständiger leistungsfähiger Mitgliedstaaten, gerät immer mehr in Vergessenheit. Stattdessen beherrschen gleichmacherische Vorstellungen die Szene. Die Auseinandersetzung um den deutschen Leistungsbilanzüberschuss ist hierfür ein Paradebeispiel. Der Erfolg eines Mitgliedstaates, der auf den für alle gleichen Rahmenbedingungen und vor allem auf einer verantwortungsvollen Lohnpolitik der Gewerkschaften beruht, soll durch ein „Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten“ außerhalb der im Primärrecht vorgesehen Kompetenzen korrigiert werden. Art. 121 AEUV ist aber nicht als Grundlage einer europäischen Wirtschaftsregierung gedacht, vielmehr soll die prozedurale Eigensteuerung der Mitgliedstaaten im Vordergrund stehen.42 Das viel zu komplizierte Regelwerk zur Koordinierung43 hat, soweit es überhaupt vertragskonform ist, den eigentlichen Bezugspunkt völlig aus dem Blick verloren und wird zur Nivellierung der unterschiedlichen Leistungskraft der Mitgliedstaaten missbraucht. Franz-Christoph Zeitler spricht zu Recht von viel zu vielen Stabilitätsbehörden.44 Aus guten Gründen besitzt die Union eine ausschließliche Zuständigkeit nur für die Währungspolitik der Mitgliedsaaten, deren Währung der Euro ist. Eine radikale Deregulierung des gesamten Koordinierungsinstrumentariums ist dringend geboten. Sie läge auch im Sinn eines Neuanfangs der EU. 6. Zu neuen Ufern Entgegen stereotypen Beteuerungen ist die bisherige Europapolitik nicht alternativlos. Ganz im Gegenteil. Im Überlebenskampf wird die Entwicklung von Alterna40
Näheres bei Schmidt (Fn. 3), Rn. 13. So Kahl, Freiheitsprinzip und Sozialprinzip in er Europäischen Union, in: FS für Reiner Schmidt, 2006, S. 75 ff. (101). 42 Siehe Ohler (Fn. 5), Art. 121 AEUV Rn. 3. 43 Vgl. die Darstellung von Callies, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), AEUV, EUV, Kommentar, 5. Aufl., 2016, Art. 5 AEUV Rn. 5. 44 FAZ v. 11. 05. 2017, S. 16. 41
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tiven zu einer festgefahrenen Politik, die zu einer Finanzkrise und zu Risiken in unvorstellbarer Höhe geführt haben, ohne eine breite Beteiligung der Öffentlichkeit, auch wenn die Schwierigkeiten dadurch steigen werden, zur Rettung des Projekts Europa unumgänglich sein.45 Zu groß ist der bisherige Legitimationsentzug, zu deutlich machte der Brexit, dass auch die Option eines Austritts realistisch ist. „Wege zu einer besseren und realitätsnäheren Europäischen Union“46 werden sich bei gutem Willen finden lassen.47 Entscheidend ist die Beschränkung der europäischen Politik auf das Wesentliche. Dies nicht berücksichtigt zu haben, ist das Versagen der europäischen politischen Führungselite. Die Vorstellung einer „ever closer Union“, die grobe Missachtung des Subsidiaritätsprinzips, widersprach „dem britischen Selbstverständnis, seiner Geschichte und jener pragmatisch-nüchternen Grundhaltung, mit der man allzu euphorisch angelegten Vorstellungen vom künftigen Europa begegnete“.48 Das Ergebnis ist ernüchternd. In der Union wird die britische Unterstützung bei der Abwehr umverteilender Politiken fehlen. Es wird schwieriger werden, die französischen planifikatorischen, etatistischen Vorstellungen von der Gestaltung der europäischen Wirtschaftsordnung zu bremsen.49 Legitimationsbasis werden bis auf weiteres die „Völker Europas“ bleiben müssen. Ein allzu enger deutsch-französischer Schulterschluss würde alle anderen Mitgliedstaaten an die Peripherie verbannen. Unser Beispiel eines fehlgeleiteten Leistungsbilanzausgleichs könnte ein Prüfstein dafür werden, ob es gelingen kann, rechtswidrige gleichmacherische Vorstellungen aufzugeben, zu deregulieren und den Mitgliedstaaten frische Atemluft zu verschaffen.50
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So eindrucksvoll Grimm, Die Europäische Union im 60. Jahr, ZSE 2017, 3 ff. So der Untertitel eines Aufsatzes von Hesse, ZSE 2017, 173 ff. 47 Vgl. etwa Hesse (Fn. 46). 48 Hesse (Fn. 46), S. 179. 49 Hierzu deutlich Brunnenmeier/James/Landau, The Euro and the battle of ideas, Princeton 2016, S. 66 ff. 50 Hierzu Schmidt, Erstickungsgefahr!, FAZ v. 8. 06. 2017, Nr. 131, S. 6. 46
Rekommunalisierung und private Wettbewerber Von Rupert Scholz, Berlin/München I. Einleitung 1. Zur Entwicklung Das Problem der Konkurrenz zwischen privater und öffentlicher Wirtschaft, namentlich der Kommunalwirtschaft, ist uralt.1 Der Streit um die gegenseitige Abgrenzung und namentlich die Wettbewerbskonformität in dieser Konkurrenz flammt zur Zeit aber wieder nachdrücklich auf – mit der, schon an dieser Stelle hervorzuhebenden Konsequenz, dass es dringend gesetzlicher bzw. gesetzgeberischer Korrekturmaßnahmen zugunsten der vielfältig benachteiligten Privatwirtschaft bedarf. Konkret geht es vor allem um die unter den Stichworten Kommunalisierung bzw. Rekommunalisierung anhaltende Expansion der Kommunalwirtschaft.2 Im Zeitraum von 2000 bis 2012 ist die Zahl der kommunalen Unternehmen in Deutschland um nahezu ein Viertel auf fast 13.500 gestiegen. Ihre Umsätze haben sich sogar auf EUR 278 Mrd. verdoppelt. Im Bereich der Abfallentsorgung stieg der öffentliche Anteil von 2006 bis 2016 von 38,7 % auf 47,3 %, also um 8,6 % bei einem Verlust von Kunden der Privatwirtschaft von rund 16 %. Aus alledem ist nicht nur ein gravierendes volkswirtschaftliches Problem, sondern ein ebenso gravierendes rechtliches bzw. namentlich verfassungsrechtliches Problem erwachsen. Mit Recht konstatiert die Monopolkommission in ihrem Hauptgutachten XX (2012/2013) im Kapitel V „Kommunale Wirtschaftstätigkeit und der Trend zur Rekommunalisierung“: 1
Siehe dazu u. a. sowie mit weiteren Nachweisen Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991; ders., Badura-Festschrift, 2004, S. 897 ff.; Schoch, FS Wahl, 2011, S. 573 ff.; Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968; Ehlers, JZ 90, 1089 ff.; ders., Gutachten E 64. Deutscher Juristentag, 2002; Brohm, NJW 94, 281 ff.; Ronellenfitsch, in: Hoppe/Uechtritz/Reck, Handbuch Kommunale Unternehmen, 3. Aufl. 2012, S. 37 ff.; Uechtritz/Otting/Olgemöller, ebenda, S. 116 ff.; Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 4. Aufl. 2011, S. 227 ff., 238 ff.; Pieroth/Hartmann, DVBl 2002, 421 ff.; Stamer, Rechtsschutz gegen öffentliche Konkurrenzwirtschaft, 2008; Scholz, AöR 97, 1972, S. 301 ff.; ders., FS Sieg, 1976, S. 507 ff. 2 Vgl. näher hierzu u. a. Breuer, WiVerw 2015, 150 (152 ff.); Ehlers, 64. DJT, S. 68 ff.; Ronellenfitsch (Fn. 1), S. 30; Podszun/Palzer, NJW 2015, 1496 ff.; Scholz, FS Hopt, Bd. II, 2010, S. 2919 ff.; Grünewald, Die (Re)Kommunalisierung in der Energieverteilung, 2016; Möllnitz, Die Vergabe von Konzessionsverträgen nach § 46 Abs. 2 EnWG im Spannungsfeld zwischen Wettbewerb und kommunaler Daseinsvorsorge, 2016.
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„(1117.) Kommunen betätigen sich nicht nur in der Verwaltung des Gemeinwesens, sondern produzieren auch verschiedene eigene Leistungen durch kommunale Unternehmen. Die Diskussion um die unternehmerischen Tätigkeiten der Kommunen ist dabei zentral von der Frage geprägt, ob ein von den Entscheidungsträgern gewünschtes Leistungsangebot in Eigenerstellung erbracht oder bei privaten Unternehmen beauftragt werden sollte. Nachdem sich in den 1990er Jahren in Deutschland … ein Trend zur zunehmenden Einbindung privater Unternehmen in die kommunale Aufgabenerbringung entwickelt hat, wird seit einigen Jahren unter dem Schlagwort der ,Rekommunalisierung‘ eine umgekehrte Entwicklung beschrieben. In einer beträchtlichen Anzahl von Kommunen zeigen sich seit einigen Jahren Bestrebungen, die eigenen wirtschaftlichen Tätigkeiten zu erweitern.“
Von der Energieversorgung bis zur Abfallwirtschaft, von der Wasserversorgung bis zum Personennahverkehr oder gar der EDV – überall sind die Kommunen heute mehr und mehr bemüht, derartige Verantwortlichkeiten (wieder) stärker in die eigene Zuständigkeit zu nehmen, sich von Privatisierungsmaßnahmen zu verabschieden oder diese zu widerrufen. Entsorgungsverträge mit Privatunternehmen werden zugunsten kommunaler Eigenzuständigkeiten gekündigt oder es werden sogar bzw. zunehmend Formen grenzüberschreitender interkommunaler Kooperationen entwickelt. So greifen also einzelne Gemeinden mit den Mitteln der interkommunalen Zusammenarbeit über die eigenen territorialen und damit auch funktionalen (rechtlich entsprechend definierten) Betätigungsgrenzen hinaus.3 Dies alles geschieht in der Regel unter Berufung auf das „daseinsvorsorgerische Mandat“ der Kommunen, das als angeblicher Kernbestandteil der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie reklamiert wird. Eine Feststellung, die zwar im Prinzip richtig ist, weil zu den – mit der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG gesprochen – „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ naturgemäß auch daseinsvorsorgerische Verantwortlichkeiten gehören.4 Derartige daseinsvorsorgerische Verantwortlichkeiten eröffnen den Kommunen jedoch ebenso unstreitig kein unbeschränktes Mandat für eigenwirtschaftliche Betätigung – ohne Rücksicht auf die Rechte privater Anbieter und ohne Rücksicht auf die Grundsätze eines fairen und rechtskonformen Wettbewerbs.5
3 Siehe dazu u. a. Brosius-Gersdorf, AöR 130, 2005, S. 392 ff.; Heilshorn, VerwArch 96, 2005, S. 88 ff.; Brüning, VerwArch 100, 2009, S. 453 ff.; ders., DVBl 2009, 1539 ff. 4 Vgl. z. B. Hellermann, Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, 2000, S. 153 ff.; Papier, DVBl 2003, 68 ff.; Püttner, DVBl 2010, 1189 ff.; Ronellenfitsch (Fn. 1), S. 51 ff.; Stern, Der Staat des Grundgesetzes, 1992, S. 720 ff.; Jarass, DÖV 2002, 489 ff.; Storr, DÖV 2002, 357 ff.; Scholz, Das Wesen und die Entwicklung der gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen, 1967, S. 113 ff., 127 ff.; Scholz/Pitschas, Gemeindewirtschaft zwischen Verwaltungs- und Unternehmensstruktur, 1982, S. 13 f.; Pitschas, in: Pitschas/Ziekow (Hrsg.), Kommunalwirtschaft im Europa der Regionen, 2004, S. 33 ff.; Jensen, Kommunale Daseinsvorsorge im europäischen Wettbewerb der Rechtsordnungen, 2015, S. 96 ff., 102 ff. 5 In diesem Sinne betont z. B. Ronellenfitsch (Fn. 1), S. 36 mit Recht, dass die gemeindliche Wirtschaftsbetätigung ganz allgemein eine Ausnahme darstellt, die stets der spezifischen Rechtfertigung bedarf.
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2. Insbesondere: Zur Abfallentsorgung Ein besonders drastisches Beispiel für die vorbezeichnete Problematik findet sich im Bereich der Abfallentsorgung und bei den dortigen Wettbewerbsproblemen zwischen gemeindlicher Wirtschaft einerseits und Privatwirtschaft andererseits.6 Die Abfallentsorgung gehörte traditionell zu den überlieferten daseinsvorsorgerischen Zuständigkeiten der Kommunen, und hiervon geht auch das Gemeindewirtschaftsrecht in aller Regel noch aus. Diese Rechtslage hat sich aber über das KrWG vom 27. September 1994 (BGBl. I, S. 2705) bzw. vom 24. Februar 2012 (BGBl. I, S. 212) grundlegend verändert. Im Zuge der hier verfolgten Grundprinzipien von privater Eigenverantwortung, Deregulierung und umweltschutzrechtlicher Kooperation obliegt die Abfallentsorgung nunmehr bzw. primär den privaten Erzeugern und Verwertern von Abfällen (§ 3 KrWG). Sie sind entsorgungspflichtig, die Abfallentsorgung als solche stellt also keine originär kommunale Aufgabe mehr dar (anders noch zuvor § 3 Abs. 2 S. 1 AbfG vom 27. 08. 1986, BGBl. I, S. 1410). Das seinerzeitige klassische kommunale Verwaltungsmonopol im Bereich der Abfallentsorgung ist so von Bundesrechtswegen kassiert worden. Kommunale Zuständigkeiten erwachsen erst im Falle der Überlassung von Abfällen durch die Abfallbesitzer an die Kommunen (vgl. §§ 15, 17 KrWG). Eine Pflicht zur Überlassung besteht für die Erzeuger und Besitzer von Abfällen gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 KrWG dann, wenn eine private Abfallverwertung nicht möglich oder nicht beabsichtigt ist. Nach § 22 Abs. 2 KrWG besteht insoweit eine Überlassungspflicht gegenüber den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern nicht, soweit Dritten oder privaten Entsorgungsträgern Pflichten zur Verwertung und Beseitigung gemäß §§ 17 ff. KrWG übertragen worden sind. Nach § 16 KrWG können die zur Verwertung und Beseitigung ausgeschriebenen Verpflichteten auch Dritte mit der Erfüllung dieser Pflichten beauftragen; dies allerdings nur unter der Voraussetzung entsprechender Zuverlässigkeit, fachlicher Fähigkeit und nur für den Fall, dass „keine überwiegenden öffentlichen Interessen entgegenstehen“ (§ 22 S. 3 KrWG). Aus alledem folgt eine sehr klare kompetenzrechtliche Aussage, der zufolge keine originäre oder prioritäre Zuständigkeit der Kommunen mehr besteht, der zufolge eine öffentlich-rechtliche Abfallentsorgungsordnung erst durch die Überlassung des Abfalls von Seiten der Abfallbesitzer entsteht und der zufolge eine prinzipiell wettbewerbliche Grundstruktur im Bereich der Abfallentsorgung zwischen öffentlich-rechtlichen (kommunalen) Entsorgungsunternehmen einerseits und privatwirtschaftlichen Entsorgungsunternehmen andererseits entsteht. Diese prinzipielle Aussage zugunsten einer wettbewerblichen Grundstruktur im Bereich der Abfallentsorgung wird allerdings innerhalb der Regelung des § 17 KrWG, d. h. im Kontext der Überlassungspflichten, sehr rasch wieder konterkariert. Denn nach § 17 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 KrWG soll eine gewerbliche Sammlung von Ab6 Siehe dazu bereits sowie zum Folgenden Scholz, FS Hopt, S. 2919 ff.; siehe weiterhin hierzu Weidemann, DVBl 2000, 1577 ff.; Pippke, Öffentliche und private Abfallentsorgung, 1993.
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fällen als Ausnahme von den Überlassungspflichten nur dann zulässig sein, wenn die gesammelten Abfälle einer ordnungsgemäßen und schadlosen Verwertung zugeführt werden, soweit nicht überwiegende öffentliche Interessen dieser Sammlung entgegenstehen. Problematisch ist der Begriff der „entgegenstehenden öffentlichen Interessen“, der in § 17 Abs. 3 S. 1 KrWG im Einzelnen definiert wird. Hiernach sollen überwiegende öffentliche Interessen einer Sammlung entgegenstehen, wenn diese in ihrer konkreten Ausgestaltung, auch im Zusammenhang mit anderen Sammlungen, die Funktionsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers, des von diesem beauftragten Dritten oder eines nach § 25 KrWG eingerichteten Rücknahmesystems gefährdet. Eine solche Gefährdung sei gemäß § 17 Abs. 3 S. 2 KrWG dann anzunehmen, wenn die Erfüllung der kommunalen Entsorgungspflicht gemäß § 20 KrWG zu wirtschaftlich ausgewogenen Bedingungen verhindert oder die Planungssicherheit und Organisationsverantwortung wesentlich beeinträchtigt wird. Eine solche wesentliche Beeinträchtigung soll nach § 17 Abs. 3 S. 3 KrWG „insbesondere“ dann anzunehmen sein, „wenn die Erfüllung der nach § 20 bestehenden Entsorgungspflichten zu wirtschaftlich ausgewogenen Bedingungen verhindert oder die Planungs- und Organisationsverantwortung wesentlich beeinträchtigt wird“. Des Weiteren heißt es, dass „eine wesentliche Beeinträchtigung der Planungssicherheit und Organisationsverantwortung des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers insbesondere dann anzunehmen sei, wenn durch die gewerbliche Sammlung (1) Abfälle erfasst werden, für die der öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger oder der von diesem beauftragte Dritte eine haushaltsnahe oder sonstige hochwertige getrennte Erfassung und Verwertung der Abfälle durchführt, (2) die Stabilität der Gebühren gefährdet wird oder (3) die diskriminierungsfreie und transparente Vergabe von Entsorgungsleistungen im Wettbewerb erheblich erschwert oder unterlaufen wird“. Eine gegenteilige Regelung hiervon soll nach § 17 Abs. 3 S. 4 KrWG (nur) dann gelten, wenn die gewerbliche Sammlung wesentlich leistungsfähiger ist, als die von dem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger oder die von einem beauftragten Dritten angebotene oder konkret geplante Sammlung. Die Einzelheiten hierzu finden sich wiederum in der Regelung des § 17 Abs. 3 S. 5 und 6 KrWG. Damit wird im Ergebnis ein zumindest relatives Monopol zugunsten der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger eingeführt, was sich vor allem daran zeigt, dass die Besitzer und Erzeuger von Abfällen diese nicht dort anbieten oder entsorgen dürfen, wo sie das höchste Entgelt erzielen könnten bzw. wo die Entsorgung am preiswertesten ist. Dies bedeutet wiederum, dass der Wettbewerb hier massiv zugunsten der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger eingeschränkt bzw. ausgeschlossen wird. Folgerichtig ist gegenüber dieser Regelung des § 17 KrWG geltend gemacht worden, dass er mit dem europäischen Unionsrecht, vor allem mit den Vorschriften zur Gewährleistung eines freien Warenverkehrs und eines unverfälschten Wettbewerbs sowie mit den sekundär-rechtlichen Regelungen der VO 1013/2006 über die Verbringung von Abfällen sowie der Richt-
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linie 2008/98 über Abfälle nicht zu vereinbaren ist.7 Diese Kritik erscheint auch nach hiesiger Auffassung durchaus begründet. Auch abgesehen von den vorstehenden Einwänden sucht die aktuelle Praxis von Kommunalisierung bzw. Rekommunalisierung selbst die vorgenannten bundesgesetzlichen Vorgaben immer stärker zu unterlaufen. Dabei beruft man sich vor allem und wiederum auf den Grundsatz der Daseinsvorsorge und teilweise auch auf ausdrückliche Vorschriften im Gemeindewirtschaftsrecht, wie bspw. die Regelung des § 107 Abs. 2 S. 1 NrwGO, derzufolge als gemeindliche Wirtschaftsbetätigung „nicht der Betrieb von Einrichtungen gelten soll, die insbesondere der Abfallentsorgung oder Abwasserbeseitigung“ dienen (vgl. dazu weiter unter II. 1.). In der Konsequenz wird damit die von Bundesgesetzeswegen eigentlich vorgegebene Gleichrangigkeit und wettbewerbliche Strukturierung von kommunaler Abfallentsorgung einerseits und privatwirtschaftlicher Abfallentsorgung andererseits aufgekündigt – zugunsten der Kommunen und ihrer Kompetenz- bzw. Monopolansprüche. Dies verstößt ganz eindeutig gegen die zitierten Bestimmungen der KrWG. Nach den Grundsätzen vom Vorrang des Bundesrechts vor dem Landesrecht (Art. 31 GG) erweist sich das Gemeindewirtschaftsrecht insoweit als nicht mehr verfassungskonform. Auch der (daseinsvorsorgerische) Bereich der Abfallentsorgung muss sich nach Maßgabe des KrWG dem grundsätzlichen Wettbewerb bzw. der prinzipiellen kompetenziellen Gleichordnung von Gemeindewirtschaft einerseits und Privatwirtschaft andererseits öffnen.8 Hiergegen spricht auch nicht die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Maßgabe des Art. 28 Abs. 2 GG. Denn obwohl der Bereich der Daseinsvorsorge zu den tradierten, typischen und klassischen Aufgabenbereichen der kommunalen Selbstverwaltung bzw. der Kommunalwirtschaft gehört, untersteht das Recht der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG doch dem Vorbehalt der einfach-gesetzlichen Ausgestaltung – mit der Konsequenz, dass die Kommunen auch in ihren tradierten Aufgabenbeständen beschnitten oder verändert werden können. Die kommunale Selbstverwaltung besteht nach Maßgabe der Gesetze und nicht in Gestalt vor-gesetzlicher Ausgestaltung.9 Demgemäß hat der Gesetzgeber mit seinen Ordnungsentscheidungen nach Maßgabe des KrWG den Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung keineswegs verletzt; er hat auch nicht an den absolut geschützten Wesensgehalt10 der kommunalen Selbstverwaltung gerührt.11 Wie das BVerfG deutlich ausgeführt hat, verfügt der Bund gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG über eine umfassende Kompetenz zur Regelung der Abfallwirtschaft und gegen diese Kompetenz darf der Landesge7
Siehe näher hierzu und m. w. N. Kurth/Oexle, in: Kurth/Oexle (Hrsg.), Handbuch der Kreislauf- und Rohstoffwirtschaft, 2013, S. 78 (88 ff.). 8 Vgl. Scholz, FS Hopt, S. 2921 ff. 9 Vgl. Scholz, FS Hopt, S. 2922; Ronellenfitsch (Fn. 1), S. 34 f. 10 Zur Wesensgehaltsgarantie in Art. 28 Abs. 2 GG siehe wiederum im hiesigen Problemkontext Ronellenfitsch (Fn. 1), S. 35. 11 Vgl. bereits Scholz, FS Hopt, S 2922; siehe auch Weidemann, DVBl 2000, 1579 f.
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setzgeber nicht verstoßen.12 Dies hat das BVerfG für Landesabfallabgabengesetze entschieden.13 Nichts anderes gilt für das KrWG und seine (potentielle) Konterkarierung durch das (landesgesetzliche) Gemeinderecht. 3. Wettbewerbliche Ungleichheiten Betrachtet man die gegebenen Wettbewerbsverhältnisse zwischen privater und kommunaler Versorgungswirtschaft, so offenbaren sich sehr rasch evidente Wettbewerbsprobleme bzw. massive wettbewerbliche Ungleichheiten. Die entsprechenden Schieflagen sind offenkundig. a) Dies beginnt schon mit der gemeindlichen Gebührenpolitik, die seit dem Jahre 2012 nicht mehr der Aufsicht des Bundeskartellamts unterliegt (vgl. § 130 Abs. 1 S. 2 GWB).14 Die kommunale Rechtsaufsicht prüft die Gebühren zwar rechtlich bzw. äußerlich, lässt dabei aber alle Kriterien von Wettbewerbsgleichheit und unternehmerischer Effizienz beiseite (bloße Rechts- und nicht Fachaufsicht). Folgerichtig bestehen für öffentliche Unternehmen kaum Anreize, ihre Leistungen möglichst kostengünstig anzubieten, wie es für die wettbewerbsgebundenen Privatunternehmen selbstverständlich ist und sein muss. b) Des Weiteren fehlt es an entsprechender Transparenz. Beides hat bspw. die Monopolkommission mit klaren Worten kritisiert.15 Von den kommunalen Unternehmen bzw. den Kommunalverbänden wird demgegenüber häufig angeführt, dass es keiner strengeren Aufsicht bedürfe, da ein ggf. überhöhtes Entgelt für die Inanspruchnahme einer öffentlichen Leistung der Finanzierung von anderen öffentlichen Leistungen und damit wieder dem Bürger zugutekomme. Mit dieser Argumentation wird jedoch schon das Prinzip der wettbewerblich maßgebenden Wirtschaftlichkeit einer Leistungserstellung mit anderweitigen Verteilungswirkungen verquickt – ein unter den Aspekten der Wettbewerbsgleichheit von vornherein unvertretbares Vorgehen. c) Diese Feststellung führt bereits zu einer weiteren wettbewerblichen Schieflage: Nämlich zur im kommunalen Wirtschaftsbereich üblichen bzw. sehr häufig gepflegten Quersubventionierung. Solche Quersubventionierungen können vielfältig Wettbewerbsgleichheiten in Wettbewerbsungleichheiten verdrehen. Des Weiteren ist auf die allgemeine kommunale Gewährträgerhaftung zu verweisen.16 Jede Gemeinde haftet mit ihrem kompletten Vermögen bzw. Haushalt in vollem Umfange und unmittelbar für die Verbindlichkeiten ihrer Unternehmen. Auch diese Gewährträgerhaftung stellt einen evidenten Wettbewerbsvorteil im Verhältnis zu privaten Konkurren12
Vgl. BVerfG, NJW 98, 2341 (2342 ff.). Vgl. wiederum BVerfG, NJW 98, 2346 (2347 f.). 14 Siehe mit Recht kritisch hierzu Monopolkommission, Hauptgutachten XX, Kap. II, Rn. 1146 ff. 15 Vgl. Monopolkommission (Fn. 14), Rn. 1196 f., 1201 ff. 16 Vgl. dazu schon EuGH, DStR 2006, 1082 (183 f.); Henneke, FS Brohm, 2002, S. 81 ff.; Scholz, FS Hopt, S. 2930. 13
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ten dar. Des Weiteren führt diese Gewährträgerhaftung auch zu massiven Wettbewerbsvorteilen, wenn es um die Aufnahme von Krediten geht. Naturgemäß entstehen einem kommunalen Unternehmen, das sich auf die Gewährträgerhaftung seiner Trägergemeinde berufen kann, erheblich geringere Kosten für Zinsen etc. im Bereich der Aufnahme von Krediten. d) Ein weiterer massiver Wettbewerbsvorteil der kommunalen Unternehmen besteht im Bereich des Steuerrechts. Gerade die hier streitbefangenen öffentlichen Unternehmen sind nach geltendem Recht von der Umsatzsteuer befreit, wobei als Begründung hierfür in aller Regel und wiederum auf die „Daseinsvorsorge“ verwiesen wird. Nach der auf Umsätze bis zum 31. Dezember 2016 anzuwendenden Vorschrift des § 2 Abs. 3 UStG i. V. m. § 27 Abs. 22 S. 1 UStG sind juristische Personen des öffentlichen Rechts nur dann umsatzsteuerpflichtig, wenn sie als gewerbliche Unternehmer tätig werden. Nicht dagegen, soweit es um hoheitliche Tätigkeiten und auch um entsprechende Hilfsgeschäfte geht, wobei wiederum bei der Bestimmung der „Hoheitlichkeit“ in aller Regel und allzu undifferenziert auf die konkrete „daseinsvorsorgerische“ Unternehmensfunktion verwiesen wird. Als für alledem maßgebend ist der Begriff der „wirtschaftlichen Tätigkeiten“ im Sinne des § 4 Abs. 1 KStG. Als „wirtschaftliche Tätigkeit“ ist in diesem Sinne bzw. an sich jede Tätigkeit zu verstehen, die wettbewerbsrelevant ist. Steht ein öffentliches Unternehmen, gleichgültig in welchem Aufgabenbereich, mit privaten Unternehmen im Wettbewerb, so handelt es sich um eine entsprechende „wirtschaftliche Tätigkeit“, ist der Tatbestand des § 4 Abs. 1 KStG also erfüllt. Dennoch berufen sich die Kommunen in der Praxis und in aller Regel auch in solchen Bereichen auf ihr angebliches „Umsatzsteuerprivileg“. Dies alles verstößt sogar gegen europäisches Unionsrecht. Nach Art. 13 Abs. 1 UA 2 der Mehrwertsteuer-System-Richtlinie unterliegen Einrichtungen des öffentlichen Rechts auch für die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegenden Tätigkeiten der Umsatzsteuer, sofern die Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Die Mitgliedstaaten der EU sind deshalb verpflichtet, solche öffentlichen Einrichtungen der Umsatzsteuer zu unterwerfen. Eine solche europarechtskonforme Umsetzung des Mehrwertsteuerrechts hat in Deutschland aber bisher nicht stattgefunden.17 Mit Wirkung ab dem 31. Dezember 2016 tritt an die Stelle dieser Regelung des § 2 Abs. 3 UStG die neue Regelung des § 2b Abs. 1 UStG (i. V. m. § 27 Abs. 22 S. 2 UStG – BGBl. I 2015, S. 1834), der zufolge die Umsatzsteuerpflicht entfällt, wenn Träger der öffentlichen Hand „Tätigkeiten ausüben, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen“ (S. 1), wozu wiederum auch die Daseinsvorsorge gerechnet wird.18 Dies soll lediglich dann nicht gelten, wenn „eine Behandlung als Nichtunternehmer in größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde“ (S. 2). Was hierunter zu verstehen ist, bleibt indessen außerordentlich dunkel. Die ausdrücklich genannten Tatbestände in § 2b 17 Vgl. schon Scholz, FS Hopt, S. 2930 f.; siehe zum Ganzen auch und besonders Jensen, Kommunale Daseinsvorsorge, S. 46 ff., 75 ff., 96 ff., 102 ff., 108 ff., 130 ff. 18 Vgl. Bunjes, UStG, 15. Aufl. 2016, § 2b Rn. 27.
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Abs. 2 und 3 UStG geben kaum Aufhellung.19 Eindeutig ist aber eines: Wenn private Wettbewerber sich unter der Geltung des § 2 Abs. 3 UStG a. F. noch darauf berufen konnten, dass ein Träger öffentlicher Gewalt nicht oder zu niedrig zur Mehrwertsteuer herangezogen wird,20 so entfällt diese Möglichkeit jetzt – zumindest in aller Regel. Denn wann führt dies zu einer „größeren Wettbewerbsverzerrung“? Oder anders ausgedrückt: Die wettbewerblich ungleiche Behandlung von öffentlichen und privaten Unternehmen im Bereich der Mehrwertsteuerbelastung soll nicht mehr zum automatischen Rechtsverstoß führen. Für die Körperschaftssteuer bestimmt § 1 Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. § 4 Abs. 3 KStG, das auch „Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts“ körperschaftsteuerpflichtig sind – eingeschlossen „Betriebe, die der Versorgung der Bevölkerung mit Wasser, Gas, Elektrizität oder Wärme, dem öffentlichen Verkehr oder dem Hafenbetrieb dienen“. Dieser Katalog ist aber nicht vollständig. Wie steht es namentlich mit den nicht genannten kommunalen Abfallentsorgungsunternehmen? Körperschaftsteuerpflichtig – ja oder nein? Nach § 4 Abs. 5 KStG „gehören zu den Betrieben gewerblicher Art nicht Betriebe, die überwiegend der Ausübung der öffentlichen Gewalt dienen (Hoheitsbetriebe). Für die Annahme eines Hoheitsbetriebs reichen Zwangs- oder Monopolrechte nicht aus“. Hierzu ist festzustellen, dass die in § 4 Abs. 3 KStG genannten Versorgungsbetriebe eindeutig daseinsvorsorgerischen Aufgaben dienen. Das Gleiche hätte für Abfallentsorgungsunternehmen zu gelten. Diese werden vom Gesetzgeber aber nicht ausdrücklich genannt. Folgerichtig bedarf es hier der gesetzgeberischen Klärung bzw. – nach hiesiger Auffassung – auch der entsprechenden Ergänzung; mit der Folge, dass auch kommunale Abfallentsorgungsunternehmen unter die Körperschaftsteuerpflicht fallen. e) Neben diesen vorgenannten Wettbewerbsvorteilen, die zugunsten der kommunalen Unternehmen zu klaren Wettbewerbsverschiebungen führen, gibt es eine Reihe weiterer Wettbewerbsvorteile dieser Unternehmen, bspw. im Bereich der – von der Monopolkommission in diesem Zusammenhang mit Recht kritisch angesprochenen – Konzessionsvergabe. Gerade wenn es um Verträge über Wegenutzungsrechte geht, sind vor allem im Bereich der Energiewirtschaft evidente wettbewerbliche bzw. gleichheitswidrige Einflussnahmen zugunsten öffentlicher Energieversorgungsunternehmen möglich und werden ganz offenkundig auch in dieser Richtung praktiziert.21 f) Insgesamt ergibt sich hiernach, dass zwischen öffentlichen (kommunalen) Unternehmen und ihren privatwirtschaftlichen Konkurrenten ein außerordentlich hohes Maß an Wettbewerbsungleichheit besteht – ein Maß, das der rechtlichen und namentlich verfassungsrechtlichen Überprüfung bedarf. 19
Vgl. dazu Bunjes (Fn. 18), § 2b Rn. 30 ff. m. w. N. Vgl. EuGH, DStR 2006, 1083 f.; BFH, BStBl. II 2007, S. 243; Bunjes (Fn. 18), § 2b Rn. 32. 21 Vgl. Hauptgutachten XX, Kap. V, Rn. 1266 ff, 1276 ff.; s. auch Podszun/Palzer, NJW 2015, 1496 (1497 ff.). 20
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II. Daseinsvorsorge und einfaches Gesetzesrecht 1. „Daseinsvorsorge“ als prioritär-kommunaler Kompetenztitel? Wie bereits gezeigt, pflegen die Kommunen sich im Zuge ihrer aktuellen Kommunalisierungs- oder Rekommunalisierungsstrategien in aller Regel auf die „Daseinsvorsorge“ zu berufen. Selbst wenn es richtig ist, dass daseinsvorsorgerische Verwaltung zu den wesentlichen Bestandteilen der kommunalen Selbstverwaltung gehört, so ändert dies jedoch nichts daran, dass „die Daseinsvorsorge“ als solche keinen originären oder gar prioritären Kompetenztitel für die kommunale Selbstverwaltung enthält. Denn wie bereits E. Forsthoff in seiner Entwicklung des Begriffs wie Tatbestands der Daseinsvorsorge im Jahre 193822 gezeigt hat, handelt es sich bei der Daseinsvorsorge um nichts anderes als einen bestimmten soziologischen bzw. sozioökonomischen Sachverhalt, nicht dagegen um einen vorgegeben-normativen Tatbestand.23 Daseinsvorsorge meint und beschreibt nichts anderes als die in der heutigen Gesellschaft unabweisbare Abhängigkeit des einzelnen von bestimmten massentypischen Versorgungs- und Wirtschaftsgütern wie Energie-, Verkehrs-, Wasserversorgung etc. wie auch Abwasser- oder Abfallentsorgung. Über die rechtlichen Zuständigkeiten oder Verantwortlichkeiten der die Bedürfnisse der Daseinsvorsorge befriedigenden Rechtssubjekte sagt der Begriff der Daseinsvorsorge von vornherein nichts aus. Da es sich bei den Aufgaben der Daseinsvorsorge aber von vornherein bzw. wesensgemäß um vor allem ökonomische Leistungserbringungen handelt, ist es folgerichtig, dass in den Bereichen der Daseinsvorsorge öffentliche und private Unternehmen miteinander konkurrieren, dass sie nebeneinanderstehen und dass es im Konfliktfall der Konkurrenzlösung bedarf. Wenn ein öffentlicher Aufgabenträger im Bereich der Daseinsvorsorge tätig wird, so handelt es sich zwar – kraft konkreten öffentlich-rechtlichen Kompetenzbegründungsaktes – um einen öffentlich-rechtlichen Tatbestand der Leistungsverwaltung.24 Dies ändert an der prinzipiell wettbewerblich-wirtschaftlichen Grundbeziehung im Verhältnis zu privaten Konkurrenten jedoch nichts, es sei denn, dass der öffentlich-rechtliche Kompetenzentscheid ein Verwaltungsmonopol begründet. Für die Zuständigkeiten der öffentlichen Hand, also auch der Kommunen, im Bereich der Daseinsvorsorge ist mit anderen Worten (erst) der jeweilige Kompetenzbegründungsakt maßgebend, d. h. dasjenige Gesetz oder diejenige Satzung bzw. derjenige Verwaltungsakt, der eine bestimmte Angelegenheit der Daseinsvorsorge zur öffentlich-rechtlichen (Verwaltungs-)Aufgabe erhebt. Jede verwaltungsmäßige, also auch kommunale Wahrnehmung einer daseinsvorsorgerischen Aufgabe bedarf für die eigene Rechtmäßigkeit also eines entspre22
Vgl. Die Verwaltung als Leistungsträger. Vgl. dazu u. a. Leisner, WiVerw 2011, 55 ff.; Budäus/Hilgers, DÖV 2013, 701 (704 f.); Rüfner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 2006, S. 1049 (1051 ff.); Ronellenfitsch, in: Blümel (Hrsg.), Ernst Forsthoff, 2003, S. 53 ff.; ders. (Fn. 1), S. 18 ff., 51; Badura, Wirtschaftsverfassung, S. 229; Scholz/Pitschas, Gemeindewirtschaft, S. 13 f. 24 Vgl. Scholz, FS Hopt, S. 2923. 23
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chenden rechtskonformen Kompetenzbegründungsakts, der naturgemäß auch im Gemeinderecht liegen kann. Wenn auf der Grundlage eines solchen Kompetenzbegründungsakts ein öffentliches Unternehmen aber zur Befriedigung von Aufgaben der Daseinsvorsorge berufen wird, so ist dieses Unternehmen rechtlich an die entsprechenden Rechtsgrundlagen – bis hin zur Verfassung – gebunden. Dabei macht es keinen Unterschied, ob das betreffende öffentliche Unternehmen in öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Gestalt organisiert und / oder tätig wird. Handelt es sich um ein öffentliches Unternehmen in privatrechtlicher Gestalt, so gelten über die Grundsätze des Verwaltungsprivatrechts für die konkrete Rechtmäßigkeit die gleichen Maßstäbe wie sie für ein öffentlich-rechtlich gestaltetes Unternehmen gelten. Insgesamt ergibt sich hiernach, dass der Tatbestand der Daseinsvorsorge für sich genommen kompetenzrechtlich neutral bzw. irrelevant ist. Eine daseinsvorsorgerische Verantwortung begründet weder eine originäre oder gar eine prioritäre Zuständigkeit für die öffentliche Hand, hier also bzw. insbesondere für die Kommunen. Daseinsvorsorgerische Verantwortung kann ebenso von Trägern der öffentlichen Verwaltung wie von der Privatwirtschaft wahrgenommen werden. Ein rechtlich etwa vorab festzustellender Vorrang zugunsten der einen oder anderen Seite besteht nicht. Daseinsvorsorgerische Verantwortung versteht sich mit anderen Worten bzw. ganz allgemein als prinzipiell-wettbewerbliche Zuständigkeit ebenso öffentlicher wie privater Unternehmen. 2. Zum Gemeindewirtschaftsrecht Jede Aufgabe daseinsvorsorgerischer Art ist vor allem von wirtschaftlicher Qualität. Es konkurrieren öffentliche (kommunale) und private Unternehmen in jedem Einzelfalle miteinander, es sei denn, dass von Gesetzeswegen eine monopolistische Zuständigkeit für die eine oder andere Seite begründet worden ist. Der wirtschaftlichen Qualität der Daseinsvorsorge gemäß erweist sich im kommunalen Bereich vor allem das Gemeindewirtschaftsrecht als (aktuelle oder potentielle) Rechts- und Kompetenzgrundlage als maßgebend. Für dies gelten – in der Nachfolge der § 67 ff. DGO von 1935 – die jeweiligen Regelungen in den einzelnen Gemeindeordnungen der Länder, die sich mit der Statthaftigkeit kommunaler Wirtschaftsunternehmen bzw. kommunaler Wirtschaftsbetätigung befassen.25 Hiernach ist vor allem erforderlich, dass ein kommunales Wirtschaftsunternehmen durch einen „öffentlichen Zweck“ gerechtfertigt wird und dass im Verhältnis zu anderen Wirtschaftssubjekten, namentlich solchen aus der Privatwirtschaft, der Grundsatz der Subsidiarität gewahrt wird. Dieses Subsidiaritätserfordernis ist seinerzeit zum einen deshalb statuiert worden, um die Gemeinden vor einem Übermaß wirtschaft25 Vgl. dazu näher sowie zum Folgenden u. a. Ronellenfitsch (Fn. 1), S. 47 ff., 53 f.; Uechtritz/Otting/Olgemöller (Fn. 1), S. 63 ff., 89 ff., 97 ff.; Badura, Wirtschaftsverfassung, S. 234 ff.; Breuer, WiVerw 2015, 150 ff.; Scholz, Öffentliche Einrichtungen, S. 165 ff.; Scholz/Pitschas, Gemeindewirtschaft, S. 12 ff.
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lich-finanzieller Belastungen zu schützen, und zum anderen auch deshalb, um im Verhältnis vor allem zu konkurrierenden Unternehmen der Privatwirtschaft eine kompetenzrechtlich tragfähige Abgrenzungsregel zu finden.26 Die Regelung des § 67 DGO bezog sich noch ausschließlich auf „wirtschaftliche Unternehmen“ der Gemeinden. Im heutigen Gemeindewirtschaftsrecht werden teilweise auch nichtwirtschaftliche Unternehmen unter den Regelungskreis des Gemeindewirtschaftsrechts subsumiert.27 Für die hiesige Problematik ist dies jedoch nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Diese Feststellung gilt namentlich im Hinblick auf das Kriterium des „öffentlichen Zwecks“ – ein Kriterium, dass in sich viel zu unbestimmt, ja diffus ist und folgerichtig keine wirkliche Aussagekraft über die Statthaftigkeit wie Grenzen kommunaler Wirtschaftsbetätigung vermitteln kann.28 Anders steht es dagegen mit solchen Vorschriften im Gemeindewirtschaftsrecht, die von vornherein bestimmte Bereiche vor allem aus dem Feld daseinsvorsorgerischer Wirtschaftsbetätigungen von der Bindung an den „öffentlichen Zweck“ und vor allem von der Bindung an das Subsidiaritätsprinzip freizuzeichnen suchen. Teilweise versuchen die Gemeindeordnungen der Länder von vornherein sektorale Ausnahmen vom Subsidiaritätsprinzip zu schaffen, vor allem zugunsten daseinsvorsorgerischer Kommunalbetätigungen. Nur Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland, Sachsen und Schleswig-Holstein haben darauf verzichtet, sektorale Ausnahmen vom Subsidiaritätsprinzip zu statuieren. Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen schließen die „Daseinsvorsorge“ vom Anwendungsbereich der Subsidiaritätsklausel gänzlich aus (§ 102 Abs. 1 Nr. 3 BadWüGO, § 87 Abs. 1 Nr. 4 BayGO, § 71 Abs. 2 Nr 4 ThürGO). Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinlad-Pfalz und Sachsen-Anhalt haben jeweils unterschiedliche Listen von Wirtschaftsbereichen als Ausnahmebereiche definiert (§ 136 Abs. 1 Nr. 3 NKomVG, § 107 Abs. 1 Nr. 3 NrwGO, § 85 Abs. 1 Nr. 3 Rh.-Pf.GO, § 128 Abs. 2 S. 1 KVGLSA; ähnlich schließlich Hessen: § 121 Abs. 1 S. 2, Abs. 1a S. 1 HessGO).29 Als Beispiel für die letzteren sei lediglich auf die Bestimmung des § 107 Abs. 1 Nr. 3 NrwGO verwiesen, der zufolge die Bereiche von Energieversorgung, Wasserversorgung, öffentlichem Verkehr sowie der Telekommunikation von der Subsidiaritätsklausel freigestellt werden sollen. Alles in allem zeigt sich jedoch, dass die Gemeindeordnungen der Länder sämtlich – mehr oder weniger – versuchen, bestimmte daseinsvorsorgerische Funktionsbereiche von vornherein von der Subsidiaritätsklausel freizustellen und in diesen Bereichen prioritäre Kompetenzrechte für die gemeindlichen Wirtschaftsunternehmen zu schaffen – ohne Rücksicht auf konkurrierende pri26
Vgl. Scholz, Öffentliche Einrichtungen, S. 165 ff. Vgl. dazu die Nachweise bei Breuer, WiVerw 2015, 154 ff. 28 Siehe richtig Breuer, WiVerw 2015, 158 f. Teilweise wird den Gemeinden bei der Bestimmung von entsprechenden „öffentlichen Zwecken“ sogar eine Einschätzungsprärogative eingeräumt (vgl. Uechtritz/Otting/Olgemöller (Fn. 1), S. 92 ff.). Dies bedeutet in der Konsequenz aber, dass man faktisch bei der schlichten, als solche aber nicht akzeptablen Ermessensentscheidung landet. 29 Siehe hierzu zusammenfassend Breuer, WiVerw 2015, 161 ff. 27
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vatwirtschaftliche Unternehmen. Letzteren bleibt es meist versagt, sich auf eine (aktuelle oder potentielle) Subsidiarität zu berufen; und dies hat wiederum wesentliche Auswirkungen für einen funktionstüchtigen Dritt- oder Konkurrentenschutz, wie er – dies ist später zu zeigen – (auch) verfassungsrechtlich geboten ist (siehe weiter unter II. 5. und III.).30 Bei der konkreten Ausgestaltung der Subsidiaritätsklausel verfahren die Gemeindeordnungen der Länder zum Teil unterschiedlich. Wesentlich ist vor allem, dass z. T. darauf abgestellt wird, ob ein privater Anbieter dem konkreten Zweck nicht „besser oder wirtschaftlicher erfüllen kann“ bzw. dass es genügt, wenn der private Anbieter die konkrete Aufgabe „ebenso gut oder wirtschaftlich erfüllen kann“. In jedem Falle ergibt sich insoweit aber eine konkurrenzlösende Regelung, bei der lediglich die Frage verbleibt, ob sich ein privater Konkurrent auch im Wege des Drittoder Konkurrenzschutzes unter Berufung auf die jeweilige Subsidiaritätsbestimmung gegen eine kommunale Wettbewerbsteilnahme wehren kann. Auch hierauf wird gesondert zurückzukommen sein. An dieser Stelle genügt die Feststellung, dass das gegebene Gemeindewirtschaftsrecht wirksame Schranken für kommunale Unternehmen zunächst und nur dort errichtet, wo ein kommunales Unternehmen ausschließlich oder vorrangig erwerbswirtschaftlichen Zielen dient. Letzteres ist ganz grundsätzlich ausgeschlossen. Um Erwerbswirtschaft geht es im Falle der Daseinsvorsorge aber nicht bzw., wenn überhaupt, so nur am Rande. Für daseinsvorsorgerisch tätige Kommunalunternehmen verbleibt es bei der in sich nach wie vor wesentlich unscharfen Subsidiaritätsregelung in den einzelnen Gemeindeordnungen, soweit nicht, wie vorstehend erwähnt, Gemeindeordnungen sogar versuchen, von vornherein Bereiche der Daseinsvorsorge von der Subsidiaritätsregel generell freizustellen. Insgesamt bleibt folglich festzuhalten, dass das Gemeindewirtschaftsrecht die Kommunen in den Bereichen der Daseinsvorsorge teilweise begünstigt gegenüber privater Konkurrenz und dass das Gemeindewirtschaftsrecht jedenfalls – auch in seiner Gesamtheit gesehen – keine wirklich wirksame und entsprechend justiziable Kompetenzabgrenzung zwischen gemeindlichen und privaten Unternehmen, namentlich im Bereich der Daseinsvorsorge, schafft. 3. Zum Europäischen Unionsrecht Das Europäische Unionsrecht überlässt den Mitgliedstaaten die Entscheidungszuständigkeit über den öffentlichen Sektor ihrer Wirtschaft bzw. über die Wirtschaftsteilnahme des Staates nicht uneingeschränkt.31 Das Europäische Unionsrecht unter30 Zum per Saldo mangelhaften gemeinderechtlichen Konkurrenzschutz siehe näher Ronellenfitsch (Fn. 1), S. 37 ff., 47 ff.; Uechtritz/Otting/Olgemöller (Fn. 1), S. 101 ff., 126 ff.; Breuer, WiVerw 2015, 167 ff.; Schoch, FS Wahl, 2011, S. 573 (574); Ehlers, 64. DJT, S. 68 ff. 31 Vgl. näher hierzu und zum Folgenden u. a. Ronellenfitsch (Fn. 1), S. 39 ff.; Pitschas, in: Pitschas/Ziekow, Kommunalwirtschaft, S. 33 ff.; Papier, DVBl 2003, 686 ff.; Badura, Wirtschaftsverfassung, S. 172 ff., 241 ff.; Ehlers, 64. DJT, S. 37 f.; Huber, Badura-Festschrift, S. 907 ff.; Jensen, Kommunale Daseinsvorsorge, S. 46 ff., 108 ff., 130 ff.
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stellt die öffentlichen Unternehmen hinsichtlich ihrer rechtlichen Ausgestaltung, ihrer Steuerung und ihrer Finanzierung den Grundfreiheiten und den Wettbewerbsregeln des Gemeinsamen Marktes, wobei der Kommission die konkretisierenden Regeln obliegen (vgl. Art. 106 AEUV). Soweit es um Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse geht, denen innerhalb der Union ein besonderer Rang eingeräumt ist (vgl. Art. 14, 106 Abs. 2 AEUV), tritt der Gedanke der Wettbewerbsfreiheit jedoch weitgehend zurück, verbleibt es also bei nationalen Regelungszuständigkeiten. Dies gilt insbesondere auch für die Daseinsvorsorge. In ihrer Mitteilung „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“ (1996) hat die Kommission diese sogar zum „Kern des europäischen Gemeinschaftsmodells“ erhoben. Als Leistung der Daseinsvorsorge gelten nach Auffassung der Kommission marktbezogene oder nicht-marktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden. Als marktbezogene Leistungen in diesem Sinne gelten auch die der Daseinsvorsorge. Für finanzielle Vorteile, die einem Unternehmen gewährt werden, um die Kosten für die Verpflichtung zur Erbringung öffentlicher Dienstleistungen zu kompensieren, gilt nicht das Beihilfeverbot des Art. 107 AEUV. Art. 106 Abs. 2 AEUV bestimmt ausdrücklich, dass „für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, die Vorschriften dieses Vertrages, insbesondere die Wettbewerbsregeln, gelten, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert“. Dies bedeutet zunächst nichts anderes, als dass auch daseinsvorsorgerisch tätige Unternehmen der öffentlichen Hand ebenso den Grundsätzen des Wettbewerbsrechts bzw. der Wettbewerbsgleichheit unterstehen wie alle privaten Unternehmen. Nach Art. 107 Abs. 1 AEUV werden schließlich staatliche Beihilfen untersagt, soweit diese geeignet sind, „den Wettbewerb zu verfälschen oder zu verfälschen drohen“. Dieses Verbot staatlicher Beihilfen ist vor allem in Konflikt um öffentlich-rechtliche Kreditinstitute, hier namentlich für Landesbanken und Sparkassen, relevant geworden. Institute wie die staatliche Gewährträgerhaftung für solche Einrichtungen sowie deren Verankerung oder beihilfemäßig relevante Verbindung mit dem jeweiligen Staats- oder Kommunalhaushalt sind von der EU deutlich kritisiert worden.32 Vor allem unter dem Aspekt der unzulässigen Beihilfe hat der EuGH mit Recht steuerrechtliche Privilegien öffentlicher Unternehmen beanstandet und den Weg für auch steuerrechtliche Konkurrentenklagen zu Gunsten privater Wettbewerber eröffnet. In seiner Entscheidung vom 8. Juni 2006 hat der EuGH entschieden, dass sich ein privater Wettbewerbsteilnehmer gegenüber der Finanzbehörde auf die Wettbewerbsgleichheit berufen kann, wenn die juristische Person des öffentlichen Rechts, mit der er konkurriert, nicht oder zu niedrig zur Mehrwertsteuer herangezogen wird. Solche steuerrechtliche Privilegien verletzen die Wettbewerbsneutralität
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Vgl. dazu m. w. N. z. B. Badura, Wirtschaftsverfassung, S. 244 ff.
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und die Wettbewerbsgleichheit.33 Wie bereits gezeigt (vgl. unter I. 3. d)), ist eine Regelung wie die des § 2b UStG hiermit nicht zu vereinbaren. 4. Das Wettbewerbsrecht Auch das Wettbewerbsrecht vermittelt im Verhältnis von privater und öffentlicher Daseinsvorsorge keine klare und entsprechend justiziable Abgrenzung.34 Konkret geht es vor allem um die Frage, ob ein privater Mitbewerber gegen die (Daseinsvorsorge-)Betätigung eines öffentlichen Konkurrenten nach Maßgabe des UWG vorgehen kann. Nach § 3a UWG handelt derjenige unlauter, der „einer gesetzlichen Vorschrift zuwider handelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen“. Diese Vorschrift wirft auch und namentlich die Frage auf, ob ein kommunales Wirtschaftsunternehmern, das unter Verletzung der Subsidiaritätsregeln des Gemeindewirtschaftsrechts tätig wird, entsprechend „unlauter“ handelt. In der Rechtsprechung gibt es für eine solche Lesart durchaus Ansätze, die aber (noch) keinen durchgreifenden Schutz zugunsten des privaten Unternehmens vermitteln. Dies gilt umso mehr deshalb, als der BGH der Auffassung ist, dass eine Verletzung der Regeln des Gemeindewirtschaftsrechts von den Betroffenen prinzipiell nicht vor den Zivilgerichten nach Maßgabe des UWG, sondern vor den Verwaltungsgerichten geltend gemacht werden soll.35 Ein weiterführender Regelungsansatz könnte sich allerdings aus der Verbindung von § 3a UWG mit einer Vorschrift nach Art des § 107 Abs. 5 NrwGO ergeben. Denn nach dieser gemeindewirtschaftsrechtlichen Vorschrift ist bestimmt, dass vor der Entscheidung über die Gründung von bzw. die unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an Unternehmen der Rat der Gemeinde auf der Grundlage einer Marktanalyse über die Chancen und Risiken des beabsichtigten wirtschaftlichen Engagements und über die Auswirkungen auf das Handwerk und die mittelständische Wirtschaft zu unterrichten ist. Hier wird wenigstens eine grundsätzliche Prüfungspflicht für das wettbewerbliche Verhältnis zum privaten Konkurrenten vorgeschrieben und wenn dieser Prüfungspflicht nicht genügt wird, so ist nach hiesiger Auffassung von einem Verstoß gegen § 3a UWG auszugehen. Andererseits ändert dies alles nichts daran, dass § 3a UWG seine wettbewerbsrechtlichen Folgen an eine „spürbare“ Wettbewerbs- bzw. Rechtsverletzung bindet. Der Begriff des „Spürbaren“ ist jedoch derart unbestimmt, dass im Ergebnis kaum von einem wirksamen Schutzversprechen ausgegangen werden kann.
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Vgl. schon die Nachw. oben N. 15. Vgl. näher sowie m. w. N. hierzu Badura, Wirtschaftsverfassung, S. 231 ff.; Ehlers, 64. DJT, S. 85, 134 ff.; Otto, GewArch 2001, 360 ff.; Fuchs, FS Brohm, S. 275 ff.; Uechtritz/ Otting/Olgemöller (Fn. 1), S. 124 ff. 35 Vgl. BGH, JZ 2003, 318 ff. m. Anm. Ehlers; BGH, DÖV 94, 573 ff.; BGHZ 150, 343 (346 ff.). 34
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Mehr Effizienz verspricht im Wettbewerbsrecht für Problemlagen der hiesigen Art das GWB.36 Nach § 130 GWB verfügt das Bundeskartellamt über die Zuständigkeit, (auch) gegen Unternehmen der öffentlichen Hand vorzugehen, wenn entsprechende Diskriminierungen privater Konkurrenzunternehmen bestehen oder drohen. Dies ist insbesondere im Zusammenhang mit der Vergabe örtlicher Wegerechte durch die Kommunen aktuell geworden. Nach Maßgabe des § 46 EnWG dürfen Bewerber im Auswahlverfahren um entsprechende Konzessionen weder unwillig behindert noch in diskriminierender Weise behandelt werden. Konzessionsverträge, die hiergegen verstoßen, sind kartellrechtswidrig. Von den Kommunen ist gegenüber diesen Regelungen bzw. dieser Praxis des Bundeskartellamts immer wieder eingewandt worden, dass die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung gemäß Art. 28 Abs. 2 GG und entsprechende demokratische oder sozialstaatliche Grundsätze anzuführen seien. Argumente dieser Art sind aber von vornherein abwegig oder verfehlt. Der BGH hat hierzu in aller Deutlichkeit wie folgt Stellung genommen: „Die Pflicht zur diskriminierungsfreien Entscheidung über den Netzbetreiber ist zur Förderung des Wettbewerbs um das für den Betrieb des allgemeinen Versorgungsnetzes notwendige Wegenutzungsrecht im Interesse der Allgemeinheit an einer Verbesserung der Versorgungsbedingungen geeignet und erforderlich“.37 Ungeachtet dieser Grundsätze ist für die hiesige Gesamtproblematik jedoch festzuhalten, dass allein über das GWB keine gesicherte Abgrenzung konkurrierender daseinsvorsorgerischer Tätigkeiten von Kommunen einerseits und Privatwirtschaft andererseits zu erreichen ist. 5. Öffentlich-rechtlicher Konkurrentenschutz? Auch das allgemeine öffentliche Recht vermittelt im Übrigen den privaten Konkurrenten kommunaler Wirtschaftsunternehmen keinen wirklich wirksamen Rechtsschutz, obwohl inzwischen auch gegenläufige Tendenzen in der Gesetzgebung und der Rechtsprechung zu beobachten sind. Auf der einen Seite stehen diejenigen Gemeindeordnungen, die das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich auch als drittschützend (zugunsten der Mitbewerber) ausweisen (vgl. § 121 Abs. 1b HessGO, § 136 Abs. 1 S. 3 NdsKomVG; siehe weiterhin die Gesetzesbegründungen in Baden-Württemberg, im Saarland, Sachsen und Thüringen). Aus der Rechtsprechung ist vor allem auf die des Rhld-Pf. VerfGH38 und des OVG Münster39 hinzuweisen. Dem stehen aber auch entgegengesetzte Urteile entgegen, wie beispielsweise das des OVG Sachsen-Anhalt40. Hinzu kommt die Frage, inwieweit ein die Klagebefugnis eines priva36
Vgl. näher Podszun/Palzer, NJW 2015, 1496 (1497 ff.). Vgl. BGHZ 199, 289 (297 ff.); siehe dazu auch Monopolkommission, Hauptgutachten XX, Kap. V Rn. 1276 ff. 38 DVBl 2000, 992 (995). 39 NVwZ 2003, 1520 ff. 40 NVwZ-RR 2009, 347 f. 37
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ten Konkurrenzunternehmens begründendes einklagbares subjektiv-öffentliches Recht gegeben ist. Auch hierzu schwankt die Rechtsprechung sehr.41 Ganz allgemein gilt nach wie vor jene Rechtsprechung, vor allem des BVerwG,42 der zufolge ein Rechtsschutz privater Konkurrenzunternehmen gegenüber öffentlichen bzw. kommunalen Wirtschaftsunternehmen nur dann anerkannt werden kann, wenn die private Wirtschaftstätigkeit nicht unmöglich gemacht oder unzumutbar eingeschränkt wird bzw. wenn eine unerlaubte Monopolisierung verfolgt wird. Auch diese Rechtsprechung hat, wie die zurückliegenden Jahrzehnte zeigen, zu keinem wirksamen Konkurrenzschutz für private Konkurrenzunternehmen geführt. Zusammenfassend kann nur mit F. Schoch konstatiert werden, dass seit Jahrzehnten für den Konkurrentenschutz im Gemeindewirtschaftsrecht ein „Totalausfall des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes“ zu konstatieren war bzw. ist.43 An dieser sehr grundlegenden Feststellung ändern zwar die vorstehenden Änderungen oder Verbesserungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung manches. Aber von einem insgesamt wirklich wirksamen Konkurrentenschutz kann nach wie vor nicht ausgegangen werden. III. Verfassungsrechtliche Kritik 1. Grundrechtlicher Schutz privater Wirtschaftstätigkeit Eine Lösung der hiesigen Problematik kann nach alledem nur über die Ebene des Verfassungsrechts und hier namentlich der Grundrechte erfolgen. Die private Wirtschaftstätigkeit ist vor allem über die Grundrechte aus Art. 12, Art. 14 und Art. 2 Abs. 1 GG auch subjektiv-rechtlich geschützt. Das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 schützt jedwede Berufs- und Gewerbetätigkeit, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um eine daseinsvorsorgerische oder nicht-daseinsvorsorgerische Tätigkeit handelt.44 Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG schützt auch das Unternehmen bzw. das unternehmerisch geschützte Produktiveigentum.45 Ergänzend tritt das Generalfreiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG hinzu, das nach herrschender Meinung auch die Wettbewerbsfreiheit garantiert. Nach hiesiger Auffassung gilt das gleiche für den Verbund von Art. 12 mit Art. 14 GG (Vorrang der Spezialgrundrechte gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG).46 Praktische Unterschiede bestehen insoweit aber nicht. In jedem Falle ist auch die Wettbewerbsfreiheit grundrechtlich, und
41
Siehe hierzu m. w. N. Breuer, WiVerw 2015, 169 f. Vgl. BVerwGE 39, 329 (336 ff.); 71, 183 (193 f.); BVerfG, DVBl 1995, 152. 43 Vgl. FS Wahl, S. 574. 44 Vgl. näher m. N. zum verfassungsrechtlichen Berufsbegriff Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 28 ff., 266 ff., 382 ff. 45 Vgl. näher sowie m. N. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 95 ff. 46 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 130 ff. 42
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dies auch mit subjektiv-rechtlichem Gehalt, verfassungsrechtlich geschützt.47 Für die öffentliche (kommunale) Wirtschaftsbetätigung gilt dieser Grundrechtsschutz aus Art. 12 GG dagegen nicht.48 Hinsichtlich der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG hat das BVerwG allerdings entschieden, dass die Übertragung der Abfallbeseitigung auf öffentlich-rechtliche Körperschaften gemäß § 3 Abs. 2 AbfG gegenüber privaten Entsorgungsunternehmen nicht schon deshalb einen enteignenden Eingriff zur Folge hat, weil diese hierdurch einen Teil ihres bisherigen Kundenstamms verlieren.49 Dies bedeutet jedoch nichts anderes, als dass das Grundrecht aus Art. 14 GG sowie auch das aus Art. 12 Abs. 1 GG kein Recht auf unveränderten Umsatz enthalten. Beide Grundrechte greifen tatbestandlich erst dann ein, wenn – vor allem mittels entsprechender Monopolisierung der Abfallentsorgung bei einem öffentlich-rechtlichen Aufgabenträger – für die privaten Konkurrenten ruinöse, also für das Unternehmen bzw. das Recht zur gewerblichen Tätigkeit insgesamt negierende Rechtsfolgen entstehen. Im Übrigen hat das BVerwG ausdrücklich anerkannt, dass die privaten Entsorgungsunternehmen über den prinzipiellen Schutz vor allem der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verfügen.50 Wenn ein kommunales Unternehmen zu einem privaten Unternehmen in Konkurrenz tritt, so kann dies durchaus als prinzipieller Grundrechtseingriff gewertet werden (Eingriff durch Konkurrenz).51 Denn die Grundrechte schützen nicht nur vor hoheitlichen Eingriffen in grundrechtliche Freiheiten, sondern sie schützen auch vor entsprechend faktischen Rechtsbelastungen, wie sie beispielsweise auch in der Aufnahme einer konkurrierenden Tätigkeit liegt.52 Mit anderen Worten: Das Kriterium eines verfassungsrelevanten Grundrechtseingriffs ist nicht auf entsprechend hoheitliche Maßnahmen beschränkt, sondern greift sehr viel weiter aus. Am deutlichsten wird dies dort, wo nicht nur Konkurrenz geschaffen wird, sondern sogar Monopolisierung erfolgt. Wenn ein öffentlich-rechtliches Monopol private Wirtschaftstätigkeit total verdrängt oder beseitigt, gelten nach der Rechtsprechung des BVerfG die strengen Voraussetzungen des sog. „Apotheken-Urteils“. Hiernach handelt es sich um eine objektive Berufungszulassungsregelung im Bereich der freien Berufswahl und eine solche Regelung ist nur dann statthaft, wenn sie der „Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Ge47 Vgl. BVerfGE 32, 311 (317); 46, 120 (137 f.); 53, 96 (98); 105, 252 (265); 106, 275 (298); 110, 274 (288); Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 87 f., 131 f., 144; Bäcker, Wettbewerbsfreiheit als normgeprägtes Grundrecht, 2007, S. 124 ff., 149 ff., 261 ff. 48 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 110, 412 ff. 49 Vgl. E. vom 16. 06. 2008 (VII C 34/77); s. kritisch hierzu Scholz, FS Hopt, S. 2923. 50 Vgl. die Nachweise 48. 51 Vgl. bereits Scholz, AöR 97, 305 f.; ders., FS Sieg, S. 518 f.; ders., Wirtschaftsaufsicht, S. 104 ff., 122 ff.; siehe auch z. B. Schoch, FS Wahl, S. 573 ff.; siehe schließlich auch BVerfGE 105, 279 (300 ff.). 52 Ein grundrechtsrelevanter Eingriff als solcher setzt allerdings mehr als die bloße Konkurrenz voraus; vgl. z. B. BVerwGE 39, 336 ff.; Badura, Wirtschaftsverfassung, S. 241; Uechtritz/Otting/Olgemöller (Fn. 1), S. 116 ff.
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meinschaftsgut“ dient.53 Solche Voraussetzungen können sicherlich auch in Bereichen der Daseinsvorsorge gegeben sein. Aber wenn man beispielsweise den Bereich der Abfallentsorgung betrachtet, so wird sehr rasch deutlich, dass die Voraussetzungen für eine solche Monopolisierungsmaßnahme in keiner Weise gegeben sind. Das private Entsorgungsgewerbe funktioniert durchaus; gegenläufige Gefährdungen sind nicht erkennbar – eine Feststellung, von der auch das KrWG deutlich ausgeht. Aber Monopolisierungen können nicht nur durch entsprechenden Gesetzesakt, sondern auch durch faktisches Verhalten der öffentlichen Hand erreicht werden. Dies bedeutet, dass auch faktische Monopolisierungen und ggf. auch (nur) sukzessiv-faktisch erfolgende Monopolisierungen an den Grundrechten aus Art. 12 sowie aus Art. 14 GG zu messen sind.54 Diese Feststellung führt wiederum ganz speziell zum Gemeindewirtschaftsrecht und seinen daseinsvorsorgerischen Energien zurück. Wenn gemeindliche Wirtschaftsunternehmen über ihre Wettbewerbsvorteile einen privaten Konkurrenten buchstäblich vom Markt verdrängen und damit ein faktisch-eigenes Monopol begründen, so handelt es sich damit um einen verfassungsrechtlich relevanten Vorgang der Monopolisierung, ohne dass die strengen Voraussetzungen, die das BVerfG aufgestellt hat, erfüllt wären. Das gleiche gilt für jene Vorschriften im Gemeindewirtschaftsrecht, die die Bereiche der Daseinsvorsorge von vornherein aus dem allgemeinen Subsidiaritätsvorbehalt herausnehmen und damit sogar von Gesetzes wegen alle Voraussetzungen für ein kommunales Daseinsvorsorge-Monopol schaffen. Diese Vorschriften sind sämtlich mit den vom BVerfG aufgestellten Regeln zur Begründung von Monopolen nicht zu vereinbaren. Denn da der Funktionsbereich der Daseinsvorsorge nicht von vornherein öffentlich-rechtlich qualifiziert ist, da die Daseinsvorsorge vielmehr – in prinzipiell gleichberechtigter Form – von öffentlichen wie privaten Aufgabenträgern wahrgenommen wird, ist auch der Gesetzgeber nicht berechtigt, die Daseinsvorsorge als solche den öffentlich-rechtlichen (kommunalen) Aufgabenträgern vorzubehalten. Dies bedeutet nichts anderes als die rechtliche und implizit auch faktische Monopolisierung von wirtschaftlichen Betätigungen, die – auf Seiten der privaten Konkurrenten – unter den Grundrechtsschutz der Art. 12 und 14 GG fallen. Auch die Grundrechte aus Art. 12 und Art. 14 sowie aus Art. 2 Abs. 1 GG vermitteln allerdings keinen absolut wirksamen Konkurrenten- bzw. Drittschutz für private Wettbewerber. Ein solcher Schutz besteht nur dann, wenn in unverhältnismäßiger Weise in die Grundrechte der Privaten eingegriffen wird. Maßgebend ist also, wie überhaupt und generell im Bereich der Grundrechte, das Übermaßverbot. Hiernach sind staatliche Beschränkungen für private Freiheiten bzw. entsprechende Eingriffe nur dann verfassungsgemäß, wenn sie erforderlich, zweckgeeignet und verhältnismäßig sind. Diese Kriterien gelten folgerichtig auch für das Gemeindewirtschaftsrecht, wobei sich bereits an dieser Stelle ergibt, dass gemeindewirtschaftsrechtliche 53
Vgl. grundlegend BVerfGE 7, 377 (378 Ls. 6 c). Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 419 f.; Langer, Monopole als Handlungsinstrumente der öffentlichen Hand, 1998, S. 149 ff., 171 ff., 226 ff. 54
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Regelungen, die die Daseinsvorsorge allgemein den kommunalen Unternehmen vorbehalten, weder erforderlich noch verhältnismäßig sind. 2. Gebot der Wettbewerbsgleichheit Wenn Privatwirtschaft und öffentliche Wirtschaft miteinander konkurrieren, so gilt gemäß Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den grundrechtlichen Garantien der Wettbewerbsfreiheit das Gebot der Wettbewerbsgleichheit.55 Wettbewerbsgleichheit in diesem Sinne bedeutet, dass alle Wettbewerbsteilnehmer unter prinzipiell gleichen Voraussetzungen am Wettbewerb teilnehmen dürfen, also die gleichen Erfolgschancen haben sollen. Der einzelne Wettbewerbsteilnehmer hat ein Recht auf solche Wettbewerbsgleichheit, die öffentliche Hand bzw. der staatliche Gesetzgeber ist insoweit zur wettbewerblichen Neutralität verpflichtet.56 Tatbestandlich bezieht sich das Gebot der Wettbewerbsgleichheit auf die wirtschaftliche Betätigung im Wettbewerb, wobei der Regelungsbereich staatlicher oder kommunaler Daseinsvorsorge keine automatischen Privilegierungen erlaubt. Denn daseinsvorsorgerische Betätigung ist wirtschaftliche Betätigung, und die wirtschaftliche Betätigung fordert im Fall des Wettbewerbs Gleichheit und Neutralität. Dies folgt zwingend aus dem Kontext von Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 12 / Art. 14 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG. Für die hiesige Problematik folgt hieraus, dass alle wettbewerblichen Schieflagen, wie sie oben dargestellt wurden (vgl. unter I. 3.), auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand gestellt werden müssen. Auszugehen ist dabei vom Gebot der Wettbewerbsgleichheit in dem Sinne, dass kommunale und private Daseinsvorsorge tatbestandlich prinzipiell gleich zu behandeln sind, dass also entsprechende Begünstigungen der Kommunalwirtschaft in der Regel verfassungsrechtlich unstatthaft sind. 3. Folgerungen für das Gemeindewirtschaftsrecht Da den privatwirtschaftlichen Konkurrenten der gemeindlichen Wirtschaftsunternehmen ein subjektives Recht auf eigene gewerbliche Betätigung sowie auf Wettbewerbsgleichheit zusteht, ist das gemeindewirtschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip eindeutig einem wirksamen privaten Konkurrentenschutz zu öffnen. Soweit Regelungen im Gemeindewirtschaftsrecht dieser Forderung nicht genügen, erweisen sie sich verfassungsrechtlich als korrekturbedürftig. Verfassungskonform ist eine Regelung wie das gemeindewirtschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip nur dann, wenn einem konkurrierenden (daseinsvorsorgerischen) Privatunternehmen das Recht auf eigene Betätigungsfreiheit und Wettbewerbsgleichheit in subjektiv-rechtlicher, 55
Zum grundrechtlichen Schutz der Wettbewerbsgleichheit vgl. Leisner, BB 70, 405 (410); ders., DVBl 1989, 1025 (1031); Friauf, DVBl 1969, 368 (371 f.); Brohm, Menger-Festschrift, 1985, S. 235 (245); Wallerath, NJW 2001, 781 (786 ff.); Scholz, Entflechtung und Verfassung, 1981, S. 96 f.; ders., Wirtschaftsaufsicht, S. 179 ff.; ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 161; ders., FS Hopt, S. 2929 mit N. 37. 56 Vgl. auch Bäcker (Fn. 47), S. 271 ff.
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also (verwaltungsgerichtlich) einklagbarer Form eröffnet wird.57 Wenn ein Gesetz öffentlichen Wirtschaftsunternehmen besondere Privilegien oder wettbewerbliche Vorteile einräumt, so müssen diese verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Insoweit erweist sich erneut der Grundsatz des Übermaßverbots als maßgebend. Kommunale Versorgungs- oder Wirtschaftsunternehmen dürfen nur dann begünstigt werden, wenn hierfür ein Erfordernis besteht und wenn bei dessen Ausgestaltung oder Gewährung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Monopolisierungen zugunsten kommunaler Wirtschaftsunternehmen sind nach den vom BVerfG entwickelten Rechtsmaßstäben nur dann zulässig, wenn dies zur „Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ notwendig ist. Mit anderen Worten: Die jeweils zuständige Gemeindebehörde muss ihrerseits den Nachweis für ein solches Regelungserfordernis antreten und führen. Der Gemeinde steht insoweit keine Einschätzungsprärogative o. ä. zur Verfügung. Das BVerfG verlangt klar und deutlich den von der Gemeinde zu führenden Beweis.58 Das Subsidiaritätsprinzip muss entsprechend strikt und justiziabel ausgestaltet bzw. gehandhabt werden. Das Subsidiaritätsprinzip ist vor allem verfahrensrechtlich entsprechend zu öffnen59 und in seiner impliziten Verwandtschaft mit dem grundrechtsschützenden Übermaßprinzip zu erfahren bzw. interpretativ umzusetzen.60 Eine wesentliche Rolle spielt hierbei die Gesetzgebung, die ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Wahrung des Übermaßverbotes gerade über entsprechende Subsidiaritätsregeln genügen kann.61
57 Vgl. auch z. B. Schoch, FS Wahl, S. 573 ff.; Huber, Konkurrenzschutz, S. 22 ff., 37 ff., 74 ff., 126 ff., 312 ff., 535 f.; Ehlers, 64. DJT, S. 39; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 109 ff., 111 ff., 229 f., 302, 367; ders., FS Hopt, S. 2923 ff.; siehe auch Weidemann, DVBl 2000, 1579 f. 58 Siehe auch bzw. allgemein Ronellenfitsch (Fn. 1), S. 36; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 224. 59 Vgl. schon Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 224. 60 Vgl. Scholz, FS Hopt, S. 2927 f.; allgemein siehe zum Kontext von Subsidiaritätsprinzip und Übermaßverbot Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 88 ff.; Scholz, FS Isensee, 2007, S. 295 (305 ff.). 61 Vorbildlich z. B. § 5 Abs. 3 S. 1 SGB XII zur Wohlfahrtspflege.
Der Kampf um die Sonntagsladenöffnung – die (unheilige) Allianz zwischen Kirchen und Gewerkschaften Von Achim Schunder, Frankfurt Ein Festschriftbeitrag zu Ehren von Matthias Schmidt-Preuß ist eine besondere Herausforderung, hat doch der Jubilar nicht nur im Verwaltungs- und Verfassungsrecht, sondern in den letzten Jahren im Regulierungsrecht bahnbrechende wissenschaftliche Arbeiten geleistet. Mit diesem kleinen Beitrag möchte ich sozusagen an eine seiner ersten größeren Arbeiten anknüpfen, nämlich seine Habilitationsschrift, die „Kollidierende(n) Privatinteressen im Verwaltungsrecht – das subjektive öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis“.1 Das subjektiv-öffentliche Recht und die damit einhergehende Klage- oder Antragsbefugnis nach §§ 42 Abs. 2, 47 Abs. 2 VwGO hat Schmidt-Preuß – vor allem auf der Ebene der divergierenden Grundrechtspositionen – literarisch geprägt. Aus diesem Anlass erscheint es mir angezeigt, die in jüngster Zeit (unheilige) Allianz zwischen Kirchen und Gewerkschaften, die sich kollektiv gegen die Wahrnehmung der nur marginal nach den Ladenöffnungsgesetzen der Länder eingeräumten Befugnis, die Verkaufsstellen an Sonntagen offenzuhalten, auf ihre Legitimation, insbesondere der Gewerkschaften, die Freigabe der Ladenöffnung anzugreifen, näher zu untersuchen. I. Einleitung Es ist vermeintlich ruhig geworden um das Ladenschlussgesetz, aber weit gefehlt: In Anlehnung an Asterix und das gallische Dorf muss man sagen, dass noch ein Territorium der Ladenöffnung vehement umkämpft ist, nämlich die Freigabe der Ladenöffnung an in der Regel maximal acht Sonntagen im Jahr. Doch der Reihe nach: Das Ladenschlussgesetz zählt seit Mitte der achtziger Jahre bis zum Jahr 2006 zu einem der umkämpften und streitbefangenen Materien des Wirtschaftsverwaltungsrechts. Durch die am 1. September 2006 in Kraft getretene Föderalismusreform I2 ist die Gesetzgebungskompetenz für das Ladenschlussrecht vom Bund auf die Länder übergegangen.3 Mit dieser Reform und dem Föderalismusreform-Begleitgesetz ist Art. 74
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Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992. BGBl I, 2034, 2098. 3 Kingreen/Pieroth, NVwZ 2006, 1221. 2
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Abs. 1 Nr. 11 GG, das Recht des Ladenschlusses, in die ausschließliche Länderkompetenz übertragen worden. Das BVerfG hatte im Jahr 20044 dazu ausgeführt: „Eine bundesrechtliche Regelung des Ladenschlusses ist für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder für die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse nicht erforderlich. In den Gesetzesmaterialien zur Novellierung des Ladenschlussgesetzes im Jahr 1996 finden sich keine Darlegungen zum Vorliegen dieser Voraussetzungen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass insbesondere die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Deutschen Wirtschaftsraums oder die Vermeidung der Rechtszersplitterung eine bundesstaatliche Rechtsetzung über die Ladenöffnungszeiten erfordere. Der Gesetzgeber hat durch weitreichende Ermächtigungen an die Bundesländer zur Schaffung von Ausnahmen selbst zum Ausdruck gebracht, dass er einheitliche rechtliche Regelungen für das gesamte Bundesgebiet nicht für geboten erachtet.“
Mit dieser Rechtsprechung haben die Karlsruher Verfassungsrichter gleichsam den Boden dafür bereitet, dass zum einen der Ladenschluss in die Länderkompetenz überführt werden konnte und zum anderen aber auch, dass eine einheitliche Regelung nicht erforderlich ist, sondern vielmehr jedes Bundesland nach länderspezifischen Bedürfnissen die jeweilige Ladenöffnung flexibel und der Region angepasst zu regeln vermag. Damit hat das BVerfG die unterschiedlichen Öffnungszeiten in Form eines „Flickenteppichs“ gleichsam verfassungsrechtlich legitimiert. Auf den Begriff werde ich später im Rahmen der Judikatur des BVerwG zurückkommen. Soweit ein Bundesland von dieser Zuständigkeit noch keinen Gebrauch gemacht hat, bleibt es mithin nach Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG bei der Geltung des bisherigen Ladenschlussgesetzes, das folglich eine Reserve- oder Auffangfunktion erfüllt. Allerdings haben bis auf den Freistaat Bayern alle Bundesländer mittlerweile eigene Ladenöffnungsgesetze. Zentral für die hier zu behandelnde Fragestellung ist § 14 LSchlG, der allgemein die Grundlage für die Öffnung an Verkaufssonntagen regelt. Nach § 14 Abs. 1 LSchlG dürfen abweichend von § 3 Abs. 1 Nr. 1 LSchlG Verkaufsstellen aus Anlass von Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen an jährlich höchstens vier Sonn- und Feiertagen geöffnet sein. Diese Tage werden von den Landesregierungen oder den von ihnen bestimmten Stellen durch Rechtsverordnung freigegeben. In Absatz 2 ist unter anderem geregelt, dass die Öffnung fünf zusammenhängende Stunden nicht überschreiten darf und spätestens um 18:00 Uhr enden soll sowie außerhalb der Zeit des Hauptgottesdienstes liegen muss. Diese Regelung hat nun in den meisten Bundesländern Pate für die jeweiligen Ladenöffnungsgesetze gestanden. Allerdings liegt die Bandbreite der verkaufsoffenen Sonntage zwischen drei und maximal acht, wobei die überwiegende Mehrzahl der Bundesländer sich an den vier verkaufsoffenen Sonntagen nach § 14 LSchlG orientiert.5
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BVerfG, Urteil vom 9. 6. 2004, NJW 2004, 2363. Preusche, GewA 2017, 136 und Ambs, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetzte, LSchlG, EL Aug. 2017, Vorb. Rn. 1 – 3. 5
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II. Das Problem In den letzten drei Jahren hat es nun eine Vielzahl von verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen bis hin zum BVerwG gegeben, wonach gegen Entscheidungen der Verwaltungen, meist durch Allgemeinverfügung oder den Verordnungsgeber über die Ausweitung gesetzlicher Ladenöffnungszeiten an Sonntagen, mitunter Kirchengemeinden, aber vor allem Gewerkschaften geklagt bzw. Normenkontrollanträge gestellt haben. Die hier zu erörternde Fragestellung lautet: Steht den Gewerkschaften ein Antrags- bzw. Klagerecht nach §§ 42 Abs. 2, 47 Abs. 2 VwGO zu? 1. OVG Bautzen aus dem Jahr 2017 Stellvertretend soll hier zunächst eine Entscheidung des OVG Bautzen6 stehen. In der Entscheidung wendet sich der Antragsteller gegen eine Verordnung des Antragsgegners über das Offenhalten von Verkaufsstellen an Sonntagen im Jahr 2017. Antragsteller ist die bundesweit tätige Gewerkschaft ver.di. Ihr Tätigkeitsbereich erstreckt sich unter anderem auch auf den Einzelhandel. Sie hat im Freistaat Sachsen mehrere Tausend Mitglieder, von denen ein Großteil im Einzelhandel beschäftigt ist. Die streitgegenständliche Verordnung wurde am 14. Dezember 2016 vom Stadtrat der Antragsgegnerin beschlossen und am 25. Februar 2017 im Amtsblatt veröffentlicht. Die Gewerkschaft hat nun beim OVG Bautzen ein Normenkontrollverfahren eingeleitet. Wichtig ist in diesem Kontext, dass, wie in vielen Kommunen – so auch in dem streitbefangenen Fall – unter dem Titel „Allianz für den freien Sonntag“ in einer Vielzahl von Verfahren die Verwaltungsgerichte bzw. die Oberverwaltungsgerichte angerufen wurden, um die in der Regel maximal vier freien verkaufsoffenen Sonntage verbieten zu lassen. In vielen der von mir untersuchten Urteile ist der Parteivortrag von ver.di dergestalt, dass man plane, am Sonntag eine Informationsveranstaltung „Hände weg von der Sonntagsarbeit“ durchzuführen. Der Befund der instanzgerichtlichen Entscheidungen ist nun ernüchternd, wie auch das Judikat des OVG Bautzen zeigt. Das Gericht hegt keinen Zweifel daran, dass die Gewerkschaft antragsbefugt ist. Dazu führt es aus: Hier kann dahinstehen, ob die Durchführung der von der Antragstellerin gemeinsam mit der „Allianz für den freien Sonntag“ für den 1. Oktober 2017 geplanten Diskussionsveranstaltung zum Thema „Sonntagsarbeit – Nein Danke!“, ernsthaft beabsichtigt oder von ihr nur vorgeschoben wurde wie die Antragsgegnerin einwendet. Eine Gewerkschaft ist nämlich bereits dann in ihrem Tätigkeitsbereich betroffen, wenn sich die Öffnung der Verkaufsstellen an einem Sonntag potentiell auf die Grundrechtsverwirklichung auswirken kann. Darüber hinaus führen die Bautzener Richter aus, unter Rückgriff auf eine Entscheidung des BVerwG von Ende 2015,7 wenn jede Gemeinde in Sachsen 6 7
OVG Bautzen, Urteil vom 31. 8. 2017, Kommjur 2017, 415. BVerwG, Urteil vom 11. 11. 2015, NVwZ 2016, 689.
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ermächtigt werde, jährlich an bis zu vier Sonntagen die Öffnung von Verkaufsstellen zu gestatten, ist eine Gewerkschaft in ihrem Tätigkeitsbereich betroffen, insbesondere würde so auf das Jahr gesehen ein „Flickenteppich“ entstehen, der die Organisation gewerkschaftlicher Tätigkeit an Sonntagen spürbar erschweren könne. 2. VG Aachen aus dem Jahr 2017 Ein weiteres Beispiel soll das Problem abermals verdeutlichen, nämlich ein Beschluss des VG Aachen vom 7. April 2017 – 3 L520/17.8 Auch in dieser Entscheidung hatte die Antragsgegnerin, die Ordnungsbehörde der Stadt Hagen, einen verkaufsoffenen Sonntag an einem bestimmten Tag genehmigt, der von ver.di angegriffen worden ist. Nach § 6 des nordrhein-westfälischen Ladenöffnungsgesetzes, kann die Ordnungsbehörde durch Rechtsverordnung, ebenso wie im vorbezeichneten Fall, an vier Sonntagen im Jahr die Öffnungszeiten nach dem Maßstab des § 14 LSchlG genehmigen. Das VG Aachen geht ebenso wie das OVG Bautzen relativ „schlank“ von der Antragsbefugnis der Gewerkschaft aus, und zwar: „Diese Vorschrift (§ 6 I LÖffG NRW) ist auch den Interessen von Vereinen und Gewerkschaften zu dienen bestimmt, deren Mitglieder von einer auf ihrer Grundlage ergangenen Verordnung betroffen sind und die in ihrer Tätigkeit vielfältig auf arbeitsfreie Sonntage angewiesen sind. Die dort geregelten Voraussetzungen für den Erlass einer Rechtsverordnung konkretisieren auf der Ebene des einfachen Rechts den verfassungsrechtlichen Auftrag zum Schutz der Sonn-und Feiertagsruhe aus Art. 140 GG iVm Art. 139 WRV. Der Schutzauftrag ist auch darauf gerichtet die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit aus Art. 9 GG zu stärken. Eine Gewerkschaft die glaubhaft gemacht hat, verschiedene Mitglieder seien in Verkaufsstellen beschäftigt, die möglicherweise von der Befugnis zur Sonntagsöffnung Gebrauch machen werden, kann sich darauf berufen, die Voraussetzungen der Verordnung hätten nicht vorgelegen. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit kann auch mittelbare Beeinträchtigungen der koalitionsmäßigen Betätigung erfassen und diesen entgegenstehen. Erforderlich ist nicht, dass die Antragstellerin an den streitgegenständlichen Sonntagen eigene Veranstaltungen plant. Vielmehr reicht, dass sich Mitglieder der Antragstellerin wegen einer sich für sie aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen stellenden Notwendigkeit an einem von dieser Vorschrift erfassten Sonntage zu arbeiten, gehindert sehen könnten, an etwaigen Veranstaltungen der Gewerkschaft teilzunehmen. Dies kann auch nicht nur als geringfügige Beeinträchtigung angesehen werden. Sodann folgen die Ausführungen zum vormals bereits erwähnten Flickenteppich.“
3. BVerwG vom 11. November 2015 In dieser Entscheidung9, auf die sich viele Instanzgerichte berufen, hatten die Leipziger Bundesrichter über eine Rechtsverordnung aus Bayern anlässlich des Eichinger Frühjahrsmarktes nach Maßgabe von § 14 LSchlG zu befinden. Auch in die8
VG Aachen, Beschluss vom 07. 04. 2017, BeckRS 2017, 108857. BVerwG, Urteil vom 11. 11. 2015, NVwZ 2016, 689 m. krit. Anm. Schunder, NVwZ 2016, 694. 9
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sem Fall war Antragsteller des Normenkontrollverfahrens die Gewerkschaft ver.di. Die zentrale Argumentation des BVerwG im Hinblick auf die Antragsbefugnis von ver.di ist folgende: § 14 LSchlG diene dem Schutz des Interesses von Vereinigungen und Gewerkschaften am Erhalt günstiger Rahmenbedingungen für gemeinschaftliches Tun und sei damit drittschützend. Die Sonntags- und Arbeitsruhe nach Art. 140 GG iVm Art. 139 WRV als Tage der seelischen Erhebung und Arbeitsruhe vermittele einen objektivrechtlichen Schutzauftrag, der bei Nichtbeachtung individualschützend wirke. Hierzu zählen auch die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit nach Art. 9 GG. Der zeitliche Gleichklang einer für alle Bereiche regelmäßigen Arbeitsruhe ist ein grundlegendes Element für die Wahrnehmung der verschiedenen Formen des sozialen Lebens. Rhythmisch wiederkehrende Tage kollektiver Arbeitsruhe und damit verbundenes synchrones Takten des sozialen Lebens erleichtern auch das gemeinschaftliche Tun im Rahmen von Vereinigungen und Gewerkschaften. Wenngleich die Gewerkschaft nicht unmittelbar Adressat der Rechtsverordnung nach dem Ladenschlussgesetz sei, so sei sie dennoch in ihrem Tätigkeitbereich betroffen. Zwar sei fraglich, ob dies nicht nur eine geringfügige Beeinträchtigung darstelle. Die Erheblichkeitsschwelle sei aber deshalb überschritten, weil die Gesamtbelastung, die sich für die landesweite Betätigung von ver.di durch den möglichen Erlass mehrerer kommunaler Verordnungen ergebe, erheblich sei. Damit entstünde über das ganze Jahr ein „Flickenteppich“ sonntäglicher Ladenöffnung, der die Organisation gemeinschaftlicher gewerkschaftlicher Tätigkeiten an Sonntagen erschweren könne. Ich möchte nun nicht so weit gehen, diese Entscheidung als „Karnevalsentscheidung“ zu titulieren, denn die 5. Jahreszeit, die just am 11. November beginnt, ist nun sicherlich nicht gerade prägend für Sachsen, gleichwohl haben es sich die Leipziger Bundesrichter, im Hinblick auf die Antrags- bzw. Klagebefugnis der Gewerkschaft nicht nur zu leicht im Hinblick auf die Glaubhaftigkeit des Parteivortrags gemacht, nein, sie stellen auch die dogmatischen Grundlagen für den subjektiv öffentlichen Rechtsschutz hinten an und beleuchten diesen – was indes erforderlich ist – nicht.
III. Dogmatische Grundlagen und Kritik 1. Sonntagsruhe nach Maßgabe von Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV Ohne Zweifel ist nach Verfassungsrecht der Sonntag als ein „Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ geschützt, wie es Art. 139 WRV formuliert: Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt (unverändert übernommen durch Art. 140 GG). Naturgemäß prallen hier die divergierenden Grundrechtspositionen auf der einen Seite der Unternehmerfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG und dem Schutz der Arbeitnehmer an Freiheit vor Arbeit an Sonntagen aus Art. 12 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG aufeinander, so dass ein Ausgleich dieser Interessen zu schaffen ist. Auf der anderen Seite ist selbstverständlich, dass die Ladenöffnung die Sonntags-
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ruhe stören kann, was indes nicht bedeutet, dass Letztere im Sinne einer „TotalRuhe“ zu sichern wäre.10 Selbst ein religiös determinierter Sonntagsschutz verlangt nicht, dass Sonntagsarbeit zur Gänze unzulässig wäre. Wäre dies der Fall, so wären alle Kliniken zu schließen, ebenso Pflegeeinrichtungen und Versorgungsbetriebe etc., was natürlich im Sinne der Funktionsfähigkeit unseres Staates absurd wäre. Also verfolgt der Sonntagsschutz im gewissen Maße eine Arbeitsruhe für die Arbeitnehmer, allerdings nicht in einem umfassenden Maße.11 Aus dieser objektiv rechtlichen Wertung oder dem staatlichen Schutzauftrag folgt sicherlich ein subjektives Recht der Arbeitnehmer und als Institution auch der Religionsgemeinschaften, die zudem über Art. 4 GG abgesichert sind, nicht aber zugleich ein Recht der Gewerkschaften, weil sie nicht in die Schutzintention dieser Norm einbezogen sind.12 2. Subjektives-öffentliches Recht der Gewerkschaften a) Vorschriften der Ladenöffnungsgesetze Das subjektive öffentliche Recht ist zunächst als normativ eingeräumte, individuelle Rechtsmacht zu verstehen. Nach heutigem Verständnis ist maßgeblich, dass Normen neben ihrer objektiven Regelungsfunktion zugleich auch den Schutz privater Interessen bezwecken. Daher ist nach herrschender Auffassung das subjektive öffentliche Recht nach Maßgabe der Schutznormtheorie zu bestimmen.13 Die Anerkennung subjektiver öffentlicher Rechte hängt mithin vom Vorliegen eines Rechtssatzes ab, der nicht nur im öffentlichen Interesse erlassen wurde, sondern – zumindest auch – dem Schutz der Interessen der Bürger oder der sie beanspruchenden Institution zu dienen bestimmt ist. Maßgeblich ist mithin der gesetzlich bezweckte Interessenschutz. Fehlt dieser, so handelt es sich bei einer durch die Norm bewirkten Begünstigung oder Belastung um einen schlichten Rechtsreflex. In der Auswertung der verwaltungsgerichtlichen Judikatur ist, wie vorstehend bereits erwähnt, vielfach die jeweilige Norm des Landes-Ladenöffnungsgesetzes, die an vier Sonntagen die Ladenöffnung ermöglicht, als Schutznorm zu Gunsten der Gewerkschaften angesehen worden.14 Nun: Die jeweiligen landesrechtlichen Ladenöffnungsregelungen, vergleichbar § 14 LSchlG, sind objektiv rechtliche Normen, die ausschließlich eine ausnahmsweise Sonntagsladenöffnung ermöglichen. Weder aus den Gesetzesmaterialien, noch aus einer Gesamtschau mit anderen Normen des LSchlG noch aus Art. 9 Abs. 1, Abs. 3 GG ergibt sich erkennbar ein Schutzinteresse zu Gunsten der Gewerkschaften, ein Drittschutz ist diesen Normen nicht in-
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Nachweise bei Leisner, NVwZ 2014, 921. Schunder, in: Stober, LSchlG, 4. Aufl. 2000, § 14 Rn. 4 ff. 12 Leisner, NVwZ 2014, 921 mwN. 13 Wahl/Schütz, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Juni 2017, § 42 Rn. 43 ff. 14 s. etwa OVG Bautzen, Urteil vom 31. 8. 2017, KommJur 2017, 415. 11
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härent,15 zumal diesen Normen – wie es Schmidt-Preuß formuliert – kein Konfliktlösungsprogramm inne wohnt.16 Vielmehr ist allenfalls der einzelne Arbeitnehmer als vom Schutzzweck umfasst zu sehen, aber auch dies intendiert diese Regelung nicht, weil der Arbeitsschutz ausdrücklich und nur über § 17 LSchlG und das Arbeitszeitgesetz hinlänglich fixiert ist. Mithin stellen sich diese Normen allenfalls als Rechtsreflex für die Gewerkschaften dar. Daher können diese Ladenschlussvorschriften keine subjektiven Rechtspositionen für Gewerkschaften vermitteln. b) Antrags- und Klagebefugnis aus Art. 9 Abs. 1, Abs. 3 GG Auffällig ist zunächst, dass weder die Instanzgerichte noch das BVerwG17 zwischen dem Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit, Art. 9 Abs. 1 GG, und dem Grundrecht auf Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 GG differenzieren. Dies ist für den Streitgegenstand nicht nur ungenau und fehlsam, zumal sich die meisten Gerichte immer unter Bezug auf das BVerfG aus dem Jahr 200918 berufen, wo die Karlsruher Verfassungsrichter judiziert haben: Sonntagsruhe könne auch für die Rahmenbedingungen des Wirkens der politischen Parteien, der Gewerkschaften und sonstiger Vereinigungen bedeutsam sein und sich weiter auch auf die Möglichkeiten zur Abhaltung von Versammlungen auswirken. Dies mag in dem dem BVerfG-Judikat zu Grunde liegenden Fall noch plausibel erscheinen; gleichwohl ist auch dies ungenau. Denn die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG ist, soweit dieser Tätigkeitsbereich betroffen ist, lex spezialis zu Art. 9 Abs. 1 GG.19 Art. 9 Abs. 3 GG ist zunächst ein Kollektivgrundrecht, das zum einen die Institutionen schützt, zum anderen aber auch die koalitionsmäßige Betätigung wie Werbung und Selbstdarstellung der Gewerkschaften, aber auch Präsenz von Gewerkschaften im Betrieb. Sollte es nun wirklich der Gewerkschaft um die koalitionsmäßige Selbstdarstellung, gerade an einem der vier im Jahr freigegebenen Verkaufssonntage gehen, so wäre naturgemäß ein Vorgehen gegen die legitimierende Regelung von ihrem Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG gedeckt. Vielfach, und dies hat gerade die mannigfaltige Judikatur ergeben, haben die Gewerkschaften für ihre Mitglieder, d. h. aus Motiven von Arbeitnehmern, die gerade nicht an einem Sonntag arbeiten wollen, sich gegen die entsprechende Regelung per Allgemeinverfügung oder Rechtsverordnung gewandt. Ein solches Vorgehen ist dann allerdings nicht vom Koalitionsgrundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG gedeckt, dieses ist eher einer allgemein politischen Aktivität, die nicht dem Schutzbereich unterfällt, zuzuschreiben. Auf der anderen Seite, wenn nun die Gewerkschaften wirklich Mitgliederinteressen wahrnehmen wollen, ist dies eine Frage der Prozessstandschaft und mithin der Verbandsklage. 15
s. Hufen, NVwZ 2001, 1009; Schunder, in: Stober: LSchlG, § 14. Rn. 4 ff. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 350. 17 BVerwG, Urteil vom 11. 11. 2015, NVwZ 2016, 689 Rn. 16. 18 BVerfG, Urteil vom 01. 12. 2009, NVwZ 2010, 570. 19 Höfling, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 69 ff.
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c) Prozessstandschaft – Verbandsklage Ist nun, wie in vielen Fällen, Triebfeder des Handelns der Gewerkschaften, eine sonntägliche Ladenöffnung zu unterbinden, durch die Interessen einzelner gewerkschaftlich gebundener Arbeitnehmer determiniert, so stellt sich die Frage, ob die Gewerkschaften aus diesen Gründen Rechte ihrer Mitglieder wahrnehmen und so gleichsam fremde subjektive Rechte einklagen können. Der gesetzlichen Prozessstandschaft zuzuordnen sind die vom Gesetzgeber normierten Klagemöglichkeiten im Wege der Verbandsklage. Soweit Rechtsnormen Verbänden keine Beteiligungsund Verfahrensrechte oder gar materielle Rechte einräumen, gilt: Verbände können sich im Wege von Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nicht zum Sachwalter der Interessen ihrer Mitglieder oder gar der Allgemeinheit aufschwingen und in zulässiger Weise Klage erheben. Dabei ist unerheblich, ob der Verband die Wahrnehmung der Rechte seiner Mitglieder – etwa durch Satzung – zum Verbandszweck erklärt hat, denn bloßes Binnenrecht einer privatrechtlichen Vereinigung (hier des nichtrechtsfähigen Vereins der Gewerkschaft) schafft keine subjektiv-öffentliche Rechtsposition im Sinne von §§ 42 Abs. 2 und 47 Abs. 2 VwGO.20 Das Verwaltungsprozessrecht kennt kein allgemeines Prozessführungsrecht von Vereinigungen zur Wahrnehmung der Rechte ihrer Mitglieder im eigenen Namen. So schützt etwa Art. 9 Abs. 1 GG nur die die Verwirklichung der Vereinsziele erstrebende Betätigung als solche, nicht aber ein bestimmtes Ergebnis dieser Betätigung. Wird beispielsweise durch staatliche Maßnahmen rein faktisch die Verwirklichung von Vereinszwecken erschwert oder gar unmöglich gemacht, ohne dass diese Maßnahmen die Betätigung des Vereins als solche administrativ behindern, so wird dadurch die Vereinigungsfreiheit nicht einmal berührt. Diese Argumentation kann zwanglos auf das Koalitionsgrundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG übertragen werden, so dass die Gewerkschaften, insbesondere ver.di, auch im Wege einer nicht existenten Verbandsklage keinen subjektiven Rechtsschutz gegen eine Sonntagsladenöffnung beanspruchen können. IV. Ergebnis 1. Auch wenn in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union kein unserem subjektiv determinierten Rechtsschutz vergleichbares System existiert,21 so ist dennoch de lege lata nach Maßgabe von §§ 42 Abs. 2, 47 Abs. 2 VwGO die Möglichkeit einer eigenen Rechtsverletzung kraft Parteivortrags und dessen Plausibilität zu fordern. Wie die Ausführungen gezeigt haben, sind die Verwaltungsgerichte/Oberverwaltungsgerichte im Hinblick auf die Anforderungen der Schlüssigkeit und Plausibilität des Parteivortrags zu oberflächlich. Vielmehr streitet gerade dafür, das Gebot des Ausgleichs der widerstreitenden Interessen nicht jeglichen (unschlüssigen) Parteivortrag „durchzuwinken“, sondern auch diesen auf seine Stringenz zu überprüfen, ob daraus wirklich ein subjektives öffentliches Recht resultieren kann. 20 21
Sennekamp, in: Fehling/Kastner/Stürmer, VwGO, 4. Aufl. 2016, § 42 Rn. 181. s. zuletzt EuGH, NVwZ 2018, Heft 4.
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2. Der vom BVerwG stets betonte Flickenteppich stellt gerade keinen Rechtfertigungsgrund zur Unterbindung der Sonntagsöffnung dar. Auch wenn – zumindest bezogen auf den „schlichten“ Sonntagsschutz – die Leipziger Bundesrichter stets auf das Judikat des BVerfG22 aus 2009 verweisen, so verfängt dies nicht. Das BVerfG hat die Berliner Ladenöffnungsregelung seinerzeit nur deshalb „gekippt“, weil danach an vier aufeinander folgenden Sonntagen, also geballt, eine Freigabe erfolgte. Dies war also vielmehr eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Auf der anderen Seite fordert das BVerfG wegen der Föderalismusreform gerade keine Uniformität beim Ladenschluss, weil es nämlich keine schützenswerten Interessen mit Verfassungsrang gibt, die eine gleichmäßige monotone Regelung erforderlich machen. Von daher mutet der Begriff des Flickenteppichs gleichsam „zirkelschlussverdächtig“ an. Behutsam gegen die Judikatur des BVerwG stellt sich aktuell – allerdings auf Grund des neuen Berliner Ladenöffnungsgesetzes – das OVG Berlin.23 3. Und ein Letztes: Durch eine immer weitergehende restriktive Auslegung der nur marginal möglichen Sonntagsladenöffnung wird dem online-Handel ein Potenzial zugespielt, was sicherlich weder im Interesse des Einzelhandels und noch dem der Gewerkschaften sein kann. Denn die immer mehr verödenden Innenstädte – gerade in kleineren und ländlichen Bereichen – verlieren so ein wesentliches Verkaufspotenzial, was am Ende auch zum Verlust von Arbeitsplätzen führt. Will dies ver.di? Daher sollten die Verwaltungsgerichte wieder zu einer stringenten und am subjektivöffentlich ausgerichteten Rechtsschutz orientierten Prüfung dieser Fälle zurückkehren.
22
BVerfG, Urteil vom 01. 12. 2009, NVwZ 2010, 570. OVG Berlin, NVwZ 2018, 756 m. Anm. Henning, NVwZ 2018, 758. S. auch Schmitz/ Neubert, NVwZ 2018, 704. 23
Europarechtliche Vorgaben für die autonome Sportgerichtsbarkeit – Folgen des Falles Claudia Pechstein Von Rudolf Streinz, München I. Sport und Recht Spätestens seit dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) im Fall Bosman1 musste auch den Sportverbänden klar sein, dass Sport und insbesondere der Berufssport kein rechtsfreier Raum ist und Athleten sich gegen Maßnahmen, die sie in ihrer Berufsfreiheit einschränken, auch vor staatlichen und gegebenenfalls europäischen Gerichten wehren können.2 Der EuGH machte deutlich, dass Sport als wirtschaftliche Tätigkeit dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterfällt und jedenfalls Kollektivregelungen der Sportverbände wegen ihrer mit staatlichen Regelungen vergleichbaren Wirkung mit den Grundfreiheiten des Binnenmarktes und den darin enthaltenen Gewährleistungen des Diskriminierungsverbots und des Beschränkungsverbots vereinbar sein müssen. Wegen der durch das sog. Einplatzprinzip3 begründeten Machtstellung unterliegen die Sportverbände auch dem Kartellrecht.4 Allerdings können Beschränkungsmaßnahmen der Grundfreiheiten und Ausnahmen vom Kartellverbot gerechtfertigt sein, wobei sich die Sportverbände auf das Grundrecht der Verbandsautonomie berufen können, die in der Vereinigungsfreiheit als allgemeinem Rechtsgrundsatz (Art. 6 Abs. 3 EUV) und jetzt kodifiziert in Art. 12 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCh) verankert ist. Konflikte zwischen der durch die Freizügigkeit (Art. 45 AEUV) und darüber hinaus unionsrechtlich (Art. 15 EU-GRCh) und verfassungsrechtlich (Art. 12 GG) geschützten Berufsfreiheit und dem Kartellverbot (Art. 101, Art. 102 AEUV) einerseits und der Verbandsautonomie andererseits sind durch „praktische Konkordanz“ (Konrad Hesse) zu lösen, wobei bestimmte Eigengesetzlichkeiten des Sports zu berücksichtigen sind. 1 EuGH, Urt. v. 15. 12. 1995, Rs. C-415/93, Union royale belge des societés de football association ASBL u. a./Jean-Marc Bosman, Slg. 1995, I-4921. 2 Überall scheint dies allerdings noch nicht der Fall zu sein, vgl. zum Deutschen SeglerVerband Krähe, Anrufung staatlicher Gerichte – eine Unsportlichkeit?, SpuRt 2011, 89. 3 Vgl. dazu Hannamann, Kartellverbot und Verhaltenskoordination im Sport, 2001, S. 54 ff. 4 EuGH, Urt. v. 18. 07. 2006, Rs. C-519/04 P, Meca-Medina und Majcen/Kommission, Slg. 2006, I-6991, Rn. 30, 33. Im Fall Bosman musste der EuGH wegen des festgestellten Verstoßes gegen die Grundfreiheiten auf die diesbezüglichen Ausführungen des Generalanwalts Lenz (Slg. 1995, I-4921/5026 ff.) nicht mehr eingehen.
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Ein solcher Konflikt zeigt sich vor allem bei international wirkenden Dopingsperren. Einerseits werden dadurch die Berufsfreiheit und damit auch die Mobilität des Athleten in besonders gravierender Weise beeinträchtigt. Andererseits fordern Chancengleichheit und Fairness eine effektive Bekämpfung und Sanktionierung von Doping, das auch aus Gründen des Schutzes der Gesundheit – zumal von jugendlichen Athleten – verboten ist. Daher hat der EuGH im Fall Meca-Medina5 zu Recht die Ansicht des in erster Instanz entscheidenden Gerichts (EuG)6 zurückgewiesen, es handle sich dabei um eine „reine Sportregel“,7 die keinen wirtschaftlichen Zweck verfolge und daher vom Anwendungsbereich des Unionsrechts auszunehmen sei. Der Fall zeigt, dass das Spannungsverhältnis zwischen der anerkannten Selbstregulierung des Sports und deren Grenzen das zentrale Element des Sportrechts ist8 und die entscheidende Frage dahin geht, inwieweit der Sport durch die Verbandsgerichtbarkeit und einer durch die Verbände dazu ermächtigten Schiedsgerichtsbarkeit oder durch die staatliche oder europäische Gerichtsbarkeit – neben dem EuGH in Luxemburg kommt wegen der Möglichkeit der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) in Betracht – justiziabel sein soll.9 Diese Frage stellte sich im Fall der von der Internationalen Eislauf-Union (ISU) wegen auffälliger Blutwerte und damit verbundenem Vorwurf eines Dopingverstoßes für zwei Jahre gesperrten Eisschnellläuferin Claudia Pechstein und sie stellt sich nach wie vor: Zwar hat das Schweizerische Bundesgericht die Anfechtung des Schiedsspruchs des Court of Arbitration (CAS) vom 25. November 200910 abgewiesen11 und den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens (Revision) abgelehnt;12 und in Deutschland hat der Bundesgerichtshof (BGH) am 7. Juni 2016 das Urteil des OLG München vom 15. Januar 201513 aufgehoben.14 Wegen der Urteile des Schweizerischen Bundesgerichts hat 5
S. o. Fn. 4, Rn. 33 f. EuG, Urt. v. 30. 09. 2004, Rs. T-313/02, Meca-Medina und Majcen/Kommission, Slg. 2004, II-3291, Rn. 44 ff. 7 Diese auf Kummer, Spielregel und Rechtsregel, in: Hans Merz (Hrsg.), Abhandlungen zum Schweizerischen Recht, 1973, S. 44 (77 ff.) m.w.N. zurückgehende Unterscheidung ist zwar hinsichtlich Tatsachenentscheidungen „auf dem Platz“ zutreffend (vgl. dazu Pfister, Autonomie des Sports, sport-typisches Verhalten und staatliches Recht, in: FS Lorenz, 1991, S. 171 (174 ff.)), erfordert aber Differenzierungen, vgl. dazu Vieweg, Fairness und Sportregeln – Zur Problematik sog. Tatsachenentscheidungen im Sport, in: FS Röhricht, 2005, S. 1255 (1260 ff.). 8 Vgl. dazu Vieweg, Faszination Sportrecht, in: Steiner/Walker (Hrsg.), Von „Sport und Recht“ zu „Faszination Sportrecht“. Ausgewählte Schriften von Vieweg, 2016, S. 689 (706 ff., 752 f.). 9 Zutreffend Kaiser, Sport- und Spielregeln als materielles Nichtrecht? Zur Frage der Justiziabilität von Sport und Spiel, SpuRt 2009, 6 (9 ff.). 10 CAS 2009/A/1912, Claudia Pechstein/International Skating Union (ISU). 11 SchweizBG, Urt. v. 10. 02. 2010, Causa Sport 2010, 185. 12 SchweizBG, Urt. v. 28. 09. 2010. 13 OLG München, SpuRt 2015, 78. 6
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Frau Pechstein aber Individualbeschwerde gegen die Schweiz zum EGMR,15 gegen das Urteil des BGH Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG)16 erhoben. Falls diese erfolglos sein sollte, wird auch gegen Deutschland die Menschenrechtsbeschwerde zum EGMR erhoben werden.17 Somit bleibt die Frage der Rechtfertigung eines (jedenfalls faktischen) Schiedszwangs und – falls diese zu bejahen ist – der europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein damit betrautes Schiedsgericht nach wie vor klärungsbedürftig. Matthias Schmidt-Preuß hat sich mit Grundfragen der Thematik befasst. Seine Habilitation behandelte kollidierende Privatinteressen.18 Gesellschaftliche Selbstregulierung und staatliche Steuerung war Thema seines Staatsrechtslehrerreferats in Dresden.19 Sein Interesse am Sport und den europarechtlichen Vorgaben für dessen rechtliche Regelung zeigt sich in der Behandlung des Falles Olivier Bernard, in dem der EuGH20 die im Bosman-Urteil angesprochene Zulässigkeit von Ausbildungsentschädigungen bei Vereinswechseln präzisierte.21 Ob der Fall Pechstein ähnliche Wirkungen wie der Fall Bosman haben kann, hängt letztlich davon ab, wie ihn der EGMR beurteilt.22 Den damit verbundenen Rechtsfragen soll im Folgenden nachgegangen werden.
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BGH, SpuRt 2016, 163 = NJW 2016, 2266. Beschwerde Nr. 67474/10, Pechstein/Schweiz (noch anhängig). Gegenwärtig sind zwei Beschwerden gegen die Schweiz beim EGMR wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund von Urteilen des Bundesgerichts, mit denen Entscheide des CAS bestätigt wurden, anhängig. Vgl. dazu Muresan/Korff, Causa Sport 2014, 199 (211). 16 1 BvR 2103/16 (noch anhängig). 17 Vgl. zu den „finalen Verteidigungsmöglichkeiten“ vor dem BVerfG und dem EGMR Longreé/Wedel, Die Entscheidung über die Einrede der Schiedsvereinbarung nach § 1032 Abs. 1 ZPO als finaler verfassungs- und europarechtlicher Kontrollgegenstand – (K)ein Ende des Prozessmarathons im Fall Pechstein in Sicht?, SchiedsVZ 2016, 237 (240 f.). 18 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht. Das subjektive öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis, 1992. Zu kollidierenden Interessen im Kartellrecht ebd., S. 355 ff. 19 Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff. Zu verfassungsrechtlichen Eckwerten ebd., S. 170 ff. Ferner Schmidt-Preuß, Selbstregulative Verantwortung oder staatliche Steuerung – Zur Verrechtlichung der Verbändevereinbarung, ZNER 2002, 262 ff. 20 EuGH, Urt. v. 16. 03. 2010, Rs. C-325/08, Olympique Lyonnais/Bernard, Newcastle UFC, Slg. 2010, I-2177. 21 Schmidt-Preuß, Olivier Bernard, in: Ludwigs/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Klausurenkurs – Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2016, S. 361 (Fall 16). 22 Zutreffend Scherrer/Muresan/Ludwig, „Pechstein“ ist kein „Bosman der Sportschiedsgerichtsbarkeit“, SchiedsVZ 2015, 161 (165). 15
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II. Rechtliche Probleme des Schiedsspruchs des CAS im Fall Pechstein 1. Verfahrensablauf a) Bedeutung für das Urteil des LG München I Erhebliches Aufsehen erregte das Urteil des LG München I vom 26. Februar 2014,23 da das Gericht seine internationale Zuständigkeit bejahte und unter Berufung auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK die von Frau Pechstein unterzeichnete Schiedsvereinbarung hinsichtlich des CAS mit der Folge des Ausschlusses des Rechtswegs zu nationalen Gerichten mangels Freiwilligkeit für unwirksam erklärte (sog. Nichtigkeit des Schiedszwangs), ferner Zweifel an der Neutralität des CAS äußerte.24 Die Klage wurde gleichwohl abgewiesen, weil die Klägerin das Fehlen einer wirksamen Schiedsvereinbarung im Ausgangsverfahren vor dem CAS nicht gerügt habe und daher präkludiert sei. Obwohl es fraglich erscheine, ob der Schiedsspruch des CAS inhaltlich zutreffend ist, sah das Gericht einen Ordre-Public-Verstoß noch nicht als gegeben an. Dies sei nur in extremen Ausnahmefällen anzunehmen, wenn der Schiedsspruch untragbar erscheint, weil er zu den im deutschen Recht verkörperten Gerechtigkeitsvorstellungen in starkem Widerspruch steht. Wegen der angenommenen Präklusion, die das OLG München schon deshalb zu Recht abgelehnt hat, weil dadurch der Primärrechtsschutz vereitelt würde,25 ist der Ablauf des Verfahrens hinsichtlich Primärrechtsschutz und Sekundärrechtsschutz von Bedeutung. b) Primärrechtsschutz Die am 3. Juli 2009 verhängte Sperre von zwei Jahren verhinderte den Start der fünfmaligen Olympiasiegerin Pechstein bei den Olympischen Spielen 2010 in Vancouver. Deshalb ging sie dagegen beim CAS vor und stellte nach der Bestätigung der Sperre durch diesen einen Eilantrag beim Schweizerischen Bundesgericht. Nachdem dies zunächst ihren Start beim Weltcup in Salt Lake City ermöglicht hatte,26 lehnte es diesen Eilantrag ab.27 Ihr Antrag, den Start durch das Ad-hoc-Gericht des CAS zu erzwingen, wurde abgelehnt.28
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LG München I, SpuRt 2014, 113. Vgl. dazu Monheim, Das Ende des Schiedszwangs im Sport – Der Fall Pechstein, SpuRt 2014, 90 (90 ff.). 25 Zutreffend Wittmann, Schiedssprüche des Court of Arbitration for Sport vor schweizerischen und deutschen ordentlichen Gerichten, 2015, S. 199. 26 SchweizBG, Beschl. v. 7. 12. 2009, Causa Sport 2009, 368. 27 SchweizBG, Beschl v. 26. 01. 2010. 28 CAS, Ad-hoc-Gericht, Urt. v. 19. 02. 2010. 24
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c) Sekundärrechtsschutz Nachdem der Primärrechtsschutz erfolglos war und auch die Revision vor dem Schweizerischen Bundesgericht gescheitert war, versuchte Frau Pechstein, deren Sperre am 6. Februar 2011 ablief und die bei den Weltmeisterschaften und bei den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi mehrere Bronzemedaillen gewann, vor deutschen Gerichten durch Klagen gegen den deutschen nationalen Fachverband für Eisschnelllauf (DESG mit Sitz in München) und gegen den internationalen Fachverband für Eisschnelllauf (ISU mit Sitz in der Schweiz) neben der Feststellung der Rechtswidrigkeit der gegen sie verhängten Dopingsperre die Zahlung von Schadensersatz von über 3,5 Millionen EUR sowie eines angemessenen Schmerzensgeldes und die Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz künftig entstehender Schäden zu erlangen. Das LG München I wies die Feststellungsklage hinsichtlich der Dopingsperre als unzulässig, die Klage im Übrigen wegen der angenommenen Präklusion der Klägerin und der Bindung des Gerichts an den Schiedsspruch des CAS als unbegründet ab. Dies, obwohl das Gericht die Schlussfolgerung des CAS hinsichtlich der ausgeschlossenen Kausalität einer Blutkrankheit für die hohen Retikulozytenwerte als „erstaunlich“ bezeichnete.29 Die beim OLG München eingelegte Berufung, mit der die Klägerin ihre Feststellungs-, Schadensersatz- und Schmerzensgeldklage nur gegen die ISU weiter verfolgte, wurde zwar hinsichtlich der gegen die Dopingsperre gerichteten Feststellungsklage wegen deren Unzulässigkeit zurückgewiesen. Sie war aber hinsichtlich der geltend gemachten Schadensersatzsprüche erfolgreich, zu denen ein Teil-Zwischenurteil erging. Denn das Gericht sah den Spruch des CAS wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung und Verstoß gegen grundlegende Bestimmungen des Kartellrechts und damit gegen den ordre public als nicht anerkennungsfähig an. Daher sei es an diesen nicht gebunden. Die zugelassene und von der ISU eingelegte Revision zum BGH führte allerdings zur Aufhebung dieses Urteils und zur Klageabweisung. Der wegen des kartellrechtlichen Ansatzes des OLG München zuständige Kartellsenat des BGH sah im CAS ein Schiedsgericht i.S.v. § 1032 Abs. 1 ZPO. Ein nach dem „Ein-Platz-Prinzip“ organisierter Sportverband sei hinsichtlich der Zulassung der Athleten zu den von ihm organisierten Sportwettbewerben marktbeherrschend, missbrauche seine Marktmacht aber nicht, wenn er die Teilnahme eines Athleten an einem Sportwettkampf von der Unterzeichnung einer Schiedsvereinbarung abhängig macht, in der gemäß den Anti-Doping-Regeln der CAS als Schiedsgericht vorgesehen ist. Denn die Verfahrensordnung des CAS enthalte ausreichende Garantien für die Wahrung der Rechte der Athleten und die Schiedssprüche unterlägen der Kontrolle des Schweizerischen Bundesgerichts. Auch gegen die geschlossene Liste der auszuwählenden Schiedsrichter, die durch ein Gremium aufgestellt wird, das mit Vertretern des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der nationalen olympischen Komitees und der internationalen Sportverbände besetzt ist, bestünden keine Einwände, da sich Sportverbände und Athleten bei der Bekämpfung des Dopings grundsätzlich nicht als von gegensätzli29
LG München I, SpuRt 2014, 113 (124).
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chen Interessen geleitete „Lager“ gegenüberstünden. Unter diesen Umständen sei die Schiedsvereinbarung auch mit dem in Art. 2 Abs. 1 GG verankerten Justizgewährleistungsanspruch, dem Recht auf freie Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) und dem durch Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren vereinbar.30 Das Urteil des BGH stieß überwiegend auf Kritik.31 Selbst wenn das Ergebnis für vertretbar gehalten wurde, bestanden berechtigte Einwände gegen die wenig überzeugende und zum Teil widersprüchliche Argumentation32 sowie das Übergehen eines gewichtigen Arguments des OLG München, dass nämlich bei Uneinigkeit der Vorsitzende des zur konkreten Streitentscheidung berufenen Gremiums vom Präsidenten der Berufungsabteilung des CAS bestimmt wird, der seinerseits mit einfacher Mehrheit vom Internationalen Rat für die Sportschiedsgerichtsbarkeit (ICAS) gewählt wird, wodurch letztlich die Verbände einen mittelbaren Einfluss auf den in typischen Drei-Personen-Schiedsgerichten letztlich entscheidenden Schiedsrichter gewännen.33 2. Zulässigkeit der Schiedsvereinbarung a) Allgemein Die Zulässigkeit von Schiedsvereinbarungen zwischen Privaten34 ist grundsätzlich unbestritten. Dies gilt insbesondere für die internationale Sportgerichtsbarkeit, um unterschiedliche Bewertungen durch nationale Gerichte und ein daran orientiertes Forum Shopping zu verhindern.35 b) Voraussetzung der Freiwilligkeit Im Prinzip fast unstrittig ist aber auch, dass der mit einer Schiedsvereinbarung einhergehende partielle Verzicht auf den staatlichen Justizgewährleistungsanspruch freiwillig erfolgen muss.36 Autoren, die dieses Erfordernis für entbehrlich halten, be-
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BGH, SpuRt 2016, 163 (Leitsätze). Vgl. z. B. Heermann, Die Sportgerichtsbarkeit nach dem Pechstein-Urteil des BGH, NJW 2016, 2224 (2227); Haus, Das Urteil des BGH in Pechstein/International Skating Union – Ein Schritt vor, zwei Schritt zurück für das Kartellrecht in der Sportgerichtsbarkeit?, NZKart 2016, 366 (367 ff.); Bunte, Anmerkung, WuW 2016, 366 (366 ff.). 32 So Prütting, Das Pechstein-Urteil des BGH und die Krise der Sport-Schiedsgerichtsbarkeit, SpuRt 2016, 143 (143 ff.). 33 Prütting, ebd., S. 146. 34 Zur im Gegensatz dazu schon prinzipiell umstrittenen Frage der Investor-StaatSchiedsgerichtsbarkeit vgl. Prütting, ebd, S. 144 f. m.w.N. 35 S. dazu Heper, Schiedszwang im Sport. Das Pechstein-Urteil auf Eis gelegt, Rescriptum 2017, 11 (14 f.) m.w.N. 36 So auch BGH, SpuRt 2016, 163 (167 f.), Rn. 52 f. m.w.N. Grundlegend BGHZ 144, 146 (Körbuch-Urteil). 31
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gründen dies mit Sicherungen wie der richterlichen Kontrollmöglichkeit.37 Hinsichtlich des CAS besteht diese durch das Schweizerische Bundesgericht. Hier stellt sich aber die Frage nach der gebotenen Kontrolldichte. Damit hängt zusammen, welche Anforderungen an eine „Freiwilligkeit“ zu stellen sind. Der BGH nimmt einen unfreiwilligen Verzicht offenbar nur dann an, „wenn physische oder psychische Gewalt ausgeübt wird, wenn der Verzichtende getäuscht wird, wenn er sich der Tragweite und Bedeutung seiner Erklärung nicht bewusst ist oder wenn es gar an der (bewussten) Abgabe einer entsprechenden Willenserklärung fehlt“.38 Dies war hier ersichtlich nicht gegeben. Allerdings konstatiert der BGH dann, dass die Entscheidung der Klägerin wegen des Monopols des Veranstalters der Eislauf-Weltmeisterschaft „fremdbestimmt“ gewesen sei.39 In einem solchen Fall müsse zur Sicherung des Grundrechtsschutzes eine Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen des Athleten und der Verbandsautonomie der Sportverbände erfolgen. Der BGH nimmt diese Interessenabwägung allein anhand des Kartellrechts vor und kommt anders als das OLG München zum Ergebnis, dass ein Missbrauch der Marktmacht nicht vorliege. Am Maßstab des Europarechts der EMRK ist aber eine darüberhinausgehende Prüfung erforderlich. III. Vorgaben des Europarechts 1. Relevanz des Europarechts Europarechtlich sind an sich sowohl das Recht der Europäischen Union als auch das Recht der für die Mitgliedstaaten des Europarats verbindlichen EGMR relevant. Um in den an das Unionsrecht gebundenen Mitgliedstaaten vollziehbar zu sein, müssen, soweit auf den Fall das Unionsrecht anwendbar ist, Schiedssprüche des CAS40 sowohl dem Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten als auch dem EU-Kartellrecht entsprechen.41 Mit dem Fall Pechstein hätte der EuGH allein durch eine Vorlage 37 Vgl. Adolphsen, Grundfragen und Perspektiven der Sportgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2004, 169 (175). 38 BGH, ebd., S. 168, Rn. 54. 39 BGH, ebd., S. 168, Rn. 56. 40 Zur Pflicht auch von Schiedsgerichten, zwingendes Kartellrecht und damit auch das Recht der EU zu beachten, Stancke, Pechstein und der aktuelle Stand des Sportkartells, SpuRt 2015, 46 (46 f.); Adolphsen, Sportschiedsgerichtsbarkeit Anfang 2016, SpuRt 2016, 46 (50) m.w.N. 41 Vgl. dazu Zimmermann, Das Verhältnis von Kartellrecht und Sportgerichtsbarkeit, ZWeR 2016, 66 (77 f.). Speziell zum Fall Pechstein Stancke (Fn. 40), SpuRt 2015, 48 ff.; v. Westphalen, Die Sportschiedsgerichtsbarkeit vor den Schranken der Klausel-Richtlinie 93/ 13/EWG – der Fall Pechstein, SpuRt 2015, 186 (186 ff.), der wegen der strukturellen Unterlegenheit des Athleten (hier: Pechstein) als „Verbraucher“ gegenüber dem Sportverband (hier: ISU) einen vom BGH zu berücksichtigenden unionsrechtlichen Gesichtspunkt sieht. Trifft dies zu, wäre eine Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV geboten gewesen, deren „willkürliche“ Unterlassung mit der auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (Entzug des EuGH als gesetzlicher Richter) gestützten Verfassungsbeschwerde angegriffen werden könnte.
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der deutschen Gerichte befasst werden können, wozu diese keinen Anlass sahen. Der BGH erwähnt immerhin Art. 102 AEUV, sieht insoweit aber eine Übereinstimmung mit § 19 GWB a.F.42 Wegen der anhängigen Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK) gegen die Schweiz und für den Fall einer erfolglosen Verfassungsbeschwerde zum BVerfG, mit der die fehlende Vereinbarkeit des BGH-Urteils mit Grundrechten gerügt werden muss, eröffneten Individualbeschwerde gegen Deutschland kann für den EGMR die Frage aktuell werden, ob der CAS wirklich, wie der BGH annahm,43 den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden. 2. Rechtsstaatliche Anforderungen an ein Schiedsgericht a) Relevanz für die zulässige Einschränkung der staatlichen Gerichtsbarkeit Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK besteht ein Justizgewährleistungsanspruch durch ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht in einem fairen Verfahren, das öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt wird. Der Zugang zu staatlichen Gerichten ist allerdings nach der Rechtsprechung des EGMR verzichtbar und kann durch Schiedsklauseln ausgeschlossen werden. Voraussetzung ist aber wie gemäß deutschem Verfassungsrecht auch hier, dass der Verzicht „freiwillig“ erfolgt,44 dass vor den anrufbaren Schiedsgerichten gewisse Mindestgarantien gewährleistet sind und die Aufhebung von Schiedssprüchen bei Verfahrensmängeln durch staatliche Gerichte möglich ist.45 b) Anforderungen an die „Freiwilligkeit“ – Folgen für die Struktur eines Schiedsgerichts Der BGH beruft sich hinsichtlich der „Freiwilligkeit“ der Unterwerfung unter die Schiedsabrede auf eine Entscheidung der (durch die Reform des EGMR 1998 aufgehobenen) Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) aus dem Jahr 1962.46 Danach soll der Umstand, dass die Unterzeichnung der Schiedsklausel erforderlich war, um den Beruf ausüben zu können, die Schiedsvereinbarung nicht zu 42
BGH, SpuRt 2016, 170, Rn. 66. Vgl. dazu Heermann (Fn. 31), NJW 2016, 2227. Zur Vorlagepflicht (Art. 267 Abs. 3 AEUV) wegen der Bindung an die justiziellen Grundrechte aus Art. 47 EU-GRCh Longrée/Wedel (Fn. 17), SchiedsVZ 2016, 237 (241). 43 BGH, SpuRt 2016, 169 f., Rn. 64 f. 44 EGMR, Urt. v. 27. 02. 1980, Beschwerde Nr. 6903/75, Rn. 49 – Deweer/Belgien. 45 EGMR, Urt. v. 28. 10. 2010, Beschwerde Nr. 1643/06, Rn. 48 – Suda/Tschechische Republik; Meyer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 6, Rn. 59 m.w.N. 46 EKMR, Urt. v. 5. 03. 1962, Beschwerde Nr. 1197/61 – X./Bundesrepublik Deutschland. Zu Besonderheiten dieses Falles s. Heermann (Fn. 31), NJW 2016, 2227.
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einer „unfreiwilligen und damit konventionswidrigen“ machen.47 Da er aber andererseits die Entscheidung der Klägerin als „fremdbestimmt“ bezeichnet, muss er versuchen, dies zu rechtfertigen. Hier begnügt sich der BGH mit einer „erstaunlich vagen“48 Abwägung der Grundrechte der Klägerin (Justizgewährleistungsanspruch und Berufsfreiheit) mit der Verbandsautonomie der Beklagten, die darin kulminiert, dass der Grundrechtseingriff „nicht zu geringe Anforderungen“ an die Unabhängigkeit und Neutralität des CAS stelle.49 Zur Rechtfertigung eines Schiedszwangs wäre neben dem Erfordernis einer einheitlichen internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, der dann zwangsläufig alle am betreffenden Wettkampfsport Beteiligten unterliegen müssen,50 genau dies der richtige Ansatz gewesen.51 Obwohl an den Defiziten des CAS verbreitet und konkret Kritik geübt wurde52 und der BGH selbst in den gegenwärtigen Statuten des CAS nur „eine noch hinnehmbare Ausgestaltung des Verfahrens bei der Bestellung von Schiedsrichtern“53 sah, versäumte er, die Anerkennung von Urteilen des CAS an die Beseitigung dieser Defizite zu knüpfen. c) Zusammensetzung des Gerichts Das OLG München hat als strukturellen Mangel des CAS zutreffend die Besetzung der Panel mit Schiedsrichtern beanstandet. Denn das Bestimmungsverfahren der Schiedsrichterliste beeinträchtigt die Neutralität des Schiedsgerichts, weil den Verbänden dabei ein Übergewicht zukommt, bei dem die Gefahr besteht, dass einem Panel überproportional viele Schiedsrichter angehören, die den Ansichten der Verbände näher stehen als denen der Athleten.54 Als besonders problematisch beanstandete das OLG – und darauf hätte der BGH eingehen müssen –, dass bei feh47
BGH, SpuRt 2016, 170, Rn. 65 m.w.N. zu zustimmenden und ablehnenden Ansichten in der Literatur. 48 Zutreffende Kritik von Prütting (Fn. 32), SpuRt 2016, 147. 49 BGH, SpuRt 2016, 169, Rn. 62. 50 S. dazu Steiner, Das Verhältnis von Schiedsgericht und staatlicher Gerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2013, 15 (18). Zutreffend OLG München, SpuRt 2015, 81, Rn. 70 f., 76; zustimmend Orth, Zur Zukunft der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit im Sport – auch in Deutschland, SpuRt 2015, 230 (231 f.). Kritisch dazu Heermann, Freiwilligkeit von Schiedsvereinbarungen in der Sportgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2014, 66 (78). 51 Zum zutreffenden Ansatz des OLG München, zur möglichen Rechtfertigung eines „Schiedszwangs“ die strukturelle Neutralität des Schiedsgerichts zu fordern, vgl. Heermann, Zukunft der Sportschiedsgerichtsbarkeit sowie entsprechender Schiedsvereinbarungen im Lichte des Pechstein-Verfahrens sowie des § 11 RegEAntiDopG, SchiedsVZ 2015, 78 (81). 52 Vgl. z. B. Orth (Fn. 50), SpuRt 2015, 232 ff.: Besetzung der Panel, keine Wiederaufnahme bei neuen Beweismitteln, fehlende Öffentlichkeit, mangelnde Entscheidungsqualität (gerade in Dopingfällen, die sich nicht nur wie die – fehlende – Beweiswürdigung im Fall Pechstein zu Lasten der Athleten, sondern auch zu deren Gunsten auswirken kann, dabei aber gefährliche Präzedenzfälle schafft); Heermann (Fn. 51), SchiedsVZ 2015, 79; Classen, Rechtsschutz gegen Verbandsmaßnahmen im Profisport, 2014, S. 69 ff. 53 BGH, SpuRt 2016, Rn. 50. 54 Orth (Fn. 50), SpuRt 2015, 232.
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lender Einigkeit der Parteien das Bestimmungsrecht über den Panelvorsitz beim Präsidenten der Berufungsabteilung liegt. Von Athleten, die sich faktisch dem Schiedsverfahren unterwerfen müssen, kann dies nur verlangt werden, wenn sie auf die Neutralität des Schiedsgerichts vertrauen können. Und dies setzt ihre angemessene Beteiligung bei dessen Besetzung voraus.55 Wenn der BGH (nach widersprüchlichen Ausführungen zum Einfluss der Sportverbände) einwendet, dass sich die Verbände und Athleten nicht wie z. B. Arbeitgeber und Arbeitnehmer in von gegensätzlichen Interessen geprägten Lagern gegenüberstünden, vielmehr beide an einem dopingfreien Sport interessiert seien,56 so verkennt er, dass bei der Verhandlung über eine Dopingsperre ein ganz eindeutiger Interessengegensatz besteht zwischen dem Athleten, der seine Unschuld beweisen, und dem Verband, der seinen bereits erhobenen Dopingvorwurf bestätigt sehen möchte.57 d) Faires Verfahren Um mit den rechtsstaatlichen Anforderungen an ein staatliches Gericht vergleichbar zu sein, müssen auch die Verhandlungen vor dem CAS öffentlich sein58 und alle Entscheidungen veröffentlicht werden. Denn nur dann ist die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens erforderliche Kontrolle gegeben. Berechtigten Geheimhaltungsinteressen kann wie bei Verfahren vor staatlichen Gerichten Rechnung getragen werden.59 Da Art. 6 Abs. 1 EMRK die Gewährung eines effektiven Zugangs zum Gericht fordert, muss dies gegebenenfalls durch entsprechende Mittel ermöglicht werden.60 e) Prüfung der materiellen Rechtslage Zu einem fairen Verfahren gehört auch, dass die materielle Rechtslage sorgfältig geprüft, auf Beweisanträge eingegangen und Beweise unvoreingenommen und nach55
Das Problem einer insoweit demokratisch legitimierten Interessenvertretung der Athleten wendet Adolphsen (Fn. 40), SpuRt 2016, 51 ein. Zu Reformvorschlägen, u. a. der freien Wahl der Schiedsrichter durch die Parteien, Wittmann (Fn. 25), S. 203. 56 BGH, SpuRt 2016, 165, Rn. 32. 57 Zutreffend zum schiefen Vergleich des BGH Prütting (Fn. 32), SpuRt 2016, 146; Heermann (Fn. 31), NJW 2016, 2224 ff. 58 Auf die fehlende Öffentlichkeit des Verfahrens, die vom Schweizerischen Bundesgericht trotz Bedenken in einem obiter dictum nicht durchgreifend beanstandet wurde, stützt Frau Pechstein unter Berufung auf das Urteil des EGMR im Fall Suda/Tschechische Republik (s. Fn. 45) ihre Individualbeschwerde zum EGMR gegen die Schweiz. Vgl. dazu Wittmann (Fn. 25), S. 83 ff. 59 Orth (Fn. 50), SpuRt 2015, 232 f. 60 Vgl. dazu und zur Rspr. des EGMR, der die Ausgestaltung den Mitgliedstaaten (an deren Stelle hier die Träger des CAS treten) überlässt, Meyer (Fn. 45), Art. 6, Rn. 57 m.w.N. Zur Verbesserung des Zugangs zum CAS durch Prozesskostenhilfe gem. den Richtlinien des ICAS vom 1. 09. 2013 Wittmann (Fn. 25), S. 85 f.
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vollziehbar gewürdigt werden. Ein verständlicher Kritikpunkt des LG München I am Pechstein-Schiedsspruch des CAS war angesichts der Sach- und Beweislage und des Berichts des Sachverständigen, der auf eine weitere Aufklärungsmöglichkeit hinwies, der nicht nachgegangen wurde, die „erstaunliche“ Beweiswürdigung, dass die Möglichkeit einer Blutkrankheit als weitere mögliche Ursache für zu hohe Retikulozytenwerte „mit Sicherheit ausgeschlossen“ werden könne.61 Dabei sind die Besonderheiten der Beweislast und der Entlastungsmöglichkeiten bei Dopingvergehen zu berücksichtigen. f) Wiederaufnahme des Verfahrens Noch mehr als im nationalen Prozessrecht ist in Schiedsverfahren die endgültige Entscheidung der Fälle wichtig. Daher muss das Bestehen der Rechtskraft die Regel, müssen Wiederaufnahmegründe eine sehr begrenzte Ausnahme sein. Dies gilt insbesondere im Sport. Allerdings muss schon wegen des Rehabilitationsinteresses des Athleten einem wegen Dopings Verurteilten im Nachhinein der Entlastungsbeweis möglich sein, wenn sich durch spätere wissenschaftliche Erkenntnisse das Gegenteil beweisen lässt.62 Dies sollte sich auch auf das Ausmaß der Kontrolle von Schiedssprüchen durch staatliche Gerichte auswirken. IV. Folgen für die Verfahren vor dem CAS 1. Rechtfertigung der internationalen Sportschiedsgerichtsbarkeit Die grundsätzliche Vereinbarkeit der internationalen Sportschiedsgerichtsbarkeit allgemein und speziell des CAS als „Weltsportgericht“63 mit dem Verfassungsrecht, in Deutschland mit dem Grundgesetz, und mit dem Europarecht, insbesondere der EMRK, wurde in keiner der Instanzen im Fall Pechstein bestritten. Im Gegenteil, die Gerichte hoben die Erforderlichkeit eines internationalen Sportgerichts und dessen Vorzüge hervor. Diese Erforderlichkeit rechtfertigt auch grundsätzlich, dass die Teilnahme an Sportwettkämpfen von der Akzeptanz eines über alle mit diesem Sport zusammenhängenden Fragen verbindlich entscheidet, vorbehaltlich der notwendigen staatlichen Kontrolle über die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze. Diese Kontrolle über die Einhaltung eines Mindeststandards (ordre public) sowie der Verfahrensvorschriften des Schiedsgerichts ist notwendig, da der Rechtsstaat auch insoweit die Einhaltung seiner elementaren Grundsätze gewährleisten muss.64 Diese 61 LG München I, SpuRt 2014, 124. Vgl. dazu und zu weiteren materiellen Mängeln, denen wegen des faktischen Schiedszwanges größere Bedeutung als bei Fehlern staatlicher Gerichte zukomme, Orth (Fn. 50), SpuRt 2015, 233. 62 Zutreffend Orth (Fn. 50), SpuRt 2015, 232. 63 Vgl. dazu Wittmann (Fn. 25), S. 4 ff. 64 Vgl. zum gebotenen (wenngleich umstrittenen) Einfluss der EMRK auf die Schiedsvereinbarung Wittmann (Fn. 25), S. 62 ff.
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Kontrolle muss das rechte Maß zwischen der Wahrung dieser Grundsätze im Interesse der betroffenen Athleten, aber auch im Interesse der Allgemeinheit, und der Achtung der Autonomie der Sportverbände finden.65 Nur dann lässt sich auch der sog. „Schiedszwang“66 aus sachlichen Gründen rechtfertigen und ist von den Athleten akzeptabel. Dies stellt besondere Anforderungen an die Struktur und die Qualität der Schiedsgerichte, insbesondere an die Sicherung von deren Unabhängigkeit und Neutralität sowie die Fairness des Verfahrens.67 2. Reformbedürftigkeit des CAS Im Hinblick auf diese Anforderungen wurden in der Literatur eine Reihe von Defiziten des CAS aufgezeigt, die bereits das LG München I und dann das OLG München aufgegriffen haben. Der BGH hat dagegen trotz obiter geäußerter Bedenken die Struktur und das Verfahren des CAS für mit dem Verfassungsrecht wie dem Europarecht, d. h. der EMRK, mit der er sich weit weniger intensiv auseinandersetzte als die Vorinstanzen, vereinbar erklärt. Damit wurde die Chance vertan, auf den CAS den notwendigen Reformdruck auszuüben. Dass dieser Wirkung zeigt, lässt sich an den nach Beanstandungen durch das Schweizerische Bundesgericht durchgeführten Reformen nachweisen.68 Reformbedürftig sind beim CAS in erster Linie das Bestimmungsverfahren der Schiedsrichterliste und vor allem das Bestimmungsrecht über den Panelvorsitz bei Uneinigkeit der Parteien. Nur wenn die Athletenvertreter in angemessener Weise an der Aufstellung der Schiedsrichterliste und der Besetzung der Spruchkörper beteiligt werden, kann ihnen die für die Akzeptanz des „Schiedszwangs“ erforderliche Unabhängigkeit und Neutralität des CAS vermittelt werden. Der dabei erforderliche Organisationsaufwand ist sicher erheblich, aber zu leisten.69 Ferner sollen die Verfahren öffentlich sein und alle Entscheidungen veröffentlicht werden. Durch die damit eröffnete Kontrolle von außen dürften einerseits Fehler aufgedeckt und künftig vermieden werden und dadurch auch die Qualität der Rechtsprechung verbessert werden, andererseits durch überzeugende Argumentation das Vertrauen in die Rechtsprechung des CAS gesteigert werden.
65 Vgl. dazu bereits Sonnauer, Die Kontrolle der Schiedsgerichte durch die staatlichen Gerichte, 1992, S. 7. 66 Auch das Schweizerische Bundesgericht spricht von einer „aufgezwungenen Schiedsgerichtsbarkeit“ („arbitrage forcé“), BGE 133 III 235 (243). 67 Vgl. zu den bei einer „aufgezwungenen“ Schiedsvereinbarung erhöhten Anforderungen Wittmann (Fn. 25), S. 68 f. 68 Vgl. dazu Wittmann (Fn. 25), S. 5 f. 69 Vgl. dazu Orth (Fn. 50), SpuRt 2015, 232.
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3. Kontrolldichte durch das Schweizerische Bundesgericht Die Schiedssprüche des CAS unterliegen der Kontrolle durch das Schweizerische Bundesgericht, wenn sie mit der Anfechtungsklage gemäß Art. 190 Abs. 2 IPRG70 oder mit der Revision gemäß Art. 122 ff. BGG71 analog angefochten werden. Eine solche Kontrollmöglichkeit ist, wie gezeigt, verfassungsrechtlich und europarechtlich geboten und eine der Voraussetzungen für die Rechtfertigung des „Schiedszwangs“. Die möglichen Anfechtungsgründe sind in Art. 190 Abs. 2 IPRG aufgeführt (vorschriftswidrige Besetzung, Unzuständigkeit, Entscheidung über nicht unterbreitete Streitpunkte oder Übergehen eines Rechtsbegehrens, Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Parteien oder des rechtlichen Gehörs, Unvereinbarkeit mit dem Ordre public) und müssen von der beschwerdeführenden Partei vorgebracht werden. Einen vor dem schiedsgerichtlichen Verfahren vereinbarten Rechtsmittelverzicht gemäß Art. 192 IPRG im Verhältnis Sportler zu Verband hat es wegen des bestehenden Ungleichgewichts für unwirksam erklärt.72 Im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK hat das Bundesgericht die Revision gegen internationale Schiedssprüche wie denen des CAS zugelassen.73 Bei ihr handelt es sich um die Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn die rechtskräftige Entscheidung auf falschen Tatsachen beruht oder durch strafbare Handlungen entstand (Art. 123 BGG). Als weiterer Revisionsgrund wurde in der Schweiz die vom EGMR festgestellte Verletzung von Bestimmungen der EMRK eingeführt.74 Fraglich ist, ob die Kontrolldichte des Bundesgerichts das richtige Maß trifft. Einerseits führte seine Kontrolle mehrfach zur Aufhebung von Schiedssprüchen des CAS wegen Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung der Parteien und des Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG).75 Seine Urteile führten auch zu Reformen beim CAS. So wurde als Reaktion auf das Gundel-Urteil76 zur Beseitigung der direkten finanziellen Abhängigkeit vom IOC 1994 als Trägerorganisation des CAS der Conseil International de l’Arbitrage en matière de Sport (ICAS) gegründet.77 Andererseits sah das Bundesgericht durch „wohlwollende Betrachtung“ weder in der geschlossenen Schiedsrichterliste noch in dem unausgewogenen Besetzungsverfahren einen Grund, wegen fehlender Unabhängigkeit und Neutralität die 70
Schweizerisches Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht. Schweizerisches Bundesgerichtsgesetz. 72 BGE 133 III 235 (242 f.) – Fall Canas. S. dazu Wittmann (Fn. 25), S. 119 ff. 73 BGE 118 II 199 (200 ff.); bestätigt in BGE 122 III 492. S. dazu Wittmann (Fn. 25), S. 143 f. 74 Art. 396 Abs. 2 Schweizerische ZPO; vgl. für Deutschland die Restitutionsklage gem. § 580 Nr. 8 ZPO. 75 S. dazu Wittmann (Fn. 25), S. 75 ff., 87 f. 76 BGE 119 II 271 (279 f.). 77 S. dazu und zu weiteren Reformen Wittmann (Fn. 25), S. 5 f. Zur Sicherung der Neutralität wurde durch CAS-Codes 2010 den Schiedsrichtern untersagt, in anderen Verfahren vor dem CAS als Anwalt aufzutreten. S. dazu Wittmann (Fn. 25), S. 38. 71
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Eigenschaft des CAS als „echtes Schiedsgericht“ zu verneinen.78 Gerade hier besteht aber Reformbedarf beim CAS.79 Problematisch sind auch die Anforderungen an die Erbringung von Entlastungsbeweisen durch den Beschuldigten in Dopingverfahren, zumal im (da es ein Wiederaufnahmeverfahren ist grundsätzlich zu Recht restriktiven) Revisionsverfahren.80 Wegen der einschneidenden Folgen für den Athleten sollte unter Berücksichtigung der besonderen Grundsätze des Sports bei der Interpretation des Ordre public die materiell-rechtliche Nachkontrolle von Schiedssprüchen in diesem Bereich weniger restriktiv gehandhabt werden.81 V. Fazit Der Fall Pechstein wäre auch dann, wenn der BGH das Urteil des OLG München bestätigt hätte, nicht das Ende der Sportgerichtsbarkeit gewesen, auch nicht in Deutschland. Die Wirkung von Urteilen des CAS wäre allerdings vorübergehend blockiert gewesen, bis die Anforderungen an ein unabhängiges, neutrales Gericht durch Strukturreformen erfüllt gewesen wären. Vielleicht scheute der BGH gerade vor einer solchen Blockade zurück. Ob der CAS die auch im Urteil des BGH zumindest angedeuteten Defizite beseitigt, bleibt abzuwarten.82 Er sollte allerdings damit beginnen. Nicht nur, um seine Akzeptanz als quasi obligatorisches „Weltsportgericht“ zu steigern. Sondern auch, um bei einer Befassung des EGMR den Anforderungen an ein unparteiisches Gericht zu genügen.
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Grundlegend BGE 129 III 445 (458) = SpuRt 2004, 38 (41) – Latsutina/Danilova. Vgl. dazu auch Wittmann (Fn. 25), S. 33 f., 70 (erhöhte Anforderungen wegen der „aufgezwungenen“ Schiedsgerichtsbarkeit). 80 Vgl. dazu Wittmann (Fn. 25), S. 103 f., 151 ff. 81 Wittmann (Fn. 25), S. 203. 82 Skeptisch Heermann (Fn. 31), NJW 2016, 2224. 79
Der Deutsche Corporate Governance Kodex Gesteuerte Selbstregulierung im Aktienrecht Von Winfried Wegmann, Bonn Der Deutsche Corporate Governance Kodex1 ist ein Regelwerk „guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung“2. Seine „Empfehlungen“ und „Anregungen“ richten sich an börsennotierte und andere kapitalmarktorientierte Gesellschaften.3 Normgeber ist nicht der Staat, sondern ein Expertengremium hochrangiger Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft, die „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“. Damit ist der Kodex – mangels Gesetzesqualität – per se unverbindlich. Gleichwohl zeigen empirische Erhebungen, dass er von den adressierten Unternehmen ganz überwiegend befolgt wird.4 Diese kaum zu unterschätzende praktische Relevanz des Kodex beruht im Wesentlichen auf dem in § 161 AktG verankerten Mechanismus des „comply or explain“. Die folgende Abhandlung nimmt den Deutschen Corporate Governance Kodex und dessen Wirkungsweise aus drei unterschiedlichen Perspektiven in den Blick: In Teil I wird es darum gehen, den Kodex als Erscheinungsform „gesteuerter Selbstregulierung“5 zu beschreiben und zu verstehen. Dies schlägt auch die Brücke zum wissenschaftlichen Werk des Jubilars, denn bekanntermaßen war es Matthias Schmidt-Preuß, der das Konzept der gesteuerten Selbstregulierung – erstmals in sei1
Im Folgenden auch „Kodex“ oder „DCGK“. Kodex-Präambel, Abs. 1. 3 Vgl. Kodex-Präambel, Abs. 13, sowie korrespondierend § 161 Abs. 1 S. 1 und S. 2 AktG. Zu den nicht börsennotierten aber dennoch kapitalmarktorientierten Gesellschaften s. Hüffer/ Koch, AktG, 12. Aufl. 2016, § 161 Rn. 6b; von den Linden, in: Wilsing (Hrsg.), DCGK, 2012, § 161 AktG Rn. 6 ff. Auslandsgesellschaften fallen nicht in den Anwendungsbereich, selbst wenn sie an einer deutschen Börse notiert sind (von den Linden, a.a.O., Rn. 10). Nicht kapitalmarktorientierten Gesellschaften wird die Beachtung des Kodex zwar ebenfalls nahe gelegt, sie stehen aber nicht im Fokus der Kodex-Regulierung (vgl. Kodex-Präambel, ebd.). 4 S. insb. die regelmäßig veröffentlichten Untersuchungsergebnisse des Berlin Center of Corporate Governance zur Akzeptanz und Anwendung des Kodex in Deutschland (abrufbar unter http://bccg.projects.tu-berlin.de, dort: „German Code Monitoring“ und „Monitoring Reports“). Vertiefende Ausführungen m.w.N. zur Resonanz des Kodex in der Praxis bei v. Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder (Hrsg.), DCGK, 7. Aufl. 2018, 4. Teil, Rn. 1929 ff. Zu den „Determinanten“ der Kodex-Befolgung s. auch Eisenschmidt, ZCG 2016, 107 ff. 5 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (165); zur Genese des Begriffs s. Voßkuhle, Die Verwaltung, Beiheft 4/2001, 197 (198 mit dortiger Fn. 6). 2
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nem grundlegenden Referat zur Dresdner Staatsrechtslehrertagung6 – als Pionier und Wegbereiter anhand zahlreicher Referenzgebiete nachgewiesen und hierfür ein übergreifendes dogmatisches Fundament geschaffen hat. Teil II des Beitrags wendet sich der Systematik des Aktienrechts zu. Dort soll die Bedeutung des Kodex im aktienrechtlichen Normengefüge verortet und beleuchtet werden. Der abschließende Teil III bewegt sich auf die Ebene des Verfassungsrechts. Hier spitzt sich die Untersuchung auf die Frage zu, ob die geltende Kodex-Regulierung konzeptionell dem Maßstab des Grundgesetzes entspricht. Auch insoweit wird – dies sei schon einmal vorweggenommen – die dogmatische Vorarbeit des Jubilars eine wesentliche Erkenntnisquelle sein. Selbstverständlich sind die drei unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven der folgenden Untersuchung – das Konzept gesteuerter Selbstregulierung, das Normengefüge des Aktienrechts und der Maßstab des Grundgesetzes – in vielerlei Hinsicht miteinander verwoben und verknüpft, denn das Objekt der Betrachtung, der Kodex in seiner spezifischen Wirkungsweise, bleibt ja unverändert. Es ist aber gerade dieser Perspektivenwechsel, der den besonderen Reiz der gewählten Herangehensweise ausmacht. Denn methodisch bietet er zusätzliche Chancen, konkrete Fragestellungen, die sich unter einem bestimmten Blickwinkel ergeben, in einen breiteren Kontext zu stellen und daraus – das wäre jedenfalls das Ziel – neue Einsichten und Lösungsansätze zu gewinnen. I. Der Kodex als Form „gesteuerter Selbstregulierung“ Die Kategorie der „gesteuerten Selbstregulierung“7 beschreibt das Phänomen, dass der moderne Staat zunehmend „in neuartigen Aktionsfeldern zwischen den Polen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung“8 agiert. Kennzeichnend hierfür ist die Abkehr vom „Gestaltungsmodus imperativer Zweckverwirklichung“ hin zu „arbeitsteiliger Gemeinwohlkonkretisierung durch den Staat und Private“9. Dabei sind die Formen der „Verzahnung und Durchmischung“10 staatlich-steuernder und gesellschaftlich-selbstregulativer Elemente heterogen und vielfältig. Eine wesentliche Variante gesteuerter Selbstregulierung ist die sog. „private
6 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 ff.: „Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung“. 7 S. o. Fn. 5 sowie darüber hinaus die weiteren Abhandlung des Jubilars zum Konzept der gesteuerten Selbstregulierung in Bezug auf diverse Referenzgebiete: Schmidt-Preuß, FS Lieberknecht, 1997, S. 549 ff. (Verpackungsverordnung); ders., FS Kriele, 1997, S. 1157 ff. (ÖkoAudit); ders., in: Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, 1999, S. 195 ff. (Duale Entsorgungs-Systeme); ders., in: Bauer u. a. (Hrsg.), 100 Jahre allgemeines Baugesetz Sachsen, 2000, S. 585 ff. (Bauordnungsrecht). 8 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (162). 9 Ebd. (kurs. i. Orig.). 10 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (165).
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Normgebung“11, d. h. die „Setzung freiwilliger, generell-abstrakter Regeln über Produkte, Verfahren und Spezifikationen im weitesten Sinn durch private Unternehmen, Verbände oder gemischte Einrichtungen mit maßgeblichem privaten Einfluss“12. Damit erweist sich auch der Deutsche Corporate Governance Kodex – geschaffen von der gleichnamigen Kommission – als Anwendungsfall privater Normgebung, dessen Gestaltung und Wirkungsweise es im Lichte gesteuerter Selbstregulierung zu erfassen gilt. 1. Dogmatische Grundlagen „privater Normgebung“ Private Normgebung nimmt – als Kontrapunkt zur staatlichen Gesetzgebung – in vielen Bereichen der Rechtsordnung Raum ein. Matthias Schmidt-Preuß hat dies frühzeitig erkannt und anhand diverser Referenzgebiete zentrale Grundsätze zur Wirkungsweise sowie zu den Möglichkeiten und Grenzen privater Normgebung als Aktionsfeld gesteuerter Selbstregulierung entwickelt.13 Zunächst einmal ist private Normgebung ein Akt gesellschaftlicher Selbstregulierung und steht damit im strukturellen Gegensatz zur staatlich-legislativen Steuerung durch den Gesetzgeber. Während staatliches Gesetzesrecht auf Grundlage einer demokratischen Legitimationskette per se verbindlich ist, können private Regelwerke diesen Anspruch gerade nicht erheben. Sie sind – entstanden aus der Konvention privater Akteure – eben keine Rechtssätze14 und damit auf freiwillige Beachtung angewiesen. Gleichwohl steht die selbstregulative Normsetzung Privater vielfach im Kontext staatlicher Steuerungstätigkeit. In derartigen Fällen gesteuerter Selbstregulierung setzen staatliche Organe Wirkmechanismen in Gang, die letztlich „induzieren“15, dass sich Privatpersonen an private Normen halten, ohne rechtlich daran gebunden zu sein. Auf diese Weise kann eine „de-facto-Verbindlichkeit“16 entstehen. Ein häufig anzutreffender Wirkmechanismus gesteuerter Selbstregulierung im Bereich privater Normgebung ist die sog. „Generalklauselmethode“17. Dabei verankert der Staat normative Standards im Gesetz, die als unbestimmte Rechtsbegriffe notwendig einer Konkretisierung bedürfen. Insoweit fungieren Regelwerke privater 11 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (202 ff.); vertiefend hierzu anhand spezifischer Anwendungsfälle: ders., ZLR 1997, 249 ff. (Leitlinien im Lebensmittelhygienerecht); ders., in: Kloepfer (Hrsg.), Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich, 1998, S. 89 ff. (Private technische Regelwerke); ders., ZNER 2002, 262 ff. (Verbändevereinbarungen im Energierecht). 12 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (250). 13 S. o. Fn. 11. 14 Vgl. BVerwG, NVwZ-RR 1997, 214 (bezogen auf DIN-Normen). 15 Grundlegend zur Kategorie der „Induzierung“ bei gesteuerter Selbstregulierung: Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (185). 16 Schmidt-Preuß, in: Kloepfer (Fn. 11), S. 89 (90). 17 Zur „Generalklauselmethode“ s. insb. Marburger, in: Müller-Graff (Hrsg.), Technische Regeln im Binnenmarkt, 1991, S. 27 (34).
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Normgebung als „selbstregulative Auslegungsofferte“18 für die zur Gesetzesanwendung berufenen Staatsorgane. So haben Behörden und Gerichte die Möglichkeit, geeignete private Normen im Wege „steuernder Rezeption“19 bei der Auslegung konkretisierungsbedürftiger Rechtsbegriffe heranzuziehen. Wenn z. B. eine öffentlichrechtliche Genehmigungsnorm verlangt, dass die „Regeln der Technik“ zu beachten sind, dann kann sich die zuständige Behörde zur Konkretisierung der Genehmigungsvoraussetzungen einschlägige DIN-Normen „zu eigen machen“20. In diesem Fall ist der antragstellende Bürger gut beraten, die privaten Standards einzuhalten, wenn er keine Ablehnung riskieren will, d. h. die Regelungen des DIN entfalten eine de-facto-Verbindlichkeit, obwohl sie – als private Normen – rechtlich gerade nicht verbindlich sind. Gegenüber dem klassischen Ansatz staatlicher Gesetzgebung bietet private Normgebung diverse Vorteile:21 Private Akteure bringen ein spezifisches Knowhow bei der Gestaltung ihrer Normen ein, über das der Staat von Hause aus nicht verfügt. Typischerweise sind private Normgeber auch in der Lage, flexibler auf neue Entwicklungen zu reagieren, als dies im Wege eines Gesetzgebungsverfahrens möglich wäre. Darüber hinaus führt private Normgebung tendenziell zu hoher inhaltlicher Akzeptanz, denn wer seine eigenen Regeln formuliert, wird sich regelmäßig auch für deren Beachtung verantwortlich fühlen. Damit verbessert sich das Implementierungsniveau. Schließlich leistet private Normgebung auch einen wichtigen Beitrag zur Entlastung des Staates. Er kann seine knappen Ressourcen schonen, soweit Private die Normgebung übernehmen. Ungeachtet dieser positiven Effekte ist das Konzept privater Normgebung an verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen gebunden. So folgt aus dem Demokratieund Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ein „normatives Gestaltungs- und Letztentscheidungsmonopol“22 des parlamentarischen Gesetzgebers. Nur er ist legitimiert, befugt und befähigt, verbindliche und ggf. imperativ durchsetzbare Regeln mit Geltung für alle zu setzen. Darüber hinaus unterliegt der Staat einem „Steuerungsmandat“23, dessen er sich nicht entledigen darf. Deshalb sind dynamische Verweisungen ausgeschlossen, mit denen ein Gesetz private Regelwerke in ihrer jeweils geltenden Fassung inkorporiert.24 Zulässig wäre hingegen eine statische Verweisung, die eine konkrete Fassung des privaten Regelwerks in Bezug nimmt, denn hier bleibt der Gesetzgeber Herr des Verfahrens. Außerdem muss sich der Staat eine „Zugriffs18
Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (256); ders., in: Kloepfer (Fn. 11), S. 89 (95). Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (205). 20 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (256). 21 Zum Folgenden Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (250 f.).; s. auch ders., in: Kloepfer (Fn. 11), S. 89 (90): „Gesetzgeberische Enthaltsamkeit“ als „Ausdruck einer politischen Strategie“. 22 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (251 ff., 252). 23 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (253). 24 Ebd., m.w.N. 19
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option“25 sichern und selbst tätig werden, wenn sich private Normgebung in bestimmten Konstellationen als nicht ausreichend erweist, um den Schutz grundrechtsrelevanter Güter angemessen zu gewährleisten. Insoweit trifft ihn auch eine „Beobachtungspflicht“26, d. h. er muss sich einen Überblick über die tatsächliche Praxis verschaffen, um Fehlentwicklungen erkennen und ggf. eingreifen zu können. Der o.g. Mechanismus der Generalklauselmethode steht prinzipiell auf verfassungsrechtlich belastbarem Boden.27 Zwar ist der Gesetzgeber nach der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG28 verpflichtet, die grundlegenden normativen Entscheidungen selbst zu treffen und dies nicht anderen Normgebern zu überlassen. Die Verfassung verlangt aber gerade keinen Totalvorbehalt des Gesetzes.29 Wenn also der Gesetzgeber selbst die „normativen Grundstandards“30 setzt und lediglich deren Konkretisierung mittels privater Normen zulässt, steht die Wesentlichkeitstheorie dem nicht entgegen. Gleichwohl ist die Anwendung der Generalklauselmethode an „demokratisch-rechtsstaatliche Mindestanforderungen“31 geknüpft: Wenn sich staatliche Organe private Normen zur Konkretisierung gesetzlicher Standards zu eigen machen möchten, setzt dies verfassungsrechtlich voraus, dass die rezipierten Regelungen eine hinreichende Richtigkeitsgewähr bieten. Letzteres ist nicht im Wege einer staatlichen Inhaltskontrolle, sondern auf prozeduraler Ebene sicherzustellen. Das bedeutet, je stärker die demokratisch-rechtsstaatlichen Grundsätze der „Transparenz, Publizität, Repräsentanz und Revisibiliät“32 im Rahmen des privaten Normgebungsverfahrens Berücksichtigung finden, desto eher ist es gerechtfertigt, dass Behörden und Gerichte die privaten Regelwerke im Sinne einer selbstregulativen Auslegungsofferte nutzen. 2. Entstehung und Struktur des Kodex Im Jahr 2001 hatte die damalige „Regierungskommission Corporate Governance“ der Bundesregierung empfohlen, das geltende Gesetzesrecht durch einen „Corporate Governance-Kodex für die Unternehmensleitung und -überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften“ zu ergänzen.33 Die Kommission war zuvor durch den 25
Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (172 ff.); ders., ZLR 1997, 249 (254). Ebd. 27 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (252, 253 ff.). 28 BVerfGE 40, 237 (249); E 49, 89 (126 f.); E 83, 130 (152); E 95, 267 (309). 29 So z. B. Grzeszik, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 81. EL 2017, Art. 20 Rn. 108 ff. (m.w.N). Vgl. auch BVerfGE 49, 89 (124 ff.); E 67, 100 (139); E 68, 1 (87). 30 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (254), dort auch zur Wesentlichkeitstheorie. 31 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (256 f.). 32 Schmidt-Preuß, in: Kloepfer (Fn. 11), S. 89 (96). 33 S. hierzu den Abschlussbericht der Regierungskommission „Corporate Governance“, veröffentlicht in BT-Drs. 14/7515 v. 14. 8. 2001, dort S. 3, 14 und 26 ff. Instruktiv zur Entstehung des Kodex auch Kremer, ZIP 2011, 1177 ff. („Wo kommt der Kodex her?“), sowie 26
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Bundeskanzler eingesetzt und damit beauftragt worden, Vorschläge für eine Modernisierung des deutschen Systems der Unternehmensführung und -kontrolle zu erarbeiten. Unter Leitung von Theodor Baums verstand die Regierungskommission ihre Aufgabe nicht nur dahingehend, Verbesserungsbedarf für bestehende gesetzliche Regelungen zu identifizieren. Vielmehr ging es ihr auch und insbesondere um eine „Neujustierung des Verhältnisses von staatlichem Ordnungsrahmen und Instrumenten der Selbstregulierung“34. Neben dem grundsätzlichen Ansatz, einen gesetzesergänzenden Kodex guter Unternehmensführung in Deutschland zu etablieren, legte die Regierungskommission in ihrem Abschlussbericht auch bereits konkrete Vorschläge zur konzeptionellen Ausgestaltung eines solchen Regelwerks vor. Zusammenfassend ging es dabei um zwei wesentliche Strukturelemente: Zum einen sollte eine Expertenkommission anerkannter und fachlich geeigneter Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Wissenschaft eingerichtet werden, um den Kodex inhaltlich auszuarbeiten und weiterzuentwickeln.35 Zum anderen war im Abschlussbericht vorgesehen, dass die Regelungen des Kodex reinen Empfehlungscharakter haben sollten, allerdings verbunden mit einer Pflicht für die Vorstände und Aufsichtsräte börsennotierter Gesellschaften, jährlich zu erklären, inwieweit sie die Empfehlungen des Kodex befolgen und aus welchem Grund ggf. abgewichen wird („entsprich oder erkläre“).36 Wie im Abschlussbericht der Baums-Kommission empfohlen, errichtete das Bundesministerium der Justiz am 6. September 2001 die „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ und beauftragte sie, Verhaltensregeln zur Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften aufzustellen und das deutsche System der Corporate Governance für nationale und internationale Investoren transparent zu machen.37 Nach knapp sechs Monaten Beratung legte die Kodex-Kommission am 26. Februar 2002 die Ursprungsfassung ihres „Deutschen Corporate Governance Kodex“ vor. Seither überprüft sie – im Sinne einer „Standing Commission“38 – laufend dessen Inhalte und beschließt in regelmäßigen Abständen über etwaige Änderungen. Inhaltlich ist der Kodex in Regelungsabschnitte gegliedert, die sich mit den Aktionären und der Hauptversammlung (Ziff. 2 DCGK), dem Vorstand und dem Aufsichtsrat (Ziff. 3 bis Ziff. 5 DCGK), der Transparenz bestimmter Unternehmensinv. Werder (Fn. 4), 2. Teil, Rn. 1 ff., und Knöringer-Fröhlich, Die Bedeutung des Deutschen Corporate Governance Kodex im Deutschen Aktienrecht, 2006, S. 53 ff. 34 BT-Drs. 14/7515, S. 3. 35 BT-Drs. 14/7515, S. 14 sowie S. 31 f. 36 BT-Drs. 14/7515, S. 14 und S. 29. 37 S. hierzu die Pressemitteilung des Bundesjustizministeriums vom 6. 9. 2001 sowie die Rede des ersten Vorsitzenden der Kodex-Kommission Gerhard Cromme vom 18. 12. 2001 anlässlich der Veröffentlichung des Entwurfs für einen Deutschen Corporate Governance Kodex (abrufbar unter www.dcgk.de; dort: „Presse“). 38 Kremer, ZIP 2011, 1177 (1178); Hoffmann-Becking, FS Hüffer, 2010, S. 337 (337).
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formationen (Ziff. 6 DCGK) sowie mit der Rechnungslegung und Abschlussprüfung (Ziff. 7 DCGK) befassen. Einen Schwerpunkt bilden die Regelungen zur Arbeitsweise, Zusammensetzung und Unabhängigkeit des Aufsichtsrats39 sowie zum Umgang seiner Mitglieder mit möglichen Interessenkonflikten40. Außerdem kommt den Vergütungsthemen, insbesondere der Vorstandsvergütung41, eine besondere Bedeutung zu. Basierend auf seiner Ursprungsfassung aus dem Jahr 2002 wurde der Deutsche Corporate Governance Kodex bis heute zwölf Mal überarbeitet. Die aktuelle Version datiert vom 7. Februar 2017.42 3. Die Kodex-Kommission als Normgeberin Ausweislich ihrer eigenen Geschäftsordnung „entwickelt und aktualisiert“ die „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ im Rahmen „der Selbstregulierung der deutschen Wirtschaft“ den Deutschen Corporate Governance Kodex.43 Als Expertengremium ist sie besetzt mit Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern kapitalmarktorientierter Unternehmen, mit Vertretern der Anleger, der Gewerkschaften und der Wirtschaftsprüfer sowie mit Repräsentanten der Rechtsund Wirtschaftswissenschaften.44 Die Kodex-Kommission erfüllt ihre Aufgaben unabhängig von der Bundesregierung und auch unabhängig von den Unternehmen oder Institutionen ihrer Mitglieder.45 Die Mitgliedschaft in der Kommission ist ein persönliches Ehrenamt; eine Vertretung ist nicht zulässig.46 Innerhalb des Gremiums gilt das Kollegialprinzip, d. h. bei der Entscheidungsfindung haben alle Mitglieder die gleichen Rechte.47 Grundsätzlich werden alle Beschlüsse einvernehmlich gefasst.48 Ist dies nicht möglich, kann der Vorsitzende eine mehrheitliche Beschlussfassung anordnen.49 Änderungen des Kodex bedürfen einer Zweidrittelmehrheit der Anwesenden.50
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Ziff. 5.1, 5.2, 5.3 und 5.4 DCGK. Ziff. 5.5 DCGK. 41 Ziff. 4.2 DCGK. 42 Eine dreizehnte Überarbeitung des Kodex ist bereits angekündigt. Konkrete Entwürfe liegen bei Finalisierung dieses Beitrags aber noch nicht vor. 43 Ziff. 1.1 Abs. 1 der Geschäftsordnung der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex (im Folgenden „GO Kodex-Kommission“); abrufbar unter www.dcgk.de (dort: „Kommission“ und „Geschäftsordnung“). 44 Vgl. Ziff. 1.2 Abs. 1 GO Kodex-Kommission. Zur aktuellen Zusammensetzung s. www.dcgk.de (dort: „Kommission“ und „Mitglieder“). 45 Ziff. 1.1 Abs. 3 GO Kodex-Kommission. 46 Ziff. 1.3 Abs. 1 S. 1 GO Kodex-Kommission. 47 Ziff. 2 Abs. 1 GO Kodex-Kommission. 48 Ziff. 3.2 Abs. 5 S. 1 GO Kodex-Kommission. 49 Ziff. 3.2 Abs. 5 S. 2 GO Kodex-Kommission. 50 Ziff. 3.2 Abs. 5 S. 3 GO Kodex-Kommission. 40
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Ungeachtet dieser eindeutig selbstregulativen Ausrichtung der Kommission in Bezug auf ihre Aufgabe, Zusammensetzung und Arbeitsweise ist der steuernde Einfluss des Staates in der Gesamtkonzeption unverkennbar. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass die Kodex-Kommission seinerzeit durch das damalige Bundesministerium der Justiz im Wege eines Regierungsaktes51 gebildet und mit der Gestaltung eines Kodex beauftragt wurde. Vielmehr begleitet der Staat die Tätigkeit der Kommission auch fortlaufend durch flankierende Steuerungsmaßnahmen: So werden die Kommissions-Mitglieder in Abstimmung mit dem Vorsitzenden der Kommission und im Einvernehmen mit dem Bundeskanzleramt vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) berufen und abberufen. Auch die Ernennung des Kommissions-Vorsitzenden erfolgt durch das Ministerium. Hinzu kommt, dass das BMJV den Inhalt jeder neuen Kodex-Fassung auf deren Gesetzmäßigkeit prüft52 und anschließend im Bundesanzeiger bekannt macht53. In diesem Sinne stellt sich der Prozess der Kodexgebung als Verzahnung und Durchmischung selbstregulativer und staatlich steuernder Elemente dar.54 Soweit im Schrifttum mit Blick auf die staatlich steuernden Aspekte vertreten wird, der Kodex sei im „System der Handlungsformen des öffentlichen Rechts“ als „schlicht hoheitliches Verwaltungshandeln“55 oder dem Staat zurechenbarer „Realakt“56 zu qualifizieren, trifft dies nur die halbe Wahrheit. Derartige Sichtweisen messen den selbstregulativen Elementen der Kodexgebung zu geringe Bedeutung bei. Die festgestellte Verzahnung und Durchmischung gesellschaftlicher und staatlicher Beiträge fordert eine differenzierte Betrachtung: Die inhaltliche Gestaltung und Verabschiedung des Kodex selbst ist ein Akt privater Normgebung. Er wird vollzogen durch ein weisungsfrei, unabhängig und konsensual agierendes Gremium privater Repräsentanten aus Wirtschaft und Wissenschaft. Hiervon zu unterscheiden ist die Veröffentlichung des bereits verabschiedeten Kodex im Bundesanzeiger durch
51
Hoffmann-Becking (Fn. 38), S. 337 (339). Zur Rechtmäßigkeitskontrolle durch das Ministerium s. Seibert, BB 2002, 581 (582); ders., NZG 2002, 608 (611); Lutter, in: Zöllner/Noack (Hrsg.), Kölner Kommentar zum AktG, Band 3, 3. TL, 3. Aufl. 2012, § 161 Rn. 13 f. (nur Kontrolle der Rechtmäßigkeit, keine Überprüfung der Zweckmäßigkeit); Bachmann, FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 75 (85); Wandt, ZIP 2012, 1443 (1444) (dort auch zu den Folgen einer negativen Prüfung durch das Ministerium). 53 S. § 161 Abs. 1 S. 1 AktG: „[…] den vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im amtlichen Teil des Bundesanzeigers bekannt gemachten Empfehlungen […]“. 54 Allgemein und grundlegend zu den Formen der „Verzahnung und Durchmischung“ gesteuerter Selbstregulierung: Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (165). 55 So ausdrücklich Hoffmann-Becking (Fn. 38), S. 337 (340); in diesem Sinne auch Heintzen, ZIP 2004, 1933 (1934) („Der Kodex als staatliches Regelwerk“). 56 Seidel, ZIP 2004, 285 (289); s. auch ders., NZG 2004, 1095 („Maßnahme der Bundesregierung“). 52
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das BMJV. Hierbei handelt es sich in der Tat um einen öffentlich-rechtlichen Akt schlicht hoheitlichen Verwaltungshandelns.57 4. Der Wirkmechanismus des „comply or explain“ Als Akt privater Normgebung ist der Deutsche Corporate Governance Kodex per se unverbindlich, d. h. es besteht keine Pflicht, ihn zu befolgen. In den „klassischen“ Bereichen gesteuerter Selbstregulierung erlangen private Regelwerke vielfach auf Grund der bereits beschriebenen „Generalklauselmethode“58 eine „de-facto-Verbindlichkeit“59. Ob und inwieweit diese Methode auch im Bereich der Kodex-Regulierung zur Anwendung kommen und Wirkung entfalten kann, wird noch zu untersuchen sein.60 Hier steht zunächst ein anderer Mechanismus im Vordergrund, den der Gesetzgeber, wie im Abschlussbericht der Baums-Kommission empfohlen,61 explizit auf den Kodex zugeschnitten und in § 161 AktG verankert hat, und der dem Kodex eine – sehr spezifische – Wirksamkeit verleiht: Es geht um das Konzept des „comply or explain“. Danach haben die Vorstände und Aufsichtsräte börsennotierter und anderer kapitalmarktorientierter Gesellschaften jährlich zu erklären und auf ihrer Internetseite zu veröffentlichen, inwieweit den bekannt gemachten Empfehlungen des Kodex „entsprochen wurde und wird“ (§ 161 Abs. 1 Satz 1 AktG). Aus Sicht staatlicher Steuerungslogik und im Lichte gesteuerter Selbstregulierung steht dahinter die Überlegung, dass sich die betroffenen Organmitglieder angesichts der Öffentlichkeitswirkung ihrer Erklärung typischerweise veranlasst sehen, die (rechtlich) unverbindlichen Kodex-Empfehlungen (tatsächlich) zu befolgen. Denn wer den Empfehlungen des Kodex nicht entspricht, muss dies öffentlich kundtun und steht damit am gesellschaftlichen Pranger62. Mit anderen Worten: Die gesetzliche Erklärungspflicht induziert gesellschaftlichen Befolgungsdruck. In diesem Sinne begründet § 161 AktG zwar keine rechtliche, aber eine faktische Bindungswirkung63 der Kodex-Empfehlungen. 57
Allgemein zur öffentlich-rechtlichen Kategorie des schlicht hoheitlichen Verwaltungshandelns Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 1 Rn. 144 ff., 264; von Alemann/Scheffcyk, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwVfG, 38. Ed. 2018, § 35 Rn. 145 ff. Zur „informationellen Steuerung“ durch schlichtes Verwaltungshandeln s. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (225). 58 S. o. Abschnitt 1. und dort Fn. 17. 59 S. o. Abschnitt 1. und dort Fn. 16. 60 S. u. Teil II., dort Abschnitt 1. b) aa). 61 S. o. Abschnitt 2. (Entstehung und Struktur des Kodex). 62 Vgl. auch Goette, in: MüKo AktG, 4. Aufl. 2018, § 161 Rn. 34 („Prangerwirkung“). Generell zum sog. „Prangereffekt“ als Faktor gesteuerter Selbstregulierung (insb. im Umweltrecht): Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (187). 63 So ausdrücklich („faktische Bindungswirkung“) bereits Habersack, Gutachten zum 69. Deutschen Juristentag 2012, Teil E, S. 24, und Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173 (1174); s. insoweit auch Mülbert/Wilhelm, ZHR 2012, 286 (319) („faktischer Befolgungszwang“);
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Die Erklärungspflicht des § 161 AktG bezieht sich ausdrücklich nur auf die sog. „Empfehlungen“ des Kodex. Hierbei handelt es sich um einen in der Kodex-Präambel definierten Rechtsbegriff. Dort werden insgesamt drei Normenkategorien unterschieden: Die erwähnten Empfehlungen bilden die erste Gruppe. Sie sind im Kodex durch das Hilfsverb „soll“ gekennzeichnet.64 Wird eine Empfehlung nicht befolgt, so muss dies gem. § 161 AktG erklärt und begründet werden. Demgegenüber kommt der Kategorie der sog. „Anregungen“ eine geringere Bedeutung zu. Der Kodex macht sie durch „sollte“-Formulierungen kenntlich.65 Im Rahmen der Entsprechenserklärung besteht zwar die Möglichkeit, aber nicht die Pflicht, sich zur Befolgung von Anregungen zu äußern. Allerdings können Aktionäre auf der Hauptversammlung nach der allgemeinen Vorschrift des § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG Auskunft darüber verlangen, inwieweit die Anregungen des Kodex von der Gesellschaft beachtet wurden.66 Die dritte Normenkategorie des Kodex bilden schließlich solche Regelungen, die lediglich das geltende Gesetzesrecht wiedergeben. Sie dienen der Transparenz und sollen - insbesondere für ausländische Investoren – Zusammenhänge deutlich machen. Im Hinblick auf die Pflicht zur Abgabe einer Entsprechenserklärung sind sie nicht relevant. In der beschriebenen Systematik der Normenkategorien zeigt sich ein allgemeines Steuerungsmodell, das man als „Konzept der gestuften Regulierung“67 bezeichnen kann. Bestimmte Regelungen des Kodex werden mit Blick auf das Ziel guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung als besonders wichtig identifiziert. Dementsprechend definiert der Kodexgeber sie als „Empfehlungen“ mit der Folge einer zwingenden gesetzlichen Erklärungspflicht, die wiederum darauf abzielt, eine Beachtung dieser Regelungen zu forcieren. Demgegenüber werden weniger wichtige Kodex-Regeln als „Anregungen“ gekennzeichnet mit der Konsequenz, dass sich eine Pflicht zur Erklärung nur ergeben kann, wenn und soweit ein Aktionär auf der Hauptversammlung konkrete Auskunft verlangt. Letztlich generiert der Kodexgeber mit seinen Empfehlungen und Anregungen ein Stufenverhältnis privater
Wernsmann/Gatzka, NZG 2011, 1001 (1006) („Faktischer Befolgungsdruck“); Vetter, in: Henssler/Strohn (Hrsg.), AktG, 3. Aufl. 2016, § 161 Rn. 7 („wirtschaftlicher Druck zur Beachtung“); Grigoleit/Zellner, in: Grigoleit (Hrsg.), AktG, 2013, § 161 Rn. 5 („erheblicher faktischer Befolgungsdruck“); Goette (Fn. 62), § 161 Rn. 19 („intendierter faktischer Zwang zum comply“). Allgemein zur „de-facto-Verbindlichkeit“ privater Normen und zur Kategorie der „Induzierung“ bei gesteuerter Selbstregulierung: Schmidt-Preuß, s. o. Fn. 16 und Fn. 15. 64 Kodex-Präambel, Abs. 11, S. 1. Ein Beispiel für eine Empfehlung ist Ziff. 5.5.2 DCGK: „Jedes Aufsichtsratsmitglied soll Interessenkonflikte […] dem Aufsichtsrat gegenüber offenlegen“. 65 Kodex-Präambel, Abs. 11, S. 6. Ein Beispiel für eine Anregung ist Ziff. 5.1.2 Abs. 2 S. 1 DCGK: „Bei Erstbestellungen [von Mitgliedern des Vorstands] sollte die maximal mögliche Bestelldauer von fünf Jahren nicht die Regel sein“. 66 S. hierzu Lutter (Fn. 52), § 161 Rn. 118. 67 Wegmann, Regulierte Marktöffnung in der Telekommunikation, 2001, S. 78; s. dort auch S. 108, 121, 164, 235, 249, 250, 256 f., 300 f., 324 f.
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Normenkategorien, an das der Gesetzgeber korrespondierend abgestufte Rechtsfolgen knüpft. Allein der Umstand, dass der Kodexgeber bestimmte Regelungen als „Empfehlungen“ definiert, vermag die Erklärungspflicht des § 161 AktG allerdings nicht zu begründen. Nach § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG ist eine Entsprechenserklärung nur in Bezug auf die „vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im amtlichen Teil des Bundesanzeigers bekannt gemachten“ Empfehlungen abzugeben. Das bedeutet: Die bloße Verabschiedung von Kodex-Empfehlungen durch die Kommission löst als solche noch keine Rechtsfolgen aus. Die gesetzliche Erklärungspflicht entsteht erst mit der Bekanntmachung durch das Ministerium. Unter staatlichen Steuerungsaspekten dient dies einem doppelten Zweck: Zum einen wird damit ein hohes Maß an rechtsstaatlicher Transparenz und Publizität geschaffen, denn nach der Bekanntmachung ist für die betroffenen Vorstände und Aufsichtsräte klar erkennbar, zu welchen Empfehlungen sie sich erklären müssen. Zum anderen sichert der Staat auf diese Weise ab, dass sich die Erklärungspflicht des § 161 AktG nicht auf rechtswidrige Empfehlungen bezieht, denn das BMJV führt – wie bereits erwähnt – stets eine eigene Rechtmäßigkeitsprüfung durch, bevor es eine neue Kodex-Fassung bekannt macht. Insgesamt lässt sich die spezifische Wirkungsweise des Deutschen Corporate Governance Kodex daher als verzahnte Mischform gesteuerter Selbstregulierung wie folgt beschreiben: Die inhaltliche Gestaltung und Verabschiedung des Kodex durch die Kommission ist ein selbstregulativer Akt privater Normgebung.68 Wirksamkeit im Sinne einer faktischen Bindungswirkung erlangen die privaten Normen auf Grund einer gesetzlich verordneten Erklärungspflicht („comply or explain“), die wiederum nur für solche Kodex-Empfehlungen greift, die im Wege eines ministerialen Aktes schlicht hoheitlichen Verwaltungshandelns69 förmlich bekannt gemacht wurden. II. Der Kodex im Normengefüge des Aktienrechts Im folgenden zweiten Teil der Untersuchung geht es um den Standort und die Bedeutung des Deutschen Corporate Governance Kodex im System aktienrechtlicher Normen. Die Unternehmensleitung und deren Kontrolle durch Vorstand und Aufsichtsrat ist nicht nur Gegenstand von Kodex-Empfehlungen, sondern auch – und insbesondere – originärer Bestandteil des Aktiengesetzes. Schon aus diesem Grund liegt es nahe, dass beide Regelwerke nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern in bestimmter Weise aufeinander bezogen und miteinander verknüpft sind. Dies gilt es näher zu beleuchten.
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1. Aktienrechtliche Sorgfaltspflichten (§§ 93, 116 AktG) Nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG haben die Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft bei ihrer Geschäftsführung die „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ anzuwenden. Entsprechendes gilt auch für die Mitglieder des Aufsichtsrats (§ 116 Satz 1 i.V.m. § 93 AktG). Damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung und Funktionsweise des Kodex im Kontext der gesetzlichen Sorgfaltspflichten. Ausweislich seiner Präambel normiert der Kodex „international und national anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung“70. Dies legt – einerseits – den Schluss nahe, dass die Nichtbeachtung von Kodex-Empfehlungen als aktienrechtliche Pflichtwidrigkeit zu werten ist, denn von einem „ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiter“ wird man wohl erwarten müssen, dass seine Unternehmensführung „anerkannten Standards“ entspricht. Andererseits sind die Empfehlungen des Kodex als private Normen rechtlich nicht bindend, so dass es konzeptionell und auch verfassungsrechtlich verfehlt wäre, ihnen mittelbar über die §§ 93, 116 AktG eine Verbindlichkeit einräumen zu wollen. Eine Analyse der konkreten Anforderungen aktienrechtlicher Sorgfaltspflichten soll daher Aufschluss geben, ob und inwieweit der Kodex im Normengefüge der §§ 93, 116 AktG Wirkung entfalten kann. a) Legalitätspflicht Ein wesentlicher Aspekt aktienrechtlich geforderter Sorgfalt ist die sog. Legalitätspflicht. Danach sind die Gesellschaftsorgane gehalten, die im Aktiengesetz, der Satzung und der Geschäftsordnung niedergelegten Organpflichten zu erfüllen und die das Unternehmen betreffenden Rechtsvorschriften des allgemeinen Zivilrechts, des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts sowie des öffentlichen Rechts zu befolgen.71 Wer bei seiner Amtsführung geltendes Gesetzesrecht verletzt oder interne Gesellschaftsstatuten missachtet, der handelt zugleich pflichtwidrig im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Allerdings ist der Deutsche Corporate Governance Kodex – schon mangels Beschlusskompetenz der Kodex-Kommission – weder ein Gesetz noch eine Satzung oder eine Geschäftsordnung und kann daher per se nicht Gegenstand aktienrechtlicher Legalitätspflichten sein. Zwar ist es durchaus möglich, dass sich Unternehmen im Wege eines gesellschaftsrechtlichen Organisationsaktes selbst an bestimmte Regelungen guter Corporate Governance binden und diese beispielsweise in ihre Satzungen oder Geschäftsordnungen inkorporieren.72 In solchen Fällen wäre die Nichtbeachtung der entspre70
Kodex-Präambel, Abs. 1 S. 1. S. nur Fleischer, in: Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, 1. Band, 3. Aufl. 2015, § 93 Rn. 12, 14 ff., 36 (m.w.N.). 72 Vertiefend hierzu Borges, ZGR 2003, 508 (521 ff., 539) („Selbstbindung“ durch „gesellschaftsrechtlichen Organisationsakt“); Lutter, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder (Hrsg.), DCGK, 7. Aufl. 2018, 4. Teil, Rn. 1892 ff. („Gesellschaftsinterne Umsetzungsmög71
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chenden Governance-Regeln in der Tat als aktienrechtliche Pflichtverletzung der handelnden Organmitglieder zu werten. Grundlage eines Legalitätspflichtverstoßes wäre in derartigen Konstellation aber nicht etwa die Missachtung der von der KodexKommission verabschiedeten Empfehlungen, sondern allein die Verletzung der durch die eigenen Gesellschaftsorgane qua Organisationsakt beschlossenen Gesellschaftsstatuten. Daher bleibt es dabei: Wer die Empfehlungen des Kodex nicht befolgt, verletzt keine aktienrechtlichen Legalitätspflichten. b) Sonstige Sorgfaltspflichten Jenseits der Legalitätspflicht haben Rspr. und Lehre zu § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG diverse weitere Kategorien aktienrechtlicher Sorgfaltspflichten entwickelt.73 Hier sind insbesondere die Überwachungs- und Treuepflichten sowie die Sorgfaltspflichten im engeren Sinne zu nennen. Letztere werden wiederum systematisiert in Pflichten zur ordnungsgemäßen Unternehmensplanung und -steuerung sowie Pflichten zur Wahrnehmung von Organisations-, Finanz- und Informationsverantwortung. All diese Pflichtenkategorien implizieren, anders als die Legalitätspflicht, unternehmerische Ermessensspielräume.74 Stellt man sie in den Kontext der Regelungsinhalte des Deutschen Corporate Governance Kodex, sind deutliche Korrelationen erkennbar. So zeigt sich, dass die spezifischen Empfehlungen des Kodex jeweils partielle Einzelaspekte der allgemeinen aktienrechtlichen Sorgfaltspflichten ansprechen. Hierzu folgende Beispiele: In Ziff. 4.1.5 DCGK wird dem Vorstand empfohlen, bei der Besetzung von Führungsfunktionen auf „Diversity“ zu achten. Damit gibt der Kodex dem Vorstand partielle Hinweise zur Wahrnehmung seiner aktienrechtlichen Organisationsverantwortung. In vergleichbarer Weise stehen die Empfehlungen in Ziff. 4.2 DCGK zur Höhe und Gestaltung der Vorstandsvergütung im engen Zusammenhang mit der aktienrechtlichen Überwachungsverantwortung des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand. Die Kodex-Regelungen zum Umgang mit Interessenkonflikten in Ziff. 4.3 und Ziff. 5.5 DCGK lassen sich wiederum als Teilaspekte allgemeiner organschaftlicher Treuepflichten verstehen. Soweit der Kodex in Ziff. 5.4 spezifische Empfehlungen zur Zusammensetzung des Aufsichtsrats gibt, ist damit die generelle Pflicht des Gremiums zur (Selbst-)Organisation75 angesprochen, und die lichkeiten“); ders. (Fn. 52), § 161 Rn. 119 ff. (Möglichkeiten) und Rn. 123 ff. (Rechtsfolgen einer gesellschaftsinternen Umsetzung); Bayer/Scholz, in: Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, 2. Band, 3. Aufl. 2015, § 161 Rn. 24, 50 („innergesellschaftliche Transformation“); Grigoleit/ Zellner (Fn. 63), § 161 Rn. 15 f. („Gesellschaftsinterne Bindung“); Knöringer-Fröhlich (Fn. 33), S. 255 ff. („Gesellschaftsinterne Übernahme“). 73 Sehr instruktiv hierzu Fleischer (Fn. 71), § 93 Rn. 94 ff. (Überwachungspflichten), Rn. 113 ff. (Treuepflichten), Rn. 41 ff. (Sorgfaltspflichten im engeren Sinne). 74 Zum „Geschäftsleiterermessen“ s. z. B. Fleischer (Fn. 71), § 93 Rn. 13; Spindler, in: MüKo AktG, 4. Aufl. 2014, § 93 Rn. 54 ff.; Goette, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 123 (124); Habersack, FS Schneider, 2011, S. 429 ff.; Semler, FS Ulmer, 2003, S. 627 f. 75 Zur „Selbstorganisation“ als Pflicht des Aufsichtsrats s. Habersack, in: MüKo AktG, 4. Aufl. 2014, § 116 Rn. 17; Hüffer/Koch (Fn. 3), § 116 Rn. 2.
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Transparenz-Empfehlungen in Ziff. 6 DCGK zahlen letztlich auf die aktienrechtliche Informationsverantwortung des Vorstands ein. Offensichtlich sollen sich die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats bei Wahrnehmung ihrer aktienrechtlichen Pflichten an den Empfehlungen des Kodex orientieren. Fraglich ist aber, ob diese intendierte Orientierungsfunktion auch rechtliche Wirkungen entfalten kann. Oder anders gewendet: Werden gesetzliche Sorgfaltspflichten tangiert, wenn sich Organmitglieder bei ihren unternehmerischen Entscheidungen gerade nicht am Kodex orientieren und einschlägige Empfehlungen unberücksichtigt lassen? Als privates Regelwerk ist der Kodex zwar unverbindlich, so dass eine Befolgungspflicht ausscheidet. Möglicherweise wirkt er aber auf andere Weise in das Pflichtengefüge des Aktiengesetzes ein. Insoweit sind zwei Ansatzpunkte denkbar: Kodex-Empfehlungen könnten als selbstregulative Auslegungsofferte (aa)) oder als spezifische Abwägungsaspekte (bb)) eine rechtliche Bedeutung im Rahmen der §§ 93, 116 AktG erlangen. aa) Kodex-Empfehlungen als „selbstregulative Auslegungsofferte“? Nach der bereits beschriebenen Generalklauselmethode können Regelwerke privater Normgebung als „selbstregulative Auslegungsofferte“ eine spezifische Wirksamkeit im Kontext gesetzlicher Standards entfalten.76 Klassischer Anwendungsfall sind die privaten DIN-Normen, die im Bereich des Technikrechts von Behörden und Gerichten vielfach herangezogen werden, um unbestimmte Rechtsbegriffe (z. B. die „Regeln der Technik“) zu konkretisieren. Ganz in diesem Sinne – und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Parallele im Technikrecht – wird auch im aktienrechtlichen Schrifttum teilweise vertreten, dass sich die Gerichte bei ihren Entscheidungen „zur Ausfüllung des Sorgfaltsmaßstabs der §§ 93, 116 AktG“ an den Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex „orientieren“77 und diese als „Interpretationshilfe“78 nutzen könnten. Demgegenüber lehnt die wohl überwiegende Meinung – mit unterschiedlichen Nuancen und Begründungen – eine derartige Konkretisierungs- oder Indizfunktion des Kodex ab.79 Dabei stützen sich die Vertreter dieser Auffassung im Wesentlichen auf drei Argumentationslinien: Zunächst wird der unverbindliche Charakter des Kodex ins Feld geführt. Der Gesetzgeber habe in § 161 AktG ausdrücklich eine „Ausstiegsmöglichkeit“ von der Beachtung der Kodex-Empfehlungen vorgesehen, die nicht im Wege einer konkretisierenden Aus76
S. o. Teil I. Abschnitt 1. mit Fn. 17 („Generalklauselmethode“) und Fn. 18 („selbstregulative Auslegungsofferte“). 77 Ulmer, ZHR 2002, 150 (166). 78 So ausdrücklich Kort, FS K. Schmidt, 2009, S. 945 (958 ff., 960). In diesem Sinne auch Knöringer-Fröhlich (Fn. 33), S. 239 ff., 255, wonach den Kodex-Empfehlungen im Hinblick auf § 93 Abs. 1 S. 1 AktG „normkonkretisierende Wirkung“ zukommen könne. 79 Eine gute Übersicht zum Meinungsstand findet sich bei Hüffer/Koch (Fn. 3), § 161 Rn. 26 f. Siehe insoweit auch Darstellung bei Runte/Eckert, in: Bürgers/Körber (Hrsg.), AktG, 4. Aufl. 2017, § 161 Rn. 53 f.
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legung der allgemeinen Sorgfaltspflichten „ad absurdum“ geführt werden dürfe.80 Darüber hinaus wird die fehlende Rechtsnormqualität des Kodex betont. Seine Empfehlungen seien „mangels parlamentarischer Legitimation“81 und „wegen erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken“82 nicht geeignet, die Pflichten des Aktiengesetzes zu konkretisieren. Schließlich wird die Tragfähigkeit der gezogenen Parallele zur DIN-Normung im Technikrecht bezweifelt. Während Regelungen des DIN „technische Mindeststandards“ definierten, die „auf technischem Erfahrungswissen“ basierten und auf Grund ihrer Reproduzierbarkeit als „Erfahrungsgrundsätze“ dienen könnten, handele es sich bei den Empfehlungen des Kodex um „Verhaltensanforderungen und normative Aussagen“, die „einer naturwissenschaftlichen Überprüfung nicht zugänglich“ seien und daher auch „keine Mindeststandards“ darstellten.83 Hierzu ist zunächst einmal Folgendes zu sagen: Es ist richtig, dass der Charakter des Kodex als „unverbindliche Verhaltensempfehlung“84 nicht ausgehöhlt werden darf. Sollte daher eine Konkretisierungsfunktion des Kodex überhaupt in Betracht kommen, ist insoweit Zurückhaltung geboten. Auch der Einwand fehlender demokratischer Legitimation ist grundsätzlich berechtigt. Als Akt privater Normgebung kann der Kodex keine rechtliche Verbindlichkeit entfalten, so dass er auch nicht als konkretisiertes Gesetzesrecht verstanden werden darf. Eine – wie auch immer geartete – Bindung der Gerichte, aktienrechtliche Sorgfaltspflichten im Lichte des Kodex zu interpretieren, kommt daher nicht in Betracht. Dies schließt aber nicht kategorisch aus, dass sich ein Gericht bestimmte Kodex-Empfehlungen Sinne der Generalklauselmethode zur Auslegung gesetzlicher Pflichten zu eigen macht, sofern es zu der Überzeugung gelangt, dass der jeweilige Empfehlungsinhalt im konkreten Fall passend und sachlich zutreffend ist.85 Soweit vorgetragen wird, der Kodex sei auf Grund seines Regelungsgehalts nicht mit DIN-Normen vergleichbar, mag dies durchaus zutreffend sein. Gleichwohl ist es aber denkbar, dass sich bestimmte Kodex-Empfehlungen inhaltlich eignen, aktienrechtliche Pflichten zu konkretisieren. Nach alldem erscheint es jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte geeignete Kodex-Empfehlungen als „selbstregulative Auslegungsofferte“ nutzen könnten, wenn es um die Konkretisierung aktienrechtlicher Sorgfaltspflichten geht.
80 Runte/Eckert (Fn. 79), § 161 Rn. 54; s. auch Spindler, in: Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, 3. Aufl. 2015, § 161 Rn. 68 (keine „Konkretisierungs- oder Indizfunktion“); Fleischer (Fn. 71), § 93 Rn. 46 (nur „unverbindliche Verhaltensempfehlungen“); Grigoleit/Zellner (Fn. 63), § 161 Rn. 37 (eine „Konkretisierung der Sorgfaltsanforderungen“ durch den Kodex würde diesem „contra legem“ eine „normative Verbindlichkeit“ beimessen). 81 von den Linden (Fn. 3), § 161 AktG Rn. 64. 82 Hüffer/Koch (Fn. 3), § 161 Rn. 27; Fleischer (Fn. 71), § 93 Rn. 46. 83 So ausdrücklich Weber-Rey/Buckel, AG 2011, 845 (846 f.). 84 BT-Drs. 14/8769, S. 21. 85 In diesem Sinne auch Lutter (Fn. 72), 4. Teil, Rn. 1918: „Richtigerweise wird man im Einzelfall zu prüfen haben, ob eine Empfehlung des Kodex zur Ausfüllung der Blankettnormen der §§ 93, 116 AktG geeignet erscheint“.
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Eine weitergehende Analyse zeigt jedoch, dass sich die Kodex-Regulierung in einem wesentlichen Punkt von den „klassischen“ Anwendungsbereichen der Generalklauselmethode unterscheidet. Wenn beispielsweise im Bereich des Technikrechts eine Genehmigungsnorm tatbestandlich verlangt, dass die zu errichtende Anlage den „Regeln der Technik“ entsprechen muss, dann ist es die originäre Aufgabe der entsprechenden Behörden (im Genehmigungsverfahren) und der zuständigen Verwaltungsgerichte (im Rechtsschutzverfahren), diesen unbestimmten Rechtsbegriff zu konkretisieren. Dabei können sich die Behörden und Gerichte privater (DIN-)Normen als „selbstregulative Auslegungsofferte“ bedienen. Konzeptionell ist es also Sache der Behörden und Gerichte, exakt und detailliert für den konkreten Fall zu definieren, was den „Regeln der Technik“ entspricht und somit genehmigungsfähig ist. Demgegenüber stellt sich die Situation im Fall der §§ 93, 116 AktG grundlegend anders dar. Denn die von den Gesellschaftsorganen zu beachtenden aktienrechtlichen Sorgfaltspflichten unterliegen einer sehr eingeschränkten richterlichen Kontrolle. So ist es nicht Aufgabe der Gerichte, im Einzelfall positiv zu definieren, was zur Erfüllung dieser Pflichten konkret zu leisten ist. Wird den Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern vorgeworfen, im Rahmen ihres unternehmerischen Handelns gegen Organpflichten verstoßen zu haben, so ergibt sich vielmehr aus der in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verankerten Business Judgment Rule ein verkürztes Prüfprogramm. Danach verletzt ein Organmitglied seine Sorgfaltspflichten dann nicht, wenn es „bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“. Sollte dem Deutschen Corporate Governance Kodex also tatsächlich eine Konkretisierungsfunktion zukommen, dann müsste sich diese bei den Tatbestandsmerkmalen der Business Judgment Rule – namentlich bei der Auslegung des Gesellschaftswohls – verorten lassen. Damit stellt sich die Frage, ob die Empfehlungen des Kodex den Gerichten als „selbstregulative Auslegungsofferte“ dienen können, wenn es darum geht, das in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geforderte Gesellschaftswohl zu konkretisieren. Dies wäre in der Tat denkbar, wenn es Aufgabe der Gerichte wäre, originär festzulegen, was im Einzelfall dem „Wohle“ einer Gesellschaft entspricht. So ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aber gerade nicht konzipiert. Vielmehr sind es die Gesellschaftsorgane selbst, die im Wege einer Abwägung im konkreten Fall und „auf Grundlage angemessener Information“ zu bewerten haben, ob ein bestimmtes unternehmerisches Verhalten dem Wohl ihrer Gesellschaft dient oder nicht. Insoweit steht ihnen eine Entscheidungsprärogative86 zu. Deren Grenze ist erst dann in haftungsrelevanter Weise überschritten, wenn das mit der Entscheidung verbundene Risiko „in völlig unverantwortlicher Weise falsch beurteilt“87 worden ist. Auf Grund dieser Ent86 S. hierzu Koch, ZGR 2006, 769 (790); Hüffer/Koch (Fn. 3), § 93 Rn. 23; Bachmann, ZHR 2013, 1 (9); Bürgers/Israel, in: Bürgers/Körber (Hrsg.), AktG, 4. Aufl. 2017, § 93 Rn. 15. 87 Hüffer/Koch (Fn. 3), § 93 Rn. 23, unter Hinweis auf BT-Drs. 15/5092, S. 11, und BGHZ 135, 244, 253.
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scheidungsprärogative der Gesellschaftsorgane sind die rechtlichen Möglichkeiten der Gerichte, Kodex-Empfehlungen als „selbstregulative Auslegungsofferte“ zur Konkretisierung des Gesellschaftswohls zu nutzen, auf ein sehr schmales Feld beschränkt. Nur im Rahmen der Beurteilung, ob eine unternehmerische Entscheidung von Vorstand oder Aufsichtsrat „völlig unverantwortlich“ war, könnten die Gerichte, sofern sie dies für sachdienlich hielten, den Kodex zu Rate ziehen. In diesem Sinne ist es zwar – theoretisch – nicht ausgeschlossen, dass ein vom Kodex empfohlenes Verhalten im konkreten Fall eine derartige Bedeutung für das Wohl der in Rede stehenden Gesellschaft erlangt, dass jedes Alternativverhalten schlechterdings als „völlig unverantwortlich“ zu werten wäre. Tatsächlich sind solche Konstellationen aber kaum denkbar. Im Regelfall kann der Kodex daher keine Wirkung als „selbstregulative Auslegungsofferte“ bei der Konkretisierung aktienrechtlicher Sorgfaltspflichten entfalten. bb) Kodex-Empfehlungen als spezifische Abwägungsaspekte Da das Gesellschaftswohl, wie eben festgestellt, originär von den Gesellschaftsorganen und nicht durch die Gerichte zu konkretisieren ist, bedarf es einer weiteren Untersuchung, ob und inwieweit sich Kodex-Empfehlungen auf die rechtlichen Anforderungen einer pflichtgemäßen internen Willensbildung von Vorstand und Aufsichtsrat im Vorfeld unternehmerischer Entscheidungen auswirken. Im Kern geht es also um die Frage, in welcher Weise die Gesellschaftsorgane zu beurteilen haben, ob ein bestimmtes Verhalten dem Wohl ihrer Gesellschaft dient oder nicht. Auch hierfür bietet die Business Judgment Rule einen normativen Maßstab: Nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist die Entscheidung „auf der Grundlage angemessener Information“ zu treffen. Ergänzend fordert das Schrifttum, unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien, sachliche Unbefangenheit und Gutgläubigkeit der Organmitglieder bei der Entscheidungsfindung.88 § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG setzt eine „angemessene Information“ voraus, weil es ohne sorgfältige Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen kein schutzwürdiges unternehmerisches Ermessen gibt.89 Umfang und Tiefe der vom zuständigen Entscheidungsträger einzuholenden Informationen hängen von den Umständen des Einzelfalls ab. Insoweit kommt es maßgeblich auf die Tragweite und Eilbedürftigkeit der zu treffenden Entscheidung an.90 Die Organmitglieder müssen die relevanten Informationsquellen tatsächlicher und rechtliche Art ausschöpfen, auf dieser Grundlage die Vor- und Nachteile bestehender Handlungsoptionen abschätzen und dabei den erkennbaren Risiken Rechnung tragen.91 Letztlich haben die Gesellschaftsorgane also im Wege einer konkreten Abwägung der auf Basis „angemessener Information“ 88 Vgl. Hüffer/Koch (Fn. 3), § 93 Rn. 24 („Gutgläubigkeit“), Rn. 25 („sachliche Unbefangenheit), jeweils m.w.N. 89 BGH NJW 2008, 3361 Rn. 11; BGH AG 2009, 117 Rn. 3. 90 Hüffer/Koch (Fn. 3), § 93 Rn. 20; Lang/Balzer, WM 2012, 817 ff. 91 Vgl. BGH NJW 2008, 3361 Rn. 11.
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erkennbaren Chancen und Risiken zu beurteilen, ob eine bestimmte unternehmerische Entscheidung dem „Wohle der Gesellschaft“ dient. In diesem Kontext erlangt der Deutsche Corporate Governance Kodex eine konkrete Bedeutung als Informationsquelle für alle unternehmerischen Entscheidungen, zu denen er relevante Regelungen trifft. Damit sind die Vorstände und Aufsichtsräte zwar keineswegs verpflichtet, den Kodex zu befolgen oder ihre unternehmerischen Entscheidungen „kodexkonform“ zu treffen. Sie dürfen den Kodex aber auch nicht ignorieren. Vielmehr sind sie gehalten, sich die Vor- und Nachteile einer Abweichung im Einzelfall bewusst zu machen, und inhaltlich einschlägige Kodex-Empfehlungen als spezifische Abwägungsaspekte in die Chancen- und Risikobewertung ihrer Entscheidungsfindung einfließen zu lassen. Auf diese Weise entfaltet der Kodex in der Tat eine rechtlich relevante Orientierungsfunktion im Normengefüge aktienrechtlicher Sorgfaltspflichten. 2. Die aktienrechtliche Pflicht zur Entsprechenserklärung (§ 161 AktG) Der in § 161 AktG verankerte Wirkmechanismus des „comply or explain“ wurde in Teil I Abschnitt 4 als zentrales Element gesteuerter Selbstregulierung beschrieben und erläutert. Ergänzend hierzu richtet sich der Fokus nun auf die konkreten rechtlichen Anforderungen, die § 161 AktG an die betroffenen Vorstände und Aufsichtsräte stellt. In der Sache geht es also um Inhalt und Reichweite der Erklärungspflicht aus § 161 AktG (a)). Dabei wird auch zu klären sein, unter welchen Voraussetzungen die Organmitglieder eine Befolgung solcher Kodex-Empfehlungen erklären dürfen, die offen und unbestimmt formuliert sind (b)). a) Inhalt und Reichweite der Erklärungspflicht Nach § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG haben Vorstand und Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft „jährlich“92 zu erklären, dass den im Bundesanzeiger bekannt gemachten Kodex-Empfehlungen „entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden und warum nicht“. In Satz 2 wird die Erklärungspflicht auf andere – dort näher definierte – kapitalmarktorientierte Unternehmen erstreckt.93 § 161 Abs. 2 AktG sieht schließlich vor, dass die Entsprechenserklärung „auf der Internetseite der Gesellschaft dauerhaft öffentlich zugänglich zu machen“ ist.94 Dabei haben Vorstand und Aufsichtsrat eine einheitliche Erklärung 92 Zur – durchaus nicht unumstrittenen – Auslegung des Tatbestandsmerkmals „jährlich“ siehe u. a. Lutter (Fn. 52), § 161 Rn. 88 ff. (gute Übersicht zum Meinungsstand); Spindler (Fn. 80), § 161 Rn. 39; Seibert, BB 2002, 581 ff.; Rosengarten/Schneider, ZIP 2009, 1837 ff. 93 S. hierzu die Literaturhinweise in Fn. 3. 94 Vertiefend zum Begriff des „Zugänglichmachens“: Goette (Fn. 62), § 161 Rn. 78 ff.; von den Linden (Fn. 3), § 161 Rn. 6 ff.; Hüffer/Koch (Fn. 3), § 161 Rn. 23 ff.; Grigoleit/Zellner (Fn. 63), § 161 Rn. 26 f.; Hölters, in: ders. (Hrsg.), AktG, 3. Aufl. 2017, § 161 Rn. 34 ff.
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abzugeben.95 Allerdings unterliegen die beiden Organe keinem Einigungszwang. Soweit ein Konsens in Bezug auf die Einhaltung von Kodex-Empfehlungen nicht erzielt werden kann, ist eine Nicht-Entsprechung zu erklären.96 Gegenstand der Entsprechenserklärung sind nur die bekannt gemachten Empfehlungen des Kodex.97 In Bezug auf bloße Anregungen brauchen sich Vorstand und Aufsichtsrat nicht zu erklären. Im Falle einer Nichtbefolgung von Empfehlungen muss dies indes nicht nur erklärt werden, sondern es besteht – ausweislich des Gesetzeswortlauts („und warum nicht“) – auch eine Begründungspflicht.98 In zeitlicher Hinsicht umfasst die Entsprechenserklärung einen vergangenheitsbezogenen und einen zukunftsgerichteten Teil. Vorstand und Aufsichtsrat haben zu erklären, inwieweit den Empfehlungen entsprochen „wurde“ und „wird“. Rechtlich haben beide Aspekte der Erklärung unterschiedliche Qualität. Soweit es um die Beachtung der Empfehlungen in der Vergangenheit geht, besitzt die Erklärung feststellenden Charakter. Es handelt sich um eine Wissenserklärung, mit der Vorstand und Aufsichtsrat kundtun, ob den Kodex-Empfehlungen entsprochen „wurde“.99 Die Frage, welchen Zeitraum in der Vergangenheit diese Wissenserklärung konkret abzudecken hat, ist nicht ausdrücklich in § 161 AktG geregelt. Aus dem Kontext ergibt sich jedoch, dass sie sich auf die Zeit seit Abgabe der vorangegangenen Entsprechenserklärung beziehen muss, denn die Erklärung ist „jährlich“ zu erneuern.100 Demgegenüber stellt sich der zukunftsgerichtete Teil der Entsprechenserklärung nicht als Wissenserklärung, sondern als Absichtserklärung dar.101 Im Wortlaut des 95
Goette, FS Hommelhoff, 2012, S. 257 (269). Goette (Fn. 95), S. 257 (273 f.); so auch Lutter (Fn. 72), 4. Teil, Rn. 1843. Die Gegenauffassung von Seibt (AG 2002, 249 (253)), wonach Vorstand und Aufsichtsrat einem „Einigungszwang“ unterliegen sollen, findet keine Stütze im Gesetz. Wenig praktikabel und den Organmitgliedern nicht zumutbar erscheint der Vorschlag von Semler/Wagner (NZG 2003, 553 (555)) und Claussen/Bröcker (DB 2002, 1199 (1204)), wonach Vorstand und Aufsichtsrat im Falle fehlender Einigung „ihren Dissens nach außen tragen“ sollen. 97 S. o. Teil I Abschnitt 4. 98 Zur „Begründungspflicht“ siehe v. Falkenhauser/Kocher, ZIP 2009, 1149 ff.; Goette (Fn. 62), § 161 Rn. 52 ff.; Bayer/Scholz (Fn. 72), § 161 Rn. 57 ff.; von den Linden (Fn. 3), § 161 Rn. 19 ff.; Hüffer/Koch (Fn. 3), § 161 Rn. 18.; Grigoleit/Zellner (Fn. 63), § 161 Rn. 21. 99 S. hierzu z. B. Lutter (Fn. 52), § 161 Rn. 28 („Retrospektive Wissenserklärung“); Goette, FS Hommelhoff, 2012, S. 257 (266) („Mitteilung von Wissen“); Borges, ZGR 2003, 508 (540) („Bericht über die Beachtung der Regeln in der Vergangenheit“); Hüffer/Koch (Fn. 3), § 161 Rn. 14 („Vergangenheitsbezogene Erklärung ist Wissenserklärung“). Nach der überzeugenden Analyse von Ihrig/Wagner (BB 2003, 1625 (1627)) kann die (vergangenheitsbezogene) Wissenserklärung auf die zum Zeitpunkt der letzten turnusmäßigen Erklärung gültige Kodexfassung bezogen werden, während für die zukunftsgerichtete Erklärung die im Erklärungszeitpunkt geltende Kodexfassung maßgeblich ist. 100 Vgl. Grigoleit/Zellner (Fn. 63), § 161 Rn. 22; Hölters (Fn. 94), § 161 Rn. 30. 101 S. hierzu BT-Drs. 14/8769, zu Nr. 16 (§ 161 AktG-E): „Hinsichtlich der Zukunft kann die Erklärung nur eine unverbindliche Absichtserklärung bedeuten“. In diesem Sinne auch Goette (Fn. 95), S. 257 (266) („Absicht künftigen Verhaltens“); Borges, ZGR 2003, 508, (540) („Absichtserklärung für die Zukunft“); Lutter (Fn. 72), 4. Teil, Rn. 1909 ff. („Die zukunfts96
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§ 161 ist dies – wenn auch sprachlich etwas missglückt – durch die Präsens-Formulierung „entsprochen wird“ zum Ausdruck gebracht. Insoweit haben Vorstand und Aufsichtsrat zu erklären, ob sie beabsichtigen, die Kodex-Empfehlung künftig zu befolgen. In materieller Hinsicht ergeben sich für den vergangenheitsbezogenen und den zukunftsgerichteten Teil der Entsprechenserklärung jeweils unterschiedliche Anforderungen für die Organmitglieder. Soweit sie – für die Vergangenheit – eine Wissenserklärung abzugeben haben, muss diese wahrheitsgemäß sein.102 Daraus folgt die Notwendigkeit, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat vergewissern und ggf. auch Nachforschungen anstellen, ob und inwieweit die Empfehlungen des Kodex seit Abgabe der letzten Entsprechenserklärung tatsächlich beachtet wurden. Mit einer unrichtigen Wissenserklärung verletzen Vorstand und Aufsichtsrat ihre Organpflichten. Anders stellt sich die Situation in Bezug auf die – zukunftsgerichtete – Absichtserklärung dar. Hier gibt es kein „wahr“ oder „unrichtig“. Die Frage, ob Vorstand und Aufsichtsrat in der Zukunft den Empfehlungen des Kodex entsprechen wollen, ist vielmehr eine unternehmerische Entscheidung, die am Maßstab der Business Judgment Rule gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu treffen ist. Das bedeutet, die Willensbildung der Organe zur künftigen Befolgung – oder Nichtbefolgung – von KodexEmpfehlungen muss im Unternehmensinteresse liegen, frei von sachfremden Erwägungen sein und auf hinreichender Information basieren. Innerhalb dieser Grenzen besteht ein unternehmerischer Ermessensspielraum.103 Aus der in § 161 AktG normierten Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat, ihre Absicht zu erklären, ob und inwieweit sie die Empfehlungen des Kodex in der Zukunft einhalten werden, leiten Rspr. und Schrifttum konsequenterweise auch eine Pflicht zur unterjährigen Berichtigung ab.104 Wer öffentlich kundtut, dass er sich in einer bestimmten Weise verhalten wird, der muss die Öffentlichkeit auch informiegerichtete [Absichts-]Erklärung“); ders. (Fn. 52), § 161 Rn. 29 („Prospektive Absichtserklärung“); Hüffer/Koch (Fn. 3), § 161 Rn. 20 („Absichtserklärung“). 102 Die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Erklärung ist zwar nicht ausdrücklich in § 161 AktG geregelt, wird dort aber als selbstverständlich vorausgesetzt; so z. B. Goette (Fn. 95), S. 257 (271) („Gesetzesbefehl“ einer „wahrheitsgemäßen und vollständigen Erklärung“); Lutter (Fn. 72), 4. Teil, Rn. 1908 („muss selbstverständlich wahr und richtig sein“); Bayer/Scholz (Fn. 72), § 161 Rn. 51 („[…] die selbstverständlich der Wahrheit entsprechen muss“); Vetter (Fn. 63), § 161 Rn. 13. 103 Zum unternehmerischen Ermessensspielraum s. die Nachweise in Fn. 74. 104 Zur Berichtigungspflicht s. BGHZ 180, 9 („Kirch/Deutsche Bank“) Rn. 19 („umgehend zu berichtigen“); dem folgend BGHZ 182, 272 („Umschreibungsstopp“) Rn. 16. So auch die ganz h.L.: Ihrig/Wagner, BB 2002, 2509 (2510 ff.) („Pflicht zur unterjährigen Korrektur“ mit entsprechenden Fallkonstellationen); Goette (Fn. 95), S. 257 (267); Lutter (Fn. 52), § 161 Rn. 96 ff., 98; Hölters (Fn. 94), § 161 Rn. 32; Spindler (Fn. 80), § 161 Rn. 43; Kleindiek, FS Goette, 2011, S. 239 (242 f.); Runte/Eckert (Fn. 79), § 161 Rn. 31; Grigoleit/Zellner (Fn. 63), § 161 Rn. 24 („Aktualisierungspflicht“); Vetter (Fn. 63), § 161 Rn. 18; a.A. Theusinger/Liese, DB 2008, 1419 (1421); Heckelmann, WM 2008, 2146 (2148). Demgegenüber besteht keine Aktualisierungspflicht wenn lediglich der Kodex geändert wird. S. hierzu Vetter, ebd.; Lutter, a.a.O., Rn. 94; Hölters, a.a.O., Rn. 31; a.A. insoweit Seibert, BB 2002, 581 (583).
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ren, wenn er später davon abweicht. Das gilt in beide Richtungen, d. h. nicht nur dann, wenn Empfehlungen entgegen der ursprünglichen Ankündigung nicht mehr angewendet werden (nachträgliche Nicht-Entsprechung), sondern auch in der umgekehrten Situation, dass Vorstand und Aufsichtsrat zunächst erklären, Empfehlungen des Kodex nicht entsprechen zu wollen, sich aber dann später doch entscheiden, die betreffenden Empfehlungen einzuhalten (nachträgliche Entsprechung). Im Falle der nachträglichen Nicht-Entsprechung ergibt sich aus § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG, dass dies auch zu begründen ist. Bei einer nachträglichen Entsprechung ist eine Begründung rechtlich nicht zwingend, dürfte aber i. d. R. zweckmäßig sein. b) Erklärungspflicht bei unbestimmten Kodex-Empfehlungen Die pflichtgemäße Abgabe einer wahrheitsgemäßen Wissenserklärung und einer am Unternehmensinteresse ausgerichteten Absichtserklärung setzen zwangsläufig eines voraus: Vorstand und Aufsichtsrat müssen sich zunächst Klarheit darüber verschaffen, welchen konkreten Inhalt die in Rede stehenden Kodex-Empfehlungen haben. Wer nicht weiß, was ihm empfohlen wird, der kann keine valide Aussage darüber treffen, ob er einer Empfehlung gefolgt ist oder folgen will. Dies mag wie eine Banalität klingen. Tatsächlich sehen sich die betroffenen Vorstände und Aufsichtsräte aber teilweise mit Kodex-Empfehlungen konfrontiert, die eher im Duktus allgemeiner Programmsätze als im Sinne konkreter Verhaltensvorgaben formuliert sind. Damit stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen die in § 161 AktG adressierten Vorstände und Aufsichtsräte pflichtgemäß erklären dürfen, einer KodexEmpfehlung zu entsprechen, wenn auf Grund unbestimmter Formulierungen nicht zweifelsfrei erkennbar ist, was konkret empfohlen wird. Betrachtet man die einzelnen Empfehlungen des Kodex unter diesem Aspekt, so ist zunächst festzustellen, dass diese typischerweise einen an die Gesellschaftsorgane gerichteten Gestaltungsauftrag implizieren. Die Art und Weise, wie dessen Umsetzung – kodexkonform – erfolgen soll, wird in den jeweiligen Empfehlungen teilweise konkret vorgegeben, teilweise aber auch nur sehr abstrakt und vage beschrieben. Insoweit ist der Grad normativer Konkretisierung in den einzelnen Kodex-Empfehlungen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Bandbreite reicht von sehr konkret, so etwa die Empfehlung, dass die Wahlen zum Aufsichtsrat als Einzelwahlen durchgeführt werden sollen105, bis hin zu sehr offen, wie z. B. die an den Vorstand gerichtete Empfehlung, bei der Besetzung von Führungspositionen im Unternehmen auf „Vielfalt (Diversity)“ zu achten106. Gelegentlich finden sich im Kodex auch Regelungen, die den Aufsichtsrat explizit zu einer eigenen Bewertung von Sachverhalten auffor-
105 106
Ziff. 5.4.3 S. 1 DCGK. Ziff. 4.1.5 S. 1 DCGK.
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dern, so insb. die Empfehlung, dass dem Aufsichtsrat eine „nach seiner Einschätzung“ angemessene Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören soll107. Derart unbestimmte Kodex-Empfehlungen haben durchaus ihren Sinn. Es handelt sich um Formen einer „Steuerung durch offene Zielvorgaben“108. Je offener eine Empfehlung formuliert ist, desto eher besteht die Möglichkeit, im Rahmen der konkreten Umsetzung branchen- und unternehmensspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen. Dies schafft Flexibilität und Situationsangemessenheit im Einzelfall und kann auch die allgemeine Akzeptanz solcher Regelungen fördern. In diesem Sinne sind offene Gestaltungsaufträge unter rechtspolitischen und steuerungstheoretischen Aspekten positiv zu bewerten. Aus Sicht der betroffenen Vorstände und Aufsichtsräte führen sie aber zu einem Dilemma: Soweit der Kodex keine konkreten Vorgaben macht, wie eine Empfehlung umzusetzen ist, verbleibt typischerweise eine Unsicherheit, ob die Umsetzungspraxis im eigenen Unternehmen tatsächlich ausreicht, um nach § 161 AktG – pflichtgemäß – erklären zu dürfen, dass der Empfehlung entsprochen wird.109 Pragmatisch könnte man den in § 161 AktG adressierten Vorständen und Aufsichtsräten in dieser Lage raten, eine Erläuterung in ihre Entsprechenserklärung aufzunehmen und dort zu beschreiben, wie die in Rede stehenden Empfehlungen tatsächlich umgesetzt wurden. Damit ließe sich das Risiko einer unrichtigen Entsprechenserklärung beherrschen. In Einzelfällen mag dies eine sinnvolle Vorgehensweise sein. Generell ist es den betroffenen Vorständen und Aufsichtsräten aber nicht zumutbar, infolge offener Kodex-Formulierungen bestehende Unsicherheiten im Wege einer ergänzenden Erläuterung ihrer Entsprechenserklärung beseitigen zu müssen. Denn nach § 161 AktG ist eine Entsprechenserklärung ausdrücklich nur dann zu begründen, wenn einer Kodex-Empfehlung nicht entsprochen wird. Eine Erläuterung zur erfolgten Umsetzung von Empfehlungen wird gerade nicht verlangt. Würde man die betroffenen Vorstände und Aufsichtsräte faktisch zwingen, die Art und Weise der Umsetzung von (offen formulierten) Kodex-Empfehlungen in der Entsprechenserklärung darzulegen, um dem Risiko einer unrichtigen Erklärung zu entgehen, stünde das im Widerspruch zu § 161 AktG. 107 Ziff. 5.4.2 S. 1 DCGK. S. insoweit auch Ziff. 5.4.1 Abs. 7 DCGK, wo darauf abgestellt wird, ob ein objektiv urteilender Aktionär bestimmte Umstände „nach der Einschätzung des Aufsichtsrats“ als maßgebend für seine Wahlentscheidung ansehen würde. 108 Grundlegend zum Konzept einer „Steuerung durch offene Zielvorgabe“: Lange, in: König/Dose (Hrsg.), Instrumente und Formen staatlichen Handelns, 1993, S. 173 (175 ff.); s. hierzu auch Wegmann (Fn. 67), S. 158 ff., 248 f. 109 Hildegard Ziemons hat die Problematik in ihrem Diskussionsbeitrag zum 69. Deutschen Juristentags in München (2012) wie folgt auf den Punkt gebracht (s. Sitzungsbericht Teil N, S. 115): „[…] die Empfehlungen sind manchmal so formuliert, dass die Praxis, also die Organmitglieder und Berater, nicht genau weiß: Was steckt denn jetzt dahinter? Was meint die Empfehlung genau?“ In diesem Sinne auch die Kritik von Gerd Krieger (Sitzungsbericht Teil N, S. 129): „Und wenn man dann sieht, wie unscharf die Kodexempfehlungen teilweise formuliert sind, ist es auch recht einfach, irgendeine nicht erklärte Abweichung vom Kodex zu konstruieren.“
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Das beschriebene Dilemma offen formulierter Kodex-Empfehlungen ist daher auf einer anderen, konzeptionellen Ebene zu lösen: Wenn der Kodexgeber Empfehlungen an die Vorstände und Aufsichtsräte von Gesellschaften richtet und dabei offen lässt, in welcher Weise sie umzusetzen sind, dann impliziert dies – spiegelbildlich – einen entsprechenden Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum der adressierten Organmitglieder.110 Denn die positiven Aspekte offen formulierter Kodex-Empfehlungen – Flexibilität und Situationsangemessenheit im Einzelfall – können ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn die betroffenen Vorstände und Aufsichtsräte auch die Freiheit haben, das „Wie“ der Umsetzung nach eigenem Ermessen auszugestalten. In diesem Sinne gibt es nicht nur einen einzigen „richtigen“ Weg, um einer offenen Kodex-Empfehlung zu entsprechen, sondern eine Vielzahl möglicher „kodexkonformer“ Optionen. Die Grenze ist erst erreicht, wenn die tatsächliche Unternehmenspraxis klar und eindeutig mit einer Kodex-Empfehlung unvereinbar ist. Jenseits dieser Grenze bewegen sich die Organmitglieder innerhalb des ihnen zustehenden Spielraums und dürfen – ohne das Risiko einer Pflichtverletzung einzugehen – nach § 161 AktG uneingeschränkt erklären, dass sie der Empfehlung in vollem Umfang entsprechen. Die Konstellationen bestehender Einschätzungs- und Gestaltungsspielräume sind systematisch zu unterscheiden von dem Fall, dass der Wortlaut einer Kodex-Empfehlung mehrere Auslegungsvarianten zulässt. Während ersteres die im Kodex (implizit oder explizit) eröffneten Entscheidungsmöglichkeiten bei der Umsetzung von Empfehlungen betrifft, geht es bei letzterem um die Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe. Hierzu folgendes Beispiel: Nach Ziff. 5.4.2 Satz 1 DCGK soll dem Aufsichtsrat „eine nach seiner Einschätzung angemessene Anzahl unabhängiger Mitglieder“ angehören. Hinsichtlich der Frage, ob eine bestimmte Anzahl unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder im Einzelfall als „angemessen“ zu bewerten ist, hat der Aufsichtsrat einen (expliziten) Einschätzungsspielraum. Demgegenüber ist die – vorgelagerte – Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Aufsichtsratsmitglied als „unabhängig“ gilt, im Wege einer normkonkretisierenden Auslegung des Unabhängigkeitsbegriffs zu beantworten.111 Ungeachtet des Umstands, dass Ziff. 5.4.2 Satz 2 DCGK näher beschreibt, wann ein Aufsichtsratsmitglied „nicht als unabhängig anzusehen“ ist, bleibt der Begriff der Unabhängigkeit in hohem Maße unbestimmt und interpretationsbedürftig. So ist beispielsweise unklar, ob die unternehmensangehörigen Arbeitnehmervertreter mitbestimmter Aufsichtsräte allein auf Grund ihres Anstel-
110 So auch Bachmann (Fn. 52), S. 75 (86) („Entsprechens-Spielraum“), sowie – speziell bezogen auf die Kodexregelungen zur Unabhängigkeit – Kremer/v. Werder, AG 2013, 340 (347) („Gestaltungsspielräume“), und Stephanblome, ZIP 2013, 1411 (1412) („Einschätzungsprärogative“). 111 Ganz in diesem Sinne auch bereits Kremer/v. Werder, AG 2013, 340 (347): „Die […] geltenden Kodexbestimmungen zur Unabhängigkeit sind zum Teil interpretationsbedürftig und eröffnen teils auch explizit Gestaltungsspielräume für den Aufsichtsrat.“
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lungsverhältnisses zur Gesellschaft als „abhängig“ anzusehen sind.112 Damit stellt sich erneut – nun im Hinblick auf die Interpretationsbedürftigkeit von Kodex-Formulierungen – die Frage, wie mit Empfehlungen umzugehen ist, bei denen der Adressat nicht eindeutig erkennen kann, was von ihm verlangt wird, um eine Entsprechung erklären zu können. Die Grundlagen zur Beantwortung dieser Frage wurden von Gregor Bachmann in seiner Untersuchung zur Auslegung des Kodex gelegt.113 Das – von ihm so bezeichnete – „Auslegungsproblem“ löst Bachmann im Wege einer Parallele zum Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Dort findet sich mit der sog. Unklarheitenregel114 eine Auslegungsmaxime, die auch beim Kodex zum Einsatz gelangen kann. Danach gehen Zweifel bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen zu Lasten desjenigen, der sie aufgestellt hat (§ 305 c Abs. 2 BGB). Die Maxime beruht auf der verallgemeinerungsfähigen Annahme, dass es Sache des Verwenders ist, sich klar und unmissverständlich auszudrücken. Unklarheiten gehen zu seinen Lasten. Die Übertragung dieses Rechtsgedankens auf den Kodex ist sachgerecht und zutreffend. Denn strukturell handelt es sich in beiden Fällen um Regelwerke, die einseitig von einem privaten Normgeber aufgestellt werden, und die der Adressat (im Falle des Kodex also die betroffenen Vorstände und Aufsichtsräte) nicht verändern, sondern nur akzeptieren oder ablehnen kann. Wendet man die Unklarheitenregel auf den Kodex an, so folgt daraus, dass es Sache des Kodexgebers ist, seine Empfehlungen klar und unmissverständlich zu formulieren. Interpretationsspielräume und sprachliche Unklarheiten dürfen sich nicht zu Lasten der Normadressaten auswirken. Dementsprechend ist den betroffenen Vorständen und Aufsichtsräten bei interpretationsbedürftigen Kodex-Regelungen eine Auslegungsprärogative einzuräumen, die sie zu ihren Gunsten ausschöpfen dürfen. Maßgeblich ist daher die aus Adressatensicht günstigste Auslegungsvariante. Zusammenfassend ergibt sich damit Folgendes: Die hier festgestellten Spielräume und Prärogativen der in § 161 AktG adressierten Vorstände und Aufsichtsräte bei der Umsetzung und Auslegung offen und interpretationsbedürftig formulierter KodexEmpfehlungen führen letztlich dazu, dass eine Nicht-Entsprechung nur dann erklärt werden muss, wenn die tatsächliche Unternehmenspraxis auf Basis der aus Adressatensicht günstigsten Auslegungsvariante klar und eindeutig mit einer Kodex-Empfehlung unvereinbar ist.
112 Zum Meinungsstand s. Kremer, in: ders./Bachmann/Lutter/v. Werder, DCGK, 7. Aufl. 2018, 3. Teil, Rn. 1384 f.; ders./v. Werder, AG 2013, 340 (344); Stephanblome, ZIP 2013, 1411 (1414); Klein, AG 2012, 805 (807 ff.). 113 Bachmann (Fn. 52), S. 75 (86 f). 114 Zur „Unklarheitenregel“ des AGB-Rechts s. statt vieler Basedow, in: MüKo BGB, 7. Aufl. 2016, § 305 c Rn. 27 f.; Thüsing, in: Graf v. Westphalen (Hrsg.), Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 39. EL 2017, Rn. 198; H. Schmidt, in: Bamberger u. a. (Hrsg.), BeckOK BGB, 44. Ed 2017, § 305 c Rn. 54.
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3. Anfechtbarkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen (§§ 243, 251 AktG) Das Aktienrecht sieht vor, dass Beschlüsse der Hauptversammlung „wegen Verletzung des Gesetzes oder der Satzung“ durch Klage angefochten werden können (§ 243 Abs. 1 und § 251 Abs. 1 Satz 1 AktG). Systematisch ist insoweit zwischen Inhalts- und Verfahrensfehlern zu unterscheiden.115 Von einem Inhaltsfehler spricht man, wenn das Ergebnis der Beschlussfassung – also der Beschlussinhalt – gesetzesoder satzungswidrig ist. Demgegenüber liegt ein Verfahrensfehler vor, wenn bei Zustandekommen des Beschlusses – d.h. im Verfahren der Beschlussfassung – Vorgaben des Gesetzes oder der Satzung verletzt wurden. Während Inhaltsfehler einen Beschluss stets anfechtbar machen, kommt es bei Verfahrensfehlern darauf an, ob die verletzte Vorschrift aktienrechtliche Teilhabe- und Mitwirkungsrechte in relevanter Weise tangiert („Relevanztheorie“).116 Ungeachtet dieser Differenzierung lässt sich hier schon einmal Folgendes feststellen: Die bloße Nichtbefolgung von Kodex-Empfehlungen vermag eine Beschlussanfechtung nicht zu begründen, denn als Regelwerk privater Normgebung hat der Kodex weder Gesetzes- noch Satzungsrang. Möglicherweise kann aber eine fehlende oder fehlerhafte Entsprechenserklärung Beschlüsse der Hauptversammlung anfechtbar machen. Die damit aufgeworfene Fragestellung ist in hohem Maße praxisrelevant und auch Gegenstand rechtspolitischer Kontroversen.117 De lege lata hatte sich die Rspr. bereits mehrfach mit derartigen Anfechtungs115 S. hierzu z. B. Hüffer/Koch, (Fn. 3), § 243 Rn. 11 ff. (Verfahrensfehler) und Rn. 20 ff. (Inhaltsfehler). 116 Die „Relevanztheorie“ wurde von Zöllner entwickelt und ist heute in Rspr. und Schrifttum allgemein anerkannt. S. hierzu Zöllner, in: Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel II, 2007, Kap. 10 Rn. 69. Instruktiv zur Relevanztheorie und deren Rezeption in der höchstrichterlichen Rspr. auch Würthwein, in: Spindler/Stilz, AktG, 2. Band, 3. Aufl. 2015, § 243 Rn. 83 ff., 86 ff. (m.w.N.). 117 Zur rechtspolitischen Diskussion s. Kremer, ZIP 2011, 1177 (1179 f.) (für einen gesetzlichen Anfechtungsausschluss nach dem Modell des § 120 Abs. 4 S. 3 AktG); Bachmann (Fn. 52), S. 75 (87 f.) (i.E. ebenfalls für einen Anfechtungsausschluss); a.A. Goette (Fn. 95), S. 257 (262, 265) (im Grundsatz für eine Anfechtbarkeit). Das Thema war auch Gegenstand des 69. Deutschen Juristentags 2012 in München. S. hierzu insb. das Gutachten von Habersack (Fn. 63), Teil E, S. 61 f. (Die Entsprechenserklärung darf „nicht gänzlich ohne Kontrolle bleiben“); sowie die Diskussionsbeiträge von Lutter, Sitzungsbericht Teil N, S. 103 f. und S. 158 ff. (plädiert dafür, es „bei der Anfechtung dann [zu] belassen, wenn die Empfehlung entgegen der eigenen Erklärung nicht eingehalten wird“); Hommelhoff, Sitzungsbericht Teil N, S. 104 f. (Mit einer Entlastungsanfechtung wegen unrichtiger Entsprechenserklärung werde die Erklärung „unerträglich überhöht“); Krieger, Sitzungsbericht Teil N, S. 127 ff., 130 („[…] wir müssen uns von der Anfechtung eines Entlastungsbeschlusses wegen fehlerhafter Entsprechenserklärung verabschieden“); Goette, Sitzungsbericht Teil N, S. 134 ff., 135 (sieht bis auf Weiteres keine Notwendigkeit, dass „der Gesetzgeber korrigierend eingreift“); HoffmannBecking, Sitzungsbericht Teil N, S. 137 f. (gegen eine Anfechtbarkeit von Wahl- und Entlastungsbeschlüssen auf Grund fehlender Mitteilung einer Abweichung vom Kodex). Im Abstimmungsergebnis (Sitzungsbericht Teil N, S. 229 ff, 232) hatte sich die Mehrheit dafür ausgesprochen, dass die Abgabe fehlerhafter Entsprechenserklärungen nicht zur Anfechtbarkeit von Wahlbeschlüssen der Hauptversammlung führen sollte (Beschlussgegenstand 10b).
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klagen zu befassen.118 Sie richteten sich gegen die Entlastung der Verwaltung (a)) und die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern (b)). a) Entlastungsbeschlüsse aa) Inhaltsfehler Die Beschlussfassung über die Entlastung der Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat ist eine jährlich wiederkehrende Aufgabe und Befugnis der Hauptversammlung (vgl. § 120 Abs. 1 Satz 1 AktG). Seit der sog. „Macroton“-Entscheidung des BGH vom 15. November 2002119 ist höchstrichterlich geklärt, dass ein Entlastungsbeschluss aktienrechtliche Treuepflichten verletzt und somit an einem anfechtungsbegründenden Inhaltsfehler leidet, wenn „Gegenstand der Entlastung ein Verhalten ist, das eindeutig einen schwerwiegenden Gesetzes- oder Satzungsverstoß darstellt“120. Dementsprechend kann auch eine fehlende oder fehlerhafte Entsprechenserklärung zur Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen führen, wenn Vorstand und Aufsichtsrat während des Entlastungszeitraums eindeutig und schwerwiegend gegen ihre gesetzlichen Pflichten aus § 161 AktG verstoßen haben. Solche Konstellationen waren bereits Gegenstand zweier Urteile des BGH aus dem Jahr 2009121. In beiden Fällen hatte der Aufsichtsrat – entgegen der Empfehlung in Ziff. 5.5.3 S. 1 DCGK – die Hauptversammlung nicht über einen aufgetretenen Interessenkonflikt und dessen Behandlung informiert, ohne die Abweichung vom Kodex in seiner Entsprechenserklärung offen zu legen. Darin sah der BGH – unter Bezugnahme auf die o.g. Rspr. in Sachen Macroton – jeweils einen eindeutigen und schwerwiegenden Verstoß gegen die Erklärungspflicht aus § 161 AktG und erklärte die streitgegenständlichen Entlastungsbeschlüsse für nichtig. Die beiden Urteile sind im Ergebnis zutreffend und haben auch im Schrifttum grundsätzlich Anerkennung gefunden122. Allerdings besteht – jenseits der konkret entschiedenen Sachverhalte – nach wie vor Unsicherheit bei der Frage, in welchen Konstellationen ein Verstoß gegen § 161 AktG allgemein als „eindeutig“ und so Demgegenüber hielt die Mehrheit die Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen unter bestimmten Voraussetzungen für richtig (Beschlussgegenstand 10a). 118 Zur Entwicklung der Rspr. in diesem Bereich s. Mutter, ZGR 2009, 788 (789 ff.). 119 BGH NJW 2003, 1032 ff. 120 BGH NJW 2003, 1032 (1033). 121 BGH, Urt. v. 16. 2. 2009 (BGHZ 180, 9 ff. – „Kirch/Deutsche Bank“), und Urt. v. 21. 9. 2009 (BGHZ 182, 272 ff. – „Umschreibungsstopp“). S. insoweit auch den Beschluss des BGH v. 14. 5. 2013 (NZG 2013, 783), wo das Gericht ausdrücklich auf die im Jahr 2009 entwickelten Grundsätze verweist, allerdings im konkreten Fall eine Anfechtbarkeit der Entlastung verneint. 122 Vgl. die Literaturnachweise bei Hüffer/Koch (Fn. 3), § 161 Rn. 31. Hiervon zu unterscheiden ist die - rechtspolitische – Diskussion, ob eine Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen auf Grund fehlerhafter Entsprechenserklärungen de lege ferenda ausgeschlossen werden sollte (s. dazu Fn. 117).
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„schwerwiegend“ anzusehen ist, dass er den Entlastungsbeschluss der Hauptversammlung treuwidrig und damit anfechtbar macht. Methodisch bietet es sich insoweit an, die aus § 161 AktG folgenden Einzelpflichten jeweils für sich zu betrachten. So haben die Ausführungen in Abschnitt 2.a (Inhalt und Reichweite der Erklärungspflicht) gezeigt, dass § 161 AktG den dort adressierten Vorständen und Aufsichtsräten nicht nur auferlegt, jährlich eine Entsprechenserklärung abzugeben (jährliche Erklärungspflicht), sondern sie auch verpflichtet, etwaige Abweichungen zu begründen (Begründungspflicht) und die Erklärung dauerhaft öffentlich zugänglich zu machen (Veröffentlichungspflicht). Darüber hinaus muss der vergangenheitsbezogene Teil der Erklärung inhaltlich richtig sein (Wahrheitspflicht), während der zukunftsgerichtete Teil der Erklärung zu berichtigen ist, sobald die tatsächliche Unternehmenspraxis dem nicht mehr entspricht (unterjährige Berichtigungspflicht). Im Falle einer gänzlich fehlenden Entsprechenserklärung wird man typischerweise von einem „eindeutigen“ und „schwerwiegenden“ Gesetzesverstoß im Sinne der Macroton-Rspr. ausgehen müssen, weil die Pflichten aus § 161 AktG dann in vollem Umfang missachtet wurden.123 Entsprechendes gilt, wenn die Erklärung nicht veröffentlicht wurde, denn in der praktischen Konsequenz macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob es sich um eine Nicht-Erklärung oder um eine Nicht-Veröffentlichung handelt. Die gesetzlich bezweckte Informationswirkung der Entsprechenserklärung wird jeweils vollständig verfehlt. Schwieriger ist die Beurteilung bei lediglich fehlerhaften Erklärungen, namentlich bei der Verletzung von Wahrheits-, Berichtigungs- und Begründungspflichten. In Bezug auf die Wahrheitspflicht ist zunächst auf die bereits festgestellten Einschätzungs- und Gestaltungspielräume sowie auf die Auslegungsprärogative von Vorstand und Aufsichtsrat bei der Umsetzung von Kodex-Empfehlungen hinzuweisen.124 Halten sich die Organmitglieder innerhalb dieser Grenzen, so ist eine erklärte Entsprechung inhaltlich richtig. Dementsprechend steht eine Verletzung der Wahrheitspflicht nur dann im Raume, wenn die tatsächliche Unternehmenspraxis auf Basis der aus Adressatensicht günstigsten Auslegungsvariante klar und eindeutig mit einer Kodex-Empfehlung unvereinbar ist125. Wird dennoch volle Entsprechung erklärt, liegt darin ein Verstoß gegen § 161 AktG. In diesen Fällen wird die Gesetzesverletzung regelmäßig auch eindeutig im Sinne der Macroton-Rspr. sein. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass sie schwerwiegend ist. Nicht jede – pflichtwidrig unveröffentlichte – Abweichung von einer Kodex-Empfehlung kann als schwerwiegender Gesetzesverstoß qualifiziert werden. Insoweit bedarf es einer zusätzlichen Wertung. Hierzu hat der BGH in seinen o.g. Entscheidungen aus dem Jahr 2009126 auch bereits verallgemeinerungsfähige Aussagen getroffen. Danach muss die Ent123 So auch Bayer/Scholz (Fn. 72), § 161 Rn. 24; Runte/Eckert (Fn. 79), § 161 Rn. 47; Grigoleit/Zellner (Fn. 63), § 161 Rn. 32. 124 S. o. Abschnitt 2. b). 125 S. o. ebd. (dort letzter Absatz). 126 S. o. Fn. 121.
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sprechenserklärung in einem „nicht unwesentlichen Punkt“127 der Praxis der Gesellschaft widersprechen, so dass bloße „Formalverstöße“, die im konkreten Einzelfall kein Gewicht haben, eine Anfechtung des Entlastungsbeschlusses nicht begründen können. Darüber hinaus fordert der BGH, dass das betroffene Organmitglied die Unrichtigkeit der Entsprechenserklärung „kannte oder kennen musste“128. Dem ist zuzustimmen, denn ein Pflichtverstoß, den die in Rede stehende Person weder kannte noch kennen musste, kann nicht „eindeutig“ und „schwerwiegend“ sein. Das zur Wahrheitspflicht Gesagte gilt in gleicher Weise auch für die Berichtigungspflicht, d. h. wenn eine ursprünglich richtige Entsprechenserklärung ungeachtet einer nachträglichen Änderung der tatsächlichen Umstände nicht unverzüglich korrigiert wurde. Auch in diesen Fällen liegt ein anfechtungsbegründender Gesetzesverstoß nur dann vor, wenn die geänderte Unternehmenspraxis auf Basis der aus Adressatensicht günstigsten Auslegungsvariante klar und eindeutig mit einer Kodex-Empfehlung unvereinbar ist, die eingetretene Unrichtigkeit einen nicht unwesentlichen Punkt betrifft und das jeweilige Organmitglied dies kannte oder kennen musste. Verletzen Vorstand und Aufsichtsrat bei einer erklärten Kodex-Abweichung ihre gesetzliche Begründungspflicht, ist eine Anfechtung des Entlastungbeschlusses im Grundsatz ebenfalls denkbar. Eine gerichtliche Überprüfung der Schlüssigkeit oder Qualität der veröffentlichten Gründe würde aber zu weit gehen, weil auch das Gesetz selbst keine besonderen Anforderungen an den Inhalt einer Begründung stellt. Allenfalls dann, wenn eine Entsprechenserklärung trotz Kodex-Abweichung gar keine Begründung enthält, kann eine Entlastungsanfechtung in Betracht kommen. Aber auch in diesen Fällen muss sich die fehlende Begründung bei wertender Betrachtung als eindeutiger und schwerwiegender Gesetzesverstoß darstellen. Daher wird man einen anfechtungsbegründenden Inhaltsfehler des Entlastungsbeschlusses nur dann annehmen können, wenn Vorstand und Aufsichtsrat im Entlastungszeit-
127
BGHZ 180, 9 Rn. 19, und BGHZ 182, 272 Rn. 18. Der BGH sah in der nicht erklärten Abweichung von Ziff. 5.5.3 S. 1 DCGK jeweils eine Unrichtigkeit der Entsprechenserklärung in einem „nicht unwesentlichen Punkt“. Zur Begründung führte er aus, dass die in Ziff. 5.5.3 S. 1 DCGK empfohlene Informationserteilung zur Ausübung von Aktionärsrechten „relevant“ sei. Diese Begründung wurde im Schrifttum teilweise heftig kritisiert, weil das Abstellen auf die „Relevanz“ einer Information im Rahmen der Prüfung von Inhaltsfehlern systemwidrig sei (so Mülbert/Wilhelm, ZHR 2012, 286 (290 ff.); Bayer/Scholz (Fn. 72), § 161 Rn. 94; von den Linden (Fn. 3), § 161 Rn. 57; a.A. Goette, FS Hüffer, 2010, S. 225 (232 ff., 235)). Ungeachtet der genannten Kritik am Relevanzkriterium im konkreten Kontext ist dem BGH aber jedenfalls zuzustimmen, dass nicht jede Unrichtigkeit einer Entsprechenserklärung zur Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen führen kann, und dass eine schwerwiegende Pflichtverletzung im Sinne der Macroton-Rspr. nur dann vorliegt, wenn die festgestellte Unrichtigkeit einen „nicht unwesentlichen Punkt“ betrifft. 128 BGHZ 180, 9 Rn. 27.
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raum eine Abweichung vom Kodex in einem nicht unwesentlichen Punkt ohne jede Begründung erklärt haben.129 bb) Verfahrensfehler Jenseits möglicher Inhaltsfehler kann eine fehlende oder fehlerhafte Entsprechenserklärung im Einzelfall auch zu einem Informationsdefizit der Aktionäre führen, das einer ordnungsgemäßen Sachentscheidung der Hauptversammlung über die Entlastung der Organmitglieder entgegen steht. Damit würde ein Verfahrensfehler geltend gemacht, der von inhaltlichen Beschlussmängeln systematisch zu unterscheiden ist.130 Der insoweit erforderliche Hauptversammlungsbezug der Entsprechenserklärung lässt sich bejahen, weil sie nach § 289 f Abs. 2 Nr. 1 HGB in die dort geregelte Erklärung zur Unternehmensführung einzubeziehen ist, die wiederum als Teil des Lageberichts eine Vorlage an die Hauptversammlung erfordert (vgl. §§ 176 Abs. 1, 175 Abs. 2 AktG).131 Anders als im Falle des Inhaltsmangels kommt es hier nicht darauf an, ob sich die Verletzung des § 161 AktG innerhalb oder außerhalb des Entlastungszeitraums ereignete.132 Stattdessen ist im Rahmen des verfahrensrechtlichen Ansatzes die Relevanz des aufgetretenen Fehlers zu prüfen.133 Speziell für den hier in Rede stehenden Fall eines Informationsdefizits hat der Gesetzgeber das Relevanzkriterium ausdrücklich in § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG normiert. Daraus ergibt sich, dass eine gegen § 161 AktG verstoßende Nicht- oder Falschinformation über die Abweichung von einer Kodex-Empfehlungen als Verfahrensfehler des Entlastungsbeschlusses nur dann anfechtungsrelevant ist, wenn „ein objektiv urteilender Aktionär“ die Erteilung der zu Unrecht vorenthaltenen Information „als wesentliche Voraussetzung für die sachgerechte Wahrnehmung seiner Teilnahme- und Mitgliedschaftsrechte“ angesehen hätte. b) Aufsichtsratswahlen Während die Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen wegen fehlender oder fehlerhafter Entsprechenserklärungen de lege lata jedenfalls im Grundsatz überwiegend anerkannt ist,134 gibt es in Rspr. und Lehre bislang keine gefestigte Linie zu der Frage, ob Aktionäre in solchen Fällen auch die Beschlüsse zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern anfechten können. Der BGH hatte hierzu noch nicht zu entscheiden. Rechtlicher Ansatzpunkt ist § 251 Abs. 1 Satz 1 AktG. Danach sind Aufsichtsrats129 In diesem Sinne auch v. Falkenhauser/Kocher, ZIP 2009, 1149 (1151), wonach Verstöße gegen die Begründungspflicht nur „in krassen Fällen“ zur Anfechtbarkeit der Entlastung führen könnten. 130 Zur Unterscheidung von Inhalts- und Verfahrensfehlern s. o. Einleitung zu Abschnitt 3 und dort Fn. 115. 131 S. hierzu Mülbert/Wilhelm, ZHR 2012, 286 (298 f). 132 von den Linden (Fn. 3), § 161 Rn. 9. 133 Zur Relevanztheorie bei Verfahrensfehlern s. o. Fn. 116. 134 S. o. Fn 122.
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wahlen wegen Verletzung des Gesetzes oder der Satzung anfechtbar. Insoweit besteht also kein Unterschied zur Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen. Gleichwohl lassen sich die Grundsätze des BGH zur Entlastungsanfechtung nicht einfach auf die hier in Rede stehenden Wahlbeschlüsse übertragen. Denn anders als die Entlastungsentscheidung der Hauptversammlung sagt ein Wahlbeschluss gerade nichts über die Rechtmäßigkeit vergangenen Verwaltungshandelns aus.135 Folglich verhält sich die Hauptversammlung auch nicht treuwidrig, wenn sie einen Kandidaten in den Aufsichtsrat wählt, der (in einer vorangegangenen Amtszeit) Pflichten aus § 161 AktG verletzt hat. Dementsprechend ist festzustellen, dass ein Verstoß gegen § 161 AktG – selbst wenn dieser eindeutig und schwerwiegend war – keinen Inhaltsfehler des Wahlbeschlusses begründet.136 Damit ist die Prüfung aber noch nicht am Ende, denn nach der Systematik des Beschlussmängelrechts sind Hauptversammlungsbeschlüsse auch dann anfechtbar, wenn der Gesetzesverstoß zu einem relevanten Verfahrensfehler im Rahmen der Beschlussfassung führt. So vertreten das OLG München137 und Teile des Schrifttums138 die Auffassung, der Aufsichtsrat dürfe der Hauptversammlung einen kodexwidrigen Wahlvorschlag nur dann unterbreiten, wenn er sich dadurch nicht in Widerspruch zu seiner Entsprechenserklärung setze. Enthalte die Erklärung keine Einschränkung, sei die gebotene Berichtigung „zumindest gleichzeitig“ mit dem Wahlvorschlag bekannt zu machen. Anderenfalls verstoße der Aufsichtsrat gegen § 161 AktG. Dieser Gesetzesverstoß mache den vom Aufsichtsrat beschlossenen Wahlvorschlag nichtig. Mit einem nichtigen Wahlvorschlag sei der Bekanntmachungspflicht aus § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG nicht Genüge getan. Der so begründete Bekanntmachungsmangel stelle einen relevanten Verfahrensfehler dar, der zur Anfechtbarkeit des von der Hauptversammlung gefassten Wahlbeschlusses führe. In der Tat können Aufsichtsratsbeschlüsse nichtig sein, wenn sie gegen Gesetze verstoßen.139 Richtig ist auch, dass ein nichtiger Wahlvorschlag die Anfechtung des entsprechenden Hauptversammlungsbeschlusses begründen kann. Zweifelhaft ist aber die These, dass eine nicht berichtigte Entsprechenserklärung zur Nichtigkeit des vom Aufsichtsrat beschlossenen Wahlvorschlags führen soll. Ein Wahlvorschlag, der den Empfehlungen des Kodex widerspricht, ist zunächst einmal nicht gesetzes-, sondern nur kodexwidrig, mit der Folge, dass eine zuvor veröffentlichte uneinge135
Bayer/Scholz (Fn. 72), § 161 Rn. 60. So auch bereits Krieger, ZGR 2012, 202 (223); Tröger, ZHR 2011, 746 (772); Goslar/ von den Linden, DB 2009, 1691 (1693 f.). 137 OLG München, NZG 2009, 508 (510) - „MAN/Piech“. Anders noch die Vorinstanz LG München, ZIP 2007, 2360. Dem OLG München folgend: LG Hannover, ZIP 2010, 833 (838) – „Continental/Schaeffler“. 138 Lutter (Fn. 52), § 161 Rn. 151; ders., BB 2010, 2267 (zust. Anm. zu LG Hannover); Vetter, NZG 2008, 121 (123); Hölters (Fn. 94), § 161 Rn. 60; Deilmann/Albrecht, AG 2010, 727 (732); Kirschbaum, ZIP 2007, 2362 (2363 f.). 139 Siehe z. B. BGH NJW 1993, 2307 (2309); BGHZ 122, 342, 351; Hüffer/Koch (Fn. 3), § 108 Rn. 26 ff. 136
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schränkte Entsprechenserklärung in ihrem zukunftsgerichteten Teil unrichtig wird. In diesem Fall entsteht die aus § 161 AktG abgeleitete Berichtigungspflicht.140 Ein pflichtwidriges Unterlassen kann unter Umständen zur Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen führen.141 Demgegenüber bieten weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte oder Sinn und Zweck des § 161 AktG einen Anhaltspunkt dafür, dass die umgehende Berichtigung einer abgegebenen Erklärung darüber hinaus als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für kodexwidriges Verhalten anzusehen wäre. Vielmehr bleibt ein – rechtmäßig – vom Aufsichtsrat beschlossener Wahlvorschlag, der den Empfehlungen des Kodex nicht entspricht, auch dann rechtmäßig, wenn die Kodex-Abweichung nicht ordnungsgemäß erklärt wurde. Deshalb genügt ein solcher Wahlvorschlag auch den Anforderungen des § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG und begründet keinen anfechtungsrelevanten Bekanntmachungsmangel.142 Allerdings kann eine fehlende oder fehlerhafte Entsprechenserklärung unter dem Aspekt eines Informationsdefizits zu einem Verfahrensfehler bei der Beschlussfassung über die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern führen. Wie bereits dargelegt143, weist die Entsprechenserklärung über § 289 f Abs. 2 Nr. 1 HGB, §§ 176 Abs. 1, 175 Abs. 2 AktG einen Bezug zur Hauptversammlung auf und steht den Aktionären als Informationsquelle auch dauerhaft zur Verfügung. Eine – unter Verletzung des § 161 AktG – verschwiegene Kodex-Abweichung führt aber nicht automatisch zur Anfechtbarkeit von Wahlbeschlüssen. Entscheidend ist vielmehr die Relevanz der vorenthaltenen Information für die in Rede stehende Aufsichtsratswahl. Dies bemisst sich wiederum nach § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG, der im Falle einer Anfechtung von Aufsichtsratswahlen über § 251 Abs. 1 Satz 3 AktG Anwendung findet. Danach kommt es darauf an, ob ein „objektiv urteilender Aktionär“ die Kenntnis von der konkreten Kodex-Abweichung „als wesentliche Voraussetzung für die sachgerechte Wahrnehmung seiner Teilnahme- und Mitgliedschaftsrechte“ angesehen hätte. III. Der Kodex am Maßstab des Grundgesetzes Die bisherigen Untersuchungsergebnisse führen zwangsläufig zu der Frage, ob der Deutsche Corporate Governance Kodex in seiner spezifischen Wirkungsweise den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht. Erhebliche Teile des Schrifttums bezweifeln, dass die geltende Kodex-Regulierung mit tragenden Verfassungsprinzi140
S. o. Abschnitt 2. a) mit Fn. 104. S. o. Abschnitt 3. a). 142 So im Ergebnis auch LG München, ZIP 2007, 2360; Hüffer, ZIP 2010, 1979 (1980 f.); Mülbert/Wilhelm, ZHR 2012, 286 (296); Marsch-Barner, FS K. Schmidt, 2009, S. 1109 (1112 f.); Rieder, NZG 2010, 737 (738); Kiefner, NZG 2011, 201 (203 f.); Reul, in: Gärtner/ Rose/Reul (Hrsg.), Anfechtungs- und Nichtigkeitsgründe im Aktienrecht, 2014, Teil 3.C. Rn. 56 ff., 63; Hüffer/Koch (Fn. 3), § 161 Rn. 32; Koch, in: MüKo AktG, 3. Aufl. 2013, § 251 Rn. 5; Bayer/Scholz (Fn. 72), § 161 Rn. 98; von den Linden (Fn. 3), § 161 Rn. 61; Stilz, in: Spindler/ders. (Hrsg.), AktG, 2. Band, 3. Aufl. 2015, § 251 Rn. 5a. 143 S. o. Abschnitt 3. a) .bb). 141
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pien vereinbar ist.144 Der Kodex – so die Kritik – sei eine von Privaten geschaffene Verhaltensregel mit gesetzesgleicher Wirkung. Dieses Konzept setze sich dem Einwand aus, sowohl gegen das Rechtsstaatsgebot als auch gegen das Demokratieprinzip des Grundgesetzes zu verstoßen. Danach dürfe es keine Rechtsgeltung von Normen in grundlegenden Bereichen geben, bei denen wesentliche Entscheidungen nicht vom Gesetzgeber, sondern durch untergesetzliche oder außerstaatliche Normsetzungsinstanzen getroffen wurden (Wesentlichkeitstheorie). Die geäußerten Bedenken wiegen schwer und erscheinen nachvollziehbar. Eine adäquate Beurteilung der Verfassungskonformität des Kodex und seiner Wirkungsweise bedarf indes einer differenzierten Betrachtung. Die dort verzahnten und durchmischten Elemente gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung145 144 Die insoweit vertretenen Literaturmeinungen sind breit gestreut. Für eine Verfassungswidrigkeit: Mülbert/Wilhelm, ZHR 2012, 286 (312 ff., 325) („Die in § 161 Abs. 1 AktG normierte Erklärungspflicht stellt einen Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit insbesondere der Gesellschaftsorgane dar, welcher den Anforderungen der verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitstheorie nicht genügt“); Wernsmann/Gatzka, NZG 2011, 1001 (1007) („§ 161 I AktG verstößt […] sowohl gegen das Rechtsstaats- als auch gegen das Demokratieprinzip“); Spindler (Fn. 80), § 161 Rn. 11 („Das verfassungsrechtliche Legitimationsdefizit liegt auf der Hand“); Seidel, NZG 2004, 1095 f. (Der Kodex ist als „Maßnahme der Bundesregierung […] in Ermangelung einer Rechtsgrundlage verfassungswidrig“). Erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit: Hüffer/Koch (Fn. 3), § 161 Rn. 4 („[…] in der Sache hoch problematisch, dass demokratisch nicht legitimierte Kodex-Kommission über Hebel des § 161 in einem solchen Ausmaß Prägewirkung auf deutsche Unternehmenswirklichkeit ausüben kann“); Goette, (Fn. 62), § 161 Rn. 31 („verfassungsrechtlich bedenklich“); Fleischer (Fn. 71), § 93 Rn. 46 („verfassungsrechtliche Bedenken“); Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173 (1174) (fraglich, ob das dem § 161 AktG zu Grunde liegende „eigenwillige legislatorische Konzept einer kooperativen Rechtssetzung“ den Anforderungen des Demokratieprinzips genügt). Tendenziell für eine Verfassungskonformität: Habersack (Fn. 63), Teil E, S. 54 („Der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit dürfte […] kaum begründet sein“); Bayer/Scholz (Fn. 72), § 161 Rn. 20 („Die Annahme der Verfassungswidrigkeit erscheint […] zweifelhaft“). Ausdrücklich für eine Verfassungskonformität: Lutter (Fn. 52), § 161 Rn. 20 ff., 21 („fehlender Eingriffscharakter bloßer Empfehlungen“) und Rn. 23 (Erklärungspflicht tangiert zwar Art. 12 GG, findet aber in § 161 AktG eine „verfassungsrechtlich ordnungsgemäße Grundlage“); Bachmann, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder (Hrsg.), DCGK, 7. Aufl. 2018, 2. Teil, Rn. 83 („Einwände überzeugen nicht“, da Kodex-Empfehlungen nur „unverbindliche Ratschläge ohne irgendeine Rechtswirkung“ sind); Heintzen, ZIP 2004, 1933 (1937 f.) (Das nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG erforderliche „Legitimationsniveau“ wird dem Kodex „von Art. 161 AktG, durch die Ernennung der Mitglieder der Kommission durch die Bundesregierung und durch deren Rechtsaufsicht“ vermittelt); Hopt, FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 563 (569 ff., 570) (Es kann „keine Rede davon sein“, dass der Kodex „praktisch Gesetzeskraft“ hätte und von einer „Prangerwirkung“ zu sprechen, ist übertrieben); Kort (Fn. 78), S. 945 (949 ff., 951) (§ 161 AktG bietet „eine ausreichende, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende gesetzliche Basis für die Erfüllung der dem Kodex zukommenden Funktionen“); Kirschbaum/Wittmann, JuS 2005, 1062 (1065) (die „Einordnung des Kodex als Maßnahme einer staatlichen Stelle“ ist nicht haltbar und „die verfassungsrechtliche Kritik […] folglich unbegründet“); Grigoleit/Zellner (Fn. 63), § 161 Rn. 7 („verfassungsmäßige Bedenken […] nicht durchschlagend“); von den Linden (Fn. 3), Präambel Rn. 9 ff. (Gegenauffassung „überschätzt den faktischen Druck, der wegen § 161 AktG auf den Unternehmen lastet“). 145 S. o. Teil I Abschnitt 4.
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sind je gesondert in den Blick zu nehmen. Konkret bedeutet dies, dass sich die nachfolgende verfassungsrechtliche Prüfung zunächst mit dem Akt der privaten Normgebung, also mit der Gestaltung und Verabschiedung des Kodex durch die Kommission befassen wird (1.). Dann soll die Bekanntmachung des Kodex im Bundesanzeiger durch das BMJV als Akt schlicht hoheitlichen Verwaltungshandelns in den Fokus der Analyse rücken (2.). Im Anschluss daran wird es um den vom Gesetzgeber in § 161 AktG verankerten Mechanismus des „comply or explain“ gehen (3.). 1. Verabschiedung durch die Kodex-Kommission Betrachtet man zunächst die Gestaltung und Verabschiedung des Kodex durch die Kommission, so ist festzustellen, dass dieser Akt – für sich genommen – die Handlungsmöglichkeiten von Unternehmen und ihrer Organe nicht beeinträchtigt. Das von der Kommission verabschiedete Regelwerk besitzt als Ergebnis der Konvention privater Akteure unstreitig keine rechtliche Verbindlichkeit. Aber auch die vielfach genannte faktische Bindungswirkung des Kodex besteht in dieser Phase des Verfahrens noch nicht. Sie kann sich erst später entfalten, wenn der Kodex bekannt gemacht und damit die Erklärungspflicht des § 161 AktG ausgelöst wird. In diesem Sinne ist der Kodex im Zeitpunkt seiner Verabschiedung in der Tat nicht nur rechtlich unverbindlich, sondern auch faktisch ohne relevante Wirkung. Insbesondere greift er nicht in grundrechtlich geschützte Positionen ein. Folglich ist die Verabschiedung des Kodex durch die Kommission als solche verfassungsrechtlich unbedenklich. 2. Bekanntmachung durch das Ministerium Anders stellt sich die Situation dar, sobald das BMJV den Kodex im Bundesanzeiger bekannt macht. Denn die Bekanntmachung induziert146 - über den gesetzlichen Wirkmechanismus des „comply or explain“ (§ 161 AktG) - eine faktische Bindungswirkung der veröffentlichten Kodex-Empfehlungen.147 Damit erlangt der Bekanntmachungsakt des Ministeriums verfassungsrechtliche Relevanz. Die durch ihn vermittelte faktische Bindungswirkung des Kodex tangiert die in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Berufsfreiheit der betroffenen Organmitglieder und Gesellschaften.148 Entsprechend allgemeiner staatsrechtlicher Kategorisierung ist die ministeriale Bekanntmachung des Kodex als schlicht hoheitliches Verwaltungshandeln149, genauer gesagt als staatliches Informationshandeln per Realakt150, zu quali146
Zur Kategorie der „Induzierung“ s. o. Teil I Abschnitt 1 mit Fn. 15. S. o. Teil I Abschnitt 4. 148 Art. 12 Abs. 1 GG schützt auch vor „faktischen Beeinträchtigungen“; s. hierzu Ruffert, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 33. Ed. 2017, Art. 12 Rn. 58 ff. (m.w.N.). Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten Grundrechte auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Dies ist bei Art. 12 GG der Fall, vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 79. EL 2016, Art. 12 Rn. 106 ff. (m.w.N.). 149 S. o. Teil I Abschnitt 3. 147
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fizieren. Nach gesicherter Rspr. des BVerfG ist die Zulässigkeit derartigen Informationshandelns grundsätzlich anerkannt.151 Die rechtliche Befugnis hierzu ergibt sich aus der in Art. 65 GG verankerten Kompetenz zur materiellen Staatsleitung. So ist die Bundesregierung im Ausgangspunkt befugt, beispielsweise öffentliche Warnungen vor gefährlichen Jugendsekten oder verunreinigtem „Glykol-Wein“ auszusprechen, selbst wenn damit erhebliche (faktische) Grundrechtsbeeinträchtigungen verbunden sind. Voraussetzung ist allerdings, dass die veröffentlichten Informationen „inhaltlich zutreffend und unter Beachtung des Gebots der Sachlichkeit sowie mit angemessener Zurückhaltung formuliert“152 sind. Mit Blick auf die genannten Anforderungen des BVerfG sind relevante Mängel im Rahmen der Bekanntmachung des Deutschen Corporate Governance Kodex nicht erkennbar. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die veröffentlichten Empfehlungen in verfassungswidriger Weise unrichtig, unsachlich oder unangemessen wären. Konzeptionell wird die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben auch dadurch gewährleistet, dass das Ministerium jede neue Kodexfassung vor deren Bekanntmachung einer eigenen Rechtmäßigkeitsprüfung unterzieht.153 Als Zwischenergebnis lässt sich daher festhalten, dass die ministeriale Bekanntmachung des Kodex nach zuvor durchgeführter und rügefreier Rechtskontrolle als Akt staatlichen Informationshandelns verfassungsrechtlich zulässig ist.154 3. Mechanismus des „comply or explain“ in § 161 AktG Damit bewegt sich die Untersuchung auf die Kernfrage zu, ob der vom Gesetzgeber in § 161 AktG verankerte Mechanismus des „comply or explain“ dem Maßstab des Grundgesetzes entspricht. Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die in § 161 AktG normierte Verpflichtung zur jährlichen Abgabe einer Entsprechenserklärung einen Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) der betroffenen Organmitglieder und Gesellschaften darstellt. Im Sinne der Stufenlehre des BVerfG155 handelt es sich dabei um eine – das „Wie“ betreffende – Berufsausübungsregelung, deren Rechtfertigung „vernünftiger Erwägungen des Gemeinwohls“156 bedarf. Diese lassen sich ohne Weiteres ins Feld führen, denn die Erklärungspflicht des § 161 AktG 150 So bereits zutreffend Mülbert/Wilhelm, ZHR 2012, 286 (317). S. insoweit auch die Literaturhinweise in Fn. 57 zur Kategorie des schlicht hoheitlichen Verwaltungshandels; dort auch zur speziellen Form des „Realakts“. Weiterführend zur „informationellen Steuerung“, die „dem schlichten Verwaltungshandeln zuzuordnen ist“: Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (225). 151 BVerfGE 105, 252 (268 ff.); E 105, 279 (295 ff.). 152 BVerfGE 105, 252 (272); E 105, 279 (295). 153 S. o. Teil I Abschnitt 3 und dort Fn 52. 154 So i.E. auch Mülbert/Wilhelm, ZHR 2012, 286 (318); Wernsmann/Gatzka, NZG 2011, 1001 (1004). 155 Grundlegend BVerfGE 7, 377 (405 ff.) – „Apothekenurteil“; seither st. Rspr., vgl. z. B. E 13, 237 (240); E 21, 245 (250); E 103, 172 (185 ff.). 156 BVerfGE 7, 377 (405).
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dient letztlich dazu, die betroffenen Organmitglieder zu einer verantwortungsvollen Unternehmensführung anzuhalten, Transparenz auf den Märkten zu schaffen und den Standort Deutschland für Investoren attraktiver zu machen.157 Aber auch in sonstiger Hinsicht muss das Gemeinwohl gewahrt sein. Namentlich das Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG), das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) und die vom BVerfG entwickelte Wesentlichkeitstheorie158, wonach der parlamentarische Gesetzgeber „in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen“ selbst zu treffen hat, sind materielle Maßstäbe staatlich-legislativer Steuerungstätigkeit. Darüber hinaus können grundrechtliche Schutzpflichten159 unter Umständen auch ein Tätigwerden staatlicher Organe gebieten. Speziell für den Fall, dass sich der Staat – wie hier – private Normen zu eigen macht, um im Wege gesteuerter Selbstregulierung bestimmte Gemeinwohlziele zu verwirklichen, hat Matthias Schmidt-Preuß aus den vorgenannten Verfassungsprinzipien konkrete Rahmenbedingungen privater Normgebung abgeleitet. Sie wurden bei den dogmatischen Grundlagen160 im Einzelnen dargestellt. Nun gilt es, den Mechanismus des § 161 AktG an ihnen zu messen. a) Unzulässige „dynamische Verweisung“? Aus dem Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes folgt ein Verbot der sog. dynamischen Verweisung, mit der ein Gesetz private Normen in ihrer jeweils geltenden Fassung inkorporiert.161 Der Gesetzgeber muss „Herr des Verfahrens“162 bleiben und darf Privaten keinen „Blankoscheck“163 zur Gestaltung gesetzlicher Inhalte ausstellen. Nimmt man § 161 AktG unter diesem Aspekt in den Blick, so ist in der Tat festzustellen, dass der Gesetzgeber hier nicht auf eine bestimmte – dem bei Erlass der Norm bekannte – Version des Kodex Bezug nimmt. Die Erklärungspflicht bezieht sich vielmehr auf die jeweils aktuelle, von der Kommission verabschiedete und durch das Ministerium bekannt gemachte Fassung. Insoweit enthält § 161 AktG durchaus einen „dynamischen“ Verweis auf die jeweils geltende Kodexfassung. Der entscheidende Punkt ist aber, dass der Kodex auf diesem Wege nicht ins Aktiengesetz „inkorporiert“ wird. Denn § 161 AktG verleiht den Kodex-Empfehlungen keinen Gesetzesrang. Sie werden nicht Teil des Aktienrechts,
157
Vgl. Präambel des Kodex. Abs. 1; eingehend hierzu v. Werder (Fn. 4), 3. Teil, Rn. 100 ff., 102 (Attraktivität des Standorts für Investoren), Rn. 103 (Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung), Rn. 107 (Transparenz). 158 BVerfGE 40, 237 (249); E 49, 89 (126 f.); E 83, 130 (152); E 95, 267 (309). 159 Zur Funktion von Grundrechten als staatliche Schutzpflichten s. BVerfGE 39, 1 (42 ff.); seither st. Rspr., vgl. nur E 46, 160 (164); E 49, 89 (142); E 53, 30 (57); E 56, 54 (73). 160 S. o. Teil I. Abschnitt 1. 161 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (253), m.w.N. 162 Ebd. 163 Ebd.
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sondern sind und bleiben – rechtlich unverbindliche – private Normen.164 Damit behält der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich gebotene Verfahrensherrschaft. Über den – verbindlichen – Gesetzesinhalt entscheidet er allein. In diesem Sinne handelt es sich bei § 161 AktG zwar um eine dynamische Verweisungsnorm. Als solche ist sie aber verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, weil sie die – jeweils geltenden – Empfehlungen des Kodex nicht zum Inhalt des Gesetzes erhebt und dementsprechend keine normative Inkorporationswirkung entfaltet. b) Hinreichender „normativer Grundstandard“? Nach der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG165 ist es erforderlich, aber auch ausreichend, dass der Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen selbst trifft. Einen Totalvorbehalt des Gesetzes verlangt die Verfassung nicht.166 Die Frage, welche Angelegenheiten in diesem Sinne „wesentlich“ und durch Gesetz zu regeln sind, bedarf einer wertenden Betrachtung.167 Bedient sich der Staat privater Normgebung, um bestimmte Gemeinwohlziele im Wege gesteuerter Selbstregulierung zu verwirklichen, so steht die Wesentlichkeitstheorie dem grundsätzlich nicht entgegen. In diesem Fall ist es aber Sache des Gesetzgebers, den – mittels privater Normen zu konkretisierenden – „normativen Grundstandard“168 vorzugeben. Dementsprechend ist der Gesetzgeber zwar nicht etwa berufen, den Inhalt einzelner Kodexregelungen zu definieren. Die Erklärungspflicht des § 161 AktG und die hierdurch vermittelte faktische Bindungswirkung von Kodex-Empfehlungen kann aber nach Maßgabe der Wesentlichkeitstheorie nur dann Bestand haben, wenn der Gesetzgeber den normativen Grundstandard dieser Empfehlungen selbst festlegt. Betrachtet man § 161 AktG unter diesem Aspekt, scheint es – auf den ersten Blick – gänzlich an einem solchen normativen Grundstandard zu fehlen. Denn das Gesetz regelt zunächst einmal nur, dass sich die Erklärungspflicht auf die bekannt gemachten Empfehlungen der „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ bezieht, ohne irgendwelche materiellen Vorgaben zum Inhalt dieser Empfehlungen zu normieren. Entstehungsgeschichte und Zielrichtung des § 161 AktG machen jedoch deutlich, dass die Vorschrift nicht nur die Kommission als pri164 So auch die zutreffenden Ausführungen des LG München (NZG 2008, 150 (151) – „MAN/Piech“), wonach § 161 AktG nicht bewirke, dass der Inhalt des Kodex im Sinne einer dynamischen Verweisung in den gesetzgeberischen Willen aufgenommen worden sei. Ganz in diesem Sinne auch bereits Ulmer, ZHR 2002, 150 (159), und Seibt, AG 2002, 249 (250), sowie aus dem neueren Schrifttum Kort (Fn. 78), S. 945 (952), und Grigoleit/Zellner (Fn. 63), § 161 Rn. 4. 165 S. o. Fn. 158. 166 So z. B. Grzeszik (Fn. 29), Art. 20 Rn. 108 ff. (m.w.N). 167 Vertiefend und weiterführend dazu Grzeszik, (Fn. 29), Art 20 Rn. 107; Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 1986, S. 238 ff.; Reimer, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2006, § 9 Rn. 48. 168 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (254).
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vate Normgeberin benennt und auf deren Empfehlungen verweist, sondern – implizit – auch einen normativen Maßstab für den Inhalt dieser Empfehlungen setzt. Denn die Erklärungspflicht des § 161 AktG wurde geschaffen, nachdem das Bundesjustizministerium die „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ errichtet und damit beauftragt hatte, Verhaltensregeln guter Unternehmensführung (Corporate Governance) zu kodifizieren.169 Wenn also § 161 AktG auf die Empfehlungen der genannten Kommission Bezug nimmt, so sind damit nur solche Regelungen gemeint, die einer guten „Corporate Governance“ dienen.170 In diesem Sinne hat § 161 AktG nicht nur eine verweisende, sondern darüber hinaus auch eine materiell begrenzende Funktion. Empfehlungen, die sich nicht unter den Begriff der „Corporate Governance“ subsumieren lassen, können die gesetzliche Erklärungspflicht nicht auslösen. Insoweit hat der Gesetzgeber durchaus „selbst“ – wenn auch nicht ausdrücklich, so aber doch implizit – eine normative Entscheidung zur materiellen Reichweite der Erklärungspflicht in § 161 AktG getroffen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass der in § 161 AktG zu Grunde gelegte Begriff der „Corporate Governance“ als normativer Grundstandard qualitativ den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie genügt. Im Schrifttum wurde dies insbesondere von Peter O. Mülbert und Alexander Wilhelm klar verneint.171 Danach fehle dem § 161 AktG eine „sachlich inhaltliche Konkretisierung“ der Regelungsbereiche, die von der Kodex-Kommission aufzugreifen und in der Entsprechenserklärung abzuarbeiten seien. Der Begriff der „Corporate Governance“ sei „in hohem Maße unbestimmt“, vermöge „eine Eingrenzung kaum zu leisten“ und lasse sich „geradezu ins Konturenlose weiten“. Erforderlich wäre zumindest, dass „der Gesetzgeber selbst in aussagekräftiger Weise definiert“, was unter Corporate Governance zu verstehen sei. Er – der parlamentarische Gesetzgeber – stehe in der Pflicht, den „Handlungsspielraum der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ und damit die „möglichen Bezugspunkte der abzugebenden Entsprechenserklärung“ klarer einzugrenzen, als es die bloße Bindung an den unbestimmten Begriff „Corporate Governance“ zu leisten vermöge. Vor diesem Hintergrund kommen die genannten Autoren zu dem Ergebnis, dass § 161 AktG den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie nicht entspreche und der dadurch bewirkte Eingriff in die Berufsfreiheit verfassungswidrig sei. In der Tat ist der in § 161 AktG zu Grunde gelegte Begriff der „Corporate Governance“ nicht eindeutig definiert. Allgemein versteht man darunter die qualitativen Grundsätze guter Unternehmensführung und -kontrolle.172 Gleichwohl bleiben Auslegungsspielräume. Der daraus gezogene Schluss, die Erklärungspflicht des § 161 169
S. o. die Ausführungen in Teil I Abschnitt 2 zur Entstehung des Kodex. So auch BT-Drs. 14/8769, zu Nummer 16, wonach § 161 AktG eine Erklärungspflicht „über die Beachtung allgemeiner Regeln und Grundsätze guter Corporate Governance“ regelt. 171 Mülbert/Wilhelm, ZHR 2012, 286 (312 ff., 318 ff.). 172 Vgl. z. B. K. Schmidt, AG 2006, 597 (601 m.w.N.); Hopt, ZHR 2011, 444 (448 ff.); s. auch den an die „Regierungskommission Corporate Governance“ gerichteten Auftrag in BT-Drs. 14/7515, S. 3 („Unternehmensführung und -kontrolle“). 170
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AktG verstoße gegen die Verfassung, vermag indes nicht zu überzeugen. Insoweit bietet sich ein systematischer Vergleich zu der in weiten Bereichen privater Normgebung anerkannten Generalklauselmethode173 an. Hier bedienen sich Verwaltung und Gerichte privater Regelwerke, um unbestimmte Rechtsbegriffe des Gesetzgebers – wie etwa die „Regeln der Technik“ oder die „Verkehrsauffassung“ – zu konkretisieren, ohne freilich daran gebunden zu sein. Auf diese Weise erlangen die privaten Normen zwar keine rechtliche, wohl aber eine „de-facto-Verbindlichkeit“174. Verfassungsrechtlich ist diese Vorgehensweise abgesichert. Insbesondere ist auch anerkannt, dass die im Gesetz verankerten Generalklauseln trotz ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit als normative Grundstandards den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie genügen.175 Der in § 161 AktG geregelte Mechanismus des „comply or explain“ und die beschriebene Generalklauselmethode unterscheiden sich zwar in ihrer konkreten Funktionsweise. In Bezug auf deren normative Ausgangslage und die durch sie vermittelte faktische Bindungswirkung sind beide Instrumente aber strukturell vergleichbar. Es werden jeweils unbestimmte Rechtsbegriffe als normative Grundstandards im Gesetz verankert. Im einen Fall sind dies z. B. die „Regeln der Technik“ oder die „Verkehrsauffassung“, im anderen Fall die Grundsätze guter Unternehmensführung („Corporate Governance“). Sowohl bei § 161 AktG als auch im Rahmen der Generalklauselmethode dienen private Regelwerke der Konkretisierung des jeweiligen gesetzlichen Standards. Das Ergebnis ist – in beiden Fällen – eine faktische Bindungswirkung ohne rechtliche Verbindlichkeit. Im Rahmen der Generalklauselmethode fungiert das private Regelwerk als – rechtlich unverbindliche – „selbstregulative Auslegungsofferte“176 für Behörden und Gerichte. Im Mechanismus des „comply or explain“ wirken die privaten Normen des Kodex als – rechtlich ebenfalls nicht bindende – „Empfehlungen“ für die betroffenen Vorstände und Aufsichtsräte. Auch die Qualität und Intensität der faktischen Bindungswirkung beider Instrumente ist durchaus vergleichbar. Wer die Genehmigung einer technischen Anlage begehrt, ist gut beraten, alle privaten Normen einzuhalten, die üblicherweise von den Behörden zur Konkretisierung der „Regeln der Technik“ herangezogen werden. Wer solche Normen missachtet, riskiert eine behördliche Ablehnung. In vergleichbarer Weise sind die Vorstände und Aufsichtsräte börsennotierter Gesellschaften veranlasst, die Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex grundsätzlich zu beachten, weil sie sonst infolge der gesetzlichen Erklärungspflicht mit öffentlicher Kritik rechnen müssen.177 Aus Sicht der Betroffenen erscheint die faktische Bindungswirkung privater technischer Regelwerke sogar intensiver und einschneiden173
Zur Generalklauselmethode s. o. Teil I Abschnitt 1 mit Fn. 17. S. o. Teil I. Abschnitt 1. und Fn. 16. 175 S. o. Teil I. Abschnitt 1. (dort letzter Absatz). 176 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (256); ders., in: Kloepfer (Fn. 11), S. 89 (95). 177 S. o. Teil I. Abschnitt 4.: „Die gesetzliche Erklärungspflicht induziert gesellschaftlichen Befolgungsdruck.“ 174
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der als im Falle des Kodex. Denn der Bürger hat nur sehr eingeschränkten Einfluss darauf, ob und inwieweit die Behörden und Gerichte private Regelwerke zur Auslegung und Konkretisierung der Gesetze heranziehen, und wird sich daher – vorsichtshalber – in der Regel daran halten müssen. Demgegenüber haben die in § 161 AktG adressierten Vorstände und Aufsichtsräte sehr wohl – nicht nur theoretisch – die Möglichkeit, mit einer entsprechenden Begründung von den Empfehlungen des Kodex abzuweichen.178 Daraus ergibt sich folgender Befund: Der in § 161 AktG zu Grunde gelegte Begriff der „Corporate Governance“ weist keinen höheren Grad an Unbestimmtheit auf, als dies bei – verfassungsrechtlich anerkannten – normativen Grundstandards z. B. aus dem Technikrecht („Regeln der Technik“) der Fall ist. Außerdem ist festzustellen, dass die Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex infolge des „comply or explain“ Mechanismus jedenfalls keine stärkere Bindungswirkung entfalten als solche privaten Normen, die im Rahmen der Generalklauselmethode zur Gesetzesauslegung herangezogen werden. Auf Grund dieser strukturellen Vergleichbarkeit – sowohl in Bezug auf den Bestimmtheitsgrad der normativen Ausgangslage als auch hinsichtlich der Intensität der durch sie vermittelten faktischen Bindungswirkung – ist es sachgerecht und systematisch geboten, beide Instrumente auch verfassungsrechtlich gleich zu behandeln. Dementsprechend lässt sich hier als Zwischenergebnis festhalten, dass der in § 161 AktG zu Grunde gelegte Begriff der „Corporate Governance“ bei rechtsvergleichend-wertender Betrachtung einen hinreichenden Grad an Bestimmtheit aufweist und somit als normativer Grundstandard den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie genügt. c) Mechanismen „prozeduraler Richtigkeitsgewähr“ Wenn sich der Staat im Wege gesteuerter Selbstregulierung private Normen zu eigen macht und ihnen eine faktische Bindungswirkung verleiht, so setzt dies verfassungsrechtlich voraus, dass die in Rede stehenden privaten Regelwerke bestimmten „demokratisch-rechtsstaatlichen Mindestanforderungen“179 entsprechen. Diese beziehen sich nicht auf den Inhalt, sondern auf das Verfahren der privaten Normgebung. Hier geht es um die Kriterien der Transparenz, Publizität, Repräsentanz und Revisibilität180. Letztlich handelt es sich dabei um Mechanismen einer „prozeduralen Richtigkeitsgewähr“181. Daher ist auch das Verfahren der Kodexgebung im Lichte dieser Anforderungen zu betrachten. 178 Zur Förderung und Bedeutung einer sog. „Abweichungskultur“ bei der Umsetzung von Kodex-Empfehlungen s. Bachmann (Fn. 144), 2. Teil, Rn. 39 (m.w.N.); Habersack (Fn. 63), Teil E, S. 52 f.; Mertin, Der Konzern 2015, 112 (113); Börsig/Löbbe, FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 125 (139 ff.). 179 S. o. Teil I Abschnitt 1 und dort Fn. 31. 180 Schmidt-Preuß, in: Kloepfer (Fn. 11), S. 89 (96). 181 Schmidt-Preuß, ZLR 1997, 249 (257).
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Unter dem Aspekt der Transparenz ist zunächst festzustellen, dass sich die Kommission in den Anfangsjahren darauf beschränkt hatte, die jeweils aktuellen Kodexfassungen erst nach deren finaler Verabschiedung zu veröffentlichen. Später ist sie – wohl nicht zuletzt auf Grund entsprechender Anregungen im Schrifttum182 – dazu übergegangen, interessierte Kreise der Öffentlichkeit in das Normgebungsverfahren einzubeziehen. Gelangt die Kommission im Rahmen ihrer jährlichen Überprüfung zu dem Schluss, dass der Kodex einer Aktualisierung bedarf, veröffentlicht sie ihre Änderungsvorschläge und stellt diese zur Kommentierung. Nach Ablauf einer entsprechenden Stellungnahmefrist werden auch die eingegangenen Kommentare publiziert. Dieses sog. „Konsultationsverfahren“ hat sich in der Praxis bewährt.183 Es dient nicht nur der inhaltlichen Qualität der zur Diskussion gestellten Kodex-Regelungen, sondern fördert auch deren Akzeptanz bei den betroffenen Unternehmen. Insgesamt weist das Verfahren der Kodexgebung damit ein hohes – und jedenfalls ausreichendes – Maß an prozeduraler Transparenz auf. Das Kriterium der Publizität als weitere verfassungsrechtliche Anforderung ist eng mit dem Transparenzgedanken verknüpft und findet im Rahmen der Kodexgebung ebenfalls hinreichend Beachtung. So wird der von der Kommission beschlossene Kodex zunächst auf deren Internetseite veröffentlicht, um dann vom BMJV im amtlichen Teil des Bundesanzeigers bekannt gemacht zu werden. Mehr Publizität kann für ein privates Regelwerk nicht verlangt werden. Ferner ist die Repräsentanz als drittes Element demokratisch-rechtsstaatlicher Mindestanforderungen in den Blick zu nehmen. Es zielt auf die Zusammensetzung und interne Willensbildung ab. Hier kommt es darauf an, dass die betroffenen Kreise in einem angemessenen Verhältnis vertreten sind. Wie ausgeführt, setzt sich die Kodex-Kommission aus Vertretern von Vorständen und Aufsichtsräten kapitalmarktorientierter Unternehmen und deren Stakeholdern zusammen.184 Konkret sind dies Repräsentanten der institutionellen Investoren, der Privatanleger, der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, der Gewerkschaften und der Wirtschaftsprüfer. Insoweit ist nicht feststellbar, dass wesentliche betroffene Interessengruppen bei der Zusammensetzung des Gremiums unberücksichtigt geblieben wären. In Bezug auf die weitergehende Frage, ob die genannten Gruppen auch in einem angemessenen Verhältnis vertreten sind, fällt zunächst auf, dass die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder gegenüber den Vertretern der Stakeholder in der Mehrheit sind.185 Diese objektiv ungleiche Verteilung ist aber sachgerecht und angemessen, weil es ja gerade die Vorstände und Aufsichtsräte sind, die von der Erklärungspflicht des § 161 AktG adressiert werden und letztlich die faktische Bindungswirkung der Kodex-Empfehlungen 182
So insb. Kremer, ZIP 2011, 1177 (1180), und Hoffmann-Becking (Fn. 38), S. 337 (353). S. hierzu den Bericht der Geschäftsstelle der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, in: Kurvenlage, Halbjahresbericht des DAI, 2. Halbjahr 2016, S. 67. Weiterführende Informationen zum Konsultationsverfahren abrufbar unter www.dcgk.de (dort: „Konsultationen“). 184 S. o. Teil I. Abschnitt 3. 185 So auch in Ziff. 1.2 Abs. 2 S. 1 GO Kodex-Kommission vorgesehen. 183
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zu spüren bekommen. Insoweit sind sie erheblich stärker betroffen als die genannten Stakeholder-Gruppen. Dies rechtfertigt es, ihnen innerhalb des Gremiums mehr Gewicht beizumessen. Die Willensbildung innerhalb der Kommission vollzieht sich nach transparenten und nachvollziehbaren Regeln. Alle Mitglieder haben die gleichen Rechte und Beschlüsse werden grundsätzlich einvernehmlich gefasst.186 Insgesamt bestehen daher keine Zweifel, dass die Kodex-Kommission in Bezug auf ihre Zusammensetzung und interne Willensbildung dem Prinzip der Repräsentanz entspricht. Schließlich ist auch der Anforderung der Revisibilität im Rahmen der Kodexgebung Genüge getan. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Kodex entsprechend dem an die Kommission gerichteten Auftrag regelmäßig überprüft und aktualisiert wird.187 Wenn also eine betroffene oder interessierte Person den Eindruck hat, dass der Kodex an einer bestimmten Stelle geändert werden sollte, dann kann sie dies im Rahmen des darauffolgenden Konsultationsverfahrens als Stellungnahme einreichen und zur Diskussion stellen. In diesem Sinne könnte man von einer phasenverschobenen Einwendungsmöglichkeit gegen bestehende Kodex-Empfehlungen sprechen. Hinzu kommt, dass die Kodex-Kommission auch jenseits formalisierter Konsultationen ausdrücklich den offenen Dialog mit interessierten Kreisen anbietet und wünscht.188 Damit besteht dauerhaft die Chance, Anregungen für mögliche Kodex-Änderungen zu platzieren. d) „Beobachtungspflicht“ und „Zugriffsoption“ Unter dem Aspekt der Schutzfunktion von Grundrechten189 ergibt sich als weitere Rahmenbedingung gesteuerter Selbstregulierung eine staatliche „Beobachtungspflicht“190. Außerdem muss sich der Staat eine „Zugriffsoption“191 sichern für den Fall, dass private Normgebung den Schutz grundrechtsrelevanter Güter nicht angemessen gewährleistet. Insoweit ist zunächst von Bedeutung, dass das BMJV vor der Bekanntmachung jeder neuen Kodexfassung eine Rechtmäßigkeitskontrolle192 durchführt. Damit ist nicht nur eine wiederkehrende Befassung des Ministeriums mit den Inhalten des Kodex sichergestellt. Vielmehr bietet die Kontrolle auch eine administrative Zugriffsoption par excellence, denn im Falle eines negativen Prüfungsergebnisses werden rechtswidrige Kodex-Empfehlungen nicht bekannt gemacht und können damit keine faktische Bindungswirkung entfalten.
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S. o. Teil I. Abschnitt 3. S. o. Teil I. Abschnitt 2. 188 S. hierzu www.dcgk.de (dort unter „Kommission“ und „Die Kommission im Dialog“). 189 Zur Schutzfunktion von Grundrechten s. o. Fn. 159. 190 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (172 ff.); ders., ZLR 1997, 249 (254). 191 Ebd. 192 S. o. Teil I Abschnitt 3 mit Fn. 52.
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Darüber hinaus zeigt die Vergangenheit, dass der Gesetzgeber schon häufig „nachgebessert“ hat, wenn er der Auffassung war, dass die Regelung einer Materie qua Kodex nicht (mehr) ausreicht. Zu nennen sind etwa die im Rahmen des „VorstOG“ aus dem Jahr 2005193 geschaffenen Pflichten zur individuellen Offenlegung von Vorstandsbezügen194 sowie die Regelungen des 2009 verabschiedeten „VorstAG“195 zum verpflichtenden Selbstbehalt bei der sog. „D&O-Versicherung“ für Vorstandsmitglieder196, zur Bemessung der Vorstandsvergütung durch den Aufsichtsrat197, zur Billigung des Vorstandsvergütungssystems durch die Hauptversammlung198 und zum Wechsel von Vorstandsmitgliedern in den Aufsichtsrat199. Ein weiteres – prominentes – Beispiel sind die gesetzlichen Vorgaben zur „Frauenquote“200, die im Jahr 2015 geschaffen wurden, nachdem eine vorangegangene Kodex-Empfehlung zu diesem Thema in der Praxis nur eingeschränkte Akzeptanz gefunden hatte. Ob die genannten gesetzlichen Regelungen tatsächlich infolge grundrechtlicher Schutzpflichten verfassungsrechtlich geboten waren, ist zu bezweifeln und mag dahinstehen. Der Gesetzgeber sah sich vermutlich weniger infolge verfassungsrechtlicher Pflichten, sondern vielmehr auf Grund politischer Zweckmäßigkeitserwägungen veranlasst, in diesen Bereichen tätig zu werden. Aus rechtspolitischer Sicht wird die Tendenz des Gesetzgebers, Kodex-Empfehlungen mit geringen Akzeptanzquoten zeitnah durch gesetzliche Pflichten zu ersetzen, zurecht kritisch gesehen.201 Unter dem hier zu betrachtenden Aspekt grundrechtlicher Schutzpflichten belegen die gezeigten Beispiele aber jedenfalls, dass der Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Beobachtungspflicht ernst nimmt und bei Bedarf auch gewillt ist, seine legislative Zugriffsoption tatsächlich auszuüben.
193 Gesetz über die Offenlegung von Vorstandsvergütung (VorstOG), BGBl I 2005, 2267 ff. Vgl. dazu Baums, ZHR 2005, 299 ff.; Fleischer, DB 2005, 1611 ff.; Spindler, NZG 2005, 689 ff.; Thüsing, ZIP 2005, 1389 ff. 194 § 285 Ziff. 9 HGB. 195 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), BGBl I 2009, 509 ff. Sehr instruktiv hierzu Ihrig/Wandt/Wittgens, Beilage zu ZIP 40/2012, 1 ff. 196 § 93 Abs. 2 S. 3 AktG. 197 § 87 AktG. 198 § 120 Abs. 4 AktG. 199 § 100 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AktG. 200 Gesetz zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, BGBl I 2015, 642 ff. Vertiefend hierzu Junker/Schmidt-Pfitzner, NZG 2015, 929 ff.; Stüber, DStR 2015, 947 ff.; Arnold/Röder, NZA 2015, 1281 ff. 201 Der Kodex, so die berechtigte Kritik, werde in seiner Funktion als Instrument der Selbstregulierung beschädigt, wenn er zum „verlängerten Arm des Gesetzgebers“ mutiere. S. hierzu insb. Kremer, ZIP 2011, 1177 (1179); Habersack (Fn. 63), Teil E, S. 25, 52 f.; Hopt (Fn. 144), S. 563 (575 ff.).
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IV. Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Die Konzeption des Deutschen Corporate Governance Kodex fügt sich nahtlos in die von Matthias Schmidt-Preuß entwickelte Dogmatik gesteuerter Selbstregulierung im Bereich privater Normgebung ein, bietet mit dem spezifischen Wirkmechanismus des § 161 AktG aber auch eine zusätzliche Facette, in der sich die Kodex-Regulierung von den „klassischen“ Feldern privater Normgebung unterscheidet. 2. Dieser Mechanismus lässt sich als verzahnte Mischform staatlich-steuernder und gesellschaftlich-selbstregulativer Elemente wie folgt beschreiben: Die Gestaltung und Verabschiedung des Kodex durch die Kommission ist ein selbstregulativer Akt privater Normgebung. Als solcher ist der Kodex rechtlich unverbindlich. Werden die Empfehlungen des Kodex im Wege eines Aktes schlicht hoheitlichen Verwaltungshandelns des BMJV im Bundesanzeiger bekannt gemacht, so knüpft § 161 AktG daran eine Rechtspflicht zur jährlichen Veröffentlichung einer Entsprechenserklärung („comply or explain“). Die gesetzliche Erklärungspflicht induziert wiederum gesellschaftlichen Befolgungsdruck und verleiht dem Kodex insoweit eine faktische Bindungswirkung. 3. Darüber hinaus entfaltet der Kodex eine Orientierungsfunktion im Normengefüge aktienrechtlicher Sorgfaltspflichten. Vorstand und Aufsichtsrat sind zwar nicht verpflichtet, den Kodex zu befolgen. Mit Blick auf die Business Judgment Rule und das dort verankerte Wohl der Gesellschaft sind sie aber gehalten, inhaltlich einschlägige Kodex-Empfehlungen als spezifische Abwägungsaspekte in die Chancen- und Risikobewertung ihrer unternehmerischen Entscheidungen einfließen zu lassen. 4. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die zuständigen Gerichte thematisch passende Empfehlungen des Kodex als selbstregulative Auslegungsofferte nutzen könnten, wenn es um die Frage geht, ob eine von den Gesellschaftsorganen getroffene unternehmerische Entscheidung dem Wohl ihrer Gesellschaft diente. Da den Organmitgliedern bei der Beurteilung des konkreten Gesellschaftswohls aber eine gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüfbare Entscheidungsprärogative zusteht, sind praktische Anwendungsfälle – anders als in den vom Jubilar untersuchten Referenzgebieten privater Normgebung – kaum denkbar. 5. Die aktienrechtliche Pflicht zur Abgabe einer Entsprechenserklärung aus § 161 AktG umfasst eine vergangenheitsbezogene Wissenserklärung und eine zukunftsgerichtete Absichtserklärung. Während die Wissenserklärung wahrheitsgemäß erfolgen muss, bedarf die Absichtserklärung einer unternehmerischen Entscheidung am Maßstab der Business Judgment Rule. 6. Bei der Umsetzung offen formulierter Kodex-Empfehlungen haben die in § 161 AktG adressierten Vorstände und Aufsichtsräte einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsfreiraum. Darüber hinaus steht ihnen eine Auslegungsprärogative zu, soweit der Wortlaut des Kodex interpretationsbedürftig ist. Eine Abweichung vom Kodex muss daher nur erklärt werden, wenn die tatsächliche Unternehmenspraxis auf
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Basis der aus Adressatensicht günstigsten Auslegungsvariante klar und eindeutig mit einer Kodex-Empfehlung unvereinbar ist. 7. De lege lata kann eine fehlende oder fehlerhafte Entsprechenserklärung – unter engen Voraussetzungen – zur Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen und Aufsichtsratswahlen der Hauptversammlung führen. Entgegen der Auffassung des OLG München und einer verbreiteten Literaturmeinung begründet ein Verstoß gegen § 161 AktG aber keinen anfechtungsrelevanten Bekanntmachungsfehler des an die Hauptversammlung gerichteten Wahlvorschlags. 8. Der Deutsche Corporate Governance Kodex und der in § 161 AktG verankerte Wirkmechanismus des „comply or explain“ stehen auf verfassungsrechtlich sicherem Boden. Die in § 161 AktG enthaltene dynamische Verweisung auf die Empfehlungen des Kodex ist nicht zu beanstanden, weil sie keine unzulässige Inkorporationswirkung entfaltet. Ferner hat der Gesetzgeber mit dem Corporate GovernanceBegriff implizit einen normativen Grundstandard vorgegeben, der – anders als teilweise vertreten – bei rechtsvergleichend-wertender Betrachtung den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie genügt. Zudem weist das Verfahren der Kodexgebung hinreichende Mechanismen prozeduraler Richtigkeitsgewähr auf. 9. Diverse Beispiele belegen, dass der Staat seine Beobachtungspflicht im Bereich der Kodex-Regulierung ernst nimmt und sich für den Bedarfsfall administrative und legislative Zugriffsoptionen vorbehält.
C. Kartell- und Regulierungsrecht
Kollidierende Privatinteressen in der Fusionskontrolle Fusionskontrollrechtlicher Drittschutz aus der Perspektive der Schmidt-Preuß’schen Konfliktschlichtungsformel Von Florian Bien, Würzburg Das fusionskontrollrechtliche Genehmigungsverfahren steht geradezu beispielhaft für das Phänomen kollidierender Privatinteressen im Wirtschaftsverwaltungsrecht: Kartellbehördliche Maßnahmen wie insbesondere die Untersagung eines Zusammenschlussvorhabens, seine Genehmigung oder Genehmigung unter Auflagen berühren selbstverständlich in erster Linie die Adressaten des Verwaltungshandelns, nämlich die fusionswilligen Unternehmen. Daneben hat die kartellbehördliche Entscheidung aber praktisch immer auch Auswirkungen auf die Rechtsstellung dritter Unternehmen. Zu denken ist zunächst an Wettbewerber der Fusionsparteien, außerdem an Unternehmen auf vor- oder nachgelagerten Wirtschaftsstufen. Beispielsweise stehen dem Großhändler nach der Fusion zweier wichtiger Lieferanten geringere Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung. Genauso verändert sich die Verhandlungsposition eines Herstellers von Lebensmitteln, der einem durch Zusammenschluss gewachsenen Einzelhandelskonzern gegenübersteht. Damit handelt es sich bei der Fusionsgenehmigung aus Sicht der fusionswilligen Unternehmen um eine begünstigende Verwaltungsentscheidung. Aus Sicht vieler Drittbetroffener geht mit der Genehmigung hingegen eine Verschlechterung ihrer Stellung auf dem Markt, mithin eine Belastung einher. Sie wünschen sich daher eine möglichst weitgehende Berücksichtigung ihrer Interessen und Rechte im Genehmigungsverfahren. Aus ihrer Sicht ideal ist es, wenn sie ihren Interessen sowohl durch Beteiligung am Kartellverwaltungsverfahren Geltung verschaffen können (drittschützende Verfahrensrechte) als auch drittschützende materielle Rechte notfalls im gerichtlichen Hauptsacheverfahren und sogar im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes durchsetzen können. Es ist vor diesem Hintergrund kein Wunder, dass es sich der Jubilar in seiner einflussreichen Habilitationsschrift über das subjektiv-öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis1 nicht hat entgehen lassen, die Leistungsfähigkeit
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Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1. Auflage 1992.
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der von ihm entwickelten Konfliktschlichtungsformel2 auch am Beispiel der Fusionskontrolle zu testen.3 Der vorliegende Beitrag versucht, die Entwicklung des Drittrechtsschutzes in der deutschen Fusionskontrolle aus der Perspektive von Schmidt-Preuß‘ Konfliktschlichtungsformel kritisch nachzuzeichnen. Diese Aufgabe erscheint vorliegend besonders reizvoll, weil zwei Auflagen der Habilitationsschrift des Jubilars – erschienen 19924 und 20055 – die Entwicklung des Rechts begleitet und kommentiert haben. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Der Gesetzgeber hat die Forderung des Jubilars nach Begrenzung des Kreises der Drittbeschwerdeberechtigten mittels des Kriteriums der Geltendmachung einer Verletzung in subjektiven Rechten offenbar erhört. Lange Zeit beschränkten sich die Möglichkeiten der Einflussnahme von Drittbetroffenen auf die Beteiligung am Verwaltungsverfahren vor dem Bundeskartellamt. Gerichtlicher Rechtsschutz scheiterte im Wesentlichen bereits an der Zulässigkeit (I.). Erst im Rahmen der 6. GWB-Novelle6 schuf der Gesetzgeber mit dem Erlass von § 40 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 6 GWB 1998 die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Anfechtbarkeit von Fusionsfreigaben des Bundeskartellamts (II.), weshalb sich die Diskussion um den Drittrechtsschutz auf die Frage der Zulässigkeitsvoraussetzungen verschob (III.). In der Folge weitete die Rechtsprechung den fusionskontrollrechtlichen Drittrechtsschutz sukzessive aus, zunächst in Form der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (NetCologne)7 und dann durch Erweiterung des Kreises der Drittbeschwerdeberechtigten (pepcom)8. Darauf reagierte der Gesetzgeber der 7. und der 9. Novellen des Kartellgesetzes in den Jahren 2005 und 2017, indem er den Drittrechtsschutz wieder wesentlich zurücknahm. Er erhob die Geltendmachung einer subjektiven Rechtsverletzung in § 64 Abs. 2 S. 3 GWB 2005 zur Voraussetzung des Antrags auf einstweiligen Drittrechtsschutz gegen Freigabeverfügungen des Bundeskartellamts und schließlich gemäß § 63 Abs. 2 S. 2 GWB 2017 sogar der Anfechtungsbefugnis im Hauptsacheverfahren gegen die Ministererlaubnis (IV.). Die Renaissance des materiellen Kriteriums der Geltendmachung einer subjektiven Rechtsverletzung als Zulässigkeitsvoraussetzung für fusionskontrollrechtlichen Drittrechtsschutz rückt damit die von Schmidt-Preuß – wie sich jetzt zeigt – ganz zu Recht und von Anfang an in den Vordergrund gestellte 2
Ebenda, S. 247 ff. Ebenda, S. 355 f. 4 Oben Fn. 1. 5 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2., um ein ausführliches Nachwort erweiterte Auflage 2005, S. 355. 6 Sechstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26. 8. 1998, in Kraft getreten am 1. 1. 1999 (BGBl. I S. 2521). 7 Erstmals gewährt vom OLG Düsseldorf, 11. 4. 2001, Kart 22/01 (V) – NetCologne I, WuW/E DE-R 665. 8 BGH, 7. 11. 2006, KVR 37/05 – pepcom, WuW/E DE-R 1857, 1859. 3
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Frage nach der Bedeutung und der Existenz subjektiver öffentlicher Drittrechte in der Fusionskontrolle wieder ins Zentrum der Diskussion (V.). I. Situation vor Inkrafttreten der 6. GWB-Novelle 1998: Beschränkung auf Beteiligung am Verfahren vor dem Bundeskartellamt 1. Fehlen subjektiver öffentlicher Drittrechte auf Untersagung Die vielfach zitierte9 und auch von der Rechtsprechung rezipierte10 SchmidtPreuß’sche Konfliktschlichtungsformel sei auch hier noch einmal in Erinnerung gerufen: „Notwendige, aber auch hinreichende Voraussetzung für das Vorliegen eines subjektiven öffentlichen Rechts im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis ist, dass eine Ordnungsnorm die kollidierenden Privatinteressen in ihrer Gegensätzlichkeit und Verflochtenheit wertet, begrenzt, untereinander gewichtet und derart in ein normatives Konfliktschlichtungsprogramm einordnet, dass die Verwirklichung der Interessen des einen Privaten notwendig auf Kosten des anderen geht.“11
Die Subsumtion des materiellen fusionskontrollrechtlichen Untersagungskriteriums in § 24 Abs. 1 GWB 1990 (jetzt: § 36 Abs. 1 GWB) unter die selbst aufgestellten Kriterien fällt bei Schmidt-Preuß kurz und eindeutig aus: es fehle bereits an der Wertung, Begrenzung und Gewichtung der Konkurrenzsituation.12 Noch weniger könne von ihrer Einordnung in ein normatives Konfliktschlichtungsprogramm die Rede sein.13 Ein subjektives öffentliches Recht Dritter auf Untersagung eines Zusammenschlussvorhabens will der Autor allenfalls in dem „krassen Ausnahmefall einer Vernichtungsfusion“ zugestehen.14 Die Einschätzung des Jubilars liegt auf der Linie der bis zum Erscheinen der Habilitationsschrift ergangenen Rechtsprechung von Kammergericht und Bundesgerichtshof. Als wegweisend erwies sich die Weichschaum IIEntscheidung des Kammergerichts.15 Zwar konzediert das Kammergericht wirtschaftliche Auswirkungen eines Zusammenschlusses auf Dritte: 9 Siehe nur die Nachweise bei Wegmann, DVBl. 2002, 1446 (1449 f., mit vielen Nachweisen in Fn. 30) und speziell für den Bereich des Fusionskontrollrechts Laufkötter, WuW 1999, 671 (675); Dormann, Drittklagen im Recht der Zusammenschlußkontrolle, 2000, S. 132 f.; Veelken, WRP 2003, 207 (222); Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 146 (jeweils grundsätzlich zustimmend); außerdem bei Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, insbesondere S. 715 f. und 753. 10 Siehe insbesondere BVerwG, 30. 3. 1995 – 3 C 8/94, 118, 120 f. (an Autor: Rn. oder Fundstelle?), dazu etwa Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig (Begr.), GG, 81. Lfg. 9/2017, Art. 19 Abs. 4 Rn. 136. 11 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 247 ff. 12 Ebenda, S. 355. 13 Ebenda, S. 355. 14 Ebenda, S. 355. 15 KG, 6. 10. 1976, Kart 2/76 – Weichschaum II, WuW/E OLG 1758, 1759.
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„Es liegt zwar auf der Hand, daß die Zusammenschlußkontrolle und ihre Ergebnisse für die betroffenen Unternehmen von erheblicher Bedeutung sind und auch auf Dritte nicht ohne Wirkung bleiben; insbesondere die mit der Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung konfrontierten Konkurrenten werden davon berührt.“16
Zugleich vermag das Gericht den Vorschriften über die Fusionskontrolle aber allein das Ziel zu entnehmen, den Wettbewerb im öffentlichen Interesse vor einer Vermachtung zu schützen: „Die durch §§ 24, 24a GWB [a. F.] eröffneten Kontrollmöglichkeiten von Unternehmenszusammenschlüssen oder entsprechenden Vorhaben dienen der Sicherung des Wettbewerbs vor einer Vermachtung des Marktes durch marktbeherrschende Unternehmen und damit der Wahrung gesamtwirtschaftlicher Belange, nicht aber den Individualinteressen der unmittelbar oder mittelbar Betroffenen.“17
Etwaige günstige Auswirkungen der Kontrolle auf Dritte qualifiziert das Kammergericht als bloße „Rechtsreflexe, die von der Norm in ihrer Zwecksetzung nicht erfaßt werden.“18
2. Fehlen der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine Drittbeschwerde Aus heutiger Sicht mag es erstaunen, dass der Jubilar in der ersten Auflage seiner Habilitationsschrift allein das subjektive öffentliche Recht Dritter „auf Untersagung“ eines Zusammenschlusses behandelt. Die Erklärung ist einfach: Im Jahr 1992 sah das deutsche GWB – anders als bereits die europäische Fusionskontrollverordnung Nr. 4064/89 in Artikel 8 Abs. 219 – noch keine förmliche Freigabe-, sondern allein eine Untersagungsverfügung vor. Die Anfechtungsbeschwerde scheiterte damit regelmäßig schon an der fehlenden Statthaftigkeit.20 Doch auch der von Schmidt-Preuß thematisierten Drittverpflichtungsbeschwerde gerichtet auf Untersagung standen – unabhängig von der (aus der Perspektive von Schmidt-Preuß’ Arbeit zentralen) Frage der Verletzung in subjektiven öffentlichen Rechten – Hindernisse verfahrensrechtlicher Art entgegen. So musste der Versuch des Drittbetroffenen, die Kartellbehörde zur Untersagung eines Zusammenschlussvorhabens zu verpflichten, schon deshalb scheitern, weil man vor Ende der gesetzlich
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Ebenda, juris-Rn. 54. Ebenda, juris-Rn. 52. 18 Ebenda, juris-Rn. 54. 19 Vgl. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 355 Fn. 595. 20 Das Bundeskartellamt konnte eine angemeldete Fusion bereits durch bloßes Verstreichenlassen der Ein- bzw. Viermonatsfrist gemäß §§ 24 Abs. 2, 24a Abs. 2 GWB 1990 freigeben, siehe aber noch sogleich unten zur Rechtsnatur der später eingeführten schriftlichen „Freigabemitteilung“. 17
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vorgesehenen Untersagungsfristen21 nur schwerlich die dem Bundeskartellamt in § 63 Abs. 3 Satz 2 GWB eingeräumte „angemessene Frist“ zur Entscheidung als abgelaufen bezeichnen konnte. Damit fehlte es vorher schon am Rechtsschutzbedürfnis für eine Verpflichtungsbeschwerde.22 Die kurzen Untersagungsfristen stellten noch in einer weiteren Beziehung eine Hürde dar. Nach ihrem Ablauf erlischt endgültig die Befugnis der Behörde, ein Zusammenschlussvorhaben zu untersagen.23 Gerichtlicher Rechtsschutz wäre daher in jedem Fall zu spät gekommen. So erscheint es immerhin nicht ausgeschlossen, dass man in dem Fall, dass das Bundeskartellamt von der (erst im Rahmen der 4. GWBNovelle 1990 und damit kurz vor Erscheinen der Habilitationsschrift des Jubilars eingeführten) Möglichkeit der schriftlichen „Freigabemitteilung“ gegenüber den Fusionsparteien Gebrauch macht (§ 24a Abs. 4 HS 1 GWB 1990), vom Erlass eines anfechtbaren Verwaltungsakts ausgeht,24 weil die Mitteilung die Rechtsfolge des Wegfalls des fusionskontrollrechtlichen Vollzugsverbots zeitigt.25 Ein Neubeginn der Fristen ist aber erst seit Inkrafttreten von § 40 Abs. 6 GWB 1998 (und auch nur im Fall der erfolgreichen Anfechtungsbeschwerde) vorgesehen. Vor Inkrafttreten der 6. GWB-Novelle bestand damit praktisch keine Möglichkeit der späteren Untersagung durch das Bundeskartellamt. Sie wäre regelmäßig schon am Verstreichen der einmonatigen Ausschlussfrist (heute: § 40 Abs. 1 S. 1 GWB) gescheitert. Sie macht eine Untersagung durch das Bundeskartellamt unzulässig und lässt damit das Rechtsschutzbedürfnis des Drittbeschwerdeführers entfallen.26 21 Die Frist betrug zum Zeitpunkt der Entscheidung des Weichschaum-Falls ein Jahr, § 24 Abs. 2 Satz 2 GWB 1973. Seit 1998 beträgt sie nur noch einen Monat bzw. vier Monate ab Fusionsanmeldung, § 40 Abs. 1 S 1 und Abs. 2 S 2 GWB. 22 Mestmäcker/Veelken, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 4. Auflage 2007, § 40 Rn. 128; Thomas, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 2014, § 40 Rn. 98, begründet die fehlende Statthaftigkeit der Verpflichtungsbeschwerde allein mit dem Fehlen subjektiver öffentlicher Drittrechte auf Untersagung. 23 BGH, 31. 10. 1978, KVR 3/77 – Weichschaum III, WuW/E BGH 1556, 1559; OLG Düsseldorf, 13. 12. 2006 – Verweisungsverfahren, WuW/E DE-R 1922: „Läuft die Monatsfrist aber ab, ohne dass eine Mitteilung i. S. des § 40 Abs. 1 Satz 1 GWB erfolgt ist, bedeutet dies, dass der Zusammenschluss – von den in § 40 Abs. 2 GWB geregelten Ausnahmefällen abgesehen – nicht mehr untersagt werden darf, mithin eine gerichtliche Anfechtung des Zusammenschlusses mit dem Ziel seiner Untersagung ausgeschlossen ist.“ 24 Körber, Die Konkurrentenklage im Fusionskontrollrecht der USA, Deutschlands und der EU, 1996, S. 237; Steinberger, WuW 2000, 345 (346); Bosch, in: Hootz (Hrsg.), Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht, Gemeinschaftskommentar, 5. Auflage 2000, § 40 Rn. 19. 25 Siehe etwa KG, 11. 4. 1997 – Großverbraucher, WuW/E OLG, 5849, 5850; Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 1992, 2. Auflage § 24a GWB 1990 Rn. 37 m.w.N.; Kleinmann/Bechtold, Kommentar zur Fusionskontrolle, 1989, § 24a Rn. 129. Gegen die Einordnung der Freigabemitteilung als Verfügung z. B. Harms, in: Müller-Hennenberg/Schwartz/ Benisch (Hrsg.), Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht, Gemeinschaftskommentar, 1990, § 24a GWB 1990 Rn. 224. 26 KG, 17. 5. 2000, Kart 35/99 – tobaccoland III, WuW DE-R 644, 645. Im Ergebnis auch OLG Düsseldorf, 30. 6. 2004, VI-Kart. 9/04 (V) – tv kofler, WuW DE-R 1293, 1297; OLG
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Auch eine einstweilige Anordnung des Beschwerdegerichts gemäß § 64 Abs. 3 i.V.m. § 60 GWB mit dem Inhalt, die Behörde zu verpflichten, die Fusion zunächst einmal zu untersagen, um Zeit zu gewinnen, scheidet aus. Sie muss als Umgehung des Gesetzes zurückgewiesen werden.27 Die genannten verfahrensrechtlichen Hindernisse mögen erklären, weshalb weder die Verpflichtungs- noch die Untersagungsbeschwerde Dritter in der Fusionskontrolle zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Habilitationsschrift des Jubilars einen Anwendungsbereich haben konnte.28 Der von Schmidt-Preuß kurz aufgeworfenen Frage nach der Existenz materieller subjektiver öffentlicher Drittrechte in der Fusionskontrolle29 kam damit zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Monographie im Jahr 1992 also keine praktische Bedeutung zu. 3. Drittbeteiligung am Verwaltungsverfahren vor dem Bundeskartellamt Damit verblieb es zum damaligen Zeitpunkt für Drittbetroffene allein bei der Möglichkeit der Beteiligung am Verwaltungsverfahren vor dem Bundeskartellamt. Schon damals galt: Wer auf seinen Antrag hin und aufgrund erheblicher Interessenberührung von der Kartellbehörde beigeladen wird, erlangt die privilegierte Stellung eines Beteiligten (§ 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB).30 Damit verbunden sind das Recht, die Verfahrensakte einzusehen (§ 29 VwVfG), das Recht zur Abgabe von Stellungnahmen (§ 56 Abs. 1 GWB), der Anspruch auf Erhalt von Schriftsatz- und Entscheidungsabschriften31 und auf Teilnahme an Anhörungen (§ 56 Abs. 3 Satz 1 GWB).32 Im Fall des Ministererlaubnisverfahrens kann gegen den Willen eines Beteiligten nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden (§ 56 Abs. 3 Satz 3 2. HS GWB). Darüber hinaus kann das Bundeskartellamt auch Düsseldorf, 7. 10. 2004, VI-Kart 3/04 (V) – Ampere Freigabe, unveröffentlicht, abrufbar unter www.olg-duesseldorf.de, II B; BGH, 28. 6. 2005, KVZ 34/04 – Ampere Freigabe, WuW/E DER 1571, 1572. Vgl. auch KG, 9. 5. 2001, Kart 18/99 – HABET/Lekkerland, WuW/E DE-R 688, 689 (zum fehlenden Rechtsschutzbedürfnis bei Ablauf der Viermonatsfrist). 27 Kleinmann/Bechtold, Kommentar zur Fusionskontrolle, 1989, § 24 Rn. 283; vgl. auch das obiter dictum des KG, 12. 1. 1976, Kart 1/76 – Weichschaum I, WuW/E OLG 1637 ff., das eine vorsorgliche Untersagung zur Wahrung der Frist des § 24 Abs. 2 Satz 2 GWB 1973 „als ohnehin bedenklich“ bezeichnet. 28 Vgl. Mestmäcker/Veelken, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 4. Auflage 2007, § 40 Rn. 126 ff., 133, 134: „Im Ergebnis ist festzustellen, dass für die Verpflichtungsbeschwerde im Rahmen des § 40 GWB kein Raum ist“. 29 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 355 f. 30 Siehe nur Klees, in: Busche/Röhling (Hrsg.), Kölner Kommentar zum Kartellrecht, GWB, 2014, § 54 Rn. 35 ff. 31 Podszun/Kreifels, in Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, 2017, Kap. 14 Rn. 48 (S. 344). 32 Zusammenfassend: OLG Düsseldorf, 5. 7. 2000, Kart 1/00 (V)- SPNV, WuW/E DE-R 523, 527.
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unabhängig von einer Beiladung weiteren Dritten als „Vertreter der von dem Verfahren berührten Wirtschaftskreise“ Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen (§ 56 Abs. 2 GWB). Die Beteiligung Dritter am und ihre Einbeziehung in das kartellbehördliche Verfahren dient eher reflexhaft auch dem Interesse der Betroffenen daran, auf das Verfahrensergebnis Einfluss zu nehmen. Primär geht es um das öffentliche Interesse daran, die behördliche Beurteilung von Zusammenschlussvorhaben auf eine breitere Beurteilungs- und Entscheidungsgrundlage zu stellen, indem Marktkenntnisse und Rechtsauffassungen Dritter nutzbar gemacht werden.33 II. Verabschiedung der 6. GWB-Novelle 1998: Schaffung der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Drittanfechtungsbeschwerde gegen Fusionsfreigaben Erst die Verabschiedung der 6. GWB-Novelle im Jahr 1998, also sechs Jahre nach Veröffentlichung der Habilitationsschrift des Jubilars, deutete, wenngleich noch behutsam, eine Wende in der Bewertung der Rechtsstellung Drittbetroffener an. Zwar ist in der Gesetzesbegründung die Rede von „eigenen Rechten“ Dritter, die im Fall der Betroffenheit „künftig gegen Freigabeentscheidungen Beschwerde einlegen können“.34 Dieser in seiner Bedeutung unklare Hinweis in den Materialien war aber kaum geeignet, die auch vom Jubilar geteilte herrschende Meinung umzustoßen. Eine Änderung der materiellen Rechtslage war vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt.35 Die von einer Fusionsfreigabe betroffenen Dritten konnten sich auch weiterhin nicht auf eine Verletzung materieller subjektiver öffentlicher Drittrechte berufen.36 Der Gesetzgeber beschränkte sich vielmehr darauf, die beiden bereits erwähnten verfahrensrechtlichen Hindernisse für Drittrechtsschutz zu beseitigen. Freigabeentscheidungen, die nach Einleitung des Hauptprüfverfahrens ergehen, wurden erstma33 OLG Düsseldorf, 30. 11. 2009 – 9 U 30/09, BeckRS 2009, 87781; Ost, in: Bornkamm/ Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, GWB, 2015, § 54 Rn. 18 (m.w.N.). Daneben in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist das durch die Anhörung der Dritten vermittelte Gefühl, ihr Anliegen werde ernst genommen mit der Folge einer erhöhten Akzeptanz auch abweichender Entscheidungen sowie eines größeren Vertrauens in die Arbeit der Wettbewerbsbehörden, vgl. Lange, FS Boujong, 1996, S. 885 (900). 34 Bundesregierung, Begr. 6. GWB-Nov., BT-Drucks. 13/9720, S. 44. 35 A.A. Dormann, Drittklagen im Recht der Zusammenschlußkontrolle, 2000, S. 134; dies., WuW 2000, 245 (246). 36 Vgl. OLG Düsseldorf, 30. 6. 2004, VI-Kart. 9/04 (V) – tv kofler, WuW DE-R 1293, 1296: „Drittunternehmen, die sich gegen einen Unternehmenszusammenschluss wenden, […] sind nicht in subjektiven Rechten i.S.v. Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Weder aus einfachem Gesetz noch aus den Grundrechten folgt ein subjektives Recht dritter Unternehmen auf Untersagung von Zusammenschlüssen. […] § 36 GWB begründet keine subjektiven Rechte zugunsten von Konkurrenten oder der Marktgegenseite, weil sie [= die Fusionskontrolle, Verf.] überwiegend im öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung des Wettbewerbs als Institution eingeführt wurde.“ Noch einmal bekräftigt in OLG Düsseldorf, 30. 8. 2004, Kart 21/03 (V) – Argenthaler Steinbruch, WuW/E DE-R 1462, 1464.
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lig als anfechtbare, begründungs- und veröffentlichungspflichtige Verfügungen ausgestaltet (§ 40 Abs. 2 Satz 1 GWB). Das Problem der kurzen Untersagungsfristen führte der Gesetzgeber durch Einfügung von § 40 Abs. 6 GWB 1998 einer Lösung zu: Die viermonatige Untersagungsfrist des § 40 Abs. 2 Satz 2 GWB beginnt nach Aufhebung der Freigabe durch das Beschwerdegericht von neuem und erlaubt es dem Bundeskartellamt daher noch, gegebenenfalls eine Untersagungsentscheidung zu erlassen. Damit lässt sich die 6. GWB-Novelle von 1998 mit Fug als Geburtsstunde des gerichtlichen Drittrechtsschutzes in der Fusionskontrolle bezeichnen. III. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Drittanfechtungsbeschwerde gegen Fusionsfreigabeverfügungen Nachdem der Gesetzgeber der 6. GWB-Novelle für die grundsätzliche Statthaftigkeit der Drittanfechtungsbeschwerde (§ 63 Abs. 2 GWB) gegen Freigabeentscheidungen im Hauptprüfverfahren gesorgt hatte,37 verlagerte sich die Diskussion auf diejenigen Zulässigkeitsvoraussetzungen, die in der Person des Drittbeschwerdeführers vorliegen müssen. Für den klassischen Verwaltungsrechtler gewöhnungsbedürftig präsentiert sich die merkwürdige Mischung aus formellen und materiellen Voraussetzungen der Zulässigkeit einer kartellverwaltungsrechtlichen Anfechtungsbeschwerde. Die deutlich jüngere Vorschrift § 42 Abs. 2 VwGO stellt allein materielle Anforderungen: Die Klage ist nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein.38 1. Formalisierte Beschwerdebefugnis Demgegenüber fußt der kartellverwaltungsrechtliche Anfechtungsschutz in erster Linie auf einem formellen Kriterium, der Beiladung zum Kartellverwaltungsverfahren.39 So normiert § 63 Abs. 2 GWB: „Die Beschwerde steht den am Verfahren vor der Kartellbehörde Beteiligten (§ 54 Absatz 2 und 3) zu.“
37 Das verbleibende Problem der Unanfechtbarkeit einer Freigabe im Vorprüfverfahren (besonders kritisch Dormann, Drittklagen im Recht der Zusammenschlußkontrolle, 2000, S. 50 ff., die in Ausnahmefällen mithilfe der Meistbegünstigungstheorie die Anfechtbarkeit begründen will) wird man als gesetzgeberische Entscheidung akzeptieren müssen. Ein Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie gemäß Art. 19 Abs. 4 GG ist nicht zu erkennen, weil die Vorschrift nur bei Verletzung subjektiver öffentlicher Rechte eingreift, deren Existenz vorausgesetzt, von der Vorschrift aber nicht begründet wird. 38 Ausführlich Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 552 ff. 39 Dazu Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 555 f. in Fn. 30.
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Während die Fusionsparteien gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 2 GWB automatisch am Verfahren vor der Kartellbehörde beteiligt sind (sog. „geborene Beteiligte“40), können Drittbetroffene allenfalls den Status eines „gekorenen Beteiligten“41 erlangen. Sie bedürfen hierfür der Beiladung durch die Kartellbehörde, die ihrerseits einen darauf gerichteten Antrag des Dritten erfordert (§ 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB). In materieller Hinsicht als beiladungsfähig bezeichnet der Gesetzgeber allerdings nur solche Dritten, deren (wirtschaftliche) Interessen durch den Ausgang des Fusionskontrollverfahrens „erheblich berührt“ werden. Zutreffend stellt Schmidt-Preuß fest, dass der Gesetzgeber mit dem Kriterium der Interessenberührung „prozessrechtlich die Tür zum Gericht weiter geöffnet hat, als es das materielle Recht erzwingt“.42
So besteht nämlich grundsätzlich Einvernehmen darüber, dass die materiellen Anforderungen an die Drittbetroffenheit im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB (erhebliche Interessenberührung) unter denjenigen des § 42 Abs. 2 VwGO (subjektive Rechtsverletzung) liegen.43 Der Jubilar qualifiziert die kartellverwaltungsrechtliche Anfechtungsbeschwerde damit als „Interessentenklage“44 und zeigt sich wenig begeistert: „Eine solche Abweichung ist aber im deutschen Individualrechtsschutzsystem die eindeutige Ausnahme und damit in hohem Maße begründungsbedürftig.“45
Schmidt-Preuß möchte die lediglich von der Berührung auch bloß wirtschaftlicher Interessen46 abhängige Beiladung zum Kartellverwaltungsverfahren nur insoweit hinnehmen, als es um das Verwaltungsverfahren geht; es sollte dann aber „vor Gericht nur das Individualrecht [zählen]“.47 40
Bach, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 5. Auflage 2014, § 54 Rn. 40. Siehe vorhergehende Fußnote. 42 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 754. 43 Ausdrücklich der BGH, 7. 11. 2006, KVR 37/05 – pepcom, WuW/E DE-R 1857, 1859 (Rn. 19): „Durch die Beschwerdemöglichkeit, die § 63 Abs. 2 GWB auch demjenigen einräumt, der lediglich im Rahmen einer einfachen Beiladung am Verwaltungsverfahren beteiligt ist, gewährt das Gesetz bereits einen über das Maß des § 42 Abs. 2 VwGO hinausgehenden Rechtsschutz.“ Siehe aber noch unten V 3. 44 Zum Begriff (und in Abgrenzung zur noch weitergehenden Einräumung einer Popularklagebefugnis) Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozess, 1979, S. 7 ff. 45 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 754 (Hervorhebung im Original). 46 Die Voraussetzungen der Beiladung gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 VwVfG („rechtliche Interessen“) sind anspruchsvoller: Erforderlich ist die Berührung in „rechtlichen“ Interessen; zum vergleichbaren Institut der „einfachen Beiladung“ zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren gemäß § 65 Abs. 1 VwGO: Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 568, 572 und 754. 47 So Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 754, in Bezug auf das Immissionsschutzrecht, das er als Referenz anführt. 41
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2. Erfordernis einer materiellen Beschwer Schmidt-Preuß möchte den Zugang zu Gericht mit dem „Individualrecht“ des Beschwerdeführers verknüpfen. Damit verweist der Jubilar auf die Möglichkeit, die Anfechtungsbeschwerde anhand eines zusätzlichen, nämlich eines materiellen Kriteriums einzuschränken. Tatsächlich fordert die ganz allgemeine Meinung von dem Beschwerdeführer das Vorliegen einer materiellen Beschwer.48 Dabei handelt es sich um eine besondere Form des Rechtsschutzinteresses.49 Dieses Kriterium hat allerdings im Kartellverwaltungsrecht praktisch keine begrenzende Wirkung gegenüber der Beiladung.50 Eher trifft das Gegenteil zu. Grundlegend hat sich der BGH im HABET/Lekkerland-Beschluss zur Bedeutung dieses Erfordernisses geäußert.51 Darin weist er die u. a. von Laufkötter52 und Dormann53 vertretene Ansicht, wonach eine Beschwerdebefugnis nur im Fall einer subjektiven Rechtsverletzung anzunehmen sei, zurück. Vielmehr genüge es, wenn „der Beschwerdeführer durch die angefochtene Verfügung der Kartellbehörde in seinen wirtschaftlichen Interessen nachteilig berührt“ ist.54 Diese Interpretation trifft bei Schmidt-Preuß erwartungsgemäß nicht auf Begeisterung, sie erscheine „weitreichend“.55 Der Jubilar verweist auf die Materialien, denen „gerade bei einem ,jungen‘ Gesetz […] besondere Bedeutung zukommen kann“.56 So liest man in der Gesetzesbegründung: 48
BGH, 24. 6. 2003, KVR 14/01 – HABET/Lekkerland, WuW/E DE-R 1163, 1165 (m.w.N.): „Der als Beigeladener grundsätzlich beschwerdebefugte Dritte (§ 63 Abs. 2 i. V. m. § 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB) muss durch die Freigabeverfügung formell und materiell beschwert sein.“ Zustimmend: K. Schmidt, DB 2004, 527 (531). Vgl. auch schon OLG Düsseldorf, 19. 9. 2001, Kart 22/01 (V) – NetCologne II, WuW/E DE-R 759, 762 ff. Das weitere Erfordernis der formellen Beschwer definiert zutreffend Jaeger, FS Tilmann, 2003, S. 657 (662) als „Abweichung der angefochtenen Verfügung von demjenigen Ziel, das der Beigeladene im Verwaltungsverfahren durch den gestellten Antrag oder mangels einer Antragstellung durch seinen Vortrag erkennbar erstrebt hat.“ 49 BGH, 10. 4. 1984, KVR 8/83 – Coop-Supermagazin, WuW/E BGH 2077, 2078. 50 Eine Ausnahme bildet die Situation, dass einem zum Verfahren beigeladenen Verband mangels materieller Beschwer die Anfechtungsbefugnis abgesprochen wird, siehe z. B. BGH, 30. 3. 2011, KVZ 100/10 – Presse-Grossisten, WuW/E DE-R 3284 „[E]in im Zusammenschlusskontrollverfahren beigeladener Verband [wird] die Zulässigkeitsvoraussetzung der materiellen Beschwer regelmäßig nicht erfüllen“. 51 BGH, 24. 6. 2003, KVR 14/01 – HABET/Lekkerland, WuW/E DE-R 1163, 1165, mit Besprechung von K. Schmidt, DB 2004, 527. 52 Laufkötter, WuW 1999, 671 (674). 53 Dormann, Drittklagen im Recht der Zusammenschlußkontrolle, 2000, S. 87 ff., 102 ff.; dies., WuW 2000, 245 (253). 54 BGH, 24. 6. 2003, KVR 14/01 – HABET/Lekkerland, WuW/E DE-R 1163, 1165. Das OLG Düsseldorf (6. 9. 2006, VI-Kart 13/05 (V) – Deutsche Börse/London Stock Exchange, WuW/E DE-R 1835, 1837 f.) schränkte das Kriterium der materiellen Beschwer später dahingehend ein, dass es sich bei den geltend gemachten Interessen um solche mit Bezug zum Wettbewerb handeln muss. 55 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 552. 56 Ebenda, Anführungszeichen im Original.
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„Außerdem wird klargestellt, daß Dritte künftig gegen Freigabeentscheidungen Beschwerde einlegen können, wenn sie in eigenen Rechten betroffen sind.“57
Schmidt-Preuß hält das für einen Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber die Anfechtungsbefugnis der Drittbetroffenen einschränken wollte.58 Dagegen spricht allerdings, dass der Gesetzgeber von einer bloßen „Klarstellung“ spricht und auch schon vor Erlass der 6. GWB-Novelle das Kriterium der materiellen Beschwer nicht mit dem in § 42 Abs. 2 VwGO niedergelegten Kriterium der Geltendmachung einer subjektiven Rechtsverletzung gleichgesetzt worden war, vielmehr eine bloße Interessenbeeinträchtigung für ausreichend erachtet wurde.59 Ein alternativer Erklärungsansatz für die Formulierung in den Materialien liegt darin, dass die Verfasser des Gesetzesentwurfs auf die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Rechtsweggarantie hinweisen wollten.60 Sie erfordert selbstverständlich die Eröffnung gerichtlichen Rechtsschutzes gegenüber der Verletzung in subjektiven Rechten durch die öffentliche Gewalt61 und damit auch durch das Bundeskartellamt. Wie gezeigt gelten die Bedenken des Jubilars gegenüber den in § 63 Abs. 2 GWB aufgestellten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Anfechtungsbeschwerde allein der materiell-rechtlichen Problematik. Nach Ansicht von Schmidt-Preuß hat der Gesetzgeber die Tür zum Gericht zu weit aufgestoßen. Allerdings: Der Gesetzgeber hat mit der Kartellbehörde, die über die Beiladung zu entscheiden hat, einen Hüter an die (offene) Tür zum Gericht gestellt, den es zunächst zu passieren gilt. Dieses Hindernis ist nicht zu unterschätzen: Die Entscheidung über den Beiladungsantrag steht nach ganz herrschender Meinung im Ermessen der Kartellbehörde.62 Dieses Modell der „formalisierten Beschwerdebefugnis“63 birgt in sich das Risiko einer unterschiedli57
Bundesregierung, Entw. 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 13/9720, S. 44. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 755, wonach der Gesetzgeber die Anfechtbarkeit einer Freigabeentscheidung „explizit nur zulässt“, wenn die Dritten „in eigenen Rechten betroffen sind“. 59 KG, 8. 11. 1995, Kart 21/94 – Fernsehübertragungsrechte, WuW/E OLG 5565, 5571. Noch weitergehend: KG, 19. 1. 1983, Kart. 18/82 – Coop-Supermagazin, WuW/E OLG 2970, 2972 und BGH, 10. 4. 1984, KVR 8/83 – Coop-Supermagazin, WuW/E BGH 2077, 2079, die eine bloße Interessenbeeinträchtigung bzw. lediglich eine „nachteilige Wirkung“ des rechtskräftigen Entscheidungsinhalts fordern. 60 Dazu schon die Bundesregierung, Stellungnahme zu Änderungsvorschlägen des Bundesrates zum Entwurf des GWB 1955, BT-Drucks. 2/1158 (Anlage 3), 83; Bach, in: Immenga/ Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 5. Auflage 2014, § 54 Rn. 42; ausführliche verfassungsrechtliche Herleitung noch bei K. Schmidt, Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 2. Auflage 1992, § 51 Rn. 45; Kohlmeier, Beschwer als Beschwerdevoraussetzung, 1997, S. 71 ff. 61 Ausführlich Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 11 f. und Art. 20 Rn. 162 ff. 62 Ganz h. M., siehe nur Bechtold/Bosch, GWB, 8. Aufl. 2015, § 54 Rn. 12; SchmidtPreuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, 754. Bestätigt u. a. von BGH, 7. 11. 2006, KVR 37/05 – pepcom, WuW/E DE-R 1857, 1859 (Rn. 13). A. A. Soell, FS Wahl, 1973, S. 439 (460 ff.). Differenzierend Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 232 ff. 63 K. Schmidt, Gerichtsschutz in Kartellverwaltungssachen, 1980, S. 47: „Wer am Verwaltungsverfahren – als Betroffener oder Beigeladener – beteiligt war, ist aufgrund formali58
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chen Behandlung verschiedener Drittbetroffener, die alle gleichermaßen in ihren Interessen berührt sein können.64 3. Erweiterung der Drittbeschwerdeberechtigung durch den pepcom-Beschluss des BGH Der unter Gleichheitsgesichtspunkten problematischen Abhängigkeit der Beschwerdeberechtigung von einer Ermessensentscheidung der Kartellbehörde wandte sich der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs in einem obiter dictum zum pepcomBeschluss zu: „Dem Beiladungspetenten, der zwar die subjektiven Voraussetzungen der Beiladung erfüllt, dessen Antrag aber aus Gründen der Verfahrensökonomie abgelehnt worden ist, steht gegen die Hauptsachentscheidung – wenn er durch sie unmittelbar und individuell betroffen ist – ein Beschwerderecht zu.“65
Dritte, die nicht zum Verfahren beigeladen werden, sind danach unter den folgenden kumulativ zu verstehenden formellen und materiellen Voraussetzungen anfechtungsbefugt66: Der Dritte muss rechtzeitig67 einen Antrag auf Beiladung gestellt haben. In materieller Hinsicht muss er die subjektiven Voraussetzungen der Beiladung erfüllen, das heißt er muss geltend machen, dass ihn der Ausgang des Verfahrens erheblich in seinen Interessen berührt (§ 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB). Darüber hinaus muss der nicht beigeladene Dritte nach den Maßstäben des Art. 263 Abs. 3 AEUV
sierter Beschwerdebefugnis ohne weiteres befugt, die Verfügung der Kartellbehörde anzufechten (§ 62 Abs. 2 GWB).“ 64 BGH, 7. 11. 2006, KVR 37/05 – pepcom, WuW/E DE-R 1857, 1860 (= Tz. 21): „mit dem Gleichheitssatz nur schwer zu vereinbaren“. Kritisch schon Scholz, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971, S. 81 f.: „eklatanter“ Widerspruch zur Rechtslage im verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsrecht. Zustimmend Soell, FS Wahl, 1973, S. 439, 441, Fn. 16; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977, S. 470 ff.; Dormann, WuW 2000, 245 (250); Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 43. Von Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 754, wird dieses Risiko mit Hinweis auf das E.ON-Ruhrgas-Verfahren kleingeredet: Das OLG Düsseldorf (25. 7. 2002, Kart 25/02 – E.ON/Ruhrgas II, WuW/E DE-R 926) habe „den Anträgen auf (vom BMWi verweigerte) Beiladungen […] durchaus stattgegeben. In dem einzigen Fall, in dem ein Beiladungsantrag abgelehnt wurde, fehlte es selbst an dieser Voraussetzung [gemeint ist die fehlende Berührung von Greenpeace in wirtschaftlichen Interessen].“ 65 BGH, 7. 11. 2006, KVR 37/05 – pepcom, WuW/E DE-R 1857, 2. LS, vom Gericht formuliert. In WuW/E DE-R 1857 ist der Leitsatz versehentlich mit „[…] unmittelbar oder individuell betroffen […]“ wiedergegeben (Hervorhebung vom Verf.). 66 Vgl. BGH, 7. 11. 2006, KVR 37/05 – pepcom, WuW/E DE-R 1857, 1859 (= Rn. 18). Siehe schon Bien, ZWeR 2007, 533 (539). 67 Ausführlich OLG Düsseldorf, 25. 3. 2008, VI-Kart 16/07 (V) – Wirtschaftsprüferhaftpflicht, WuW/E DE-R 2283; BGH, 7. 4. 2009 – KVR 34/08 – Versicherergemeinschaft, WuW 2009, 1286; Bien, WuW 2009, 166.
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(= ex-Art. 230 Art. 4 EG) klagebefugt sein. Er muss mithin geltend machen, dass ihn die Entscheidung individuell und unmittelbar betrifft.68 Damit ist die Drittbeschwerdeberechtigung nur noch lose mit dem Erfordernis der Beiladung zum Kartellverfahren verknüpft.69 Begrenzend wirkt jetzt allein das Kriterium des rechtzeitig gestellten Beiladungsantrags. Mit anderen Worten: die Bedeutung des in § 63 Abs. 2 GWB genannten Tatbestandsmerkmals der Beteiligung am Verfahren vor der Kartellbehörde reduziert sich darauf, dass Dritte ihr Beschwerderecht verwirken, wenn sie – trotz Möglichkeit der Kenntnis von dem Verfahren70 – keinen Beiladungsantrag stellen. Dem Jubilar ist natürlich nicht entgangen, dass das in pepcom vom BGH für die Fusionskontrolle kreierte beteiligungsunabhängige Drittanfechtungsrecht (wie zu erwarten war71) mittlerweile auch Einzug in die Dogmatik des ihm so wohl vertrauten Energiewirtschaftsrechts gefunden hat72 und von dort aus Impulse für die Fortentwicklung auch des kartellverwaltungsrechtlichen Drittschutzes ausgegangen sind.73
68 Die Orientierung am europarechtlichen Standard für gerichtlichen Drittrechtsschutz rechtfertigt sich aus Sicht des BGH dadurch, dass die verfahrensrechtlichen Änderungen im deutschen Fusionskontrollrecht aus dem Jahre 1998 erklärtermaßen dem Ziel galten, Freigabeentscheidungen dem europäischen Vorbild entsprechend einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich zu machen (BGH, 7. 11. 2006, KVR 37/05 – pepcom, WuW/E DE-R 1857, 1860). Zum Risiko einer fortdauernden Diskriminierung zwischen beigeladenen und nicht beigeladenen Dritten Bien, ZWeR 2007, 533 (546). 69 Ost, in: Bornkamm/Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, GWB, 2015, § 54 Rn. 18. 70 BGH, 7. 4. 2009 – KVR 34/08 – Versicherergemeinschaft, WuW 2009, 1286 (Rn. 15). Zuvor schon BGH, 11. 11. 2008, EnVR 1/08 – citiworks, WuW 2009, 409 = RdE 2009, 185, 2. Leitsatz: „Beschwerdebefugt […] kann auch derjenige sein, der einen Beiladungsantrag nicht stellen konnte, weil die Behörde den Bescheid erlassen hat, ohne dass das Verfahren in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist.“ 71 Bien, ZNER 2007, 295, allerdings mit der Empfehlung, sich eher am Modell des Drittrechtsschutzes im Telekommunikationsrechts (§ 42 Abs. 2 VwGO) zu orientieren. Vergleichend und monographisch Christiansen, Optimierung des Rechtsschutzes im Telekommunikations- und Energierecht, 2013, insb. S. 142 ff. 72 BGH, 11. 11. 2008, EnVR 1/08 – citiworks, WuW 2009, 409 = RdE 2009, 185. Dazu Bien, RdE 2009, 314; Hilzinger, in Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2016, Kap. 55 Rn. 13 (S. 632) und besonders Kap. 56 Rn. 39 (S. 642); Ludwigs, in Gärditz (Hrsg.), VwGO mit Nebengesetzen, 2. Auflage 2018, Anh. I Regulierungsrecht, Rn. 60. 73 Siehe das Beispiel oben in Fn. 70.
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IV. Rückbesinnung des GWB-Gesetzgebers auf das Erfordernis einer Verletzung in subjektiv-öffentlichen Drittrechten 1. Einschränkung des einstweiligen Drittrechtsschutzes in der 7. GWB-Novelle Die Praxis hat nicht gezögert, anstelle des vom Gesetzgeber der 6. GWB-Novelle 1998 ausgestreckten kleinen Fingers nach der ganzen Hand zu greifen. So beantragte der anwaltliche Vertreter Albrecht Bach des soweit ersichtlich ersten Drittbeschwerdeführers nach Einführung der anfechtbaren, weil förmlich zu erlassenden Freigabeverfügung gemäß § 40 Abs. 2 S. 1 GWB 1998 beim OLG Düsseldorf sogleich Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die kartellbehördliche Freigabe der Übernahme von NetCologne durch das Unternehmen Callahan Nordrhein-Westfalen.74 Das OLG Düsseldorf gab dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung statt mit der Folge des vorläufigen Stopps des Zusammenschlussvollzugs.75 Die einstweiligen Anordnungen des OLG Düsseldorf im Ministererlaubnisverfahren E.ON/Ruhrgas76 und die spätere Rücknahme der Rechtsmittel durch die dritten Beschwerdeführer unter anderem gegen finanzielle Zugeständnisse der Fusionsparteien waren der Auslöser für den politischen Wunsch nach einer „Stärkung der Ministererlaubnis“.77 Die nachfolgenden Diskussionen um eine Einschränkung des Drittrechtsschutzes im Rahmen der 7. GWB-Novelle mündeten schließlich in eine Verschärfung der Antragsvoraussetzungen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Dritter gegen Freigabeverfügungen des Bundeskartellamts. Gemäß § 65 Abs. 3 Satz 4 GWB 2005 muss der dritte Antragsteller nunmehr geltend machen, „durch die Verfügung in seinen Rechten verletzt zu sein“. Es kann kaum verwundern, dass Schmidt-Preuß im Nachwort zur 2. Auflage seiner Habilitationsschrift dieses Bekenntnis des Gesetzgebers zum Erfordernis eines subjektiven öffentlichen Rechts für den Eilrechtsschutz Dritter begrüßt und die gefundene „multipolare Balance“ lobt. Der Jubilar verweist auf das Risiko verfahrensbedingter Verzögerungen in der „sensiblen“ Anfangsphase eines Zusammenschlusses.78 Es gelte zu verhindern, dass ein lediglich in seinen Interessen berührter Dritter
74 Das KG, 24. 8. 1999, Kart 36/99 – tobaccoland I, WuW/E DE-R 386, hatte die Möglichkeit einstweiligen Drittrechtsschutzes in der Fusionskontrolle auf der Grundlage des alten Rechts noch ausgeschlossen. 75 OLG Düsseldorf, 11. 4. 2001, Kart 22/01 (V) – NetCologne I, WuW/E DE-R 665. 76 OLG Düsseldorf, 11. 7. 2002, Kart 25/02 (V) – E.ON/Ruhrgas I, WuW/E DE-R 885 ff.; aufrechterhalten durch OLG Düsseldorf, 18. 9. 2002, Kart 25/02 (V) – E.ON/Ruhrgas III, WuW/E DE-R 943 ff. 77 Vgl. FDP-Fraktion, Kl. Anfrage Ministererlaubnis, BT-Drucks. 15/381 sowie Bundesregierung, Antw. Ministererlaubnis, BT-Drucks. 15/448. 78 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 755 (Anführungszeichen im Original).
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ein Fusionsvorhaben zu fallen bringt, das sich später als wettbewerblich unproblematisch erweist.79 2. Einschränkung des Drittrechtsschutzes gegen die Ministererlaubnis in der 9. GWB-Novelle Die bereits im Gesetzgebungsverfahren für die 7. GWB-Novelle erwogene Verschärfung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen für den einstweiligen Drittrechtsschutz im Verfahren der Ministererlaubnis80 wurde zunächst fallengelassen mit der Begründung, die Ministererlaubnis unterliege einer „besonders kritischen Diskussion in der Öffentlichkeit“ und bedürfe „einer hohen Transparenz“. Es handle sich ohnehin um eine geringe Zahl von Ausnahmefällen, sodass eine breite Blockadewirkung nicht zu erwarten sei.81 Als Reaktion auf den Verlauf des Ministererlaubnisverfahrens EDEKA/Kaiser’s Tengelmann82 und die erneute Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch den 1. Kartellsenat des OLG Düsseldorf83 hat der Gesetzgeber der 9. GWB-Novelle 2017 schließlich der Vorschrift § 63 Abs. 2 GWB folgenden Satz angefügt: „Gegen eine Verfügung, durch die eine Erlaubnis nach § 42 erteilt wird, steht die Beschwerde einem Dritten nur zu, wenn er geltend macht, durch die Verfügung in seinen Rechten verletzt zu sein.“
Anders als noch im Fall der 7. GWB-Novelle begnügt sich der Gesetzgeber diesmal nicht mit einer Beschränkung des einstweiligen Rechtsschutzes. Er setzt vielmehr schon bei der Beschwerdebefugnis als solcher an84 und schränkt auf diese Weise zugleich auch den einstweiligen Rechtsschutz gegen eine Ministererlaubnis ein.85 Wiederum kann sich der Gesetzgeber des Beifalls von Schmidt-Preuß sicher 79
Ebenda. Siehe den Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12. 8. 2004, BT-Drucks. 15/3460, S. 40 f. 81 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit vom 9. 3. 2005, BT-Drucks. 15/5049, S. 50. 82 Dazu Bechtold, NZKart 2016, 553; Säcker, BB 2016, 1859; Podszun, NJW 2016, 617; Bien, BB 2016, Heft 32, Erste Seite; Huerkamp/Maack, NZKart 2017, 294; Podszun/Kreifels, in Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, 2017, Kap. 14 Rn. 10 ff. (S. 334 ff.). 83 OLG Düsseldorf, 12. 7. 2016, VI – Kart 3/16 (V) – Ministererlaubnis Edeka/Tengelmann, NZKart 2016, 380. 84 Podszun/Kreifels, in Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, 2017, Kap. 14 Rn. 38 (S. 344). 85 Trotz des mindestens offenen Wortlauts mit Hinweis auf das Telos der Verfahrensbeschleunigung (BT-Drucks. 18/11446, 32) und den Vergleich mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht (Geltung der Anforderungen in § 42 Abs. 2 VwGO für den einstweiligen Rechtsschutz) überzeugend Bremer/Scheffczyk, NZKart 2017, 464 (468 f.). Anders offenbar v. Merveldt/Berg, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Deutsches und europäisches Kartellrecht – Kommentar, 3. Auflage 2018, § 63 GWB Rn. 26, die zur Auslegung von § 65 Abs. 3 GWB auf die Entscheidung des OLG Düsseldorf im Fall der Ministererlaubnis Edeka/Tengelmann (12. 7. 2016 80
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sein. Der Jubilar hat gleich nach Erlass der 7. GWB-Novelle zu bedenken gegeben, dass der in § 65 Abs. 3 Satz 4 GWB 2005 zum Ausdruck kommende „richtige Grundgedanke multipolarer Balance […] ohne Abstriche auch im Hauptsacheverfahren“ gilt. Hinter der erst spät in die Diskussion eingeführten Änderung steht ganz offensichtlich der politische Wunsch, den Drittrechtsschutz gegen Ministererlaubnisse zu eliminieren.86 So weist Bechtold, auf dessen Formulierungsvorschlag87 die Einfügung zurückgehen dürfte,88 zutreffend darauf hin, dass es noch keinem von einer Freigabeentscheidung des Bundeskartellamts oder einer Ministererlaubnis betroffenen Dritten gelungen sei, eine Verletzung eigener Rechte darzutun.89 Die Konsequenz der von ihm vorgeschlagenen und vom Gesetzgeber verabschiedeten Änderung benennt Bechtold freimütig: „[T]atsächlich erteilte Ministererlaubnisse [werden] nicht mehr gerichtlich überprüft“.90
Die ersten rechtspolitischen Stellungnahmen91 zur Änderung fallen zurückhaltend bis kritisch aus,92 und dies zu Recht, weil das schon im Rahmen der 7. GWB-Novelle vom Gesetzgeber betonte Bedürfnis nach „kritischer Diskussion“ in der Öffentlichkeit und „hoher Transparenz“ weiterhin Geltung beansprucht. Als problematisch erscheint allerdings das Unwesen des „Abkaufens von Drittbeschwerden“ 93 durch die Fusionsparteien.94 Das Risiko des erpresserischen Einsatzes von Drittbeschwerden ließe sich dadurch entschärfen, dass das OLG Düsseldorf dazu
– VI – Kart 3/16 (V), NZKart 2016, 380) verweisen, die aber noch auf Grundlage des früheren Rechts ergangen ist. 86 Vgl. Uechtritz, FS Bechtold, 2006, S. 575 (583). 87 Bechtold, NZKart 2016, 553. 88 Das legt auch der Bericht des damals zuständigen Referenten im Bundeswirtschaftsministers Jungbluth, NZKart 2017, 257 (258) nahe, siehe schon Huerkamp/Maack, NZKart 2017, 294 (299). 89 Bechtold, NZKart 2016, 553. 90 Ebenda. 91 Ohne Stellungnahme Grave, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Deutsches und europäisches Kartellrecht – Kommentar, 3. Auflage 2018, § 63 GWB Rn. 22. 92 Podszun/Kreifels, in Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, 2017, Kap. 14 Rn. 59 („Einschränkung des Rechtsschutzes ist hoher Preis“); Lembach, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, 13. Auflage 2018, § 63 Rn. 33 „steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem Bekenntnis zu dem Charakter des Ministererlaubnisverfahrens als Verwaltungsverfahren und der Betonung der ihm zukommenden ,Sonderstellung‘ mit besonderer ,öffentlicher Aufmerksamkeit‘“ (Anführungszeichen im Original); Monopolkommission, Hauptgutachten XXII, 2018, Rn. 914 („kritikwürdig“), Rn. 916 („falsches Signal“). Vgl. auch (vor Verabschiedung von § 63 Abs. 2 S. 2 GWB) v. Wangenheim/Dose, WuW 2017, 182 (187), wonach die Lösung genau umgekehrt in einer „Stärkung der gerichtlichen Kontrolle“ liege. 93 Böge, BB 2003, Heft 46, Erste Seite; Kallfaß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, 13. Auflage 2018, § 42 Rn. 21. 94 Bien, NZKart 2016, 445 (446); Kühling/Wambach, WuW 2017, 1.
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überginge, in bestimmten Fällen trotz Rücknahme der Drittbeschwerde das Überprüfungsverfahren fortzusetzen.95 Auch die praktischen Konsequenzen der Gesetzesänderung werden uneinheitlich beurteilt. Während teilweise davon ausgegangen wird, der Gesetzgeber habe den Drittrechtsschutz damit „erheblich eingeschränkt“96 oder sogar „de facto abgeschafft“97, geben sich andere „abwartend“ und halten es immerhin für möglich, dass eine subjektive Drittrechtsverletzung „in seltenen Ausnahmefällen“ bejaht wird98 oder sich gar eine „alternative Ansicht zum Drittschutz“ durchsetzt.99 Eine dritte Gruppe von Autoren hält die Interpretation von § 36 Abs. 1 GWB als drittschützend sogar ausdrücklich für geboten.100 V. Bewertung und Ausblick Schmidt-Preuß‘ Konzeption des fusionskontrollrechtlichen Drittschutzes setzt sich aus zwei Elementen zusammen. In der 1. Auflage seiner Monographie konzentriert er sich auf die materiell-rechtliche Frage nach der Existenz subjektiver öffentlicher Drittrechte in der Fusionskontrolle und verneint sie weitgehend.101 Eine Ausnahme möchte er nur für den „krassen Ausnahmefall einer Vernichtungsfusion“ machen.102 In der 2. Auflage wendet sich der Jubilar darüber hinaus der Frage nach der verfahrensrechtlichen Ausgestaltung des fusionskontrollrechtlichen Drittrechtsschutzes zu. Die Kritik des Autors der Konfliktschlichtungsformel richtet sich zunächst gegen die Entscheidung des Gesetzgebers, im Kartellverwaltungsrecht das Institut der Interessentenklage an die Stelle des klassischer deutscher Verwaltungsrechtstradition entsprechenden Modells des Individualrechtsschutzes103 zu setzen.104 Den „Rückzug auf eine formelle Begründung der Beschwerdebefugnis“ hält Schmidt-Preuß für verfehlt und fordert eine „subjektiv-rechtliche – materielle – Verankerung des Drittrechtsschutzes“.105 Einen möglichen Ansatz dafür erblickt der Ju95 Näher Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 288 f. Ähnlich der Vorschlag v. Wangenheim/Dose, WuW 2017, 182 (188): Vetorecht der Monopolkommission gegen Rücknahme der Drittbeschwerden. 96 Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, S. 19. 97 Podszun, WuW 2017, 266 (269); Lembach, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, 13. Auflage 2018, § 63 Rn. 32 f. 98 Kallfaß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, 13. Auflage 2018, § 42, Rn. 21. 99 Podszun/Kreifels, in Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, 2017, Kap. 14 Rn. 55. Ähnlich Huerkamp/Maack, NZKart 2017, 294 (299: „offen“). 100 Bremer/Scheffczyk, NZKart 2017, 464 (468 f.). 101 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 355 f. 102 Ebenda, noch einmal bekräftigt in Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 753 f. 103 Ausführlich zum Unterschied Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489. 104 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 754. 105 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 754.
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bilar – möglicherweise de lege lata – in einer Neuinterpretation des Kriteriums der „materiellen Beschwer“ als Geltendmachung einer „Betroffenheit in eigenen Rechten“.106 Entsprechend begrüßt er auch die Hinwendung des Gesetzgebers der 7. GWB-Novelle zu dieser Zulässigkeitsvoraussetzung in § 65 Abs. 3 S. 4 GWB. Hinter der kritischen Einschätzung der Ausgestaltung des fusionskontrollrechtlichen Drittschutzes stehen bei Schmidt-Preuß offenbar Kohärenzüberlegungen im Hinblick auf das Gesamtsystem der Berücksichtigung „kollidierender Privatinteressen im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis“. Referenzmodell ist für ihn das in § 42 Abs. 2 VwGO zum Ausdruck kommende „deutsche Individualrechtsschutzsystem“.107 1. Angleichung des fusionskontrollrechtlichen Drittschutzes an das Modell des Individualrechtsschutzes des allgemeinen deutschen Verwaltungsrechts Das Kohärenzanliegen des Jubilars erscheint aber auch auf der Mikroebene des fusionskontrollrechtlichen Drittschutzes berechtigt. Hier liegt Vieles im Argen.108 Auch nach dem pepcom-Beschluss des BGH ist der fusionskontrollrechtliche Drittschutz insgesamt weit davon entfernt, ein systematisch stimmiges Gesamtgefüge zu bilden. Die von Schmidt-Preuß befürwortete Angleichung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Drittbeschwerde gegen eine Fusionsfreigabeverfügung an den Standard des allgemeinen Verwaltungsrechts109 könnte die an anderer Stelle110 aufgezeigten dogmatischen Ungereimtheiten im System des fusionskontrollrechtlichen Drittschutzes auf einen Schlag auflösen. Dogmatisch ließe sich dieses Anliegen in der Weise (und hoffentlich im Sinne des Jubilars) umsetzen, dass man die materielle Voraussetzung der Beiladung zum Kartellverwaltungs- und Fusionskontrollverfahren, das Kriterium der „nachteiligen erheblichen Interessenberührung“ (§ 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB), als Ausprägung des sonst üblichen Erfordernisses der Verletzung in subjektiven öffentlichen Rechten auffasst.111 Die Entscheidung des historischen Gesetzgebers, in § 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB auf das Tatbestandsmerkmal der Berührung rechtlicher Interessen112 bzw.
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Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 755. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2005, S. 754. 108 Ausf. Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 40 ff.; zusammenfassend ders., ZWeR 2007, 533 (536 und 561). 109 Klement, Wettbewerbsfreiheit, 2015, S. 518, hält für solche „nationale“ Lösung (Anführungszeichen im Original) wohl das Eingreifen des Gesetzgebers für erforderlich. 110 Ausf. Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, 40 ff. 111 Näher zum Folgenden Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 119 ff. 112 Siehe § 42 Abs. 2 Nr. 2 GWB-Entwurf 1952 (BT-Drucks. 2/1158), näher Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 131. 107
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rechtlich geschützter Interessen113 zu verzichten, ist so zu erklären, dass der Gesetzgeber das Beiladungsrecht „von dem noch unentschiedenen Streit um den Schutznormcharakter der einzelnen kartellrechtlichen Vorschriften unabhängig machen [wollte].“114 Damit würden zunächst die bislang erforderlichen und sachlich nicht gerechtfertigten Differenzierung zwischen den beiden Tatbestandsmerkmalen und zugleich die kritisierten Ungereimtheiten im Gesamtgefüge des fusionskontrollrechtlichen Drittschutzes entfallen. Hier sei nur eine115 herausgegriffen: Nicht nur die Verpflichtungsbeschwerde (§ 63 Abs. 3 S. 1 GWB), sondern auch die Anfechtungsbeschwerde stünde nur noch, aber zugleich auch all denjenigen Dritten offen, die eine Verletzung in subjektiven Rechten im Sinne einer nachteiligen erheblichen Interessenberührung geltend machen können. Sie hätten damit insbesondere die Wahl zwischen der Anfechtung der Freigabeverfügung im Ganzen einerseits und der Erhebung einer die Fusionsparteien weniger belastenden bloßen Verpflichtungsbeschwerde auf Erlass (zusätzlicher) drittschützender Auflagen andererseits.116 Das in § 63 Abs. 2 GWB statuierte formelle Zulässigkeitskriterium der Beteiligung am kartellbehördlichen Verfahren stellte ebenfalls kein Hindernis mehr dar. So ist anerkannt, dass Dritte, die durch den Ausgang des Kartellverwaltungs- bzw. Fusionskontrollverfahrens in subjektiven öffentlichen Rechten betroffen sind, einen Anspruch auf Beiladung zum Verfahren vor der Kartellbehörde haben (sog. notwendige Beiladung).117 Sie sind daher obligatorisch zum Verwaltungsverfahren beizuladen und erfüllen auf diese Weise das in § 63 Abs. 2 GWB niedergelegte formelle Zulässigkeitskriterium der Beteiligung. Die extensive118 Auslegung des Tatbestandsmerkmals durch den BGH im Fall pepcom wäre entbehrlich. Um eine übermäßige Belastung des kartellbehördlichen Verfahrens durch eine Vielzahl von Beteiligten zu vermei113
Siehe § 13 Abs. 2 VwVfG. Soell, FS Wahl, 1973, S. 439 (456). Siehe auch schon BKartA, 3. 7. 1959 – Gewerkschaft, WuW/E BKartA 70, 71: „Vermieden wurde so der Streit darüber, wann eine wirtschaftliche Betroffenheit zu einer rechtlichen wird.“ Außerdem Hertin, Die Beteiligten an Kartellverfahren und ihre Rechtsstellung, 1969, S. 132; Kohlmeier, Beschwer als Beschwerdevoraussetzung, 1997, S. 77 (beide unter Bezugnahme auf die Ausführungen von Böhm im Bundestagsausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht, Wortprotokoll Nr. II/215. Sitzung, S. 22 ff.). 115 Siehe darüber hinaus Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 123 f. und zusammenfassend ders., ZWeR 2007, 533 (561) (Angleichung der Zulässigkeitsvoraussetzung von Verpflichtungs- und Rechtsbeschwerde sowie von Anfechtungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren und des Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes). 116 Ausführlich zur Unhaltbarkeit der bisher unterschiedlichen materiell-rechtlichen Anforderungen Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 45 ff. 117 Siehe nur Bach, in Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 5. Auflage 2014, § 54 Rn. 42 (m. w. N.); KG, 19. 12. 1979, Kart 33/79 – Basalt-Union, WuW/E OLG 2193; OLG Düsseldorf, 16. 6. 2004, VI-Kart 2/04 (V) – VDZ-Wettbewerbsregeln, WuW/E DE-R 1545; vgl. auch Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 568 (für das allgemeine verwaltungsgerichtliche Verfahren, § 65 Abs. 2 VwGO) und ders., 2005, S. 754 (speziell zum fusionskontrollrechtlichen Verfahren vor dem Bundeskartellamt: „Reduzierung des Beiladungsermessens auf Null“). 118 Klement, Wettbewerbsfreiheit, 2015, S. 518 („gewagt“). 114
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den, könnten die Kartellbehörden einen Teil der erheblich in ihren Interessen betroffenen Dritten erst später, nämlich nach Erlass der verfahrensabschließenden Verfügung, formell beiladen.119 Dieses Vorgehen steht in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung und der ständigen Praxis der Kartellbehörden. Erheblich in ihren Interessen betroffene Dritte können auch noch nach Erlass der noch nicht bestandskräftigen kartellbehördlichen Verfügung beigeladen werden.120 2. Einschränkung des fusionskontrollrechtlichen Drittschutzes durch Einschränkung des gerichtlichen Prüfungsumfangs Es verbliebe allerdings die Frage, wie dem schon im Wortlaut der §§ 63 Abs. 2 S. 2 GWB 2017 und 65 Abs. 3 Satz 4 GWB 2005 („nur“) zum Ausdruck kommende gesetzgeberischen Anliegen einer „Beschränkung“121 des Drittrechtsschutzes im Verfahren der Ministererlaubnis im Verhältnis zum normalen Standard des Rechtsschutzes gegen Freigaben des Bundeskartellamts bzw. einer „Einschränkung“122 des einstweiligen Drittrechtsschutzes im Verhältnis zur Anfechtungsbeschwerde von bundeskartellamtlichen Freigabeverfügungen in der Hauptsache zu erreichen ist. Insofern kommt weiterhin123 eine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf der Ebene der Begründetheit in Betracht. Danach wäre dem Drittschutz im Fall der beschwerdegerichtlichen Überprüfung einer Ministererlaubnis bzw. des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Drittbeschwerde gegen eine Freigabeverfügung des Amtes – anders als bislang – bei lediglich objektiv-rechtlichen Fehlern bei der Rechtsanwendung durch den Minister bzw. bei ernsthaften Zweifeln an der lediglich objektiven Rechtmäßigkeit der Verfügung des Bundeskartellamts kein Erfolg mehr beschieden. Die Rechtsverstöße müssten vielmehr eine Verletzung subjektiver öffentlicher Rechte gerade des dritten Beschwerdeführers zur Folge haben (können). Auch insoweit käme es also zu der von Schmidt-Preuß (in Bezug auf die Voraussetzungen des Zugangs zu Gericht) geforderten Angleichung an den Standard des allgemeinen Verwaltungsrechts. Bekanntlich gestattet die Vorschrift § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO dem Gericht die Aufhebung des Verwaltungsakts nur, „soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist“. Die parallele Vorschrift in § 71 Abs. 2 Satz 1 GWB normiert hingegen einen weiten Prüfungsmaßstab. Danach obliegt dem Beschwerdegericht eine umfassende Untersuchung der Freigabeverfügung im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit dem ob119 Ausführlich zum Bedürfnis nach Verfahrenskonzentration Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 230 f. 120 BGH, 10. 4. 1984 (Coop-Supermagazin), WuW/E BGH 2077, 2078; Bach, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 2014, § 54 Rn. 48. 121 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BTDrucks. 18/11446, S. 32. 122 Begr. Reg.-Entw. 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 41. 123 Siehe schon (in Bezug auf § 65 Abs. 3 S. 4 GWB 2005) Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 249.
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jektiven formellen und materiellen Recht.124 Dieser weite Prüfungsmaßstab würde nach dem hier vertretenen Ansatz fortan nur noch im Hauptsacheverfahren gegen Entscheidungen des Bundeskartellamts zur Anwendung kommen. 3. Der drittschützende Gehalt des fusionskontrollrechtlichen Untersagungskriteriums Schwieriger dürfte es sein, auch in der inhaltlichen Frage nach dem drittschützenden Gehalt von § 36 Abs. 1 GWB, dem materiellen Untersagungskritierum in der Fusionskontrolle, Einigkeit zu erzielen. Beizupflichten ist dem Jubilar darin, dass jedenfalls von Verfassungs wegen subjektiv-rechtlicher Drittschutz nur gegen ruinösen und letztlich existenzvernichtenden Wettbewerb geboten ist.125 Sachverhaltsgestaltungen, die diesen Anforderungen entsprechen, sucht man – auch in ausländischen Jurisdiktionen126 – allerdings vergeblich. Der bloße Vollzug eines Zusammenschlussvorhabens kann eine Marktverdrängung und damit Existenzvernichtung von Dritten nicht herbeiführen. Er hat unmittelbar nur eine Veränderung der Marktstruktur zur Folge. Denkbar ist allenfalls der Einsatz missbräuchlicher Verhaltensweisen (z. B. Kampfpreisstrategien) im Anschluss an die Fusion.127 Die Annahme, der Gesetzgeber der 7. und 9. GWB-Novellen habe den (einstweiligen) Drittrechtsschutz in der Fusionskontrolle faktisch abschaffen wollen, erscheint sehr weitge124
Ausführlich Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 248 ff. Anders, wenngleich ohne Auseinandersetzung mit dem Wortlaut von § 71 Abs. 2 S. 1 GWB, aber BGH, 24. 6. 2003, KVR 14/01 – HABET/Lekkerland, WuW/E DE-R 1163, 1165 sowie (darauf Bezug nehmend) Kühnen, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff u. a. (Hrsg.), GWB, 2016, 5. Auflage, § 63 Rn. 37 und Grave, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Deutsches und europäisches Kartellrecht – Kommentar, 3. Auflage 2018, § 63 GWB Rn. 33. Ohne klare Stellungnahme Bechtold/Bosch, GWB, 8. Auflage 2015, § 17 Rn. 6 („Erfolg [der Anfechtungsbeschwerde], weil die Verfügung der Kartellbehörde unzulässig oder unbegründet war“); K. Schmidt, Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), GWB, 2014, § 71 Rn. 13 („Verletzung formellen oder materiellen Rechts kann die Verfügung rechtswidrig machen“, Hervorhebung im Original); genauso Stockmann, Bornkamm/Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht, GWB, 2015, § 71 Rn. 10; Birmannns, in: Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 88. Lfg., 3/2017, § 71 GWB 2005 Rn. 10; Lembach, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Kartellrecht, 13. Auflage 2018, § 71 Rn. 30. 125 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 356. A.A. Säcker, BB 2016, 1859 ff. Noch enger als der Jubilar hingegen BVerwG, 28. 1. 1960 – I A 17/ 57, BVerwGE 10, 122, 123, wonach selbst eine drohende Existenzgefährdung lediglich „die wirtschaftlichen, nicht aber die im Klageweg allein verfolgbaren rechtlichen Interessen der Klägerinnen“, die sich gegen die Erteilung einer Genehmigung zugunsten einer (dann konkurrierenden) Rechtsschutzversicherung gewandt hatten, berühren. Weitere Rechtsprechungsnachweise bei Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 59 Fn. 47. 126 Zur US-amerikanischen Rechtslage Körber, Die Konkurrentenklage im Fusionskontrollrecht der USA, Deutschlands und der EU, 1996, S. 108 ff.; Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 83 ff. 127 Zum Verhältnis von Missbrauchsaufsicht und Fusionskontrolle Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 61 ff.
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hend, zumal die Verfasser der Entwurfsbegründungen jeweils und ausdrücklich nur von einer „Einschränkung“ des Rechtsschutzes sprechen.128 An anderer Stelle129 wurde eine Interpretation des Kriteriums der Verletzung in subjektiven öffentlichen Rechten (im Sinne einer „erheblichen Interessenberührung“, § 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB130) vorgeschlagen, die subjektiv-öffentlichen Rechtsschutz auf solche Dritten beschränkt, deren Betroffenheit sich sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht als erheblich erweist. Danach sind folgende Gesichtspunkte zu prüfen: (1) Der Beschwerdeführer muss zu mindestens einem der Zusammenschlussparteien in einem marktrelevanten Verhältnis stehen. (2) Dieses Verhältnis muss zudem durch die Genehmigung des Zusammenschlussvorhabens in marktrelevanter Weise betroffen sein. (3) Dabei muss es sich um eine Beeinträchtigung in subjektiven öffentlichen und nicht bloß privaten Rechtspositionen handeln. (4) Unter quantitativen Gesichtspunkten fehlt es an der erforderlichen Erheblichkeit der Interessenberührung u. a. bei solchen Dritten, die auch nach dem Zusammenschluss insbesondere von Wettbewerbern eine im Vergleich immer noch stärkere Marktstellung auf dem relevanten Markt innehaben. Dass eine konsequente Anwendung der genannten Kriterien zu einer wirksamen Begrenzung des Kreises des aufgrund subjektiver öffentlicher Rechte geschützter Dritter führt, konnte anhand der Untersuchung von in der Vergangenheit durchgeführten Fusionskontrollverfahren gezeigt werden.131 Nachdem das Pendel im Gefolge der 6. GWB-Novelle 1998 für kurze Zeit stark in Richtung eines ausgeprägten fusionskontrollrechtlichen Drittschutzes ausgeschlagen hatte, befindet es sich aufgrund der Interventionen des Gesetzgebers der 7. und 9. GWB-Novelle wieder deutlich auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung. Es bleibt zu hoffen, dass es dem OLG Düsseldorf gelingen wird, die von Schmidt-Preuß gewünschte „multipolare Balance“ im Verhältnis von öffentlichem Interesse am Erhalt funktionierenden Wettbewerbs, Vollzugsinteresse der Fusionsparteien und Schutzinteressen etwaiger Drittbetroffener zu finden.
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Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 106 (zur 7. GWB-Novelle). In Bezug auf die 9. GWB-Novelle betonen das auch Podszun/Kreifels, in Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, 2017, Kap. 14 Rn. 55 (S. 348), wonach der „Gesetzgeber lediglich die Beschränkung des Kreises der Beschwerdebefugten, nicht aber die faktische Abschaffung des Drittschutzes im Ministererlaubnisverfahren bezweckt“ habe. 129 Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 200 ff. 130 Siehe oben 1. 131 Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz, 2007, S. 220 ff. (NetCologne, Trienekens, E.ON/Ruhrgas).
Mitnutzungsanspruch und Streitbeilegung nach § 77d und § 77n TKG* Von Wolfgang Durner, Bonn Ausgehend von seiner wegweisenden Habilitationsschrift1 hat Matthias SchmidtPreuß immer wieder die exekutivische Schlichtung der Interessenkonflikte Privater zum Gegenstand seiner Forschung gemacht. Mit diesem Lebensthema wurde der Jubilar zu einem der Wegbereiter des modernen deutschen Regulierungsrechts, das im Kern die „normative Antwort auf das natürliche Monopol der Netze“ darstellte,2 welches wiederum vielfach vor allem durch die europäisch induzierte Privatisierung vormaliger staatlicher Netzverwaltungen in die Hand privater Marktteilnehmer gelangt war. Auch das neue Streitbeilegungsverfahren nach § 77n TKG ist einerseits zunächst bereits seinem Namen nach ein Instrument der Konfliktschlichtung, soll jedoch andererseits mit dem Ausbau des digitalen Hochgeschwindigkeitsnetzes auch ein aktuelles politisch vorgegebenes Gemeinwohlziel befördern.3 Durch die Einbeziehung staatlicher Hoheitsträger in diese Form der regulierenden Konfliktschlichtung steht das neue Verfahren jedoch wohl auch für eine weitere Entwicklungsstufe des Regulierungsrechts: Im Zuge der Herausbildung des Rechts der Regulierung verschwammen schon bislang die Grenzen von öffentlichem und privatem Recht vor allem dort, wo der Staat privatrechtliche Pflichten hoheitlich durchsetzt.4 Ein ganz neuer Aspekt des Verfahrens besteht nunmehr darin, dass hier nicht nur Private, sondern vor allem staatliche Hoheitsträger zunächst privatrechtlichen Mitnutzungsansprüchen unterworfen werden, die anschließend wiederum Gegenstand hoheitlicher Streitschlichtung werden können. Eine Hauptgruppe der dadurch erfassten Hoheitsträger sind Straßenbehörden und Straßenbaulastträger. Insoweit bildet der vorliegende Beitrag auch ein Kapitel zum Prozess der zunehmenden Verflechtung von Telekommunika* Der Verf. dankt seinem Speyrer Kollegen Prof. Dr. Ulrich Stelkens herzlich für den Anstoß für die Bearbeitung des Themas sowie für zahlreiche weichenstellende Hinweise. 1 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht. Das subjektive öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis, 1992, 2. Aufl. 2005. 2 So Schmidt-Preuß, Das Europäische Regulierungsrecht der Netzindustrien als inter – und intradisziplinäre Disziplin, in: Bien/Ludwigs (Hrsg.), Das europäische Kartell- und Regulierungsrecht der Netzindustrien, 2015, S. 11. 3 Ruffert, Begriff, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 7 Rn. 24 f. sieht in diesem Dualismus aus wettbewerblicher Konfliktschlichtung und mittelbarer Gemeinwohlsicherung die zentralen Ziele und Begriffsmerkmale der Regulierung überhaupt. 4 Vgl. dazu nur Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009, S. 592 f.
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tionsrecht und Straßenrecht und damit eine Reminiszenz an die langjährige gemeinsame Mitgliedschaft des Jubilars und des Verfassers im „Arbeitskreis Straßenrecht“.5 I. Die neuen Vorgaben des DigiNetzG zur Mitnutzung öffentlicher Versorgungsnetze Die „rasante Entwicklung“6 des Regulierungsrechts im Allgemeinen und speziell der im Zuge der Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte vorangetriebene Ausbau der digitalen Hochgeschwindigkeitsnetze haben in den letzten Jahren zu einer vielfach kaum mehr überschaubaren Gesetzgebungstätigkeit geführt. Am 12. Juni 2014 trat die Richtlinie 2014/61/EU über Maßnahmen zur Reduzierung der Kosten des Ausbaus von Hochgeschwindigkeitsnetzen für die elektronische Kommunikation, die sog. Kostensenkungsrichtlinie7 in Kraft, die eine Reihe von Maßnahmen zur Senkung der Kosten für den Auf- und Ausbau digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze vorsieht. Das Kernelement der Richtlinie, die nach dem hochambitionierten Zeitplan eigentlich bereits bis Anfang 2016 normativ umzusetzen war, bildet die in ihrem Art. 3 vorgegebene Mitnutzung bereits bestehender sog. passiver Netzinfrastrukturen wie Leerrohre, Schächte, Masten oder Antennenanlagen. Ein weiteres Mal geht es hier also um eine durch den Jubilar hervorgehobene und vielfach thematisierte Kernidee der Regulierung, die Vermeidung der volkswirtschaftlich kontraproduktiven Doppelverlegung von Leitungen.8 Mit der in Deutschland üblichen Verspätung wurde daraufhin durch das Gesetz zur Erleichterung des Ausbaus digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze vom 4. Novem-
5 Vgl. aus dieser Institution zu dem Themenkreis auch bereits den grundlegenden Beitrag von Stelkens, Inanspruchnahme öffentlicher Wege durch TK-Unternehmen – Entwicklungen seit 2010, in: Durner (Hrsg.), Die Stellung der Gemeinden im Straßenrecht – aktuelle Probleme des Umweltrechts, 2014, S. 29 ff. Dieser Band versammelt die Vorträge des 59. Forschungsseminars des Arbeitskreises „Straßenrecht“, das am 23. und 24. September 2013 unter Beteiligung des Jubilars an der Universität Bonn stattfand. Vgl. dazu auch den gleichnamigen Bericht von Stüer, DVBl. 2014, 32 ff. sowie allgemeiner Steiner, Geschichte und Wirken des Arbeitskreises Straßenrecht 1958 – 2008, DVBl. 2009, 614 ff. 6 Schmidt-Preuß (Fn. 2), S. 38. 7 Richtlinie 2014/61/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Maßnahmen zur Reduzierung der Kosten des Ausbaus von Hochgeschwindigkeitsnetzen für die elektronische Kommunikation, ABl. Nr. L 155 v. 23. 5. 2014, S. 1 ff.; vgl. dazu Schramm/Schumacher, EU-Vorstoß zum infrastrukturübergreifenden Breitbandausbau – Kommissionsvorschlag zum zügigen Ausbau von Hochgeschwindigkeitsnetzen, MMR 2013, 571 ff. 8 Vgl. Schmidt-Preuß, Das Recht der Regulierung – Idee und Verwirklichung, in: Säcker/ Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, S. 68; zu Vorläuferdebatten aus der Zeit der Anfänge der modernen Regulierung auch bereits Schmidt-Preuß, Verfassungskonflikt um die Durchleitung? – Zum Streitstand nach dem VNG-Beschluss des BGH, RdE 1996, 1 ff.
Mitnutzungsanspruch und Streitbeilegung nach § 77d und § 77n TKG
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ber 2016 – das DigiNetzG9 – in das Telekommunikationsgesetz in dessen nunmehr mit „Wegerechte und Mitnutzung“ betitelten Abschnitt 3 ein neuer Unterabschnitt 2 „Mitnutzung öffentlicher Versorgungsnetze“ eingefügt.10 Er enthält Regelungen über die Identifizierung, Erhebung von Informationen und Untersuchung bestehender passiver Netzinfrastrukturen (§§ 77a-77c TKG), u. a. durch einen bei der Bundesnetzagentur zu führenden Infrastrukturatlas nach § 77a TKG, und legt dann in der Zentralnorm des § 77d Abs. 1 Satz 1 TKG fest, dass die Eigentümer oder Betreiber öffentlicher Telekommunikationsnetze – auf Grundlage der erwähnten Informationen – bei den Eigentümern oder Betreibern öffentlicher Versorgungsnetze die Mitnutzung der passiven Netzinfrastrukturen dieser Versorgungsnetze für den Einbau von Komponenten digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze beantragen können. Nach derselben Norm müssen dann die Eigentümer oder Betreiber der öffentlichen Versorgungsnetze den Antragstellern binnen zwei Monaten und bei konkurrierenden Anträgen ggf. nach dem Prioritätsprinzip (§ 77l Abs. 2 TKG) ein Angebot über die Mitnutzung ihrer passiven Netzinfrastrukturen zu fairen und angemessenen Bedingungen unterbreiten. Nach § 77d Abs. 3 TKG ist die Mitnutzung dabei so auszugestalten, dass sie den Anforderungen der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Gesundheit sowie den anerkannten Regeln der Technik entspricht. Eine Ablehnung der Mitnutzung ist nach § 77g TKG nur bei Vorliegen der dort aufgeführten Versagungsgründe zulässig,11 zu denen u. a. die fehlende technische Eignung der passiven Netzinfrastrukturen, fehlender oder zukünftig fehlender Platz für die beabsichtigte Unterbringung der Komponenten im öffentlichen Versorgungsnetz, konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Integrität oder Sicherheit bestehender öffentlicher Versorgungsnetze oder der öffentlichen Sicherheit sowie die Verfügbarkeit tragfähiger Alternativen zählen. Ausführlich normiert ist in den §§ 77h-77j TKG die Koordinierung von Bauarbeiten an den Netzen und der Mitverlegung.12 Im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen neben § 77d TKG auch die Vorgaben des § 77n TKG über „Fristen, Entgeltmaßstäbe und Regulierungsziele der nationalen Streitbeilegung“. Gibt nämlich der Eigentümer oder Betreiber des öffentli9
BGBl. I S. 2473 ff.; vgl. dazu bzw. zur Entwurfsfassung Geppert, Zum Entwurf eines DigiNetzG, N&R 2015, 258 ff.; Ruf, Kostensenkung und Beschleunigung des Ausbaus digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze durch das DigiNetzG, BWGZ 2016, 1089 ff.; Ufer, Der Entwurf des DigiNetzG – Bewertung und Perspektive der geplanten Umsetzung der EUKostensenkungsrichtlinie, MMR 2016, 12 ff. 10 Näher dazu in Zusammenfassung eines längeren Gutachtens Kühling/Bulowski, Zugangsrechte nach dem DigiNetzG, N&R 2017, 19 ff.; vgl. weiter – jeweils zu besonderen Einzelaspekten – Leitzke/Berg, Das Gesetz zur Erleichterung des Ausbaus digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze (DigiNetzG) aus Sicht eines Betreibers der Eisenbahninfrastruktur, N&R 2016, 141 ff. und Sörries, Breitbandausbau: Hochgeschwindigkeitsinfrastrukturen in Gebäuden und das DigiNetz-Gesetz, N&R 2016, 272 ff. 11 Der enumerative Charakter der Aufzählung ist möglicherweise eine Verschärfung der Vorgaben der Richtlinie, vgl. Leitzke/Berg (Fn. 10), S. 143. 12 Näher dazu Leitzke/Berg (Fn. 10), S. 144 ff.
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chen Versorgungsnetzes nicht fristgemäß ein Mitnutzungsangebot ab oder kommt keine Einigung zustande, so kann gem. § 77n Abs. 1, 4 und 6 TKG jede Partei eine Entscheidung durch die Bundesnetzagentur beantragen, die dann binnen vier Monaten durch Beschlusskammern nach einem in § 134a TKG normierten „Verfahren der nationalen Streitbeilegung“ verbindlich über die Rechte, Pflichten oder Versagungsgründe nach den §§ 77d-77g TKG entscheidet. Gemäß § 132 Abs. 2 Satz 2 TKG ergeht diese Entscheidung durch Verwaltungsakt. Hintergrund dieser Regelungen ist Art. 3 Abs. 5 Satz 1 und 2 der Kostensenkungsrichtlinie 2014/61/EU, nach dem bei fehlender Einigung eine nationale Streitbeilegungsstelle binnen vier Monaten eine verbindliche Entscheidung zur Lösung der Streitigkeit treffen muss. Durch die Zuweisung dieser Aufgabe an die Bundesnetzagentur will der deutsche Gesetzgeber die Streitbeilegung durch „unabhängige gerichtsähnliche Spruchkörper“ ermöglichen, die Gerichte entlasten und zudem das besondere „sektorspezifische Fachwissen der Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde“ zum Tragen bringen.13 II. Der Anwendungsbereich der Mitnutzung öffentlicher Versorgungsnetze Die hier skizzierten Regelungen stellen Weiterentwicklungen der erst 2012 geschaffenen früheren §§ 77c-77e TKG a.F. dar, welche – noch ohne unionsrechtlichen Hintergrund – bis Ende 2016 in stärker differenzierter Weise die Mitnutzung von Teilen von Bundesfernstraßen, Bundeswasserstraßen sowie Eisenbahninfrastruktur durch Betreiber öffentlicher Telekommunikationsnetze geregelt hatten;14 vor allem wegen ihrer mangelnden Unterscheidung von Bundeseigenverwaltung und Bundesauftragsverwaltung waren diese Vorschriften auf verfassungsrechtliche Einwände gestoßen.15 Mit der Verallgemeinerung dieses Modells auf die passiven Netzinfrastrukturen sämtlicher öffentlicher Versorgungsnetze jeglicher Art wird der Anwendungsbereich der Mitnutzung enorm ausgeweitet.16 Für diesen Adressatenkreis wird das Vorgabenprofil vereinheitlicht, zugleich werden aber auch die Anforderungen für ganz unterschiedliche Anlagenarten weitgehend entdifferenziert, ohne die tatsächlichen oder gesetzlichen Besonderheiten der einzelnen Infrastrukturregime im Gesetzestext einzeln zu berücksichtigen.17 13
BT-Drs. 18/8332 v. 4. 5. 2016, S. 55. Vgl. zu diesen die Kommentierungen durch Berndt, in: Säcker (Hrsg.) Berliner Kommentar zum TKG, 3. Aufl. 2013, § 77c Rn. 1 ff. mit Kritik am Streitbeilegungsverfahren in Rn. 16 sowie Stelkens (Fn. 5), S. 30 ff. 15 Stelkens/Wabnitz, Mitnutzung von Bundesfernstraßen zum Ausbau von NGA-Netzen. Ist § 77c TKG durch die Nutzungsrichtlinien für Bundesfernstraßen zu retten?, MMR 2014, 655 ff.; näher zu dieser Kritik nachfolgend unter VI. 16 Dies heben Kühling/Bulowski, Rechtsgutachten über „Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragen aus dem Telekommunikationsbereich“, 2016, S. 45 ff. zu Recht hervor. 17 Stelkens (Fn. 5), S. 29 spricht insoweit von einer „Liberalisierungsblindheit“ des Regulierungsgesetzgebers. 14
Mitnutzungsanspruch und Streitbeilegung nach § 77d und § 77n TKG
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1. Der begriffliche Anwendungsbereich der Mitnutzung öffentlicher Versorgungsnetze Der erwähnte Mitnutzungsanspruch aus § 77d Abs. 1 Satz 1 TKG bezieht sich auf die passiven Netzinfrastrukturen der öffentlichen Versorgungsnetze. Der erweiterte Anwendungsbereich der Vorgaben zur Mitnutzung öffentlicher Versorgungsnetze ergibt sich somit begrifflich aus den beiden umfangreichen Definitionen für „öffentliche Versorgungsnetze“ und für „passive Netzinfrastrukturen“ in § 3 Nrn. 16b und 17b TKG, die wiederum auf Art. 2 Nrn. 1 und 2 der Kostensenkungsrichtlinie 2014/61/EU zurückgehen, im Detail jedoch über diese hinausgehen. „Öffentliche Versorgungsnetze“ sind nach § 3 Nr. 16b TKG „entstehende, betriebene oder stillgelegte physische Infrastrukturen für die öffentliche Bereitstellung“ u. a. von Versorgungsdiensten aller Art für Telekommunikation, Gas, Elektrizität, Fernwärme oder Wasser – mit der Ausnahme von Trinkwasser, wohl aber unter Einschluss der Abwasserinfrastrukturen – sowie von Verkehrsdiensten wie Schienenwegen, Straßen, Wasserstraßen, Brücken, Häfen und Flugplätzen. Sie umfassen damit – unabhängig von der Eigentumslage – weite Teile der Infrastruktur der klassischen Daseinsvorsorge. Eingegrenzt wird dieser weite Anwendungsbereich jedoch durch den gegenständlichen Bezug auf die passiven Netzinfrastrukturen der erwähnten Netze. „Passive Netzinfrastrukturen“ definiert der neue § 3 Nr. 17b TKG als „(…) Komponenten eines Netzes, die andere Netzkomponenten aufnehmen sollen, selbst jedoch nicht zu aktiven Netzkomponenten werden“ und nennt als Beispiele u. a. Fernleitungen, Leer- und Leitungsrohre, Kabelkanäle, Einstiegsschächte, Verteilerkästen, Gebäude und Gebäudeeingänge, Antennenanlagen und Trägerstrukturen wie Türme, Ampeln und Straßenlaternen, Masten und Pfähle. Ausgenommen werden namentlich Kabel einschließlich unbeschalteter Glasfaserkabel.18 Bereits aus diesen Begrifflichkeiten wird deutlich, dass es im Rahmen der Mitnutzung gerade nicht um die bestimmungs- oder widmungsgemäße Nutzung der öffentlichen Versorgungsnetze und damit ggf. um die eigentliche Hoheitsaufgabe als solche geht, sondern tendenziell vor allem um technische Potentiale, die aus Sicht der Netzbetreiber für den Netzbetrieb von untergeordneter Bedeutung sind und vor allem wirtschaftliche Randnutzungen19 der entsprechenden Infrastruktur ermöglichen. Bei einer öffentlichen Straße etwa werden die §§ 77a ff. TKG nicht die unmittelbare Nutzung der Straße ermöglichen, sondern im Regelfall lediglich die Nutzung vorhandener Leerrohre oder Schächte im Straßengrund, die in den letzten Jahren im Rahmen von Straßenbaumaßnahmen vielfach bereits vorsorglich eingebaut wurden. Dieser 18
Zur Bedeutung dieser Ausnahme Geppert (Fn. 9), S. 260. Vgl. zum Begriff und zum Phänomen ganz beispielhaft BGH, Urt. v. 26. 2. 2009 – I ZR 106/06 –, GRUR 2009, 606 ff. (Werbung für ein Kochbuch im Standesamt); Krämer, Wirtschaftliche Betätigung von Kommunen als „Randnutzung“ – Rechtliche Grenzen und ein Normierungsvorschlag, LKV 2016, 348 ff. 19
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Befund ist auch für die Bewertung der Tragweite und Zulässigkeit des neuen Streitbeilegungsverfahrens nach § 77n TKG von Bedeutung. 2. Die systematische Begrenzung des Anwendungsbereichs der Mitnutzung Eine weitere Begrenzung des Anwendungsbereichs des neuen Mitnutzungsregimes ergibt sich zudem aus systematischen Erwägungen: Der neue Abschnitt 3 des Telekommunikationsgesetzes behandelt bereits in seiner Überschrift „Wegerechte und Mitnutzung“ als gesonderte Regelungsmaterien, die nach den Erläuterungen des Gesetzentwurfes „einen systematisch eigenständigen Bereich“ darstellen sollen.20 Seiner Stellung nach schließt sich dieser neue Regelungsblock an den älteren Unterabschnitt 1 „Wegerechte“ an, der in den §§ 68 – 77 TKG die Regelungen über die Benutzung öffentlicher Wege, also das eigentliche TKG-Wegerecht enthält. Aus diesem Gesamtzusammenhang lässt sich folgern, dass sämtliche im Zusammenhang mit den §§ 68 – 77 TKG stehenden Streitigkeiten allein nach diesen Normen und nach den durch diese begründeten „besonderen Sondernutzungsrechten“21 zu bewältigen sind und damit nicht dem Streitbeilegungsverfahren nach §§ 77n TKG unterfallen. Diese Prämisse ist für den weiteren Gang der Überlegungen deshalb von Bedeutung, weil sich der Anwendungsbereich des Regimes der Mitnutzung damit nochmals erheblich reduziert. Namentlich die Nutzung des klassischen Straßenzubehörs unterliegt demnach wohl weiterhin den §§ 68 ff. TKG,22 sodass das Regime der Mitnutzung allenfalls selten grundlegende Eingriffe in die Bausubstanz bestehender Infrastruktur fordern wird. Auch die neuen Vorschriften über die Koordinierung von Bauarbeiten und Mitverlegungsarbeiten, die offenbar mitnutzungsbedingte Eingriffe weitgehend minimieren sollen, legen dieses Ergebnis nahe. III. Unterliegt die Mitnutzung öffentlichem Recht oder privatem Recht? Vor diesem Hintergrund spricht vieles für die Richtigkeit der noch zu den Vorgängerregelungen zu § 77d TKG entwickelten These von Stelkens und Wabnitz, dass die Mitnutzung der Sache nach tendenziell nicht den eigentlichen – grundsätzlich meist hoheitlichen – Betrieb der Infrastruktur betreffen wird, sondern lediglich einen dem Privatrecht unterfallenden Akt der Vermögensverwaltung darstellt.23 Für dieses Ergebnis sprechen nach geltendem Recht zwei eigenständige Argumentationsansätze: 20
BT-Drs. 18/8332 v. 4. 5. 2016, S. 39. So Stelkens (Fn. 5), S. 30. 22 Vgl. dazu Stelkens, TKG-Wegerecht, Kommentar, 2010, § 68 Rn. 71 ff. 23 Stelkens/Wabnitz, Mitnutzung „alternativer Infrastrukturen“ für NGA-Netze. Anwendungsbereich und Rechtsfolgen des § 77b TKG, MMR 2014, 730 (733). 21
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1. Mitnutzungen zwischen Sondernutzung und privater Gestattung Nicht alle Nutzungen öffentlicher Infrastruktur – selbst dort, wo dieselbe hoheitlich betrieben wird – unterfallen nämlich dem Regime des öffentlichen Rechts. Dies lässt sich besonders anschaulich an dem normativ traditionell detailliert ausgestalteten Nutzungsregime des Straßenrechts verdeutlichen: Mit ihrer Widmung zum Verkehr wird die Straße der Allgemeinheit zur Nutzung zur Verfügung gestellt und Jedermann eine Benutzung „zum Verkehr“ als Gemeingebrauch gestattet. Nutzungen, die diesen verkehrsbezogenen Gemeingebrauch übersteigen, bedürfen als – ggf. gebührenpflichtige – Sondernutzung im Regelfall einer öffentlich-rechtlichen Sondernutzungserlaubnis durch die Straßenbehörde. Solche Nutzungen des öffentlichen Straßenraums jedoch, die den Gemeingebrauch nicht beeinträchtigen können, liegen grundsätzlich außerhalb der hoheitlichen Dispositionsgewalt der Straßenbehörde und bedürfen stattdessen nach den meisten24 Straßengesetzen – etwa nach § 8 Abs. 10 FStrG, § 23 StrWG NRWoder Art. 22 Abs. 2 BayStrWG – eines privatrechtlichen Gestattungsvertrages mit dem Eigentümer.25 In den entsprechenden Bestimmungen werden zudem Beeinträchtigungen des Gemeingebrauchs „von nur kurzer Dauer für Zwecke der öffentlichen Versorgung“ als unwesentlich angesehen, sodass der Einbau von Versorgungsleitungen im Erdreich unter dem Straßenkörper grundsätzlich dem Privatrecht unterfällt.26 Im Rahmen von Straßengesetzen, die diesem Regelungsmodell folgen, werden daher die durch § 77d Abs. 1 Satz 1 TKG erfassten Mitnutzungen nach den bisherigen Ausführungen allenfalls in seltenen Fällen dem Öffentlichen Recht unterfallen. Obwohl die meisten der sonstigen „öffentliche(n) Versorgungsnetze“ im Sinne von § 3 Nr. 16b TKG öffentlich gewidmet sind und damit grundsätzlich als öffentliche Sachen anzusehen sind,27 gelten die skizzierten Unterscheidungen zwischen öffentlich-rechtlichen Sondernutzungen und privatrechtlichen Gestattungsverträgen nach traditioneller Sicht nur für die sog. Sachen im Gemeingebrauch. Demgegenüber fehlt es hinsichtlich der Sonderbenutzung öffentlicher Sachen im Anstaltsgebrauch regelmäßig an gesetzlichen Vorgaben über die Begründung und den Inhalt der ent24
Eine Ausnahme bildet etwa das Berliner Straßengesetz. Nach § 11 Abs. 10 BerlStrG sind Entgelte nur in solchen Fällen zulässig, in denen öffentliches Straßenland nicht Eigentum Berlin ist. In allen anderen Fällen können ausschließlich Sondernutzungsgebühren erhoben werden. 25 Vgl. nur Papier/Durner, Recht der öffentlichen Sachen, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 41 Rn. 2; Stahlhut, in: Kodal (Begr.), Straßenrecht, 7. Aufl 2010, Kap 27 Rn. 9 ff. 26 Näher Sauthoff, in: Müller/Schulz (Hrsg.), FStrG, Kommentar, 2. Aufl. 2013, § 8 Rn. 77 ff.; Majcherek, in: Marschall (Begr.), FStrG, Kommentar, 6. Aufl. 2012, § 8 Rn. 47 ff. (jeweils zu § 8 Abs. 10 FStrG); Wiget, in: Zeitler (Begr.), BayStrWG, Kommentar, Art. 22 (2014) Rn. 36 ff. 27 Vgl. nur die beispielhafte Aufzählung bei Papier/Durner (Fn. 25), § 38 Rn. 2; zur Frage der Erstreckung des öffentlichen Sachenrechts auf sämtliche öffentlichen Infrastrukturen zuletzt auch Kümper, Neues vom Recht der öffentlichen Sachen, DÖV 2017, 179 ff.
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sprechenden Nutzungsverhältnisse. Mangels abweichender gesetzlicher Bestimmungen und Differenzierungen ist insoweit im Hinblick auf solche Nutzungsansprüche, die nicht auf die bestimmungsgemäße Nutzung der öffentlichen Versorgungsnetze selbst gerichtet sind – jedenfalls dann, wenn sie auch den bestimmungsgemäßen Zweck der Sache nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigen – die Zulassung durch einen privatrechtlichen Miet- oder Pachtvertrag als grundsätzlich zulässig anzusehen.28 Letztlich dürfte daher für nahezu alle von dem Regime der Mitnutzung erfassten Versorgungsnetze regelmäßig eine rein privatrechtliche Zulassung möglich sein. 2. Die Rechtsnatur des Mitnutzungsanspruchs aus § 77d TKG Ohnehin stellt sich jedoch die Frage, ob die eben dargestellten fachrechtlichen Differenzierungen für die Einordnung des Mitnutzungsanspruchs überhaupt den Ausschlag geben können. Maßgeblich für die Zuordnung eines Anspruchs zum öffentlichen oder privaten Recht ist nämlich nicht die Rechtsnatur der durch einen erhobenen Anspruch angestrebten Handlung, sondern die sog. wahre Natur des behaupteten Anspruchs selbst.29 Insoweit spricht jedoch für eine ausnahmslose Zuordnung der Mitnutzung von Versorgungsnetzen zum Privatrecht, dass § 77d TKG den entsprechenden Zugangsanspruch als solchen wohl gerade nicht als öffentlichen Sondernutzungsanspruch, sondern als privatrechtlichen Anspruch ausgestaltet: Die Norm gebraucht zwar in Absatz 1 Satz 1 zunächst den öffentlich-rechtlich anmutenden Begriff „beantragen“, verwendet dann jedoch die vertraglichen Begriffe „Angebot“ und „Annahme“ und weitere zivilrechtliche Termini wie „faire und angemessene Bedingungen“, „Sicherheiten und Vertragsstrafen“ oder „Vereinbarungen zur Haftung“. Die Streitbeilegung durch die Bundesnetzagentur bezieht sich nach § 77n Abs. 2 TKG zudem ausdrücklich auch auf das „Mitnutzungsentgelt“, nicht etwa auf eine Gebühr – und knüpft damit an den Begriff „Preis“ in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2014/61/EU an, der ebenfalls auf Marktmechanismen und Handlungsspielräume abstellt.30 Bereits terminologisch dürfte daher eine privatrechtliche Ausgestaltung vorliegen.31 Diese Begrifflichkeiten hat der deutsche Gesetzgeber offensichtlich auch ganz bewusst eingesetzt: In der Gesetzesbegründung wies die Bundesregierung jedenfalls einige vom Bundesrat vorgeschlagene Zusatzvorgaben zur Koordinierung von Bauarbeiten mit der Erwägung zurück, eine derartige Einschränkung des „Grundsatzes der Vertragsfreiheit“ widerspreche den Richtlini28
So Papier/Durner (Fn. 25), § 39 Rn. 43. Vgl. BVerwG, Urt. v. 26. 4. 2007 – 7 C 7.06 –, BVerwGE 129, 9 (10 f.); BGH, Urt. v. 18. 12. 1981 – I ZR 34/80 –, BGHZ 82, 375 (382); Beschl. v. 10. 7. 1989 – GmS-OGB 1/88 –, 108, 284 (286); Unruh, in: Fehling/Kastner/Störmer (Hrsg.), Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, § 40 VwGO Rn. 85 f. m.w.N. 30 Kühling/Bulowski (Fn. 10), S. 23. 31 Unentschlossen insoweit Kühling/Bulowski (Fn. 16), S. 108. 29
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envorgaben. Gerade dann, wenn es sich um Personen des Privatrechts handele, müsse „der Wille der Vertragsparteien maßgeblich sein“.32 Durch die somit vorliegende Ausgestaltung des Mitnutzungsanspruches als privatrechtlich will das TKG offenbar gerade nicht auf die Grenzziehungen des maßgeblichen Infrastrukturfachrechts abstellen, sondern den telekommunikationsrechtlichen Zugangsanspruch als solchen einheitlich und vollständig dem Privatrecht unterstellen. Dieses Ergebnis erscheint sachgerecht, weil die damit begehrten Handlungen nach den bisherigen Überlegungen ohnehin regelmäßig dem Privatrecht unterfallen. Für eine einheitliche Sichtweise des Gesetzes spricht auch, dass § 3 Nr. 16b TKG gleichermaßen „entstehende, betriebene oder stillgelegte physische Infrastrukturen“ erfasst und sich damit sowohl auf gewidmete, noch nicht gewidmete oder auch entwidmete Anlagen beziehen kann. Unter dem Gesichtspunkt der Gesetzgebungskompetenz ist ein solches Vorgehen angesichts des engen Sachzusammenhangs mit der Frage des Ausbaus von Hochgeschwindigkeitsnetzen nicht zu beanstanden.33 Bereits wegen seiner Ausgestaltung begründet § 77d TKG damit einen privatrechtlichen Zugangsanspruch, ohne dabei auf die Rechtsnatur der angestrebten Zulassung selbst abzustellen. 3. Reduktion des § 77n TKG auf reine Vermögensverwaltung? Dennoch könnte überlegt werden, ob jene seltenen Fälle, in denen ein erhobener Mitnutzungsanspruchs aus § 77d TKG durch den Anspruchsgegner privatrechtlich nicht erfüllt werden kann, von vornherein aus dem Anwendungsbereich des Streitbeilegungsverfahrens und letztlich sogar des Mitnutzungsanspruchs auszunehmen sind. Gewiss erscheint es eigenwillig, dass ein privatrechtlicher Anspruch dem Anspruchsgegner ein öffentlich-rechtliches Handeln abverlangen können soll.34 Für eine solche Reduktion des § 77n TKG auf Gegenstände reiner Vermögensverwaltung spricht neben den bisherigen Überlegungen auch der Verweis der Gesetzesbegründung auf das „sektorspezifische Fachwissen der Bundesnetzagentur“,35 das sich primär auf unternehmerische Konflikte bezieht, nicht aber auf die hoheitlichen Fragen des Betriebs öffentlicher Infrastruktur.36 Allerdings würde diese teleologische Re32
BT-Drs. 18/8332 v. 4. 5. 2016, S. 85 (zu Nummer 18). Kompetenzen in den Überschneidungsbereichen einzelner Materien sind kompetenzrechtlich nach Spezialität und überwiegendem Sachzusammenhang abzugrenzen, vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 29. 4. 1958 – 2 BvO 3/56 –, BVerfGE 8, 143 (149 ff.); Beschl. v. 30. 10. 1961 – 1 BvR 833/59 –, BVerfGE 13, 181 (196 ff.); Beschl. v. 28. 11. 1973 – 2 BvL 42/71 –, BVerfGE 36, 193 (205). 34 Spiegelbildlich stellt sich dieses Problem bei der bekannten Frage nach der Verwirklichung eines kommunalrechtlichen – also öffentlich-rechtlichen – Zulassungsanspruchs gegenüber einer privatrechtlichen kommunalen Gesellschaft, vgl. dazu nur Stober, Die privatrechtlich organisierte öffentliche Verwaltung – Zur Problematik privatrechtlicher Gesellschaften und Beteiligungen der öffentlichen Hand, NJW 1984, 449 (457) m.w.N. 35 BT-Drs. 18/8332 v. 4. 5. 2016, S. 55. 36 Vgl. bereits Berndt (Fn. 14), § 77c Rn. 16. 33
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duktion dazu führen, dass der Fachgesetzgeber – ggf. auf Landesebene – durch entsprechende Einkleidung des Nutzungsregimes37 über den Geltungsbereich des Mitnutzungsanspruchs und des Streitbeilegungsverfahrens verfügen könnte. Das wäre wohl kaum richtlinienkonform. Ohnehin – und dies dürfte die Bedeutung der Frage relativieren – werden in jenen Fällen, in denen der hoheitliche Betrieb der Anlage wesentlich betroffen ist, regelmäßig auch Versagungsgründe nach § 77g TKG einschlägig sein. Dass also der erhobene Anspruch gegebenenfalls das zivilrechtlich Erbringbare überschreitet, ändert nichts an der maßgeblichen wahren Natur des behaupteten Anspruchs. IV. Die Rechtsnatur der Entscheidung der Bundesnetzagentur Aus der Zuordnung des Anspruchs auf Mitnutzung von öffentlichen Versorgungsnetzen zum Privatrecht ergeben sich Folgerungen für die Rechtsnatur der Entscheidung der Bundesnetzagentur. Das durch unabhängige „Beschlusskammern“ betriebene gerichtsähnliche Verfahren zeichnet sich durch eine deutliche Justizförmigkeit aus. Dass die Beschlusskammerentscheidungen gleichwohl durch Verwaltungsakt ergehen, war bereits nach früherem Recht in § 132 Abs. 1 TKG geregelt.38 Der neue § 132 Abs. 2 Satz 2 TKG kann an diese bestehenden Strukturen anknüpfen. In den Kategorien des Allgemeinen Verwaltungsrechts handelt es sich um einen streitentscheidenden Verwaltungsakt, durch den die Bundesnetzagentur als unparteiische Stelle über eine zwischen den Parteien streitige Rechtsangelegenheit bestimmt.39 Zugleich handelt es sich nach den oben entwickelten Einordnungen um einen privatrechtsgestaltenden Verwaltungsakt, weil die Bundesnetzagentur hoheitlich die privaten Rechtsbeziehungen zwischen den Eigentümern oder Betreibern einerseits der öffentlichen Telekommunikationsnetze und andererseits der öffentlichen Versorgungsnetze regelt.40 Wegen der in § 6 VwVG normierten Titelfunktion des Verwaltungsakts kann die Beschlusskammerentscheidung auch durch Verwaltungsvollstreckung zwangsweise durchgesetzt werden41 und hat damit für die obsiegende Partei eine urteilsähnliche Wirkung.
37 Vgl. das Beispiel des Berliner Straßengesetzes oben in Fn. 24, das alle den Gemeingebrauch übersteigenden Nutzungen der Straße als öffentlich-rechtliche Sondernutzungen ausgestaltet. 38 Vgl. nur Attendorn/Geppert, in: Beck’scher TKG-Kommentar, 4. Aufl. 2013, § 132 Rn. 31 f.; Probleme aufzeigend Gurlit, in: Säcker (Fn. 14), § 132 Rn. 29 f. 39 Näher zur Figur und zur Zulässigkeit dieses Vorgehens Stelkens, in: Stelkens/Bonk/ Sachs (Begr.), VwVfG, Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 35 Rn. 221. 40 Berndt (Fn. 14), § 77c Rn. 16; Kühling/Bulowski (Fn. 16), S. 109; auch dazu allgemeiner Stelkens (Fn. 39), § 35 Rn. 217 f.; Windoffer, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz (Hrsg.), VwVfG, Kommentar, 2014, § 35 Rn. 59 f. 41 T. Mayen, in: Scheurle/Mayen (Hrsg.) TKG, Kommentar, 2. Aufl. 2008, § 132 Rn. 44.
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V. Rechtsschutz gegen das und Rechtsschutz neben dem Streitbeilegungsverfahren Eine gewisse Pointe der bisherigen Überlegungen besteht darin, dass das Gesetz in § 77d TKG einen Anspruch zwischen Vertragsparteien, die beide mindestens Träger öffentlicher Belange, in vielen Fällen zudem Hoheitsträger sein dürften, zunächst privatrechtlich ausgestaltet, dass dann aber gegen die streitentscheidende Verfügung der Bundesnetzagentur am Ende doch wieder der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet ist. Anders als im Energierecht bleibt nämlich im Telekommunikationsrecht der allgemeine Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nach § 40 VwGO weiterhin eröffnet.42 Wegen des durch § 132 Abs. 2 Satz 2 TKG vorgegebenen äußeren Verwaltungsaktcharakters ist gegen die Beschlusskammerentscheidung die Anfechtungsklage statthafte Klageart. Dabei gelten die Maßgaben des § 137 TKG. Möglicherweise erschöpfen sich die Rechtsschutzmöglichkeiten jedoch nicht in diesem Vorgehen. Wie erwähnt, ist die verbindliche Entscheidung zur Lösung von Streitigkeiten über den Mitnutzungsanspruch durch eine nationale Streitbeilegungsstelle binnen vier Monaten unionsrechtlich durch Art. 3 Abs. 5 Satz 1 und 2 der Kostensenkungsrichtlinie 2014/61/EU vorgegeben. Nach Art. 3 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 der Kostensenkungsrichtlinie bleibt jedoch „das Recht aller Parteien, ein Gericht mit dem Fall zu befassen“, von dem Verfahren vor der nationalen Streitbeilegungsstelle unberührt. Der Inhalt dieser im deutschen Recht nicht eigens umgesetzten Vorschrift bereitet Probleme: Kühling und Bulowski halten eine Auslegung für möglich, nach der neben der Streitbeilegung durch die Bundesnetzagentur und der (anschließenden) verwaltungsgerichtlichen Anfechtbarkeit der Entscheidung der Streitbeilegungsstelle zusätzlich und parallel auch unmittelbarer Rechtsschutz zur Durchsetzung der in den §§ 77a ff. TKG normierten Ansprüche möglich sein müsse.43 Angesichts der zivilrechtlichen Ausgestaltung des Mitnutzungsanspruches aus § 77d TKG wäre dies konsequenterweise zivilgerichtlicher Rechtsschutz.44 Je nach Vorgehen stünden den Beteiligten also zwei verschiedene Rechtswege offen.45 Soweit das Streitbeilegungsverfahren nicht zur Verfügung steht – etwa bei Erfüllungsansprüchen oder Leistungsstörungen im Rahmen geschlossener Mitnutzungsverträge – sind entsprechende Streitigkeiten ohnehin ausschließlich vor den Zivilgerichten auszutragen.
42 Vgl. statt vieler Schneider, Telekommunikation, in: Fehling/Ruffert (Fn. 3), § 9 Rn. 121 ff.; exemplarisch etwa BVerwG, Urt. v. 28. 11. 2007 – 6 C 42/06 –, NVwZ 2008, 575 ff. 43 Kühling/Bulowski (Fn. 16), S. 104 ff. 44 Kühling/Bulowski (Fn. 16), S. 104 ff. 45 Vgl. zu dem Problem auch bereits Berndt (Fn. 14), § 77c Rn. 16.
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Obwohl der Wortlaut der Richtlinie eine solche Auslegung durchaus nahelegen mag46 und ein vergleichbares Nebeneinander bürgerlich-rechtlicher und öffentlich-rechtlicher Ansprüche je nach Einkleidung des Falles gerade dem Regulierungsrecht keineswegs fremd ist,47 wirft ein solches Verhältnis der Rechtswege zueinander Fragen nach ihrer Sinnhaftigkeit auf. Kühling und Bulowski selbst halten es im Ergebnis aus teleologischen und systematischen Erwägungen für ausreichend, dass im Falle einer Untätigkeit der Streitbeilegungsstelle die Möglichkeit zur Erhebung einer Untätigkeitsklage vor den Verwaltungsgerichten besteht.48 Dies mag auch die Vorstellung des deutschen Gesetzgebers gewesen sein, der Art. 3 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 weder in der normativen Umsetzung noch in der Gesetzesbegründung erwähnt. Mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes49 dürfte dieses Ergebnis allemal vereinbar sein. Auf Grundlage dieser Lesart der Richtlinie könnten parallel zu einem oder gar ohne ein Streitbeilegungsverfahren nach § 77n TKG erhobene Klagen vor den Zivilgerichten wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abgewiesen werden.50 VI. Das Streitbeilegungsverfahren nach § 77n TKG als Eingriff in die Länderexekutive? Bedenken gegen das Streitbeilegungsverfahren nach § 77n TKG könnten sich jedoch aus dem Verfassungsrecht ergeben. Stelkens und Wabnitz haben insoweit unter Bezug auf die erwähnte, noch spezifisch auf Bundesfernstraßen bezogene Vorgängernorm in §§ 77c TKG a.F. argumentiert, im Straßenrecht sei die eine Landesbehörde verpflichtende Beschlusskammerentscheidung der Sache nach eine unzulässige Weisung des Bundes, die entgegen Art. 85 Abs. 3 GG „unmittelbar an die zuständige Landesfernstraßenbehörde gerichtet ist“.51 Diese im Hinblick auf die Verwaltungsform der Bundesauftragsverwaltung entwickelten Bedenken wiegen potentiell doppelt gegenüber der Ausweitung in § 77n TKG, die gegenständlich überwiegend Verwaltungsbereiche erfasst, welche die Ländern nach dem in Art. 83 GG normierten Grundsatz der Länderexekutive als eigene Angelegenheit und damit frei von Weisun-
46 Dies gilt auch für die englische („In any case, decisions of such body should be without prejudice to the possibility of any party to refer the case to a court.“) und die französische Sprachfassung („… sans préjudice de la possibilité pour toute partie de saisir une juridiction“). 47 Vgl. nur Attendorn/Geppert (Fn. 38), § 19 Rn. 98 ff.; Schneider (Fn. 42), § 9 Rn. 121. 48 Kühling/Bulowski (Fn. 16), S. 105. 49 Vgl. zu den entsprechenden Maßstäben statt vieler Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Kommentar, 5. Aufl. 2016, Art. 19 EUV Rn. 41 ff. m.w.N. 50 Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Kühling/Bulowski (Fn. 16), S. 106. 51 Stelkens/Wabnitz (Fn. 15), S. 659 f.
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gen des Bundes ausführen.52 Dies gilt natürlich auch für Weisungen, die von Regulierungsbehörden ausgehen. Dem haben Kühling und Bulowski – bereits unter Bezug auf den heutigen § 77n TKG – eine Reihe von Einwänden entgegengehalten. Bei den Beschlusskammerentscheidungen handele es sich nicht um „,Einzelweisungen‘ im technischen Sinne“, weil verfassungsrechtliche Einzelweisungen „grundsätzlich interne Vorgänge ohne Außenwirkung“ darstellten, während die Entscheidungen der nationalen Streitbeilegungsstellen anfechtbare Verwaltungsakte seien. Inhaltlich sei die Beschlusskammerentscheidung zudem lediglich „eine Konkretisierung bereits bestehender Pflichten“, die „eine effektivitätsorientierte Auslegung“ der avisierten Gesetzesziele ermögliche.53 Keines dieser Gegenargumente vermag den Verfasser wirklich zu überzeugen: Weisungen nach Art. 85 Abs. 3 GG entfalten zwar keine unmittelbare Wirkung auf die Rechtssphäre der Bürger,54 wohl aber Außenwirkung gegenüber dem angewiesenen Land als juristischer Person.55 Eine „Konkretisierung bereits bestehender Pflichten“ dürfte für gewöhnlich der klassische Inhalt rechtmäßiger Weisungen nach Art. 85 Abs. 3 GG sein. Und dem Hinweis auf die Effektivität der Rechtsdurchsetzung ist entgegenzuhalten, dass wegen der „Landesblindheit des Unionsrechts“56 europäische Vorgaben grundsätzlich nicht zu Kompetenzverschiebungen im Bund-Länder-Verhältnis führen können. Handelt es sich also bei den in dem Streitbeilegungsverfahren nach § 77n TKG durch die Bundesnetzagentur ausgesprochenen Verpflichtungen um „Weisungen“ oder vergleichbare unzulässige Einwirkungen auf die Verwaltungen der Länder? Verfehlt wäre gegenüber dieser Frage wohl eine isolierte, zu Umgehungen einladende Orientierung an einem formalen Weisungsbegriff: Ob der Bund eine Anordnung explizit als Weisung an das Land einkleidet oder ob das Land hinsichtlich derselben 52
Vgl. zur grundsätzlichen Ingerenzfreiheit des Landesvollzugs statt vieler Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 126 Rn. 124. 53 Kühling/Bulowski (Fn. 16), S. 101 f. 54 Vgl. nur Schmitt/Wohlrab, „Richtiger“ Klagegegner bei Maßnahmen im Rahmen der Auftragsverwaltung nach Art. 85 GG am Beispiel des „Moratoriums“ für Kernkraftwerke, NVwZ 2015, 193 (195). 55 Präzise zuletzt etwa LG Bonn, Urt. v. 6. 4. 2016 @ 1 O 458/14 –, EnWZ 2016, 426 (430): „Eine Weisung wirkt nur im Innenverhältnis zwischen Bund und Land; sie hat keine Außenwirkung zulasten von Verfahrensbeteiligten.“ Ähnlich etwa BVerwG, Beschl. v. 26. 3. 2007 – 7 B 74/06 –, NVwZ 2007, 837 (838) m.w.N. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wann die Weisung zu einer Rechtsverletzung des Landes führen kann, vgl. dazu namentlich BVerfG, Urt. v. 22. 5. 1990 – 2 BvG 1/88 –, BVerfGE 81, 310 (335 ff.). 56 Diese Formulierung geht zurück auf Ipsen, Als Bundesstaat in der Gemeinschaft, in: Festschrift für Walter Hallstein, 1966, S. 248 (256); vgl. dazu weiter etwa Suerbaum, Die Kompetenzverteilung beim Vollzug des EG-Rechts in Deutschland, 1998, S. 185 und Epiney, Gemeinschaftsrecht und Föderalismus: Landesblindheit und Pflicht zur Berücksichtigung innerstaatlicher Verfassungsstrukturen, EuR 1994, 301 ff. sowie die punktuellen Relativierungen des Grundsatzes in BVerfG, Urt. v. 17. 10. 2006 – 2 BvG 1/04 und 2 BvG 2/04 –, BVerfGE 116, 271 (321 ff.).
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Frage an eine behördliche Streitentscheidung gebunden wird, ändert im Ergebnis nichts an der tatsächlichen Einschränkung des eigenverantwortlichen Vollzugs der Länder. Ausgehend von dem maßgeblichen Leitbild der Ausführung der Bundesgesetze als eigene Angelegenheit nach Art. 83 GG wäre vielmehr zu untersuchen, ob und in welchem Umfang sich eine Bindung an die Verwaltungsentscheidungen der Bundesnetzagentur wie eine Weisung auf die exekutivischen Entscheidungsspielräume der Länder auswirkt. Wenn man das neue Streitbeilegungsverfahren nach § 77n TKG mit dem vorliegenden Beitrag im Wesentlichen als Reglementierung der Vermögensverwaltung der Infrastrukturträger ansieht, erscheint das gesamte Problem allerdings zumindest erheblich entschärft. Zwar kann Verwaltung im Sinne des Art. 83 GG auch privatrechtliche Tätigkeit sein.57 Zudem wird – mit unterschiedlichen Konstruktionen – zumindest im Straßenrecht der Anwendungsbereich der Bundesauftragsverwaltung durch die herrschende Rechtsauffassung auch auf die rechtsgeschäftliche Vertretung im fiskalischen Bereich erstreckt.58 Gleichwohl treffen die Beschlusskammerentscheidungen die betroffenen Landesbehörden letztlich nicht in ihrer Funktion als Verwaltungsträger, sondern in im Kern erwerbswirtschaftlichen Randnutzungen der öffentlichen Versorgungsnetze und erzeugen insoweit Bindungen, die – auch darauf haben Kühling und Bulowski hingewiesen59 – im Grunde in vergleichbarer Form auch jedes Unternehmen treffen könnten und die daher grundsätzlich außerhalb des bundesstaatsrechtlichen Schutzzwecks des Art. 83 GG liegen.60 Zudem steht den Ländern gegenüber der Beschlusskammerentscheidung – anders als gegenüber einer Weisung nach Art. 85 Abs. 3 GG – voller verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung. Gleichwohl spricht auch das Bundesstaatsrecht somit dafür, die Handhabung des neuen Mitnutzungsregimes und namentlich der Versagungsgründe nach § 77g TKG so zu gestalten, dass – prima facie verfassungswidrige – Übergriffe in die eigentlichen Verwaltungsaufgaben der Länder tunlichst vermieden werden.
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Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, Kommentar, Art. 83 (2009), Rn. 108. So zuletzt besonders VGH München, Urt. v. 21. 4. 2015 – 8 BV 12.2488 –, BeckRS 2015, 45814 m.w.N. Näher dazu Stelkens/Wabnitz (Fn. 15), S. 658 f. m.w.N. Die Gegenauffassung hat indes der Verf. entwickelt, vgl. Durner, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 90 (2006), Rn. 24 m.w.N. 59 Kühling/Bulowski (Fn. 16), S. 101: „Vielmehr sind die Körperschaften letztlich genauso wie private Unternehmen betroffen und nicht in ihrer Verwaltungsfunktion.“ 60 Vgl. zum Phänomen der erwerbswirtschaftlichen Randnutzungen bereits die Nachweise in Fn. 19 und zur grundsätzlichen bundesstaatlichen Neutralität desselben Pietzcker, Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 52), § 134 Rn. 22 m.w.N. Ebendiese Neutralität spricht freilich wohl bereits gegen die These, eine bloße Fiskalverwaltung könne dem Regime der Bundesauftragsverwaltung unterliegen, vgl. soeben in und bei Fn. 58. 58
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VII. Bilanz Das neue Streitbeilegungsverfahren nach § 77n TKG zur Durchsetzung der in den §§ 77a ff. TKG normierten Ansprüche bildet – wie manches Element des Regulierungsrechts – ein eigentümliches Zwitterwesen im Grenzbereich zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Letztlich erscheint dabei die formal einheitliche Ausgestaltung des Mitnutzungsanspruches als privatrechtlich begrüßenswert, da sie es ermöglicht, unabhängig von den teilweise recht uneinheitlichen fachrechtlichen Differenzierungen beide Akteure zu Verhandlungen zu zwingen und so die erwünschten Marktmechanismen zu aktivieren. Dass hierbei Regulierungsstrukturen, die eigentlich für Konflikte zwischen Unternehmen bestimmt waren, ohne größere Modifikation auf Hoheitsträger übertragen werden, mag zwar kritisiert werden, entspricht aber gerade so wohl der Zielrichtung der Kostensenkungsrichtlinie 2014/61/EU. Ebenso liegt es wohl auch im Sinne der Richtlinie, dass über die Verteilung des knappen Guts passiver Netzinfrastrukturen nach der – insoweit unional nicht vorgegebenen – Regelung in § 77l Abs. 2 TKG nach dem Prioritätsprinzip entschieden wird. Dieser vielgescholtene,61 auch als „Windhundprinzip“ charakterisierte62 Verteilungsmodus erscheint gewiss nicht für alle Verteilungsfragen sachgerecht, dürfte indes gerade dem Ziel einer Beschleunigung des Ausbaus digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze besonders entsprechen. Rechtspolitisch prekär bleibt indes die bereits angesprochene Frage, ob die Entdifferenzierungen des neuen Mitnutzungsregimes zu weit gehen. Aus den in diesem Beitrag entwickelten Überlegungen sollte den Besonderheiten der sehr unterschiedlichen öffentlichen Infrastrukturen jedenfalls bei der Handhabung der Vorgaben, namentlich der Versagungsgründe nach § 77g TKG, hinreichend Rechnung getragen werden.
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Kritisch zu diesem etwa Voßkuhle, „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“ – Das Prioritätsprinzip als antiquierter Verteilungsmodus einer modernen Rechtsordnung, Die Verwaltung 32 (1999), 21 ff.; positiver Durner, Konflikte räumlicher Planungen, 2005, S. 171 ff. 62 So etwa durch OVG Greifswald, Urt. v. 27. 6. 2001 – 2 L 39/99 –, NVwZ-RR 2002, 406.
Effektiver Rechtsschutz im TK-Entgeltgenehmigungsverfahren: Intertemporale Konfliktschlichtung im Prozess zwischen Verfassungs- und Unionsrecht Von Klaus Ferdinand Gärditz, Bonn I. Rechtsschutz als Zeitproblem Effektiver Rechtsschutz ist auch ein Zeitproblem.1 Eilrechtsschutz kann dieses zwar partiell auffangen, aber von vornherein nur unvollkommene Lösungen bieten, weil sich die Zeit, die ein Prozess mit seiner eigenwilligen Rationalität der Distanzierung durch Formalisierung den Beteiligten abverlangt, nicht anhalten lässt. Die Isolierung eines Streitgegenstandes von seiner Umwelt in der entkoppelten Wirklichkeit des Verfahrens kann den Fluss der außerprozessualen Wirklichkeit bestenfalls unvollkommen unterbrechen.2 Das Risiko, dass ein ordnungsgemäßer Prozess Ergebnisse liefert, die zu spät kommen oder rechtzeitig aber inadäquat sind, ist unvermeidbar. Ein Musterfall der strukturellen Herausforderungen intertemporaler Risikoallokation im Prozess im Gravitationsfeld rechtsschutzunfreundlichen materiellen Rechts bildet der Rechtsschutz im TK-Entgeltgenehmigungsverfahren. 1. Prozessuale Konfliktschlichtung als Allokation von Zeitrisiken In besonderer Weise stellen sich Zeitprobleme in multipolaren Konstellationen, denen der Jubilar besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat.3 Zeitgewinne und -verluste sind kein Nullsummenspiel; sie lassen sich noch nicht einmal nach liberalen Freiheitsverteilungsformeln ordnen. Hat der einstweilige Rechtsschutz gegen die Begünstigung eines Belasteten – insbesondere eines Wettbewerbers – Erfolg, gewinnt der Antragsteller auf Kosten des Begünstigten Zeit; bleibt der Rechtsschutz erfolglos, erhält der Begünstigte möglicherweise einen temporären Vorsprung, der 1 S. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 10. Aufl. (2016), § 31 Rn. 2; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 15. Aufl. (2017), Rn. 32a; Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtsschutzes, 2015, S. 73 f.; Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, 1988, S. 1310 ff. 2 Vgl. zu Rückkopplungen im Prozess Windthorst, Der verwaltungsgerichtliche einstweilige Rechtsschutz, 2009, S. 96 f. 3 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2. Aufl. (2005), S. 550 – 625.
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sich im Nachhinein als nicht gerechtfertigt erweisen könnte. Zeitgewinne können genutzt werden, Marktmacht auszubauen bzw. Wettbewerber zu verdrängen.4 Konfliktschlichtung5 hat hier also auch eine temporale Dimension. In keiner Konstellation können jedoch innerprozessuale Regeln der einstweiligen Konfliktschlichtung den außerprozessualen Zeitfluss stoppen. Zeitverluste sind real und können nur sehr begrenzt nachträglich ausgeglichen werden. Das Recht muss daher faire Regeln bereitstellen, um Risiken zu balancieren, um mit dem Jubilar „dem Gebot ausgewogener prozessualer Konfliktschlichtung und Risikobalance“ zu genügen6. Das gesamte System des einstweiligen Rechtsschutzes beruht daher letztlich auf Mechaniken zur Allokation von Zeitrisiken.7 2. Sonderverwaltungsprozessrecht für TK-Entgeltgenehmigungen Dass besondere Konstellationen des Fachrechts bisweilen abweichende Modi der Konfliktschlichtung fordern, die dann partikulares Sonderprozessrecht8 in eine qualifizierte Abhängigkeit vom materiellen Fachrecht bringen, zeigt die prekäre Regelung des § 35 Abs. 5 TKG9, der die Regelungswirkung und den Rechtsschutz im telekommunikationsrechtlichen Entgeltgenehmigungsverfahren abweichend von der VwGO bestimmt und nach seiner Kassation durch das BVerfG in einem Beschluss vom 22. November 201610 bei Abgabe dieses Manuskripts nur noch als Interimsregelung fort galt. Entgelte für nach § 21 TKG auferlegte Zugangsleistungen von Netzbetreibern, die über beträchtliche Marktmacht verfügen (§ 1 Nr. 3 TKG), unterliegen gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 TKG grundsätzlich einer Ex-ante-Genehmigung durch die Bundesnetzagentur (BNetzA) nach Maßgabe des § 31 TKG.11 Hiernach hat das beantragende Unternehmen der BNetzA Kostenunterlagen jeweils vor dem Inkrafttreten bzw. vor dem jeweils nächsten Genehmigungszeitraum vorzulegen (vgl. § 31 Abs. 1 TKG). Die Ex-ante-Genehmigung hat nach § 37 Abs. 2 TKG privatrechtsgestaltende
4 Vgl. Masing, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, 2006, S. 176; Schorkopf, JZ 2008, 20 (24). 5 Prägend die Habilitationsschrift des Jubilars (Fn. 3); fortentwickelt: Schmidt-Preuß, in: FS Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 1168 ff. (mit Bezug zur Entgeltregulierung 1170 f.) 6 Schmidt-Preuß (Fn. 3), S. 551. 7 Grundlegend Schoch (Fn. 1), S. 1116 ff. 8 Zum Konzept Berlit, DVBl. 2015, 657 ff.; Gärditz, in: FS Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 689 ff.; Kahl, Droht die Entmachtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit durch die Zivilgerichte?, 2015, S. 99 ff. 9 Telekommunikationsgesetz v. 22. 6. 2004 (BGBl. I S. 1190), das zuletzt durch Art. 1 des G. v. 27. 6. 2017 (BGBl. I S. 1963) geändert worden ist. 10 BVerfGE 143, 216 ff. 11 Zum Regel-Ausnahmeverhältnis Fetzer, in: Kirchhof/Korte/Magen (Hrsg.), Öffentliches Wettbewerbsrecht, 2014, § 20 Rn. 24 f.
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Wirkung.12 Prozessrechtlich wird daher der Adressat einer Entgeltgenehmigung in der Regel Verpflichtungsklage auf die Genehmigung höherer Entgelte erheben müssen, wohingegen eine bloße Anfechtung die Rechtsschutzinteressen verfehlt.13 Beinhalten Entgeltgenehmigungen die vollständige oder teilweise Genehmigung eines vertraglich bereits vereinbarten Entgelts, so wirken sie nach § 35 Abs. 5 Satz 1 TKG zurück auf den Zeitpunkt der erstmaligen Leistungsbereitstellung durch das Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht. Dem Anliegen, die dauerhafte Lückenlosigkeit des Regulierungskonzepts sicherzustellen,14 wird so Rechnung getragen. Auch die rückwirkende Korrektur einer zu niedrig bemessenen Genehmigung (nach § 48 VwVfG15 oder aufgrund gerichtlicher Verpflichtung nach § 113 Abs. 5 VwGO) könnte daher an sich zu privatrechtlichen Nachzahlungsansprüchen des Wettbewerbers zugunsten des regulierten Unternehmens16 führen. Gerade dieses Risiko wird jedoch gesetzlich weitgehend begrenzt, freilich auf Kosten des Rechtsschutzes des regulierten Unternehmens: Das VG kann nämlich nach § 35 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 1 TKG im Verfahren nach § 123 VwGO, das durch Antrag innerhalb der Frist des § 35 Abs. 5 Satz 4 TKG einzuleiten ist, die vorläufige Zahlung eines beantragten höheren Entgelts nur dann anordnen, wenn überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Anspruch auf die Genehmigung des höheren Entgelts besteht. Hierin liegt eine Verschärfung der allgemeinen17 Anforderungen an einen Anordnungsanspruch,18 zumal gerade bei einem (hier nach § 35 Abs. 5 Satz 3 TKG) drohenden endgültigen Untergang von Rechten in der Regel die notwendige Erfolgswahrscheinlichkeit im Rahmen der Interessenabwägung herabzusenken ist.19 Der Maßstab des § 35 Abs. 5 Satz 2 TKG hat praktisch erfolgreichen Rechtsschutz weitgehend verhindert, weil das zuständige VG Köln bei summarischer Prüfung angesichts der extrem komplexen ökonomischen Beurteilungen, die einer Entgeltgenehmigung unvermeidbar zugrunde liegen, die Erfolgsaussichten meist als offen beurteilt hat.20 Dass das Gesetz nach § 35 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 TKG von der Darlegung eines Anordnungsgrundes dispensiert, bedeutet keine kom12
Hierzu Kühling/Schall/Biendl, Telekommunikationsrecht, 2. Aufl. (2014), Rn. 379. Christiansen, Optimierung des Rechtsschutzes im Telekommunikations- und Energierecht, 2013, S. 43. 14 Ausdrücklich BVerwGE 143, 87, 100. 15 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 13. 6. 2007 – 6 VR 5.07, Buchholz § 80 VwGO Nr. 74 Rn. 21; Urt. v. 14. 12. 2011 – 6 C 36.10, NVwZ-RR 2012, 192 (194), Rn. 21. 16 Auf Dritte hat die Kassation keine Auswirkungen: Hölscher, in: FS Klaus-Peter Dolde, 2014, S. 563 (577). 17 Stellvertretend Dombert, in: Finkelnburg/ders./Külpmann (Hrsg.), Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. (2017), Rn. 135 ff.; Kuhla, in: Posser/Wolff (Hrsg.), VwGO, 2. Aufl. (2014), § 123 Rn. 76 ff.; Schenke, in: Kopp/ders. (Hrsg.), VwGO, 23. Aufl. (2017), § 123 Rn. 25 f.; Wollenschläger, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2. Aufl. (2018), § 123 Rn. 102 ff. 18 BVerwG, Beschl. v. 10. 12. 2014 – 6 C 16.13, MMR 2015, 624 Rn. 88. 19 Schmidt-Preuß (Fn. 3), S. 604. 20 Heinickel, NVwZ 2014, 1236. 13
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pensatorische Erleichterung, weil ein solcher Anspruch mit Blick auf den endgültigen Rechtsverlust nach § 35 Abs. 5 Satz 3 TKG ohnehin durchweg gegeben wäre.21 Dafür werden die Entscheidungsfolgen im Hauptsacheverfahren substantiell eingeschränkt: Verpflichtet das VG die BNetzA zur Erteilung einer Genehmigung für ein höheres Entgelt, so entfaltet diese Genehmigung gemäß § 35 Abs. 5 Satz 3 TKG die Rückwirkung nach § 35 Abs. 5 Satz 1 TKG nur, wenn eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO ergangen ist („Rückwirkungssperre“22). Dies ist keine bloße temporale Einschränkung der Genehmigungswirkung; der zeitliche Geltungsbereich der Genehmigung, die den Streitgegenstand mitkonstituiert, ergibt sich aus § 35 Abs. 1 Satz 1 TKG und bezieht sich zweifelsfrei – wie § 35 Abs. 5 Satz 2 TKG verdeutlicht – auf Zeiträume vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Vielmehr werden die Rechtsfolgen einer erfolgreichen Klage begrenzt und von einer prozessualen Bedingung (nämlich dem Erlass einer einstweiligen Anordnung) abhängig gemacht, die mit dem materiell-rechtlichen Genehmigungsinhalt nichts zu tun hat. Das Gericht kann zwar zur Genehmigung verpflichten, der zulässige Verpflichtungsinhalt ist aber von Gesetzes wegen auf zukünftige Regelungswirkungen begrenzt, was in der Sache die allgemeine Kompetenz des Gerichts nach § 113 Abs. 5 VwGO sowie den reziproken prozessualen Verpflichtungsanspruch des Klägers beschneidet. Die unverkürzte Verpflichtung, zugunsten des zugangsverpflichteten Unternehmens höhere Entgelte mit Wirkung für die Zukunft zu genehmigen, ist praktisch von begrenzter Bedeutung, weil eine rechtskräftige Hauptsacheentscheidung kaum vor Ablauf der jeweiligen – aufgrund der Volatilität der Märkte, die allgemein nur intertemporale Regulierung zulässt,23 knapp bemessenen24 – Genehmigungsperiode zu erlangen ist.25 Die Option einer Fortsetzungsfeststellungsklage bleibt hiervon zwar unberührt,26 kann aber allenfalls zukunftsgerichtete Klarstellungsinteressen,27 nicht hingegen die ökonomischen Interessen an einem höheren Entgelt befriedigen. Letztlich entscheidet damit also das Verwaltungsgericht im Eilrechtsschutz, gegen dessen Entscheidung keine Beschwerde zulässig ist (§ 137 Abs. 3 Satz 1 TKG), erst- und letztinstanzlich über mögliche Ansprüche auf höhere Entgelte. Ungeachtet der damit verbundenen Herausforderungen, effektiven Rechtsschutz sicherzustellen, ist dies schon angesichts der extrem hohen wirtschaftlichen Bedeutung 21
Gegenläufig Neumann/Koch, Telekommunikationsrecht, 2. Aufl. (2013), Rn. 347, die allein die Verzögerungsrisiken in den Blick nehmen. 22 BVerwG, Beschl. v. 10. 12. 2014 – 6 C 16.13, MMR 2015, 624 Rn. 78 f. 23 Eingehend Bews, Bewirtschaftungsrecht, 2017, S. 274 ff. 24 S. zudem zur Praxis der BNetzA, vorläufige Entgeltgenehmigungen zu erteilen, um Zeit für das Konsultations- und Konsolidierungsverfahren nach Art. 6 – 7 TK-RRL zu gewinnen: BVerwG, Urt. v. 31. 1. 2017 – 6 C 2.16, N&R 2017, 174. 25 BVerfGE 143, 216 Rn. 27. 26 BVerwG, Beschl. v. 10. 12. 2014 – 6 C 16.13, MMR 2015, 624 Rn. 87. 27 Zutreffend Neumann/Koch (Fn. 21), Rn. 348.
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auch nur kleinster Abweichungen bei der Entgeltbemessung ein eher beunruhigendes Szenario. Letztlich sollen hierdurch die zugangsberechtigten Unternehmen vor möglichen Nachzahlungsansprüchen und den insoweit notwendigen Rückstellungen geschützt werden,28 die erhebliche ökonomische Hürden für einen Marktzutritt markieren. Aspekte der Planungssicherheit des regulierten Unternehmens, demgegenüber die mit der Entgeltgenehmigungspflicht einhergehenden Belastungen in erster Linie zu rechtfertigen sind, sprechen für eine möglichst große Stabilität der Regulierung während des Regulierungszeitraums, um im Interesse der Förderung nachhaltig wettbewerbsorientierter Märkte (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 TKG) Marktteilnehmern „eine hinreichend verlässliche Kalkulations- und Planungsgrundlage für ihre Investitionsentscheidungen“ zur Verfügung zu stellen.29 Wie das BVerwG ausgeführt hat, würde die Ungewissheit über das zu zahlende Entgelt den vom Gesetz bezweckten Marktzutritt von Wettbewerbern spürbar behindern.30 Das Prozessrecht wird hier den materiellen Regulierungszielen untergeordnet, der effektive Rechtsschutz des Unternehmens, dem Zugangsverpflichtungen (§ 21 TKG) auferlegt werden, wird weniger als notwendige Konsequenz rechtsstaatlicher Regulierung, sondern eher als Störungsquelle wahrgenommen.31 Auch die Folgen sind einseitig; zwar wird Vertrauen in die Stabilität der Entgeltregulierung hergestellt, was Wettbewerber davor schützt, Rücklagen für eine nachträgliche Zahlung rückwirkender Mehrentgelte bilden zu müssen; das regulierte Unternehmen muss jedoch weiterhin Rückstellungen bilden,32 wird also insoweit erheblich gegenüber Wettbewerbern benachteiligt. II. Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Rechtsschutz im Entgeltgenehmigungsverfahren Die Regelung wurde daher mit Recht von Anfang an im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG kritisch betrachtet,33 was zu vier Vorlagebeschlüssen des BVerwG nach Art. 100 Abs. 1 GG34 und letztlich zur Kassation der Regelung durch das BVerfG35 im November 2016 geführt hat. 28
Etwa BT-Drs. 15/2316, S. 69 f.; Groebel, in: Säcker (Hrsg.), TKG, 3. Aufl. (2013), § 35 Rn. 81; Ludwigs, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2. Aufl. (2018), §§ 137 – 139 TKG Rn. 13. 29 BVerwGE 143, 87, 113 f. 30 BVerwGE 151, 56 Rn. 89. 31 So schon allgemein Schorkopf, JZ 2008, 20 (24). 32 BVerwGE 151, 56 Rn. 99. 33 Etwa Berger-Kögler/Cornils, in: Geppert/Schütz (Hrsg.), TKG, 4. Aufl. (2013), § 35 Rn. 136; Gramlich, N&R 2013, 102 (105); Höffler, in: Arndt/Fetzer/Scherer/Graulich (Hrsg.), TKG, 2. Aufl. (2015), § 35 Rn. 47; kritisch aber letztlich offen gelassen Neumann/Koch (Fn. 21), Rn. 348 ff.; anders Groebel (Fn. 28), § 35 Rn. 81. 34 BVerwGE 151, 56; 149, 94; Beschl. v. 10. 12. 2014 – 6 C 16.13, MMR 2015, 624; Beschl. v. 25. 2. 2015 – 6 C 33.13, NVwZ 2015, 1143. 35 BVerfGE 143, 216 ff.
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1. Anspruch auf effektiven Rechtsschutz Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vermittelt nach etablierter Interpretation nicht nur, dass gegen Akte öffentlicher Gewalt überhaupt Rechtsschutz eröffnet ist, sondern auch, dass dieser effektiv ist.36 Grundrechtsträger haben einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen prozessrechtlich zur Verfügung gestellten Instanzen37, und zwar nicht nur gegen Eingriffe in geschützte Rechtspositionen, sondern auch gegen die Versagung gesetzlicher Leistungsansprüche.38 Effektiver Rechtsschutz schließt es ein, dass die Gerichte angefochtene Verwaltungsentscheidungen „in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen“ haben, namentlich grundsätzlich nicht an externe Beurteilungen gebunden sind.39 In multipolaren Konfliktlagen steht jedem Betroffenen ein eigenständiger Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) zu.40 In einem gerichtlichen Verfahren, das ein reguliertes Unternehmen oder ein Wettbewerber gegen eine von der BNetzA erteilte Entgeltgenehmigung (§§ 30 ff. TKG) anstrengt, muss es folglich möglich sein, ohne Abstriche die Rechtmäßigkeit sowie – vorbehaltlich etwaiger Beurteilungsspielräume41 – die Richtigkeit der tatsächlichen Grundlagen praktisch wirksam überprüfen zu lassen. Eine lediglich summarische Prüfung ist dann grundsätzlich nicht ausreichend, wenn kein wirksamer Rechtsschutz in der Hauptsache zur Verfügung steht;42 in diesem Fall muss ggf. das Eilverfahren die Funktionen des regulären Kontrollverfahrens übernehmen.43 36
BVerfGE 40, 272, 275; 55, 349, 369; 60, 253, 269; 97, 218, 315; 113, 273, 310; 116, 1, 18; 129, 1, 20 ff.; Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 3, 6. Aufl. (2010), Art. 19 Rn. 459 ff.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 7. Aufl. (2014), Art. 19 Rn. 143; SchulzeFielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. (2013), Art. 19 IV Rn. 80 f., 94 ff., 106 ff.; Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 165 ff., 174; Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 203 f. 37 BVerfGE 40, 272, 275; 113, 273, 310; 129, 1, 20. 38 BVerfGE 31, 33, 39 f.; 46, 166, 177 ff.; 60, 253, 297 f.; 79, 69, 74; 116, 1, 11 f.; 129, 1, 20. 39 BVerfGE 15, 275, 282; 61, 82, 110 f.; 84, 34, 49; 84, 59, 77; 101, 106, 123; 103, 142, 156; 129, 1, 20. 40 Schmidt-Preuß (Fn. 3), S. 551. 41 Traditionell entbindet ein Beurteilungsspielraum das Gericht nicht davon, die Richtigkeit der zugrunde gelegten, dem Beweis zugänglichen Tatsachen zu prüfen: BVerfGE 84, 34, 54; BVerwGE 60, 245, 252; 62, 330, 340; 68, 330, 337; 70, 143, 149; 73, 378, 376; 77, 75, 78. Nach einer im Naturschutzrecht herausgebildeten Rechtsprechungslinie kann sich ein Beurteilungsspielraum auch auf die zugrunde liegenden tatsächlichen Wertungen beziehen. S. BVerwGE 130, 299, 327; 131, 274, 296; 134, 308, 316 f.; BVerwG, Beschl. v. 28. 11. 2013 – 9 B 14.13, DVBl. 2014, 237 (239 f., 241); Urt. v. 6. 4. 2017 – 4 A 16.16, Rn. 28; BayVGH, Urt. v. 19. 2. 2014 – 8 A 11.40064 u. a., Rn. 689; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18. 1. 2013 – 11 D 70/09.AK, DVBl. 2013, 374 (379); Urt. v. 29. 3. 2017 – 11 D 70/09.AK, Rn. 257; VG Freiburg, Urt. v. 31. 7. 2010 – 2 K 192/08, Rn. 281. Anerkennt man Funktionsgrenzen auch des Beweismittelrechts, ist dies jedenfalls konsequent und sachgerecht. 42 BVerfGE 67, 43, 61 f.; 69, 315, 363 f.; 79, 69, 74 f.; 94, 166, 216; Dombert (Fn. 17), Rn. 116, 118; Schenke (Fn. 17), § 123 Rn. 25.
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2. Rechtsschutzdefizite des § 35 Abs. 5 TKG nach der Entscheidung des BVerfG v. 22. 11. 2016 Das BVerfG stellt zutreffend fest, dass der Maßstab der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nach § 35 Abs. 5 Satz 3 TKG hinter einer vollständigen Prüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zurückbleibt, die – wie dargelegt – eigentlich bei einer Vorwegnahme der Hauptsache geboten wäre.44 Dieser ohnehin schon verdünnte Rechtschutz würde sogar faktisch ins Leere laufen, wenn man zudem eine überwiegende Wahrscheinlichkeit verlangen würde, dass in der Hauptsache eine konkrete Verpflichtung ausgesprochen wird, konkrete (erhöhte) Entgelte zu genehmigen. Denn die von der Rechtsprechung anerkannten45 Beurteilungsspielräume der BNetzA bei der Entgeltberechnung würden so gut wie immer der Spruchreife der Verpflichtungsklage (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) entgegenstehen;46 in der Hauptsache könnte daher nur ein Bescheidungsurteil ergehen, aus dem sich allenfalls eine Prüfpflicht erhöhter Entgelte nach Maßgabe der Rechtsauffassung des Gerichts ergibt. a) Verfassungskonforme Auslegung: Überholen der Hauptsache? Das BVerfG hält freilich insoweit noch eine verfassungskonforme Auslegung für möglich, wonach ein Eilantrag – über die fiktiven Entscheidungsoptionen in der Hauptsache hinausgehend47 – bereits dann Erfolg hat, wenn es überwiegend wahrscheinlich ist, dass ein Bescheidungsurteil gegen den Bund ergehen würde.48 Das Gericht kann hiernach also kraft eigener Gestaltungsermächtigung49 im Eilverfahren die 43 Siehe namentlich für die Anforderungen im beamtenrechtlichen Konkurrentenstreit nach § 123 VwGO mit Blick auf die Ämterstabilität BVerfG-K, Beschl. v. 24. 9. 2002 – 2 BvR 857/ 02, NVwZ 2003, 200; Beschl. v. 9. 7. 2007 – 2 BvR 206/07, BVerfG-K 11, 398, 401; Beschl. v. 4. 2. 2016 – 2 BvR 2223/15, NVwZ 2016, 764 Rn. 100; BVerwGE 118, 370, 373; 124, 99, 106; 136, 140, 145; 138, 102, 110 f. 44 BVerfG, Beschl. v. 22. 11. 2016 – 1 BvL 6/14 u. a., MMR 2017, 321 (322), Rn. 29. S. auch BVerwG, 10. 12. 2014 – 6 C 16.13, MMR 2015, 624 Rn. 86 f. 45 BVerwGE 148, 48 Rn. 32 f.; BVerwG, Beschl. v. 10. 12. 2014 – 6 C 16.13, MMR 2015, 624 Rn. 27, 43, 58 ff.; ferner Neumann/Koch (Fn. 21), Rn. 351 f. 46 So noch in den Vorlagebeschlüssen BVerwGE 151, 56 Rn. 89; 149, 94 Rn. 29 f.; Beschl. v. 10. 12. 2014 – 6 C 16.13, MMR 2015, 624 Rn. 89; Beschl. v. 25. 2. 2015 – 6 C 33.13, NVwZ 2015, 1143 (1149), Rn. 62. Ebenso die vorherige erstinstanzliche Rechtsprechung, z. B. VG Köln, Beschl. v. 1. 12. 2011 – 21 L 335/11, Rn. 20 ff.; Beschl. v. 5. 12. 2011 – 1 L 793/11, Rn. 30 ff. Ferner analytisch Berger-Kögler/Cornils (Fn. 33), § 35 Rn. 127. Gemessen an der Rechtsprechung des BVerwG – etwa BVerwGE 63, 110, 112 – ist dies durchaus konsequent; berechtigte Kritik hieran freilich bei Puttler, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, 4. Aufl. (2014), § 123 Rn. 107 f. 47 BVerfGE 143, 216 Rn. 45. Allgemein zur prozessrechtlichen Diskussion, ob ein solches Überschreiten der Hauptsache zulässig ist: Puttler (Fn. 46), § 123 Rn. 12, 106 ff., m.w.N. 48 BVerfGE 143, 216 Rn. 46. 49 Kühling/Schall/Biendl (Fn. 12), Rn. 384.
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BNetzA zur vorläufigen Genehmigung eines höheren Entgelts verpflichten,50 was im Hauptsacheverfahren in der Regel nicht möglich ist. Diese Überholung der Hauptsache durch das Eilverfahren mag man prozessual als Ausnahmekonstellation konstruieren können; dass dies „prozessrechtlich unüblich“ sein mag, ist in der Tat kein Sachgrund, der gegen die Verfassungskonformität einer entsprechenden Lösung spricht.51 Das Konzept erscheint aber ungeachtet dessen im konkreten Kontext wenig überzeugend. Wenn die BNetzA über Beurteilungsspielräume verfügen soll, die vor allem damit begründet werden, dass die Entgeltgenehmigung auch nicht reproduzierbare Wertungen52 einschließe,53 stellt sich die Frage, was das VG eigentlich zusprechen soll. Wäre das VG in der Lage, rational ein konkretes Entgelt zu ermitteln, das unter gegebenen Prämissen aus den Vorgaben der §§ 32 – 34 TKG deduziert werden kann, erschiene es nach den allgemeinen Maßgaben der verfassungsrechtlichen Anforderungen54 schon nicht zu rechtfertigen, überhaupt einen Beurteilungsspielraum anzuerkennen. Immerhin wäre es denkbar, dass man die von der BNetzA ermittelten Tatsachen55 und gewählten Methoden zugrunde legt,56 sofern diese nicht zu beanstanden sind, und konsequent nach Maßgabe rechtlicher Parameter anwendet. Sachverhaltsfeststellung ist freilich verfahrenstheoretisch immer eine Konstruktionsleistung des jeweiligen Verfahrens57 und dessen Leistungsstärken wie -schwächen sind institutionell gebunden. Es ist keineswegs ausgemacht, dass das neutralisierende und distanzierende Setting eines gerichtlichen (Hauptsache)Verfahrens nicht vielleicht andere Tatsachen als das Verwaltungsverfahren der BNetzA produzieren würde.58 Ange50 Anders als der Wortlaut suggeriert, wird § 35 Abs. 5 Satz 2 TKG von der Rechtsprechung dahingehend ausgelegt, dass keine Anordnung einer Zahlung durch das Gericht erfolgen darf, sondern lediglich eine Verpflichtung der Regulierungsbehörde zur Erteilung einer vorläufigen höheren Entgeltgenehmigung: VG Köln, Urt. v. 24. 5. 2007 – 1 K 3109/06, Rn. 30. 51 BVerfGE 143, 216 Rn. 45. 52 Zu diesem Kriterium allgemein Klement, Verantwortung, 2006, S. 295; Ramsauer, in: FS 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 699 (716 ff.); Wimmer, JZ 2010, 433 (439). 53 BVerwGE 130, 39, 48. 54 BVerfGE 129, 1, 21 ff. 55 BVerfGE 143, 216 Rn. 49. 56 Beurteilungsermächtigungen beziehen sich vor allem hierauf, vgl. Garbers, RdE 2015, 221 (226 f.). 57 Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014, S. 46 f.; Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, 2012, S. 22 f.; Gärditz, in: FS Hans-Ullrich Paeffgen, 2015, S. 439 (446 ff.); Hoffmann-Riem, in: Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 11 (37); ders., in: ders./Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, S. 9 (23 ff.); Reimer, Verfahrenstheorie, 2015, S. 285, 334 ff.; Rosen, Law as Culture, 2006, S. 68 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, 2015, S. 22 – 47; Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, S. 97 f.; Trute, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 115 (130). 58 Die Formel von der umfassenden „Zweitermittlung“ – Dawin, in: Schoch/Schneider/ Bier (Hrsg.), VwGO, Stand: 2017, § 86 Rn. 23; Schmidt-Aßmann (Fn. 1), S. 242 – ist eher
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sichts der erheblichen Unsicherheiten im Umgang mit Tatsachen, die in anderen Rechtsgebieten die Verwaltungsrechtsprechung herausfordern,59 ist nicht wirklich klar, warum die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung spezifisch im Regulierungsrecht zu weitreichenden administrativen Letztentscheidungsrechten führen müssen. Letztlich hat die Rechtsprechung, die sich voreilig (obgleich mit grundsätzlicher Billigung des BVerfG60) in ein konturenarmes „Regulierungsermessen“61 bzw. in Bezug auf die Entgeltregulierung in einen analog strukturierten Beurteilungsspielraum62 geflüchtet hatte,63 bislang die (auch unionsrechtlich nicht verstellten64) Potentiale gerichtlicher Nachrationalisierung nicht ausgeschöpft.65 Anerkennt man hingegen einen Beurteilungsspielraum, kann das VG kaum eine eigene Entscheidung über die Höhe des zu genehmigenden Entgelts treffen, die missverständlich, weil es letztlich um parallele Konstruktionen geht, nur die gerichtliche qua institutioneller Überordnung qua Kompetenzzuweisung als die letztlich maßgebliche gilt. Siehe verfahrenstheoretisch nur Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 244 ff. 59 Rennert, DVBl. 2017, 69 (77). 60 BVerfG-K, Beschl. v. 8. 12. 2011 – 1 BvR 1932/08, DVBl. 2012, 230 ff. Kritisch Gärditz, Die Verwaltung 46 (2013), 257 (274 ff.); Durner, DVBl. 2012, 299 ff.; Heller, EWerK 2012, 50 ff.; Sachs/Jasper, NVwZ 2012, 649 (652 f.); Winkler, MMR 2012, 188 (189). 61 BVerwGE 131, 41, 47; BVerwG, Urt. v. 27. 1. 2010, 6 C 22.08, NVwZ 2010, 1359 (1361); Urt. v. 23. 11. 2011, 6 C 11.10, Rn. 38, NVwZ 2012, 1047 (1051); Urt. v. 23. 11. 2011, 6 C 12.10, Rn. 38; Urt. v. 23. 11. 2011, 6 C 13.10, Rn. 38. 62 BVerwGE 148, 48, Rn. 18, 33. Entsprechend für die Entgeltregulierung im Energierecht auch BGH, Beschl. v. 21. 1. 2014 – EnVR 12/12, RdE 2014, 276 (277), Rn. 10; Beschl. v. 22. 7. 2014 – EnVR 59/12, RdE 2014, 495 (497). 63 Kritisch Attendorn, DVBl 2008, 1408 (1411); Durner, VVDStRL 70 (2011), 398 (429 f.); Gärditz, NVwZ 2009, 1005 ff.; Hwang, Bestimmte Bindung unter Unbestimmtheitsbedingungen, 2013, S. 106; Pielow, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. (2015), Kap. 56 Rn. 62 f.; Romes, Supranationale Intervention in nationale Regulierungsverfahren, 2011, S. 116 ff.; Werkmeister, K&R 2012, 226 ff.; Wimmer, JZ 2010, 433 (438); differenzierend Ludwigs, JZ 2009, 290 (294 ff.). 64 Das Unionsrecht schließt eine intensivere Kontrolldichte nach nationalem Recht nicht aus, solange eine effektive Durchsetzung des Unionsrechts nicht gefährdet ist. Etwa Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 263. Soweit der EuGH weitgehende Entscheidungsspielräume der nationalen Regulierungsbehörde gefordert hat (EuGH, Urt. v. 3. 12. 2009 – C-424/07 [Kommission/Deutschland], Slg. 2009, I11431, Rn. 61, 74, 91), betraf dies das Verhältnis der Behörde zur Legislative, nicht zur Gerichtsbarkeit (Gärditz, Die Verwaltung 46 [2013], 257 [272]; Ludwigs, Die Verwaltung 44 [2011], 41 [68 f.]; ders., RdE 2013, 297 ff.; Pielow, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß [Hrsg.], Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2015, Kap. 56 Rn. 21; Proelß, AöR 136 [2011], 402 [424]). Eine relative Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden gegenüber politischen Stellen, die das geltende Unionsrecht (inhaltlich begrenzt) vorsieht (vgl. Art. 3 Abs. 3a TKRRL), bedeutet nicht zwingend auch eine Zurücknahme der Kontrolldichte durch Gerichte (Gärditz, DVBl. 2016, 399 ff.; Hoffmann-Riem, in: ders./Schmidt-Aßmann/Voßkuhle [Hrsg.], Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 10 Rn. 54). 65 Gärditz, NVwZ 2009, 1005 (1010). Immerhin das Kontrollniveau auf der Basis einer strikten Plausibilitätskontrolle der Begründung der BNetzA erhöhend BVerwGE 148, 48, Rn. 37 ff.; vgl. auch VG Köln, Urt. v. 16. 7. 2014 – 21 K 2941/09, Rn. 85; Urt. v. 22. 1. 2014 – 21 K 2745/09, Rn. 40; Urt. v. 22. 1. 2014 – 21 K 2807/09 Rn. 71.
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rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügt. Entgeltregulierung beruht auf filigraner Technizität von ökonomischen Methoden und ist mit der Zugangsregulierung in ein komplexes Gesamtkonzept integriert,66 womit wiederum schon unter Normalbedingungen eines Verwaltungsverfahrens die Gefahr erheblicher Ungenauigkeiten einhergeht.67 Im Eilrechtsschutz wird daher das erkennende VG letztlich in eine Zufallsentscheidung gedrängt. Dass ein eher erratisches Zahlenraten unter Zeitdruck noch den Anforderungen an effektiven Rechtsschutz genügt, drängt sich nicht auf. Das BVerfG erkennt die Probleme zwar,68 meint aber gleichwohl, eine funktionelle Überforderung des erkennenden VG ausschließen zu können.69 Realistisch ist dies nicht; materiell-rechtliche Unterdetermination des Regulierungshandelns, begrenzte Kontrollansätze der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Zeitdruck bei einer Intervention in das dynamische sowie höchst komplexe Marktgeschehen durch Eilentscheidung amalgamieren letztlich zu einem Klumpen, der die dünnen Kanäle möglichen Rechtsschutzes verstopft, ohne dass die vom BVerfG vorgeschlagene verfassungskonforme Auslegung hieran Substanzielles ändern würde. b) Verfassungswidrigwerden der Rechtsschutzhindernisse durch Marktentwicklung Ungeachtet dessen gelangt das BVerfG überzeugend zu dem Ergebnis, dass die ursprünglich verfassungskonforme Regelung verfassungswidrig geworden sei.70 Denn die weitgehende Einschränkung des Rechtsschutzes sei nicht mehr generell in allen Teilen des Marktes und zugunsten sämtlicher Wettbewerber erforderlich. Nicht alle Wettbewerber seien so finanzschwach, dass sie von vornherein vor möglichen Nachzahlungen geschützt werden müssten.71 Bemerkenswert ist, dass das BVerfG hier kurzerhand die sorgfältigen Feststellungen des BVerwG zugrunde legt, die sich anhand anderer verfügbarer Quellen nicht widerlegen ließen und denen auch die Bundesregierung nicht substantiiert entgegengetreten sei.72 Insoweit 66 Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, 2013, S. 330. 67 Fetzer, Staat und Wettbewerb in dynamischen Märkten, 2013, S. 242. 68 BVerfGE 143, 216 Rn. 47: „Allerdings kann es das Gericht im Fall eines behördlichen Beurteilungsspielraums praktisch vor eine schwierige Aufgabe stellen, wenn es entscheiden soll, ob das Bestehen des höheren Entgeltanspruchs überwiegend wahrscheinlich ist. Mit der Einräumung des Beurteilungsspielraums hat der Gesetzgeber dem Gericht die abschließende Entscheidung einer Sachfrage gerade deshalb entzogen, weil die gerichtliche Kontrolle insoweit an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stößt. Um eine Anordnung nach § 35 Abs. 5 Satz 2 TKG treffen zu können, müsste das Gericht aber doch immerhin über die Wahrscheinlichkeit entscheiden, dass ein Anspruch auf Genehmigung eines höheren Entgelts besteht“. 69 BVerfGE 143, 216 Rn. 48. 70 BVerfGE 143, 216 Rn. 56. 71 BVerfGE 143, 216 Rn. 58. 72 BVerfGE 143, 216 Rn. 59 ff.
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wird einerseits die Erkenntnisfunktion des fachgerichtlichen Verfahrens genutzt, an das – auch mit Blick auf das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG)73 – grundsätzlich angeknüpft werden kann. Andererseits entledigt sich das BVerfG zugleich eigener empirischer Untersuchungen, obgleich es hier ausnahmsweise einmal um Fragen geht, die durchaus dem Beweis zugänglich wären. Normativität und Faktizität werden über Eignung und Erforderlichkeit im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung verkoppelt.74 Den relevanten Fakten, die vorliegend ausnahmsweise die Entscheidung tragen (und nicht – wie üblich – normative Wertungen der Angemessenheitskontrolle) wird verfassungsprozessual ausgewichen,75 und zwar durch institutionelle Arbeitsteilung mit der Fachgerichtsbarkeit.76 Gerade die Fachgerichtsbarkeit kann neben der fallbezogenen Beweisaufnahme auch fallübergreifendes Erfahrungswissen aufbauen, was im Wirtschaftsrecht insbesondere dort ergiebig ist, wo es um ganz konkrete Märkte mit einer überschaubaren Gruppe an Akteuren geht. Insoweit ist der Umgang mit den legislative facts77 hier auch nicht zu beanstanden; nicht darüber hinwegtäuschen kann dies allerdings, dass sich die Frage der Verfassungskonformität des § 35 Abs. 5 TKG auch in einem abstrakten Normenkontrollverfahren hätte stellen können, in dem ein vergleichbarer Zugriff auf einen aufbereiteten Tatsachenstoff nicht möglich gewesen wäre. Diese unterschiedlichen institutionellen Zugänge zum BVerfG, das hier den Zugriff auf Tatsachen nach Verfahrensarten differenziert,78 insoweit aber evident ergebnisrelevant zu divergenten Wahrnehmungen des Realbereichs gelangen kann, erscheinen bislang noch unzureichend reflektiert. Das pragmatische muddling through, mit dem das BVerfG hier einen komplexen ökonomischen Befund rezipiert, mag seinen rauen Charme und im Fall zu richtigen Ergebnissen geführt haben, lässt aber ein normatives Konzept der Tatsachenfeststellung, die auch die Gewaltengliederung berührt, nicht wirklich erkennen.
73 Zu dessen Funktion, gerade auch die Erkenntnisse der Fachgerichtsbarkeit über den Realbereich zu nutzen, siehe BVerfGE 68, 376, 380; 79, 1, 20; 86, 15, 27; 114, 258, 280; Henke, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, 2015, § 90 Rn. 149. 74 Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 128; Reimer, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 60 (67); Starck, in: von Mangoldt/Klein/ ders. (Hrsg.), GG, 6. Aufl. (2010), Art. 1 Rn. 280. 75 Analytisch-rechtsvergleichend hierzu Lepsius, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 319 ff.; dezidiert kritisch Petersen, Der Staat 49 (2010), 435 ff.; ders., I CON 11 (2013), S. 294 ff. 76 Siehe zum insoweit differenzierten Vorgehen des BVerfG allgemein Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. (2012), Rn. 312; Haberzettl, in: Burkiczak/Dollinger/ Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, 2015, § 26 Rn. 13, 16. 77 Allgemein BVerfGE 77, 360, 362; Gärditz, in: FS Ingeborg Puppe, 2011, S. 1557 ff.; Lepsius, JZ 2005, 1. 78 Haberzettl (Fn. 76), § 26 Rn. 10 ff. *
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c) Der Rechtsschutz im Sog des materiellen Rechts Überzeugend führt das BVerfG aus, dass es die tatbestandlich vorausgesetzte Marktmacht überhaupt erst rechtfertigt, Unternehmen der Zugangs- und Entgeltregulierung zu unterwerfen, und dieses Argument daher nicht aus sich heraus auch Rechtsschutzbeschränkungen trägt, zumal sich die Frage der Marktmacht gleichermaßen auch für die Wettbewerber stellen würde.79 Insoweit komme es nicht auf die Marktmacht der regulierten Unternehmen an, sondern auf den Förderbedarf der Wettbewerber und damit auf deren Finanzschwäche oder -stärke. Solche Erwägungen spielten bisweilen auch früher schon eine Rolle im Rahmen des § 123 VwGO.80 Die insoweit zu undifferenzierte Regelung des § 35 Abs. 5 TKG sei – so das BVerfG – daher nicht mehr von der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers gedeckt.81 Es sei „Aufgabe des Gesetzgebers, teilmarktbezogen oder wettbewerberbezogen zu ermitteln und festzulegen, inwiefern eine entsprechende Wettbewerbsförderung weiterhin erforderlich ist“.82 Insoweit wird also in der Sache die Beschränkung des effektiven Rechtschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG einer Verhältnismäßigkeit unterworfen. Ankerpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist wiederum die vorausgesetzte Zweckbestimmung,83 die hier letztlich auf die Wettbewerbsziele der Regulierung verweist. Damit gerät aber der Rechtsschutz unweigerlich in den Sog des materiellen Rechts. Rechtsschutzstandards werden konkret abhängig von Marktlagen und Marktakteuren. Auch die – im Rahmen der §§ 82, 78 Satz 1 BVerfGG erlassene – Fortgeltungsanordnung wird damit begründet, „zu verhindern, dass in der Zwischenzeit der Wettbewerb, soweit er noch des Schutzes durch § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 TKG bedarf, Schaden erleidet“.84 Dies fügt sich freilich letztlich in die Praxis des BVerfG ein, die Frage der Fortgeltung verfassungswidriger Normen ganz allgemein an den prognostisch relationierten Gemeinwohlfolgen zu orientieren.85 III. Unionsrechtliche Anforderungen an den Rechtsschutz im Entgeltgenehmigungsverfahren In der Tat geht das BVerfG im Ergebnis zutreffend davon aus, dass jedenfalls das Unionsrecht dem Erlass einer verpflichtenden einstweiligen Anordnung nicht entge-
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BVerfGE 143, 216 Rn. 69. S. Schmidt-Preuß (Fn. 3), S. 598 f. 81 BVerfGE 143, 216 Rn. 71. So bereits Berger-Kögler/Cornils (Fn. 33), § 35 Rn. 136. 82 BVerfGE 143, 216 Rn. 72. 83 S. nur Lepsius, in: Jestaedt/ders. (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 1 (38). 84 BVerfGE 143, 216 Rn. 72. 85 Hierzu eingehend Graßhof, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, 2015, § 78 Rn. 49 ff. 80
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gensteht.86 Auch wenn das Verhältnis des Unionsrechts zum einstweiligen Rechtsschutz im indirekten Vollzug in seiner Entwicklung nicht ohne Ambivalenzen geblieben ist,87 ist doch der Auftrag an die nationalen Rechtsordnungen und deren Organe, effektiven Rechtsschutz zur Durchsetzung unionsrechtlich präformierter Rechte bereitzustellen, heute klar ausgewiesen (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV, Art. 47 GRCh) und lässt sich nicht mehr durch einseitige Privilegierungen der vollziehenden Gewalt deformieren. Das BVerfG fragt in seinem Beschluss zu § 35 TKG freilich auch nicht, welche Mindestanforderungen das Unionsrecht an den Rechtsschutz stellt, obgleich namentlich Unionsgrundrechte und damit der – ungeachtet seiner Direktionsbreite immer noch zu oft verkannte88 – unionsrechtliche Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 47 Abs. 1 GRCh) nach Art. 51 Abs. 1 GRCh vorliegend zu beachten sind, was ggf. eine präzisere Delimination der Entfaltungsräume deutscher und europäischer Grundrechte89 erforderlich gemacht hätte. Die Mitgliedstaaten stellen bereits nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 TK-RRL90 sicher, dass es auf nationaler Ebene wirksame Verfahren gibt, nach denen jeder Nutzer oder Anbieter elektronischer Kommunikationsnetze und/oder -dienste, der von einer Entscheidung einer nationalen Regulierungsbehörde betroffen ist, bei einer unabhängigen Beschwerdestelle einen Rechtsbehelf einlegen kann. Diese Stelle, die auch ein Gericht sein kann, muss nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 TK-RRL über angemessenen Sachverstand verfügen, um ihrer Aufgabe wirksam gerecht zu werden. Bis zum Abschluss eines Beschwerdeverfahrens bleibt die Entscheidung der nationalen Regulierungsbehörde nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 TK-RRL wirksam, sofern nicht nach Maßgabe des nationalen Rechts einstweilige Maßnahmen erlassen werden. Solche Maßnahmen müssen im Einzelfall durch einen gesonderten Akt erlassen werden, dürfen also nicht von Gesetzes wegen automatisch eintreten.91 Rechtsschutz muss hiernach zudem für jeden eröffnet sein, der durch eine Entscheidung in individuellen Rechten betroffen ist.92 Betroffen sind nicht nur die Adressaten einer Regulierungsentscheidung, sondern auch Wettbewerber, sofern sich die Entscheidung auf
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BVerfGE 143, 216 Rn. 50. Vgl. nur Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, S. 102 –
Mit Recht kritisch Schmidt-Aßmann (Fn. 1), S. 56 f. Hierzu stellvertretend m. z. Nachw. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 51 Rn. 8 ff.; Ladenburger/Vondung, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, 2016, Art. 51 Rn. 27 ff. 90 Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. 3. 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (ABl. L 108, S. 33); zuletzt geändert durch die Richtlinie 2009/140/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25. 11. 2009 (ABl. L 337, S. 37). 91 Die insoweit nicht unionsrechtskonforme Mechanik des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO wird daher von § 137 Abs. 1 TKG überspielt. 92 EuGH, Urt. v. 21. 2. 2008 – C-426/05 (Tele2 Telecommunication), Slg. 2008, I-685 Rn. 30 ff.; Urt. v. 22. 1. 2015 – C-282/13 (T-Mobile Austria), MMR 2015, 197 Rn. 33 ff. 89
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deren Marktstellung auswirkt.93 Dies setzt richtigerweise nicht zwingend voraus, dass der Wettbewerber auch in einer Vertragsbeziehung zum regulierten Unternehmen steht.94 Art. 4 TK-RRL ist wiederum unmittelbarer Ausdruck des primärrechtlichen Grundsatzes eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der allgemein anerkannt95 und nunmehr in Art. 47 GRCh96 expliziert ist.97 1. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes Art. 4 TK-RRL enthält keine weitergehenden Vorgaben hinsichtlich des Prozessrechts und der Entscheidungswirkung, sodass entsprechende Vorgaben im Rahmen der sog. Verfahrensautonomie98 durch das mitgliedstaatliche Recht unter Beachtung der aus Art. 4 Abs. 3 EUV bzw. justizspezifisch aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV99 abgeleiteten und auch im Prozessrecht geltenden100 Gebote der Äquivalenz und Effektivität101 festgelegt werden.102 Ein nationales Gericht muss insbesondere eine Ent93
EuGH, Urt. v. 22. 1. 2015 – C-282/13 (T-Mobile Austria), MMR 2015, 197 Rn. 37. EuGH, Urt. v. 24. 4. 2008 – C-55/06 (Arcor), Slg. 2008, I-2931 Rn. 177; BVerwGE 151, 268 Rn. 22; BVerwG, Urt. v. 1. 4. 2015 – 6 C 38.13, Rn. 23. 95 EuGH, Urt. v. 23. 4. 1986 – 294/83 (Les Verts), Slg. 1986, 1339, Rn. 23; Urt. v. 15. 10. 1987 – 222/86 (Unectef), Slg. 1987, 4097, Rn. 14 ff.; Urt. v. 25. 7. 2002 – C-50/00 P (Unión de Pequeños Agricultores), Slg. 2002, I-6677, Rn. 38 ff.; Urt. v. 13. 3. 2007 – C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271, Rn. 37; EuG, Urt. v. 8. 10. 2008 – T-411/06 (Sogelma), Slg. 2008, II-2771, Rn. 37. 96 Zu den dortigen Anforderungen an die praktische Wirksamkeit Alber, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, 2016, Art. 47 Rn. 62 ff. 97 EuGH, Urt. v. 21. 2. 2008 – C-426/05 (Tele2/Telekom-Control-Kommission), Slg. 2008, I-685 Rn. 30; Urt. v. 13. 10. 2016 – C-231/15 (Prezes UKE und Petrotel), NVwZ 2017, 299 Rn. 20; Urt. v. 22. 1. 2015 – C- 282/13 (T-Mobile Austria GmbH), MMR 2015, 197 Rn. 33. 98 EuGH, Urt. v. 19. 9. 2006 – C-392/04 und C-422/04 (i-21 Germany/Arcor), Slg. 2006, I8559 Rn. 57; Urt. v. 18. 3. 2010 – C-317/08 u. a. (Rosalba Alassini), Slg. 2010, I-2213, Rn. 47; Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 259 ff.; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 2013; Schoch, in: FG 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 507 (509 ff.); Skouris, DVBl. 2016, 937 (940); von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 302 ff. 99 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 4 Rn. 79. 100 EuGH, Urt. v. 24. 4. 2008 – C-55/06 (Arcor), Slg. 2008, I-2931 Rn. 170; Urt. v. 13. 10. 2016 – C-231/15 (Prezes UKE und Petrotel), NVwZ 2017, 299 Rn. 22 f.; Classen, in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 3. Aufl. (2015), § 4 Rn. 107 ff.; Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, S. 201 ff.; Gärditz, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014, § 35 Rn. 54 ff.; von Danwitz (Fn. 98), S. 277 ff. 101 Ständige Rspr., etwa EuGH, Urt. v. 2. 12. 1997 – C-188/95 (Fantask), Slg. 1997, I-6783 Rn. 39; Urt. v. 15. 9. 1998 – C-231/96 (Edilizia Industriale Siderurgica), Slg. 1998, I-4951 Rn. 35 f.; Urt. v. 9. 2. 1999 – C-343/96 (Dilexport), Slg. 1999, I-579 Rn. 26 f.; Urt. v. 19. 9. 2002 – C-336/00 (Huber), Slg. 2002, I-7736 Rn. 55; Urt. v. 19. 9. 2006 – C-392/04 und C-422/ 04 (i-21 Germany/Arcor), Slg. 2006, I-8559 Rn. 57 ff.; Urt. v. 18. 3. 2010 – C-317/08 u. a. (Rosalba Alassini), Slg. 2010, I-2213 Rn. 48; Urt. v. 13. 12. 2012 – C-215/11 (Szyrocka), 94
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scheidung der nationalen Regulierungsbehörde „rückwirkend aufheben können, wenn es der Auffassung ist, dass dies zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes für das Unternehmen erforderlich ist, das den Rechtsbehelf eingelegt hat“.103 Dies gilt nicht nur, wenn ein Wettbewerber Rechtsschutz gegen eine Entgeltgenehmigung auferlegt, weil er der Ansicht ist, diese genehmige zu hohe Tarife. Gleiches gilt auch, wenn das regulierte Unternehmen die Genehmigung höherer Tarife erstrebt. Insoweit können sich Unternehmen auch nicht auf Vertrauensschutz in den Bestand einer angegriffenen Entscheidung berufen, solange Rechtsschutz nach Art. 4 TK-RRL anhängig ist.104 „Dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 [TK-RRL] lässt sich klar entnehmen, dass die Entscheidung der [nationalen Regulierungsbehörde], die Gegenstand des Rechtsbehelfs ist, nach dieser Bestimmung nur bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens wirksam bleibt. Daher können Wirtschaftsteilnehmer, die an einem Rechtsbehelf im Sinne von Art. 4 Abs. 1 [TK-RRL] beteiligt sind, nicht darauf vertrauen, dass bei einer Aufhebung der in Rede stehenden Entscheidung der [nationalen Regulierungsbehörde] diese Aufhebung nicht ex tunc wirkt“.105 2. Folgerungen für den Rechtsschutz gegen Entgeltgenehmigungen Nun verlangt der EuGH nicht undifferenziert, dass eine Korrektur angegriffener Genehmigungen stets rückwirkend zu erfolgen hat. Er stellt dies vielmehr unter die Bedingung, dass eine rückwirkende Korrektur zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes – nach Maßgabe des nationalen Prozessrechts und seiner Optionen, die zuvörderst vom nationalen Gericht zu beurteilen sind – erforderlich ist. Im Zusammenspiel mit den Ausführungen zum Vertrauensschutz ergibt sich aber, dass die rückwirkende Korrektur jedenfalls der Normalfall ist. Effektiver Rechtsschutz scheitert in der Regel, wenn das hinter der Korrektur der angegriffenen Genehmigung stehende wirtschaftliche Interesse, nur bereinigte Entgelte zahlen zu müssen, im Prozess nicht erreichbar ist. Zudem hat der EuGH dem Argument „Vertrauensschutz“ von vornherein die Grundlage entzogen, weshalb sich Ausnahmen allein auf solche Argumente stützen lassen, die anderen schutzwürdigen Interessen der Allgemeinheit oder der
EuZW 2013, 147 Rn. 34; Urt. v. 17. 7. 2014 – C-169/14 (Sánchez Morcillo und Abril García), ECLI:EU:C:2014:1388 Rn. 31. Eingehend von Danwitz (Fn. 98), S. 483 ff. 102 EuGH, Urt. v. 24. 4. 2008, C-55/06 (Arcor), Slg. 2008, I-2931 Rn. 170; Urt. v. 13. 10. 2016 – C-231/15 (Prezes UKE und Petrotel), NVwZ 2017, 299 Rn. 22 f.; BVerwG, Urt. v. 29. 3. 2017 – 6 C 1.16, N&R 2017, 251 (253) Rn. 21. 103 EuGH, Urt. v. 13. 10. 2016 – C-231/15 (Prezes UKE und Petrotel), NVwZ 2017, 299 Rn. 23. 104 EuGH, Urt. v. 13. 10. 2016 – C-231/15 (Prezes UKE und Petrotel), NVwZ 2017, 299 Rn. 28 ff. 105 EuGH, Urt. v. 13. 10. 2016 – C-231/15 (Prezes UKE und Petrotel), NVwZ 2017, 299 Rn. 30.
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Wettbewerber dienen. Rechtssicherheit als solche ist daher kein unionsrechtlich tragfähiger Grund, nachträglichen Rechtsschutz zu verkürzen.106 a) Äquivalenter Rechtsschutz? Das Gebot der Äquivalenz107 verlangt, dass Unionsrecht nach gleichwertigen Standards durchgesetzt wird wie nationales Recht. Schon hieran ließe sich in Bezug auf § 35 Abs. 5 Sätze 2 – 3 TKG zweifeln. Im Entgeltgenehmigungsverfahren verwirklichen sich prozedurale und materielle Rechte der Marktakteure nach TKRRL und (damit eng verkoppelt108) nach TK-ZRL;109 diese Rechte werden flankiert durch einen eigenständigen Rechtsschutzanspruch nach Art. 4 TK-RRL. Sowohl der Maßstab des § 35 Abs. 5 Satz 2 TKG als auch die Rechtsschutzbeschränkung in der Hauptsache nach § 35 Abs. 5 Satz 3 TKG – erst recht beides in Kombination – sind exzeptionelle Erschwernisse, die das deutsche Verwaltungsprozessrecht anderweitig nicht kennt. In anderen dem nationalen Recht bekannten Ausnahmekonstellationen, in denen auf Besonderheiten des materiellen Rechts Rücksicht genommen und Rechtsschutz in der Hauptsache blockiert wird (z. B. Ämterstabilität im Beamtenrecht110, Kapazitätserschöpfungsfälle111), muss das Eilverfahren im Wesentlichen der Hauptsache gleichwertigen Rechtsschutz zur Verfügung stellen,112 was aber die Mechanik des § 35 Abs. 5 TKG – wie dargelegt – faktisch vereitelt. Spezifische Vorgaben des Unionsrechts, die eine solche ungleichwertige Insellage rechtfertigen könnten, bestehen nicht. Ungeachtet der zu konzedierenden Unterschiede der Markt-
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Unzutreffend insoweit BVerwG, Urt. v. 29. 3. 2017 – 6 C 1.16, N&R 2017, 251 (254) Rn. 26. 107 Oben Fn. 101. 108 Vgl. nur EuGH, Urt. v. 14. 1. 2016 – C-395/14 (Vodafone/Bundesrepublik Deutschland), K&R 2016, 170 Rn. 30 ff. 109 Richtlinie 2002/19/EG über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung (ABl. L 108, S. 7); geändert durch die Richtlinie 2009/140/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25. 11. 2009 (ABl. L 337, S. 37). 110 Oben Fn. 43. 111 Stellvertretend Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991. S. 480 f.; Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 2010, S. 272 ff., 354 ff., 379 ff., 418 ff. 112 Oben Fn. 42. Grundsätzlich ist aber auch in diesen Konstellationen effektiver Rechtsschutz möglich. Zu Beispielen und Problemlösungsansätzen s. etwa BVerwGE 80, 270, 272 f.; Bongart, Emissionshandel und effektiver Rechtsschutz: Ein unvereinbarer Gegensatz?, 2010, S. 44 ff.; Christiansen (Fn. 13), S. 31 ff.; Fehling, Die Konkurrentenklage bei der Zulassung privater Rundfunkveranstalter, 1994, S. 281 ff.; Frenz, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz in Konkurrenzsituationen, 1999, S. 65 ff.; Happ, in: Eyermann (Begr.), VwGO, 14. Aufl. (2014), § 42 Rn. 53 f.; Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, 1992, § 16 Rn. 26 f.; Schenke (Fn. 1), Rn. 276; Shirvani, NVwZ 2005, 868 (870 f.); Schmidt, JuS 1999, 1107 (1109). Natürlich hat auch der Jubilar hierzu einen Lösungsvorschlag (isolierte Anfechtungsklage) unterbreitet: Schmidt-Preuß (Fn. 3), S. 563 f., 586.
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struktur enthält auch das im Kern strukturähnliche113 Netzentgeltregulierungsrecht in den Sektoren Energie, Post und Eisenbahn keine vergleichbare Modifikation des Rechtsschutzes (vgl. § 24 EnWG114; §§ 28 ff. i. V. mit §§ 19 ff. PostG;115 §§ 23 ff. ERegG116). Daher dürfte es schwer fallen, punktuelle Rechtsschutzverkürzungen wie nach § 35 Abs. 5 TKG als sektorales, insoweit aber binnenäquivalentes Regulierungssonderprozessrecht zu rechtfertigen. Das Äquivalenzgebot ist daher verletzt.117 b) Effektiver Rechtsschutz? Selbst wenn man die Gleichwertigkeit des Rechtsschutzes anerkennen wollte, ist jedenfalls die gebotene Effektivität des Rechtsschutzes vorliegend fraglich. Nationales Prozessrecht darf die Durchsetzung des Unionsrechts nicht verhindern oder wesentlich erschweren.118 Das nationale Recht optimiert zwar die Durchsetzung der wettbewerblichen Ziele des Unionsrechts, weil die Regelung des § 35 Abs. 5 TKG auf eine möglichst wirksame Marktöffnung austariert ist. Dem Zugangspetenten wird strukturell Vorrang gegenüber den zugangsverpflichteten Unternehmen gewährt. Dies läuft jedoch einer anderen unionsrechtlichen Strukturentscheidung zuwider, die nicht nur einen objektiven Auftrag zur wettbewerblichen Öffnung enthält, sondern zugleich den regulierten Unternehmen subjektive Rechte einräumt.119 Am deutlichsten zeigt dies Art. 4 TK-RRL, der letztlich eine angemessene Konfliktschlichtung im Prozess für alle Betroffenen – in Sonderheit für die regulierten Unternehmen – zum Programm erhebt. Namentlich die als zwingendes Recht zu beachtenden120 Regulierungsgrundsätze des Investitionsschutzes (Art. 8 Abs. 5 lit. d TKRRL) und der – dem Verhältnismäßigkeitsgebot entspringenden121 – Begrenzung der Vorabverpflichtungen (Art. 8 Abs. 5 lit. f TK-RRL), die Kanalisierung der Zugangsregulierung durch Art. 8 Abs. 2 TK-ZRL – einschließlich der wiederum zwingend zu
113 Vgl. Schreiber, Zusammenspiel der Regulierungsinstrumente in den Netzwirtschaften Telekommunikation, Energie und Eisenbahnen, 2009, S. 85 ff. 114 Energiewirtschaftsgesetz v. 7. 7. 2005 (BGBl. I S. 1970, 3621), das zuletzt durch Art. 2 Abs. 6 des G. v. 20. 7. 2017 (BGBl. I S. 2808) geändert worden ist. 115 Postgesetz v. 22.12 1997 (BGBl. I S. 3294), das durch Art. 169 des G. v. 29. 3. 2017 (BGBl. I S. 626) geändert worden ist; hierzu Schreiber, in: Groebel/Katzschmann/Koenig/ Lemberg (Hrsg.), Postrecht, 2014, Rn. 784 ff. 116 Eisenbahnregulierungsgesetz v. 29. 8. 2016 (BGBl. I S. 2082). 117 Abweichend BVerwG, Urt. v. 29. 3. 2017 – 6 C 1.16, N&R 2017, 251 (253) Rn. 23. 118 Oben Fn. 101. 119 Nicht berücksichtigt bei BVerwG, Urt. v. 29. 3. 2017 – 6 C 1.16, N&R 2017, 251 (254) Rn. 26, das hier allein mit den objektiven Regulierungszielen argumentiert, ohne den korrespondierenden Rechten Beachtung zu schenken. 120 Cornils, in: Geppert/Schütz (Hrsg.), TKG, 4. Aufl. (2013), § 2 Rn. 18; undeutlich BVerwGE 156, 75, Rn. 37 f. 121 Gärditz, N&R 2011, Beilage 2, 1 (40).
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berücksichtigenden Investitionen122 – sowie die Kostenorientierung der Entgelte (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 TK-ZRL)123 enthalten nach ihrem Zweck gerade auch subjektive Rechte der regulierten Unternehmen. Regulative Asymmetrien124 laufen zudem dem Regulierungsziel zuwider, chancengleichen Wettbewerb zu schaffen.125 Das Argument, dass ein zugangsberechtigter Wettbewerber aufgrund der Vielzahl der Vertragsbeziehungen keine Möglichkeit habe, gegenüber den Endkunden im Falle einer späteren Entgelterhöhung entsprechende Nachzahlungen durchzusetzen,126 greift mutatis mutandis auch für das zugangsverpflichtete Unternehmen, das bei einer rechtswidrigen Verweigerung, erhöhte Entgelte zu genehmigen, etwaige Einnahmeeinbußen ebenfalls verkraften muss, ohne dies nachträglich zu Lasten seiner Endkunden kompensieren zu können. Auch die regulierten marktmächtigen Unternehmen, die die primär Betroffenen der Regulierungsmaßnahmen i. S. von Art. 4 RRL sind, haben einen gleichwertig effektiven Rechtsschutzanspruch zur Durchsetzung ihrer aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte. Gemessen hieran ist es zwar sicherlich möglich, bei der Ausgestaltung des Rechtsschutzes das öffentliche Interesse an der wettbewerblichen Öffnung der Märkte angemessen zu gewichten und ggf. Marktakteure auf den einstweiligen Rechtsschutz zu verweisen, weil auch dem Unionsrecht Fallkonstellationen nicht unbekannt sind, in denen Primärrechtschutz in der Hauptsache wegen Erledigung aus rechtlichen Gründen nicht mehr möglich ist.127 In diesem Fall muss aber der einstweilige Rechtsschutz einem Hauptsacheverfahren gleichwertig sein.128 Anderenfalls muss es bei der Möglichkeit bleiben, im Hauptsacheverfahren Rechtsfehler im Rah122 Vgl. EuGH, Urt. v. 19. 6. 2014 – C-556/12 (TDC/Teleklagenævnet), MMR 2014, 701 Rn. 53. 123 Hierzu EuGH, Urt. v. 24. 4. 2008 – C-55/06 (Arcor AG & Co. KG/Bundesrepublik Deutschland), Slg. 2008, I-2931, Rn. 69; Ludwigs (Fn. 66), S. 240 f. Kostenorientierte Entgelte sind insoweit nur ein Regelbeispiel für die von Art. 13 Abs. 1 ZRL erfassten Verpflichtungen, vgl. EuGH, Urt. v. 14. 1. 2016 – C-395/14 (Vodafone/Bundesrepublik Deutschland), K&R 2016, 170 Rn. 41. 124 Vgl. auch Gramlich, N&R 2013, 102 (105). 125 Zutreffend Höffler (Fn. 33), § 35 Rn. 47. 126 BT-Drs. 15/2316, S. 70. 127 Insgesamt scheint das Unionsrecht hier aber rechtsschutzfreundlicher zu sein. So wurde beim Paradefall der Rechtsschutzbegrenzung nach deutschem Recht, der Beamtenernennung, im Unionsrecht eine Anfechtung trotz analoger Planstellenbindung grundsätzlich zugelassen: EuG, Urt. v. 9. 12. 2010 – T-526/08 P (Kommission/Strack), Rn. 73 ff.; EuGÖD, Urt. v. 28. 10. 2010 – F-23/09 (Maria Concetta Cerafogli/EZB), Rn. 39 ff.; Urt. v. 18. 6. 2011 – F-55/10 (AS/ Kommission), Rn. 29; Hatje, Der Rechtsschutz der Stellenbewerber im Europäischen Beamtenrecht: Eine Untersuchung zur Rechtsprechung des EuGH in Beamtensachen, 1988, S. 136 f., 202 f. (mit Kritik und Plädoyer für eine partielle Adaption von Elementen der Ämterstabilität S. 236 ff.); Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze und europäischer öffentlicher Dienst, 1986, S. 227. Eine Ausnahme wurde lediglich dort anerkannt, wo sich eine Aufhebung in Relation zum Verfahrensfehler für die betroffenen Mitbewerber als unverhältnismäßig erwiesen hätte. So EuGH, Urt. v. 5. 6. 1980 – 24/79, Slg. 1980, 1743 Rn. 13. 128 Für das nationale Verfassungsrecht oben Fn. 42-43.
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men der Entgeltgenehmigung sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten der regulierten Unternehmen nachträglich zu korrigieren, weil anderenfalls unionsrechtlich gewährleistete Rechte auf ein angemessenes Entgelt verloren gingen, ohne dass die zugrunde liegende Entgeltgenehmigung je einer wirksamen Kontrolle unterworfen worden wäre. c) Befristete Übergangsprobleme Wenn das BVerwG kürzlich die vom BVerfG angeordnete befristete Fortgeltung der als verfassungswidrig qualifizierten Regelung des § 35 Abs. 5 Sätze 2 – 3 TKG129 für vereinbar mit Unionsrecht erachtet hat,130 trifft dies nur im Ergebnis zu, nicht aber in der Begründung. Auch das Unionsrecht verlangt eine gesetzliche Konkretisierung131 der Mechaniken prozessualer Konfliktschlichtung. De lege lata hätte der Fortfall des § 35 Abs. 5 TKG den Rechtsschutz auf die allgemeinen Bestimmungen der §§ 113 Abs. 5, 123 VwGO zurückgeworfen, die zwar wirksamen Rechtsschutz sicherstellen, aber das – vom BVerfG respektierte und auch unionsrechtlich nicht generell diskreditierte – Sonderinteresse an einer regulativen Wettbewerbsförderung im Prozess nicht abbilden. Effektiver Rechtsschutz ist daher dadurch zu erlangen, dass der Eilrechtsschutz nach § 35 Abs. 5 Satz 2 TKG hinreichend effektiv ist, was wiederum über eine verfassungs- wie unionsrechtskonforme Auslegung jedenfalls interimistisch gewährleistet werden muss. IV. Perspektiven Gerechter Ausgleich zwischen Gestaltungs- und Verschonungsinteressen ist das Herz jedweder prozessualen Konfliktschlichtung,132 was freilich die Gerichtsbarkeit in den Sog einer inhaltlichen Gemeinwohlverantwortung treibt.133 Dies wird besonders sichtbar am Grad der Abhängigkeit des Rechtsschutzes von den jeweiligen strukturellen Besonderheiten des materiellen Rechts. Die Verlagerung eines prozeduralen Gemeinwohls in den Prozess134 wird gerade durch die materiale Unbestimmtheit des Regulierungsprogramms katalysiert. Gemeinwohl ist eine Kontin-
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BVerfGE 143, 216 Rn. 72; s.a. BVerfG-K, Beschl. v. 19. 12. 2016 – 1 BvR 62/12. BVerwG, Urt. v. 29. 3. 2017 – 6 C 1.16, N&R 2017, 251 (253 f.) Rn. 20 ff. 131 Vgl. Art. 52 Abs. 1 GRCh. Zum Vorbehalt einer Ermächtigung im Unionsrecht allgemein etwa EuGH, Urt. v. 21. 9. 1989 – 46/87 und 227/88 (Hoechst), Slg. 1989, 2859 Rn. 19; Rengeling, EuR 1984, 331 (335 f.); von Danwitz (Fn. 98), S. 507 ff. 132 Schmidt-Preuß, in: FS Werner Hoppe, 2000, S. 1071 (1081). Ferner Schoch (Fn. 1), S. 1313. 133 Eher affirmativ Brohm, NJW 1984, 8 (14); Schmidt-Aßmann/Schenk, in: Schoch/ Scheider/Bier (Hrsg.), VwGO, Stand: 2017, Einl. Rn. 176; kritisch Nolte, Die Eigenart des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 2015, S. 74 ff. 134 Krüper, Gemeinwohl im Prozess, 2009, S. 243. 130
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genzformel,135 löst also keine Konflikte, sondern fragt nach Entscheidungsorten und Zuständigkeiten (quis iudicabit?). Das Prozessrecht, das vornehmlich effektiven Rechtsschutz organisieren soll, ist mit der Verarbeitung aber strukturell überfordert und wird als Hebel zur Rechtsschutzminimierung missbraucht. Die als verfassungswidrig kassierte Regelung des § 35 Abs. 5 Sätze 2 – 3 TKG zeigt in besonderem Maße, wie im materiellen Recht angelegte Gemeinwohlerwartungen den Rechtsschutz überformen und letztlich zum dienenden Annex deformieren können. 1. Primat des Wettbewerbs oder der Rechtsstaatlichkeit? Rechtsschutz im Entgeltgenehmigungsverfahren ist eine prozessuale Operation am offenen Herzen. Märkte lassen sich nicht anhalten, um Gerichten die notwendige Zeit für Entscheidungen zu verschaffen.136 Das Marktgeschehen läuft weiter, genehmigte Entgelte werden in die Preiskalkulation gegenüber den Nutzern einbezogen, determinieren Investitionsentscheidungen und sind Basis strategischen Verhaltens. Kundenbindungen werden gewonnen oder gehen verloren, Marktmacht wird verfestigt oder aufgebrochen, ohne dass dies später rückgängig zu machen ist. An alledem kann ein laufendes Verfahren des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nichts ändern, das zwar nur über eine Genehmigung entscheidet, aber letztlich ökonomische Makrobewegungen unmittelbar betrifft. Regulative Einflüsse prägen den Markt und Regulierung verhält sich responsiv zu Marktentwicklungen. Regulierung greift nicht in ein statisches Geschehen ein wie eine Baugenehmigung oder Abrissverfügung, sondern ist Teil eines fluiden Szenarios, das sich weder einseitig hoheitlich steuern noch vom hoheitlichen Setting emanzipieren lässt. Gerade der Regulierungszeitpunkt ist damit kardinal bedeutend.137 Eine zutreffend festgestellte „Verschleifung von Regulierungs- und Marktebene“138 beschränkt sich damit nicht auf das Verhältnis der Marktakteure zur BNetzA. Auch die Rechtsprechung ist ein Akteur, der Anreize zu bestimmtem Marktverhalten setzt und unvermeidlich in strategische Perspektiven einbezogen wird. Dies macht es schwierig, die rechtsstaatlichformalen Beharrungs- und Verzögerungsmomente des Rechtsschutzes in volatile und gerade gegenüber rechtlicher Regulierung responsive Märkte zu integrieren. Wettbewerb ist freilich keine urwüchsige vorrechtliche Ordnung, sondern von Anfang an in eine Rechtsordnung integriert, die – z. B. durch Anerkennung von Vertragsfreiheit und Vertragsbindung – überhaupt erst rechtlich gesicherte Räume schafft, in denen sich marktbezogenes Verhalten entfalten kann.139 Zu den nicht ver135
Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 6. Aufl. (2013), S. 214 ff. Vgl. auch Schorkopf, JZ 2008, 20 (24), der eine praktische Entwertung des Rechtsschutzes diagnostiziert. 137 Ludwigs (Fn. 66), S. 149 ff., 330. 138 Broemel, Strategisches Verhalten in der Regulierung, 2010, S. 350. 139 Vgl. zur rechtlichen Konditionierung BVerfGE 105, 252 (265); 115, 205 (229); 137, 185 (243); Kirchhof, in: ders./Korte/Magen (Hrsg.), Öffentliches Wettbewerbsrecht, 2014, § 1 Rn. 15 – 18; Lepsius, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 19 Rn. 32 ff.; 136
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handelbaren Bedingungen jeder rechtsstaatlich verfassten Ordnung gehört effektiver Rechtsschutz. Wettbewerb hat sich in das rechtsstaatliche – selbstverständlich gegenstandsadäquat auszugestaltende – Korsett einzufügen, nicht der Rechtsschutz in vermeintliche Sachzwänge der Wettbewerbsförderung. Auch das BVerfG befreit indes das Prozessrecht mit seiner kassatorischen Entscheidung zu § 35 Abs. 5 TKG nicht aus einer regulierungspolitischen Sondermechanik des materiellen Rechts, es vertieft die Bindung durch Differenzierungsanforderungen sogar noch. Die vorgreifliche Frage, ob ein materielles Rechtsregime, das nur unter weitgehender Ausschaltung des Rechtsschutzes operabel bleibt, rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügt, wird vorsorglich schon nicht gestellt. 2. Legislative Reparatur als Herausforderung Eine Regelung zu schaffen, die den Anforderungen des BVerfG gerecht wird, ohne zugleich den regulatorischen Schutzbedarf der Wettbewerber aufzugeben, erfordert ein legislatives Kunststück.140 Sicherlich lässt sich Verwaltungskontrolle nicht nur anhand der Kontrollmaßstäbe und der kontrollierenden Institutionen, sondern auch anhand der Kontrollergebnisfolgen ausdifferenzieren.141 Eine Option bestünde darin, § 35 Abs. 5 Sätze 2 – 4 TKG schlichtweg zu streichen. Dies würde dann den Schutz finanziell schwacher Wettbewerber erheblich erschweren, weil eine Genehmigung höherer Entgelte ggf. zu Nachzahlungen führt. Die praktischen Konsequenzen dürften allerdings dadurch abgemildert sein, dass in der Regel mangels Spruchreife (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) nur ein Bescheidungsurteil ergehen kann. Im Rahmen einer nachträglichen Neuabwägung ließen sich – ggf. durch eine Klarstellung im Rahmen der §§ 31 ff. TKG – aber auch finanzielle Schutzinteressen der Wettbewerber bei einer rückwirkenden Entscheidung berücksichtigen, zwar nicht als Vertrauensschutz, aber als Regulierungsstrategie, Markteintrittshürden abzubauen bzw. entstandene Wettbewerbsmärkte nicht nachträglich wieder absterben zu lassen. Im Rahmen der Abwägung bestünde hinreichende Elastizität, den Rückwirkungsschutz auf diejenigen zu begrenzen, die ihn wirtschaftlich wirklich benötigen. Eine andere Option bestünde darin, die Rückwirkung der Genehmigung aufzugeben. Eine privatrechtsgestaltende Genehmigung von Entgelten würde dann immer nur in die Zukunft wirken. Dies erscheint freilich unpraktisch, weil man dann Regeln benötigt, welche Entgelte bei einer Kassation der Entgeltgenehmigung im genehmigungsfreien Interim gelten sollen. Belässt man es bei den Entgelten, die das regulierte Unternehmen gefordert hat, die aber aufgrund der Ex-ante-Regulierung mit den urders., WuV 2011, 206 ff.; ders., in: Schmidt-Preuß/Körber (Hrsg.), Regulierung und Gemeinwohl, 2016, S. 102 ff. 140 Vgl. auch Schramm, N&R 2017, 113 (116). 141 Kempny, Verwaltungskontrolle, 2017, S. 250 ff. Etwa § 46 VwVfG als Modifikation des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO zeigt dies. Vgl. BVerwGE 141, 282, 291; Gärditz, EurUP 2015, 196 (199).
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sprünglich genehmigten Entgelten inhaltsgleich sind, liefe dies auf einen faktischen Bestanderhalt der Genehmigung hinaus, was dann wieder den Rechtsschutzbedarf des regulierten Unternehmens unterläuft. Eine Korrektur der Entgelte nach Maßgabe der gerichtlichen Entscheidung erfordert zwangsläufig eine neue Behördenentscheidung, die wieder angreifbar wäre. Die Rechtsunsicherheit würde zusätzlich erhöht. Möglich und wahrscheinlich ist daher eine grundsätzliche Beibehaltung der bisherigen Regelung, die aber rechtsschutzadäquat zu modifizieren wäre. Geht man mit dem BVerfG davon aus, dass sich die Anforderungen an den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 35 Abs. 5 Satz 2 TKG verfassungskonform auslegen bzw. anwenden lassen, ist lediglich die Sperre einer rückwirkenden Genehmigung erhöhter Entgelte nach § 35 Abs. 5 Satz 3 TKG reparaturbedürftig. Eine prozessuale Lösung könnte Parameter angeben, unter welchen Voraussetzungen der Bund auch zu einer rückwirkenden Genehmigung erhöhter Entgelte verpflichtet werden darf, wenn keine Anordnung nach § 123 VwGO erfolgt ist. Dies wäre dann der Fall, wenn das finanzielle Ausgleichsinteresse des regulierten Unternehmens das Verschonungsinteresse des Wettbewerbers unter Berücksichtigung des chancengleichen Wettbewerbs überwiegt. Da die Bereitstellung von Wagniskapital grundsätzlich in die Risikosphäre jedes Unternehmens fällt, bedeutet dies, dass eine generelle Verschonung von der rückwirkenden Genehmigung erhöhter Entgelte nur ausnahmsweise in Betracht kommt und der Wettbewerber seine besondere Schutzbedürftigkeit darzulegen sowie ggf. zu beweisen hat. Eine solche Lösung hat gewiss einen entscheidenden Nachteil: Aus Ex-ante-Sicht wird immer das Risiko verbleiben, dass Nachzahlungen erforderlich werden, schon weil eine normative Interessenabwägung stets Entscheidungskontingenz einschließt. Das Risiko, dass effektiver Rechtsschutz auch einmal Erfolg haben kann, ist freilich ein Preis, den jeder zu zahlen hat, der die Marktvorteile eines funktionierenden Rechtsstaats in Anspruch nimmt. In Betracht käme auch eine Materialisierung des Ausgleichs außerhalb des Prozessrechts. Die wettbewerblichen Ziele, die hinter § 35 Abs. 5 TKG stehen, verlangen nicht, dass das regulierte Unternehmen kein nachträglich erhöhtes Entgelt für die Nutzung seiner Netze enthält. Vielmehr sollen lediglich die Wettbewerber vor Nachzahlungen geschützt werden, deren potentielle Höhe den Marktzugang aus Sicht ex ante als zu risikobehaftet ausweisen würde. Denkbar wäre daher – in Erweiterung des Rechtsgedankens des § 945 ZPO142 – eine ,Entschädigung‘ der in ihrem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz beschnittenen regulierten Unternehmen durch eine verschuldensunabhängige Haftung des Bundes für aus Ex-post-Kontrollperspektive als rechtswidrig erkanntes Regulierungshandeln der BNetzA. In diesem Fall würde das öffentliche Interesse an einem Vorrang des Regulierungsziels der effektiven Marktöffnung vor der Legalität der Regulierung nicht mehr als Sonderopfer den marktmächtigen Unternehmen auferlegt, sondern als Gemeinwohlinteresse solidarisiert, sprich: haushaltsfinanziert und mittelbar auf die Allgemeinheit der Steuerzahler umgelegt. Dies ist zwar absehbar aufgrund der damit verbundenen Haftungsrisiken po142
Zu dessen begrenzter Anwendbarkeit nur Schenke (Fn. 1), Rn. 1041.
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litisch nicht anschlussfähig, macht aber als Gedankenexperiment die Lasten sichtbar, die eine Strategie des kupierten Rechtsschutzes sehenden Auges den regulierten Unternehmen zumuten möchte, um Wettbewerb zu katalysieren. Es bleibt bei dem, was der Jubilar zutreffend mit Blick auf die Komplexität multipolarer Konfliktlagen ausgeführt hat: „Die Konfliktschlichtungsprärogative liegt beim demokratisch legitimierten Gesetzgeber“.143 Eine leichte Aufgabe ist dies nach alledem nicht.
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Schmidt-Preuß (Fn. 5), S. 1174.
Frauenförderung als Element des Regulierungsrechts am Beispiel der Frauenquote für die Wirtschaft Von Hubertus Gersdorf, Leipzig I. Einleitung Konfrontiert mit der Kategorie des Regulierungsrechts assoziiert der Kartellsowie Staats- und Verwaltungsrechtler die klassischen Felder der Netzwirtschaften Post, Telekommunikation, Energie und Eisenbahn, die lange Zeit als staatliche Monopole der Daseinsvorsorge betrieben und in den 90er Jahren privatisiert sowie in eine Wettbewerbsordnung überführt wurden. Dass Maßnahmen der Frauenförderung im Bereich der Wirtschaft ebenfalls dem Bereich des Regulierungsrechts unterfallen, erscheint auf den ersten Blick konstruiert und wenig überzeugend. Insoweit geht es weder um staatliche Monopole noch um Infrastrukturen wie im Bereich der Netzwirtschaften. Auch steht bei der Frauenförderung anders als im Regulierungsrecht nicht der Schutz von Wettbewerb, sondern die Entfaltung der individuellen beruflichen Interessen von Frauen im Vordergrund. Gleichwohl soll im Folgenden gezeigt werden, dass Frauenförderung im Bereich der Wirtschaft sehr wohl als Element des Regulierungsrechts einzuordnen ist, weil sie auf demselben Strukturgesetz beruht wie die Regulierung der Netzwirtschaften. In einem ersten Schritt werden die Bausteine des Regulierungsrechts beschrieben. Das Regulierungsrecht verpflichtet den Staat zur Herstellung und Gewährleistung funktionsfähigen Wettbewerbs in den (liberalisierten) Märkten, der aufgrund (vormals monopolbedingter) struktureller Zugangshürden (noch) nicht besteht. Der Regulierungsstaat muss für möglichst gleiche Ausgangsbedingungen der Marktteilnehmer (level playing field) Sorge tragen, die wegen der (vormaligen) Monopolsituation nicht existieren. Durch den Abbau struktureller Zugangshürden ist chancengleicher Wettbewerb aller Marktteilnehmer auf den (liberalisierten) Märkten sicherzustellen. Der Zweck des Regulierungsrechts besteht in dem Abbau struktureller Zugangshürden als Voraussetzung für funktionsfähigen Wettbewerb in den jeweiligen (liberalisierten) Märkten (II.). Im Anschluss hieran werden die verfassungs- und unionsrechtlichen Grundlagen der Frauenförderung (im Bereich der Wirtschaft) dargelegt. Gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG fördert der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender geschlechtsbezogener struktureller Nachteile hin. Das besondere Fördergebot des Art. 3 Abs. 2
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Satz 2 GG wurde in das Grundgesetz aufgenommen, weil Frauen nach wie vor tatsächlich aufgrund von Vorurteilen, Traditionen und Rollenzuweisungen sowie weiteren strukturellen Barrieren in der Gesellschaft an einer selbstbestimmten Gestaltung ihres (Erwerbs-)Lebens gehindert sind. Dieser auf den Abbau faktischer Nachteile gerichtete Gleichstellungsauftrag des Staates nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG wurzelt auch in der aus den Freiheitsgrundrechten (Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG) folgenden Verpflichtung des Staates, in den Fällen gestörter Vertragsparität aufgrund struktureller Unterlegenheit einer Vertragspartei korrigierende, das vertragliche Gleichgewicht wiederherstellende Maßnahmen zu ergreifen (III.). Eingedenk der (unions-)grundrechtlichen Grundlagen der Frauenförderung lässt sich anschließend die Frage beantworten, ob Formen der Frauenförderung im Bereich der Wirtschaft – wie eine gesetzliche Geschlechterquote – dem System des Regulierungsrechts zugeordnet werden können. Maßnahmen der Frauenförderung im Bereich des Wirtschaftslebens betreffen die Stellung der Frauen auf den Arbeitsmärkten, d. h. ihren Zugang zum Beruf und ihren Aufstieg im Beruf. Ebenso wie in den Feldern der Netzwirtschaften existieren für Frauen auf den Arbeitsmärkten strukturelle (Zugangs-)Hürden. Der Staat ist (unions-)grundrechtlich verpflichtet, diese strukturellen Hürden abzubauen und auf diese Weise für chancengleichen Wettbewerb von Frauen und Männern im Beruf zu sorgen. Maßnahmen der Frauenförderung im Bereich der Wirtschaft gründen auf denselben Zielen wie das Regulierungsrecht, das im Interesse eines funktionsfähigen, auf Chancengleichheit beruhenden Wettbewerbs den Abbau struktureller Zugangshürden verlangt (IV.). Aus der Verortung der Frauenförderung im System des Regulierungsrechts folgen Legitimation und Limitierung einer gesetzlichen Frauenquote für die Wirtschaft. Leistungsbezogene (relative) Geschlechterquoten sind zulässig, weil sie dem Abbau geschlechtsbezogener struktureller Nachteile der Frauen dienen. Demgegenüber erweisen sich absolute (starre) Frauenquoten als unzulässig. Ist die Unterrepräsentanz von Frauen in der Wirtschaft und öffentlichen Verwaltung nicht Folge einer geschlechtsbezogenen Benachteiligung, sondern geringerer Qualifikation, liegen keine strukturellen Zugangshürden vor, die der Staat gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG abbauen müsste. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG legitimieren und limitieren den Gesetzgeber zur Herstellung von Chancengleichheit, nicht aber von Erfolgsgleichheit. Auch dies macht deutlich, dass Maßnahmen der Frauenförderung im Bereich der Wirtschaft im Regulierungsrecht beheimatet sind, das chancengleichen Wettbewerb aller Marktteilnehmer zu gewährleisten sucht, nicht hingegen Erfolgsgleichheit im Wettbewerb (V.). II. Bausteine des Regulierungsrechts Liberalisierung und Regulierung schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander. Die schlechten Erfahrungen mit der Liberalisierung des Stromsektors haben
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gezeigt, dass das allgemeine Wettbewerbsrecht nicht ausreicht, um funktionsfähigen Wettbewerb auf den liberalisierten Märkten entstehen zu lassen und damit das eigentliche Regulierungsziel erreichen zu können. Der Verzicht auf eine sektorspezifische Regulierung und die Übertragung der Regulierung der liberalisierten Märkte auf ein personell überlastetes Bundeskartellamt, das auf der Grundlage des allgemeinen Wettbewerbsrechts (GWB, Art. 101, 102 AEUV) als „David gegen Goliath“ gegen die oligopolistisch vermachteten Strukturen der Märkte der Energieversorgung und des Energietransports kämpfen musste,1 haben sich als insuffizient erwiesen. Vielmehr bedarf es im Interesse der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs in den liberalisierten Märkten besonderer Steuerungsinstrumente in Form einer sektorspezifischen Regulierung. Erforderlich ist ein Regulierungskonzept, das den besonderen Grund für die Notwendigkeit einer sektorspezifischen Regulierung in den Blick nimmt. Welcher Regulierungsbedarf im Einzelnen besteht und welche Instrumente das Regulierungsrecht zur Verfügung stellen sollte, hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Sachgebiets ab. Angesichts der Vielgestaltigkeit der die einzelnen Regulierungsfelder kennzeichnenden Faktoren erweist sich der Versuch, ein einheitliches Regulierungsregime zu entwickeln, als wenig zielführend. Denn ungeachtet des sämtlichen Netzregulierungen inhärenten, gemeinsamen Ziels der Herstellung und Gewährleistung funktionsfähigen Wettbewerbs sind die einzelnen Netzwirtschaften durch Eigenarten und Besonderheiten gekennzeichnet, die vorschnelle Adaptionen der sich in anderen Regulierungsregimen herausgebildeten Prinzipien verbieten.2 Die Diversität der die jeweiligen Netzwirtschaften prägenden Faktoren beruht auf den Unterschieden in den Märkten, im jeweiligen Kanon der regulatorischen Zielsetzungen und in den je eigenen ordnungspolitischen Konzeptionen.3 Auch wenn es zwischen den einzelnen Netzindustrien erhebliche Unterschiede gibt, die es verbieten, die in einem Regulierungsbereich mit Erfolg eingesetzten Regulierungsinstrumente auf andere Regulierungsfelder schematisch zu übertragen, muss jede Form der Regulierung auf einem Regulierungskonzept beruhen. Im Folgenden werden die Bausteine eines solchen (eineitlichen) Regulierungskonzepts genannt.
1 So pointiert Säcker, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum TKG, 3. Aufl. 2013, Einl. I Rn. 1. 2 Zutreffend Trute/Broemel, ZHR 170 (2006), 706 (708). 3 Vgl. hierzu Masing, Gutachten 66. DJT (2006), D 13 ff.; Trute/Broemel, ZHR 170 (2006), 706 (708); Gersdorf, Entgeltregulierung im Eisenbahnsektor, 2007, S. 10 ff.; ders., JZ 2008, 831 (836); ders., WiVerw 2010, 159.
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1. Gewährleistungsauftrag des Staates für funktionsfähigen Wettbewerb in den liberalisierten Märkten Der Funktion nach ist Regulierungsrecht nicht nur bereichsspezifisches Kartellrecht und ebenso nicht nur eine Konkretisierung der Essential-Facilities-Doktrin, selbst wenn Regulierungsrecht auch Sonderkartellrecht ist (vgl. etwa § 10 Abs. 1 TKG). In dem Charakter als Sonderkartellrecht erschöpft sich die Funktion des Regulierungsrechts nicht. Vielmehr liegt die eigentliche Funktion des Regulierungsrechts in der Herstellung und Gewährleistung funktionsfähigen Wettbewerbs in den liberalisierten Märkten, der aufgrund (vormals) monopolbedingter struktureller Zugangshürden (noch) nicht besteht. Einfachgesetzlich ist dieser Gewährleistungsauftrag des Staates für funktionsfähigen Wettbewerb in den liberalisierten Märkten regelmäßig ausdrücklich festgelegt (vgl. § 3 Nr. 2 ERegG, § 1 Abs. 2 EnWG, § 2 Abs. 2 Nr. 2 TKG, § 2 Abs. 2 Nr. 2 PostG). Doch auch auf verfassungsrechtlichem Boden gründet dieser staatliche Gewährleistungsauftrag. Für den Telekommunikationssektor ist weithin anerkannt, dass der Bund kraft der sonderverfassungsrechtlichen Bestimmung des Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet ist, durch Regulierung für einen chancengleichen Wettbewerb auf den liberalisierten Märkten Sorge zu tragen.4 Dementsprechend heißt es in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: „Die hierdurch geschaffene Zulassung von Wettbewerb setzt staatliche Rahmenbedingungen voraus, die sicherstellen, dass Wettbewerb auch tatsächlich verwirklicht wird und interessierte Unternehmen überhaupt in Konkurrenz zur Deutschen Telekom AG treten können.“5
Als dogmatische Grundlage für diesen staatlichen Gewährleistungsauftrag dienen – neben Sonderverfassungsrecht (vgl. Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG) – die grundrechtlichen Schutzpflichten.6 Dieser grundrechtlichen Fundierung des Gewährleistungsauftrages kommt überall dort erhebliche Relevanz zu, wo es an einem sonderverfassungsrechtlichen Tatbestand wie Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG fehlt. Dies ist etwa im Eisenbahnsektor der Fall. Denn im Gegensatz zu Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG liegt Art. 87e Abs. 3 Satz 1 GG kein verfassungsrechtliches Bekenntnis für eine auf Chancengleichheit beruhende Wettbewerbsordnung zugrunde. Dementsprechend lässt sich aus Art. 87e Abs. 3 Satz 1 GG auch keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Bundes zur Herstellung und Gewährleistung funktionsfähigen Wettbewerbs in
4 BVerfG, NJW 2001, 2960, 2961; BVerwGE 117, 93, 100; BVerwG, NVwZ 2001, 1399, 1407; BVerwG, NVwZ 2004, 233, 237; vgl. aus dem Schrifttum nur Gersdorf, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018 (i.E.), Art. 87 f Rn. 61 m.w.N. in Fn. 32. 5 BVerfG, NJW 2001, 2960, 2961; siehe auch BVerwG, NVwZ 2001, 1399, 1407; VG Köln, CR 1997, 639, 642; Gersdorf, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018 (i.E.), Art. 87 f Rn. 61. 6 Vgl. hierzu im Einzelnen Gersdorf, N&R Beilage 2/2008, 1 (8 ff.) m.w.N.
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den liberalisierten Eisenbahnmärkten ableiten.7 Diese Lücke im (Sonder-)Verfassungsrecht lässt sich indes im Wege der allgemeinen grundgesetzlichen Kategorie grundrechtlicher Schutzpflichten wenigstens zum Teil schließen.8 In den Fällen strukturell bedingter gestörter Vertragsparität sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts korrigierende, das vertragliche Gleichgewicht wiederherstellende Maßnahmen erforderlich.9 Wenn aufgrund erheblich ungleicher Verhandlungspositionen zwischen den Vertragspartnern einer von ihnen ein solches Gewicht besitzt, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen oder mehrere Vertragsteile die Selbstbestimmung in Fremdbestimmung verkehrt.10 Diese für die horizontale Drittwirkung von Grundrechten im Privatrechtsverhältnis entwickelten Grundsätze gelten auch im vertikalen Verhältnis zwischen dem (Regulierungs-)Staat und dem regulierten Unternehmen.11 Gegen eine Verortung des Regulierungsrechts in der Funktion der Grundrechte als staatliche Schutzpflichten spricht auch nicht, dass im Schutzzentrum des Regulierungsrechts die Herstellung und Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs in den jeweiligen Märkten steht, während es bei der Verwirklichung des grundrechtlichen Schutzauftrages im Kern um den Schutz individueller Freiheiten geht. Denn für die Erfüllung des grundrechtlichen Schutzauftrages kommt es nicht auf die Motive, sondern auf den Effekt der gesetzgeberischen Maßnahmen an. Bei Erreichung der Regulierungsziele der einzelnen Netzwirtschaften ist zugleich der individuelle grundrechtliche Freiheitsanspruch erfüllt. Das Regulierungsrecht zielt auf die Herstellung und Gewährleistung chancengleichen Wettbewerbs in den Märkten der jeweiligen Netzindustrie. Ist dieses Ziel – durch Regulierung – erreicht, ist zugleich der grundrechtliche Schutzauftrag des Staates erfüllt, der durch Disparitäten im Verhältnis der einzelnen Marktteilnehmer ausgelöst wird. Anders gewendet: Aus denselben Gründen, die eine sektorspezifische Regulierung des Wettbewerbs rechtfertigen, besteht eine grundrechtliche Schutzpflicht des Staates zugunsten der Wettbewerber: nämlich wegen der auf strukturellen Asymmetrien beruhenden Marktmacht des Incumbent im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern.12 7 Gersdorf, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018 (i.E.), Art. 87e Rn. 51. 8 Vgl. hierzu im Einzelnen am (Parallel-)Beispiel des Telekommunikationssektors Gersdorf, N&R Beilage 2/2008, 1 (8 f.) m.w.N. 9 Vgl. BVerfGE 81, 242, 255; 84, 212, 229; 85, 191, 213; 89, 214, 232; 92, 365, 395; 97, 169, 176 f.; 103, 89, 100 f.; 114, 1, 34 f.; 114, 73, 90; 134, 204, 225 ff.; kritisch zu dem Konzept der gestörten Vertragsparität Isensee, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007; S. 239, 262 ff.; Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298 (339 ff.); vgl. hierzu noch unten sub III. 2. 10 Vgl. BVerfGE 89, 214, 232; 103, 89, 101; 134, 204, 225; 114, 1, 34 f.; 114, 73, 90; 134, 204, 225; BVerfG, MMR 2007, 93. 11 Vgl. hierzu Gersdorf, N&R Beilage 2/2008, 1 (8). 12 Vgl. Gersdorf, N&R Beilage 2/2008, 1 (9).
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Dass das Regulierungsrecht nicht lediglich bereichsspezifisches Kartellrecht ist, sondern darüber hinaus auf den Abbau struktureller Zugangshürden als Voraussetzung für funktionsfähigen Wettbewerb in den liberalisierten Märkten gerichtet ist, kommt beispielsweise im Telekommunikationsrecht deutlich zum Ausdruck. § 10 Abs. 1 TKG, welcher der Präsidentenkammer der Bundesnetzagentur die Aufgabe zuweist, die sachlich und räumlich relevanten Telekommunikationsmärkte festzulegen, ist dem Charakter nach Sonderkartellrecht. Das Telekommunikationsgesetz knüpft in § 10 Abs. 1 an tradierte Kategorien des allgemeinen Kartellrechts an. Demgegenüber ist der sich an die Marktabgrenzung anschließende sog. Drei-KriterienTest des § 10 Abs. 2 Satz 1 TKG, der das Herzstück des Marktregulierungsverfahrens darstellt, Ausfluss der auf Herstellung und Gewährleistung funktionsfähigen Wettbewerbs in den Telekommunikationsmärkten gerichteten Funktion des Regulierungsrechts. Das Bestehen struktureller Zugangshindernisse ist die maßgebliche Voraussetzung für die Regulierungsbedürftigkeit von Telekommunikationsmärkten. Die Funktion der Regulierung besteht darin, strukturelle Zugangshürden Schritt für Schritt abzubauen und auf diese Weise die Voraussetzungen für die sektorspezifische Telekommunikationsregulierung entfallen zu lassen. 2. Ziel der Regulierung: Abbau struktureller Zugangshürden als Voraussetzung für chancengleichen Wettbewerb Die Verpflichtung zur Herstellung und Gewährleistung funktionsfähigen Wettbewerbs geht über die Missbrauchskontrolle nach allgemeinem Kartellrecht hinaus. Im Gegensatz zum allgemeinen Kartellrecht, das auf der Prämisse prinzipiell funktionsfähiger, durch Chancengleichheit gekennzeichneter Märkte beruht und das deshalb im Kern auf eine Missbrauchskontrolle begrenzt ist, fehlt es in den liberalisierten Märkten der Netzwirtschaften regelmäßig an dieser Prämisse. Die vormals monopolistisch strukturierten Märkte sind durch strukturelle Zugangsbarrieren und Asymmetrien geprägt, welche die Entstehung funktionsfähigen Wettbewerbs auf den liberalisierten Märkten hemmen. Der Abbau dieser strukturellen Zugangshürden und Asymmetrien ist Voraussetzung für die Herausbildung funktionsfähigen Wettbewerbs auf den Märkten. Der Staat ist verpflichtet, für gleiche (Ausgangs-)Wettbewerbsbedingungen (level playing field) der Marktteilnehmer Sorge zu tragen. Überall dort, wo der Incumbent über vergleichsweise bessere wettbewerbliche Ausgangsbedingungen verfügt, die ihren Grund in der vormaligen Monopolstellung haben, kommt dem Staat im Hinblick auf die Herstellung und Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs auf den liberalisierten Märkten eine besondere Schutzfunktion zu. Regulierung dient dem Ziel, möglichst gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und zu erhalten, die aufgrund der Besonderheiten der liberalisierten Märkte (zunächst) nicht vorliegen und – aus technologischen und (volks-) wirtschaftlichen Gründen – teilweise auch nicht vorliegen können.13 13
Vgl. hierzu im Einzelnen Gersdorf, N&R Beilage 2/2008, 1 (12 f.).
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Im Telekommunikationssektor ergeben sich strukturelle Zugangshindernisse vor allem aus der anfänglichen Kosten- oder Nachfragesituation, die zu einem Ungleichgewicht zwischen dem Incumbent und den Wettbewerbern führt, deren Marktzugang behindert oder verhindert wird. „Beträchtliche strukturelle Hindernisse liegen beispielsweise vor, wenn absolute Kostenvorteile, erhebliche mengen- und größenbedingte Vorteile, Kapazitätsengpässe und hohe IstKosten der Vergangenheit für den Markt charakteristisch sind. Bislang treten derartige Hindernisse noch immer im Zusammenhang mit der weit verbreiteten Entwicklung bzw. Bereitstellung von Ortsanschlussnetzen an festen Standorten auf. Ein entsprechendes strukturbedingtes Hindernis kann auch vorliegen, wenn die Bereitstellung eines Dienstes eine Netzkomponente erfordert, die sich technisch nicht oder nur zu hohen Kosten nachbauen lässt, so dass der Dienst für Mitbewerber unrentabel wird.“14
Auch in anderen Bereichen der Netzwirtschaften bestehen vergleichbare strukturelle Zugangshürden. Im Eisenbahnbereich sind der Zugang zu den Schienenwegen, die ein natürliches Monopol darstellen, und zu den Serviceeinrichtungen (Eisenbahninfrastrukturmärkte) sowie die Verbund- und Skalenvorteile der Töchter der Deutsche Bahn AG auf den Eisenbahnverkehrsmärkten zu nennen.15 3. Regulierungsbedarf und Regulierungsinstrumente Welcher Regulierungsbedarf im Einzelnen besteht und welche Instrumente das Gewährleistungsrecht zur Verfügung stellen sollte, hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Sachgebiets ab. Die Fixierung von Regulierungszielen und -instrumenten richtet sich maßgeblich danach, ob der (vorgelagerte) Markt der Infrastrukturen wettbewerblich organisierbar ist oder auf einem natürlichen Monopol beruht.16 Ist wie im Telekommunikationssektor sowohl ein Dienste- als auch ein Infrastrukturwettbewerb möglich, muss die Regulierung Anreize für effizienten Infrastruktur14 Erwägungsgrund 9 der Empfehlung der Kommission v. 17. 12. 2007 über relevante Produkt- und Dienstmärkte des elektronischen Kommunikationssektors, die aufgrund der Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste für eine Vorabregulierung in Betracht kommen (ABl. EU Nr. L 344 v. 28. 12. 2007, S. 65 ff.); vgl. zu den Regulierungsgründen im Telekommunikationssektor statt vieler von Breitenbuch, Wettbewerbsaufsicht und Verhältnismäßigkeit. Am Beispiel der Zugangsregulierung nach dem Telekommunikationsgesetz, Diss. Berlin 2006, S. 32 ff.; Enaux, Effiziente Marktregulierung in der Telekommunikation: Möglichkeiten und Grenzen der Rückführung sektorspezifischer Sonderregulierung in das allgemeine Wettbewerbsrecht, Diss. Münster 2004, S. 2 ff.; Holzhäuser, Essential Facilities in der Telekommunikation: der Zugang zu Netzen und anderen wesentlichen Einrichtungen im Spannungsfeld zwischen sektorspezifischer Regulierung und allgemeinem Wettbewerbsrecht, Diss. Frankfurt am Main 2001, S. 25 ff. 15 Zu den strukturellen Zugangsbarrieren auf den Eisenbahnverkehrsmärkten Gersdorf, in: Joost/Oetker/Paschke (Hrsg.), Festschrift für Säcker zum 70. Geburtstag, 2011, S. 681 (690 ff.). 16 Vgl. im Einzelnen Gersdorf, ZWeR 2016, 113 (117 f.).
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wettbewerb setzen, weil nur dadurch die Nachhaltigkeit eines wirksamen Dienstewettbewerbs gesichert wird und mithin der Grund für Regulierung (dauerhaft) entfallen kann. Soweit der Regulierungsbedarf auf strukturellen Marktzutrittsschranken in der Gestalt „wesentlicher Einrichtungen“ beruht, muss das Ziel der Regulierung darin bestehen, Anreize für den Aufbau paralleler Infrastrukturen zu setzen, welche die Ausweichmöglichkeiten für die Wettbewerber erhöhen und ihre Abhängigkeit vom Bottleneck-Unternehmen reduzieren. Die Nachhaltigkeit eines Dienstewettbewerbs auf den nachgelagerten Endkundenmärkten steht in engem Zusammenhang mit dem Aufbau alternativer Infrastrukturen und einem hierauf beruhenden Infrastrukturwettbewerb. Aus diesem Grund besteht die Funktion der Regulierung darin, Anreize für die Errichtung zusätzlicher Infrastrukturen zu setzen. Nur bei wirksamem Infrastrukturwettbewerb lässt sich das Ziel der Regulierung erreichen: die Abschaffung von Regulierung. Eine Zugangs- und Entgeltregulierung ist demnach in den Sektoren der Netzwirtschaften, in denen Infrastrukturwettbewerb möglich und (volkswirtschaftlich) sinnvoll ist, lediglich temporärer Natur.17 Konzeptionell hat sich die Regulierung von dem Ziel leiten zu lassen, an die Stelle eines regulierten wettbewerbsanalogen Entgelts einen im Markt generierten Wettbewerbspreis treten zu lassen. Ist – wie im Wasser-18 oder Eisenbahnsektor – wegen des natürlichen Monopolcharakters der Infrastruktur ein (effizienter) Infrastrukturwettbewerb nicht zu erwarten, ist für ein Regulierungskonzept, das Anreize für Investitionen der Wettbewerber in alternative Infrastrukturen setzt, von vornherein kein Raum. Die Aufgabe der Regulierung, besser: der Zugangsregulierung, ist nicht nur temporärer, sondern dauerhafter Natur.19 III. Frauenförderung als verfassungs- und unionsrechtliche Pflichtaufgabe 1. Verfassungsgebot der Durchsetzung tatsächlicher Gleichberechtigung von Männern und Frauen gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG Gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG fördert der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender geschlechtsbezogener Nachteile hin. Diese im Jahr 1994 in das Grundgesetz aufgenommene Verfassungsvorschrift geht über die rechtlichen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG hinaus und erstreckt das Gebot der Gleichberechtigung von Männern und Frauen auf die gesellschaftliche 17 Vgl. bereits Gersdorf, in: Joost/Oetker/Paschke (Hrsg.), Festschrift für Säcker zum 70. Geburtstag, 2011, S. 681 (687). 18 Vgl. hierzu Kühling, DVBl. 2010, 205 (206 f.). 19 Vgl. Gersdorf, ZWeR 2016, 113 (118).
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Wirklichkeit.20 Während Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG rechtliche Diskriminierungen der Geschlechter verbieten, fordert Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG den Abbau faktischer Nachteile für Frauen, die teilweise nach wie vor bestehen.21 Das Fördergebot des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichtet den Staat, die nach dem Fortfall rechtlicher Diskriminierungen in der Gesellschaft weiter existierenden faktischen Ungleichheiten durch geschlechtsspezifische Ausgleichsregeln zu beseitigen.22 Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG bezieht sich dabei sowohl auf den staatlichen Bereich als auch auf den gesellschaftlichen Bereich einschließlich des Wirtschafts- und Erwerbslebens.23 Das besondere Fördergebot des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG wurde in das Grundgesetz aufgenommen, weil Frauen nach wie vor tatsächlich aufgrund von Vorurteilen, Traditionen und Rollenzuweisungen sowie weiteren strukturellen Barrieren in der Gesellschaft an einer selbstbestimmten Gestaltung ihres (Erwerbs-)Lebens gehindert sind.24 Solche tatsächlichen strukturellen Benachteiligungen können anders als rechtliche Diskriminierungen durch den Staat oder als im Einzelfall feststellbare Benachteiligungen von Männern oder Frauen nur durch gezielte Förderung der benachteiligten Geschlechtergruppe behoben werden.25 Im Gegensatz zu Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG stellt Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG eine Staatszielbestimmung dar,26 die nicht der Sicherung der personellen Autonomie des Einzelnen dient, sondern Ausdruck einer objektivrechtlichen Wertentscheidung des Grundgesetzes ist. Diese Staatszielbestimmung soll nach überwiegender Ansicht kein subjektives Recht für den Einzelnen begründen,
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Vgl. BVerfGE 92, 91, 109. Vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Grundgesetzes, BT-Drs. 12/ 6633, S. 6: „Die Wortwahl ,Beseitigung bestehender Nachteile‘ weist darüber hinaus darauf hin, dass Benachteiligungssituationen vorhanden sind, die beseitigt werden sollen“; vgl. auch Huster, AöR 118 (1993), 109 (118). 22 Vgl. Osterloh/Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 265. 23 Sacksofsky, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 3 II, III 1 Rn. 356. 24 Zu den strukturellen Zugangshürden für Frauen auf den Arbeitsmärkten vgl. noch unten sub IV., nach Fn. 54. 25 Vgl. auch Eckertz-Höfer, in: Denninger/Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Alternativ-Kommentar, 3. Aufl. 2001, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 81; Osterloh/Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 285. 26 Vgl. BT-Drs. 12/6000, S. 50, wonach durch die Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 GG ein Staatsziel normiert werde, durch das die zuständigen staatlichen Organe angehalten werden, Maßnahmen zur Erreichung der tatsächlichen Gleichberechtigung zu ergreifen. Für die Einordnung von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG als Staatszielbestimmung aus der Literatur statt aller Di Fabio, AöR 122 (1997), 404 (410). 21
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gerichtlich überprüfen zu lassen, ob staatliche Maßnahmen den Anforderungen des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG entsprechen.27 Als Staatszielbestimmung erschöpft sich Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG nicht in einem unverbindlichen Programmsatz, sondern begründet für den Staat die verbindliche verfassungsrechtliche Pflichtaufgabe, bestehende Nachteile für Frauen bei dem Zugang zum Beruf und dem Aufstieg in Unternehmen abzubauen und auf diese Weise die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Lebenswirklichkeit tatsächlich durchzusetzen.28 Die Bundesrepublik Deutschland ist verfassungsrechtlich nicht nur berechtigt,29 sondern auch verpflichtet, strukturelle Nachteile für Frauen im Bereich der Wirtschaft zu beseitigen. Sind Frauen aufgrund struktureller Barrieren in ihren beruflichen Entfaltungs- und Aufstiegschancen beeinträchtigt und infolgedessen in (Leitungs-)Positionen der Wirtschaft unterrepräsentiert, ist der Staat verpflichtet, diese strukturellen Barrieren zu beseitigen. Kommt der Staat dieser Verpflichtung nicht nach, verletzt er Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG.30 Wie der Staat seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG nachkommt, ist prinzipiell Sache seiner politischen Gestaltungsfreiheit.31 Er genießt bei der Auswahl der Mittel zur Verwirklichung des durch Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG vorgegebenen (Staats-)Ziels einen weiten Spielraum. Der Staat darf dabei auch zu dem Mittel einer „umgekehrten“ rechtlichen Diskriminierung der nicht benachteiligten Geschlechtergruppe greifen,32 um die Gleichberechtigung 27
Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 105; Boysen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 3 Rn. 162; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 74 f.; anderer Ansicht Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 91. 28 Vgl. BT-Drs. 12/6000, S. 50: „verbindlicher Auftrag“; s. auch Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 106; Boysen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 3 Rn. 167; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 399; vgl. auch BVerfGE 92, 91, 109. 29 Weniger weitgehend (wohl) Papier/Heidebach, Frauenquoten im öffentlichen Dienst, 2016, S. 13: „Dieses Gleichstellungsgebot berechtigt den Gesetzgeber, Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, durch begünstigende Regelungen auszugleichen.“ 30 Vgl. Eckertz-Höfer, in: Denninger/Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Alternativ-Kommentar, 3. Aufl. 2001, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 63; Sacksofsky, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 3 II, III 1 Rn. 354. 31 Vgl. nur Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: August 2017, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 740; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 105; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 91; vgl. auch BVerfGE 109, 64, 90. 32 Ebenso Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 97; Osterloh/Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 265; Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walther (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: August 2017, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 715; Vollmer, Das Ehegattensplitting, 1998, S. 121 f.; vgl. auch BVerfGE 92, 91, 112; skeptisch gegenüber der Einschränkbarkeit des staatlichen Diskriminierungsverbots des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG durch Förder-
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der Geschlechter tatsächlich durchzusetzen. Solche umgekehrten Diskriminierungen unterliegen allerdings den strengen Bindungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das nicht nur staatlichen Eingriffen in Freiheitsgrundrechte, sondern auch geschlechtsbezogenen Diskriminierungen des Staates Schranken setzt.33 2. Schutzpflichten aus Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG Dieser auf den Abbau faktischer Nachteile gerichtete Gleichstellungsauftrag des Staates nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG findet eine Parallele in der aus den Freiheitsgrundrechten folgenden Verpflichtung des Staates, in den Fällen gestörter Vertragsparität aufgrund struktureller Unterlegenheit einer Vertragspartei korrigierende, das vertragliche Gleichgewicht wiederherstellende Maßnahmen zu ergreifen. Grundsätzlich hat sich der Staat aus den vertraglich geprägten Rechtsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien herauszuhalten, weil sich der Abschluss und die Ausgestaltung solcher Verträge als zweiseitige Selbstbestimmung und insofern als freies und eigenverantwortliches Handeln der Vertragspartner darstellen.34 Dieses Einmischungsverbot bezieht sich auf den (grundrechtsgebundenen) Staat als Ganzes, sodass es unerheblich ist, ob die staatlichen Ingerenzen vom Gesetzgeber, der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt ausgehen.35 Die geschützte Privatautonomie setzt indes voraus, dass die Bedingungen der Selbstbestimmung auch tatsächlich gegeben sind.36 Wenn aufgrund erheblich ungleicher Verhandlungspositionen zwischen den Vertragspartnern einer von ihnen ein solches Gewicht besitzt, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen oder mehrere Vertragsteile die Selbstbestimmung in Fremdbestimmung verkehrt.37 Befindet sich ein Vertragspartner gegenüber einem anderen typischerweise in einer Situation struktureller Unterlegenheit, die ihn daran hindert, seine grundrechtlich verbürgten Rechtspositionen auf Augenhöhe mit dem anderen Vertragspartner zu wahren und zu vermaßnahmen nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Abs. 2 Rn. 313 ff. 33 Vgl. ebenso Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: August 2017, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 715; Huster, AöR 118 (1993), 109 (129); Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 97a; Osterloh/Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 266. 34 Vgl. BVerfGE 81, 242, 254; 114, 73, 89 f.; BVerfG, MMR 2007, 93. 35 Zur entsprechenden Schutzpflicht des Gesetzgebers vgl. nur BVerfGE 114, 1, 33 ff.; 134, 204, 225 ff.; zur Schutzpflicht der Gerichte vgl. nur BVerfGE 81, 242, 253 ff.; 89, 214, 230 ff.; 103, 89, 100 ff.; BVerfG, MMR 2007, 93 ff.; BeckRS 2017, 102380 Rn. 13. 36 Vgl. BVerfGE 81, 242, 254 f.; 103, 89 100; 114, 1, 34. 37 Vgl. BVerfGE 89, 214, 232; 103, 89, 101; 134, 204, 225; 114, 1, 34 f.; 114, 73, 90; 134, 204, 225; BVerfG, MMR 2007, 93.
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teidigen, fällt dem Staat die Aufgabe des Ausgleichs der Disparitäten zu, die eine Beschränkung der Grundrechte des „überlegenen“ Vertragspartners rechtfertigen. In solchen Situationen gestörter Vertragsparität sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts korrigierende, das vertragliche Gleichgewicht wiederherstellende Maßnahmen erforderlich.38 Diese Verpflichtung des Staates zum Abbau struktureller Disparität betrifft nicht nur den Wirkungskreis des Grundrechtes der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Sie folgt auch aus anderen Freiheitsgrundrechten wie zum Beispiel aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG bei Versicherungsverträgen,39 aus dem Ehegrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG bei Eheverträgen40 und aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.41 Soweit es um die Vertragsfreiheit im Bereich beruflicher Betätigung geht, findet die spezielle Gewährleistung der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG Anwendung,42 sodass die auf Freiheit durch Gleichheit gerichtete dogmatische Figur der strukturellen Disparität auch im Rahmen des Grundrechtes der Berufsfreiheit zum Tragen kommt. In einem Ausschnitt des Geltungsbereiches der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Berufsfreiheit konkretisiert die Schutzpflicht des Staates bei struktureller Disparität zugleich den Auftrag des Staates aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Soweit Frauen aufgrund struktureller Zutrittshürden an dem Zugang zum und dem Aufstieg im Beruf gehindert sind, verlangt bereits das Grundrecht der Berufsfreiheit, diese Hürden abzubauen. Die Schutzziele des Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG stimmen insoweit überein. Räumt der Staat – wie bei einer gesetzlichen leistungsbezogenen Geschlechterquote43 – Frauen zum Abbau von Zugangshürden im Berufsleben Vorrang gegenüber gleichermaßen qualifizierten männlichen Kandidaten ein, ist fraglich, ob Art. 12 Abs. 1 GG die hierin liegende Diskriminierung der männlichen Kandidaten (vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) rechtfertigen kann. Dass der Gleichstellungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG unter bestimmten Voraussetzungen einen Rechtfertigungstitel für Diskriminierungen von Männern bereithält, steht außer Frage;44 Art. 23 Abs. 2 GRC, wonach der Grundsatz der Gleichheit 38 Vgl. BVerfGE 81, 242, 255; 84, 212, 229; 85, 191, 213; 89, 214, 232; 92, 365, 395; 97, 169, 176 f.; 103, 89, 100 f.; 114, 1, 34 f.; 114, 73, 90; 134, 204, 225 ff.; kritisch zu dem Konzept der gestörten Vertragsparität Isensee, in: ders. (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, S. 239 (262 ff.); Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298 (339 ff.). 39 BVerfGE 114, 1, 33 ff. 40 BVerfGE 103, 89, 101 ff. 41 BVerfG, MMR 2007, 93 f.; BVerfG, NJW 2013, 3086, 3087 Rn. 20. 42 Vgl. BVerfGE 68, 193, 223 f.; 77, 84, 118; 95, 173, 188; 117, 163, 181; 134, 204, 222 f. Rn. 67; BVerfG, NJW 2011, 1339, 1340 Rn. 32; BVerfG, NJW-RR 2016, 1349, 1350 Rn. 49. 43 Vgl. hierzu noch sub V. 44 Vgl. hierzu noch sub V.
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der Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegensteht, sieht eine solche Rechtfertigung für Diskriminierungen von Männern sogar ausdrücklich vor. Ungeklärt ist hingegen, ob eine solche Rechtfertigung auch im Wirkungskreis der Freiheitsgrundrechte möglich ist. Die vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fälle gestörter Vertragsparität betreffen bipolare Vertragskonstellationen, in denen das strukturelle Ungleichgewicht in der Person der Vertragsgegenseite begründet ist. Die von Verfassungs wegen erforderlichen Maßnahmen zum Ausgleich struktureller Ungleichheit richten sich in diesen Fällen allein gegen diese Vertragspartei. Die Beschwer tritt nur bei der Vertragspartei ein, die im Verhältnis zur anderen Partei über ein strukturelles Übergewicht verfügt. Dritte sind in solchen (bipolaren Vertrags-) Konstellationen nicht betroffen. Anders liegen die Dinge, wenn – wie bei einer gesetzlichen Geschlechterquote – die zum Ausgleich struktureller Unterlegenheit erforderlichen Maßnahmen nicht nur den Vertragspartner (hier: Unternehmen), sondern auch Dritte (hier: den männlichen Bewerber) belasten. Es handelt sich um eine Dreieckskonstellation, in der die Grundrechte der Frau in Konflikt mit den Grundrechten sowohl des Unternehmens als auch des kandidierenden Mannes treten. Die Verwirklichung der Gleichstellung von Frauen ist nur zum Preis der Diskriminierung des Mannes (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) möglich, d. h. der Beeinträchtigung der Grundrechte von Dritten, die in keinem vertraglichen Verhältnis zur strukturell unterlegenen (Vertrags-)Partei stehen. Hierin liegt der maßgebliche Unterschied zu den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen gestörter Vertragsverhältnisse, in denen die verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleichsmaßnahmen allein die strukturell überlegene Vertragspartei belasten. Gleichwohl gibt es gute Gründe, die von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte Dogmatik in Fällen gestörter Vertragsparität auf Dreieckskonstellationen zu erstrecken, sodass zum Ausgleich vertraglicher Disparitäten erforderliche Maßnahmen auch zulasten Dritter getroffen werden dürfen. Die Rechtsprechung zur gestörten Vertragsparität fußt auf der Funktion der Freiheitsgrundrechte als Schutzpflichten des Staates. Die staatlichen Schutzpflichten kommen zwar üblicherweise in (bipolaren) Konstellationen zur Anwendung, in denen der Staat Maßnahmen gegenüber dem Störer ergreift, der in die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre des „Opfers“ übergreift. Gleichwohl legitimiert die Funktion der Grundrechte als Schutzpflichten auch Maßnahmen des Staates gegenüber (unbeteiligten) Dritten. Ein Beispiel hierfür bietet die Störerhaftung im Ordnungsrecht. Sofern der Staat unter den engen gesetzlichen Voraussetzungen der Notstandshaftung Nicht-Störer in Anspruch nimmt, um Gefahren abzuwenden, wird der Staat in Wahrnehmung der ihm gegenüber der zu schützenden Person obliegenden grundrechtlichen Schutzpflicht tätig. Die grundrechtliche Funktion staatlicher Schutzpflichten ermöglicht somit nicht nur staatliche Schutzmaßnahmen im Störer-/Opferverhältnis, sondern auch gegenüber (unbeteiligten) Dritten.
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Da die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur gestörten Vertragsparität Ausfluss der grundrechtlichen Funktion staatlicher Schutzpflichten ist, dürfte als Adressat der zum Ausgleich struktureller Ungleichheit erforderlichen Maßnahmen nicht nur die strukturell überlegene Vertragspartei, sondern auch ein (unbeteiligter) Dritter in Betracht kommen. Folgt man dem, wären die zum Ausgleich struktureller Unterlegenheit erforderlichen Maßnahmen nicht nur zulasten des Vertragspartners, sondern auch zulasten Dritter zulässig. Fazit: Eine gesetzliche Geschlechterquote, die männliche Kandidaten dadurch i.S.d. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG diskriminiert, dass sie Frauen zum Abbau von Zugangshürden im Berufsleben Vorrang gegenüber gleichermaßen qualifizierten männlichen Kandidaten einräumt, wäre nicht nur sub specie des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 23 Abs. 2 GRC, sondern auch kraft des Schutzauftrages des Art. 12 Abs. 1 GG zulässig. Der Staat darf daher prinzipiell auch zu dem Mittel einer „umgekehrten“ rechtlichen Diskriminierung der nicht benachteiligten Geschlechtergruppe greifen,45 um strukturelle Ungleichgewichte zu korrigieren, d. h. die Gleichberechtigung der Geschlechter tatsächlich durchzusetzen. Solche umgekehrten Diskriminierungen unterliegen allerdings den strengen Bindungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das nicht nur staatlichen Eingriffen in Freiheitsgrundrechte, sondern auch geschlechtsbezogenen Diskriminierungen des Staates Schranken setzt.46 3. Unionsrecht In Entsprechung zu Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gem. Art. 23 Abs. 1 GRC verpflichtet, die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen, einschließlich Beschäftigung und Arbeit, zu gewährleisten. Die Mitgliedstaaten müssen im Rahmen der Durchführung von Unionsrecht (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC) faktische Nachteile für eine Geschlechtergruppe in der Gesellschaft oder im staatlichen Sektor abbauen und auf diese Weise die Geschlechtergleichberechtigung tatsächlich durchsetzen. Fördermaßnahmen i.S.d. Art. 23 Abs. 1 GRC zur Herstellung faktischer Geschlechtergleichberechtigung kön45 Ebenso Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 97; Osterloh/Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 265; Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walther (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: August 2017, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 715; Vollmer, Das Ehegattensplitting, 1998, S. 121 f.; vgl. auch BVerfGE 92, 91, 112; skeptisch gegenüber der Einschränkbarkeit des staatlichen Diskriminierungsverbotes des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG durch Fördermaßnahmen nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Abs. 2 Rn. 313 ff. 46 Vgl. ebenso Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walther (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: August 2017, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 715; Huster, AöR 118 (1993), 109 (129); Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 97a; Osterloh/Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 266; für eine modifizierte Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes EckertzHöfer, in: Denninger/Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Alternativ-Kommentar, 3. Aufl. 2001, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 64.
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nen in den Grenzen des Prinzips der Verhältnismäßigkeit auch umgekehrte rechtliche Diskriminierungen der tatsächlich nicht benachteiligten Geschlechtergruppe vorsehen. Art. 23 Abs. 2 GRC stellt klar, dass der Grundsatz der Gleichheit (vgl. Art. 21 Abs. 1 GRC) der Beibehaltung oder Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegensteht, und legitimiert damit positive Diskriminierungen als Mittel zur Durchsetzung tatsächlicher Geschlechtergleichberechtigung.47 Eine Ermächtigung zur Verwirklichung der Gleichberechtigung der Geschlechter sieht auch Art. 157 Abs. 4 AEUV für den Bereich des Arbeitslebens vor. Art. 157 Abs. 4 AEUV regelt, dass in Bezug auf die effektive Gewährleistung der vollständigen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedstaten nicht hindert, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen. Art. 157 Abs. 4 AEUV stellt damit – ebenso wie Art. 23 Abs. 2 GRC – klar, dass die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung tatsächlicher Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Arbeitsleben das Mittel der umgekehrten rechtlichen Diskriminierung der nicht unterrepräsentierten Geschlechtergruppe einsetzen dürfen. In Entsprechung zu Art. 23 GRC legitimiert Art. 157 Abs. 4 AEUV staatliche Maßnahmen, die den Zugang von Frauen zu Spitzenpositionen in der Privatwirtschaft sicherstellen. Im Unterschied zu Art. 23 Abs. 1 GRC enthält Art. 157 Abs. 4 AEUV jedoch keine Verpflichtung, sondern nur eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten, die allerdings – anders als das Fördergebot des Art. 23 Satz 1 GRC – nicht auf die Durchführung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten beschränkt ist, sondern die Staaten in dem gesamten innerstaatlichen Wirkungsfeld bindet.48 IV. Conclusio: Frauenförderung als Element des Regulierungsrechts Eingedenk der dargelegten (unions-)grundrechtlichen Grundlagen der Frauenförderung lässt sich die Frage beantworten, ob Maßnahmen der Frauenförderung im Bereich der Wirtschaft – wie eine gesetzliche Geschlechterquote – dem System des Regulierungsrechts zuzuordnen sind. Kernanliegen des Regulierungsrechts ist die Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung funktionsfähigen Wettbewerbs in den (liberalisierten) Märkten, der aufgrund (vormals monopolbedingter) struktureller Zugangshürden (noch) nicht be47 Vgl. Weber, in: Stern/Sachs (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta, Kommentar, 2016, Art. 23 Rn. 25. 48 Vgl. nur Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2015, § 21 Rn. 6; Odendahl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 44 Rn. 2, 6.
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steht.49 Der Regulierungsstaat muss für möglichst gleiche Ausgangsbedingungen der Marktteilnehmer (level playing field) Sorge tragen, die wegen der (vormaligen) Monopolsituation nicht existieren. Durch den Abbau struktureller Zugangshürden ist chancengleicher Wettbewerb für alle Marktteilnehmer auf den (liberalisierten) Märkten sicherzustellen.50 Selbstredend zielt das Regulierungsrecht nur auf Chancengleichheit im Wettbewerb, nicht auf Erfolgsgleichheit. Der Zweck des Regulierungsrechts besteht in dem Abbau struktureller Zugangshürden als Voraussetzung für funktionsfähigen Wettbewerb in den (liberalisierten) Märkten. Maßnahmen der Frauenförderung im Bereich des Wirtschaftslebens betreffen die Stellung der Frauen auf den Arbeitsmärkten, d. h. ihren Zugang zum Beruf und ihren Aufstieg im Beruf. Ebenso wie in den Feldern der Netzwirtschaften existieren für Frauen auf den Arbeitsmärkten strukturelle (Zugangs-)Hürden, zu deren Abbau der Staat sub specie des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, des Art. 12 Abs. 1 GG und (im Rahmen der Durchführung von Unionsrecht gem. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC) des Art. 23 GRC verpflichtet ist. Wie bereits dargelegt, wurde das besondere Fördergebot des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG in das Grundgesetz aufgenommen, weil Frauen nach wie vor tatsächlich aufgrund von Vorurteilen, Traditionen und Rollenzuweisungen sowie weiteren strukturellen Barrieren in der Gesellschaft an einer selbstbestimmten Gestaltung ihres (Erwerbs-)Lebens gehindert sind.51 Ebenso verpflichtet Art. 12 Abs. 1 GG zum Abbau struktureller Barrieren als Voraussetzung für einen chancengleichen Zugang von Frauen zum Beruf und Aufstieg im Beruf.52 Solche strukturellen Barrieren bestehen in Deutschland für Frauen bei dem Zugang zu Spitzenpositionen in der Wirtschaft.53 Frauen sind in Aufsichtsräten und Vorständen der Wirtschaft im Vergleich zu Männern deutlich unterrepräsentiert.54 Dies liegt nicht an einer schlechteren Qualifikation der Frauen sowie an einer geringeren Repräsentanz im Erwerbsleben, sondern an strukturellen Zugangshürden wegen ihres Geschlechts55. Zu diesen strukturellen Barrieren gehört die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Frauen wird der Zugang zu Führungspositionen in der Wirtschaft dadurch erschwert, dass traditionell sie für die Betreuung von Kindern (und älteren Familienangehörigen) verantwortlich sind und die Betreuungsinfrastruktur in Deutschland vor allem im Kinderkrippensektor und im Ganztagsbetreu49
Vgl. oben sub II. 1. Vgl. oben sub II. 2. 51 Vgl. oben sub III. 1. 52 Vgl. oben sub III. 2. 53 Vgl. zum Folgenden Brosius-Gersdorf, in: Sejm (Hrsg.), Gender quotas in commercial law companies, 2014, S. 323 (324). 54 Vgl. hierzu im Einzelnen die Begründung eines Gesetzes zur Förderung gleichberechtigter Teilhabe von Frauen und Männern in Führungsgremien (GlTeilhG), BT-Drs. 17/11270, S. 12 ff. 55 Ebenso Holst/Wiemer, DIW Discussion Papers Nr. 1001, Mai 2010, S. 7; Raasch, ZfRV 2009, 216 (219). 50
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ungsbereich immer noch erhebliche Mängel aufweist.56 Aufgrund dieser Doppelbelastung für Frauen in Familie und Beruf gerade in der wichtigen Phase der Karrierebildung, die eine geringere Verfügbarkeit im Beruf infolge von beruflichen Unterbrechungszeiten und Teilzeittätigkeit mit sich bringt, wird ihr Aufstieg in den Unternehmen erschwert.57 Zudem wird der Aufstieg von Frauen in Spitzenpositionen durch die sog. gläserne Decke58 behindert, die in Unternehmen infolge von Männer-Zirkeln in den Führungsetagen besteht, die nach dem „Prinzip der Selbstähnlichkeit“ primär Männer fördern und auf die Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen nicht genügend Rücksicht nehmen.59 Hinzu tritt, dass Arbeitgeber in die Führungsqualitäten von Frauen oftmals – auch, aber nicht nur wegen ihrer Doppelbelastung in Familie und Beruf – geringeres Zutrauen haben als in die Führungsqualitäten von Männern.60 Frauen sehen sich zudem häufig „Vorurteilen und stereotypen Vorstellungen über (ihre) Rolle und (ihre) Fähigkeiten … im Erwerbsleben“61 sowie entsprechenden sozialen Rollenzuweisungen ausgesetzt, die ihnen die Erfüllung vornehmlich im Privaten – bei Mann und Kindern – und nicht in der beruflichen Karriere zuweisen.62 Außerdem setzen die Bedingungen für die Erwerbsarbeit, besonders die für Führungspositionen, oftmals männliche Lebensmuster voraus, da Männer die Anforderungen an Bewerbungen und Qualifikationen prägen.63 Weibliche Vorbilder in Spitzenpositionen sind nur vereinzelt vorhanden.64 Der Staat ist (unions-)grundrechtlich verpflichtet, diese strukturellen Hürden abzubauen und auf diese Weise für chancengleichen Wettbewerb von Frauen und Männern auf den Arbeitsmärkten zu sorgen. Maßnahmen der Frauenförderung im Bereich der Wirtschaft gründen auf denselben Zielen wie das Regulierungsrecht, das im Interesse eines funktionsfähigen, auf Chancengleichheit beruhenden Wettbewerbs den Abbau struktureller Zugangshürden verlangt.65 56 Hierzu näher Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, 2011, S. 101 f., 416 ff.; s. auch Obermeyer/Reibold, STREIT 2011, 20, 22. 57 Vgl. v. Alemann, SuB 30 (2007), 21 (24); Holst/Wiemer, DIW Discussion Papers Nr. 1001, Mai 2010, S. 7; Kohaut/Möller, IAB-Kurzbericht 6/2010, S. 1, 5; Rudolph, Frauen in Aufsichtsräten, 2009, S. 9 f. 58 Vgl. Papier/Heidebach, Frauenquoten im Öffentlichen Dienst, 2016, S. 16. 59 v. Alemann, SuB 30 (2007), 21 (24); Holst/Wiemer, DIW Discussion Papers Nr. 1001, Mai 2010, S. 7; Raasch, ZfRV 2009, 216 (219). 60 Vgl. Sacksofsky, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, 2002, Art. 3 II, III 1 Rn. 369. 61 EuGH, Rs. C-158/97, Slg. 2000, S. I-1918 Rn. 21 (Badeck u. a.). 62 Vgl. Holst/Wiemer, DIW Discussion Papers Nr. 1001, Mai 2010, S. 7; Kohaut/Möller, IAB-Kurzbericht 6/2010, S. 1, 5; Obermeyer/Reibold, STREIT 2011, 20, 22; Raasch, ZfRV 2009, 216 (219). 63 Pfarr, NZA 1995, 809 (811). 64 Kohaut/Möller, IAB-Kurzbericht 6/2010, S. 1, 5. 65 Gegen die Radizierung der Frauenförderung im Bereich des Wirtschaftslebens spricht auch nicht, dass im Schutzzentrum des Regulierungsrechts die Herstellung und Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs in den jeweiligen Märkten steht, während es bei
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V. Zulässigkeit einer gesetzlichen leistungsbezogenen Frauenquote für die Wirtschaft Aus der Verortung der Frauenförderung im System des Regulierungsrechts folgen Legitimation und Limitierung einer gesetzlichen Frauenquote für die Wirtschaft. Gesetzliche Frauenquoten für die Wirtschaft und für den öffentlichen Dienst sind seit einiger Zeit wieder Gegenstand intensiver Diskussion.66 Für die (verfassungs-)rechtliche Bewertung ist zwischen einer leistungsbezogenen (relativen) und einer starren (absoluten) gesetzlichen Frauenquote zu unterscheiden. Bei einer leistungsbezogenen (relativen) Quote erhalten Frauen nur bei mindestens gleicher Qualifikation Vorzug vor männlichen Kandidaten. Von einer starren (absoluten) Quote spricht man, wenn ein bestimmter Anteil an Positionen in der Wirtschaft oder in der öffentlichen Verwaltung ohne Qualifikationsvergleich mit männlichen Bewerbern an Frauen zu vergeben ist. Frauen kommen danach auch dann zum Zuge, wenn sie im Vergleich zu männlichen Kandidaten minder qualifiziert sind. Leistungsbezogene Frauenquoten (mit einer Härteklausel) sind nach ganz überwiegender Ansicht verfassungsrechtlich zulässig.67 Der hierdurch bewirkte Eingriff in die Grundrechte der Unternehmen (Art. 12 Abs. 1 GG) und der männlichen Kandidaten (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) ist durch den Gleichstellungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG und durch die Schutzpflicht gem. Art. 12 Abs. 1 GG gerechtfertigt. Auch der Europäische Gerichtshof hat eine gesetzliche Geschlechterquote im öffentlichen Dienst unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erklärt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes müssen sich Quotenregelungen erstens auf Bereiche beziehen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind.68 Zweitens dürfen Quotenregelungen Frauen nur Vorrang bei der Vergabe von Stellen einräumen, wenn sie für die Stelle gleich oder gleichermaßen geeignet sind wie ihre männlichen Mitbewerber.69 Drittens dürfen Frauen bei gleicher Qualifikation nicht automatisch bevorzugt werden;70 vielmehr bedarf es einer der Verwirklichung des grundrechtlichen Schutzauftrages im Kern um den Schutz individueller Freiheiten geht; vgl. hierzu oben sub II. 1, nach Fn. 11. 66 Vgl. hierzu zuletzt Papier/Heidebach, Frauenquoten im öffentlichen Dienst, 2016, S. 7 ff. 67 Vgl. nur Brosius-Gersdorf, in: Sejm (Hrsg.), Gender quotas in commercial law companies, 2014, S. 323 (325 ff.); Döring; Frauenquoten und Verfassungsrecht, 1996, S. 235 ff.; Habersack/Kersten, BB 2014, 2819 (2825); Papier/Heidebach, Frauenquoten im öffentlichen Dienst, 2016, S. 11 ff. m.w.N. in Fn. 33. 68 EuGH, Rs. C-158/97, Slg. 2000, S. I-1919 Rn. 23 und S. I-1923 Rn. 38 (Badeck u. a.); EuGH, Rs. C-407/98, Slg. 2000, S. I-5585 Rn. 62 (Abrahamsson und Anderson); EuGH, Rs. C-409/95, Slg. 1997, S. I-6393 Rn. 35 (Marschall); EuGH, Rs. C-450/93, Slg. 1995, S. I-3051 Rn. 16 (Kalanke). 69 EuGH, Rs. C-158/97, Slg. 2000, S. I-1919 Rn. 23 und S. I-1923 Rn. 38 (Badeck u. a.); EuGH, Rs. C-407/98, Slg. 2000, S. I-5585 Rn. 62 (Abrahamsson und Anderson); EuGH, Rs. C-409/95, Slg. 1997, S. I-6393 Rn. 35 (Marschall). 70 EuGH, Rs. C-158/97, Slg. 2000, S. I-1917 Rn. 18 und S. I-1919 Rn. 23 (Badeck u. a.); EuGH, Rs. C-450/93, Slg. 1995, S. I-3051 Rn. 16, 22, 24 (Kalanke).
Frauenförderung als Element des Regulierungsrechts
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objektiven Beurteilung im Einzelfall, ob in der Person des gleich geeigneten männlichen Bewerbers liegende besondere persönliche Gründe überwiegen (Härtefallklausel).71 Solche Kriterien dürfen viertens ihrerseits gegenüber weiblichen Bewerbern keine diskriminierende Wirkung zeitigen.72 Demgegenüber sind nach nahezu einhelliger Auffassung starre (absolute) gesetzliche Geschlechterquoten mit der Verfassung unvereinbar.73 Die vereinzelt vertretene Gegenansicht74 lässt sich mit dem Gleichstellungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG und dem Schutzauftrag des Art. 12 Abs. 1 GG nicht in Einklang bringen. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichtet den Staat nur dazu, tatsächliche Nachteile, die für Frauen wegen ihres Geschlechts bestehen, abzubauen und auf diese Weise die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Lebenswirklichkeit durchzusetzen. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG sucht ausschließlich tatsächliche Diskriminierungen wegen des Geschlechts zu beseitigen; liegt keine geschlechtsbezogene Diskriminierung vor, kommt Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG nicht zum Tragen. Gesetzliche Frauenquoten dürfen also nur die Nachteile ausgleichen, die Frauen wegen ihres Geschlechts haben. Die auszugleichende Unterrepräsentanz muss auf einer geschlechterbezogenen Benachteiligung beruhen.75 Kommen Frauen aus nichtgeschlechtsbezogenen Gründen, sondern zum Beispiel wegen geringerer Qualifikation nicht zum Zuge, liegt kein Anwendungsfall des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG vor. Starre Quotenregelungen, die Frauen beim Zugang zu (Leitungs-)Positionen in der Wirtschaft und öffentlichen Verwaltung ungeachtet ihrer Qualifikation Vorrang einräumen, verfehlen das Normziel des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG und beruhen bereits auf einer von Verfassungs wegen unzulässigen Zielsetzung.76 Ebenso fehlt es insoweit an einer strukturellen Disparität, die staatliche Schutzpflichten nach Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG begründen könnte. Ist die Unterrepräsentanz von Frauen in der Wirtschaft und öffentlichen Verwaltung nicht Folge einer geschlechtsbezogenen Benachteiligung, sondern geringerer Quali71 EuGH, Rs. C-158/97, Slg. 2000, S. I-1918 f. Rn. 22, 23 und S. I-1923 Rn. 38 (Badeck u. a.); EuGH, Rs. C-407/98, Slg. 2000, S. I-5585 Rn. 61, 62 (Abrahamsson und Anderson); EuGH, Rs. C-409/95, Slg. 1997, S. I-6393 Rn. 35 (Marschall). 72 EuGH, Rs. C-409/95, Slg. 1997, S. I-6393 Rn. 35 (Marschall). 73 Vgl. nur Brosius-Gersdorf, in: Sejm (Hrsg.), Gender quotas in commercial law companies, 2014, S. 323, 325 ff.; Habersack/Kersten, BB 2014, 2819, 2824 und 2827; Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 80. EL Juni 2017, Art. 3 Abs. 2 Rn. 90; Papier/Heidebach, Frauenquoten im öffentlichen Dienst, 2016, S. 26 ff. m.w.N. in Fn. 63. 74 Frost/Linnainmaa, AG 2007, 601 ff.; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1991, S. 378 f. 75 Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 80. EL Juni 2017, Art. 3 Abs. 2 Rn. 100; Papier/Heidebach, Frauenquoten im öffentlichen Dienst, 2016, S. 15. 76 In diesem Sinne (wohl) auch Habersack/Kersten, BB 2014, 2819 (2824); vgl. aber Papier/Heidebach, Frauenquoten im öffentlichen Dienst, 2016, die den Aspekt, dass Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG nur zum Ausgleich von geschlechtsbezogenen Nachteilen verpflichtet, nicht im Rahmen der zulässigen Zielsetzung (vgl. S. 13), sondern der Angemessenheit der Maßnahme (vgl. S. 15) prüfen.
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fikation, liegen keine strukturellen Zugangshürden vor, die der Staat kraft seiner Schutzpflichten abbauen dürfte. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG legitimieren und limitieren den Gesetzgeber zur Herstellung von Chancengleichheit, nicht von Erfolgsgleichheit.77 Auch dies macht deutlich, dass Maßnahmen der Frauenförderung im Bereich der Wirtschaft im Regulierungsrecht beheimatet sind, das chancengleichen Wettbewerb für alle Marktteilnehmer zu gewährleisten sucht,78 nicht aber Erfolgsgleichheit im Wettbewerb.
77
Vgl. Di Fabio, AöR 122 (1997), 404 (412); Habersack/Kersten, BB 2014, 2819 (2824); Langenfeld, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 80. EL Juni 2017, Art. 3 Abs. 2 Rn. 100; Papier/Heidebach, ZDG 2011, 305 (318). 78 Vgl. hierzu oben sub II. 1.
Vergleich der institutionellen Vorschläge im Connectivity Package („TK-Review-Paket“) und dem Clean Energy Package („Winterpaket“) Von Annegret Groebel, Bonn* Wie im Jahr 2007, als die Kommission die Vorschläge zur Überarbeitung des Zweiten Energiebinnenmarktpakets und zur Überarbeitung des 2002 Rechtsrahmens für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste im Abstand weniger Monate vorgelegt hatte1, veröffentlichte die Kommission im Jahr 2016 die Vorschläge zur Überarbeitung des 2009 Rechtsrahmens für elektronische Kommunikation2 und kurz darauf die Vorschläge zur Überarbeitung der Vorschriften für den europäischen Elektrizitätsmarkt.3 Beide greifen neuere Entwicklungen, die die jeweiligen Märkte massiv („disruptiv“) verändern, auf. So dringen die sog. Over-the-top-Dienste (OTTDienste), d. h. netzunabhängig angebotene Dienste/Anwendungen4, in die Märkte der „klassischen“ Telekommunikationsdienste ein und stellen eine Konkurrenz zu traditionellen Geschäftsmodellen dar. Im Energiebereich dringen die erneuerbaren Energien weiter vor und stellen konventionelle Erzeuger zunehmend vor Herausforderungen. Beide Veränderungen erfordern Anpassungen der Regeln, um ein „regulatorisches Level playing field“ sicherzustellen, auf dem sich Wettbewerb unverzerrt entwickeln kann. Diese Entwicklungen bilden den Anlass und Hintergrund für die Gesetzesvorschläge. Daneben erfolgen bei beiden Verschiebungen der Zielgewichte, was mit einer Verlagerung von Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene einhergeht. Die folgende Untersuchung gliedert sich in drei Kapitel. Zunächst werden in den Kapiteln I. (Telekommunikation) und II. (Energie) die wichtigsten vorgeschlagenen Regelungen und Änderungen zum jeweiligen gegenwärtigen Rechtsrahmen beschrieben, wobei der Fokus auf die institutionellen Vorschläge gelegt wird. Bemer* Die nachfolgenden Ausführungen stellen die persönlichen Ansichten der Autorin dar, nicht die der BNetzA. 1 Vgl. Groebel, in: Gramlich/Manger-Nestler (Hrsg.), Europäisierte Regulierungsstrukturen und -netzwerke, 2011, S. 195 ff. 2 Vgl. Regulatory framework for electronic communications in the European Union – Situation in December 2009, im Internet abrufbar unter http://ec.europa.eu/newsroom/dae/ document.cfm?doc_id=2043, zuletzt abgerufen am 16. 4. 2018. 3 S. u. zu den Einzelheiten der beiden Pakete. 4 Vgl. BNetzA, Digitale Transformation in den Netzsektoren, Aktuelle Entwicklungen und regulatorische Herausforderungen, 5/2017, S. 19 ff.
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kenswert ist dabei, dass sich die Kommission zur Begründung der vorgeschlagenen Änderungen in Bezug auf BEREC (Umwandlung in eine dezentrale EU-Agentur) bzw. ACER (Ausweitung der Kompetenzen) auf das sog. „Joint Statement of the European Parliament, the Council of the EU and the European Commission on decentralised agencies“ vom 19. Juli 2012 (bekannt als Common Approach) beruft, obwohl sie sehr unterschiedliche Änderungen vorschlägt. In dem rechtlich nicht bindenden Common Approach5 werden Prinzipien und Regeln für sog. dezentrale EU-Agenturen6 niedergelegt, mit denen eine Vereinheitlichung derselben im Hinblick auf die folgenden fünf Bereiche angestrebt wird: Kapitel I: Role and position of agencies in the EU’s institutional landscape (Rolle und Stellung der Agenturen im institutionellen Gefüge der EU), Rn. 1 – 9; Kapitel II: Structure and governance of agencies (Struktur und Verwaltung der Agenturen), Rn. 10 – 22; Kapitel III: Operation of agencies (Arbeitsweise der Agenturen), Rn. 23 – 26; Kapital IV: Programming of activities and resources (Programmierung der Tätigkeiten und Ressourcen), Rn. 27 – 45; Kapitel V: Accountability, controls and transparency and relations with stakeholders (Verantwortlichkeit, Kontrollen und Transparenz sowie Beziehungen zu den interessierten Kreisen), Rn. 46 – 66.
Anhand der wichtigsten Punkte der fünf Bereiche werden die Vorschläge der Kommission für BEREC und ACER auf ihre Übereinstimmung bzw. Abweichung mit dem Common Approach überprüft. Es wird gezeigt werden, dass die wichtigsten der vorgeschlagenen Änderungen nicht mit dem Common Approach begründet werden können, sondern sich auf diesen nur berufen wird, um die eigentlichen Gründe (nämlich in erster Linie die Verschiebung der Balance zwischen nationaler und europäischer Ebene) zu verdecken. Im abschließenden Kapitel III. (Vergleich und Fazit) erfolgt eine vergleichende Bewertung. I. Das Konnektivitätspaket vom 14. September 2016 1. Überblick Am 14. September 2016 hat die Kommission das sog. „Konnektivitäspaket“ zur Überarbeitung des 2009 Rechtsrahmens für elektronische Kommunikation vorge5 Gemeinsame Erklärung, im Internet abrufbar unter http://europa.eu/european-union/sites/ europaeu/files/docs/body/joint_statement_and_common_approach_2012_de.pdf, zuletzt abgerufen am 30. 3. 2018; vgl. auch Pressemitteilung der Kommission „Durchbruch bei den Verhandlungen der EU-Organe über einen gemeinsamen Ansatz für Agenturen“, IP/12/604 v. 13. 6. 2012; sowie zum Hintergrund: https://europa.eu/european-union/about-eu/agencies/over haul_de, zuletzt abgerufen am 16. 04. 2018; vgl. auch Sefcovic, EuZW 2012, 801 f. 6 Vgl. zu dezentralen EU-Agenturen https://europa.eu/european-union/about-eu/agencies/de centralised-agencies_de, zuletzt abgerufen am 30. 3. 2018.
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legt.7 Es umfasst folgende Dokumente bzw. Vorschläge für die Änderung bestehender Rechtsakte: - Mitteilung „Konnektivität für einen wettbewerbsfähigen digitalen Binnenmarkt – Hin zu einer europäischen Gigabit-Gesellschaft“ – COM(2016)587_final; - Richtlinie über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (EECC, Recast8 der bestehenden Rahmen-, Zugangs-, Genehmigungs- und Universaldienstrichtlinie9) – COM(2016)590_final; - Verordnung zur Einrichtung des Gremiums europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) – COM(2016)591_final; - Verordnung zur Änderung der Verordnungen (EU) 1316/2013 und (EU) 283/2014 im Hinblick auf die Förderung der Internetanbindung in Kommunen (WiFi4U-Initiative) – COM(2016)589_final; - Mitteilung „5G für Europa – ein Aktionsplan“, COM(2016)588_final. Neben den o. a. Dokumenten wurden zahlreiche „Staff Working Documents“, die u. a. das sog. Impact Assessment10 enthalten, veröffentlicht. Das Konnektivitätspaket ist Teil der im Mai 2015 von der Kommission verabschiedeten „Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa“ (DSM-Strategie).11 Kern beider ist es, die alle Wirtschafts- und Lebensbereiche durchdringende Digitalisierung (Vernetzung) in einem digitalen Binnenmarkt für alle europäischen Bürger und die europäische Wirtschaft bestmöglich nutzbar zu machen, indem ein adäquater Rechtsrahmen geschaffen wird, der die Regeln v. a. der elektronischen Kommunikation weiterentwickelt. Denn dem elektronischen Kommunikationssektor kommt für die Vernetzung eine
7 „Connectivity for a European Gigabit Society“, https://ec.europa.eu/digital-single-market/ en/policies/improving-connectivity-and-access, zuletzt abgerufen am 17. 2. 2018. 8 D. h. einer Neufassung der bestehenden Basisrechtsakte, die inhaltlich geändert werden (dies gilt ebenso für den Vorschlag der Strommarktrichtlinie im Clean-Energy-Paket, mit der die bestehende Strommarktrichtlinie 2009/72/EG neugefasst wird, siehe hierzu unten, Kap. II.). 9 Die Datenschutzrichtlinie (e-privacy) soll durch den am 10. 1. 2017 von der Kommission veröffentlichten Vorschlag für eine E-privacy-Verordnung (COM(2017)10_final) ersetzt werden. 10 Das Fehlen eines Impact Assessment war einer der Gründe für die Ablehnung des EP der 2013 von der Kommission vorgeschlagenen Telecommunications-Single-Market-Verordnung („Connected continent“, COM(2013)627_final, auch als TSM-VO bezeichnet), mit der die Überarbeitung des 2009 ECNS-Rechtsrahmens 2013 gestartet wurde; von diesem Vorschlag blieben schlussendlich nur die (sehr wichtigen) Regelungen zur Netzneutralität und zu International Roaming übrig (verabschiedet als VO (EU) 2015/2120). Viele der jetzt erneut kritisierten Vorschläge waren bereits in dem TSM-VO-Vorschlag enthalten. 11 Mitteilung COM(2015)192_final v. 6. 5. 2015. Vgl. hierzu ausführlich Groebel, in: Gramlich/Manger-Nestler (Hrsg.), Kontinuität und Wandel bei europäisierten Aufsichts- und Regulierungsstrukturen, 2016 , S. 89 ff., hier S. 99 ff.
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zentrale Rolle zu, da er die hierfür erforderliche Konnektivität12 in Form sog. Hochgeschwindigkeitsnetze13 zur Verfügung stellt bzw. stellen muss. Die Ziele des Konnektivitätspakets werden im Namen und in der Mitteilung (COM(2016)587_final) deutlich. Im Mittelpunkt der Vorschläge steht die Verbesserung der Konnektivität, was konkret heißt, dass „bis 2025 alle Privathaushalte einen Internetzugang mit einer Empfangsgeschwindigkeit von mindestens 100 Mbit/s, die auf Gbit/s-Geschwindigkeit aufgerüstet werden kann, erhalten sollen“.14 Des Weiteren sollen „alle Bereiche mit besonderer sozioökonomischer Bedeutung eine äußerst leistungsstarke Gigabit-Internetanbindung haben (mit Sende- und Empfangsgeschwindigkeiten von 1 Gigabit pro Sekunde)“ sowie Vorgaben bezüglich der Versorgung von Stadtgebieten mit einer 5G-Anbindung und mindestens einer Großstadt je Mitgliedstaat bis 2020.15 Das Konnektivitätsziel rückt damit eindeutig stärker in den Vordergrund, auch wenn die Kommission von einer Gleichrangigkeit der Ziele16 spricht. Die Investitionen in die Netze mit sehr hoher Kapazität sollen gefördert werden. Insofern lässt sich eine Verschiebung der Ziele hin zu Investitionsförderung konstatieren, die aber nicht zulasten des Wettbewerbsziels und auch nicht zulasten des wettbewerbsorientierten Regulierungsansatzes17 gehen sollte. Letzteres ist jedoch – trotz gegenteiliger Aussage der Kommission – keineswegs sichergestellt, sondern sogar eher zu bezweifeln. Denn die Vorschläge hinsichtlich des Einsatzes des Regulierungsinstrumentariums kehren die Logik des SMP-Konzepts teilweise regelrecht um, z. B. wenn es in Art. 74 EECC-V heißt „shall not impose obligations (…)“, obwohl ein Betreiber als Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht festgestellt wurde („Regulierungsfreistellung“).18 Im Folgenden wird sich auf die beiden auf Art. 114 AEUV gestützten Legislativvorschläge des Kodex (im Weiteren EECC-V) und der BEREC-Verordnung (BEREC-VO-V), mit denen der 2009 Rechtsrahmen für elektronische Kommunikation (ECNS) überarbeitet wird („Review“), konzentriert. 12 13
s. u.). 14
S. u. ausführlich zum Begriff der Konnektivität. Netze mit sehr hoher Kapazität (definiert in Art. 2 Abs. 2 EECC-Vorschlag, EECC-V,
Kommission, Memo 16 – 3009, Lage der Union 2016, 14. 9. 2016. Kommission, Pressemitteilung IP-16 – 3008, Lage der Union 2016, 14. 9. 2016; vgl. auch die ausführliche Darstellung der drei „strategischen Zielsetzungen bis 2025“ der Konnektivität in der Mitteilung „Konnektivität“ (COM(2016)587_final), S. 1 ff. 16 Förderung der Konnektivität, des Wettbewerbs, des Binnenmarktes und der Endnutzerinteressen, Art. 3 Abs. 2 EECC-V. Aus Sicht der Kommission tritt die Konnektivität neu neben die bestehenden Ziele (Art. 8 RRL), siehe z. B. Erwägungsgrund 24 EECC-V, allerdings lässt sie sich auch schon aus dem Ziel der Förderung „effizienter Investitionen und Innovationen im Bereich neuer und verbesserter Infrastrukturen“ (Art. 8 Abs. 5 lit. d RRL) herleiten. 17 Vgl. hierzu ausführlich Groebel, in: Holznagel (Hrsg.), 20 Jahre Verantwortung für Netze, 2018, S. 71 ff. 18 Vgl. auch Sickmann/Neumann, NuR 2018, 92 ff. 15
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Da mit dem EECC-V vier Richtlinien des bestehenden Rechtsrahmens für elektronische Kommunikation überarbeitet werden, ist er entsprechend umfangreich und enthält 287 Erwägungsgründe, 118 Artikel und 11 Anhänge. Dies führt unvermeidlich zu einer hohen Komplexität. Nach Erwägungsgrund 24 EECC-V hat die Kommission ein weites Verständnis von Konnektivität, die den „widespread access to and take-up of very high capacity networks“ für alle EU Bürger und Unternehmen einschließt. Auch wenn hier ein nachfrageseitiger Aspekt enthalten ist, wird dies mit dem Streben nach „very high capacity networks“ und „convergence in capacity available in different areas“ „übersetzt“, d. h. anschließend wird „Konnektivität“ im Wesentlichen mit „very high capacity networks“ (und Investitionen in diese) gleichgesetzt. Nur diese „Netze mit sehr hoher Kapazität“ werden in Art. 2 Abs. 2 EECC-V definiert, wobei trotz gegenteiliger Beteuerung durch den Bezug auf „Glasfaserkomponenten“ das Prinzip der Technologieneutralität letztlich aufgegeben wird. Sie stehen im Weiteren im Fokus der Vorschläge zur Marktregulierung, d. h. zum SMP-Konzept und dem Einsatz der Regulierungsinstrumente („remedies“). Wie oben festgestellt wird aus Sicht der Kommission der 2009 Regulierungsrahmen fortgeführt, sodass es sich grundsätzlich um eine evolutionäre Entwicklung handelt.19 Allerdings kann angesichts einer ganzen Reihe von vorgeschlagenen Änderungen20 insbesondere im Bereich der Marktregulierung die Kontinuität bezweifelt werden. Denn viele Vorgaben widersprechen der postulierten Fortführung, weshalb es hier noch entsprechender Korrekturen im Gesetzgebungsprozess bedarf, um den erfolgreichen SMP-Ansatz zu erhalten. Mit den vorgeschlagenen Vorgaben zur Marktregulierung (Art. 57 ff. EECC-V) scheint es eher zu einem Abbau, wenigstens aber zu einer Abschwächung der SMP-Regulierung zu kommen.21 Denn obwohl die Kommission darauf verweist, dass auch sie „Wettbewerb als Haupttreiber von Investitionen“ sieht, hält sie es 19
So auch Scherer, MMR 2016, 713 f. Die Kommission selbst spricht von „significant adjustments“, siehe EECC-V, Explanatory Memorandum, S. 11. 21 So wird z. B. die Feststellung beträchtlicher Marktmacht (SMP) mit verschiedenen Vorgaben erschwert, etwa der Berücksichtigung von „market developments which may increase the likelihood of the market tending towards effective competition“, Art. 65 Abs. 2 lit. a EECC-V, vgl. hierzu auch ausführlich BEREC, Positionspapier „BEREC views on the market review process in the Commission’s proposal and ITRE draft Report“, BoR(17)85; BEREC hat nach der im Dezember 2016 veröffentlichten „BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework“, BoR(16) 213 im Jahr 2017 zu einzelnen Themen Positionspapiere, die teilweise auch konkrete Änderungsvorschläge enthalten, veröffentlicht, s. u. die ausführliche tabellarische Übersicht (alle BEREC-Dokumente sind auf der Website www.berec.europa.eu abrufbar). Vgl. auch Neumann/Sickmann/Alkas/Koch, Reformbedarf des europäischen Rechtsrahmens für elektronische Kommunikation – Recht und Ökonomie der Telekommunikationsregulierung in Zeiten der Gigabit-Gesellschaft, 2017 (hervorgegangen aus einer Studie im Auftrag der BNetzA), S. 170 ff.; Gerpott, KuR 2016, 801 ff., hier 804 f. 20
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für opportun, Anreize für Investitionen in Netze mit sehr hoher Kapazität durch Reduzierung („Vereinfachung“) von SMP-Regulierung zu setzen.22 Tatsächlich dürften die detaillierten Prüfvorgaben eher zu komplexeren Verfahren23 und zu einem „Mikromanagement“24 führen, sodass das Risiko besteht, dass die für Investitionen essenzielle Vorhersehbarkeit und Planungssicherheit – entgegen der Annahme der Kommission – gerade verringert wird und es so weder zu mehr Investitionen noch zum Erhalt des Wettbewerbs kommt, sondern beides verlorengeht. Diese Vorschläge sind auf eine falsche Ursachenanalyse der Kommission zurückzuführen. Die „Zurückhaltung“ bei Investitionen liegt weder an einem Übermaß noch an inkonsistenter Regulierung25 der NRB, sondern teilweise eher an fehlender/geringer Nachfrage (und dadurch fehlendem Business case) bzw. zu hohen Erwartungen an die „Pay-back-Periode“, das Zurückverdienen ist ein Prozess, der Zeit benötigt.26 Infolge dieser falschen Ursachenanalyse besteht die (Neu-)Ausrichtung der Marktregulierung27 auf die Förderung von Investitionen in Netze mit sehr hoher Kapazität, die privilegiert werden,28 v. a. in einem Erschweren der Zugangs- und Entgeltregulierung und einer „Vorfestlegung“ auf bestimmte Geschäftsmodelle wie Co-Investment (Art. 74 EECC-V), Wholesale-only-Betreiber (Art. 77 EECC-V)29, 22 Vgl. auch BEREC, BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework, BoR(16)213, S. 6 ff.; und BEREC, Positionspapier „The forced step-back of regulation“, BoR(17)83. 23 Vgl. z. B. die Vorgaben zur regulatorischen Freistellung von Co-Investment-Szenarien in Art. 74 EECC-V. 24 Dem auch durch die Vorgabe von Planungselementen („Markterkundung“, Geographische Erhebungen zum Netzausbau, Art. 22 EECC-V) Vorschub geleistet wird, die einen „planwirtschaftlichen“ Einschlag haben. 25 Letztere muss auch zur Begründung der Notwendigkeit der Umwandlung von BEREC in eine dezentrale EU-Agentur herhalten, s. u. ausführlich. 26 Denn letztlich werden Investitionsentscheidungen im Privatsektor danach getroffen, ob sich die Investition – in Abhängigkeit von der erwarteten Nachfrage etc. – rechnet, nicht nach den „Zielen, die die Kommission oder Mitgliedstaaten in Breitbandstrategien oder -plänen festlegen“ wie die Kommission ausführt, Mitteilung „Konnektivität“ (COM(2016)587_final), S. 5. 27 Vgl. Mitteilung „Konnektivität“ (COM(2016)587_final), S. 9 f.; sowie EECC-V, Explanatory Memorandum. Aus Sicht der Kommission geht es dabei „nicht mehr nur um den Wettbewerb beim Netzzugang, sondern auch um den Wettbewerb um Investitionen in diese Netze“, siehe Pressemitteilung IP-16 – 3008, Lage der Union 2016, 14. 9. 2016. Wie gezeigt gehen die Vorschläge jedoch in die entgegengesetzte Richtung, d. h. der Bevorzugung bestimmter Investitionen, während die Bedeutung des Wettbewerbs abgeschwächt wird. Es findet insofern ein (subtiles) „Umfunktionieren“ des Wettbewerbs statt, dem nur noch die Rolle des „Erfüllungsgehilfen“ zur Erreichung der politisch vorgegebenen Ausbauziele zugebilligt wird. 28 Eckhardt/Baran/Van Roosebeke weisen zurecht darauf hin, dass diese Privilegierung „ordnungspolitisch unzulässig in Marktprozesse ein[greift]“, cep-Analyse Nr. 36/2016, S. 3. 29 Vgl. zu Art. 74 EECC-V und Art. 77 EECC-V kritisch die beiden BEREC, Positionspapiere „BEREC views on Article 74 of the draft Code Co-investment and very high-capacity
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Vorrang des Zugangs zu passiver Infrastruktur anstelle aktiver Zugangsprodukte (Art. 70/71 EECC-V), wodurch die Gefahr besteht, dass die Vielfalt der im Markt etablierten Geschäftsmodelle verlorengeht, weil die Investitionsanreize eben nicht wettbewerbsneutral sind, sodass es zu einer Verringerung der Wettbewerbsintensität und damit letztlich auch zu einer Verringerung der Angebotsauswahl für die Verbraucher kommt. Dies deutet daraufhin, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht geeignet sind, die Ziele des Art. 3 EECC-V zu erreichen. Neben dem Erschweren der Zugangs- und Entgeltregulierung wird deren Einsatz durch die NRB auch „vorstrukturiert“, d. h. die Kommission macht hier sehr restriktive Vorgaben („shall impose“), wie die Instrumente von den NRB genutzt werden sollen.30 Damit wird die bisherige Flexibilität (Ermessensspielraum) der NRB bei der Auswahl der geeigneten regulatorischen Verpflichtungen, die eine maßgeschneiderte Regulierung für die nationale Marktsituation ermöglicht, so stark eingeschränkt, dass es den NRB künftig kaum oder gar nicht mehr möglich wäre, die Verpflichtungen auf die spezielle Situation zuzuschneiden, ein Kernelement der jetzigen Marktregulierung. Dies ist insbesondere auch vor dem Hintergrund des Vorschlags eines sog. „double-lock-veto“31 kritisch, mit dem die Kommission erneut versucht, ein „veto on remedies“ zu bekommen. Aus Sicht von BEREC reicht das bisherige Art. 7a-RRL-Verfahren für eine konsistente Regulierung aus. Konsequenterweise lehnt BEREC die Einschränkungen der Flexibilität bei der Auswahl der Regulierungsverpflichtungen und insbesondere die Einführung des „double-lock-veto“32 ebenso ab wie die Umwandlung von BEREC in eine dezentrale EU-Agentur.33 Auch die Ausweitung des Instrumentariums um symmetrische Verpflichtungen (also Verpflichtungen, die allen Betreibern unabhängig von beträchtlicher Marktmacht auferlegt werden, Art. 59 EECC-V)34 geht mit der gleichzeitigen Einschränkung der Flexibilität der NRB einher, die gewissermaßen wieder „eingefangen“ wird. Diese Vorstrukturierung führt zu einer Vereinheitlichung der Regulierungsentscheidungen, was aber wegen der unterschiedlichen Marktsituationen in den Mitgliedstaaten gerade nicht zu einer Weiterentwicklung des Binnenmarkts beiträgt, da die Re-
(VHC) networks“, BoR(17)87; „BEREC views on Article 77 of the draft Code Vertically separate undertakings“, BoR(17)88. 30 Im Extremfall werden in der Richtlinie feste Obergrenzen für die Festnetz- und Mobilfunkterminierungsentgelte vorgegeben, Art. 73 EECC-V, was völlig unsystematisch ist. 31 D. h. nur bei Zustimmung von BEREC kann die Kommission ein Veto gegen die von einem NRB notifizierte Abhilfemaßnahme aussprechen, Art. 33 EECC-V. Das Letztentscheidungsrecht des einzelnen NRB ginge gleichwohl verloren. 32 Vgl. BEREC, Positionspapier „BEREC views on the double lock veto in the Commission’s proposal and ITRE draft Report“, BoR (17)89. 33 Vgl. BEREC, BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework, BoR(16)213, S. 11 ff. 34 Vgl. hierzu BEREC, Positionspapier „Ensuring continued NRA powers to impose symmetric access obligations, Amendments to Article 59, Article 13, Annex I of the EECC“, BoR (17)86.
612
Annegret Groebel
gulierung in den einzelnen Mitgliedstaaten weniger effektiv wird, der Binnenmarkt aber gerade von effektiv regulierten nationalen Märkten getragen wird. Bemerkenswert ist, dass die Verschiebung hin zu einem eher planerischen (planwirtschaftlichen) als wettbewerbsorientierten Ansatz gerade nicht zu einer effektiveren Regulierung führt. Ebenso wenig trägt die Vereinheitlichung der Regulierung durch die Vorstrukturierung und das „double-lock-veto“ zu einer effektiveren Binnenmarktentwicklung bei. Bevor die institutionellen Vorschläge näher dargestellt und analysiert werden, sollen noch kurz die Vorschläge zur Frequenzregulierung und den sog. OTT-Diensten beschrieben werden. Die Vorschläge zur Frequenzregulierung finden sich außer in Art. 4 EECC-V (bislang Art. 8a RRL), Art. 35 EECC-V (sog. „Peer review process“, neu) in den Artikeln 42/45 – 56 EECC-V. Generell sind die Vorschläge zur Verwaltung der Funkfrequenzen kritisch zu bewerten, da die Kommission erneut versucht, unter Missachtung des Subsidiaritätsprinzips Zuständigkeiten bei der Koordinierung an sich zu ziehen, was zu einer Zentralisierung (top-down-Ansatz)35 führt. Zur Regelung von Vergabezeitpunkten und Versorgungsauflagen etc. werden v. a. Durchführungsrechtsakte der Kommission vorgeschlagen bzw. bestimmte Vorgaben direkt in der Richtlinie gemacht. So wird z. B. in Art. 49 eine einheitliche Geltungsdauer von Nutzungsrechten von mindestens 25 Jahren für harmonisierte Frequenzen vorgeschlagen. Auch hinter diesen Vorschlägen steckt die Annahme, dass Unterschiede bei der Frequenzvergabe die Binnenmarktentwicklung behindern, was angesichts der anstehenden Vergabe der 5G-Frequenzen vermieden werden soll. Die Mitgliedstaaten befürchten hingegen, dass es durch die Kompetenzverschiebung zu einer Verlangsamung der Vergabeverfahren kommt und eine zügige Frequenzregulierung zukünftig nicht mehr möglich sein wird. Auch BEREC bezweifelt die Notwendigkeit einer stärkeren Zentralisierung, für die kein Nachweis erbracht worden ist. Hinsichtlich des Vorschlags eines sog. „Peer review process“, in den BEREC eingebunden sein soll, betont BEREC, dass ein solcher nur bei Freiwilligkeit funktioniert, ansonsten komme es lediglich zu einer unnötigen Verzögerung der Vergabe.36
35
Vgl. Gerpott, KuR 2016, 801 ff., hier 802 f. Vgl. BEREC, BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework, BoR(16)213, S. 2 f.; und BEREC, Positionspapier „Peer review process (Art. 35)“, BoR(17)129. Vgl. auch BEREC, Positionspapier „BEREC’s views on duration, on renewal of rights and on coordinated timing of assignments (Art. 49, 50 and 53)“, BoR(17)90; BEREC, Positionspapier „BEREC paper on the Commission’s proposals for an EECC Spectrum Provisions – Implementing Acts“, BoR(17)91. Ausführlicher hat sich die RSPG zu den Frequenzverwaltungsvorschlägen geäußert, vgl. RSPG, RSPG Opinion on the Spectrum issues in the proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council for the establishment of a European Electronic Communications Framework, RSPG17 – 017. Die RSPG befürwortet ebenfalls nur einen freiwilligen und keinen obligatorischen Peer review. 36
Institutionelle Vorschläge im Connectivity Package und Clean Energy Package
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Allgemein begrüßt wird die Einbeziehung bestimmter OTT-Dienste („OTT-Kommunikationsdienste oder „interpersonal communications services“), die in die Telekommunikationsmärkte vordringen und somit auch grundsätzlich unter den Rechtsrahmen fallen sollten.37 Hier wird die differenzierte Herangehensweise begrüßt, die Auferlegung verschiedener Verpflichtungen von der Rufnummernnutzung abhängig zu machen, d. h. dass beispielsweise Vorschriften zur IT-Sicherheit und zum Datenschutz auch auf OTT-Diensteanbieter erstreckt werden, hingegen wird die Notrufund Interoperabilitätsverpflichtung nur unter spezifischen Bedingungen auf nummernunabhängig erbrachte OTT-Dienste ausgeweitet. Hinsichtlich der vorgeschlagenen Verbraucherschutzvorschriften (Art. 79 ff. EECC-V) wird für eine Beibehaltung des Mindestharmonisierungsansatzes plädiert anstelle des angestrebten Vollharmonisierungsansatzes.38 Die Vorschläge zur Modernisierung des Universaldienstes tragen der Entwicklung bei breitbandigen Internetanschlüssen Rechnung. Die flächendeckende Verfügbarkeit derselben unterfällt grundsätzlich nicht mehr dem Universaldienst, der sog. funktionale Internetzugang wird nicht mehr anhand einer bestimmten Datenübertragungsrate, sondern anhand von Diensten, die dieser unterstützen soll, definiert, sodass Mitgliedstaaten den Universaldienst an ihre nationale Situation anpassen können.39 Die folgende Übersicht listet die BEREC Opinion40 und Positionspapiere41 zu den Review-Vorschlägen der Kommission vom 14. September 2016 auf. BEREC Document Title
Document Number
Articles
Date of approval/ publication
BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework
BoR(16) 213
EECC, BEREC-Regulation
12 Dec. 2016
BEREC views on the draft report elaborated by ITRE Rapporteur, Mr. Evzˇ en Tosˇenovsky´ on the proposal for a Re-
BoR(17)94
BEREC Regulation, ITRE Report
28 March 2017
37 Vgl. z. B. BEREC, BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework, BoR(16)213, S. 4 f. 38 Vgl. BEREC, BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework, BoR(16)213, S. 5. 39 Vgl. auch BEREC, BEREC views on the Universal Service regime as in the Commission’s proposals and IMCO Opinion, BoR(17)203. 40 Die BEREC high level Opinion ist abrufbar unter http://berec.europa.eu/eng/document_ register/subject_mat-ter/berec/opinions/6615-berec-high-level-opinion-on-the-european-com missions-proposals-for-a-review-of-the-electronic-communications-framework, zuletzt abgerufen am 16. 4. 2018. 41 Die Positionspapiere sind abrufbar unter http://berec.europa.eu/eng/document_register/ subject_matter/berec/press_releases/7090-updated-press-release-on-berec-papers-on-the-re view, zuletzt abgerufen am 16. 4. 2018.
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Annegret Groebel
BEREC Document Title
Document Number
Articles
Date of approval/ publication
BEREC’s views on duration, on renewal of rights and on coordinated timing of assignments (Art. 49, 50 and 53)
BoR(17)90
Art. 49, 50, 53 EECC
28 March 2017
BEREC views on non-competitive oligopolies in the Electronic Communications Code (EECC)
BoR(17)84
Art. 61, 62, 65 EECC
28 March 2017
The forced step-back of regulation – Promoting investment, protecting competition, and preserving the integrity of the SMP framework
BoR(17)83
EECC
11 May 2017
BEREC views on the market review process in the Commission’s proposal and ITRE draft Report
BoR(17)85
EECC, ITRE Report
11 May 2017
Ensuring continued NRA powers to impose symmetric access obligations, Amendments to Art. 59, Article 13, Annex I of the EECC
BoR(17)86
Art. 59, Article 13, Annex I EECC
11 May 2017
BEREC views on Article 74 of the draft Code – Co-investment and „very highcapacity (VHC) networks“
BoR(17)87
Art. 74 EECC
11 May 2017
BEREC views on Article 77 of the draft Code Vertically separate undertakings
BoR(17)88
Art. 77 EECC
11 May 2017
BEREC views on the double lock veto in the Commission’s proposal and ITRE draft Report
BoR(17)89
Art. 33 EECC
11 May 2017
BEREC paper on the Commission’s proposals for an EECC Spectrum Provisions – Implementing Acts
BoR(17)91
Art. 45 ff EECC
11 May 2017
BEREC views on information gathering powers
BoR(17)92
Art. 20 EECC
11 May 2017
BEREC views on Articles 12 & 16 of the draft Code – „Notification Process“ and “Administrative charges“
BoR(17)93
Art. 12, 16 EECC
11 May 2017
Peer review process (Article 35)
BoR(17) 129
Art. 35 EECC
7 June 2017
gulation of the European Parliament and of the Council establishing the Body of European Regulators for Electronic Communications (BEREC)
Institutionelle Vorschläge im Connectivity Package und Clean Energy Package BEREC Document Title
Document Number
BEREC Papers on the review – Updated press release; BEREC Papers on the review – Consolidated version
BoR(17) 95rev1 BoR(17) 95/ BoR(17) 95rev1 BoR(17) 194
BEREC High level Statement on NRAs’ Competences
Articles
EECC, BERECRegulation
615
Date of approval/ publication 7 June 2017 11 May 2017/ 7 June 2017
Art. 5 EECC
11 Oct. 2017
BEREC views on ITRE proposals introducing a country of establishment principle under the Code
BoR(17) 202
Art. 13.1 ITRE report; Art. 15 EECC
24 Oct. 2017
BEREC views on the Universal Service regime as in the Commission’s proposals and IMCO Opinion
BoR(17) 203
Art. 79 + Annex V EECC
24 Oct. 2017
2. BEREC-VO-Vorschlag Wie schon bei ihren Review-Vorschlägen 2007 sowie dem TSM-VO-Vorschlag 201342 fordert die Kommission erneut die Einrichtung einer EU-Agentur und das sog. „Veto-on-remedies“, d. h. der BEREC-VO-V sieht eine Umwandlung der bisherigen „Zwei-Strang-Struktur“ von BEREC gem. VO (EG) Nr. 1211/2009 und ein sog. „Double-lock-Veto“ in Art. 33 EECC-V vor. Dieser institutionelle Vorschlag ebenso wie das Double-lock-Veto werden mit einer (vermeintlich) inkonsistenten Regulierung („regulatory fragmentation“), die ein Ausschöpfen des Binnenmarkt- und Investitionspotenzials durch Verzerrung verhindere, begründet.43 Allerdings ist die Argumentation wenig überzeugend, da auf die erfolgreiche Arbeit von BEREC und dem BEREC-Office in der jetzigen Struktur hingewiesen wird, was eher den gegenteiligen Schluss nahelegt.44 Jedenfalls erschließt sich der Mehrwert einer Umwandlung von BEREC in eine „fully-fledged agency“ für den Binnenmarkt nicht.45 42 Vgl. hierzu Groebel, in: Manger-Nestler/Gramlich (Hrsg.), Kontinuität und Wandel bei europäisierten Aufsichts- und Regulierungsstrukturen, 2016, S. 89 ff. 43 Vgl. BEREC-VO-V, Explanatory Memorandum, S. 3 ff. 44 Hierauf weist auch BEREC sehr deutlich hin, vgl. BEREC, BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework, BoR(16)213, S. 11 ff., hier S. 13. Vgl. auch Gerpott, KuR 2016, 801 ff., hier 808 und Manger-Nestler/Gramlich, NuR 2017, 79 ff., hier 87. 45 Auch die Stakeholder Consultation stützt die Vorgehensweise der Kommission nicht, weniger als die Hälfte der Antworten befürwortet ein „adjustment [of] the institutional setup“, op. cit. S. 9. Schließlich ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass der zunächst vorgelegte erste Entwurf des Impact Assessment (v. 13. 6. 2016) des Gesamtpakets eine negative Bewertung des kommissionsinternen Regulatory Scrutiny Board erhielt, http://ec.euro
616
Annegret Groebel
Tatsächlich scheint denn die Motivation der Kommission auch eher darin zu bestehen, eine Angleichung von BEREC an den Common Approach vorzunehmen.46 Um dies zu erreichen, werden BEREC (pro-forma) „quasi-binding powers“ im Art. 33-EECC-V-Verfahren (s. u.) und verbindliche Entscheidungsbefugnisse in zwei Fällen (Art. 2.1 lit. b BEREC-VO-V, dies betrifft die Festlegung transnationaler Märkte nach Art. 63 EECC-V und die Entwicklung eines EU-Standardformulars zu Produktinformationen nach Art. 95 EECC-V) gegeben, da (erst) verbindliche Entscheidungsbefugnisse die Schaffung einer EU-Agentur47 erfordern. Allerdings stimmt die vorgeschlagene Governance-Struktur nicht mit den Prinzipien des Common Approach (s. o.) überein, im Gegenteil, sie weicht zum Teil deutlich davon ab. So dient die Umwandlung in erster Linie einer Stärkung der Rolle der Kommission, während die des Regulierungsrats geschwächt wird (zulasten der NRB). Es käme also zu einer deutlichen Verlagerung und die bisherige funktionierende Balance zwischen nationaler Ebene (NRB) und europäischer Ebene (BEREC, Kommission) wäre verschoben. Wie in der Vergangenheit lehnen BEREC und der Ministerrat deshalb beides eindeutig als unbegründet ab.48 Denn die bisherige Struktur von BEREC sowie das Art. 7a-RRL-Verfahren sind ausreichend, um den Binnenmarkt weiter zu entwickeln, sodass die vorgeschlagenen Änderungen lediglich zu einer unnötigen Bürokratisierung und Zentralisierung49 führen. Hingegen werden bestimmte Elemente der Vorschläge vom EP nicht ganz so kritisch gesehen (s. u.), wobei aber die Umwandlung in eine EU-Agentur vom EP Rapporteur Mr. Evzˇen Tosˇenovsky´ ebenfalls abgelehnt wurde (Beibehaltung der bisherigen Zwei-Strang-Struktur, sowie Streichung von Art. 2.1 b) BEREC-VO-V im Berichtsentwurf vorgeschlagen, siehe aber unten zum EP-Bericht).50 pa.eu/smart-regulation/impact/ia_carried_out/docs/ia_2016/sec_2016_410_0.pdf; erst die nachgebesserte Version v. Juli 2016 endete mit einer positiven Bewertung, http://ec.europa.eu/smartregulation/impact/ia_carried_out/docs/ia_2016/sec_2016_0410_en.pdf, zuletzt abgerufen am 07. 4. 2018. 46 Vgl. BEREC-VO-V, Explanatory Memorandum, S. 7. 47 Vgl. zur Rolle und den Voraussetzungen für eine dezentrale EU-Agentur ausführlich Groebel/Horstmann, in: Berliner EnR-Kommentar, Bd. 3, 2018, ACER-Verordnung (EG) 713/ 2009 Rn. 1 ff.; Orator, Möglichkeiten und Grenzen der Einrichtung von Unionsagenturen, 2017; speziell zum Common Approach S. 391 ff.; Szapiro, The Framework for European Regulatory Agencies: A Balance Between Accountability and Autonomy, 3rd ECPR 2005 Conference, im Internet abrufbar unter http://regulation.upf.edu/ecpr-05-papers/mszapiro.pdf, zuletzt abgerufen am 7. 4. 2018. 48 Vgl. BEREC, BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework, BoR(16)213, S. 11 ff.; BEREC, Positionspapier „BEREC views on the double lock veto in the Commission’s proposal and ITRE draft Report“, BEREC(17)89. 49 Auch die Vorschläge für eine stärkere Frequenzkoordinierung (s. o.) zielen auf eine größere Zentralisierung. 50 Vgl. zum ursprünglichen Draft Report: BEREC, BEREC views on the draft report elaborated by ITRE Rapporteur, Mr. Evzˇ en Tosˇenovsky´ on the proposal for a Regulation of the
Institutionelle Vorschläge im Connectivity Package und Clean Energy Package
617
Zu den begrüßenswerten institutionellen Vorschlägen zählt aus Sicht von BEREC die Angleichung der Zuständigkeiten der NRB (minimum set of harmonised competences, Art. 5 EECC-V)51, was nicht nur die Unabhängigkeit der einzelnen NRB stärkt, sondern auch sicherstellt, dass BEREC in der Lage ist „to pursue coherent harmonisaton inititiaves“52. Im Folgenden werden die (wichtigsten) Vorschläge im Einzelnen beschrieben und den jeweiligen Prinzipien/Regeln des Common Approach gegenübergestellt. Der BEREC-VO-V gliedert sich in die folgenden Kapitel: Kapitel I: Ziele und Aufgaben (Art. 1 – 2); Kapitel II: Organisation (Art. 3 – 14); Kapitel III: Aufstellung und Gliederung des Haushaltsplans (Art. 15 – 20); Kapitel IV: Personal (Art. 21 – 23); Kapitel V: Allgemeine Bestimmungen (Art. 24 – 36); Kapitel VI: Übergangs- und Schlussbestimmungen (Art. 37 – 41).
Nach Art. 1 BEREC-VO-V behält BEREC den bereits eingeführten Namen bei, allerdings verbirgt sich dahinter jetzt nicht mehr nur der Regulierungsrat wie bisher53, sondern unter dem Namen BEREC wird nun die Agentur mit eigener Rechtspersönlichkeit54 verstanden55 und diese umfasst auch das BEREC Office, dessen Rechtsnachfolger die Agentur ist, Art. 39 BEREC-VO-V.56 Durch die Änderung der Verwaltungs- und Managementstruktur (Art. 3 ff. BEREC-VO-V, s. u.) wird jedoch geradezu eine Umkehrung des bisherigen Verhältnisses, in dem BEREC Office gem. VO (EG) Nr. 1211/2009 die Unterstützungsfunktion für den Regulierungsrat zugewiesen ist, vorgenommen.57 BEREC im Sinne des Regulierungsrats58 geht in der Agentur unter. Denn die größte Änderung im Vergleich zur jetzigen organisatorischen Struktur und zugleich die auffälligste Abweichung vom Common Approach ist die Zusammenlegung des Regulierungsrats59 mit dem Verwaltungsausschuss60 zum sog. ManEuropean Parliament and of the Council establishing the Body of European Regulators for Electronic Communications (BEREC), BoR(17)94. 51 Vgl. BEREC, BEREC High-level statement on NRAs‘ competences, BoR(17)194. 52 BEREC, BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework, BoR(16)213, S. 11 ff., hier S. 11. 53 Art. 4 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1211/2009. 54 Art. 24 Abs. 1 BEREC-VO-V. 55 Siehe auch Erwägungsgrund 7 BEREC-VO-V. 56 Vgl. hierzu Manger-Nestler/Gramlich, NuR 2017, 79 ff., hier 88. 57 Und „der Schwanz wedelt mit dem Hund“. 58 Art. 4 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1211/2009. 59 Art. 4 und Art. 5 VO (EG) Nr. 1211/2009. 60 Art. 7 VO (EG) Nr. 1211/2009.
618
Annegret Groebel
agement Board. Dieses soll laut Erwägungsgrund 12 BEREC-VO-V über „regulatorische und operative Fragen als auch über Verwaltungsangelegenheiten und Fragen der Haushaltsführung“61 entscheiden. Dies ähnelt nur vordergründig dem Management Board des Common Approach (Kap. II, Rn. 10 – 13), weicht aber insbesondere in der Zusammensetzung deutlich davon ab. Während Art. 4 BEREC-VO-V vorsieht, dass sich das Management Board aus je einem NRB-Vertreter pro Mitgliedstaat62 und zwei (stimmberechtigten) Vertretern der Kommission zusammensetzt, ist es nach Rn. 10 Common Approach ein Vertreter je Mitgliedstaat, zwei Vertreter der Kommission und ggf. einem vom EP benannten Vertreter sowie ggf. Vertreter der beteiligten Akteure63, also gerade keine Vertreter der NRB. Hier wird somit – anstelle des Konzepts des Common Approach – die bisherige Zusammensetzung des Verwaltungsausschusses des BEREC Office beibehalten, d. h. nicht dem Common Approach gefolgt. Die in Art. 5 BEREC-VO-V folgende Auflistung der Aufgaben des Management Board enthält ausschließlich Verwaltungsaufgaben und arbeitet die in Kap. IV (Programmierung der Tätigkeiten und Ressourcen) und Kap. V (Verantwortlichkeit, Kontrollen und Transparenz sowie Beziehungen zu den interessierten Kreisen) des Common Approach genannten Aufgaben penibel ab, d. h. es werden die bereits jetzt für das BEREC Office geltenden Vorschriften hinsichtlich der mehrjährigen Programmplanung, der Personal-, Finanz- und Haushaltsvorschriften sowie sonstiger Vorgaben einschließlich der für bestimmte Aufgaben vorgegebenen Mehrheitserfordernisse niedergelegt. In Anbetracht dieses Aufgabenkatalogs lässt sich sagen, dass es sich bei dem Management Board um ein „klassisches“ Verwaltungsorgan handelt. Es wird an keiner Stelle in Art. 5 auf die regulatorischen Aufgaben von BEREC nach Art. 264 Bezug genommen. Dass das Management Board auch für diese regulatorischen Aufgaben zuständig sein soll, ergibt sich nur indirekt aus Erwägungsgrund 12 BEREC-VO-V65 und der Tatsache, dass Art. 3 BEREC-VO-V nur das Management Board listet, aber keinen Regulierungsrat. Insofern lässt sich schlussfolgern, dass der Regulierungsrat als das Herzstück von BEREC in der jetzigen Zwei-Strang-Struktur wegdefiniert wird, die Mitgliedschaft der NRB im Management Board lässt sich nicht (bzw. nur indirekt) mit den regulatorischen Aufgaben des Management Board begründen, sondern scheint eher eine Art „Feigenblattfunktion“ zu erfüllen.
61
Hervorhebung nur hier, A.G. Hier wird in Art. 4 Abs. 1 S. 1 geschickt zunächst – wie im Common Approach – von „einen Vertreter pro Mitgliedstaat“ gesprochen, erst aus dem zweiten Satz geht hervor, dass es sich dabei um die Vertreter der NRB handelt. 63 Im englischen Original wird von „stakeholders’ representatives“ gesprochen. 64 Siehe unten ausführlich zum erweiterten Aufgabenkatalog von BEREC nach Art. 2 BEREC-VO-V. 65 Auch hier wird wieder geschickt entlang des Common Approach formuliert, indem das im Common Approach genannte „operational“ mit dem „regulatory“ zusammengezogen wird, was aber keinen Niederschlag im Aufgabenkatalog des Art. 5 findet. 62
Institutionelle Vorschläge im Connectivity Package und Clean Energy Package
619
Hinsichtlich der Abstimmungsregeln folgt der Vorschlag den Regeln des Common Approach. Für die in Art. 5 Abs. 1 lit. a und b, Art. 6 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 8 BEREC-VO-V genannten Aufgaben ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, während für die laufenden Geschäfte Art. 8 Abs. 1 BEREC-VO-V eine Abstimmung mit der „Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder“ vorsieht, was dem Common Approach entspricht (lt. Rn. 13 Common Approach wäre das die absolute Mehrheit). Dies bedeutet im Hinblick auf Entscheidungen über regulatorische Fragen, dass das Mehrheitserfordernis im Vergleich zur jetzigen Zweidrittelmehrheit66 herabgesetzt wird, was es künftiger einfacher macht, Dokumente z. B. zu „best regulatory principles“ zu verabschieden, obwohl diese von weniger NRB angewandt werden.67 Außerdem impliziert die vorgeschlagene Regelung, dass die Kommission nun auch über regulatorische Themen abstimmt – und das sogar mit zwei Stimmen! Die Wahrnehmung der Rolle der NRB innerhalb von BEREC wird künftig auch durch weitere Vorschriften erschwert. In Art. 6 Abs. 3 BEREC-VO-V wird vorgeschlagen, dass die Amtszeit des Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden des Management Board vier Jahre betragen soll, was insbesondere für Vertreter kleinerer NRB einen Vorsitz nahezu ausschließt, auch wenn es der Amtszeit der Mitglieder und ihrer Vertreter des Management Board nach Art. 4 Abs. 4 BEREC-VO-Ventspricht. Die anderen Vorschriften, mit denen die Rolle der NRB innerhalb von BEREC zurückgedrängt werden soll, finden sich in Art. 10 BEREC-VO-V zu den Arbeitsgruppen.68 Zum einen soll das Management Board die Mitglieder der Arbeitsgruppen ernennen, nicht mehr die NRB, obwohl es ihre Experten sind, was schon rein von ihrer Zugehörigkeit zum NRB her ausgeschlossen ist. Zum anderen – genauso falsch – sollen die Arbeitsgruppen nicht mehr von NRB-Vertretern, sondern von den Angestellten der Agentur geleitet werden.69 Mit den Änderungen bezüglich der Arbeitsgruppen und der Abschaffung des Regulierungsrats wäre der „Markenkern“ von BEREC als Expertengremium, nämlich seine Verwurzelung in den NRB als denjenigen, die die technische Expertise durch ihre Regulierungspraxis in die kollektive BEREC-Arbeit einbringen, verloren und das „Bottom-up“-Konzept durch ein „Topdown“-Modell ersetzt.70 Hierzu trägt schließlich auch die Aufwertung der Rolle des „Executive Director“ als Leiter (nach innen) und Vertreter der Agentur nach außen (Art. 9 BEREC-VO-V) bei, die den Regeln des Common Approach folgt. Bislang wurde BEREC durch den jeweiligen Vorsitzenden des Regulierungsrats (also einem NRB) vertreten und nicht 66
Die sich in der Praxis bewährt hat und auch beibehalten werden sollte. Und da jede NRB wie bisher nur eine Stimme hat, wird möglicherweise nicht die Mehrheit der Bevölkerung in den EU-Mitgliedstaaten abgedeckt. 68 Siehe unten zu den hiervon divergierenden Vorschlägen zu den Arbeitsgruppen in dem ACER-VO-V. 69 Auch fehlt eine Regelung bezüglich der Annahme der von den Arbeitsgruppen erarbeiteten Dokumente. 70 Vgl. BEREC, BEREC high-level Opinion on the European Commission’s proposals for a review of the electronic communications Framework, BoR(16)213, S. 11 ff., hier S. 12. 67
620
Annegret Groebel
durch den „Administrative Director“71 des BEREC Office. Das Verhältnis würde sich somit umkehren, der „Verordnungsvorschlag [legt] die GEREK-Organisation so an, dass die Agentur de facto von einem Geschäftsführer gesteuert werden kann, der ein verlängerter Arm der Kommission ist“72. Mit dem BEREC-VO-V wird also erst recht ein Zwitter, der weder Fisch noch Fleisch ist, geschaffen: einerseits NRB-Mitgliedschaft im Management Board, ohne dass andererseits auf regulatorische Aufgaben Bezug genommen wird. Zwar lässt sich argumentieren, dass der Common Approach keinen Regulierungsrat kennt, aber dem Management Board werden gleichwohl keine regulatorischen Aufgaben zugewiesen. Hier wäre man – einmal rein theoretisch unterstellt, die Umwandlung in eine Agentur wäre sinnvoll – besser einem existierenden Beispiel gefolgt – ACER, die sowohl einen für regulatorische Aufgaben zuständigen Regulierungs- als auch einen klar davon getrennten Verwaltungsrat hat73 und dessen beide Organe auch nach dem ACER-VO-V vom 30. November 2016 beibehalten werden (s. u.). Da das Management Board nach Art. 5 BEREC-VO-V für Verwaltungsaufgaben zuständig ist, „passt“ die Zusammensetzung aus Vertretern der NRB und zwei Vertretern der Kommission nicht. Dies bedeutet, dass die Agentur zwar von den NRB – entgegen dem Konzept des Common Approach – (mit)verwaltet wird74, ihr Schwerpunkt jedoch eindeutig in den Verwaltungsaufgaben und nicht bei den regulatorischen Aufgaben, die demgegenüber in den Hintergrund treten, liegt. Mithin handelt es sich bei der Umwandlung von BEREC in eine Agentur und der Konzentration auf das Management Board als Verwaltungsorgan in der Hauptsache um die Schaffung von Bürokratie um der Bürokratie willen, während der Regulierungsrat im Management Board „aufgeht“ und die regulatorischen Aufgaben in den internen Governance-Regeln nur sekundär erscheinen. Darüber hinaus vermischt der vorgeschlagene Ansatz Verwaltungs- und regulatorische Zuständigkeiten, was allgemein den Regeln der Good governance widerspricht. Denn z. B. stimmt die Kommission als stimmberechtigtes Mitglied des Management Board mit über die BEREC Stellungnahme nach Art. 2 Abs. 1 lit b) BEREC-VO ab, die dann ihrerseits in ihre Entscheidung nach Art. 33 EECC-V (Double-lock-Veto) einfließt, d. h. sie hätte hier einen (vorprogrammierten) Interessenskonflikt.75 Ferner stimmt sie mit über die von ihr vorgeschlagene Kandidatenliste für den Executive Director ab (Art. 22 BEREC-VO-V) oder über das Single Pro71
Art. 8 VO (EG) Nr. 1211/2009. Gerpott, KuR 2016, 801 ff., hier 807. 73 Vgl. ausführlich zur gegenwärtigen ACER-VO (EG) Nr. 713/2009 Groebel/Horstmann, in: Berliner EnR-Kommentar, Bd. 3, 2018, ACER-Verordnung (EG) 713/2009 Rn. 64 ff. 74 Im Falle des Verwaltungsausschusses des BEREC Office macht die Verwaltung durch die NRB Sinn, da es ausschließlich der Unterstützung von BEREC (dem Regulierungsrat) dient. 75 Formal wird dieser nur durch die Nichtbezugnahme auf Art. 2 in Art. 5 BEREC-VO-V vermieden. 72
Institutionelle Vorschläge im Connectivity Package und Clean Energy Package
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gramming Document, zu dem sie zuvor eine Stellungnahme abgibt (Art. 15 BERECVO-V). Die Schaffung eines Board of Appeal (Art. 11 – 14 BEREC-VO-V) ist nur nötig, wenn BEREC „binding decisions“76 treffen kann, da gegen diese auch Rechtsschutz gegeben sein muss.77 Die Vorschläge folgen den Vorgaben aus dem Common Approach (Rn. 21) bzw. den einschlägigen Vorschriften (wie sie sich z. B. in der ACER-Verordnung (EG) Nr. 713/2009 finden). Der erweiterte Aufgabenkatalog findet sich in Art. 2 BEREC-VO-V, der neben der Befugnis in zwei Fällen rechtlich bindende Entscheidungen zu treffen (Art. 2 Abs. 1 lit. b BEREC-VO-V) noch die Regelungen zum „Double-lock-Veto“ nach Art. 33 EECC-V (Art. 2 lit. d 2. Spiegelstrich, der auch Stellungnahmen zu Art. 32 und 66 EECC-V betrifft), sowie Stellungnahmen zu Art. 35 EECC-V (Peer review, s. o.) und Art. 38 EECC-Venthält. Ferner werden v. a. Aufgaben, die sich aus der Verordnung (EU) Nr. 2015/2120 ergeben (z. B. die Erstellung von Leitlinien zu Netzneutralität und Roaming), explizit aufgelistet. Des Weiteren benennt Art. 2 BEREC-VOV eine Reihe neuer Aufgaben, die aus dem EECC-V folgen (z. B. die Erstellung von Guidelines zu geographischen Erhebungen nach Art. 22 EECC-V etc.), und eine Reihe von Monitoring- und Berichterstattungsaufgaben sowie das Führen verschiedener Register (z. B. der Nummern mit Rechten zur exterritorialen Nutzung gemäß Art. 87 EECC-V). Wie bisher tragen nach Art. 2 Abs. 3 BEREC-VO-V NRB allen von BEREC verabschiedeten Stellungnahmen, Leitlinien, Empfehlungen und bewährten Verfahren (best regulatory practice) weitestgehend Rechnung, um eine einheitliche Umsetzung (consistent implementation) des Rechtsrahmens sicherzustellen.78 Auf die Sicherstellung einer einheitlichen Umsetzung wird auch in Art. 1 Abs. 3 BEREC-VO-V hingewiesen, die der Entwicklung des Binnenmarkts dient. Art. 1 Abs. 3 enthält auch den Verweis auf die anderen in Art. 3 EECC-V genannten Ziele79 der NRB80, die BEREC verfolgt. Bei Betrachtung des erweiterten Aufgabenkatalogs lässt sich zwar durchaus ein Bedeutungszuwachs von BEREC erkennen, wobei jedoch offensichtlich ist, dass die Zuweisung verbindlicher Entscheidungsbefugnisse in den genannten zwei Fällen nur aus formalen Gründen vorgenommen wird, um die Umwandlung in eine Agentur rechtfertigen zu können, materiell ist sie nicht bedeutsam. Denn die Kompetenz zur Festlegung transnationaler Märkte (nach Art. 63 EECC-V), die bislang bei der Kommission liegt, spielte in der Praxis keine Rolle und ein Produktinformationsformular (nach Art. 95 EECC-V) kann auch ohne rechtsverbindliche Entscheidung ent76
Siehe zu den Aufgaben von BEREC nach Art. 2 BEREC-VO-V den nächsten Absatz. Siehe auch Erwägungsgrund 18 BEREC-VO-V. 78 Erwägungsgrund 10 und 26 BEREC-VO-V verweisen auf die „cross-border dimension“. 79 Förderung der Konnektivität, des Wettbewerbs, des Binnenmarktes und der Endnutzerinteressen, Art. 3 Abs. 2 EECC-V. s. o. 80 In Art. 1 Abs. 3 BEREC-VO-V wird nur auf die NRB Bezug genommen, während in Art. 3 Abs. 2 EECC-V auch auf die „anderen zuständigen Behörden“ verwiesen wird. 77
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wickelt werden. Darüber hinaus spiegelt sich der Bedeutungszuwachs intern nicht in der organisatorischen Struktur wider (s. o.), denn die Aufgaben nach Art. 2 BERECVO werden in Art. 5 BEREC-VO nicht in Bezug genommen und insofern „heruntergestuft“ (downgraded). Insgesamt hat die Darstellung insbesondere der Änderungen der organisatorischen Struktur und der internen Governance-Regeln deutlich gezeigt, dass es mit der Umwandlung von BEREC in eine Agentur und der „Angleichung“ an den Common Approach nicht um eine effektivere Wahrnehmung der Aufgaben von BEREC auf europäischer Ebene geht, sondern in erster Linie darum, die Rolle der NRB herunterzusetzen81 und das Verhältnis zwischen nationaler und europäischer Ebene zulasten der NRB zu verschieben. Es findet mithin ein Übergang zu einem Modell „zentralistisch-steuernder Kontrolle“82 statt. Mit der Abschaffung des Regulierungsrats wird die Verwurzelung von BEREC in den NRB, die dessen Stärke ausmacht, aufgelöst, sodass auch BEREC – entgegen der Behauptung der Kommission83 – geschwächt wird. BEREC wird in der neuen organisatorischen Struktur auf das Management Board hin ausgerichtet, in dessen Mittelpunkt Verwaltungsaufgaben und nicht regulatorische Aufgaben stehen, d. h. es wird (letztlich) eine Agentur zur Verwaltung ihrer selbst geschaffen. Der für den BEREC-VO-V zuständige Rapporteur des ITRE-Ausschusses Evzˇen Tosˇenovsky´ hatte in dem am 27. Februar 2017 veröffentlichten Berichtsentwurf zum BEREC-VO-V (2016/0286 (COD)) die Umwandlung von BEREC in eine Agentur abgelehnt und vorgeschlagen, die bisherige Zwei-Strang-Struktur beizubehalten. Da er auch die Befugnisse für bindende Entscheidungen nach Art. 2 Abs. 1 lit. b BEREC-VO-V gestrichen hatte, entfiel die Notwendigkeit für die Einrichtung eines Board of Appeal. Der schließlich am 2. Oktober verabschiedete und am 16. Oktober 2017 veröffentlichte EP-Bericht (A8 – 0305/2017) sieht zwar weiterhin die Zwei-Strang-Struktur (mit „Wiedereinführung“ des Regulierungsrats) vor, aber auch BEREC soll eine Rechtspersönlichkeit bekommen, da – anders als im Berichtsentwurf – BEREC bindende Entscheidungen (insb. nach EECC-V) treffen können soll, was dann auch ein Board of Appeal notwendig macht.84 Der Ministerrat hat am 4. Dezember 2017 die allgemeine Ausrichtung zum BEREC-VO-V (bzw. den Kompromisstext, ST_14376/17) angenommen, der im Wesentlichen die bisherige Zwei-Strang-Struktur sowie zwei getrennte Boards (Board of Regulators und Management Board) beibehält und die bindenden Entscheidungen streicht, wodurch auch die Einrichtung eines Board of Appeal entfällt.85 Ursprünglich 81
Und nicht sie zu stärken wie in der Pressemitteilung der Kommission behauptet, vgl. Kommission, Pressemitteilung IP-16 – 3008, Lage der Union 2016, 14. 9. 2016. 82 Manger-Nestler/Gramlich, NuR 2017, 79 ff., hier 89. 83 Vgl. Kommission, Pressemitteilung IP-16 – 3008, Lage der Union 2016, 14. 9. 2016. 84 Zu den weiteren Änderungen/Unterschieden etwa bei den Arbeitsgruppen (Fortführung der jetzigen Regelungen) etc. siehe die genannten Dokumente. 85 Zu sonstigen Änderungen/Unterschieden siehe die allgemeine Ausrichtung.
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sollten die Trilogverhandlungen zum BEREC-VO-V und seinen Modifikationen durch EP und Ministerrat im Mai 2018 stattfinden, wobei es z. T. sehr unterschiedliche Auffassungen gab. Schließlich endeten die Trilogverhandlungen mit dem sechsten Trilog am 5. Juni 2018 mit einer politischen Einigung zum EECC und zur BEREC-VO. Die Zwei-Strang-Struktur von BEREC bleibt unverändert. II. Das Clean Energy Package vom 30. November 2016 1. Überblick Am 30. November 2016 hat die Europäische Kommission das sog. „Saubere Energie für alle Europäer“-Paket86 vorgelegt, das Vorschläge für folgende Rechtsakte bzw. deren Änderung umfasst: - Mitteilung „Saubere Energie für alle Europäer“ COM(2016)860_final; - Strommarkt-Richtlinie (Gemeinsame Regeln für den Elektrizitätsbinnenmarkt – Recast der RL 2009/72/EG) COM(2016)864_final; - Strommarkt-Verordnung (Verordnung über den Elektrizitätsbinnenmarkt – Recast der VO (EG) 714/2009) COM(2016)861_final; - ACER-Verordnung (Verordnung zur Gründung einer Agentur der EU für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden – Recast der VO (EG) 713/2009) COM(2016)863_final/2; - Risikovorsorge-Verordnung (Verordnung über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/89/EG) COM(2016)862_final; - Erneuerbare Energien-Richtlinie (Recast der RL 2009/28/EG) COM(2016) 767_final/2; - Energieeffizienzrichtlinie (Revision der RL 2012/27/EU) COM(2016)761_final und Revision der Gebäudeeffizienzrichtlinie 2010/31/EU COM(2016)765_final; - Verordnung über das Governance-System der Energieunion COM(2016) 759_final/2. Eine Neufassung („Recast“) entspricht insofern einer Kodifizierung, als ein Basisrechtsakt und alle Änderungsrechtsakte in einem einzigen neuen Rechtsakt zusammengefasst werden, was vorliegend für die Strommarktrichtlinie, die Strom-
86 Vgl. „Saubere Energie für alle Europäer – Wachstumspotenzial Europas erschließen“ (Pressemitteilung IP-16 – 4009 v. 30.11.16) und „Commission proposes new rules for consumer centred clean energy transition“, Vorschlag der KOM „Clean Energy for All Europeans“, alle Dokumente in der am 23. 2. 2017 korrigierten Fassung sind abrufbar unter: https:// ec.europa.eu/energy/en/news/commission-proposes-new-rules-consumer-centred-clean-energytransition, zuletzt abgerufen am 7. 4. 2018.
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marktverordnung und die ACER-Verordnung zutrifft.87 Mit diesen drei Rechtsakten werden die Regeln für den Strommarkt in der EU modernisiert. Zudem bestimmen sie zentral die Aufgaben und Rolle der NRB in dem (neu) gestalteten Strommarkt („Electricity Market Design“ – EMD). Ziel des Clean-Energy-Package88 ist es, die Regeln für ein Energiesystem zu setzen, das durch einen steigenden Anteil volatiler erneuerbarer Energien („Renewable Energy Sources“ – RES oder EE) gekennzeichnet ist. Diese gilt es so in den Markt und die Netze zu integrieren, dass es zu keinen oder möglichst wenigen Verzerrungen zwischen den Energieträgern kommt und die Weiterentwicklung zu einem „fully integrated“ Energiebinnenmarkt erreicht wird. Insofern lässt sich von einer „doppelten Integration“ sprechen. Bezüglich des Energiebinnenmarktziels ist festzuhalten, dass dieses „ausgebaut“ wird, denn im Dritten Energiebinnenmarktpaket von 2009 wird die „completion of the internal energy market“ (IEM) angestrebt, während jetzt weitergehend der „fully integrated“ Energiebinnenmarkt, also ein höherer Integrationsgrad, erreicht werden soll. Wegen der erwähnten „doppelten Integration“ (Integration der erneuerbaren Energien und des europäischen Energiebinnenmarkts) lässt sich von der Annahme einer positiven Wechselwirkung zwischen beiden aus Sicht der Kommission ausgehen. Dass also die Integration der erneuerbaren Energien umso besser gelingt, je eher der integrierte Energiebinnenmarkt realisiert wird und v.v. Die positive Wechselwirkung kann jedoch nur eintreten, wenn eine entscheidende Bedingung erfüllt ist: der Preis muss auf allen Stufen der Wertschöpfungskette seine Funktion als Knappheitsindikator übernehmen89 können, d. h. es ist ein marktbasierter Ansatz zu wählen, was die Kommission (wie der deutsche Gesetzgeber mit dem Strommarktgesetz 201690) durch die Präferenz für einen „Energy-only-market (EOM)“ getan hat. Denn nur ein (unverzerrter) Preis kann für die in einem System mit steigenden Anteilen volatiler erneuerbarer Energien erforderliche Flexibilität sorgen, indem er den Marktteilnehmern signalisiert, wo und wann diese gebraucht wird.91 „Damit der Preis als Knappheitsindikator (scarcity pricing) wirken kann, 87 Der neue Rechtsakt durchläuft das gesamte Rechtsetzungsverfahren und ersetzt alle Rechtsakte, die in die Neufassung eingegangen sind. Anders als bei der Kodifizierung sind mit einer Neufassung jedoch inhaltliche Änderungen verbunden, da der Basisrechtsakt im Zuge der Neufassung geändert wird. Die Regeln für diese Rechtsetzungstechnik sind in einer interinstitutionellen Vereinbarung (vom 28. 11. 2001) enthalten, die eine besondere Vorgehensweise vorsieht, damit sich der Gesetzgeber auf die Teile des Legislativvorschlags konzentrieren kann, die neu sind. 88 In der Entstehungsphase vor der Veröffentlichung wurde das Paket auch als „Winterpaket“ bezeichnet. Wegen des Bezugs und der Bedeutung der Klima- und Energieziele und der „Aufwertung“ des Verbrauchers kam es dann zu dem offiziellen Titel „Saubere Energie für alle Europäer“. Vgl. hierzu und im Folgenden ausführlich Groebel, in: Ludwigs (Hrsg.), Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, 2018. 89 D. h. wieder wahrnehmen können. 90 Strommarktgesetz v. 8.7.16 (26.7.16), BGBl. I S. 1786 ff. 91 Vgl. Mitteilung „Saubere Energie für alle Europäer“ (COM(2016)860_final), S. 8 und „New Electricity Market Design: A Fair Deal for Consumers“, https://ec.europa.eu/energy/
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ist der Wettbewerb zu fördern und Verzerrungswirkungen, die von starren Fördersystemen für erneuerbare Energien ausgehen, zu minimieren und möglichst ganz auszuschalten, indem diese durch Ausschreibungen92 ersetzt werden. Die sog. „Capacity Renumeration Mechanisms“ („Kapazitätsmärkte“) werden demnach nur als „Second-best-Lösung“ gesehen und sind nur unter bestimmten Bedingungen zulässig, insbesondere müssen sie binnenmarktkompatibel ausgestaltet werden. Die Binnenmarktkompatibilität bildet den Anknüpfungspunkt für die Kommission, denn sie muss die primärrechtliche Schranke des Art. 194 AEUV beachten, die jedem Mitgliedstaat das Recht gibt, seinen Energiemix selbst zu bestimmen.“93 Der Übergang zu einem „wettbewerbsfähigeren („more competitive“), moderneren und umweltfreundlicheren Energiesystem“94 soll allen Bürgern der EU zugute kommen95 und stellt die Verbraucher in den Mittelpunkt („consumer centred clean energy transition“).96 Ihre Rolle wird aufgewertet („consumer empowerment“), denn sie sollen als „active consumer“ und als „prosumer“ (also als „producer“ und „consumer“) an den Märkten teilnehmen und so sowohl zu einem flexiblen Energiesystem beitragen als auch stärker als jetzt davon profitieren. „Der erste Schritt in Richtung auf das Ziel, die Verbraucher in den Mittelpunkt der Energieunion zu rücken, besteht darin, ihnen bessere Informationen über ihren Energieverbrauch und ihre Kosten zu geben. In den Vorschlägen ist ein Anspruch der Verbraucher auf intelligente Zähler, verständliche Rechnungen und einfachere Bedingungen für einen Anbieterwechsel vorgesehen.“97 Mit der aktiveren Beteiligung der Verbraucher, die auch als „Demand Side Response“ (DSR) bezeichnet wird, sollen – richtig ausgestaltet – (nachfrageseitige) Flexibilitätspotenziale gehoben werden. Hierfür ist der Wettbewerb auf der Endkundenebene zu stärken. Dies schließt ein, einen fairen Marktzugang neuer Akteure (wie z. B. Aggregatoren) zu ermöglichen, regulierte Preise auszuphasen und die Rolle von Verteilnetzbetreibern (s. u.) so zu gestalten, dass sites/ener/files/documents/technical_memo _marketsconsumers.pdf, zuletzt abgerufen am 14. 4. 2018. 92 Wie sie die BNetzA vermehrt seit 2017 nach dem EEG 2017 mit großem Erfolg durchführt. 93 Groebel, in: Holznagel (Hrsg.), 20 Jahre Verantwortung für Netze – Bestandaufnahme und Perspektiven (BNetzA Festband), 2018, S. 71 ff., hier S. 96. 94 „Saubere Energie für alle Europäer – Wachstumspotenzial Europas erschließen“ (Pressemitteilung IP-16 – 4009 v. 30.11.16). 95 Vgl. Mitteilung „Saubere Energie für alle Europäer“ (COM(2016)860_final), S. 3 und S. 10 f. 96 Vgl. „Providing a fair deal for consumers“, im Internet abrufbar unter http://europa.eu/ rapid/press-release_MEMO-16 – 3961_en.htm; sowie „New Electricity Market Design: A Fair Deal for Consumers“, https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/technical_memo_ marketsconsumers.pdf; und „A Fair Deal for Consumers“, im Internet abrufbar unter http://ec. europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/energy_union_ package_factsheet_iii_v2.pdf; alle zuletzt abgerufen am 14. 4. 2018. 97 Groebel, in: Ludwigs (Hrsg.), Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, 2018.
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sie einerseits neutral sind (d. h. keinen Vorteil aus dem Monopolbereich des Netzes ziehen können), aber auch ein „active market facilitor“ sind.98 Weiterhin wird bezüglich der Verteilnetzbetreiber vorgeschlagen, auch auf dieser Ebene einen Netzentwicklungsplan einzuführen, was jedoch mit einem enormen bürokratischen Aufwand verbunden wäre. Korrespondierend wird die Einrichtung einer Organisation europäischer Verteilnetzbetreiber vergleichbar ENTSO-E sowie Prinzipien für einheitliche Tarifstrukturen für Verteilnetzbetreiber99 vorgeschlagen, insbesondere letzteres ist aus Sicht von CEER100 kritisch zu bewerten. Solche Prinzipien für einheitliche Tarifstrukturen werden zum einen für nicht erforderlich gehalten und greifen zum anderen in die Kernkompetenz der Entgeltregulierung des nationalen Regulierers ein.101 Des Weiteren wird mit der (Neu-)Gestaltung des Strommarkts das „Wachstumspotenzial Europas“ erschlossen, d. h. die Modernisierung des Energiesystems geht mit der Modernisierung der EU-Wirtschaft einher, die Entwicklungen verstärken sich gegenseitig.102 Neben der Anpassung des europäischen Rechtsrahmen an die Veränderungen auf den europäischen Strommärkten erfolgt insbesondere mit der Überarbeitung der Erneuerbaren Energien- und der Energieeffizienzrichtlinie zugleich die Ausrichtung auf die Klima- und Energieziele der EU für 2030103. Zur Gewährleistung der Erreichung dieser Ziele (einschließlich des Ziels der Sicherheit der Stromversorgung) ist das Governance-System der Energieunion vorgesehen.104 Mit der nachfolgenden Darstellung105 der verschiedenen Aspekte der Integration der erneuerbaren Energien werden die Zusammenhänge und der sich durch die Vor-
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Groebel, ebd. D. h. es soll ein europäischer Verband der Verteilnetzbetreiber vergleichbar ENTSO-E gegründet werden. 100 Council of European Energy Regulators, siehe www.ceer.eu. 101 Siehe CEER, „White paper on distribution and transmission network tariffs and incentives“ v. 11. 5. 2017: „No need for an EU-wide Tariffs Network Code: Both the Network Code on transmission and distribution tariffs in Article 55 of the Electricity Regulation, and the ACER recommendation for a progressive convergence of distribution and transmission tariffs methodologies in Article 16 of the Electricity Regulation, should be removed.“ 102 Vgl. Mitteilung „Saubere Energie für alle Europäer“ (COM(2016)860_final) und Pressemitteilung IP-16 – 4009 v. 30.11.16. 103 Insbesondere die Verpflichtung die CO2-Emissionen bis 2030 um mindestens 40 % zu reduzieren, da ansonsten die ehrgeizigen Klimaschutzverpflichtungen der EU aufgrund des Pariser Übereinkommens nicht oder nur schwer erfüllbar sind, denn 2/3 der Treibhausgasemissionen entstehen bei der Energieerzeugung u. -nutzung. 104 Vorschlag einer Verordnung über das Governance-System der Energieunion, COM (2016)759_final/2. 105 Entnommen Groebel, in: Ludwigs (Hrsg.), Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, 2018. 99
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schläge ziehende „rote Faden“ der Schaffung wettbewerblicher Märkte mit verzerrungsfreien Preisen („level playing field for all technologies“106) herausgearbeitet. „Die Integration erneuerbarer Energien in den Markt mittels eines marktbasierten Ansatzes bedeutet zum einen eine Präferenz für den „Energy Only Market“ (EOM), sodass Kapazitätsmechanismen („Capacity renumeration mechanism“ – CRM) nur „Second-best“-Lösungen und nur unter bestimmten (einschränkenden) Bedingungen erlaubt werden. Zu den Bedingungen zählt insbesondere die Binnenmarktkompatibilität, d. h. die CRM müssen so ausgestaltet sein, dass sie keine Binnenmarktverzerrung hervorrufen, d. h. die Versteigerungen müssen grenzüberschreitend offen sein und die Vorbedingung eines „European resource adequacy assessment“ erfüllen, also einer nach europaweit einheitlichen Anforderungen vorgenommenen Bewertung der Sicherheit der Stromversorgung als Nachweis, der die Einführung eines CRM rechtfertigt. In beiden Bedingungen kommt die europäische Dimension der Integration zum Ausdruck. Denn wie der ebenfalls am 30. November 2016 veröffentlichte Endbericht der Sektoruntersuchung zu den Kapazitätsmechanismen107 zeigt, führen „unabgestimmte“ nationale CRM zu Verzerrungen im Binnenmarkt und erschweren bzw. verschleppen die Vollendung des mit dem Dritten Energiebinnenmarktpaket von 2009 angestrebten Energiebinnenmarkts („Internal Energy Market“ – IEM). Zum anderen schließt der gewählte marktbasierte Ansatz der Integration erneuerbarer Energien den Übergang der Fördermechanismen weg von starren administrierten Preisen („Feed-in-tariffs“) hin zur Ausschreibung („tendering“) ein. Auch dies findet mit der Reform des EEG 2014 im EEG 2017108 in Deutschland sein Pendant, wobei im EEG 2017 anders als von der Kommission vorgeschlagen weiterhin technologiespezifische Ausschreibungen vorgesehen sind. Die europäische Dimension fließt auch hier durch das Erfordernis ein, dass Fördersysteme für EE-Anlagen an106
Vgl. Mitteilung „Saubere Energie für alle Europäer“ (COM(2016)860_final), S. 8. Vgl. IP-16 – 4021 v. 30.11.16 – Staatliche Beihilfen: Bericht zur Sektoruntersuchung gibt Hinweise zu Kapazitätsmechanismen, im Internet abrufbar unter http://europa.eu/ rapid/press-release_IP-16 – 4021_de.htm, zuletzt abgerufen am 15.10.17. Der Abschlussbericht zur Sektoruntersuchung über Kapazitätsmechanismen (COM(2016)752_final) ist im Internet abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CE LEX:52016DC0752&from=EN, zuletzt abgerufen am 15.10.17; das zugehörige Staff Working Dokument SWD(2016)385_final ist im Internet abrufbar unter http://eur-lex.euro pa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52016SC0385&from=EN, zuletzt abgerufen am 15.10.17. 108 EEG 2017 v. 8. 7. 2016 (Bundestagsbeschluss), mit der das Fördersystem auf wettbewerbliche Ausschreibungen umgestellt wurde. Wie die verschiedenen Ausschreibungen erneuerbarer Energien der BNetzA seit Anfang 2017 zeigen bestätigt sich die Annahme, dass wettbewerbliche Ausschreibungen zu effizienten Ergebnissen führen, d. h. konkret, dass im Vergleich zum bisherigen System die Fördersätze sinken, teilweise sehr stark wie im Fall der ersten Ausschreibung von Offshore-Windenergie, vgl. BNetzA-Pressemitteilung v. 13.4.17 – „Bundesnetzagentur erteilt Zuschläge in der ersten Ausschreibung für Offshore-Windparks – Homann: Zuschlagswert mit 0,44 ct/kWh weit unterhalb der Erwartungen“. 107
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derer Mitgliedstaaten in grenzüberschreitenden Ausschreibungen geöffnet werden müssen, was teilweise kritisch gesehen wird. Zur weiteren „Gleichstellung“ erneuerbarer Energien, die der Reduzierung bzw. dem Abbau preisverzerrender Vorteile, die anfangs zur Markteinführung erneuerbarer Energien erforderlich waren, dient, zählt die Abschaffung des Einspeisevorrangs („priority dispatch“), der mit der Einführung des nichtdiskriminierenden und marktorientierten („market based dispatch“) abgelöst wird, wobei Ausnahmen für kleinere EE-Anlagen ebenso wie Bestandsschutz für bestehende Anlagen bestehen bleiben. Der physikalische Einspeisevorrang („priority grid access“) bleibt im Rahmen von Einspeisemanagementmaßnahmen (non-market-based curtailment) erhalten109, was die BNetzA begrüßt.“110 Die Kommission sieht Defizite bei der Binnenmarktentwicklung und macht deshalb überaus ambitionierte („überzogene“) Regelungsvorschläge für den grenzüberschreitenden Stromhandel111, die auf scharfen Widerstand des Rates und der Übertragungsnetzbetreiber (bzw. ENTSO-E) stoßen. Nachfolgend werden die kritischsten Punkte herausgegriffen und die Reaktionen beschrieben.112 „Der grenzüberschreitende Stromhandel als Kernstück des Energiebinnenmarkts soll weiter gestärkt und ausgebaut werden. Hierzu wird eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, u. a. wird eine regionale Koordinierung eingezogen, wobei die Governance-Regeln, d. h. die Aufsicht der nationalen Energieregulierungsbehörden nicht näher ausgeführt werden. Grundsätzlich ist die Einfügung der regionalen Ebene als Zwischenschritt zum Energiebinnenmarkt aber durchaus sinnvoll, aber auch hier ist die Ausgestaltung entscheidend. Für die regionale Koordinierung der Übertragungsnetzbetreiber werden sog. „Regional Operation Center“ (ROCs) vorgesehen, denen eine Entscheidungsbefugnis übertragen wird, d. h. anders als die bestehenden „Regional Security Coordinator“ (RSC), die eine gemeinsame Einrichtung der Übertragungsnetzbetreiber einer Region sind und lediglich Empfehlungen aussprechen können, sollen die ROCs den nationalen Übertragungsnetzbetreibern auch verbindliche Vorgaben zur Systemführung machen können, während die Systemverantwortung bei den Übertragungsnetzbetreibern verbliebe, d. h. es kommt zu einem Auseinanderklaffen von Systembetrieb und der Systemverantwortung.113 Dies wird wegen der Gefahr für die Systemsicherheit nahezu einhellig sowohl von ENTSO-E, den nationalen Übertragungsnetzbetreibern als auch den Mitgliedstaaten abgelehnt. Der Bericht des zuständigen ITRE-Rappor109
Art. 11 u. 12 EE-RL-Vorschlag. Groebel, in: Ludwigs (Hrsg.), Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, 2018. 111 Vgl. Vorschlag zur Strommarkt-Verordnung, COM(2016)861_final und Vorschlag zur Strommarkt-Richtlinie, COM(2016)864_final. 112 Die Darstellung ist entnommen: Groebel, in: Ludwigs (Hrsg.), Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, 2018. 113 Art. 32 ff. Strom-VO-Vorschlag. Insbesondere sind die Haftungsfragen ungeklärt. 110
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teurs MEP Karins kommt ebenfalls zu einem ablehnenden Votum.114 Die BNetzA lehnt die Vorschläge gleichfalls ab und plädiert dafür, zunächst Erfahrungen bei der Implementierung der System Operation Guideline und des Emergency and Restauration Network Code zu sammeln, bevor man anstelle der bisherigen freiwilligen regionalen Zusammenarbeit der Übertragungsnetzbetreiber eine verbindliche vorschreibt. Ebenfalls abgelehnt wird die Übertragung der Zuständigkeit für die Gebotszonenkonfiguration, das bisherige Mitspracherecht der Mitgliedstaaten und nationalen Regulierungsbehörden entfällt. ACER erhält zukünftig die Zuständigkeit Änderungen am Untersuchungsrahmen zu fordern, die jetzt bei den nationalen Regulierern gemeinsam liegt. Auch im Network Code-Prozess werden Änderungen zugunsten der europäischen Ebene vorgeschlagen. Grundsätzlich zu begrüßen ist die stärkere Stellung von ACER gegenüber ENTSO, da es eine Änderungsbefugnis geben wird, aber zugleich wird vorgeschlagen, dass die Annahme der Network Codes künftig als delegierte Rechtsakte durch die KOM erfolgt anstelle des bisherigen Komitologieverfahrens unter Beteiligung der Mitgliedstaaten, die damit deutlich geringer ausfällt. Das sog. „All-NRA-Decision“-Verfahren (CACM-Guideline115) wird im Sinne einer Straffung der Verfahren abgeschafft. Der Vorschlag der KOM zur Kapazitätsberechnung116, demzufolge künftig Übertragungsnetzbetreiber die Interkonnektorenkapazität nicht beschränken dürfen, um einen Engpass innerhalb der eigenen Regelzone zu beheben oder um Ringflüsse zu regeln, wird seitens der BNetzA abgelehnt, da die möglichen Konsequenzen (massiver Netzausbau oder massive Erhöhung des Redispatch- und Einspeisemanagement-Volumens oder kompletter Stopp des Ausbaus der Interkonnektorkapazität) für nicht tragbar erachtet werden. Insgesamt wird die Übertragung von Kompetenzen auf die europäische Ebene in nahezu allen Bereichen: insbesondere aber bei der Gebotszonenkonfiguration, die künftig nicht mehr von den Mitgliedstaaten, sondern der KOM bestimmt werden soll, ACER anstelle Regulierer, ROCs anstelle nationale Übertragungsnetzbetreiber sehr kritisch gesehen. Der Bundestag hat deshalb am 30. März 2017 eine sog. Subsidiaritätsrüge in Bezug auf folgende Punkte beschlossen:
114 ITRE-Berichtsentwurf zur Strom-VO von MEP Karins v. 16.6.17. Hinweis: Der Berichtsentwurf wurde mit Modifikationen auf der Sitzung am 21./22. 2. 2018 angenommen, der endgültige Bericht datiert v. 27. 2. 2018 (A8 – 0042/2018); ebenfalls angenommen wurde der Bericht zur Strommarkt-Richtlinie (A8 – 0044/2018, Rapp. MEP Karins) und zur ACER-VO (A8 – 0040/2018 v. 26. 2. 2018, Rapp. MEP Petersen). Der Rat hat am 18. 12. 2017 die gemeinsame Position (general approach) zur Strommarkt-VO (Dok. ST_15237/17) und zur Strommarkt-Richtlinie (Dok. ST_15239/17) angenommen, die gemeinsame Position zur ACER-VO wurde erst am 11. 06. 2018 verabschiedet. 115 Verordnung (EU) 2015/1222 zur Festlegung einer Leitlinie für die Kapazitätsvergabe und das Engpassmanagement v. 24. 7. 2015, ABl L 197 v. 25. 7. 2015. 116 Art. 14 Abs. 7 Strom-VO-Vorschlag.
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- Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip bei der Übertragung der Entscheidung über den Gebotszonenzuschnitt; - Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip bei der Übertragung ganzer Themenfelder in delegierte Rechtsakte; - Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip bei der Errichtung von ROCs mit verbindlichen Entscheidungsbefugnissen gegenüber nationalen Übertragungsnetzbetreibern; - Verstoß gegen das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Ausweitung von Entscheidungs- und Zuständigkeitskompetenzen auf ACER, insbesondere der - Änderung des ACER-Abstimmungsverfahrens, v. a. die Herabsetzung des Mehrheitserfordernisses von gegenwärtig 2/3 auf die einfache Mehrheit (bei Beibehaltung der Regel, dass jeder Regulierer eine Stimme hat).117 Auch Parlamente anderer Mitgliedstaaten118 haben Subsidiaritätsrügen beschlossen.“119 In der nachfolgenden Abbildung 1120 sind die wichtigsten Elemente des Vorschlags überblicksartig dargestellt und auch die Verbindung zu den bestehenden Energierechtsvorschriften sowie den Wettbewerbs- und Beihilferegeln auf europäischer Ebene aufgezeigt. Bevor auf den Vorschlag zur ACER-VO im Einzelnen eingegangen werden wird, wird nachfolgend noch ein Überblick über die Reaktion der europäischen Regulierer auf die Vorschläge der Kommission gegeben. CEER/ACER hatten in einem „European Energy Regulators‘ Overview Paper – Initial Reactions to the European Commission’s proposals on Clean Energy“121 am 20. Januar2017 eine erste Reaktion auf das Winterpaket veröffentlicht. Die folgende Darstellung (Abb. 2)122 enthält die wesentlichen Botschaften.
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Vgl. BT-Drs. 18/11777 (neu) und BT-Plenarprotokoll 18/228, S. 23008. Z. B. der französische Senat, im Internet abrufbar unter https://www.legifrance.gouv.fr/ affichTexte. do?cidTexte=JORFTEXT000034372239&dateTexte=&categorieLien=id, zuletzt abgerufen am 16. 4. 2018. 119 Groebel, in: Ludwigs (Hrsg.), Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, 2018. 120 Groebel, in: Ludwigs (Hrsg.), Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, 2018, Abb. 3; die Abkürzung CM steht für Capacity [Renumeration] Mechanism, XB für cross-border. 121 https://www.ceer.eu/documents/104400/5937686/Overview+-+Clean+Energy/cebf13 ca-e381 - 1efa-71fd-b571d3b94f48, zuletzt abgerufen am 15. 4. 2018. 122 Nach Groebel, in: Ludwigs (Hrsg.), Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, 2018, Abb. 2. 118
Institutionelle Vorschläge im Connectivity Package und Clean Energy Package
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Abb. 1: Wesentliche Elemente des Clean Energy Package 2016, Quelle: eigene Darstellung
Seit 11. Mai 2017 wurden fortlaufend sog. „White Papers“ zu verschiedenen die Regulierer besonders betreffenden Themen veröffentlicht.123 Nachfolgende Tabelle enthält eine Übersicht über alle bis 24. Oktober 2017124 veröffentlichten White Papers, wobei die linke Spalte die gemeinsamen White Papers (CEER/ACER) und die rechte Spalte die CEER White Papers wiedergibt. ACER-CEER White Papers
CEER White Papers
Paper 1: Renewables in the Wholesale Market
May 2017
Paper I: Distribution and Transmission Network Tariffs and Incentives
May 2017
Paper 2: The Role of the DSO
May 2017
Paper II: Technology that Benefits Consumers
May 2017
Paper 3: Facilitating Flexibility
May 2017
Paper III: Consumer Empowerment
May 2017
Paper 4: Efficient Wholesale Price Formation
May 2017
Paper IV: Efficient System Operation
June 2017
Paper V: The Independence of National Regulatory Authorities (NRAs)
June 2017
123
https://www.ceer.eu/white-papers, zuletzt abgerufen am 15. 4. 2018. Seitdem wurden keine weiteren Papiere veröffentlicht, CEER hat aber sog. „Briefing packs“ zu verschiedenen Themen erstellt, die Vertretern des europäischen Gesetzgebers direkt übermittelt wurden. 124
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Annegret Groebel
ACER-CEER White Papers
CEER White Papers Paper VI: Infrastructure Paper VII: System Adequacy & Capacity Mechanism
July 2017 July 2017
Paper VIII: Renewable Self-Consumers and Energy Communities
July 2017
Paper IX: Regional Regulatory Oversight
Oct. 2017
Abb. 2: Erste Reaktion der europäischen Regulierer, Quelle: eigene Darstellung
2. ACER-VO-Vorschlag Der Vorschlag zur ACER-VO (ACER-VO-V) ist nicht ganz so fundamental wie der BEREC-VO-V, der BEREC in eine EU-Agentur wie ACER umwandelt, aber die vorgeschlagenen Kompetenzerweiterungen, die ACER ermöglichen würden, nicht mehr nur subsidiär125 tätig zu werden, sind ebenfalls sehr weitgehend und verändern 125 Vgl. hierzu ausführlich Groebel/Horstmann, in: Berliner EnR-Kommentar, Bd. 3, 2018, ACER-Verordnung (EG) 713/2009 insb. Rn. 18, i.E.; vgl. auch grundlegend Wellerdt, Organisation der Regulierungsverwaltung, 2018.
Institutionelle Vorschläge im Connectivity Package und Clean Energy Package
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das Verhältnis zwischen der europäischen (ACER) und der nationalen Ebene (NRB) – wie der BEREC-VO-V – entscheidend zu Lasten letzterer. Die Kompetenzausweitung bedeutet nicht nur prinzipiell eine Kompetenzübertragung126, sondern diese ergibt sich zusätzlich auch, weil die internen Governance-Regeln nicht mitangepasst werden, d. h. keine verpflichtende Beteiligung in Form einer Stellungnahme (Opinion) des Regulierungsrats als dem Vertretungsorgan der NRB zu allen regulatorischen Vorgängen (Dokumenten) im ACER-VO-V vorgesehen wird. Eine Anpassung erfolgt nur in begrenztem Ausmaß, sodass sich die Position des Regulierungsrats sogar relativ verschlechtert, die zudem durch die Herabsetzung des Mehrheitserfordernisses von der jetzt geltenden Zweidrittel- zur einfachen Mehrheit (wobei jede NRB wie bisher eine Stimme hat) weiter geschwächt wird. Im Folgenden werden die wichtigsten vorgeschlagenen Änderungen beschrieben und analysiert sowie mit den Prinzipien/Regeln des Common Approach, auf den sich die Kommission auch hier beruft, verglichen. Wie im Fall des BEREC-VO-V (s. o.) zeigt sich jedoch, dass die Vorschläge nicht mit dem Common Approach übereinstimmen, sondern teilweise davon abweichen bzw. inkonsistent sind mit dem BERECVO-V, der sich ebenfalls auf den Common Approach beruft. Der ACER-VO-V gliedert sich in die folgenden Kapitel: Kapitel I: Ziele und Aufgaben (Art. 1 – 16); Kapitel II: Organisation der Agentur (Art. 17 – 30); Kapitel III: Aufstellung und Gliederung des Haushaltsplans (Art. 31 – 37); Kapitel V127: Allgemeine Bestimmungen und Schlussbestimmungen (Art. 38 – 47).
Zunächst ist festzustellen, dass nach Art. 18 ACER-VO-V die bisherige Organisationsstruktur mit den vier Organen Verwaltungsrat (Art. 19 – 21), Regulierungsrat (Art. 22 – 23), Direktor (Art. 24 – 25) und Beschwerdeausschuss (Art. 26 – 29) erhalten bleibt128, wenn auch mit Veränderungen der Aufgaben, die das Gefüge zugunsten des Direktors verschieben. Hier wird also anders als im BEREC-VO-V und trotz allgemeiner Berufung auf den Common Approach an der Trennung von Verwaltungsund Regulierungsrat129 richtigerweise festgehalten, was deutlich zeigt, dass die Bezugnahme auf den Common Approach nur sehr eingeschränkt (um nicht zu sagen „selektiv“) gilt.130 Dies gilt auch für die begrüßenswerte Vorgabe der expliziten Einrich126
Vgl. oben im Einzelnen zum Vorwurf der Verletzung des Subsidiaritätsprinzips. Lt. ACER-VO-V (COM(2016)863_final/2) als Kap. V bezeichnet, wobei es sich um ein Redaktionsversehen handeln dürfte, es müsste Kap. IV heißen. 128 Vgl. zur Organisationsstruktur ausführlich Groebel/Horstmann, in: Berliner EnRKommentar, Bd. 3, 2018, ACER-Verordnung (EG) 713/2009 insb. Rn. 64 ff. 129 Deren Zusammensetzung auch unverändert bleibt; im Regulierungsrat bleibt der Vertreter der Kommission nicht stimmberechtigt. 130 Die Kommission räumt die Abweichung vom Common Approach in der Begründung recht freimütig ein und rechtfertigt die Beibehaltung der bisherigen Leitungsstruktur im Wesentlichen damit, dass „die NRB für die Energiemärkte von zentraler Bedeutung [sind], da die Energiemärkte immer noch weitgehend auf nationaler Ebene reguliert werden“ und die Rol127
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Annegret Groebel
tung von Arbeitsgruppen nach Art. 30, die in der ACER-VO (EG) 713/2009 nicht enthalten war. Interessant ist nun, dass die Arbeitsgruppen vom ACER-Verwaltungsrat ernannt werden, es aber anders als in dem BEREC-VO-V weder Vorgaben hinsichtlich des Vorsitzes der Arbeitsgruppen gibt noch die einzelnen Mitglieder der Arbeitsgruppen vom Verwaltungsrat ernannt werden, während dies in Art. 10 BERECVO-V vorgeschrieben wird (s. o.). Es lässt sich mithin auch bezüglich der Regelungen zu den Arbeitsgruppen ein recht inkonsistentes Vorgehen der Kommission konstatieren. Die wichtigste Änderung im Hinblick auf Verwaltungs- und Regulierungsrat ist die Herabsetzung des Mehrheitserfordernisses von bislang Zweidrittel- auf die einfache Mehrheit für laufende Geschäfte (reguläre Entscheidungen), wobei jedes Mitglied eine Stimme hat. Diese Änderung der Abstimmungsregeln lässt sich noch am ehesten mit dem Common Approach begründen (s. o.), was es allerdings nicht besser macht. Denn wie schon oben bei dem BEREC-VO-V ausgeführt wird dadurch die Stellung der NRB geschwächt, da bei einfacher Mehrheit im Regulierungsrat schneller eine Entscheidung zustandekommt als bei einer Zweidrittelmehrheit. Dies kann aber implizieren, dass die Mehrheit der NRB nicht auch die Mehrheit der europäischen Bürger repräsentiert, sodass es zu Entscheidungen kommen kann, die nicht wie o. a. dem Ziel des Pakets „allen EU-Bürgern zugutezukommen“ entspricht. Hier macht sich also die erste Verschiebung von der nationalen auf die europäische Ebene bemerkbar.131 Allerdings wird diese Änderung nicht nur von den europäischen Regulierern132 kritisiert, sondern auch das EP schlägt in seinem Bericht zum ACERVO-V (A8 – 0040/2018) eine Rückkehr zur Zweidrittelmehrheit vor (Änderungsvor-
lenverteilung zwischen ACER als koordinierender Stelle und den NRB weitgehend beibehalten wird; Begründung zum ACER-VO-V, S. 27. Die Ausgangsthese, dass die Märkte weitgehend auf nationaler Ebene reguliert werden, gilt in gleichem Maße (wenn nicht sogar noch mehr) für die Märkte der elektronischen Kommunikation, wo man sich hingegen für ein anderes Governance-Modell (mit nur einem Management Board) entschieden hat, was jedoch – wie oben gezeigt – ebenfalls vom Common Approach abweicht. 131 Die Kommission begründet die Herabsetzung des Mehrheitserfordernisses vordergründig mit der Angleichung an den Common Approach (der aber keinen Regulierungsrat kennt), tatsächlich wirft sie den NRB vor, nur ihre eigenen (nationalen) Interessen zu vertreten, weshalb keine Entscheidungen getroffen würden, die den Energiebinnenmarkt hinreichend schnell voranbringen, was mit der einfachen Mehrheit erreicht werden soll. Abgesehen davon, dass der Vorwurf fehl geht, wird das auch dem BEREC-VO-V (dort als Vorwurf der inkonsistenten Regulierung) zugrundeliegende Muster erkennbar: die NRB agieren nur unzulänglich „europäisch“, weshalb ihr Einfluss über den Regulierungsrat beschnitten wird. Vgl. zur Rolle des Regulierungsrats als dem notwendigen Gegengewicht, der die Sichtweisen der nationalen Regulierer auf der europäischen Ebene einbringt auch Groebel/Horstmann, in: Berliner EnR-Kommentar, Bd. 3, 2018, ACER-Verordnung (EG) 713/2009 insb. Rn. 82. 132 CEER/ACER, „European Energy Regulators‘ Overview Paper – Initial Reactions to the European Commission’s proposals on Clean Energy“, im Internet abrufbar unter https://www. ceer.eu/documents/104400/5937686/Overview+-+Clean+Energy/cebf13ca-e381 - 1efa-71fdb571d3b94f48, zuletzt abgerufen am 15. 4. 2018.
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schlag 18 (zu Erwägungsgrund 34) und Änderungsvorschlag 66 (zu Art. 23 Abs. 1)).133 Die einschneidendsten Änderungen werden in Kapitel I bezüglich der Zuständigkeiten und Aufgaben von ACER134 vorgeschlagen. Dies betrifft zunächst die Rolle von ACER im Netzkodizes-Erstellungsprozess135 (Art. 5 ACER-VO-V i.V.m. Art. 55 und Art. 56 Strommarkt-VO-V), die deutlich gestärkt wird. Insbesondere kann ACER gem. Art. 55 Abs. 11 von der Kommission aufgefordert werden, einen eigenen Netzkodex-Vorschlag auszuarbeiten. Nach Art. 56 Strommarkt-VOV erhält ACER ein Initiativrecht Änderungen von Netzkodizes vorzuschlagen. Im Hinblick auf sog. All-NRA-Entscheidungen erhält ACER ein Überarbeitungs- und Änderungsrecht von Modalitäten, Bedingungen oder Methoden für die Umsetzung dieser Netzkodizes und Leitlinien, Art. 5 Abs. 2 ACER-VO-V. Nach Art. 5 Abs. 3 ACER-VO-V genehmigt ACER im Zusammenhang mit der Überprüfung der Gebotszonen die verwendeten Methoden und Annahmen und kann Änderungen verlangen. Des Weiteren erhält ACER nach Art. 6 Abs. 2 ACER-VO-V ein Initiativrecht „Empfehlungen auszusprechen, um Regulierungsbehörden und Marktteilnehmer beim Austausch zu bewährten Verfahren zu unterstützen“. Art. 7 regelt die Koordinierung regionaler Aufgaben innerhalb der Agentur einschließlich des Stellungnahmerechts des Direktors, ob eine Entscheidung regionale oder darüberhinausgehende (europäische) Bedeutung hat (Art. 7 Abs. 2 ACER-VO-V). Ferner erhält ACER neue Aufsichtsbefugnisse in Zusammenhang mit den regionalen Betriebszentren (ROC)136 und den nominierten Stromnetzbetreibern („Nominated Electricity Market Operator“ oder NEMO nach VO (EU) 2015/1222 – CACM)137, Art. 8 und Art. 9 ACERVO-V. Außerdem werden die Aufgaben nach dem Risikovorsorge-VO-V einschließlich der Genehmigung und Änderung der Methoden (Art. 10) bei ACER angesiedelt.138 133 Im Rat gibt es noch keine finale Position, einige (größere) Mitgliedstaaten schlagen eine Stimmengewichtung vor. 134 Vgl. hierzu ausführlich Groebel/Horstmann, in: Berliner EnR-Kommentar, Bd. 3, 2018, ACER-Verordnung (EG) 713/2009 insb. Rn. 22 ff. 135 Die künftig als delegierte Rechtsakte von der Kommission erlassen werden, Art. 55 i.V.m. Art. 63 Strommarkt-VO-V. 136 Einschließlich der Festlegung von Netzbetriebsregionen gem. Art. 33 (Art. 8 Abs. 2 lit. a ACER-VO-V), während die NRB eher auf eine Beobachterrolle gesetzt werden. Wie diese Aufgabenübertragung an ACER vor sich gehen soll „ohne dass dabei die zentrale Rolle der nationalen Regulierungsbehörden im Bereich der Energieregulierung in Frage gestellt wird“ (Begründung zum ACER-VO-V, S. 13) erschließt sich nicht. 137 Hier war die Aufsicht durch ACER zu erwarten. 138 Die Aufgaben nach der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 (REMIT) obliegen schon seit 2011 ACER, werden nun aber mit Art. 13 in die Verordnung mitaufgenommen, dies gilt ebenso für die Aufgaben nach der Verordnung (EU) Nr. 347/2013 (Projekte von gemeinsamen Interesse), die in Art. 12 lit. c ACER-VO-V aufgeführt werden. Für die Aufgaben nach Art. 12 und 13 ACER-VO-V ist nach Art. 23 Abs. 5 lit. a ACER-VO-V kein Stellungnahmerecht des Regulierungsrats vorgesehen.
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Annegret Groebel
Schließlich ist in Art. 14 ACER-VO-V (vorher Art. 9 Abs. 2 UAbs. 2 ACER-VO 713/2009) noch eine entscheidende Änderung vorgesehen, die es ermöglicht, ACER künftig mit zusätzlichen Aufgaben zu betrauen, die Entscheidungen139 miteinschließen. Dadurch wird die Übertragung von Aufgaben mit Entscheidungsbefugnissen gestattet, die bisher – zurecht – nicht möglich war, d. h. künftig können über die vom Gesetzgeber in der Verordnung niedergelegten Aufgaben hinaus Entscheidungsbefugnisse an ACER übertragen werden, was die institutionelle Balance zugunsten der Exekutive verschiebt (jedenfalls verschieben kann).140 Während ACER also mit einer ganzen Reihe neuer und weitergehender Kompetenzen ausgestattet wird, wächst die Beteiligung des Regulierungsrats nicht mit. D. h. das bisherige ausgefeilte System von „checks and balances“ geht verloren, es kommt zu einer „Unwucht“ zwischen dem Direktor und dem Regulierungsrat.141 Die europäischen Regulierer schlagen deshalb neben der Beibehaltung der Zweidrittelmehrheit vor, dass Art. 23 Abs. 5 lit. a ACER-VO-V Bezug nehmen soll auf „all documents containing opinions, recommendations and decisions referred to in Articles 3 to 14, 16 and 30“, also nicht nur Art. 3 – 11 und 14, sondern der Regulierungsrat ein Stellungnahmerecht auch bei den Aufgaben in Zusammenhang mit der Infrastruktur (Art. 12), den REMIT-Aufgaben (Art. 13), den Aufgaben der Beobachtung und Berichterstattung (Art. 16) und insbesondere auch bei der Einrichtung von Arbeitsgruppen (Art. 30) hat. Darüber hinaus wird zur Verbesserung des (binären) Entscheidungsprozesses als Ergänzung von Art. 23 Abs. 5 lit. a vorgeschlagen, dass der Regulierungsrat auch Änderungen der nach Art. 25 vom Direktor zur Abstimmung vorgelegten Dokumentenentwürfe vorschlagen kann, wobei es dem Direktor vorbehalten bleibt, die Änderungen anzunehmen oder abzulehnen, bevor er das (überarbeitete) Dokument dem Regulierungsrat zur endgültigen Annahme (befürwortenden Stellungnahme) vorlegt. Bislang kann der Regulierungsrat nur annehmen oder ablehnen, wobei letzteres aus Fristgründen häufig nicht möglich ist und eine Ablehnung bislang ohnehin die Ausnahme142 geblieben ist. Gleichwohl erhöht die Möglichkeit, Änderungen vorzuschlagen, die Effizienz des Entscheidungsprozesses und auch die Qualität der schließlich verabschiedeten Dokumente, ohne dass es die jeweiligen statutarischen
139
Der Zusatz am Ende von Art. 9 Abs. 2 UAbs. 2 ACER-VO 713/2009 „(…), die keine Entscheidungsbefugnisse umfassen“ (Hervorhebung nur hier, A.G.) wurde gestrichen. 140 Die [Bedingungen der] Zulässigkeit der Delegation von Entscheidungsbefugnissen auf EU-Agenturen ist eine der am kontroversesten diskutierten Fragen, auch nach der jüngeren Rechtsprechung (ESMA-Urteil, EuGH, Rs. C-270/12 v. 22. 1. 2014, ECLI:EU:C:2014:18). Vgl. hierzu für die jetzige ACER-VO z. B. Kühnert/Böhler/Polster, CoRe 1/2017, 47 ff. 141 Vgl. CEER/ACER, „European Energy Regulators‘ Overview Paper – Initial Reactions to the European Commission’s proposals on Clean Energy“, im Internet abrufbar unter https:// www.ceer.eu/documents/104400/5937686/Overview+-+Clean+Energy/cebf13ca-e381 - 1efa71fd-b571d3b94f48, zuletzt abgerufen am 15. 4. 2018. 142 Eine Ablehnung erfolgte nur in einem einzigen Fall.
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Rollen von Direktor und Regulierungsrat „umdreht“143. Sie trägt so zur Erhaltung der Balance zwischen beiden bei. Die Vorschläge in Kapitel III betreffen die Finanzbestimmungen, Kapitel IV umfasst allgemeine Vorschriften und Vorschriften zu Personal und Haftung, letztere bleiben weitgehend unverändert, ansonsten kommt es zu Anpassungen an den Common Approach bzw. Aktualisierungen. Inzwischen hat der Rat seine gemeinsame Position zum ACER-VO-V festgelegt, während der Bericht des EP bereits seit Februar 2018 vorliegt (s. o.). Der Trilog zum EMD beginnt Mitte des Jahres 2018 und eine (politische) Einigung soll noch 2018 erzielt werden. III. Vergleich und Fazit Am 16. September 2016 veröffentlichte die Kommission das Connectivity Package, am 30. November 2016 das Clean-Energy-Package. Mit dem Connectivity Package wird der 2009 Rechtsrahmen für elektronische Kommunikation überarbeitet, mit dem Clean-Energy-Package das Dritte Energiebinnenmarktpaket von 2009. Es gibt eine ganze Reihe von Parallelen bei den Vorschlägen. In beiden Sektoren dringen nahezu „disruptiv“ neue Dienste in die Märkte ein (OTT-Dienste im Telekommunikationssektor, erneuerbare Energien im Energiesektor), die eine Anpassung der Regeln erfordern, um ein „level playing field“ herzustellen. Zugleich ist es Ziel den Binnenmarkt weiterzuentwickeln – zu einem digitalen Binnenmarkt bzw. einem integrierten Energiebinnenmarkt. Des Weiteren wird ebenfalls in beiden Fällen die Bedeutung der Sektoren für die Wirtschaft hervorgehoben – die Konnektivität als „Rückgrat“ für die Digitalisierung der Wirtschaft, ein modernisiertes und flexibles Energiesystem für die Modernisierung der Wirtschaft; beide Sektoren erhöhen zudem die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Schließlich dient die Überarbeitung aber auch den Bürgern der EU, die Verbraucher werden in den Mittelpunkt gestellt. Hinsichtlich des gewählten Ansatzes lässt sich allerdings ein Unterschied feststellen. Während die Vorschläge des Clean-Energy-Package klar auf einen marktbasierten Ansatz setzen, erscheinen die Vorschläge des Connectivity Package eher in Richtung eines planerischen anstelle eines wettbewerbsorientierten Ansatzes zu gehen. Im Hinblick auf die institutionellen Vorschläge liegt – trotz Berufung auf den Common Approach – der Hauptunterschied in den Organisationsstrukturen, die für BEREC bzw. ACER als (künftige bzw. bestehende) Regulierungsagenturen vorgesehen sind. Der BEREC-VO-V, der die Umwandlung der bisherigen Zwei-StrangStruktur in eine EU-Agentur vorsieht, gibt ein einheitliches Management Board vor, das für regulatorische und Verwaltungsaufgaben zuständig sein soll und aus 143 Und den Direktor zu einem „Sekretär“ degradiert wie es wohl von einigen MEP befürchtet wurde.
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je einem Vertreter der NRB und zwei stimmberechtigten Vertretern der Kommission zusammengesetzt ist. Hingegen sieht der ACER-VO-V die Beibehaltung der bisherigen Leitungsstruktur mit einem getrennten Regulierungs- und Verwaltungsrat vor. Die Stellung der NRB in den Agenturorganen wird abgeschwächt, u. a. in beiden Fällen durch die Herabsetzung des Mehrheitserfordernisses. Die Untersuchung hat gezeigt, dass trotz Berufung auf den Common Approach sowohl der BEREC-VO-V als auch der ACER-VO-V von diesem abweichen und zudem die beiden Verordnungsvorschläge selbst (sozusagen im direkten Vergleich) divergieren. Dies liegt zum einen daran, dass aus dem Common Approach beliebig Elemente herausgegriffen werden, die gerade „passen“, als auch zum anderen daran, dass der Common Approach inkonsistent angewendet wird, weil bewusst unterschiedliche Governance-Modelle (Trennung bzw. keine Trennung von Regulierungs- und Verwaltungsrat) verfolgt werden, obwohl die Situation der beiden Sektoren hinsichtlich der Regulierung vergleichbar ist und deshalb eigentlich die gleichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Organisationsstruktur gezogen werden müssten. Denn die Ausführungen der Kommission in der Begründung zum ACER-VO-V, wonach „die Energiemärkte immer noch weitgehend auf nationaler Ebene reguliert werden und die nationalen Regulierungsbehörden für die Energiemärkte von zentraler Bedeutung [sind]“144 und die Leitungsstruktur mit getrenntem Regulierungs- und Verwaltungsrat beibehalten wird, weil dies der koordinierenden Rolle von ACER am ehesten gerecht wird, gelten auch für die Regulierung der Telekommunikationsmärkte, sodass – unterstellt es bedürfe einer EU-Agentur im Telekommunikationssektor – am ehesten die jetzige und künftige Organisationsstruktur von ACER „passen“ würde. Dies ist jedoch mit den vorliegenden Vorschlägen nicht geschehen, stattdessen werden divergierende Regelungen vorgeschlagen. Es lässt sich festhalten, dass die Berufung auf den Common Approach zur Begründung der institutionellen Änderungsvorschläge nicht trägt. Tatsächlich dient die Bezugnahme auf den Common Approach auch hauptsächlich dazu, die Verlagerung von Aufgaben von der nationalen auf die europäische Ebene zu verdecken. Denn in beiden Sektoren geht es darum, einen stärker zentralistischen Top-down-Ansatz anstelle des Bottom-up-Ansatzes einzuführen und die Balance zwischen europäischer und nationaler Ebene (NRB) zu Lasten letzterer zu verschieben, um die Binnenmarktentwicklung zu beschleunigen. Wie auch an anderer Stelle145 gezeigt hat ein Topdown-Ansatz jedoch die gegenteilige Wirkung. Denn in einem Mehrebenen-Regulierungssystem funktioniert die Umsetzung des Binnenmarkts nur bei einer zwischen der europäischen und der nationalen Ebene ausgewogenen Verteilung der Zuständigkeiten.
144
Begründung ACER-VO-V, S. 27. Vgl. hierzu ausführlich Groebel, in: Holznagel (Hrsg.), 20 Jahre Verantwortung für Netze, 2018, S. 71 ff. 145
Regulierung und Transparenz – Ein Spannungsfeld. Mit besonderem Bezug zu den von der BNetzA regulierten Bereichen Von Iris Henseler-Unger, Bad Honnef I. Problemaufriss Regulierungsentscheidungen sind einerseits vielfältigen Transparenzanforderungen unterworfen, andererseits besteht bei Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (BuGG) ein Anspruch der betroffenen Unternehmen auf Geheimhaltung. Regulierung und Transparenz stehen in einem natürlichen Spannungsfeld, dem ich mich hier aus der Sicht eines Ökonomen und Praktikers nähern möchte. Besonders ausführlich hat sich die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen (BNetzA) ab 2015/2016 mit diesem Aspekt der Transparenz der Energieregulierung beschäftigt. Ab diesem Zeitpunkt wurde zunächst im Evaluierungsbericht zur Anreizregulierung1 Transparenz diskutiert, später dann hierzu ein Hinweispapier vorgelegt. Es geht darin um Umfang und Reichweite zulässiger Schwärzungen bei der Veröffentlichung von Entscheidungen der Bundesnetzagentur in den Bereichen Elektrizität und Gas (insbesondere mit Blick auf Entgelt- und Kostenentscheidungen). Es wurde mit Stand 13. März 2017 veröffentlicht.2 Allerdings hat es auch in anderen Bereichen Auseinandersetzungen – bis hin zu höchstrichterlichen Entscheidungen – gegeben. Der häufig in diesem Zusammenhang zitierte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2006 fußt u. a. auf Verfahren aus der Telekommunikationsregulierung von 1999.3 Ergebnis ist eine Grat1 Bundesnetzagentur, Evaluierungsbericht nach § 33 Anreizregulierungsverordnung, Bericht der Bundesnetzagentur für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zur Evaluierung der Anreizregulierung, insbesondere zum Investitionsverhalten der Netzbetreiber, mit Vorschlägen zur weiteren Ausgestaltung, 21. 01. 2015, Bonn, elektronisch verfügbar unter: https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Downloads/DE/Allgemeines/Bundesnetzagen tur/Publikationen/Berichte/2015/ARegV_Evaluierungsbericht_2015.pdf?__blob=publicationFi le. 2 Bundesnetzagentur, Hinweispapier, Umgang und Reichweite zulässiger Schwärzungen bei der Veröffentlichung von Entscheidungen der Bundesnetzagentur in den Bereichen Elektrizität und Gas (insbesondere mit Blick auf Entgelt- und Kostenentscheidungen), Stand 13. 03. 2017, elektronisch verfügbar unter: https://www.bundesnetzagentur.de/DE/ServiceFunktionen/Beschlusskammern/Beschlusskammer6/BK6_09_Sonstige_Veroeffentlichungen/ Geheimnisschutz/Hinweispapier_Download.pdf?__blob=publicationFile&v=3. 3 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 14. 03. 2006 – 1 BvR 2087/03 Rn. 1 – 166.
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wanderung zwischen dem Schutz der Informationen über die vom Regulierer betrachteten Unternehmen und deren Wettbewerber sowie der Möglichkeit von Betroffenen, sich – auch gerichtlich – gegen die Entscheidung zu wenden. Schwärzungen erschweren den Rechtsschutz. Regulierung und Transparenzanforderungen stehen aber in einem weit facettenreicheren Spannungsfeld, als die Diskussion um die Preisgabe von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen vermuten lässt. Der Begriff der Transparenz wird im Zusammenhang mit Regulierung in vielfältigen anderen Bezügen verwandt. Der Regulierer selbst ist auf umfangreiche Informationen aus den zu regulierenden Unternehmen und den zu beobachtenden Märkten angewiesen. Hier stellt sich also die Frage, wie transparent z. B. die Kostenrechnung für den Regulierer sein muss. Natürlich kann man die Offenlegung aller Bücher verlangen. Unter der Erkenntnis, dass das zu regulierende Unternehmen vor dem Regulierer immer einen Wissensvorsprung haben wird, haben Ökonomen dann aber andere Verfahren entwickelt, mit denen unvollständige Information und mangelnde Transparenz kompensiert werden können. Die im Energiebereich praktizierte Anreizregulierung ist ein solches Verfahren. Die entsprechenden Regulierungsgesetze verwenden den Begriff Transparenz auch im Hinblick auf die Verfahren selbst. Sie sehen transparente Verfahren des Regulierers vor. Damit fordern sie ein bestimmtes Vorgehen und ein qualitatives Niveau des Verfahrens zur Erlangung der Regulierungsentscheidung. Die Bundesnetzagentur hat sich im Jahr 2016 und auch davor im Telekommunikationsbereich mit der Offenlegung von relevanten Informationen für Kunden beschäftigt. So regelt die im Dezember 2016 verabschiedete TK-Transparenzverordnung,4 welche Angaben und in welcher Weise sie von den Unternehmen des Telekommunikationsmarktes Verbrauchern zu den von ihnen nachgefragten Leistungen zur Verfügung gestellt werden müssen. Grundsätzlich gibt es eine Vielzahl rechtlicher Grundlagen, die Transparenz- und Informationsanforderungen an Unternehmen festlegen. Erwähnt sei hier als Beispiel das Aktienrecht oder die Möglichkeit zu Sektoruntersuchungen nach dem GWB5 durch das Bundeskartellamt.
4 Bundesnetzagentur, Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommunikationsmarkt (TK-Transparenzverordnung – TKTransparenzV) vom 19. 12. 2016, elektronisch verfügbar unter: https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Downloads/DE/Sachgebiete/ Telekommunikation/Unternehmen_Institutionen/Anbieterpflichten/Kundenschutz/Transparenz ma%C3 %9Fnahmen/bgbl_2016_Teil1_Nr. 62.pdf?__blob=publicationFile&v=. 5 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. 06. 2013 (BGBl. I S. 1750, 3245), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 27. 08. 2017 (BGBl. I S. 3295) geändert worden ist.
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Im Regulierungsbereich sind Transparenzfestlegungen für Unternehmen und für den Regulierer in speziellen Regulierungsgesetzen festgelegt, so im TKG6 für die Telekommunikation, im EnWG7 für Elektrizität und Gas, im PostG8 für den Bereich der Postdienstleistung oder im ERegG9 für den Eisenbahnbereich sowie in den begleitenden Verordnungen. Auskunftspflichten der Regulierungsbehörden folgen auch aus dem IFG.10 Es wird zwar zunehmend durch Dritte benutzt, um gewünschte Informationen aus Regulierungsverfahren zu erhalten, das Vorgehen der Bundesnetzagentur richtet sich jedoch letztlich nach den jeweiligen spezifischen Gesetzen. Im Rahmen dieses Aufsatzes soll daher die Analyse auf die der Sektorregulierung zugrunde liegenden spezifischen rechtlichen Grundlagen begrenzt sein, die den Fragen der Transparenz eine besondere Prägung geben. Zudem sei zugegeben, dass die Perspektive des Regulierers im Vordergrund und diejenige des betroffenen Unternehmens eher im Hintergrund steht. Außerdem wird es nicht gelingen, alle Ansätze aus der Regulierung, Informationen bereitzustellen, zu erfassen. So wird z. B. der von der BNetzA betreute Infrastrukturatlas, aus dem potenzielle Investoren Informationen über für ihren geplanten Ausbau mitnutzbare Infrastrukturen erhalten können, außen vor bleiben, wie die neue Energiewebsite des Regulierers SMARD. Im Folgenden sollen entsprechend diesem ersten Problemaufriss zunächst eine generelle Einordnung des Begriffs Transparenz vorgenommen und die Besonderheiten der Transparenz des Unternehmens gegenüber dem Regulierer am Beispiel der regulierten Sektoren (Telekommunikation, Post, Energie, Eisenbahnen) beleuchtet werden, bevor die Transparenz des Regulierers gegenüber Dritten in den Fokus genommen wird. Dann steht die Transparenz des Unternehmens gegenüber Dritten im Mittelpunkt, also Informationen z. B. an den potenziell zur Entgeltzahlung Verpflichteten oder Zugangsberechtigten sowie den Konsumenten, bevor einige allgemeine Schlussfolgerungen gezogen werden. II. Einordnung des Begriffs Transparenz im Regulierungsrecht 1. Vor- und Nachteile von Transparenz Stichworte, die dabei im Regulierungsrecht in den betreffenden Texten immer wieder verwendet werden und die die Anforderungen an das Verhalten des Regulierers, manchmal auch das des zu regulierenden Unternehmens, beschreiben, sind „ob6 Telekommunikationsgesetz vom 22. 06. 2004 (BGBl. I S. 1190), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 27. 06. 2017 (BGBl. I S. 1963) geändert worden ist. 7 Energiewirtschaftsgesetz vom 7. 07. 2005 (BGBl. I S. 1970, 3621), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 6 des Gesetzes vom 20. 07. 2017 (BGBl. I S. 2808) geändert worden ist. 8 Postgesetz vom 22. 12. 1997 (BGBl. I S. 3294), das durch Artikel 169 des Gesetzes vom 29. 03. 2017 (BGBl. I S. 626) geändert worden ist. 9 Eisenbahnregulierungsgesetz vom 29. 08. 2016 (BGBl. I S. 2082). 10 Informationsfreiheitsgesetz vom 5. 09. 2005 (BGBl. I S. 2722), das durch Artikel 2 Absatz 6 des Gesetzes vom 7. 08. 2013 (BGBl. I S. 3154) geändert worden ist.
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jektiv, transparent, nicht diskriminierend und verhältnismäßig“ sowie „transparentes Verfahren“. Sie sind grundsätzlich interpretationsbedürftig. Häufig wird dabei der Begriff Transparenz mit einer positiven Wertung belegt. Dabei sind mit Transparenz sehr wohl Vor- wie Nachteile verbunden. Vorteilhaft ist, dass aus Sicht des Regulierers, des regulierten Unternehmens sowie der von der Entscheidung betroffenen Dritten umfangreiche Informationen den Grad der Angemessenheit der Entscheidung erhöhen, weil der Sachverhalt besser abgeklärt ist. Die Erörterung der ergangenen Entscheidungen ist informierter, weil die Daten zur Beurteilung zugängig sind. Sie ist besser nachvollziehbar und robust, d. h. eine Kontrolle ist möglich. Transparenz ist auch ein Schutz davor, dass der Regulierer von einer Partei (oder der Politik) vereinnahmt wird und seine Entscheidungen verzerrt sind.11 Transparenz stärkt also die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde. Mutige wagen sich daran, die Kosten der Intransparenz in der Regulierung zu schätzen, so Canty (2015)12 für den Energiebereich, in dem er beeinflusste Entscheidungen unterstellt. Gemäß dem jährlichen Gesamtkostenvolumen für Energienetze von 18 Mrd. E geht er von einer möglichen jährlichen Kostenersparnis durch bessere Transparenz von 2 % aus, dem entsprächen 360 Mio. E. Hinzu kämen, so Canty (2015), noch Kosten, die sich aus einer zu hohen Festlegung für den Eigenkapitalzinssatz ergäben. Analoge Rechnungen können natürlich auch für andere Annahmen zur Kosteneinsparung durch verbesserte Transparenz vorgenommen werden, insgesamt ist diese Schätzung also mit Vorsicht zu genießen. Es ist ja gerade Teil der mangelnden Transparenz, dass nachvollziehbare Angaben nicht vorliegen und auch ein Vergleich einer transparenten mit einer intransparenten Situation als Benchmark nicht erreichbar ist. Allerdings muss dem auch entgegengehalten werden, dass Regulierungsmaßnahmen durchaus keine reine Rechenkunst sind. Beurteilungs- und Ermessensspielräume stehen der BNetzA je nach Sachverhalt in unterschiedlichem Maße zu13 und münden in umfangreiche Abwägungsprozesse. Transparenz hat auch Nachteile, und nicht nur, weil die Zurverfügungstellung von Informationen Erstellungskosten beinhaltet. Transparenz kann den Wettbewerb beeinträchtigen. So bedeutet sie auch Information für Lieferanten, die deren Verhand11
Canty, Transparenzdefizite der Netzregulierung, Bestandsaufnahme und Handlungsoptionen, Studie für Agora Energiewende, 2015, S. 7 f., elektronisch verfügbar unter: https:// www.stiftung-mercator.de/media/down-loads/3_Publikationen/Agora_Transparenzdefizite_ der_Netzregulierung.pdf. 12 Canty, Transparenzdefizite der Netzregulierung, Bestandsaufnahme und Handlungsoptionen, Studie für Agora Energiewende, 2015, S. 21 – 23, elektronisch verfügbar unter: https:// www.stiftung-mercator.de/media/down-loads/3_Publikationen/Agora_Transparenzdefizite_ der_Netzregulierung.pdf. 13 So z. B. BVerwG, Urteil vom 17. 08. 2016 – 6 C 24.15, ECLI:DE:BVerwG: 2016:170816U6C24.15.0.
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lungsposition über das im Markt übliche Maß stärken kann. Gleiches gilt für Kunden und vor allem Wettbewerber. Hierzu dient der Schutz der BuGG basierend auf § 30 VwVfG.14 In Oligopolmärkten kann Information sogar Grundlage für paralleles, abgestimmtes Verhalten der im Markt befindlichen Unternehmen sein. Sie führt also hier in der Konsequenz zu ungewünschten Marktergebnissen, die dem Ziel des Wettbewerbs entgegenlaufen. Das liegt daran, dass Transparenz über das Verhalten der Marktteilnehmer hilft, ein kollusives Marktgleichgewicht zu stabilisieren, weil sie die Gefahr erhöht, dass das abweichende Verhalten eines Teilnehmers entdeckt wird und Vergeltungsmaßnahmen durch die anderen ergriffen werden können.15 2. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Wenn BuGG generell geschützt sind, so ist ihre Bestimmung zentral. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Regulierungsdiskussion zum Schutz geheimhaltungsbedürftiger Informationen hat das Bundesverfassungsgericht 2006 zu einem Fall aus der Telekommunikationsregulierung16 eine Definition von BuGG formuliert: „(…) alle auf ein Unternehmen bezogene Tatsachen, Umstände und Vorgänge (…), die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat.“ Als Beispiele sind genannt „Umsätze, Ertragslagen, Geschäftsbücher, Kundenlisten, Bezugsquellen, Konditionen, Marktstrategien, Unterlagen zur Kreditwürdigkeit, Kalkulationsunterlagen, Patentanmeldungen und sonstige Entwicklungs- und Forschungsprojekte, durch welche die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betriebes maßgeblich bestimmt werden können (…).“ Die rechtliche Abwägung zwischen der Weitergabe von Informationen und ihrer Geheimhaltung ist dabei nicht einfach, weil neben der Grundsatzfrage auch unternehmens- oder marktspezifische Konstellationen betrachtet werden müssen. In gewinnorientierten Mehrproduktunternehmen ist das Informationsgeflecht bzw. die Beurteilung der Relevanz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen hochkomplex. Das Bundesverfassungsgericht sieht zudem einen Konflikt in einem mehrpoligen Rechtsverhältnis, hier in einem Regulierungsfall der Telekommunikation. Der Staat in der Gestalt der Regulierungsbehörde hat seine Rechte ebenso wie die Kunden des regulierten Unternehmens, die potenziell zur Entgeltzahlung verpflichtet sind oder Zugangsansprüche haben. Aber auch das von der Regulierung direkt betroffene Unternehmen hat rechtliche Pflichten, aber auch Rechte. 14 Verwaltungsverfahrensgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. 01. 2003 (BGBl. I S. 102), das zuletzt durch Artikel 11 Absatz 2 des Gesetzes vom 18. 07. 2017 (BGBl. I S. 2745) geändert worden ist. 15 Stigler, A Theory of Oligopoly, Journal of Political Economy 1964, Volume 72, Issue 1, 44 – 61, elektronisch verfügbar unter: http://home.uchicago.edu/~vlima/courses/econ201/Stig ler.pdf. 16 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 14. 03. 2006 – 1 BvR 2087/03 Rn. 1 – 166.
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Ergebnis dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichts ist das Erfordernis, im Einzelfall eine Prüfung auf das Vorliegen eines BuGGs vornehmen zu müssen. 3. Ökonomische Ansätze zum Umgang mit mangelnder Transparenz Aber auch die Ökonomen haben sich in vielen Beiträgen mit begrenzten Informationen beschäftigt. Es geht in ihren Arbeiten um die Rolle der Information, der Unsicherheit sowie der unvollständigen und asymmetrischen Information. Zwei Kernprobleme, die sie ausgemacht haben, seien hier erwähnt, weil sie in Ergänzung zu dem rechtlichen Gedanken zur Veröffentlichung und Preisgabe von Informationen durch Unternehmen auf einer anderen, grundsätzlicheren Ebene ansetzen. Diese zwei Kernprobleme jeder Regulierung lassen sich allerdings grundsätzlich nicht, auch nicht durch noch so diffizile rechtliche Auflagen, beheben. Als Voraussetzung für die Entscheidung muss durch Regulierer und reguliertes Unternehmen eine Prognoseentscheidung bei Unsicherheit über die künftige Entwicklung gefällt werden. Transparenz über den heute gültigen Sachverhalt kann diese Annahme über die Zukunft nur begrenzt absichern. Transparenz über die Zukunft gibt es nicht, allerdings Transparenz über die Annahmen, auf denen die Prognoseentscheidung beruht. Hinzu tritt eine nicht auflösbare Informationsasymmetrie zwischen Regulierer und reguliertem Unternehmen. Die Informationen des Regulierers können nie so umfassend sein wie die des Unternehmens über sich selbst. Dieses Ungleichgewicht in der Kenntnis könnte nur bei vollständiger Übernahme des Unternehmens durch den Regulierer verschwinden. Der Rückfall in das Staatsmonopol hätte aber die Defizite, die man durch eine Liberalisierung und Privatisierung seinerzeit beheben wollte. In diesem komplexen Zusammenhang sind für Analysen und für die Ableitung regulatorischer Optionen bereits mehrere Wirtschaftsnobelpreise vergeben worden, z. B. zu Regulierung und Anreizsetzung bei Principal-Agent-Problemen an Jean Tirole (2014) und zuletzt an Oliver Hart und Bengt Holmström (2016). Dies zeigt natürlich auch die Hartnäckigkeit, mit der sich Ökonomen mit diesen Kernproblemen jeder Regulierung, die auch deren Grenzen bestimmen, befassen. III. Transparenz des Unternehmens gegenüber dem Regulierer 1. Ausgangspunkt Als Vorbemerkung sei nochmals auf den Anlass für die Regulierung hingewiesen. Sie beruht auf der Marktmacht oder gar Monopolstellung eines Unternehmens im Infrastrukturbereich. Diese begründet sich häufig sogar auf einem ehemaligen Staatsmonopol. In der Regel sind Größen- und Netzwerkvorteile festzustellen, die
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die starke Marktposition tendenziell zementieren oder gar ein natürliches Monopol begründen. Die marktbeherrschende Stellung würde verhindern, dass auf den vorgelagerten und/oder nachgelagerten Märkten Wettbewerb entstehen kann. Beispiele sind Elektrizitätsnetze. Sie sind insbesondere im Transportnetzbereich nicht duplizierbar. Wettbewerb bei der Stromerzeugung (als vorgelagerte Wertschöpfungsebene) wie auf der Verteilebene (als nachgelagerte Wertschöpfungsebene) wäre durch das unregulierte Netzmonopol blockiert. Der faire Zugang zu den Trassen der Deutschen Bahn ist erforderlich, damit Wettbewerber Schienenverkehrsleistungen im Güter- und Personenverkehr erbringen können. In der Telekommunikation ist der Zugang zu den Netzen und einigen speziellen Vorleistungsprodukten unumgänglich, um Wettbewerbern zu ermöglichen, eigene Dienste anbieten oder gar eigene Netze aufbauen zu können. Der Gedanke der Liberalisierung dieser Märkte folgt dem Gedanken, dass Wettbewerb, wo immer möglich, das Marktergebnis bestimmen sollte. Wesentlicher Inhalt von Regulierung ist daher der Zugang zur Infrastruktur und dies zu angemessenen Entgelten, die vergleichbar mit denjenigen Preisen sein sollten, wie sie sich im Wettbewerb ergeben würden. Mehr oder weniger explizit gesetzlich festgelegt ist Ziel der Regulierung dabei, im regulierten Bereich die Effizienz der Leistungserstellung zu gewährleisten, damit vor- und/oder nachgelagerte Märkte ihre spezifischen Vorteile ausspielen können. 2. Umfang des Antrags des zu regulierenden Unternehmens Zu den Grundprinzipien der Regulierung sollte daher gehören, dass es gegenüber dem Regulierer im regulierten Bereich keine Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zu den relevanten Fakten gibt, so z. B. § 4 Abs. 2 ERegG. Umfassende Antragsunterlagen und vollständige Unterlagen sind ein Muss für eine kompetente Entscheidung des Regulierers. Wie in allen Verwaltungsverfahren kann ein Antrag wegen fehlender Prüffähigkeit abgelehnt werden, wenn der Antragsteller nicht bereit ist, innerhalb einer Frist nachzubessern. Ebenso gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Konflikte über den notwendigen Umfang der Antragsbegründung sind im Regulierungsbereich aber vorgeprägt. Es ist immer wieder strittig, welche Bereiche genau der Regulierung unterliegen (z. B. Auseinandersetzung mit der Post zu Teilleistungen17). Zudem wird heftig darüber gerungen, welche Daten der Regulierer in welcher Aufbereitung und Detailtiefe benötigt (z. B. mit den regulierten Unternehmen DTAG und der DB AG). Hier geht es vordergründig um die Kosten der Datenaufbereitung durch das Unternehmen. Vor allem steht hier aber die Auseinandersetzung über Umfang und Tiefe der Regulierung im Mittelpunkt. Regeln für die Aufbereitung der Kostenunterlagen nach den Bedürfnissen des Regulierers, die sich eben nicht nach dem Handelsgesetzbuch (HGB) oder den Interna17
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tional Financial Reporting Standards (IFRS) richten, sind daher meist Ergebnis längerer Diskussionsprozesse zwischen Regulierer und Unternehmen, oftmals auch Gegenstand in Gerichtsverfahren. Die rechtlichen Grundlagen der einzelnen regulierten Bereiche sehen allerdings Regeln vor, um diesen Konflikt zu entschärfen. Es wird versucht, das Konzerngeflecht und die Bezüge von Mehrproduktunternehmen zu neutralisieren. Sind es in der Telekommunikation Vorgaben zur getrennten Rechnungslegung, die auferlegt werden können, und zur Separierung von Netzen und Betrieb als Ultima Ratio, so ist im Energiebereich die Separierung der Netze von vornherein gesetzliche Auflage. Die Trennung dient dazu, Quersubventionierungspotenziale durch die taktische Zuordnung von Kosten zu verhindern und die Informationserfordernisse des Regulierers eindeutig definieren zu können. Auch im neuen ERegG wird z. B. in § 12 Abs. 1 die organisatorische Trennung von Unternehmensteilen als Transparenzauflage gesehen. Ein Beispiel, dass eine mangelnde Abgrenzung zu nachhaltigen Streitigkeiten führen kann, ist der Dissens um die Anwendung des Single-Till- oder DualTill-Ansatzes bei Bahnhöfen, aber auch bei Flughäfen. Wem gehören hier die dort anfallenden Einnahmen aus dem Einzelhandel und der Gastronomie und wie sind die Kosten für diesen Bereich klar abgrenzbar? 3. Umgang des Regulierers mit mangelnder Information Beispielhaft sei das Spannungsfeld zwischen Regulierer und reguliertem Unternehmen in der Telekommunikation geschildert.18 Hier findet in vielen Bereichen eine Ex-ante-Entgeltregulierung nach dem strikten Maßstab der Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung als Antwort auf das Vorliegen von signifikanter Marktmacht oder gar eines natürlichen Monopols statt. Preise, die nicht durch den Regulierer genehmigt sind, sind im Markt nicht geduldet. Der Regulierer ist also in einer starken Position gegenüber dem regulierten Unternehmen, die sich auch in den etablierten Verfahren manifestiert. Die Prüfung der Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung erfolgt auf der Basis einer umfangreichen Kontrolle durch den Regulierer mit umfassenden Befugnissen und tiefen eigenen Kenntnissen. Startpunkt ist das Einreichen eines vollständigen Antrags mit allen notwendigen Kostenunterlagen, der extrem umfangreich ist. Es erfolgt eine Prüfung im Detail durch die BNetzA. Allerdings gibt es Vorgehensweisen und Methoden, um fehlende oder unzulängliche Unterlagen des Antragsstellers durch Entscheidungen des Regulierers zu kompensieren. So ist der Ersatz der beantragten Kosten durch die vom Regulierer errechneten Kosten, z. B. durch Kontrolle der Schaltarbeiten vor Ort oder Vergleichsmarktmieten, möglich, ebenso wie die Nichtanerkennung von nicht ausreichend begründeten und nicht nachvollziehbaren Kosten (z. B. zunächst die Vivento-Kosten der DTAG). 18 Vergl. auch Henseler-Unger, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, 66. Deutscher Juristentag, Stuttgart 2006, Band II/1, 09 – 043.
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Die Detailtiefe der Information und die Notwendigkeiten zur Transparenz können zudem durch andere Kostenprüfungsverfahren reduziert werden. Kostenmodelle können die Kalkulation im Detail und damit die dazu erforderlichen Unternehmensinformationen ganz oder teilweise ersetzen. Diese Kostenmodelle bilden das Netz der DTAG oder der Mobilfunkunternehmen mit optimierter Struktur ab, abstrahieren also von der „gewachsenen“ Realität und stellen im Grundsatz auf die effiziente Leistungserstellung ab. Für den Regulierer reduzieren solche Modelle seine Anforderung an die Transparenz des Unternehmens, das nur noch einen begrenzten Datensatz liefern muss. Das Unternehmen selbst erhält angemessene Transparenz über das in seinem Fall eingesetzte Kostenmodell. Es wird vorab konsultiert und dem regulierten Unternehmen zur Verfügung gestellt. Ebenso ist es rechtlich möglich, Benchmarks mit anderen Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, oder mit Märkten in vergleichbaren Ländern durchzuführen und diese Werte auf Deutschland und das regulierte Unternehmen zu übertragen. Auch das reduziert den Informationsumfang, dem das betroffene Unternehmen nachkommen muss. Beide Vorgehensweisen, Einsatz von Kostenmodellen und Benchmarks, reduzieren den Informationsaufwand für die BNetzA und für das regulierte Unternehmen. Erhalten bleibt die Orientierung am strikten Maßstab der Ex-ante-Entgeltkontrolle. Im Telekommunikationsbereich ist aber auch eine Ex-post-Entgeltregulierung nach dem weicheren Maßstab der Missbrauchskontrolle, angelehnt an das Wettbewerbsrecht, möglich, falls die Wettbewerbsprobleme geringer sind oder die Märkte größere Flexibilität bei der Entgeltsetzung erfordern. Hier wird keine strikte Kostenermittlung durch Bottom-Up-Hochrechnen aller Kostenkomponenten vorgenommen oder ein im Ergebnis gleichwertiger Ersatz gesucht. Stattdessen führt der weichere Maßstab der Regulierung zu einem bewussten Informationsverzicht. So werden nur Preis-Kosten-Scheren zwischen Vorleistungsproduktpreis und Endkundenpreis oder die Konsistenz zwischen zwei Vorleistungspreisen (Kosten-Kosten-Scheren) überprüft, ebenso Dumping. Bei dieser Überprüfung werden wie im Wettbewerbsrecht Erheblichkeits- und Sicherheitsaufschläge berücksichtigt, um Unkenntnis des Regulierers und Unschärfen in der Ableitung eines Marktergebnisses abzubilden. Dieser weichere Maßstab ermöglicht also auch einen geringeren Transparenzumfang. Aus dem Bereich der Postregulierung kommt ein anderes Beispiel, wie durch geschickte Regulierungsverfahren auf Informationen für den Regulierer verzichtet werden kann und Transparenzanforderungen reduziert werden können. Hier wird bewusst die oben erwähnte, nicht überwindbare Informationsasymmetrie zwischen dem regulierten Unternehmen und der Behörde genutzt. In Anerkenntnis, dass das Wissen des Unternehmens über den Markt und die Nachfrager weit besser ist, als das, welches der Regulierer jemals erreichen kann, wird dem Unternehmen unter Einhaltung gewisser Rahmenbedingungen erlaubt, innerhalb eines definierten Waren- und Dienstleistungskorbs selbst Preise zu setzen. Dadurch können optimale Preisstrukturen erreicht werden, die die Märkte möglichst wenig verzerren und daher
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die Wohlfahrt steigern.19 Strikte Kostenprüfung für Einzelpreise durch den Regulierer wäre demgegenüber unterlegen. Im Rahmen der sogenannten Price-Cap-Regulierung wird also zunächst ein Produkt-Korb gebildet, der verschiedene Leistungen und Dienste des regulierten Unternehmens enthält. Für diesen Produkt-Korb wird eine Preisobergrenze festgelegt, die die erwartete Preissteigerung abzüglich des erwarteten Produktivitätsfortschritts für alle im Korb enthaltenen Leistungen und Dienste summarisch umfasst. Die Setzung der Einzelpreise für die Leistungen und Dienste des Korbes und damit die Festlegung der Preisstruktur wird durch das regulierte Unternehmen in eigener Regie entsprechend der einzelnen Nachfrageelastizitäten gemäß der vorab festgelegten Preisobergrenze vorgenommen. Das Ergebnis ist laut Theorie effizient, also hat genau die Eigenschaft, die der Regulierer realisiert sehen möchte. Im Energiebereich wird diese Grundkonzeption mit der Anreizregulierung abgewandelt. Nach dem Vorschlag der Monopolkommission20 soll sie auch für die Regulierung von Flughäfen eingesetzt werden. Die BNetzA hatte sie für den Bahnbereich konzeptioniert, als vor Verabschiedung des ERegGs im Jahr 2016 um die Neukonzeption der Eisenbahnregulierung gerungen wurde. Die Anreizregulierung arbeitet im Energiebereich mit einer Erlösobergrenze. Grundsätzlich wäre auch eine Preisobergrenze möglich, je nachdem, ob die Begrenzung der Preise oder der Erlöse im Zentrum der Regulierung steht. Diese (Erlös-/ Preis-)Obergrenze wird für mehrere Jahre entsprechend der erwarteten (Erlös-/ Preis-)Steigerung abzüglich des erwarteten Produktivitätsfortschritts festgelegt, wie bei einfacherer Price-Cap-Regulierung. Der Fokus liegt hier allerdings nicht darauf, wie man innerhalb eines Produktkorbes eine optimale Struktur zwischen den einzelnen Produkten des Korbes erreicht. Vielmehr ist der Fokus der Anreizregulierung darauf gelegt, den Unternehmen ein Incentive zu geben, Ineffizienzen bei der Leistungserstellung durch eigene Anstrengungen und nicht durch regulatorische Vorgaben zu beseitigen. Ist das regulierte Unternehmen effizienter als vom Regulierer angenommen, verbleiben die Effizienzgewinne der Regulierungsperiode, die oberhalb der zuvor vom Regulierer angenommenen Effizienzsteigerung liegen, beim Unternehmen. Hier gibt es also einen intrinsischen Anreiz zur Effizienzsteigerung beim Unternehmen, statt der permanenten regulatorischen Kontrolle der einzelnen Kosten in jedem Jahr. 4. Sonstige Informationspflichten Neben den für das Regulierungsverfahren spezifischen Auflagen zur Zurverfügungstellung von Informationen treten selbstverständlich Auskunftspflichten allge19
Analog der sogenannten Ramsey-Boiteux-Preise. Monopolkommission, Wettbewerb 2016, Einundzwanzigstes Hauptgutachten der Monopolkommission gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 GWB, 2016, S. 52 ff, elektronisch verfügbar unter: http://www.monopol-kommission.de/images/HG21/HGXXI_Gesamt.pdf. 20
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meiner Natur sowie solche im Rahmen des Monitorings des Marktes, als Beispiel sei § 17 ERegG zur Marktüberwachung genannt. Sie dienen dazu, Angebot, Nachfrage und Preise des jeweiligen Marktes, das wettbewerbliche Umfeld und Investitionen in bestimmte Technologien zeitnah beobachten zu können und so allgemein möglichst rasch positive wie negative Entwicklungen zu erfassen. Sie dienen damit zur generellen Information des Regulierers und der Öffentlichkeit, wenn sie im Rahmen des Tätigkeits- und Jahresberichts in aggregierter Form zur Verfügung gestellt werden. Vor allem aber dienen sie zur Einschätzung, ob regulatorisch eingegriffen werden müsste oder Auflagen angepasst werden müssten. IV. Transparenz des Regulierers gegenüber Dritten 1. Generelle Information Es ist lange Tradition der BNetzA, auf öffentlichen Tagungen, Konferenzen und Workshops zu einzelnen generellen Fragen außerhalb der konkreten Regulierungsverfahren Stellung zu beziehen und ihre Überlegungen zu verdeutlichen. Auch in fundamentalen Fragen, deren Beantwortung in der Relevanz über ein einzelnes Regulierungsverfahren hinausreicht – z. B. zur Kapitalkostenberechnung im Bereich Eisenbahnen, zur Konsistenz der Entgeltregulierung in der Telekommunikation oder zu einem neuen Vorgehen in der Entgeltregulierung, dem Nachbildbarkeitsansatz – wurden und werden Tagungen oder separate Anhörungen veranstaltet, um mit dem Markt und anderen Betroffenen eine grundsätzliche und offene Debatte führen zu können. 2. Information im Beschlusskammerverfahren Die Kommunikation des Regulierers mit Dritten und damit die Transparenz gegenüber interessierten Parteien wird vor allem generell durch die Veröffentlichungspraxis des Regulierers im Rahmen der Verfahren bestimmt. Seine Entscheidungen sind entweder auf der BNetzA-Website, speziellen, nur für diesen Zweck eingerichteten Websites oder im Amtsblatt zu publizieren und damit den interessierten Parteien zugängig. Der Regulierer veröffentlicht so im Telekommunikationsbereich bei Schwärzung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse auch Anträge und andere relevante Unterlagen des regulierten Unternehmens sowie die Stellungnahmen und Einlassungen der Verfahrensbeteiligten, die ihrerseits geheimhaltungswürdige Informationen in das Verfahren einbringen können. Entsprechend geht er auch bei IFG-Anträgen vor. Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung könnten damit z. B. im Telekommunikationsbereich grundsätzlich in ein In-camera-Verfahren bei Verwaltungsgerichten münden, wobei allerdings hier eine nicht unumstrittene Hürde liegt.21 21
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Im Energiebereich hat gerade eine ausführliche Konsultation zur „Schwärzungspraxis“ stattgefunden, die in ein Hinweispapier, das am 13. März 2017 veröffentlicht wurde, gemündet ist. Ziel waren die Eindämmung einer Vielzahl von Anträgen nach dem IFG22 und das Entgegentreten gegen die Kritik an der Schwärzungspraxis. Im Hinweispapier angesprochen sind BuGG der regulierten Unternehmen, BuGG Dritter, personenbezogene Daten und Daten mit Relevanz für die öffentliche Sicherheit als grundsätzlich zu schwärzende Angaben. Ausgangspunkt ist, dass Elektrizitätsund Gasmärkte durch massenhafte Regulierungsverfahren geprägt sind und aktuell durch eine hohe Varianz im Vorgehen der einzelnen Unternehmen gekennzeichnet sind. Das Hinweispapier ist der Versuch, die vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebene einzelfallorientierte Prüfung im Energiebereich anhand von bestimmten Kriterien besser handhabbar zu machen, durch die Definition von Fallgruppen zu vereinfachen, eine vereinheitlichte Verwaltungspraxis zu etablieren und insgesamt das Vorgehen rechtsicherer zu machen. Explizit schließt die BNetzA eine Einzelfallprüfung jedoch keineswegs aus. Dies kann sie auch nicht, da sie letztlich die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts respektieren muss. Die neue Anreizverordnung23 definiert zudem neue, weitergehende Transparenzverpflichtungen für den Regulierer, z. B. zu den festgelegten und angepassten Erlösobergrenzen, Effizienzwerten, Aufwands- und Vergleichsparametern sowie dem Kapitalkostenaufschlag in der Summe in netzbetreiberbezogener und nicht anonymisierter Form. Damit ist auch durch rechtlich verbindliche Vorgaben konkretisiert, was keine BuGG sind.24 Auszug aus Anreizregulierungsverordnung: „§ 31 Veröffentlichung von Daten (1) Die Regulierungsbehörde veröffentlicht auf ihrer Internetseite netzbetreiberbezogen in nicht anonymisierter Form insbesondere 1. den Wert der kalenderjährlichen Erlösobergrenzen nach § 4 Absatz 2 Satz 1, 2. den nach § 4 Absatz 3 und 4 angepassten Wert der kalenderjährlichen Erlösobergrenzen, 3. den verzinsten Saldo des Regulierungskontos nach § 5 Absatz 1 und 2 sowie die Summe der Zu- und Abschläge aus der Auflösung des Saldos des Regulierungskontos nach § 5 Absatz 3, 4. die nach den §§ 12, 13 bis 15 sowie nach § 22 ermittelten Effizienzwerte, die nach § 12 Absatz 4a und § 14 im Effizienzvergleich verwendeten Aufwandsparameter sowie die nach § 13 im Effizienzvergleich verwendeten Vergleichsparameter, 5. die nach § 12a ermittelten Supereffizienzwerte sowie den Effizienzbonus, 22 Informationsfreiheitsgesetz vom 5. 09. 2005 (BGBl. I S. 2722), das durch Artikel 2 Absatz 6 des Gesetzes vom 7. 08. 2013 (BGBl. I S. 3154) geändert worden ist. 23 Anreizregulierungsverordnung vom 29. 10. 2007 (BGBl. I S. 2529), die durch Artikel 5 des Gesetzes vom 17. 07. 2017 (BGBl. I S. 2503) geändert worden ist. 24 Stand Oktober 2017 haben inzwischen das Oberlandesgericht Düsseldorf (Beschluss vom 16. 02. 2017, Az. VI-5 Kart 2/17 [V]) sowie drei weitere Oberlandesgerichte Eilanträge gegen die angekündigte Veröffentlichung von Daten nach § 31 ARegV zurückgewiesen, während das Brandenburgische Oberlandesgericht (Beschluss vom 10. 07. 2017, Az. 6 Kart 1/ 17) die Veröffentlichung von Daten als vorläufig unzulässig ansieht.
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6. die verwendeten Parameterwerte und die jährlichen Anpassungsbeträge der Erlösobergrenze für den Erweiterungsfaktor nach § 4 Absatz 4 Satz 1 Nummer 1 in Verbindung mit § 10 als Summenwert, 7. den jährlichen nach § 4 Absatz 4 Satz 1 Nummer 1 in Verbindung mit § 10a ermittelten Kapitalkostenaufschlag als Summenwert, 8. die dauerhaft nicht beeinflussbaren Kostenanteile nach § 11 Absatz 2 sowie deren jährliche Anpassung nach § 4 Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 als Summenwert, 9. die jährlichen tatsächlich entstandenen Kostenanteile nach § 11 Absatz 2 Satz 1 Nummer 6 als Summenwert, 10. die jährlichen tatsächlich entstandenen Kostenanteile nach § 11 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 und 8 jeweils als Summenwert, 11. die jährlichen volatilen Kostenanteile nach § 11 Absatz 5 als Summenwert sowie 12. die ermittelten Kennzahlen zur Versorgungsqualität. (2) Die Regulierungsbehörde veröffentlicht in ihrem Amtsblatt und auf ihrer Internetseite den nach § 9 ermittelten generellen sektoralen Produktivitätsfaktor und den nach § 24 ermittelten gemittelten Effizienzwert.“
3. Transparenz der Verfahren Zur Transparenz der BNetzA gegenüber Dritten gehört die Transparenz der Verfahren, die bei der BNetzA weitgehend Beschlusskammerverfahren sind. Die Transparenz der Verfahren gilt bei konkreten Entscheidungen und bei allgemeinen Festlegungen. Da die Vorgehensweise gerichtsähnlich ist, finden umfangreiche schriftliche und öffentliche mündliche Anhörungen interessierter Parteien zur Klärung des Sachverhalts statt. Konsultationen, so im Rahmen der von der EU vorgesehenen TK-Regulierungsverfahren, ergänzen das Vorgehen. Im Verfahren ist so die für alle nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Fakten und Argumenten unumgänglich. Entscheidungen der BNetzA sind daher zumeist ausgesprochen umfangreich, weil, insbesondere wenn es sich um Ermessensentscheidungen handelt, detailliert begründete Abwägungen vorgenommen werden müssen. Im Bereich der Frequenzvergabe werden so „mehrstufige“ Verfahren mit mehreren Anhörungsrunden durchgeführt, um alle Teilaspekte des Vorgehens, wie z. B. technische Parameter, Knappheit des Spektrums, Methode der Allokation (typischerweise eine Auktion) mit ihren Randbedingungen, in einer logischen Reihenfolge anzugehen und schließlich so rechtlich abzusichern. V. Weitergehende Diskussion über mehr Transparenz Natürlich wird über den Grad der Offenlegungspflichten von Unternehmen seit Jahren gerungen, eine Reihe höchstrichterlicher Entscheidungen zeugt davon. Als Argumente für mehr Transparenz des Regulierers gegenüber Dritten auch in Bezug auf BuGG werden häufig vorgetragen, dass das regulierte Unternehmen ein öffentliches Unternehmen sei, die relevanten Daten ältere Daten seien, z. B. über 5 Jahre alt, oder ein natürliches Monopol vorliege, bei dem naturgemäß keine Wett-
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bewerber BuGG erfahren können. Das Verwaltungsgericht Köln hat 2016 entsprechende Argumente formuliert.25 Diese Argumentation ist abzulehnen, so auch die BNetzA26 sowie der WAR27 und die Autorin.28 Sie ist nicht vertretbar, da ein Eingriff in die Berufsfreiheit auch in diesen Fällen feststellbar ist. Das „öffentliche Unternehmen“ ist häufig als Aktiengesellschaft geführt und unterliegt dem Aktiengesetz. Es wäre ein Widerspruch zu der erfolgten Privatisierung, nun über Transparenzvorgaben die Privatisierung wieder aufzuheben und ein gesondertes Recht für ehemalige Monopolisten einzuführen. Auch das Alter der Daten allein ist kein Kriterium. Selbst wenn Daten über 5 Jahre alt sind, können sie noch BuGG sein, z. B. sind Steuerdaten auch nach 5 Jahren relevant, u. a. wenn noch kein endgültiger Bescheid zu einzelnen Positionen ergangen ist. Technische Eigenschaften einer nach 5 Jahren noch nicht abgeschriebenen Anlage sind weiter schützenswert. Auch können sie für über Jahre laufende Gerichtsverfahren von Relevanz sein. An einer Einzelfallprüfung wird man hier auch nicht durch eine Pauschalierung vorbeikommen. Personenbezogene Daten unterliegen generell dem Datenschutz. Die öffentliche Sicherheit ist ein weiteres Argument für Schwärzungen. Beide Aspekte sind auch für öffentliche Unternehmen gültig. Auch der fehlende Wettbewerb ist kein überzeugendes Argument für die Herausgabe von BuGG an Dritte. Im natürlichen Monopol mag es zwar keine direkten Konkurrenten geben, aber Lieferanten und Kunden, die hohes strategisches Interesse an Interna ihres Abnehmers oder Anbieters haben könnten. Zudem sind die in die Regulierungsverfahren einfließenden Angaben der Lieferanten und Kunden oft BuGG, die geschützt werden müssen. Das Gleiche gilt häufig sogar für die Stellungnahmen, Auskünfte und Namen der sich am Verfahren beteiligenden betroffenen Unternehmen. Dieses Argument hat zudem besonderes Gewicht in vertikal integrierten Unternehmen. 25
VG Köln, Urteil vom 25. 02. 2016 – Az. 13 K 5017/13. Bundesnetzagentur, Hinweispapier, Umgang und Reichweite zulässiger Schwärzungen bei der Veröffentlichung von Entscheidungen der Bundesnetzagentur in den Bereichen Elektrizität und Gas (insbesondere mit Blick auf Entgelt- und Kostenentscheidungen), Stand 13. 03. 2017, elektronisch verfügbar unter: https://www.bundesnetzagentur.de/DE/ServiceFunktionen/Beschlusskammern/Beschlusskammer6/BK6_09_Sonstige_Veroeffentlichungen/ Geheimnisschutz/Hinweispapier_Download.pdf?__blob=publicationFile&v=3. 27 Wissenschaftlicher Arbeitskreis für Regulierungsfragen (WAR) bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, Publikation von energierechtlichen Entgelt- und Kostenentscheidungen der Bundesnetzagentur zwischen Transparenz und Geheimnisschutz, 23. 06. 2017. 28 Henseler-Unger, Transparenzanforderungen von regulierten Segmenten (Sektoren) zum Vergleich, Vortrag anlässlich des Frankfurter (Wiesbadener) Transparenztags, 08. 11. 2016, elektronisch verfügbar unter: http://www.wik.org/uploads/media/IH_Frankfurter_Wiesbade ner_Transparenztag_2016_11_08.pdf. 26
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Hinzu kommt hier die Problematik in Mehrproduktunternehmen, die dem Wettbewerb außerhalb des Bereichs des natürlichen Monopols unterliegen und deren BuGG unbestritten sind. Rückschlüsse von dem regulierten auf den unregulierten Bereich und die konkrete Abgrenzung beider Bereiche voneinander stellen eine komplexe Gemengelage dar. VI. Transparenz des Unternehmens gegenüber Dritten 1. Transparenz gegenüber Kunden Regulierte Unternehmen sind grundsätzlich auch im Rahmen der besonderen Gesetze zu Transparenz gegenüber Dritten, zumeist ihren Kunden, die Vorleistungen auf der Basis der Infrastruktur nachfragen, verpflichtet. Ziel ist es, Diskriminierungen zu vermeiden, die zugunsten der selbst im Unternehmen oder gegenüber den Töchtern erbrachten Leistungen möglich wären. Dazu gehören z. B. die Veröffentlichung der AGB, Preislisten, Nutzungsbedingungen oder eines Standardangebots. Ziel ist es, Nutzern der Infrastruktur des marktmächtigen Unternehmens diskriminierungsfreien Zugang zu den Infrastrukturen zu verschaffen, auch in Situationen, in denen sie im Wettbewerb zum regulierten Unternehmen oder zu Unternehmen aus dem Konzernverbund stehen. Zu diesen Angaben sind sie entweder generell verpflichtet, so die Schienennetz-Nutzungsbedingungen nach § 19 ERegG, oder sie werden im Verfahren auferlegt, z. B. nach § 20 TKG. Die Prüfverfahren der Beschlusskammern, z. B. zu Standardangeboten im Telekommunikationsmarkt, sind ausgesprochen komplex und umfangreich. Manche Nutzungsbedingungen sind vom Unternehmen selbst mit den potenziellen Nutzern zu konsultieren. Hier spricht viel dafür, dass die Unternehmen grundsätzlich keine detaillierten Angaben über die genaue Herleitung gegenüber ihren Kunden machen müssen. Anderenfalls müssten die Vorgaben aus dem Regulierungsrecht nicht nur abstrakt, sondern konkret sein. Auch hier gibt es wegen des damit verbundenen Eingriffs in die Berufsfreiheit keinen Zwang zur Offenlegung der BuGG. Wie bei anderen Entscheidungen ist der Regulierer gebunden, BuGG für die Veröffentlichung des Antrags in Stellungnahmen Dritter und in seinen Regulierungsentscheidungen nicht preiszugeben. Die Kriterien gelten für den Einzelfall und müssen im Einzelfall auf Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit geprüft werden. 2. Transparenz gegenüber Verbrauchern Zuletzt sei ein besonderer Aspekt der Transparenz gegenüber Dritten im Umfeld des regulierten Unternehmens angesprochen. Wegen der besonderen Bedeutung der regulierten Infrastrukturbereiche für die Verbraucher sind nicht nur auf den entsprechenden Websites von Regulierern und Verbraucherzentralen Verbraucherdienstleistungen und Informationen dargelegt. Zum Teil sind auch verbraucherpolitische The-
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men in den rechtlichen Grundlagen selbst, also unabhängig vom allgemeinen Verbraucherschutzrecht, konkret behandelt. Im Telekommunikationsbereich gibt es eine Vielzahl von Vorgaben zum Verbraucherschutz, so über den Einzelverbindungsnachweis oder zur Preisansagepflicht bei Call-by-Call, um nur einige zu nennen. Sie haben eine lange Tradition. Ganz aktuell ist die von der BNetzA erlassene Telekommunikationstransparenzverordnung vom 22. Dezember 2016, die ab 1. Juli 2017 in Kraft getreten ist. Ihr Ziel ist es, die oft wenig verständlichen Angaben über den Inhalt von Telekommunikationsverträgen den privaten Verbrauchern, so zu den genau zugesagten Leistungen und ihren Kosten sowie zu Vertragslaufzeiten, besser zugänglich zu machen. Beispielsweise sollen über standardisierte Produktinformationsblätter für die vermarkteten Produkte verbraucherfreundliche Informationen gegeben werden. Der Kunde soll zudem vorab über Messungen Kenntnis über die bei seinem Anschluss erreichbaren Bandbreiten erhalten und nicht mehr auf allzu optimistische Aussagen der Anbieter („bis zu..“) angewiesen sein. Auch sollen ihm zeitnah Angaben über das von ihm verbrauchte Datenvolumen zur Verfügung gestellt werden, damit er den Abruf des ggf. in seinem Vertrag limitierten Datenvolumens kontrollieren kann. Grundsätzlich sind diese Transparenzregeln nicht nur alleine vor dem Hintergrund des Verbraucherschutzes zu sehen. Die Möglichkeiten des Verbrauchers, seine Verträge zu kontrollieren und die Leistungen zu steuern, erhöhen auch die Vergleichbarkeit der verschiedenen Angebote und stärken somit über die Verbrauchersouveränität den Wettbewerb. Hier tritt also auch das Kernziel der Liberalisierung, über Wettbewerb Preise, Qualitäten und Innovationen zu fördern, in den Fokus. VII. Schlussfolgerung Transparenz und Regulierung stehen in einem vielschichtigen Spannungsfeld, wie die vorstehenden Ausführungen zeigen. Sicherlich gibt es weitere Aspekte, die hier nicht angesprochen sind. Grundsätzlich gilt, dass die Auflage zur Offenlegung relevanter Informationen umso strikter und eindeutiger formuliert ist, je stringenter der Gesetzgeber Regulierung manifestiert sehen will. Gleichwohl hat nicht nur die Rechtsprechung den Konflikt zwischen Regulierungstiefe und BuGG beleuchtet. Die Regulierer selbst kennen eine Reihe von Methoden und Vorgehensweisen, mit denen trotz unvollständiger Information Regulierung richtige Effizienzanreize setzen kann. Weichere Regulierungsmethoden erfordern zudem weniger Kenntnisse über das Unternehmen. Deregulierung, vor allem im Post- und TK-Bereich als Ziel des Gesetzgebers nach erfolgtem nachhaltigen Weg in den Wettbewerb definiert, wäre natürlich ein substanzieller Schritt zum Abbau der Transparenzanforderungen an Unternehmen und Regulierer. Investitionen rücken fast in allen regulierten Bereichen seit einigen Jahren in den Fokus, so natürlich auch in Regulierungsverfahren. Ist es im TK-Bereich der flächendeckende Ausbau hochleistungsfähiger Breitbandnetze, so ist es im Elektrizitätsbe-
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reich der Ausbau der Stromtrassen von Nord nach Süd, um die Energiewende voranzutreiben. Im Eisenbahnbereich ist es der Ausbau leistungsfähiger Trassen und die Modernisierung der vorhandenen Infrastruktur. Diese Investitionen bedeuten einen qualitativen Sprung nicht nur der Branchen, sondern auch in der Regulierung. Die Informationsanfordernisse werden komplexer, zumal bei der Beurteilung von Investitionen Aussagen über die künftige Marktentwicklung in Mengen und Preisen, das erwartete Risiko und andere, auf die Zukunft gerichtete Aussagen in den Mittelpunkt rücken. Transparenzanforderungen, die sich auf den Status quo beziehen, müssen durch mutige prognostische Entscheidungen ergänzt werden. Die Transparenz und damit Nachvollziehbarkeit der Verfahren und ihrer Abläufe wird damit noch essenzieller. Längerfristige Festlegungen können die Regulierungsunsicherheit begrenzen, die generelle Unsicherheit des Marktes jedoch nicht. Letztlich wird von beiden Seiten, von Regulierern wie Unternehmen, eher mehr als weniger Flexibilität in der Festlegung erwartet werden. Was dies für die Transparenzanforderungen bedeutet, ist noch unklar. Liegen sie höher, um auch das dynamische Verhalten von Unternehmen und Markt besser erfassen zu können, z. B. indem Investitionspläne wie im Energiebereich dem Regulierer zur Begutachtung vorgelegt werden? Sollten sie niedriger liegen, weil man Unternehmen und Regulierer die Freiheit lassen will, auf künftige Marktentwicklungen adäquat zu reagieren? Oder liegt der künftige Akzent eher auf kommerziellen Vereinbarungen und Co-Investment, wie die EU-Kommission bei der Überarbeitung des europäischen Rechtsrahmens für die elektronische Kommunikation vorschlägt? Dann wäre eher eine Orientierung am Wettbewerbsrecht und seinen Nichtdiskriminierungsauflagen angemessen, was mit dem Abbau von Regulierungsauflagen einhergehen könnte. Oder die Investitionen in Infrastruktur führen zu mehr Wettbewerb, was zumindest im Telekommunikationsbereich nicht auszuschließen ist. Dann entfielen Regulierung und die besonderen Transparenzpflichten.
Zum Verhältnis von Ökonomie und Recht Von Jochen Homann, Bonn Matthias Schmidt-Preuß, dem diese Zeilen gewidmet sind, ist ein Rechtswissenschaftler, der die Praxis der staatlichen Wirtschaftsverwaltung aus eigener Anschauung kennt. Wir waren in den 1980er Jahren Kollegen im Bonner Bundeswirtschaftsministerium, wo er zuletzt im Kabinetts- und Parlamentsreferat tätig war. Auch in seiner Forschungstätigkeit blieb er stets auf Tuchfühlung mit aktuellen und praktisch relevanten Problemen des Wirtschaftsrechts. In diesem Beitrag1 möchte ich aus Sicht meiner eigenen Praxis und anhand der mir als Präsident der Bundesnetzagentur begegnenden Fragestellungen, aber auch grundlegend unter Heranziehung von Literatur (etwas eklektisch – dem Praktiker geschuldet), das Verhältnis von Ökonomie und Recht behandeln. Dieses Verhältnis empfinde ich zuweilen als fremdelnd, vor allem wenn ich als Volkswirt in der Praxis mit juristischen Einwänden dogmatischer Natur konfrontiert werde. Die Wechselbeziehung von Ökonomie und Recht kann aber auch äußerst fruchtbar sein, wie ein stetig wachsender Korpus an Forschung, die Schmidt-Preuß’sche eingeschlossen, zeigt. In der Praxis wiederum arbeitet die Bundesnetzagentur in höchstem Maße interdisziplinär und ist darauf angewiesen, dass die Domänen möglichst Hand in Hand Probleme analysieren und Lösungen entwickeln. Um die Interdisziplinarität zu fördern, kann es hilfreich sein, die Eigenarten von Ökonomie und Recht, ihre Funktionen, sowie die (auch gegenseitige) Kritik an Methoden und Prämissen zu beleuchten. I. Einleitung Die Digitalisierung und Vernetzung sowie die Energiewende stellen Gewissheiten in Frage – und die staatliche Verwaltung vor große Herausforderungen. Die Bundesnetzagentur sieht sich Problemstellungen gegenüber, für die ein Wissenschaftszweig allein schwerlich fertige und sachgerechte Antworten bereithält oder erarbeiten kann. Die Rechtswissenschaft nimmt dies zunehmend auf und leistet ihren Beitrag zur interdisziplinären Forschung.2
1
Mein Dank gilt meinem Mitarbeiter Johannes Heidelberger für die wertvolle Unterstützung bei der Erstellung. 2 Zum Beispiel: Schmidt-Preuß, Das Regulierungsrecht als interdisziplinäre Disziplin – am Beispiel des Energierechts, in: Festschrift für Gunther Kühne, 2009, S. 329 – 342.
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Die Digitalisierung wirft zunächst auch Fragen auf, die eher ordnungsrechtlichen Charakter haben: Wie sollten wir umgehen mit neuen Diensten für die Telekommunikation zwischen Menschen untereinander (z. B. verschiedenste Ausprägungen von sogenannten Messengern), die losgelöst von einer eigenen Infrastruktur über das offene Internet erbracht werden? Wie mit der Kommunikation von Mensch zu Maschine (Sprachschnittstellen wie „Alexa“ und „Siri“), sowie von Maschinen untereinander („Industrie 4.0“)? Wie können die Ziele des etablierten Rechtsrahmens für Daten- und Kundenschutz sowie für die öffentliche Sicherheit bei diesen Kommunikationskanälen gewährleistet werden? Während bei solchen Fragen die Rechtswissenschaft aus sich heraus noch im Stande ist, Antworten zu entwickeln3 – vielleicht mit der Unterstützung von Technikern –, gibt es Bereiche der Rechtsanwendung, wo ökonomische Modelle schlechterdings unverzichtbar sind. Bereits die klassischen und zentralen Marktregulierungsbestimmungen im Teil 2 des Telekommunikationsgesetzes (TKG, § 9 ff.) verlangen die Definition und Analyse von Märkten, die Prognoseentscheidungen zur Regulierungsbedürftigkeit (mithin dem Auftreten von Marktversagen) beinhalten; eine klar wirtschaftswissenschaftliche Aufgabe. Darauf aufbauend müssen Entscheidungen über die Auferlegung regulatorischer Pflichten getroffen werden, wofür die Regulierungsökonomik Modelle bereithält. Für diesen Einfluss der Ökonomie auf die Rechtsanwendung ist das TKG hinreichend offen4 und räumt, auch durch seine unionsrechtliche Prägung und bestätigt durch die Rechtsprechung, der Regulierungsbehörde ein entsprechendes Regulierungsermessen ein.5 Auch auf diesen Kernbereich der Marktregulierung schlägt nun die Digitalisierung durch: Während zu Beginn der Telekommunikationsregulierung das Ziel war, überleitend zu einem Infrastrukturwettbewerb, zunächst einen Wettbewerb der Dienste auf einer weitgehend bereits bestehenden Infrastruktur (der kupfernen Teilnehmeranschlussleitung) zu etablieren, stehen wir heute vor der Aufgabe, die gesamte Infrastruktur für die sogenannte Gigabitgesellschaft zukunftsfähig umzubauen und dies unter möglichst wettbewerblichen Bedingungen. Es ist absehbar, dass neue Dienste ganz andere Anforderungen an die Geschwindigkeit und Verfügbarkeit der Netze stellen werden. Dies bedeutet, dass nahezu die vollständige Telekommunikationsinfrastruktur von Kupfer auf Glasfaser umgerüstet werden muss; denn auf der Basis des heutigen Wissens scheint nur diese Technologie die nötigen Bandbreiten (im Bereich von Gigabit pro Sekunde – daher Gigabitgesellschaft) zu ermöglichen. Eine solche flächendeckende Breitbandversorgung erfordert große Investitionen.6 In unserer marktwirtschaftlichen Ordnung sollen diese Investitionen vornehmlich von 3
Lüdemann, Öffentliches Wirtschaftsrecht und ökonomisches Wissen, 2012, S. 9. Lüdemann Fn. 3, S. 17. 5 Franke, Die Verwaltung 49 (2016), 25 (30). 6 Über 70 Milliarden Euro laut: Jay/Neumann/Plückebaum, Implikationen eines flächendeckenden Glasfaserausbaus und sein Subventionsbedarf, WIK Diskussionsbeitrag Nr. 359, 2011. 4
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privaten Unternehmen vorgenommen werden. Diese reagieren auf ökonomische Anreize und können nicht durch den Staat über Rechtsinstrumente, die dies schlicht anordnen, zu Investitionen gezwungen werden. Es gilt zu prüfen, wie Regulierung zu solchen Investitionsanreizen beitragen kann oder ihnen zumindest nicht im Wege steht. Die beschleunigte technologische Entwicklung fordert also mehr denn je flexible, auf ökonomische Analyse und Prognose fußende Entscheidungen der Bundesnetzagentur. Im Energiebereich gibt es ganz ähnliche Anforderungen, ökonomisches und juristisches Wissen interdisziplinär zusammenzuführen. Dies trifft in ganz besonderem Maße für den Bereich der Gesetzgebungsberatung zu, aber auch für die Rechtsanwendung. Zwar finden wir im Energie-Regulierungsrecht eine etwas andere Normstruktur als im Telekommunikationsbereich vor. Es besteht eine hohe Vorgabendichte, denn Verordnungen über den Netzzugang und die Netzentgelte regeln bereits sehr viele Fragen detailliert.7 Doch gibt es auch hier Bereiche, in denen die Regulierungsbehörde den Rechtsrahmen bei seiner Anwendung ausgestalten muss; und sie muss dabei auf ökonomisches Wissen zurückgreifen. Franke (2016) hat dargestellt, dass neben anderen behördlichen Gestaltungsmöglichkeiten die Vorgaben für die Festlegung der Höhe der Eigenkapitalverzinsung für Gas- und Stromnetze eine interessante Mischung aus uneingeschränkt der gerichtlichen Kontrolle unterliegenden Bestandteilen (Ausgangswert auf Basis von veröffentlichten Umlaufsrenditen festverzinslicher Wertpapiere, § 7 Abs. 4 S. 1 Gas/StromNEV) und solchen Bestandteilen darstellt, bei denen der Regulierungsbehörde ein Entscheidungsspielraum zukommen (Zuschlag zur Abdeckung netzbetriebsspezifischer unternehmerischer Wagnisse, § 7 Abs. 5 Gas/StromNEV). Die Bestimmung letzterer erfordert „eine wertende prognostische Auswahlentscheidung, welche Gesichtspunkte mit welcher Gewichtung hierbei heranzuziehen sind“.8 Auf die Verwendung ökonomischer Modelle, die hierfür unerlässlich ist, wird im vorletzten Abschnitt dieses Beitrags in einem praktischen Beispiel vertieft eingegangen. Zunächst folgt jedoch ein Abschnitt, der auf die Kritik eingeht, der die Wirtschaftswissenschaften ihrerseits ausgesetzt sind. Sie seien selbstbezogen und weltfremd. Sie hätten – wie ein früherer Bundeskanzler einmal festgestellt hat: „kein Gefühl für Raum und Zeit“. In diesem Lichte wird dargestellt, was ökonomische Modelle leisten können und wo Probleme liegen. Sodann geht ein weiterer Abschnitt darauf ein, welche Funktionen und Zwecke die Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft verfolgen, die so oft bei Nichtjuristen auf Unverständnis bis Widerstand stoßen, bevor dann wie soeben angekündigt die Anwendung eines wirtschaftswissenschaftlichen Modells als detailliertes Beispiel, anhand des Wagniszuschlags bei Stromnetzen, dargestellt wird.
7 8
Franke, Die Verwaltung 49 (2016), 25 (32). Franke, Die Verwaltung 49 (2016), 25 (37).
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II. Wirtschaftswissenschaften in der Kritik Auch in umgekehrter Richtung kann es im Verhältnis von Ökonomen und Juristen fremdeln. Die Modelle der Ökonomen werden oft als weltfremd angesehen. Zuweilen gelten ökonomische Ratschläge auch als zu unentschieden, wenn sie mit einem Einerseits/Andererseits vorgetragen werden. Vom damaligen US-Präsidenten und Juristen Truman ist überliefert, dass er sich einen einhändigen Ökonomen wünschte (ohne: on-the-one-hand…on-the-other-hand…)9 und von George Bernhard Shaw wurde die Unentschiedenheit der Ökonomen mit dem Bild beschrieben, dass alle Ökonomen, aneinander aufgereiht, immer noch nicht bis zu einer Schlussfolgerung reichen würden.10 Heute wird allerdings eher ein zu selbstbewusster und einseitiger Einfluss von Ökonomen beklagt. Seit einigen Jahren gibt es vermehrt Fundamentalkritik an ökonomischer Wissenschaft und an Ökonomen. Diese macht sich konkret an deren Unvermögen fest, die Weltfinanzkrise und Große Rezession vorauszusehen oder verkündet ganz allgemein das Scheitern eines von Ökonomen vermeintlich nahezu geschlossen als Zunft vertretenen neo-liberalen Wirtschaftsmodells. Auch Juristen stoßen in dieses Horn. Es werden „mathematisches Ödland“ und die „armseligen Vorstellungen vom Menschen als homo oeconomicus“ teils im Alarmton beklagt; mehr Jurisprudenz sei nötig, die der Freiheit und Wirklichkeit verpflichtet sei, denn „insgesamt wägen Juristen ab, sie berechnen nicht (,iudex non calculat‘)“; erst neuere Ökonomieforschung sei solchem Denken wieder verpflichtet.11 Es wird auch – weniger alarmistisch und konkret im Bereich der Regulierung – die Einführung eines mehr am Gemeinwohl orientierten Effizienzbegriffs in die vermeintlich zu stark neo-klassisch orientierten Wirtschaftswissenschaften vorgeschlagen, der dem Leitbild der „Verwirklichungschancen“ im Sinne Amartya Sens folgt.12 Solche Kritik ist angesichts tatsächlicher Fehlentwicklungen verständlich. Sie geht jedoch am Kern der Sache vorbei, insoweit sie auf die Ökonomie als positive, quantitativ empirische Sozialwissenschaft zielt, die versucht, Phänomene modellhaft zu erklären. Die Vorwürfe wären berechtigter, gälten sie der Vermischung der positiven und normativen Ebene. Wenn die Wirtschaftswissenschaften zum Beispiel einen Zielkonflikt zwischen Effizienz und Umverteilung modellieren (und beobachten) können, heißt das nicht, dass nicht gute Gründe für bestimmte Umverteilungen sprechen, die außerhalb des Modells liegen oder sogar in Modelle inkorporiert werden können. Die Ebenen vermischen sich dann, wenn Wirtschaftswissenschaftler Modelle als normatives Programm postulieren, das sagt, wie das Gemeinwesen 9
The Economist, 2003, http://www.economist.com/node/2208841, zugegriffen 4. 7. 2017. Huffington Post, 2009, http://www.huffingtonpost.com/2009/03/30/economists-laid-endto-en_n_181031.html, zugegriffen 4. 7. 2017. 11 Luttermann, ZRP 2010, 1 (1). 12 Fehling, Regulierung, Effizienz und Wettbewerb, in: Schmidt-Preuß/Körber (Hrsg.), Regulierung und Gemeinwohl, 2016, S. 65. 10
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sein soll. Berechtigt ist die Kritik auch, wenn sie die wirtschaftspolitische Anwendung von Modellen meint, ohne dass entscheidende Modellannahmen erfüllt wären. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, genau hinzuschauen, was die Wirtschaftswissenschaften zu leisten vermögen und wo ihre Grenzen sind. Dies hat Rodrik in einem aktuellen Buch über die Kritik an der dismal science (trostlose Wissenschaft) getan; Teile seiner Argumentation werden im Folgenden frei nachvollzogen.13 Ökonomische Modelle können große Erklärungskraft besitzen. Sie sind meist jedoch nicht gerade intuitiv. Denn sie erfordern zumindest einen gespitzten Bleistift und ein Blatt Papier, einige logische Schritte und Rechnungen. Nehmen wir das Modell der komparativen Kostenvorteile im internationalen Handel von David Ricardo aus dem frühen 19. Jahrhundert. Es zeigt, dass Handel zwischen Ländern auch dann vorteilhaft ist, wenn ein Land absolut alle Güter günstiger produzieren kann, solange die Produktion der Güter komparativ (relativ) zueinander günstig ist. Trotz des langen Zeitraums, über den das Modell seine Validität unter Beweis stellen konnte, wird es häufig nicht nachvollzogen. Auch heute noch behauptet der gegenwärtige US-Präsident: „China stiehlt uns unsere Arbeit und unser Geld“14. Er erwartet, dass eine Beschränkung des Handels mit China für die USA vorteilhaft wäre. Es lohnt sich Schritt für Schritt durch eine Beispielrechnung des Modells zu gehen: In zwei Ländern, Industria und Agrarien, werden jeweils 1 Maschine und 1 Fuhre Getreide für den eigenen Bedarf hergestellt. Für eine Maschine benötigt Industria 4 Einheiten Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Material) und Agrarien 8 Einheiten. Für 1 Fuhre Getreide benötigen Industria 5 Einheiten Produktionsfaktoren und Agrarien 6 Einheiten. Industria ist also bei beiden Produkten besser; warum sollte es mit Agrarien handeln? Insgesamt werden für beide Güter demnach in Industria 9 Einheiten Produktionsfaktoren benötigt, in Agrarien 14 Einheiten. Wenn nun Industria nur Maschinen und Agrarien nur Getreide herstellen und sie zur Bedarfsdeckung miteinander handeln, werden in Industria für 2 Maschinen noch 8 Einheiten Produktionsfaktoren gebraucht (1 Einheit Ersparnis) und in Agrarien für 2 Fuhren Getreide 12 Einheiten (2 Einheiten Ersparnis). Es profitieren also beide. Für den „gesunden Menschenverstand“ ein überraschendes Ergebnis. Entscheidende Annahme für die Vorteilhaftigkeit dieses Handels ist natürlich, dass der Produktionsumbau gelingt und die ersparten Produktionsfaktoren sinnvoll genutzt werden. Dafür sind funktionierende Faktormärkte notwendig, die wiederum Institutionen wie Rechtsstaatlichkeit erfordern und je nach Situation im Einzelfall auch durchaus staatliche Hilfestellungen verschiedenster Art für den Strukturwandel und zur Überwindung von Marktversagen (wie Koordinationsmangel). Dem Maschinenbauer in Agrarien, der seinen Job verliert, ist nicht geholfen, wenn keine neuen Unternehmen gegründet werden (können), diese kein Kapital finden (können), oder 13
Rodrik, Economics rules: the rights and wrongs of the dismal science, 2015. FAZ, 2016, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ttip-und-freihandel/wenn-donald-trumpzoelle-einfuehrt-macht-das-arme-noch-aermer-14524783.html, zugegriffen 10. 5. 2017. 14
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mit ihm keinen Arbeitsvertrag schließen (können). Marktöffnung, die auf Marktversagen trifft, kann mehr Unheil anrichten als Vorteile bringen. Als die durch die Finanzinstitutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds geprägte Politik (der sogenannten „Washingtoner Konsens“) in den Staaten Südamerikas Anfang der 1990er Jahre die Märkte öffnete, ohne dass hinreichend funktionierende Institutionen vorhanden waren, hatte dies durchaus desaströse Effekte. Industrien verschwanden, die Beschäftigten verloren ihre Arbeit, kamen aber gerade nicht in komparativ besseren Sektoren unter, sondern im Kleinhandel und wenig produktiven informellen Sektor. Im Gegensatz dazu führte die Öffnung Asiens zeitgleich zu einem gewaltigen Aufschwung, der dort hunderte Millionen Menschen aus der Armut heraushob – und Industrieländern wie Deutschland eine Hochkonjunktur bei Ausrüstungs- und Investitionsgütern bescherte: entfesselte komparative Vorteile. Ob ein Modell sinnvoll auf Politik angewandt werden kann, hängt somit entscheidend davon ab, ob seine Annahmen erfüllt sind. Es ist heute Konsens unter Wirtschaftswissenschaftlern, dass kein ökonomisches Modell automatisch auf alle Länder passt und dass es immer auf die Umstände und Rahmenbedingungen des Einzelfalles ankommt.15 Abweichungen von vollständigen Wettbewerbsmärkten gehören seit jeher zum Standardrepertoire der ökonomischen Wissenschaften. Der Vorwurf einseitiger neo-klassischer marktfundamentalistischer Orientierung mit unrealistischen Annahmen sollte nicht ökonomischen Modellen an sich, sondern Wirtschaftspolitiken wie denen des Washingtoner Konsens‘ oder solchen, die vor der Weltfinanzkrise vorherrschten, gelten. In der Modellwelt sind funktionierende Märkte sogar die Ausnahme: es gibt Modelle zu Mono- und Duopolen, monopolistischem Wettbewerb, Bertrand und Cournot-Wettbewerb, zu simultaner und sequenzieller Bewegung, statische und dynamische Modelle, usw. Diese vom vollständigen Wettbewerb abweichenden Modelle führen zu vielgestaltigen Ergebnissen und beinhalten eine Vielzahl entscheidender Annahmen, die durch die Modellierung transparent werden. Wegbereitend hat Coase bereits 1937 Transaktionskosten16 konzeptualisiert, und 1960 dann externe Effekte17, also (soziale) Kosten, die nicht in den Preisen für ein Gut widergespiegelt sind. In den 1970er Jahren wurden dann Märkte mit asymmetrischen Informationen modelliert, bekannt wurde Akerlof’s Handel mit Zitronen.18 Im Jahr 1979 wurde schließlich der rationale homo oeconomicus entthront, als Kahnemann und Tversky die Verhaltensökonomik in Gang brachten.19 Auch die Finanzkrise 2007/2008 hätte zumindest nach dem Stand der ökonomischen Forschung und aus Sicht ökonomischer Modelle nicht wirklich überraschen dürfen. Blasenbildung an Märkten sind seit der Tulpenmanie in den Niederlanden 15
Rodrik Fn. 13, S. 167. Coase, Economica, Vol. 4 No. 16 (1937), 386. 17 Coase, The Journal of Law and Economics, Vol. III (1960), 1. 18 Akerlof, The Quarterly Journal of Economics, Vol. 84 No. 3 (1970), 488. 19 Kahneman/Tversky, Econometrica, Vol. 47, No. 2 (1979), 263.
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des 17. Jahrhunderts bekannt und für Immobilien- und Finanzmärkte unter anderem von Shiller vor der Krise genau beschrieben worden.20 Für die verfehlten Anreize in Banken und Ratingagenturen hält die Principal-Agent-Theorie Modelle bereit.21 Der Zusammenbruch des Weltfinanzsystems wiederum trug klare Züge eines bank run, der schon 1873 von Bagehot22 dargestellt wurde und in jedem Finanzmarkt-Lehrbuch enthalten ist. Die Märkte haben also nicht funktioniert. Gründe dafür lagen wahrscheinlich auch in staatlich induzierter Marktverzerrung. Die sozialpolitisch motivierte Förderung von Immobilienkrediten in den USA zusammen mit der Geldpolitik der Fed nach 2001 waren entscheidende Faktoren für den Aufbau der Instabilität im System. Und in Deutschland, man darf es nicht vergessen, waren gerade öffentliche Landesbanken Horte der Instabilität. Rodrik fragt nun, warum es trotz der Tatsache, dass innerhalb der ökonomischen Forschung Erklärungen für Abweichungen von funktionierenden Märkten inzwischen sogar den Großteil des Forschungskorpus ausmachen, trotzdem vorkommt, dass marktfundamentalistische Positionen sich wirtschaftspolitisch durchsetzen. Modelle werden in Politik umgesetzt, die für die gegebenen Rahmenbedingungen ungeeignet sind. Eine seiner Erklärungen ist, dass Ökonomen in der Wirtschaftspolitik sich ständig Partikularinteressen ausgesetzt sehen, die vermeintliches Marktversagen argumentativ zur Durchsetzung von allerlei Sonderregeln verwenden, auch dort, wo sie nicht gerechtfertigt sind. Dadurch entstünde eine öffentliche Haltung von Ökonomen, den Markt wo es nur geht ohne Wenn und Aber außerhalb ihrer Zunft zu verteidigen – obwohl innerhalb der Zunft die Wenns und Abers vorherrschen. Auch tendierten ökonomische Aussagen dazu, gut als Narrativ für politische Ideologien zu passen („Besteuerung zerstört Anreize“). Und schließlich gebe es tatsächlich Fehlentwicklungen der Zunft, wenn Modelle als allgemeingültig verkauft und die entscheidenden Bedingungen verschwiegen werden, oder wenn Ökonomen die Haltung vertreten, dass sich aus der Wirtschaftswissenschaft normativ ergebe, dass Märkte und Effizienz immer sozial erstrebenswerter seien als andere Ziele und Werte.23 Was nun auch immer die Erklärung für solch einseitige Rezeption und Anwendung ökonomischer Modelle sein mag – jedenfalls sind und bleiben sie große intellektuelle Errungenschaften zur Erklärung der sozialen Realität. Das Recht sollte sie als Angebot annehmen, wo immer dies sachgerecht ist. Aber: „Es geht bei der Rezeption ökonomischer Theorie und Empirie nicht um einen Import von fertigen Wahrheiten, denen das Recht ausgeliefert ist.“24 Auch das Recht hat bestimmte Funktionen. Dies wird zwar von der ökonomischen Analyse des Rechts amerikanischer Prägung nach Posner anders gesehen; demnach soll das Recht – vereinfacht gesagt – 20
Shiller, Irrational Exuberance, 2000. Picot, Die grenzenlose Unternehmung, 2003. 22 Bagehot, Lombard Street: A description of the money market, 1873. 23 Rodrik Fn. 13, S. 170. 24 Lüdemann Fn. 3, S. 21. 21
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nur nach Effizienzgesichtspunkten geformt werden.25 Die ökonomische Analyse des Rechts soll jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrages sein. Im nächsten Abschnitt wird daher eine Sichtweise der Methode im Verwaltungsrecht und wie es sich im Hinblick auf seine Offenheit für Außeneinflüsse entwickelt (hat) wiedergegeben. III. Die Juristische Methode im Verwaltungsrecht Die Schwierigkeiten, die Nicht-Juristen manchmal mit verwaltungsrechtlicher Argumentation haben, könnten an der „überkommenden Dominanz der Juristischen Methode“ (Voßkuhle)26 liegen. Juristen werden das Herauspicken dieser These möglicherweise als einseitig ansehen; das Folgende soll auch nicht den Anspruch erheben, die Diskussion innerhalb der Rechtswissenschaften abzubilden. Es scheint mir jedoch eine mögliche Sichtweise. Voßkuhle charakterisiert in seinem Beitrag über die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ die juristische Methode mit vier Merkmalsbereichen. Erstens konzentriert sich die Juristische Methode auf normative Aussagen, also vor allem kodifiziertes und ungeschriebenes positives Recht.27 Zweitens bedeutet Rechtsstaatlichkeit die demokratische Legitimation von Gesetzen, an die die Verwaltung gebunden wird, was wiederum gerichtlich überprüfbar bleiben muss. Durch die große Bedeutung solcher Rechtmäßigkeitsprüfung tritt das praktische Funktionieren der Verwaltung in den Hintergrund.28 Drittens arbeitet die juristische Methode systematisch, das heißt, Regelmäßigkeiten in Normen und Praxis werden schematisiert und meist binär operationell gemacht, wie beispielsweise im Verhältnis von „Wirksamkeit/Nichtigkeit“.29 Viertens geht mit solcher Systematisierung die Entwicklung von Rechtsdogmatik einher: „Darunter kann eine Klasse von Sätzen (Definitionen, Prinzipien etc.) verstanden werden, die auf das positive Recht und die Rechtsprechung bezogen, aber nicht mit ihrer Beschreibung identisch sind.“30 Aufgrund dieser Eigenschaften wird die Juristische Methode für die nicht damit Vertrauten schwer handhabbar und Einflüsse aus anderen Wissensgebieten finden möglicherweise schwerer Eingang. Diese Merkmale haben sich nicht ohne Grund herausgebildet; die Juristische Methode hat bestimmte Funktionen. Voßkuhle führt fünf Funktionen auf: erstens die Stabilisierungs- und Vermittlungsfunktion, die durch Systematisierung Orientierung schafft; zweitens die Entlastungsfunktion, die sie für die regelmäßige Rechtsanwendung im Einzelfall besitzt; drittens die Kontrollfunktion, also die bereits oben erwähnte Ermöglichung der Rechtmäßigkeitsprüfung; viertens die Kritikfunktion, 25
Baumann, RNotZ 2007, 297. Voßkuhle, § 1. Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006, Rn. 2. 27 Voßkuhle Fn. 26, Rn. 3. 28 Voßkuhle Fn. 26, Rn. 4. 29 Voßkuhle Fn. 26, Rn. 5. 30 Voßkuhle Fn. 26, Rn. 6. 26
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mithin die Transparenz, mit der Wertungskonflikte und Entwicklungsrückstände offengelegt werden; und schließlich die Rezeptionsfunktion, also die „widerspruchsfreie Rezeption neuer Rechtsentwicklungen“.31 Bis in die 1990er Jahre konzentrierte sich die Verwaltungsrechtswissenschaft auf die Juristische Methode und legte „Wert auf Separation und disziplinäre Identität“.32 Die Verwaltung sah sich gleichzeitig zunehmend neuen Herausforderungen gegenüber. Die hierarchische rechtliche Verhaltensanordnung an Bürger und Unternehmen stieß an Grenzen, mit dem immer komplexer werdenden Regelwerk wurden Vollzugsdefizite konstatiert, kooperative Handlungsformen der Verwaltung entwickelten sich.33 Die Dominanz der Juristischen Methode wurde in Frage gestellt und schwächte sich ab. Zunehmend ist die Verwaltung auf Fachwissen angewiesen; z. B. wie oben dargestellt in der Telekommunikationsregulierung auf ökonomische Kenntnisse. Es entstand das „Bedürfnis nach flexiblen, situationsbezogenen und im weitesten Sinne lernfähigen Handlungsanweisungen“.34 Die Arbeitsweise der Bundesnetzagentur, 1998 als Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation eingerichtet, ist mit den auf ökonomischen Analysen fußenden und ökonomische Anreize setzenden Handlungsformen ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Instrumente des Verwaltungsrechts erweitert haben. Voßkuhle legt dar, dass neben dogmatisierten Rechtsprinzipien „von nun an neue Aufmerksamkeitsfelder [treten] (z. B. Implementierbarkeit, Innovation),[sowie] interdisziplinäre Verbundbegriffe (z. B. Effizienz, Information, Kommunikation), neuartige Regulierungsstrategien (z. B. Ökonomisierung, Prozeduralisierung, Privatisierung) und Auswahlsituationen (z. B. instrumental choice, institutional choice, regulatory choice).35 Des Weiteren hat die Europäisierung und Internationalisierung des Verwaltungsrechts zunehmend das Erfordernis mit sich gebracht, „völlig neue Instrumente, Regelungstypen und Konzepte […] zu integrieren“36 und entlang praktischer Probleme Lösungen zu entwickeln. Aufgrund dieser Entwicklungen sieht Voßkuhle nun eine „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“, deren Darstellung hier den Rahmen sprengen würde, deren Charakter aber jedenfalls eine Öffnung für Begriffe, Methoden und Orientierungen jenseits der Juristischen Methode ausmacht.37
31
Voßkuhle Fn. 26, Rn. 7. Voßkuhle Fn. 26, Rn. 8. 33 Voßkuhle Fn. 26, Rn. 11. 34 Voßkuhle Fn. 26, Rn. 11. 35 Voßkuhle Fn. 26, Rn. 11. 36 Voßkuhle Fn. 26, Rn. 13. 37 Voßkuhle Fn. 26, Rn. 16 ff. 32
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IV. Netzregulierung und praktischer Einsatz ökonomischer Modelle im Regulierungsrecht Sektorspezifische Regulierungsbehörden sind selten dort entstanden, wo der Staat die netzgebundenen Güter und Dienste, die oft als essentielle Daseinsvorsorge gelten, direkt selbst zur Verfügung stellt, sondern vor allem dort, wo in einer freiheitlichen Rechtsordnung private Unternehmen in netzbasierten Industrien tätig werden. Dies geht zurück bis ins frühe 19. Jahrhundert in Großbritannien, mit der Einrichtung von Eisenbahnkommissionen, und in den Vereinigten Staaten, wo die Praxis der Regulierung von Eisenbahnfrachtraten in den Interstate Commerce Act von 1887 und die Gründung einer entsprechenden Regulierungskommission mündete.38 In Europa war die Privatisierungs- und Liberalisierungswelle der 1980er und 90er Jahre mit der Einrichtung von sektorspezifischen Regulierungsbehörden verbunden. Dem liegt vor allem die (ökonomisch modellierbare) Erkenntnis zu Grunde, dass ein Netz mit (natürlichem) Monopolcharakter vom Betreiber zum Nachteil des Konsumenten und der Gesamtwohlfahrt ausgenutzt wird. Hauptbegründung von Regulierung ist seit jeher Überwindung von Marktversagen oder Linderung seiner Konsequenzen. In Deutschland war 1998 die Gründung der Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation von einer Markt- und Wettbewerbsrhetorik begleitet, geäußert zum Beispiel vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Rexrodt in der Erwartung, dass die sektorspezifische Regulierung nach einiger Zeit auslaufen könne und durch eine allgemeine Wettbewerbsaufsicht ersetzt werde.39 Der Wettbewerb galt also als Ziel an sich, und er ist dies immer noch; in kodifizierter Form zum Beispiel im § 2 Abs. 2 Nr. 2 des TKG, wo als Ziel die „Förderung nachhaltig wettbewerbsorientierter Märkte“ gesetzt ist. Bei der Netzregulierung geht es um verschiedene Arten von Wettbewerb: den simulierten Als-Ob-Wettbewerb im Netz mittels der Entgeltregulierung des natürlichen Monopols des Netzes, den Wettbewerb ums Netz (z. B. Konzessionsverfahren; hier ist die Bundesnetzagentur nur am Rande berührt) und den Wettbewerb der Dienste und Güter auf dem Netz, der durch Zugangsregulierung ermöglicht wird. Auf letzteren bezog sich 1998 vor allem die Hoffnung, dass aus ihm irgendwann durch Investitionen in konkurrierende Telekommunikationsinfrastrukturen ein Wettbewerb der Netze, ein selbsttragender, eben „nachhaltiger“ Wettbewerbsmarkt entstünde. Die Hoffnung Rexrodts hat sich nicht im erwarteten Maße erfüllt. Dies liegt hoffentlich nicht daran, dass einmal gegründete Institutionen wie die Bundesnetzagentur die Tendenz haben, sich selbst unentbehrlich zu machen, sondern auch an dem in der Einleitung dargestellten technologischen Wandel. Bei der Entstehung des TKG ging man von einem bestehenden Netz für Telefonie aus. Die heutige Bedeutung und Dynamik im Bereich der Breitbanddienste und Zugänge und das damit verbundene Investitionserfordernis war kaum abzusehen. Ein Großteil des 38
S. 4.
Baldwin/Cave/Lodge, Understanding regulation: theory, strategy, and practice, 2012,
39 Rhein Zeitung, 1998, Kritik an Preispolitik der Telekom, http://archiv.rhein-zeitung.de/ on/98/01/07/topnews/rexrodt.html, zugegriffen 27. 4. 2017.
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Dienstewettbewerbs im Telekommunikationsbereich hängt nach wie vor an den durch die Bundesnetzagentur dem Altsassen, der Deutschen Telekom, auferlegten Verpflichtungen, Wettbewerbern Zugang zu ihrer Infrastruktur zu gewähren. Der Markt wird hier letztlich durch die detaillierten Regulierungsentscheidungen erst möglich gemacht und durchgestaltet. Der Markt hängt am Tropf der Regulierung. Für Marktfundamentalismus ist da kein Platz; es ist aber zu hoffen, dass Investitionen in künftige Breitband-Glasfaserinfrastrukturen getätigt werden, ohne dass die Bundesnetzagentur weiter so detailliert die Verpflichtungen der Marktteilnehmer regeln muss. Wettbewerb ist zwar normatives Ziel, im Grunde aber lediglich Mittel zum Zweck, nämlich dem Konsumenten ein erschwingliches Angebot in guter Qualität zu ermöglichen. Dabei wird Effizienz, sei es als schlichtes Input-Output-Verhältnis, allokative oder dynamische Effizienz, als Maßstab für das Marktergebnis angelegt. Sozusagen das Mittel zum Zweck für das Mittel zum Zweck sind dabei ökonomische Modelle, die Marktversagen und dessen Regulierung erklären. Wie effizient Märkte am Ende sein sollen, oder welche anderen Werte eine Rolle spielen sollen, ist dagegen eine normative Entscheidung außerhalb ökonomischer Modelle; hier hätten die von Fehling vorgeschlagenen „Verwirklichungschancen“40 ihren Platz. Hierher gehören somit auch soziale Ziele wie die Gewährleistung eines flächendeckenden Universaldienstes. Ökonomische Modelle hingegen sollten sich darauf konzentrieren, was quantifizierbar und messbar ist.41 Und es sollte – wie oben in Abschnitt II herausgearbeitet – das richtige Modell mit den passenden Annahmen für die vorliegenden Rahmenbedingungen gewählt werden. Die Regulierungsökonomik besitzt einen reichen Kanon an Literatur zu Marktversagen und dessen Überwindung. Aristoteles beschrieb bereits das Monopol42 ; moderne Klassiker sind z. B. die Arbeiten zu Monopolpreisen von Ramsey43 und Boiteux44. Frühe Formen der Regulierung, bei denen eine staatliche Stelle die Kosten eines Netzbetreibers einschließlich einer Kapitalrendite genehmigt hat, hatten den Anreiz zur „Vergoldung“ (gold plating) von Netz-Assets, sprich zu einem Aufblähen des Kapitalbestandes, der dann entsprechend verzinst wurde. Schon 1962 beschrieben Averch und Johnson45 solche verzerrte Faktorinputentscheidungen. Der Regulierer kann nicht sinnvoll direkt auf den Kapitaleinsatz einwirken, da er schlicht nicht weiß, welche Investitionen nötig sind; er müsste selbst ein Netz betreiben, um die notwendigen Informationen vollständig zu besitzen (Informationsasymmetrie). In 40
Fehling Fn. 12. Es können natürlich auch Modelle entwickelt werden, die wiederum Aussagen für z. B. die zielführende Ausgestaltung eines Universaldienstes machen oder allgemeiner Verteilungsgerechtigkeitsziele modellieren. 42 Aristoteles, Politik, in: Schütrumpf (Hrsg.), Philosophische Bibliothek Band 616, 2012, S. 26. 43 Ramsey, Economic Journal, Vol. 37 No. 145 (1927), 47. 44 Boiteux, The Journal of Business, Vol. 33 No. 2 (1960), 157. 45 Averch/Johnson, The American Economic Review, Vol. 52 No. 5 (1962), 1052. 41
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einer solchen Konstellation gibt das Recht zwar (sicherlich oft wohl abgewogen) Verhaltensanordnungen – nur dass diese Anordnungen dann zu ungewollten Effekten aufgrund von sogenannten perversen Anreizen führen (wie dem gold plating). Um solchen Effekten vorzubeugen, und um beispielsweise Innovationen beim Netzbetreiber anzureizen, sind dann auch alternative Regulierungsansätze entwickelt worden, deren Ziel es ist, Marktverhältnisse besser zu simulieren. Ansätze wie Preispfade oder budgetorientierte Anreizregulierung wurden schließlich theoretisch verfeinert und konzeptionalisiert; wegbereitend hier z. B. Shleifer 198546 und Tirole-Laffonte 1993.47 Ohne solche Erkenntnisse aus der Regulierungsökonomik würde das Regulierungsrecht die ungewollten Folgen und die tückischen Anreizwirkungen von fehlerhaft konzipierter Regulierung nicht in den Griff bekommen. Auch können unbestimmte Rechtsbegriffe wie zum Beispiel die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung (§ 32 TKG) nur mithilfe der Wirtschaftswissenschaften ausgestaltet werden. Um diesen Punkt zu illustrieren wird im Folgenden nun, wie im ersten Abschnitt angekündigt, anhand eines detaillierteren Beispiels aus der Regulierung von Energienetzen dargestellt, wie eine Verwaltungsentscheidung der Bundesnetzagentur sich konkret eines ökonomischen Modells bedient (hier sogar eines aus einem anderen Fachgebiet als der Regulierungsökonomik – der Kapitalmarkttheorie). Bei der Regulierung von Netzentgelten müssen unter anderem Kapitalkosten bestimmt werden. Eigenkapital wird in einer Marktwirtschaft nur dann zur Verfügung gestellt werden, wenn neben dem Marktpreis für Eigenkapital das spezifische unternehmerische Wagnis vergütet wird. Bei der Bestimmung der Eigenkapitalkosten darf daher die Regulierungsbehörde nicht zu niedrig liegen: Netzunternehmen würden sonst kein Eigenkapital mehr erhalten. Und sie darf nicht zu hoch liegen: Eigenkapitalgeber würden sonst Überrenditen verdienen und es würde überinvestiert. Das unternehmerische Wagnis wird in allen von der Bundesnetzagentur regulierten Sektoren mittels eines ökonomischen Modells bestimmt; im Folgenden wird die Entscheidung für die Stromnetze48 näher beleuchtet. § 7 Abs. 5 StromNEV lautet: „Die Höhe des Zuschlags zur Abdeckung netzbetriebsspezifischer unternehmerischer Wagnisse ist insbesondere unter Berücksichtigung folgender Umstände zu ermitteln: 1. Verhältnisse auf den nationalen und internationalen Kapitalmärkten und die Bewertung von Betreibern von Elektrizitätsversorgungsnetzen auf diesen Märkten; 2. durchschnittliche Verzinsung des Eigenkapitals von Betreibern von Elektrizitätsversorgungsnetzen auf ausländischen Märkten; 3. beobachtete und quantifizierbare unternehmerische Wagnisse.“
46
Shleifer, Rand Journal of Economics, Vol. 16 No. 3 (1985), 319. Laffont/Tirole, A Theory of Incentives in Procurement and Regulation,1993. 48 Bundesnetzagentur, BK4 – 16 – 160_Strom vom 5. 10. 2016, https://www.bundesnetzagen tur.de/DE/Service-Funktionen/Beschlusskammern/1BK-Geschaeftszeichen-Datenbank/BK4GZ/2016/2016_0001bis0999/2016_0100bis0199/BK4 - 16 - 0160/BK4 - 16 - 0160_Beschluss_ Strom_BF_download.pdf?__blob=publicationFile&v=1, zugegriffen 18.5.17. 47
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Allein anhand dieser Norm könnte der Rechtsanwender ohne ein ökonomisches Modell schwerlich eine sachgerechte Entscheidung treffen. Er würde zwar in Fleißarbeit entsprechende Kapitalmarktdaten zusammenstellen und vielleicht noch Durchschnitte bilden können (schon da wird er sich fragen: arithmetisch? geometrisch? Welche Annahmen zum Verschuldungsgrad?). Erst ein Modell jedoch, das erklärt, wie das spezifische Wagnis eines Netzunternehmens mit dem beobachteten Verhalten des Gesamtmarktes zusammenhängt, wird die Entscheidung handhabbar machen. Für die Entscheidung wurde also – wie in den Vorgängerentscheidungen und in allen anderen von der Bundesnetzagentur regulierten Sektoren – das anerkannte Capital Asset Pricing Model (CAPM) verwendet, das zuerst in den 1960 Jahren neben anderen von Sharpe formuliert49 und stetig weiterentwickelt wurde. Die Beschlusskammer der Bundesnetzagentur schreibt in ihrer Entscheidung: „Das CAPM, das unmittelbar aus einer stringenten Kapitalmarkttheorie abgeleitet wird, ist weit verbreitet. Es handelt sich um ein statistisches Modell, welches aus der Entwicklung von Börsenpapieren ausgewählter Unternehmen im Vergleich zu einem geeigneten gewählten Marktindex auf das nicht diversifizierbare Risiko eines Unternehmens schließen lässt. Das Modell ist einfach strukturiert und kann unter Zuhilfenahme weniger Annahmen empirisch geschätzt werden.“50
Mithilfe dieses Modells wird mithin ein Phänomen der Marktrealität erklärt und die entsprechenden Daten werden handhabbar gemacht. Es wird also ermöglicht, die Erwartungen von Kapitalgebern an die Vergütung ihres Wagnisses so zu prognostizieren, dass die oben dargestellten Über- oder Untervergütungen vermieden werden. Dabei ist durchaus die Verwendung alternativer Modelle denkbar und auch von der Bundesnetzagentur geprüft worden.51 Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass sich der Forschungsstand weiter entwickelt und eines Tages das Modell modifiziert oder gar abgelöst wird; gegenwärtig ist das CAPM jedoch das erklärungsmächtigste und handhabbarste Modell. Bei der Entscheidung wurde jedoch das Modell nicht mechanistisch oder blind und ausschließlich angewandt. Nach der Berechnung der entsprechenden Verzinsung mittel CAPM folgte eine juristische Angemessenheitsprüfung. Es wurde betrachtet, ob Risiken bestehen, die unter Berücksichtigung des aktuellen regulatorischen Rahmens eine negative Wirkung entfalten können oder diese Risiken durch die gegebenen Rahmenbedingungen aufgefangen und neutralisiert werden.52 Zudem hat die Beschlusskammer eine erneute Überprüfung des regulatorischen Risikos vorgenommen und die von Übertragungsnetzbetreibern im Rahmen der Konsultation vorgetragenen wachstumsbedingten Risiken, technischen Risiken und Risiken aus der Übertragung von Umlagen oder neuer Aufgaben untersucht. Weiterhin hat die Beschlusskammer überprüft, ob über die Bestimmung des Zuschlags zur Abdeckung 49
Sharpe, The Journal of Finance, Vol. 19 No. 1 (1964), 425. Bundesnetzagentur Fn. 48, S. 7. 51 Bundesnetzagentur Fn. 48, S. 7. 52 Bundesnetzagentur Fn. 48, S. 18 f. 50
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netzbetriebsspezifischer unternehmerischer Wagnisse hinausgehende Aspekte zu berücksichtigen seien. Anders als in einer früheren Entscheidung wurden solche Risiken und Aspekte jedoch für die aktuelle Entscheidung verneint.53 V. Fazit Dieser Beitrag hat versucht zu zeigen, dass Ökonomie und Recht, obwohl sie manchmal nicht harmonieren, jeweils unverzichtbare Funktionen haben. Die Verwendung ökonomischer Modelle im Recht kann sehr viel Mehrwert bieten. Sie muss aber mit der nötigen Sorgfalt vorgenommen werden, was maßgebliche Annahmen und das Vorliegen entsprechender Rahmenbedingungen betrifft. Die Juristische Methode wiederum gewährleistet die Bindung und Kontrolle der Verwaltung, kann das Recht aber starr werden lassen. Interdisziplinarität in Theorie und Praxis ist gerade in der Netzregulierung unverzichtbar geworden; umso mehr in der heutigen von beschleunigtem Wandel geprägten Zeit und angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung und Energiewende. Der Historiker Andreas Rödder identifiziert beim Umgang mit der Realität und mit Ungewissheiten verschiedene Denktraditionen. Seine Darstellung eignet sich gut, um dieses Fazit abzuschließen: „Schon in der antiken Philosophie und im mittelalterlichen Universalienstreit sind dabei zwei grundlegende Denkweisen des Umgangs mit der Realität zu identifizieren. Der platonischen Tradition zufolge existiert das Allgemeine vor dem Besonderen – zuerst ist die Idee. Ein solches Denken geht von Visionen, Modellen und Theorien aus. Es stößt weitreichende Veränderungen an, und es unterliegt zugleich der Versuchung der Ganzheit, die Welt nach einem bestimmten Bilde umzugestalten und den neuen Menschen zu schaffen. Hier liegt der gemeinsame Nährboden von Ideologien und religiösen Fundamentalismen, der Radikalisierung des Marktprinzips und der ,Großen Transformation‘ ebenso wie der ,Sakralisierung Europas‘ […]. Die andere Denktradition geht auf Aristoteles zurück: Das Allgemeine existiert nur im Besonderen – die Idee ist nicht von ihrer praktischen Umsetzung zu trennen. Nicht die großen Entwürfe leiten dieses Denken, sondern Erfahrung und Alltagsvernunft. In der Einsicht, dass das was heute für richtig gehalten wird, sich morgen als falsch herausstellen kann, geht es Schritt für Schritt vor, um den Kurs gegebenenfalls rechtzeitig korrigieren zu können. Seine Gefahr liegt darin, vor lauter Pragmatismus die notwendigen Veränderungen und Weichenstellungen zu versäumen. Ein zukunftsfähiges Gemeinwesen wird sich bemühen, beide Denktraditionen in ihren Vorteilungen zu verbinden und ihre Nachteile zu minimieren. Modelle und Statistiken sind hilfreich, wenn sie als Hilfsmittel verwendet werden, doch sie werden schädlich, wenn sie zum Ziel an sich gemacht werden. Ideen werden gefährlich, wenn sie sich von der Realität lösen.“54
53 54
Bundesnetzagentur Fn. 48, S. 32. Rödder, 21.0: Eine kurze Geschichte der Gegenwart, 2014.
Gemeinwohlverwirklichung im Wettbewerb in den Netzwirtschaften – ein Vergleich nach 20 Jahren Regulierung durch die Bundesnetzagentur Von Jürgen Kühling, Regensburg* I. Einführung Das 70jährige Jubiläum des Kollegen Schmidt-Preuß fällt zusammen mit dem 20jährigen Jubiläum der Bundesnetzagentur, die 1998 als Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post gestartet ist und deren Arbeitsaufnahme den Beginn einer umfassenden Regulierung der Netzwirtschaften in Deutschland markiert. Da mich mit dem Jubilar Schmidt-Preuß ganz besonders die gemeinsam mit anderen initiierte Gründung der „Wissenschaftlichen Vereinigung für das gesamte Regulierungsrecht“ verbindet1 und der Kollege Schmidt-Preuß 2014 für die von ihm in Bonn organisierte Tagung der Vereinigung das Leitthema „Regulierung und Gemeinwohl“ ausrief,2 soll der folgende Beitrag eine vergleichende Reflektion darüber liefern, was nach 20 Jahren Regulierung durch die Bundesnetzagentur an Gemeinwohlverwirklichung durch Wettbewerb in den Netzwirtschaften erreicht wurde, verbunden mit einem knappen Ausblick, welche weiteren Herausforderungen zu bewältigen sind und ob das „klassische“ Regulierungsmodell dazu geeignet ist. Dabei weisen die Netzwirtschaften der Telekommunikation, Post, Energie und Eisenbahn gewiss eine viel längere Tradition der rechtlichen Steuerung und politischen Intervention auf als nur zwei Dekaden. Die Tradition reicht teilweise tief in das 19. Jahrhundert. So datiert etwa das preußische Eisenbahngesetz vom 3. November 1838 und sah ein Konzessionsmodell für private Eisenbahnen unter staatlicher Aufsicht vor.3 Die Gesetzgebung lief damit parallel zur Entwicklung des Streckennetzes und zur aufkommenden Bedeutung der Eisenbahn als zentrales Verkehrsmittel der Industrialisierung. Weit zurückreichende Regelwerke lassen sich auch zum Telegra* Der Autor ist Mitglied der Monopolkommission. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder, berücksichtigt im Rahmen der Bewertung jedoch umfassend die jüngsten vier Sondergutachten der Monopolkommission zu den Netzwirtschaften Eisenbahn, Energie, Telekommunikation und Post aus dem Jahr 2017. 1 Siehe den ersten Tagungsband Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015. 2 Siehe den Band der zweiten Tagung Schmidt-Preuß/Körber (Hrsg.), Regulierung und Gemeinwohl, 2016. 3 Hermes, in: Hermes/Sellner (Hrsg.), Beck’scher AEG Kommentar, 2. Auflage 2014, Einf. A Rn. 5.
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fenwesen als Vorläufer des Telekommunikationsrechts etwa Ende des 19. Jahrhunderts finden4 und mit dem EnWG 1935 in der Energieordnung.5 Verschiedene Ziele der Gemeinwohlverwirklichung lassen sich in den verschiedenen Rechtsrahmen von Anbeginn nachzeichnen.6 Dabei ist es auch interessant zu sehen, dass in historischer Perspektive keineswegs immer eine staatliche Leistungserstellung erfolgte, die dann erst in den 1990er Jahren privatisiert wurde. So ist die Verstaatlichung der Eisenbahnen erst im Kaiserreich erfolgt7 und im Postbereich erfolgte etwa eine Überführung des Exklusivrechts des Hauses „Thurn und Taxis“ als „privatwirtschaftliches Unternehmen“ in eine hoheitliche Postverwaltung im 19. Jahrhundert.8 Die besondere Betonung der Bedeutung des Wettbewerbs im Rahmen der Regulierung ist dagegen ein Phänomen der Neuzeit. Die Privatisierung und Liberalisierung der überwiegend durch hoheitliche Monopole geprägten Märkte der Netzwirtschaften erfolgte besonders nachdrücklich seit den 1990er Jahren unter dem Einfluss des Rechts der Europäischen Gemeinschaft und später der Europäischen Union. Entsprechend der Konzeption des europäischen Primärrechts ging es dabei um eine Gemeinwohlverwirklichung im grenzüberschreitenden Wettbewerb.9 Vorreiter war die Schaffung von Wettbewerb in der Telekommunikationsordnung und erst vorsichtig folgend in den übrigen Netzwirtschaften der Post, Energie und Eisenbahn. Auch im europäischen Recht ist es im Rahmen der Ausdifferenzierung des Regulierungsansatzes in der Folge zu einer Vielschichtigkeit der Gemeinwohlziele gekommen, die zudem durch nationale Präferenzen überformt werden. Das wird besonders deutlich mit Blick auf den Ausstieg aus der Atomenergie und die sogenannte „Energiewende“ in Deutschland. Ebenso wie die Diskussion um den Breitbandausbau in der Telekommunikationsordnung macht aber gerade diese Plurifikation und Gewichteverlagerung bei den Zielen eine Neubesinnung auf das Konzept der „Gemeinwohlverwirklichung im Wettbewerb“ erforderlich. 4 Zum Telegrafengesetz von 1892 und Telegrafenwegegesetz von 1900 siehe Nienhaus, Überlegungen zur Entwicklung des Wegerechts für die Telekommunikation, in: Hoeren (Hrsg.), Handbuch Wegerechte und Telekommunikation, 2007, Rn. 17 ff., der skizziert, wie diese Gesetze ein hoheitliches Monopol rechtlich absichern sollten. 5 Vgl. zu diesem damaligen Regelungsansatz gegen „volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs“ (so die Präambel) Danner, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, Stand: Juli 2017, Einf. Rn. 28 ff.; Säcker, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, 3. Auflage 2014, Einl. A. Rn. 15 ff. 6 Siehe exemplarisch zu den „Universaldienstzielen“ in der frühen Postverwaltung die knappen Hinweise bei Kühling, in: Bonner Kommentar zum GG, Stand: November 2015, Art. 87f Rn. 2. 7 Vgl. Hermes, in: Hermes/Sellner (Hrsg.), Beck’scher AEG Kommentar, 2. Auflage 2014, Einf. A Rn. 8 ff.; Lepsius, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 1 Rn. 7 f. 8 Siehe die knappen Hinweise bei Kühling, in: Bonner Kommentar zum GG, Stand: November 2015, Art. 87f Rn. 1. 9 Siehe dazu zuletzt Kühling, Wettbewerb contra Gemeinwohl, in: Mohr (Hrsg.), Energierecht im Wandel, Kolloquium zu Ehren des 75. Geburtstags von Franz-Jürgen Säcker, S. 93 (95 ff.).
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Dazu soll im Folgenden sehr knapp der Wettbewerb als Gemeinwohlgarant skizziert werden (II.), bevor die einzelnen Netzwirtschaften der Telekommunikation (III.), Post (IV.), Energie (V.) und Eisenbahn (VI.) auf die Verwirklichung der Gemeinwohlziele durch Wettbewerb und Regulierung hin überprüft werden sollen. Ein Vergleich und ein kleines Fazit sollen den Beitrag abschließen (VII.). II. Gemeinwohlverwirklichung durch und im Wettbewerb In der ökonomischen Literatur wird der Wettbewerb zu Recht als Gemeinwohlgarant gesehen.10 Der Wettbewerb als Primärziel sorgt mittelbar für eine besonders effektive Verwirklichung weiterer Gemeinwohlziele. Es erfolgt also eine Gemeinwohlverwirklichung durch Wettbewerb.11 Wettbewerb gewährleistet eine optimale Entlohnung der Produktionsfaktoren, sichert eine nachfragegerechte Zusammensetzung des Angebots, eine effiziente Produktionssteuerung und die Innovations- und Anpassungsfähigkeit der Wirtschaftsordnung. Zentrale Gemeinwohlziele – wie eine optimale Versorgung der Bevölkerung – werden demnach durch den Wettbewerb gewährleistet. Eine Vielzahl von Gemeinwohlzielen lassen sich sodann „wettbewerbsneutral“ verwirklichen, also im Wettbewerb. So kann beispielweise der Schutz des Fernmeldegeheimnisses wettbewerbsneutral in einer kompetitiven Marktordnung genauso geschützt werden wie in einem hoheitlichen Monopol. Manche Gemeinwohlziele werden durch einen florierenden Wettbewerb jedoch eher gefährdet als in einem wenig dynamischen und wenig innovativen hoheitlichen Monopol und es bedarf daher eines Ausbaus der Regulierung. Am besten lässt sich dies am Beispiel des Kundenschutzes in der Telekommunikationswirtschaft verdeutlichen: Der Wettbewerb sorgt hier zunächst für innovative und kundengerechte Produktangebote zu günstigen Preisen. Preishöhenmissbräuche sind in einem funktionsfähigen Wettbewerb kaum denkbar. Zugleich lassen sich manche Anbieter aber auch immer neue Modelle einfallen, um Kunden anderweitig auszubeuten, wie man es zu Zeiten des hoheitlichen Monopols nicht kannte („Abofallen“, „Dialer“-Schadprogramme etc.).12 Der Gesetzgeber und die Regulierungsbehörde müssen daher auf der Hut sein, um normativ und regulatorisch gegenzusteuern und neuartige Missbrauchsformen zu verhindern. Die Gefahrenlage kann sich dabei jederzeit ändern. Dies macht das Beispiel der in jüngerer Zeit aufkommenden sogenannten „Over-the-Top“-Dienste im Telekommunikationssektor, wie Messenger-Dienste („WhatsApp & Co“), deutlich. Hier besteht keine klassische Missbrauchsgefahr durch überhöhte Entgelte, da diese Dienste kostenlos angeboten werden. Vielmehr verlagern sich die Gefahren in den Bereich des 10 Vgl. z. B. Pitzer, Interessen im Wettbewerb, 2009, S. 75 ff.; grundlegend Schlecht, Wettbewerb als ständige Aufgabe, 1975, S. 5 ff.; Kantzenbach, Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, 2. Auflage 1967, S. 15 ff. 11 Kersten, Herstellung von Wettbewerb als Verwaltungsaufgabe, VVDStRL 69 (2010), S. 288 (316); Masing, DJT 66 (2006), D 5 (D 44). 12 Siehe dazu die regulatorische Antwort in den §§ 45d Abs. 3 und 4 sowie 66f TKG.
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Schutzes der Kundendaten. Auch hier muss die Regulierung die passenden Antworten finden, um das Gemeinwohlziel der Sicherung des Fernmeldegeheimnisses und des Datenschutzes zu gewährleisten.13 Die Schaffung von Wettbewerb allein genügt demnach nicht, um die Gemeinwohlziele zu erreichen. Vielmehr ist eine ständige regulatorische Begleitung erforderlich.
III. Die Telekommunikation als funktionsfähige Referenzordnung 1. Liberalisierung mit Beginn der 1990er Jahre; fokussierte Regulierungsziele; effektives Regulierungssystem Die Telekommunikationsordnung ist nach wie vor die Referenzordnung für die Schaffung von Wettbewerb durch Regulierung und eine Gemeinwohlverwirklichung durch und im Wettbewerb. Maßgeblich befeuert durch die Vorgaben der damaligen Europäischen Gemeinschaft zur Liberalisierung und Regulierung der Telekommunikationsmärkte wurden diese in den Postreformen seit 1989 Schritt für Schritt im deutschen Recht verwirklicht.14 Am Ende der Reformprozesse stand das TKG 1996, das nicht nur die vollständige Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte in Deutschland verwirklichte, sondern auch eine umfassende Regulierung des marktbeherrschenden Unternehmens – also der Deutschen Telekom AG (DTAG) als Nachfolgerin des vormaligen hoheitlichen Monopolisten, der „Deutschen Bundespost – Telekom“ – vorsah. Im Vordergrund stand der Zugang zu den Netzen der Telekom, der flankiert wurde durch eine Entgeltregulierung. Als für den Wettbewerb wichtige Separierungsregulierung sollte sich erst später die eigentumsrechtliche Trennung der Kabelnetze der Telekom und ihr Verkauf an private Investoren erweisen. Denn erst mit der Herstellung der Rückkanalfähigkeit der Kabelnetze entstand in jüngerer Zeit eine konkurrierende Infrastruktur für Telefonie und Internetzugang. Neben der wettbewerbsfördernden Regulierung war gerade in der Anfangszeit im politischen Prozess die Normierung der Universaldienstgewährleistung von großer Bedeutung. Mit dem Universaldienstregime sollte der Sorge begegnet werden, dass der Wettbewerb zu einer Unterversorgung ländlicher Räume führt, bildlich gesprochen also dazu, dass sich die „Oma auf dem Lande“15 Telekommunikationsdienste nicht mehr leisten kann. Die in Art. 87f Abs. 1 GG vorgegebene hoheitliche Gewährleistungsverantwortung des Bundes dafür, dass „flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen“ im Wettbewerb nach Art. 87f Abs. 2 GG verfügbar sind, wurde durch einen sehr klug angelegten Mechanismus abgesichert. So 13 Kühling, What to do with OTT? – Die Regulierung von Gmail, WhatsApp & Co de lege ferenda, in: Körber/Kühling (Hrsg.), Regulierung – Wettbewerb – Innovation, 2017, S. 177 f.; Wissenschaftlicher Arbeitskreis für Regulierungsfragen bei der BNetzA, Fragen der Regulierung von OTT-Kommunikationsdiensten vom 15. 7. 2016, S. 18. 14 Dazu Kühling/Schall/Biendl, Telekommunikationsrecht, 2. Auflage 2014, Rn. 31 ff. 15 Siehe zu dieser Sorge insbesondere Gysi, BT-Plenarprotokoll 12/208 vom 3. 2. 1994 zum Gesetz zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation, S. 17929 f.
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sollte die Universaldienstgewährleistung zunächst durch den Wettbewerb erfolgen. Dabei blieb es auch bis heute: Der Mechanismus der §§ 17 ff. TKG 1996 und der §§ 78 ff. des jetzigen TKG wurde nie aktiviert, eine Unterversorgung nie festgestellt. Dabei zeigte sich schnell, dass der Wettbewerb dafür sorgt, dass zu viel günstigeren Preisen als bislang flächendeckend viel bessere Leistungen angeboten wurden. Das Gemeinwohlziel des Universaldienstes wurde also durch Wettbewerb – wie vom Gesetzgeber trotz aller Unkenrufe der Skeptiker erwartet – viel besser erreicht als im Monopol ohne Wettbewerb. Auch das Problem des Umgangs mit knappen Ressourcen, also der Wegerechte, der Nummerierung und der Frequenzen, wurde sehr wettbewerbsoffen gelöst. Die Wegerechte wurden allen Betreibern öffentlicher Telekommunikationsnetze diskriminierungsfrei zur Verfügung gestellt. Den Kommunen wurde ein „Wegezoll“ verwehrt und die vormaligen Wegerechte des Bundes wurden kostenlos auf die Telekommunikationsnetzbetreiber übertragen (siehe jetzt § 69 TKG). Die Nummerierung wurde ebenfalls wettbewerbsoffen und weitsichtiger als etwa in Frankreich ausgestaltet, wo zunächst nur eine einstellige Vorwahl für die bei der Schaffung von Wettbewerb wichtigen „Call-by-call“-Anbieter eingerichtet wurde.16 Offensichtlich konnte sich der französische Gesetzgeber nicht vorstellen, dass es mehr als neun konkurrierende Anbieter geben werde. Auch die Frequenzvergabe erfolgte in Deutschland von vornherein für den Fall der Knappheit in einem wettbewerbsorientierten Mechanismus, nämlich im Zweifel nicht nur durch einen Ausschreibungswettbewerb, sondern sogar durch ein besonders wettbewerbsintensives Versteigerungsverfahren (siehe jetzt § 61 Abs. 2 TKG). Neben diesen Kernzielen der ökonomischen Regulierung – vor allem Wettbewerb und Universaldienst bzw. kombiniert als das Ziel einer optimalen Versorgung durch Wettbewerb – verfolgte das TKG von vornherein auch nicht-ökonomische Gemeinwohlziele,17 namentlich die Sicherung des Fernmeldegeheimnisses, des Datenschutzes und der öffentlichen Sicherheit. Neben der materiell-rechtlichen Regulierung war von Anbeginn der Regulierung die institutionelle Dimension von zentraler Bedeutung: So wurde mit dem TKG 1996 die damalige Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post geschaffen, die am 1. Januar 1998 ihre Arbeit aufnahm. Ihr wurden im TKG umfassende Regulie-
16 Siehe zu den daraus folgenden Rechtsstreitigkeiten den knappen Hinweis von Koenig/ Kühling, Frankreich, in: Koenig/Kühling/Schedel (Hrsg.), Liberalisierung der Telekommunikationsordnungen. Ein Rechtsvergleich, 2000, S. 49 (75). 17 Zur Unterscheidung zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen Zielen grundlegend Kühling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwirtschaften, 2004, S. 11 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen und ders., Regulierungsrecht als Infrastrukturregulierungsrecht oder mehr?, in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, S. 44 (46 ff.).
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rungsbefugnisse eingeräumt und auch personell und institutionell wurde sie als kompetente, unabhängige und durchsetzungsstarke Behörde ausgestaltet.18 2. Positive Entwicklung des Wettbewerbs und der Märkte Zweifellos hat die Regulierung einen wichtigen Beitrag zur Entfaltung des Wettbewerbs auf den Telekommunikationsmärkten geleistet, auch wenn die Wettbewerbsentwicklung im Einzelnen auch in zeitlicher Perspektive gewiss differenziert zu betrachten ist. Es ist bemerkenswert, dass der ehemalige Monopolist inzwischen nicht einmal mehr die Hälfte der Gesamtumsätze auf den Telekommunikationsmärkten auf sich vereint. So ist der Marktanteil der Wettbewerber im Jahr 2017 auf 57 % gestiegen, was Ausdruck eines lebendigen Wettbewerbsgeschehens ist.19 Dabei sind vor allem die Festnetzmärkte durch einen scharfen Wettbewerb geprägt. Die Regulierung der Endkundenmärkte konnte hier sehr frühzeitig zurückgeführt werden und auch die Regulierung der Vorleistungsmärkte beschränkt sich zunehmend auf die hartnäckigen Monopole bei der Terminierung bzw. auf die Regulierung der Teilnehmeranschlussleitung. Auf den Mobilfunkmärkten ist die Wettbewerbsintensität geringer, zumal hier nach der Fusion von Telefónica und E-Plus die drei Netzbetreiber mehr als 80 % der Marktanteile auf den Endkundenmärkten etwa gleichmäßig auf sich aufteilen.20 Daher stellt sich auch mit Blick auf die 2018 erfolgende Frequenzversteigerung wieder die Frage, ob den virtuellen Netzbetreibern (Mobile Virtual Network Operators; MVNO) nicht weiterhin Zugangsrechte eingeräumt werden müssen.21 Insgesamt ist gleichwohl auch in Bezug auf die Entwicklung der Endkundenpreise und der Versorgungsqualität ein positives Fazit der 20-jährigen Regulierungspraxis möglich. Es hat sich eine vielfältige Versorgung zu angemessenen Preisen im Wettbewerb entwickelt. Das Erfolgsmodell der Telekommunikationsregulierung ließe sich gleichwohl einer anspruchsvollen sozialpolitischen Bewertung mit einer Vielzahl von weiteren komplexen Gemeinwohlzielen unterziehen, die bislang nicht Eingang in das Regulierungssystem gefunden haben.22 So haben die wettbewerbsbedingten Effizienzsteigerungen selbstverständlich Implikationen für den Arbeitsmarkt insoweit, dass sie zu einem erheblichen Arbeitsplatzabbau geführt haben. 18 Dazu grundlegend Kühling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwirtschaften, 2004, S. 372 ff. 19 Monopolkommission, Sondergutachten 78, Telekommunikation 2017: Auf Wettbewerb bauen!, 2017, Ziff. 6. 20 Monopolkommission, Sondergutachten 78, Telekommunikation 2017: Auf Wettbewerb bauen!, 2017, Ziff. 21. 21 Dafür zuletzt die Monopolkommission, Sondergutachten, Telekommunikation 2017: Auf Wettbewerb bauen!, 2017, K 12. 22 Siehe grundlegend zur „Regulierung in sozialpolitischer Perspektive“ den gleichnamigen Beitrag von Lepsius, in: Schmidt-Preuß/Körber (Hrsg.), Regulierung und Gemeinwohl, 2016, S. 102 ff.
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Dieser Prozess scheint auch keineswegs an ein Ende gelangt zu sein. Während die Mitarbeiterzahl bei den Wettbewerbern relativ konstant ist, hat die DTAG bei nur leicht gesunkenen Absätzen noch in den letzten zehn Jahren mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze abgebaut.23 Sicherlich spielt hier aber auch die Digitalisierung eine zentrale Rolle, die maßgeblicher Effizienztreiber ist. Gleichwohl ist die Effizienzsteigerung durch die Digitalisierung in allen Netzwirtschaften von Bedeutung und der Wettbewerb kann für einzelne Branchen kein arbeitsplatztechnisches Nullsummenspiel gewährleisten, sondern die deutsche Volkswirtschaft profitiert an anderer Stelle – neben der Effizienzsteigerung in der jeweiligen Netzwirtschaft als Vorprodukt weiterer Leistungen etwa im Rahmen der Produktion von Vorleistungen für die Automation in anderen Branchen. 3. Gemeinwohlverwirklichung im Wettbewerb auch im Zeitalter des Breitbandausbaus?! Die jahrelange positive Entwicklung einer optimalen Versorgung durch Wettbewerb ist in den letzten Jahren mit dem hohe Investitionen erfordernden Breitbandausbau von einer besonders anspruchsvollen Zielsetzung überlagert worden. Schon im TKG 2004 ist mit der „Beschleunigung des Ausbaus von hochleistungsfähigen öffentlichen Telekommunikationsnetzen der nächsten Generation“ ein neues Ziel in das Gesetz aufgenommen worden, dessen „wettbewerbsneutrale“ Verwirklichung nicht einfach ist. Interessant ist dabei, dass der eigentliche Universaldienstmechanismus des TKG bei der flächendeckenden Verbreitung von breitbandigen Angeboten nicht aktiviert worden ist. Das hängt jedoch ganz schlicht mit der Konzeption des Universaldienstmechanismus als „Lückenschluss“-Instrument für eine sehr basale Grundversorgung zusammen. Diese Grundversorgung verlangt nach § 78 Abs. 2 Nr. 1 TKG lediglich einen Festnetzanschluss, der „Gespräche, Telefaxübertragungen und die Datenkommunikation mit Übertragungsraten ermöglicht, die für einen funktionalen Internetzugang ausreichen“. Wie auch immer man diesen „funktionalen Internetzugang“ gegenwärtig genau festlegt, ob mit 2, 4, 8 oder 10 Mbit/s,24 ist jedenfalls eine vollständige Versorgung in Deutschland gegeben, insbesondere wenn neben klassischen Festnetzangeboten auch Telekommunikationsdienste via Satellit und Mobilfunk berücksichtigt werden. Verbliebene Lücken, weiße Flecken in der etablierten Terminologie, werden stattdessen vor allem durch Subventionsmodelle geschlossen. Auch diese Fördermaßnahmen erfolgen jedoch im Rahmen von Ausschreibungen und damit immerhin im Wettbewerb. Sie gehen in ihrer Zwecksetzung 23 Monopolkommission, Sondergutachten 78, Telekommunikation 2017: Auf Wettbewerb bauen!, 2017, Ziff. 10. 24 Fetzer, MMR 2011, 707 (709), plädierte 2011 für die maximale Zulässigkeit von 2 – 4 Mbit/s. In richtlinienkonformer Auslegung sind gemäß Art. 4 Abs. 2 Halbs. 2 der Richtlinie 2002/22/EG die von der Mehrzahl der Teilnehmer vorherrschend verwendeten Technologien und die technische Durchführbarkeit zu berücksichtigen. Vgl. hierzu auch die Mitteilung der Kommission über die dritte regelmäßige Überprüfung des Universaldienstumfangs, KOM (2011) 795 endgültig.
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allerdings weit über eine Grundversorgung hinaus und verfolgen das politische Ziel einer Breitbandversorgung mit mindestens 50 Mbit/s und künftig gar einer GigabitVersorgung. Je nach Ausgestaltung der Ausschreibungsbedingungen können diese Fördermodelle zwar den Wettbewerb beeinträchtigen, insbesondere wenn bestimmte Technologien direkt oder indirekt begünstigt werden. Daher sind Fördermodelle mit hohen Volumina wettbewerblich problematisch, da sie auch einen sogenannten „Crowding-out“-Effekt haben können, also den eigenwirtschaftlichen Ausbau verdrängen können.25 Gleichwohl sind die Fördermodelle nicht endogen wettbewerbsschädlich. Sie lassen sich angesichts ihrer nicht eigenwirtschaftlichen Darstellbarkeit demnach nicht durch das Vertrauen auf den Markt verwirklichen, aber immerhin im Wettbewerb auf der Basis politischer Zielvorgaben. Unproblematisch in wettbewerblicher Hinsicht ist grundsätzlich auch die Verfolgung von Breitbandzielen im Wege der Auferlegung von Versorgungsverpflichtungen für den Mobilfunkbereich im Rahmen von Frequenzversteigerungen. Entsprechende Versorgungsziele wurden zuletzt bei der Versteigerung der Frequenzen der vierten Generation auferlegt.26 Bei der Versteigerung von Frequenzen der fünften Generation soll dies fortgeführt werden. Derartige Versteigerungsbedingungen führen – wettbewerbsneutral ausgestaltet – aber letztlich nur zu einem Absenken des Werts der Frequenz, da sie die Kosten des späteren Netzaufbaus steigern.27 In der Folge sinken die Versteigerungserlöse, was möglicherweise fiskalischen Interessen zuwiderläuft, aber einer Verwirklichung von Gemeinwohlzielen im Wettbewerb nicht entgegensteht. Nur im Ausnahmefall kann es zu einer echten Abwägung zwischen dem Gemeinwohlziel des Breitbandausbaus auf der einen Seite und der Gewährleistung des Wettbewerbs auf der anderen Seite kommen. Aufgeschlagen ist dieses Problem im Rahmen der Zugangsentscheidung der Bundesnetzagentur beim sogenannten VectoringAusbau der Telekom in den Nahbereichen um die Hauptverteiler. Diese Technologie kann einen Beitrag zum Breitbandausbau – jedenfalls auf Basis des 50 Mbit/s-Ziels – leisten, verhindert jedoch den Zugang mehrerer Anbieter im Nahbereich der Hauptverteiler und reduziert so die Möglichkeiten eines infrastrukturbasierten Wettbewerbs. Gerade mit der letzten Änderung der Regulierungsverfügung gegenüber der DTAG in diesem Teilbereich der Regulierung der Teilnehmeranschlussleitung hat die Bundesnetzagentur das politische Ziel der Bundesregierung für die Breitbandversorgung sehr hoch gewertet und den Zugang weitgehend exklusiv der
25 Auf diese Problematik nachdrücklich hinweisend Monopolkommission, Sondergutachten 78, Telekommunikation 2017: Auf Wettbewerb bauen!, 2017, Ziff. 181. 26 Entscheidung der Präsidentenkammer der Bundesnetzagentur vom 28. 1. 2015, Az. BK1 – 11/003, S. 9 f., veröffentlicht im Amtsblatt der Bundesnetzagentur 2015, S. 828. 27 Siehe zu diesem Zusammenhang Monopolkommission, Sondergutachten, Telekommunikation 2017: Auf Wettbewerb bauen!, 2017, Ziff. 47.
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DTAG vorbehalten.28 Wettbewerber konnten nur nachgelagerte Zugangsprodukte erlangen. Die Herausforderungen eines Breitbandausbaus und die Verwirklichung politisch hoch gesteckter Versorgungsziele steigern demnach zwar die Komplexität der Regulierung und schließen eine rein marktbasierte Lösung aus, soweit ein eigenwirtschaftlicher Ausbau die politischen Ziele nicht gewährleistet. Gleichwohl stehen die Breitbandziele einer wettbewerblichen Ausgestaltung und einer Gemeinwohlverwirklichung im Wettbewerb nicht grundsätzlich entgegen. Das Erfolgsmodell der Telekommunikationsregulierung mit einer Gemeinwohlverwirklichung durch und im Wettbewerb kann demnach auch im Rahmen des Großprojekts Breitbandausbau und „Gigabit-Gesellschaft“ fortgesetzt werden. Das ist gerade vor dem Hintergrund jüngerer Vorschläge zu betonen, die auf „planwirtschaftliche“ Elemente setzen, etwa im Rahmen der Diskussion um sogenannte „Konzessionsmodelle“, die auf einen exklusiven Ausbau von Glasfaser-Infrastrukturen setzen und damit einen Infrastrukturwettbewerb politisch ausschließen.29 IV. Post – die wenig erfolgreiche „Schwester“-Ordnung 1. Vergleichbare Regulierungsziele, schwächeres Regulierungssystem Die Postregulierung weist prinzipiell eine hohe strukturelle Parallelität zur Telekommunikationsregulierung auf und startete in Deutschland mit dem Postgesetz 1997 nur ein Jahr später als das TKG. Die damalige Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (RegTP) war, wie der Name schon zum Ausdruck bringt, auch von vornherein für die Postregulierung gleichermaßen zuständig. Die Postordnung ist gleichwohl bis heute die weit weniger erfolgreiche „Schwester“ geblieben. Schon die Liberalisierung auf europäischer Ebene erfolgte schleppender. Hier fiel das Briefmonopol noch später.30 Die Europäische Kommission setzte auch nicht mutig auf ihre eigene Kompetenz zum Erlass von Richtlinien (ex-Art. 86 EG und jetzt Art. 106 AEUV), um die Monopole im Postbereich zu zerschlagen, sondern 28 Beschluss der Beschlusskammer 3 der Bundesnetzagentur vom 1. 9. 2016, Az. BK1 – 11/ 003, veröffentlicht im Amtsblatt der Bundesnetzagentur 2016, S. 1893; kritisch dazu Monopolkommission, Sondergutachten 78, Telekommunikation 2017: Auf Wettbewerb bauen!, 2017, K 17. 29 Dazu kritisch Monopolkommission, Sondergutachten 78, Telekommunikation 2017: Auf Wettbewerb bauen!, 2017, Ziff. 204 ff. 30 Vgl. hierzu RL 97/67/EG (ABl. L 15 v. 21. 1. 1998, S. 14 ff.), geändert durch RL 2002/ 39/EG (ABl. L 176 v. 4. 7. 2002, S. 21 ff.) und durch RL 2008/6/EG (ABl. L 52 v. 27. 2. 2008, S. 3 ff.); RL 2008/6/EG nennt die grundsätzliche Umsetzungsfrist bis zum 31. 12. 2010, elf Mitgliedstaaten war die Umsetzung bis zum 31. 12. 2012 erlaubt; vertiefend Reinbothe/Hentschel/Pochmarski, in: Groebel u. a. (Hrsg.), Postrecht, 2014, Kap. C Rn. 10 ff. In Deutschland ist die Bestimmung des § 51 Abs. 1 PostG letztendlich zum 1. 1. 2008 außer Kraft getreten mit der Folge, dass die gesetzliche Exklusivlizenz in Form des „Briefmonopols“ entfallen ist, vgl. hierzu Wojtek, in: Groebel u. a. (Hrsg.), Postrecht, 2014, Kap. D Rn. 93 ff.
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auf die allgemeine Harmonisierungskompetenz (ex-Art. 95 EG; jetzt Art. 114 AEUV), um sich der demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments und des Rates zu versichern. Die Regulierungszwecke des Postgesetzes glichen dagegen von vornherein jenen Kernanliegen des TKG. Sie zielten auf die Schaffung von Wettbewerb und die Universaldienstsicherung. Als weitere Ziele werden von vornherein vergleichbar dem TKG die öffentliche Sicherheit und das Postgeheimnis sowie – etwas unklar in ihrer Reichweite und abweichend vom TKG – soziale Belange genannt.31 Die Regulierungsinstrumente und -kompetenzen der damaligen RegTP und jetzigen Bundesnetzagentur waren und sind jedoch nicht vergleichbar scharf wie im TKG ausgestaltet. Das gilt etwa für effektive Bußgeldmechanismen und Auskunftsrechte.32 2. Positive Wettbewerbsentwicklung nur auf den Kurier-, Express- und Paketdienstemärkten Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass sich auch 20 Jahre nach Beginn der Regulierung im Postsektor an der marktbeherrschenden Stellung der Deutschen Post AG (DPAG) im Briefbereich nur wenig geändert hat. So verfügt sie im Privatkundensegment angesichts eines Marktanteils von mehr als 90 % letztlich über eine QuasiMonopolstellung. Im Geschäftskundenmarkt ist die Situation mit einem Marktanteil von etwa 70 % nicht wesentlich besser und an der marktbeherrschenden Stellung besteht kein Zweifel.33 Die Wettbewerber sind auf das flächendeckende Zustellnetz der Post AG in weiten Teilen angewiesen und daher weiterhin in hohem Maße von dem marktbeherrschenden Unternehmen abhängig. Positiver ist die Situation hingegen bei Kurier-, Express- und Paketdiensten. Hier ist zwar eine hohe Marktkonzentration mit oligopolistischen (im Markt für Geschäftskundepakete) und polypolistischen Strukturen (bei Kurierdiensten) zu konstatieren; dennoch besteht ein intensiver Wettbewerb. Nur bei Expressdiensten ist die Konzentration geringer.34 Insgesamt hat sich damit in wettbewerblicher Hinsicht gerade auf den Briefmärkten keine überzeugende Entwicklung ergeben. Zudem wird das Gemeinwohlziel der Universaldienstsicherung weiterhin nicht wettbewerbsneutral verwirklicht. So profitiert die DPAG für die von ihr erbrachten 31
Zu den begrenzten Wirkungen und zur gebotenen restriktiven Interpretation dieser Zielvorgabe vgl. Badura, in: Badura u. a. (Hrsg.), Beck’scher PostG-Kommentar, 2. Auflage 2004, § 2 Rn. 30 f.; siehe auch Katzschmann/Lemberg, in: Groebel u. a. (Hrsg.), Postrecht, 2014, Kap. D Rn. 22. 32 Siehe dazu und zu weiteren Vorschlägen der regulatorischen Verschärfung zuletzt Monopolkommission, Sondergutachten 79, Post 2017: Privilegien abbauen, Regulierung effektiv gestalten!, 2017, Ziff. 106 ff. 33 Monopolkommission, Sondergutachten 79, Post 2017: Privilegien abbauen, Regulierung effektiv gestalten!, 2017, K 1. 34 Siehe zu den Zahlen Monopolkommission, Sondergutachten 79, Post 2017: Privilegien abbauen, Regulierung effektiv gestalten!, 2017, K 7.
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Universaldienstleistungen exklusiv von einer Mehrwertsteuerbefreiung, die mit deutlichen Begünstigungseffekten einhergehen dürfte und damit den Wettbewerb verzerrt.35 Im Postsektor ist also eine Gemeinwohlverwirklichung durch und im Wettbewerb auch nach 20 Jahren noch nicht hinreichend realisiert. 3. Zeit für eine effektive Regulierung Die Anpassungsbedürfnisse liegen vor diesem Hintergrund auf der Hand und werden im jüngsten Sondergutachten der Monopolkommission unter dem Titel „Privilegien abbauen, Regulierung effektiv gestalten!“ auf den Punkt gebracht. So ist es dringend geboten, den Regulierungsrahmen letztlich vergleichbar demjenigen des TKG anzupassen und damit zu schärfen sowie die verschiedenen Privilegien der Post – allen voran das Mehrwertsteuerprivileg – abzuschaffen.36 V. Energie – Gemeinwohlverwirklichung im Wettbewerb … auch im Zeitalter der Energiewende? 1. Vergleichbare Regulierungsziele als Ausgangspunkt; effektives Regulierungssystem Auch die Energiewirtschaft wurde durch Liberalisierungsrichtlinien der Europäischen Gemeinschaft dem Wettbewerb geöffnet und auf das Ziel einer Schaffung von Wettbewerb und eine dadurch gewährleistete Universaldienstversorgung ausgerichtet. In der Energieordnung firmiert die Universaldienstvorgabe als Versorgungssicherheit. Ergänzend tritt die Umweltverträglichkeit als besonders wichtiges Gemeinwohlziel der Energiewirtschaft hinzu.37 Dementsprechend weist § 1 Abs. 1 EnWG 1998 die Zieltrias der Preisgünstigkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit auf. Das spätere Hinzutreten der Verbraucherfreundlichkeit als Regulierungszweck normiert kein substantiell zusätzliches Gemeinwohlziel.38 Das weitere Ziel der Effizienz kann – jedenfalls im Sinne einer Kosteneffizienz – durch den Wettbewerb nur auf den vor- und nachgelagerten Märkten erreicht werden. Für die Netze muss es hingegen durch Regulierung gewährleistet werden, da hier ein Infrastrukturwettbewerb aufgrund der natürlichen Monopole ausscheidet. Die Umweltverträg-
35 Monopolkommission, Sondergutachten 79, Post 2017: Privilegien abbauen, Regulierung effektiv gestalten!, 2017, Ziff. 134 ff. 36 Monopolkommission, Sondergutachten 79, Post 2017: Privilegien abbauen, Regulierung effektiv gestalten!, 2017, Ziff. 230 ff. 37 Im EnWG 1935 gab es noch einen Zieldualismus („sicher und billig“). 38 Vgl. Hellermann/Hermes, in: Britz/Hellermann/Hermes (Hrsg.), EnWG, 3. Auflage 2015, § 1 Rn. 32 ff.
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lichkeit wurde offensichtlich als Gemeinwohlziel deshalb besonders betont, da Sorge bestand, dass sie im Wettbewerb in den Hintergrund gedrängt werden könnte.39 Die Etablierung eines wirksamen Regulierungsregimes erfolgte gerade in Deutschland allerdings nur sehr zögerlich und so richtig erst im Rahmen der Umsetzung des Zweiten Energiebinnenmarktpakets der EG aus dem Jahr 2003. Dieses vollzog den Systemwechsel hin zum regulierten Wettbewerb mit dem EnWG 2005 auch in Deutschland. Wichtig waren sodann die verschärften Entflechtungsvorgaben im Dritten Energiebinnenmarktpaket aus dem Jahr 2009.40 Damit war in der deutschen Energiewirtschaft ein in materiell-rechtlicher und institutioneller Hinsicht voll entfaltetes Regulierungsregime verwirklicht. Während es in der Telekommunikations- und Postordnung zumindest in Teilen auch um die Entwicklung von Infrastrukturwettbewerb ging, war in der Energieordnung von vorherein klar, dass es zu einem solchen nicht kommen kann, da insoweit natürliche Monopole vorliegen. Die Netzregulierung hatte daher das Ziel, Wettbewerb auf der vorgelagerten Wertschöpfungsstufe der Erzeugung (und der nachgelagerten Vertriebsstufe) herzustellen und zu wahren, sowie eine Kosteneffizienz und Versorgungssicherheit auch auf Netzebene zu gewährleisten, wie § 1 Abs. 2 EnWG verdeutlicht. 2. Wettbewerbsentwicklung und Gemeinwohlverwirklichung Gemessen an dieser Ausgangszieldefinition ist die Entwicklung einer Gemeinwohlverwirklichung durch Wettbewerb in Deutschland hervorragend gelungen. Gerade durch die sehr weit vorangeschrittene vertikale Desintegration der deutschen Energieversorger hat sich die Erzeugungslandschaft substantiell diversifiziert. Die Monopolkommission kommt in ihrem jüngsten Sondergutachten zu dem Schluss, dass die großen Energieversorger derzeit über keine Marktmacht mehr verfügen.41 Auf Vertriebsebene besteht ohnehin ein lebendiger Wettbewerb. Auch wenn dies für die Erzeugungsebene nur eine Momentaufnahme darstellt und die Abschaltung von Atom- und Braunkohlekraftwerken dieses Bild ändern könnte, ist die Mission der Schaffung von Wettbewerb und einer preisgünstigen und verbraucherfreundlichen Energieversorgung grundsätzlich erfüllt.
39 Siehe dazu Hellermann/Hermes, in: Britz/Hellermann/Hermes (Hrsg.), EnWG, 3. Auflage 2015, § 1 Rn. 3; vgl. auch a.a.O., Rn. 7, mit Hinweisen zur weit gehend parallelen Zieltrias im Unionsrecht (Art. 3 Abs. 1 der Elektrizitätsrichtlinie 2009/72/EG mit dem Ziel eines „wettbewerbsbestimmten, sicheren und unter ökologischen Aspekten nachhaltigen Elektrizitätsmarkts“). 40 Siehe zur Entwicklungsgeschichte Kühling/Rasbach/Busch, Energierecht, 4. Auflage 2018, S. 21 ff. 41 Monopolkommission, Sondergutachten 77, Energie 2017: Gezielt vorangehen, Stückwerk vermeiden, 2017, Ziff. 127 f.
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3. Herausforderung Energiewende – weiterhin Gemeinwohlverwirklichung im Wettbewerb? Schon der Hinweis auf die Abschaltung von Atom- und Braunkohlekraftwerken zeigt jedoch, dass das Kernziel der Energieordnung inzwischen ein anderes ist, nämlich das der Umweltverträglichkeit. Nach der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 beschloss die damalige Bundesregierung die Beschleunigung des Atomausstiegs, der anschließend in einem zügigen Gesetzgebungsverfahren verwirklicht wurde. Zugleich wurde der Ausbau Erneuerbarer Energien massiv vorangetrieben, so dass das insoweit einschlägige EEG inzwischen maßgeblich die Energieordnung prägt. In der Folge sind die Energiepreise trotz fallender Großhandelspreise für den „reinen Strompreis“ für die Endkunden auf ein Rekordniveau angestiegen, da die sogenannte „Energiewende“ erhebliche zusätzliche Kosten durch den Umbau des Energiesystems verursacht. Diese speisen sich nicht nur aus den erheblichen Kosten für die Förderung des Stroms aus Erneuerbaren Energien,42 sondern auch aus den gestiegenen Kosten für den in großem Umfang erforderlichen Ausbau der Übertragungs- und Verteilernetzebene,43 sowie weiteren Faktoren wie den angesichts der Zunahme volatiler Stromangebote gestiegenen Redispatchkosten.44 Umsteuerungen sind im Übrigen auch hinsichtlich der Ausbalancierung zwischen den Zielen der Kosteneffizienz und der Versorgungssicherheit insoweit zu beobachten, als die Entgeltregulierung im Zuge der jüngsten Novellierung der Anreizregulierungsverordnung stärker auf das zweit genannte Ziel ausgerichtet wurde, aus Sorge davor, dass die für die Energiewende erforderlichen Investitionen in die Netze ausbleiben könnten.45 Damit wurde im Zuge der Energiewende nicht nur das Ziel der Preisgünstigkeit zugunsten der Umweltverträglichkeit in den Hintergrund gedrängt, was als politisch gewünschtes Ausstiegsprojekt aus der Atomenergie sehr nachvollziehbar ist. Problematischer erscheint dagegen, dass nicht nur die teils überstürzte Verfolgung der politischen Ziele eine zunehmende Komplexität des Regulierungssystems generiert. Die Konsistenz des Ordnungsrahmens geht zunehmend verloren.46 Zudem wurde 42 So hat sich die EEG-Umlage in den zehn Jahren zwischen 2005 und 2014 verzehnfacht (!), siehe dazu Monopolkommission, Sondergutachten 77, Energie 2017: Gezielt vorangehen, Stückwerk vermeiden, 2017, Abb. 3.1. Ziff. 163. 43 Auf der Übertragungsnetzebene kommt ein zusätzlicher signifikanter Kostenanstieg durch die stärkere Berücksichtigung von Erdverkabelungen hinzu. 44 Siehe zu diesen nur exemplarisch den besonders signifikanten Kostensprung von 2011 bis 2015 mit ebenfalls einer Verzehnfachung (!), Monopolkommission, Sondergutachten 77, Energie 2017: Gezielt vorangehen, Stückwerk vermeiden, 2017, Abb. 3.4. Ziff. 225. Ähnlich dramatisch ist die Entwicklung der Entschädigungszahlungen verursacht durch Einspeisemanagementmaßnahmen, Monopolkommission, ebenda, Abb. 3.5. Ziff. 227. 45 Dazu ausführlich und kritisch Monopolkommission, Sondergutachten 77, Energie 2017: Gezielt vorangehen, Stückwerk vermeiden, 2017, Ziff. 370 ff. 46 Kritisch Monopolkommission, Sondergutachten 77, Energie 2017: Gezielt vorangehen, Stückwerk vermeiden, 2017, K 1.
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allzu leichtfertig auf eine Verfolgung der Gemeinwohlziele – wenigstens – im Wettbewerb verzichtet, wenn beispielsweise lange an einer besonders lobbyismus- und verzerrungsanfälligen politischen Festlegung von Fördersätzen für Erneuerbare Energien festgehalten wurde. Viel zu spät und viel zu zaghaft wurden Wettbewerbselemente durch die erfolgreiche Einführung von Ausschreibungen implementiert.47 Daher ist gerade anlässlich der radikalen Neuausrichtung der Energieordnung im Rahmen der Energiewende auf die Möglichkeiten einer Gemeinwohlverwirklichung im Wettbewerb hinzuweisen und ein konsistenter Ordnungsrahmen bei der Zielverfolgung anzumahnen. VI. Eisenbahn – begrenzte Gemeinwohlverwirklichung bei begrenztem Wettbewerb 1. Nur langsamer Aufbau eines effektiven Regulierungssystems In der Eisenbahnordnung hat sich der Aufbau eines effektiven Regulierungssystems als sehr schwierig erwiesen, zumal die Impulse für eine Liberalisierung und Schaffung von Wettbewerb durch Regulierung von der europäischen Ebene verglichen mit den Steuerungsvorgaben der EU im Telekommunikations- und Energiesektor wesentlich zaghafter waren und sind. Ähnlich wie in der Energieordnung ging es nie um einen Wettbewerb konkurrierender Eisenbahninfrastrukturen, sondern stets um die Verwirklichung eines Wettbewerbs auf der Schiene. Ein Infrastrukturwettbewerb besteht nur als intermodaler Wettbewerb zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern, also insbesondere zwischen dem Individualverkehr und den öffentlichen Verkehrsangeboten zu Luft, zu Wasser und auf der Schiene. Die erste Etappe bei der Schaffung von Wettbewerb auf der Schiene markiert das AEG 1994. In Umsetzung der moderaten Vorgaben der Richtlinie 91/440/EWG enthielt das Gesetz eine schwache buchhalterische Separierung des Eisenbahninfrastrukturbetriebs und des Erbringens von Verkehrsleistungen sowie ein Verbot der Überleitung von Subventionen von einem Bereich zum anderem. Ergänzt wurde dieses durch ein begrenztes Recht für Eisenbahnverkehrsunternehmen auf diskriminierungsfreien Zugang zur Schiene. Zuständige Regulierungsbehörde war noch das Eisenbahn-Bundesamt. Im Dezember 1997 wurden mit der Eisenbahninfrastrukturbenutzungsverordnung (EIBV)48 in Umsetzung der Vorgaben der RL 95/19/EG die bestehenden Vorschriften der Zugangs- und Entgeltregulierung detaillierter ausgestaltet. Das AEG 200549 brachte dann eine strengere Form der Regulierung und eine Aufgabenübertragung an die RegTP, die in diesem Rahmen zur Bundesnetzagentur mutierte. 47 Dazu Monopolkommission, Sondergutachten 77, Energie 2017: Gezielt vorangehen, Stückwerk vermeiden, 2017, Ziff. 180 ff. 48 Verordnung vom 17. 12. 1997, BGBl. I 1997, S. 3153. 49 Gesetz vom 27. 4. 2005, BGBl. I 2005, S. 1138; dazu Kühling/Ernert, NVwZ 2006, 33.
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Den Durchbruch sollte das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich 2016 erzielen, mit dem nicht nur die verschärften unionsrechtlichen Regulierungsvorschriften umgesetzt, sondern auch die Vorgaben aus AEG und EIBV in einem neu geschaffenen Eisenbahnregulierungsgesetz (ERegG) zusammengeführt wurden. Dieses Gesetz sieht eine ganze Reihe von Verbesserungen vor. So wird etwa die Bundesnetzagentur institutionell insbesondere durch die Einführung von Beschlusskammerverfahren im Eisenbahnsektor gestärkt. Materiell-rechtlich werden durchaus Verbesserungen des Regulierungssystems erzielt, das jedoch immer noch dem Modell in der Telekommunikationsordnung hinterherhinkt.50 Dabei ist die Zielsetzung derjenigen in den übrigen Netzwirtschaften vergleichbar, nämlich neben der Schaffung des Wettbewerbs (auf der Schiene), die Wahrung der Verbraucherinteressen und ein sicherer, leistungsfähiger und zuverlässiger Eisenbahnverkehrsbetrieb (§ 3 ERegG). Letzterer umschließt das nicht-ökonomische Ziel der Betriebssicherheit und das ökonomische Ziel der Universaldienstversorgung. Interessant ist dabei, dass in § 1 Abs. 5 AEG 2005 in intermodaler Perspektive noch eine Ausrichtung auf „einen lauteren Wettbewerb der Verkehrsträger“ erfolgte. Später wurde klar das Ziel einer Verkehrsverlagerung auf die Schiene ausgegeben, das sich jetzt in § 3 Nr. 1 ERegG findet („Steigerung des Anteils des schienengebundenen Personen- und Güterverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen“). Damit wird offensichtlich eine auch umweltschutzorientierte Leitvorgabe verfolgt. Denn der Schienenverkehr gilt als umweltfreundlicher im Vergleich zu den alternativen Verkehrsträgern (insbesondere dem Individual- und Flugverkehr). Diese Mutmaßung fußt allerdings nicht auf einer wissenschaftlichen Untersuchung bzw. vollständigen Erfassung aller Umweltbelastungen – etwa auch der lärmbedingten Kosten – geschweige denn sämtlicher externer Effekte.51 2. Schwache Wettbewerbsentwicklung; fragliche Gemeinwohlverwirklichung Auch in der Eisenbahnordnung kann die schwache Wettbewerbsentwicklung angesichts des nur schleppenden Aufbaus eines effektiven Regulierungssystems nicht weiter verwundern. So kommt auch die Monopolkommission in ihrem Sondergutachten 2017 zu dem Ergebnis, dass die DBAG nach wie vor auf allen Eisenbahnverkehrsmärkten marktbeherrschend ist.52 Allerdings hat die zunehmende Vergabe von Eisenbahnverkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr in kompetitiven Ausschreibungen eine signifikante Wettbewerbsbelebung bewirkt. Auch im Schienengüterverkehr ist der Anteil der Wettbewerber immerhin auf 40 % gestiegen. Ernüch50 Siehe die ausführliche und kritische Analyse der Monopolkommission, Sondergutachten 76, Bahn 2017: Wettbewerbspolitische Baustellen, 2017, Ziff. 15 ff. 51 Dazu kritisch Monopolkommission, Sondergutachten 76, Bahn 2017: Wettbewerbspolitische Baustellen, 2017, Ziff. 270 ff. 52 Siehe hierzu und zum Folgenden Monopolkommission, Sondergutachten 76, Bahn 2017: Wettbewerbspolitische Baustellen, 2017, Ziff. 5 ff.
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ternd ist dagegen die Entwicklung im Schienenpersonenfernverkehr, wo die DBAG weiterhin mit mehr als 99 % Marktanteil quasimonopolistischer Anbieter ist. Damit konnte das Gemeinwohlziel des sicheren Verkehrsbetriebs zwar wettbewerbsneutral erreicht werden; die Wettbewerbsentwicklung selbst ist jedoch äußerst heterogen. Im Übrigen konnte auch das offenbar ökologisch motivierte Gemeinwohlziel einer Verkehrsverlagerung auf die Schiene nicht erreicht werden. So stagniert der Marktanteil der Schienenverkehrsunternehmen im sogenannten „modal split“ in den vergangenen knapp zehn Jahren bei 18 % im Güterverkehr und 7 % im Personenverkehr.53 3. Effektives Regulierungssystem und Klarheit mit Blick auf den intermodalen Wettbewerb erforderlich Insoweit muss es künftig also nicht nur um eine Stärkung des intramodalen Wettbewerbs, sondern auch des Schienenverkehrs zugunsten der übrigen Verkehrsträger im intermodalen Wettbewerb gehen, soll das Gemeinwohlziel einer Verkehrsverlagerung auf die Schiene erreicht werden. Die Belebung des intramodalen Wettbewerbs erfordert eine weitere Stärkung der Regulierungsinstrumente im ERegG und eine Erweiterung ihres Anwendungsbereichs.54 Dazu gehört beispielweise eine Verbesserung sowie Ausdehnung der Anreizregulierung auch auf Stationsentgelte und eine Schärfung der Vorgaben für Serviceeinrichtungen im Sinne der Entwicklung strukturierter normativer Vorgaben für den Inhalt deren Nutzungsbedingungen. Hier geht es also nach wie vor um die Schaffung von fairen Wettbewerbsbedingungen im Rahmen einer effektiven Zugangs- und Entgeltregulierung. Grundproblem bleibt im Übrigen, dass die DBAG als vertikal integriertes Unternehmen nach wie vor hohe Missbrauchsanreize hat. Insofern muss, solange keine vertikale Desintegration erfolgt, die Separierungsregulierung etwa durch Vorschriften zur Stärkung der Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers verschärft werden. Bei der angestrebten Ertüchtigung der Eisenbahnen im intermodalen Wettbewerb stellt sich allerdings schon die Frage nach der Berechtigung jenes Gemeinwohlziels der Verkehrsverlagerung. Dieses Ziel ist jedenfalls keineswegs wettbewerbsneutral erreichbar; es geht ja gerade um die Beeinflussung der Wettbewerbssituation. Bevor derartige Ziele gesetzt werden, wäre eine umfassende Analyse des Finanzierungsrahmens im intermodalen Wettbewerb sinnvoll, um zu prüfen, ob und inwieweit tatsächlich unfaire Wettbewerbsbedingungen bestehen. Das erfordert allerdings eine komplexe Bewertung diverser negativer externer Effekte der verschiedenen Verkehrsträger. Letztlich besteht damit in intramodaler Wettbewerbsperspektive in der Eisenbahnordnung nach wie vor kein umfassend effektives Regulierungsregime, während im intermodalen Wettbewerb das Gemeinwohlziel der Verkehrsverlagerung auf die 53
Monopolkommission, Sondergutachten 76, Bahn 2017: Wettbewerbspolitische Baustellen, 2017, Ziff. 252 ff. 54 Zum Folgenden ausführlich Monopolkommission, Sondergutachten 76, Bahn 2017: Wettbewerbspolitische Baustellen, 2017, Ziff. 15 ff.
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Schiene nicht erreicht wurde, aber auch in seiner Berechtigung nicht substantiiert volkswirtschaftlich mit Kostenstudien unterfüttert worden ist.
VII. Vergleich und Fazit Eine möglichst kostengünstige und effiziente Versorgung lässt sich in allen Netzwirtschaften am sinnvollsten durch Wettbewerb erreichen. Das hat sich eindrucksvoll in der bisherigen Regulierungsbilanz der Bundesnetzagentur in den vergangenen zwei Dekaden gezeigt. Dabei wird deutlich, dass die Schaffung von Wettbewerb zum Wohle der Verbraucher ein effektives Regulierungssystem verlangt. Auf dessen Basis kann eine umfassend ausgestattete und unabhängig agierende Bundesnetzagentur sodann wichtige Erfolge bei einer Gemeinwohlverwirklichung durch und im Wettbewerb erzielen, wie es der Bundesnetzagentur insbesondere in der Telekommunikations- und Energieordnung auf der Basis effektiver legislativer Vorgaben gelungen ist. Die schwächer ausgestalteten Regulierungsrahmen im Post- und Eisenbahnsektor haben vergleichbare Erfolge erschwert. Eine ganze Reihe von Gemeinwohlzielen können sodann unproblematisch wettbewerbsneutral, also sowohl ohne als auch im Wettbewerb erreicht werden. Das gilt beispielsweise für das Fernmelde- und Briefgeheimnis in der Telekommunikationsund Post- oder für die Betriebssicherheit in der Eisenbahnordnung. Anspruchsvoll wird die möglichst wettbewerbsneutrale Bewältigung von neu aufgetretenen gesellschaftspolitischen Großaufgaben. Das lässt sich besonders an ambitionierten Zielen der Breitbandversorgung und erst Recht beim Aus- und Umstieg aus der Atomenergie in eine Versorgung mit Erneuerbaren Energien beobachten. Hoch gesteckte Breitbandziele werden im Markt durch die Wettbewerber soweit nicht erbracht, wie die Konsumenten keine hinreichende Zahlungsbereitschaft für die verbesserten Versorgungsangebote erkennen lassen. Negative wettbewerbliche Einflüsse auf bestehende Anbieter können im Rahmen der Zielverfolgung gleichwohl durch kleinteilige Ausschreibungen noch weitgehend vermieden werden. Ausschreibungen ermöglichen damit eine weitgehende Verwirklichung von Gemeinwohlzielen im Wettbewerb. Sie machen die Zielerreichung auch möglichst kostengünstig und stellen sich damit als bester Weg dar. Bei der Energiewende liegen die Dinge anders. Hier ist eine Verdrängung der bestehenden Anbieter geradezu gewünscht; die Atomkraftwerke und teilweise auch die Braunkohlekraftwerke werden im einen Fall aufgrund der Risiken im anderen Fall aufgrund der hohen CO2-Emissionen bewusst aus dem Markt gedrängt, um das Gemeinwohlziel der Umweltverträglichkeit zu erreichen. Die massive Förderung von Erneuerbaren Energien treibt teilweise allerdings auch hocheffiziente und durchaus umweltfreundliche Gaskraftwerke aus dem Markt. Demnach lässt sich hier eine wettbewerbsneutrale Gemeinwohlzielverfolgung nur sehr begrenzt erreichen. Daher geht es eher darum, immerhin einen möglichst fairen Wettbewerb für die verschiedenen Anbieter Erneuerbarer Energien bei möglichst weit reichender Kosteneffizienz zu-
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gunsten der Verbraucher zu eröffnen. Die Durchführung von Ausschreibungen bei der Förderung Erneuerbarer Energien hat die insoweit bestehenden Potenziale eindrucksvoll bewiesen. Insgesamt gilt demnach, dass eine Gemeinwohlverwirklichung gerade durch oder zumindest neutral im Wettbewerb im Zweifel die größten Erfolge verspricht und auch im Zeitalter von Großprojekten wie der Energiewende und dem Übergang in die „Gigabit-Gesellschaft“ weiterhin vorzugswürdig ist. Jeder Verzicht auf wettbewerbliche Elemente unterliegt daher schon nach dem Grundmechanismus des Unionsrechts, versinnbildlicht in Art. 106 Abs. 2 AEUV, mit guten Gründen einem Rechtfertigungsdruck – gerade auch zur bestmöglichen Verwirklichung berechtigter Gemeinwohlinteressen.
Konvergenz oder Divergenz der Regulierung in den Netzwirtschaften – Zur Herausbildung allgemeiner Grundsätze im Recht der Regulierungsverwaltung Von Markus Ludwigs, Würzburg* I. Einführung Das Bedürfnis nach einem übergreifenden Regelungsrahmen für alle Netzsektoren bildet gleichsam die Gretchenfrage des Rechts der Regulierungsverwaltung. Bereits vor über einem Jahrzehnt wurde sie auf dem 66. Deutschen Juristentag in Stuttgart kontrovers debattiert, ohne bislang eine abschließende Antwort gefunden zu haben.1 Weitgehende Einigkeit besteht allein darin, dass sich ein sektorenübergreifendes Normenwerk allenfalls auf allgemeine Grundsätze für die von der Bundesnetzagentur (BNetzA) als Regulierungsbehörde wahrgenommenen Aufgaben erstrecken kann.2 Voraussetzung für deren Identifizierung ist eine kritische Analyse von Konvergenzen und Divergenzen der Regulierung in den einzelnen Netzwirtschaften. Zur rechtswissenschaftlichen Erforschung der Grundlagen des Regulierungsrechts hat Matthias Schmidt-Preuß wie kaum ein Zweiter mit einer Fülle diskussionsprägender Abhandlungen – insbesondere zum Energiesektor – beigetragen. Die Bandbreite der durch ihn behandelten Themen reicht von konzeptionellen Fragen (wie dem Begriff der Regulierung und dem Zusammenspiel von Recht und Ökonomie)3 über die verfassungs- und europarechtlichen Rahmensetzungen4 bis hin zu konkreten * Das Manuskript ist auf dem Stand vom 6. 3. 2018. 1 Grundlegend Masing, in: DJT, Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart, 2006, Bd. I, Gutachten D; s. auch die Referate von Henseler-Unger, Mayen und Pernice, in: DJT, Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart, 2006, Bd. II/1, Referate O 9, O 45 und O 85; ferner Burgi, NJW 2006, 2439; Masing, NJW-Beil. 22/2006, 18; Röhl, JZ 2006, 831; Storr, DVBl. 2006, 1017. 2 Ein entsprechender Beschluss wurde auf dem 66. DJT mit 32 zu 14 Stimmen angenommen. 3 Vgl. insb. Schmidt-Preuß, FS Kühne, 2009, S. 329; s. auch ders., FS R. Schmidt, 2006, S. 547; ders., in: Storr (Hrsg.), Neue Impulse für die Energiewirtschaft, 2012, S. 1 (9 ff.); ders., in: Bien/Ludwigs (Hrsg.), Das europäische Kartell- und Regulierungsrecht der Netzindustrien, 2015, S. 11. 4 Siehe etwa Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. 1/1, 3. Aufl. 2014, Einl. B und C; ders., in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 93; s. auch ders., EuR 2006, 463 (476 ff.); ders., FS Scholz, 2007, S. 903; ders., in: Baur/Pritzsche/Simon (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft, 2006, Kap. 2;
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operativen Beiträgen betreffend Kernelemente der Marktregulierung5 sowie die Organisation der Regulierungsverwaltung,6 das Regulierungsverfahren7 und den Rechtsschutz8. Die nachfolgenden Zeilen haben nicht den Raum, um all diesen facettenreichen Themenkomplexen nachzugehen. Daher soll ein Schwerpunkt gesetzt werden, der für die Dogmatik des Verwaltungsrechts von besonderem Interesse ist und auf ein ebensolches beim Jubilar stoßen mag: Die sektorenübergreifenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Bereichen Verwaltungsorganisation und -verfahren (II.) sowie beim Rechtsschutz (III.). In den Blick genommen werden dabei die vier Netzindustrien Energie, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, mithin das gesamte, durch Vorliegen natürlicher Monopole geprägte Feld der Regulierung I aus dem dreigliedrigen Systematisierungsmodell von Schmidt-Preuß.9 II. Verwaltungsorganisation und Verwaltungsverfahren Was zunächst die Organisation der Regulierungsverwaltung und das Regulierungsverfahren angeht, so ist im Ausgangspunkt auf drei bedeutsame Konvergenzen hinzuweisen, die sich erst jüngst durch das Artikelgesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich vom 29. August 2016 herausgebildet haben.10 Erstens wurde die systemwidrige Aufteilung der Regulierungsaufgaben zwischen BNetzA und Eisenbahnbundesamt (EBA) beendet. In § 4 Abs. 2 S. 2 BEVVG n.F. erfolgt nunmehr eine einheitliche Kompetenzzuweisung an die BNetzA. Die Regulierungsaufsicht obliegt damit in allen Netzsektoren der „Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen“ als selbständiger Bundesoberbe-
ders., FS Jarass, 2015, S. 115; ders., in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2016, Kap. 10 und 14. 5 Siehe z. B. Schmidt-Preuß, FS Bartlsperger, 2006, S. 573 (578, 581 f., 583 ff.); ders., in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, S. 68 (78 ff., 88 ff.); ders., in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Fn. 4), Kap. 96, 106 und 107; ders., et 9/2009, 82; ders., et 12/2009, 74; ders., FS Hufen, 2015, S. 539 (544 ff.). 6 Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. 1/2, 3. Aufl. 2014, §§ 54 f., 59 f.; ders., FS Bartlsperger, 2006, S. 573 (574 ff.). 7 Schmidt-Preuß, FS Hufen, 2015, S. 539 (543 f.). 8 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2015, S. 756 ff., 766 f.; vgl. auch ders., FS W.-R. Schenke, 2011, S. 1167 (1170 f.); ders., FS R. Schmidt, 2006, S. 547 (556 f.). 9 Schmidt-Preuß, FS Kühne, 2009, S. 329 (330), der hiervon die den „systemisch-infrastrukturellen Ordnungsrahmen einer Volkswirtschaft“ adressierende Regulierung II sowie die „jeden staatlichen Eingriff in das Marktgeschehen zur Erreichung von social-goals“ erfassende Regulierung III unterscheidet; zur „systembildenden Funktion“ des gesetzlich nicht (mehr) definierten Regulierungsbegriffs vgl. Burgi, FS Battis, 2014, S. 329; zur Vielgestaltigkeit der Definitionsansätze prägnant Ogus, Regulation, 2004, S. 1: „bewildering variety of meanings“; Ruffert, AöR 124 (1999), 237 (241): „schillernd“. 10 BGBl. I 2016, 2082; näher zum Folgenden Ludwigs, in: Kühling (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts XXII, 2017, S. 37 (41, 55 f.) m.w.N.
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hörde im Geschäftsbereich des BMWi (§ 1 BEGTPG).11 Zweitens etabliert § 77 des neuen Eisenbahnregulierungsgesetzes (ERegG) das bereits seit Längerem geforderte justizähnliche Beschlusskammerverfahren und schafft damit eine im Hinblick auf die Transparenz und Unabhängigkeit der Entscheidungsfindung überfällige Angleichung an die übrigen Netzsektoren.12 Damit zusammenhängend entfällt drittens gemäß § 68 Abs. 4 S. 2 ERegG künftig das Widerspruchsverfahren, so dass auch insoweit eine sektorenübergreifende Parallelität zu verzeichnen ist.13 Ungeachtet dieser aktuellen Rechtsentwicklung in Richtung einer höheren Konvergenz der Netzsektoren verbleibt freilich eine Reihe von Herausforderungen für die Identifizierung weiterer allgemeiner Grundsätze. Kontrovers diskutiert werden insbesondere die Frage einer Ministerialfreiheit der nationalen Regulierungsbehörde (unter 1.) sowie das Verhältnis der Regulierungsaufsicht zur kartellbehördlichen Missbrauchsaufsicht nach §§ 19, 20 und 29 GWB bzw. Art. 102 AEUV (unter 2.) und zur zivilgerichtlichen Billigkeitskontrolle gemäß § 315 BGB (unter 3.). 1. Weisungsunabhängigkeit Zur politischen Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde (sog. Ministerialfreiheit) lässt sich im Hinblick auf die einschlägigen Richtlinienvorgaben – mit Ausnahme des im Kern noch immer auf dem Rechtsstand von 1997 verharrenden Postsektors14 – von einem sektorenübergreifenden Unionsprinzip der Weisungsunabhängigkeit sprechen.15 Seinen Ausdruck findet es für die Telekommunikation in Art. 3 11 Zu der im Rahmen der jüngsten Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD geführten Diskussion um eine Aufspaltung der BNetzA in eine Behörde zur Regulierung von Kommunikations- und Eisenbahnnetzen einerseits und eine Behörde zur Energieregulierung andererseits vgl. Delhaes/Neuerer/Karabasz, Vernunftehe auf Zeit, Handelsblatt v. 30. 1. 2018. Im ausgehandelten Koalitionsvertrag findet sich nurmehr die vage Aussage, dass die Einrichtung einer Digitalagentur geprüft werde, die die Bundesregierung als nachgeordnete Behörde in der Umsetzung von Maßnahmen im Bereich der digitalen Infrastruktur (wozu freilich auch die „Telekommunikations- und Plattformregulierung oder Marktbeobachtung“ gezählt wird) unterstützt. 12 Zustimmend auch Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 76, 2017, Tz. 55; im Vorfeld statt vieler Fehling, in: ders./Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 10 Rn. 67. 13 Vgl. für die Bereiche Telekommunikation und Post: § 137 Abs. 2 TKG (i.V.m. § 44 S. 2 PostG); im Energiesektor ergibt sich der Ausschluss des Vorverfahrens nach §§ 68 ff. VwGO bereits aus der abweichenden Rechtswegzuweisung an die Kartellgerichte (hierzu unter III.1.). 14 RL 1997/67/EG des EP und des Rates v. 15. 12. 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität, ABl. 1998, Nr. L 15/14; zuletzt geändert durch: RL 2008/6/EG des EP und des Rates v. 20. 2. 2008, ABl. 2008, Nr. L 52/3; näher zur weiterhin bestehenden europarechtlichen Zulässigkeit von Weisungen des BMWi gegenüber der BNetzA: Nübel, in: Groebel/Katzschmann/Koenig/Lemberg (Hrsg.), Postrecht, 2014, Kap. E Rn. 21 ff., 24; zum Reformbedarf im Postsektor zuletzt allgemein: Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 79, 2017, Tz. 231. 15 Eingehend zum Folgenden Ludwigs, in: Säcker/Schmidt-Preuß (Fn. 5), S. 251 (253 ff.); s. auch bereits ders., Die Verwaltung 44 (2011), 41 (42 ff.).
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Abs. 3a UAbs. 1 S. 1 der Rahmen-RL 2002/21/EG.16 Dort werden die nationalen Regulierungsbehörden verpflichtet, „im Zusammenhang mit der laufenden Erfüllung der ihnen (…) übertragenen Aufgaben weder Weisungen einer anderen Stelle ein[zuholen] noch (…) [entgegenzu]nehmen.“ Zugleich wird zwar betont, dass die Weisungsunabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden „einer Aufsicht im Einklang mit dem nationalen Verfassungsrecht nicht entgegen[steht].“ (UAbs. 1 S. 2). Im Lichte des strikten Ausschlusses „vo[n] äußerer Einflussnahme und politischem Druck“17 wird hiermit aber nur die Möglichkeit einer gerichtlichen oder parlamentarischen Kontrolle klargestellt.18 Weiteren Beleg für das Verbot sowohl einer Rechts- als auch einer Fachaufsicht liefert Art. 3 Abs. 3a UAbs. 1 S. 3, wonach „[a]usschließlich“ parteiunabhängige Beschwerdestellen dazu befugt sind, Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden auszusetzen oder aufzuheben.19 Im Energiesektor finden sich Parallelvorschriften in Art. 35 Abs. 4 S. 2 lit. b ii) Strom-RL 2009/72/EG20 und Art. 39 Abs. 4 S. 2 lit. b ii) Gas-RL 2009/73/EG.21 Danach holt das Personal und Management der Regulierer bei Wahrnehmung der Regulierungsaufgaben „keine direkten Weisungen von Regierungsstellen oder anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen [ein] oder [nimmt diese entgegen]“. Im Gleichlauf zur Telekommunikation steht dies zwar „weder einer gerichtlichen Überprüfung, noch einer parlamentarischen Kontrolle nach dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten entgegen“.22 Ein ministerielles Weisungsrecht ist mit den Richtlinienvorgaben indes wiederum nicht in Einklang zu bringen.23 Die einschlägige Regelung im Eisenbahnsektor findet sich schließlich in Art. 55 Abs. 3 UAbs. 4 der Eisen16 RL 2002/21/EG des EP und des Rates v. 7. 3. 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmen-RL), ABl. 2002, Nr. L 108/33; zuletzt geändert durch RL 2009/140/EG des EP und des Rates v. 25. 11. 2009, ABl. 2009, Nr. 337/37. 17 ErwGr. Nr. 13 S. 2 der Änderungs-RL 2009/140/EG. 18 Dechent, NVwZ 2015, 767 (770); Eifert, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 2012, § 23 Rn. 136; a.A. Kühling, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR, Bd. 5, 2013, § 4 Rn. 56: nationale Reserveklausel; ebenso Lee, Demokratische Legitimation der Vollzugsstruktur der sektorspezifischen Regulierungsverwaltung, 2017, S. 163 ff., 216 f. 19 Wie hier Dechent, NVwZ 2015, 767 (770); für eine fortdauernde Zulässigkeit der Rechtsaufsicht dagegen Ruffert, International Journal of Constitutional Law 11 (2013), 925 (935); s. auch Gundel, EWS 2017, 301 (306); s. auch EuGH, Rs. C-560/15, ECLI:EU:C:2017:593 Rn. 49 ff. – Europa Way and Persidera. 20 RL 2009/72/EG des EP und des Rates v. 13. 7. 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 2003/54/EG, ABl. 2009, Nr. L 211/ 55. 21 RL 2009/73/EG des EP und des Rates v. 13. 7. 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 2003/55/EG, ABl. 2009, Nr. L 211/94. 22 ErwGr. Nr. 34 S. 2 RL 2009/72/EG bzw. ErwGr. Nr. 30 S. 2 RL 2009/73/EG (Hervorhebungen v. Verf.). 23 So auch Dechent, NVwZ 2015, 767 (770); Hermes, in: Britz/Hellermann/Hermes (Hrsg.), EnWG, 3. Aufl. 2015, § 61 Rn. 12 f.; Lee (Fn. 18), S. 217.
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bahn-RL 2012/34/EU.24 Auch hier wird es dem Personal explizit untersagt, bei der Wahrnehmung der Aufgaben der Regulierungsstelle Weisungen von staatlichen, öffentlichen oder privaten Stellen einzuholen oder entgegenzunehmen. Die Regelung wird durch nichts eingeschränkt und ist daher parallel zu den einschlägigen Bestimmungen im Energie- und TK-Sektor auszulegen.25 Angesichts dieses (weitgehend) konvergenten Befundes überrascht es, dass die unionsrechtlichen Vorgaben in den einzelnen Netzwirtschaften höchst disparat in nationales Recht umgesetzt wurden. In den Sektoren Energie und Telekommunikation hat der Bundesgesetzgeber die ein ministerielles Weisungsrecht voraussetzenden Regelungen in § 117 TKG und § 61 EnWG – vom Jubilar für letztere Vorschrift gebilligt26 – sogar gänzlich unangetastet gelassen. In bemerkenswertem Kontrast hierzu steht die korrekte Umsetzung auf Ebene der Länder für die im Energiesektor nach § 54 Abs. 1 und 2 EnWG eingerichteten Landesregulierungsbehörden.27 Auf Bundesebene ist ein gestiegenes europarechtliches Problembewusstsein dagegen erst seit dem Artikelgesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich zu verzeichnen. Die Bundesregierung wies hier bereits im Gesetzentwurf vom 4. Mai 2016 explizit auf die Spannungslage zwischen der unionsrechtlich determinierten Weisungsfreiheit und den auch von Teilen des Schrifttums28 in Stellung gebrachten Anforderungen aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes hin.29 Da „[b]eide Positionen (…) nicht zugleich in vollem Umfang gewahrt werden [können]“, wurde ein Mittelweg vorgeschlagen. Dem entsprechend erfolgt in § 4 Abs. 3 und 3a BEVVG n.F. nunmehr eine Differenzierung zwischen Fach- und Rechtsaufsicht. Während fachaufsichtliche Weisungen zur zweckmäßigen Durchsetzung des Eisenbahnregulierungsgesetzes (ERegG) künftig unzulässig sind, bleibt eine Rechtsaufsicht des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) im Grundsatz möglich. Zugleich wird der BNetzA in § 4 Abs. 3a BEVVG die Möglichkeit eingeräumt, rechtsaufsichtliche Weisungen gerichtlich überprüfen zu lassen. Der innovative Ansatz hat sowohl Zustimmung als auch Kritik erfahren. Befürwortende Stim24
RL 2012/34/EU des EP und des Rates v. 21. 11. 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums, ABl. 2012, Nr. L 343/32; zuletzt geändert durch Beschl. (EU) 2017/2075 der Kommission v. 4. 9. 2017, ABl. 2017, Nr. L 295/69. 25 Ludwigs, NVwZ 2016, 1665 (1670); ausf. v. Lewinski, in: Ronellenfitsch/Hörster/Eschweiler (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts XX, 2015, S. 9 (55 ff.). 26 Schmidt-Preuß, in: Säcker (Fn. 6), § 59 Rn. 16. 27 Vgl. exemplarisch für die Regulierungskammer des Freistaates Bayern: Art. 1b Abs. 2 S. 2 Nr. 1 ZustWiG (Bay. GVBl. 2012, 653); umfassende Nachweise für sieben Länder bei Gundel, EWS 2017, 301 (305 mit Fn. 66); s. auch schon Bauer/Seckelmann, DÖV 2014, 951 (957); zum Phänomen der Organleihe, bei dem die BNetzA als Landesregulierungsbehörde handelt vgl. BGHZ 176, 256 Rn. 6 ff. 28 Dezidiert Gärditz, AöR 135 (2010), 251 (275 ff., 285); s. auch Durner, VVDStRL 70 (2011), 398 (436 ff.); Kahl, FS Spellenberg, 2010, S. 697 (711 f.); gegen eine Verankerung des Hierarchieprinzips der Verwaltung in Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG aber Gundel, EWS 2017, 301 (304 f.); Ruffert, FS Scheuing, 2011, S. 399 (413 f.). 29 BT-Drs. 18/8334, S. 82, dort auch das wörtliche Zitat im folgenden Satz.
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men sehen hierin ein Modell auch für die anderen Netzsektoren.30 Dabei bleibt allerdings offen, ob die Konvergenz bereits als geltendes Recht aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts resultiert oder ein Tätigwerden des nationalen Gesetzgebers in TKG und EnWG erfordert. In kritischer Perspektive ist zudem darauf hinzuweisen, dass der neuartige Rechtsschutzmechanismus nichts am prinzipiellen Fortbestand der durch die Eisenbahn-RL 2012/34/EU gerade ausgeschlossenen Rechtsaufsicht ändert. Die nach nationalem Eisenbahnregulierungsrecht bestehende Obliegenheit der BNetzA zur aktiven Verteidigung ihrer Unabhängigkeit ist hiermit schwerlich vereinbar.31 Unionsrechtlich gefordert ist vielmehr in allen Netzsektoren (mit Ausnahme des Postbereichs) der vollständige Ausschluss jeder Form der Fach- oder Rechtsaufsicht. Dieses Ergebnis lässt sich auch schon heute im Wege einer objektiven unmittelbaren Wirkung der inhaltlich bestimmten und unbedingten Richtlinienvorgaben herleiten.32 Die vordergründige Divergenz der einfachgesetzlichen Vorgaben in TKG, EnWG und BEVVG wandelt sich vor diesem Hintergrund in eine unionsrechtlich begründete Konvergenz. Dessen ungeachtet wäre ein Tätigwerden des Gesetzgebers sowohl aus Gründen der Rechtssicherheit als auch im Hinblick auf das nationale Demokratieprinzip gefordert. Um Letzteres zu gewährleisten, erschiene die Etablierung eines Bundestagsausschusses, dem eine begleitende Kontrolle (z. B. durch Einholung von Begründungen, Stellungnahmen, Testaten oder sonstigen Auskünften) übertragen wird, vorzugswürdig.33 Im Einklang mit den verfassungs- und europarechtlichen Anforderungen würde dem Parlament hiermit die sektorenübergreifende Möglichkeit eröffnet, Rechenschaft von der BNetzA einzufordern. 2. Kartellbehördliche Missbrauchsaufsicht Zu den im Schrifttum meistdiskutierten sektorenübergreifenden Fragen zählt das Verhältnis von Regulierungs- und Kartellaufsicht.34 Eine weitgehende Klärung der 30
Gundel, EWS 2017, 301 (306). In diese Richtung Ludwigs, NVwZ 2016, 1665 (1670). 32 Hierzu bereits Ludwigs, RdE 2013, 297 (301); vgl. aus der Judikatur grundlegend EuGH, Rs. C-431/92, ECLI:EU:C:1995:260 Rn. 37 ff. – Großkrotzenburg. 33 Näher Ludwigs, Die Verwaltung 44 (2011), 41 (52 ff.), unter Betonung des Grundsatzes der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes; ähnlich Kersten, DVBl. 2011, 585 (590 f.); s. auch Franzius, DÖV 2013, 714 (716); v. Lewinski, in: Ronellenfitsch/Hörster/Eschweiler (Fn. 25), S. 48, der sowohl für ein Abberufungs-, Zitier- und Interpellationsrecht des Parlaments als auch für die Etablierung eines eigenen Ausschusses für Regulierungsangelegenheiten votiert; kritisch dagegen Züll, Regulierung im politischen Gemeinwesen, 2014, S. 82 ff. m.w.N. 34 Siehe aus dem Schrifttum insb. Kühne, FS Immenga, 2004, S. 243; Ludwigs, WuW 2008, 534; Petersen, Die Verwaltung 48 (2015), 29; Säcker, EnWZ 2015, 531 (535 f.); C. Säcker, Der Einfluss der sektorspezifischen Regulierung auf die Anwendung des deutschen und gemeinschaftlichen Kartellrechts, 2006, S. 10 ff., 236 ff., 254 ff., 275 ff.; Schmidt-Volkmar, Das Verhältnis von kartellrechtlicher Missbrauchsaufsicht und Netzregulierung, 2010, S. 62 ff., 118 ff., 145 ff.; Schreiber, Zusammenspiel der Regulierungsinstrumente in den Netzwirtschaften Telekommunikation, Energie und Eisenbahnen, 2009, S. 95 ff., 121 ff.; für 31
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Problematik konnte bislang allein im Energiesektor erreicht werden. Dort zielt der 2005 etablierte § 111 EnWG darauf ab, die Regulierung des Netzbetriebs der Kartellaufsicht zu entziehen und ausschließlich den Regulierungsbehörden zuzuweisen. Die hieraus resultierende Einzigkeit der regulierungsbehördlichen Zuständigkeit betrifft mit den Bestimmungen des Teils 3 das „Herzstück“ der Energieregulierung, respektive die Aufgaben der Netzbetreiber (§§ 11 – 16a EnWG), den Netzanschluss (§§ 17 – 19a EnWG) sowie den Netzzugang samt Netzentgelten (§§ 20 – 28a). Eine Anwendung der §§ 19, 20 und 29 GWB ist auf diesen zentralen Feldern explizit ausgeschlossen. Im Kontrast zur trennscharfen Systematik des § 111 EnWG beschränken sich die Bestimmungen der drei anderen Sektoren auf vage Unberührtheitsklauseln. Was zunächst den Bereich der Telekommunikation angeht, so ist § 2 Abs. 4 S. 1 TKG nur vordergründig am energierechtlichen Vorbild ausgerichtet. Zwar wird parallel zu § 111 Abs. 1 EnWG „klargestellt“, dass die GWB-Vorschriften nur Anwendung finden, „soweit nicht durch dieses Gesetz ausdrücklich abschließende Regelungen getroffen werden (…)“. Im Weiteren fehlt es aber an einer den Vorbehalt ausfüllenden Norm nach dem Muster von § 111 Abs. 2 EnWG. Vielmehr weist das TKG aktuell keine einzige Bestimmung explizit als „abschließend“ aus. Bei strikter Wortlautauslegung wäre der Soweit-Satz in § 2 Abs. 4 S. 1 TKG daher sinnlos. Kaum hilfreicher ist auch § 2 Abs. 3 PostG, der sich für den Postbereich mit der denkbar vagen Aussage begnügt, das „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen bleib[e] unberührt“. Im Eisenbahnsektor schließlich wurde die Gelegenheit zur Schaffung von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Rahmen der jüngsten Reform des Eisenbahnrechts vertan. Noch im gescheiterten Gesetzentwurf für ein Eisenbahnregulierungsgesetz aus der 17. Legislaturperiode hatte die Bundesregierung eine trennschärfere Regelung vorgeschlagen.35 Nach § 2 Abs. 2 ERegG-E sollte eine Anwendung der §§ 19 und 20 GWB im Bereich der eisenbahnrechtlichen Entgeltregulierung ausgeschlossen werden. Dieser Ansatz fand in der 18. Legislaturperiode im Rahmen der Diskussion um das Artikelgesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich jedoch keinen Widerhall. Bereits der neuerliche Gesetzentwurf der Bundesregierung verwies auf eine bloße Fortschreibung der überkommenen Rechtslage.36 Dementsprechend begnügt sich auch der letztlich verabschiedete § 9 Abs. 3 S. 1 BEVVG mit einer Übernahme des interpretationsbedürftigen Satzes aus § 14b Abs. 2 S. 1 AEG a.F., wonach „[d]ie Aufgaben und Zuständigkeiten der Kartellbehörden nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (…) unberührt [bleiben]“.
eine aktuelle sektorenübergreifende Analyse vgl. zuletzt Sennekamp, Der Diskurs um die Abgrenzung von Kartell- und Regulierungsrecht, 2016, S. 19 ff., 47 ff., 55 ff., 72 ff., die im Übrigen (auf S. 188) mit Recht darauf hinweist, dass es in der Praxis selten zu Problemen kommt. 35 Vgl. BR-Drs. 559/12, S. 121 bzw. BT-Drs. 17/12726, S. 63. 36 Vgl. BR-Drs. 22/16, S. 392 bzw. BT-Drs. 18/8334, S. 266.
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Hat der Gesetzgeber damit in den Bereichen Telekommunikation, Post und Eisenbahnen auf die Wahrnehmung seines Steuerungsmandats verzichtet, bedarf es einer Auflösung der Abgrenzungsfrage nach klassischen Auslegungsregeln. Insoweit erscheint mit Blick auf § 2 Abs. 4 S. 1 TKG maßgeblich, was unter „abschließende[n] Regelungen“ zu verstehen ist, die durch das TKG „ausdrücklich“ getroffen sein müssen, damit die §§ 19, 20 GWB verdrängt werden. In methodischer Hinsicht ist dabei zu bedenken, dass Gesetze nach Möglichkeit so auszulegen sind, dass sie nicht sinnentleert werden. Dahinter steht die Annahme, dass der Gesetzgeber weder sinnlose noch unanwendbare Normen schaffen will.37 Im Übrigen vermag es aufgrund der lex specialis-Regel nicht zu überzeugen, neben den sektorspezifischen, wettbewerbsorientierten Verhaltenskontrollen beim Netzbetrieb zusätzlich die wenigstens teilkongruenten §§ 19 und 20 GWB durch das Bundeskartellamt (BKartA) anzuwenden.38 Hierfür streitet nicht zuletzt die rechtsstaatliche Maxime, wonach die Zuständigkeit zur verbindlichen Regelung einer Frage in einem System nur einmal vorkommen darf.39 Entgegen der strikten Parallelitätsthese40 ist es daher vorzugswürdig, das Merkmal „ausdrücklich“ in § 2 Abs. 4 S. 1 TKG im Sinne von „klar“ und „eindeutig“ bzw. „zweifelsfrei“ zu interpretieren.41 Auf dieser Grundlage ergibt sich dann ein partieller Vorrang des sektorspezifischen Rechts für den Bereich des Netzbetriebs. Hiervon umfasst sind jedenfalls die Vorschriften über die Zugangs- und Entgeltregulierung. Für die Sektoren Post und Eisenbahnen kann bei der Auslegung von § 2 Abs. 3 PostG bzw. § 9 Abs. 3 S. 1 BEVVG nach Maßgabe der vorstehenden Grundsätze nichts anderes gelten. Ungeachtet der somit bereits nach geltender Rechtslage bestehenden Konvergenz ist freilich aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit eine präzise Abgrenzungsregel zu fordern. Diese sollte nach dem Vorbild der konkreten Aufzählung abschließender Regelungen in § 111 Abs. 2 EnWG konstruiert werden. Von vornherein der Disposition des nationalen Gesetzgebers entzogen ist dagegen in allen Netzsektoren das Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV. Auch seine Anwendung kann allerdings nach Maßgabe der vom EuGH entwickelten Grundsätze einer sog. „State Action Defense“42 kritisch zu hinterfragen sein.43 Unstreitig auch in den Netzwirt37
Prägnant BAG, NZA 2009, 361 (364). Säcker, in: ders. (Hrsg.), TKG, 3. Aufl. 2013, § 2 Rn. 26; Cornils, in: Geppert/Schütz (Hrsg.), TKG, 4. Aufl. 2013, § 2 Rn. 98. 39 BVerwGE 74, 315 (325 f.); s. auch BVerfG, NVwZ 2008, 183 (186); aus der Lit. z. B. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 293 f.; s. auch Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat, 2016, S. 62 f.; C. Säcker (Fn. 34), S. 106 f.; grundlegend Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 108 ff.: „Einzigkeit der Zuständigkeit“; kritisch Oebbecke, FS Stree und Wessels, 1993, S. 1119 (1129); s. auch Petersen, Die Verwaltung 48 (2015), 29 (30, 35 ff.): Parallelzuständigkeit als „funktionales Desiderat“. 40 Dafür etwa Attendorn, MMR 2005, 543 (544); Petersen, Die Verwaltung 48 (2015), 29 (31 ff., 35 ff., 43 ff.); Topel, ZWeR 2006, 27 (46 f.). 41 Säcker, in: ders. (Fn. 38), § 2 Rn. 28. 42 Grundlegend EuGH, verb. Rs. C-359/95P und C-379/95P, ECLI:EU:C:1997:531 Rn. 33 f. – Ladbroke Racing Ltd; zuletzt EuGH, Rs. C- 52/09, ECLI:EU:C:2011:83 – Telia38
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schaften anwendbar sind schließlich die beiden anderen Säulen des Kartellrechts, das Kartellverbot und die Fusionskontrolle. De lege ferenda könnten Parallelzuständigkeiten vermieden werden, indem die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV im Rahmen von Art. 35 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 1/200344 für die regulierungsrechtlichen Fallgestaltungen ebenfalls der BNetzA zugewiesen wird.45 3. Zivilgerichtliche Billigkeitskontrolle Einen hoch umstrittenen Problemkreis an der Schnittstelle von Organisationsrecht und Rechtsschutz bildet schließlich die Anwendung von § 315 BGB auf Infrastrukturnutzungsentgelte. Hiermit wird die sektorenübergreifend bedeutsame Frage aufgeworfen, ob neben die Aufsicht durch die Regulierungsbehörde (mit nachgeschaltetem Rechtsschutz) ein zweiter Überprüfungsweg zu den allgemeinen Zivilgerichten tritt. Für die Bereiche Telekommunikation und Post ist anerkannt, dass eine zivilgerichtliche Billigkeitskontrolle der regulierungsbehördlich genehmigten Vorleistungsentgelte aufgrund des fehlenden privatautonomen Spielraums der Netzbetreiber a priori ausscheiden muss.46 Demgegenüber plädierte der BGH bislang sowohl im Energie- als auch im Eisenbahnsektor dezidiert für eine neben die regulieSonera, wonach Art. 102 AEUV keine Anwendung findet, wenn „den Unternehmen ein wettbewerbswidriges Verhalten durch nationale Rechtsvorschriften vorgeschrieben [wird] oder diese einen rechtlichen Rahmen [bilden], der jede Möglichkeit für ein Wettbewerbsverhalten der Unternehmen ausschließt“; näher Kling, Die Rechtskontrolle von Netzentgelten im Energiesektor, 2013, S. 57 ff.; zu den Wurzeln im US-amerikanischen Antitrust-Recht: Säcker, AöR 130 (2005), 180 (213 ff.); s. auch Ludwigs, WuW 2008, 534 (540 f.), wo zudem noch auf eine mögliche abschließende Konkretisierung des primärrechtlichen Missbrauchsverbots im sektorspezifischen Sekundärrecht verwiesen wird. 43 Zu denken ist insoweit vor allem an die den wettbewerblichen Bewegungsspielraum des regulierten Unternehmens verengenden Fixpreisgenehmigungen nach § 37 TKG, § 23 PostG bzw. § 33 Abs. 2 ERegG; zur Problematik auch Cornils, in: Geppert/Schütz (Fn. 38), § 2 Rn. 106. 44 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. 12. 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003, Nr. L 1/1. 45 Ebenso Kersten, VVDStRL 69 (2009), 288 (328 mit Fn. 170); Kühne, FS Immenga, 2004, 243 (259); Mayen (Fn. 1), O 54; a.A. Gärditz, EWS 2005, 490 (497). 46 Für den TK-Sektor: Ludwigs, Zivilgerichtliche Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB und europäisches Eisenbahnregulierungsrecht, 2014, S. 25 f., unter Rekurs auf den Fixpreischarakter der Entgeltgenehmigung (§ 37 Abs. 1 TKG) und ihre privatrechtsgestaltende Wirkung (Abs. 2); s. auch BGH, NJW 2007, 3344 (3345); zur Paralleljudikatur im Postsektor (vgl. hier § 23 Abs. 1 und 2 PostG): BGH, NVwZ-RR 2008, 154 Rn. 31 ff. Zum – praktisch weniger relevanten – Fall einer bloßen ex-post-Regulierung der Vorleistungsentgelte nach § 38 TKG: Ludwigs, a.a.O., S. 25 mit Fn. 53; auch insoweit dürfte nach Maßgabe der nachstehenden Grundsätze bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 315 BGB im Lichte von Art. 3 Abs. 1 Rahmen-RL 2002/21/EG eine zivilgerichtliche Billigkeitskontrolle ausgeschlossen sein. Im Postsektor könnte dagegen für die ex-post-Regulierung der Zugangsentgelte nach § 25 PostG im Lichte von Art. 22 Abs. 1 Postdienste-RL 97/67/EG („eine oder mehrere nationale Regulierungsbehörden“) etwas anderes gelten.
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rungsbehördliche Aufsicht tretende zivilgerichtliche Billigkeitskontrolle.47 Eine substantielle Auseinandersetzung mit der Unionsrechtskonformität einer solchen parallelen Anwendung von § 315 Abs. 3 BGB erfolgte indes nicht.48 Für den Eisenbahnsektor ist der EuGH nunmehr auf Vorlage des LG Berlin49 mit Urteil vom 9. November 2017 in der Rs. CTL Logistics zu dem Befund gelangt, dass die Eisenbahnzugangs-RL 2001/14/EG50 einer zivilgerichtlichen Billigkeitskontrolle der Wegeentgelte im Eisenbahnverkehr entgegensteht.51 Zur Begründung stützt sich der Gerichtshof einerseits in institutioneller Hinsicht auf eine Verletzung der Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers, die ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsstelle sowie deren Aufsichtsmonopol.52 Andererseits werden materielle Einwände geltend gemacht, die insbesondere das eisenbahnrechtliche Diskriminierungsverbot aus Art. 4 Abs. 5 Eisenbahnzugangs-RL 2001/14/EG (Art. 29 Abs. 3 der neuen Eisenbahn-RL 2012/34/EU) sowie die Maßstabsexklusivität des eisenbahnrechtlichen Entgeltsystems adressieren. Die Entscheidung ist auch auf Nutzungsentgelte für den Zugang zu Serviceeinrichtungen übertragbar.53 Folgerichtig hat der BGH sein hierzu anhängiges Vorabentscheidungsersuchen zwischenzeitlich zurückgenommen.54 Auf einfachgesetzlicher Ebene hatte der nationale Gesetzgeber pro futuro bereits im Rahmen des am 2. September 2016 in Kraft getretenen ERegG für weitgehende Rechtsklarheit gesorgt.55 § 45 Abs. 2 S. 3 ERegG begründet im Hinblick auf die genehmigten Entgelte der Schienenwegebetreiber für das Erbringen des Mindestzugangspakets (Anlage 2 Nr. 1 zum ERegG) eine nicht widerlegliche Fikti47 Zum Eisenbahnsektor: BGH, NVwZ 2012, 189 Rn. 11 ff.; zustimmend Ostendorf, NVwZ 2012, 192; kritisch Otte, LMK 2012, 327729; für den Energiebereich: BGH, NJW 2012, 3092 Rn. 14 ff.; BGH, BeckRS 2016, 06673 Rn. 4 ff.; hierzu Schmidt-Preuß, in: Bien/ Ludwigs (Fn. 3), S. 35; eingehend Baur, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Fn. 4), Kap. 117 Rn. 98 ff. m.w.N. 48 Erst nachdem die Zurückweisung von Nichtzulassungsbeschwerden gegen mehrere obergerichtliche Urteile vom BVerfG als Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) gewertet wurde (z. B. NVwZ 2016, 378), legte der BGH die Frage der Unionsrechtskonformität dem EuGH vor (N&R 2016, 246). 49 LG Berlin, N&R 2016, 53. 50 RL 2001/14/EG des EP und des Rates v. 26. 2. 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur, ABl. 2001, Nr. L 75/29; aufgehoben durch die RL 2012/34/EU (Fn. 24). 51 EuGH, Rs. C-489/15, ECLI:EU:C:2017:834; hierzu Bremer/Scheffczyk, NZKart 2018, 121; Gerstner, EuZW 2018, 74; Ludwigs, N&R 2018, 55; Neun/Schlichting, IWRZ 2018, 32; Staebe, EuZW 2018, 118; anders noch GA Mengozzi, SchlA v. 24. 11. 2016, Rs. C-489/15, ECLI:EU:C:2016:901. 52 Vgl. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 4), Art. 30 Abs.1 S.1 (Art. 55 Abs.1 S.1) sowie Art. 30 Abs. 5 UAbs. 2 der RL 2001/14/EG (Art. 56 Abs. 9 UAbs. 2 der RL 2012/ 34/EU). 53 Ludwigs, N&R 2018, 55 (57). 54 Nachweis in Fn. 48; zunächst anhängig unter Rs. C-344/16; s. zur Aufgabe des Vorabentscheidungsersuchens den Beschl. des Präsidenten des Gerichtshofs v. 23. 1. 2018, ECLI:EU:C:2018:116. 55 Kritisch zuletzt Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 76, 2017, Tz. 54.
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on der Billigkeit im Sinne des § 315 BGB. Gleiches gilt gemäß § 33 Abs. 2 S. 3 ERegG für die genehmigten Entgelte der Betreiber der Schienenwege, die nach § 2 ERegG von den Vorschriften zur Entgeltbildung für Schienenwege befreit sind, sowie für die genehmigten Entgelte der Betreiber von Personenbahnhöfen. Im Lichte des EuGH-Urteils ist nun weitergehend anzunehmen, dass auch im Übrigen (d. h. bei anderen Serviceeinrichtungen als Personenbahnhöfen) kein Raum für § 315 BGB verbleibt, so dass ein Gegenschluss zu den §§ 33 Abs. 2 S. 3, 45 Abs. 2 S. 3 ERegG ausscheidet.56 Noch am Anfang steht die nur ganz vereinzelt geführte Diskussion der Frage einer Übertragbarkeit der Entscheidung des Gerichtshofs auf den Energiesektor. Nach ständiger BGH-Judikatur unterliegen die gemäß § 23a EnWG genehmigten Netznutzungsentgelte einer Billigkeitskontrolle, wobei die Genehmigung ein „gewichtiges Indiz“ für die Billigkeit und Angemessenheit im Rahmen von § 315 Abs. 3 BGB bilden soll.57 Diese Rechtsprechungslinie wird durch die Randnummern 84 bis 87 des CTL Logistics-Urteils grundlegend infrage gestellt.58 Dort weist der EuGH darauf hin, dass gegen die ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsstelle nach Art. 30 RL 2001/14/EG (Art. 55 Eisenbahn-RL 2012/34/EU) verstoßen wird, wenn die nationalen Zivilgerichte bei der Beurteilung der Berechnungsmodalitäten und der Höhe der Entgelte im Rahmen der Billigkeitskontrolle die Vorschriften der sektorspezifischen Bereichsregelung anwenden. Der vergleichende Blick auf den Energiesektor zeigt nun ein Zweifaches: Zum einen ist auch dort in Art. 35 Abs. 1 der Strom-RL 2009/72/EG und Art. 39 Abs. 1 der Gas-RL 2009/73/EG nur „eine einzige nationale Regulierungsbehörde“ vorgesehen. Zum anderen verdeutlicht eine Analyse der überkommenen BGH-Judikatur zu § 315 BGB, dass die Vorschriften der Bereichsregelung hier explizit zur Konkretisierung des Maßstabs billigen Ermessens herangezogen werden.59 Die Zivilgerichte handeln insoweit mithin als eine Art zweite Regulierungsstelle.60 Bei konsequenter Übertragung der CTL-Logistics-Entscheidung erweist sich die vom BGH praktizierte Billigkeitskontrolle der Netzzugangsentgelte nach § 315 Abs. 3 BGB damit auch im Energiesektor als unionsrechtswidrig. 56
Darauf hinweisend bereits Ludwigs, NVwZ 2016, 1665 (1668 f.). BGH, NJW 2012, 3092 Rn. 36; BGH, BeckRS 2016, 06673 Rn. 6; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Indizwirkung vgl. BVerfG, NJW 2017, 3507 Rn. 27 (näher Grüneberg, RdE 2018, 1; König, N&R 2018, 47; Ludwigs, FS Büdenbender, 2018 [i. E.]); Paralleles dürfte nach der BGH-Logik – nicht zuletzt im Lichte von § 30 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 EnWG – seit Inkrafttreten der Anreizregulierung am 1. 1. 2009 auch für die Festlegung der Erlösobergrenzen (§ 4 ARegV) gelten (Kling [Fn. 42], S. 126 f.; s. aber auch Büdenbender, EWiR 2013, 3 (4), mit treffendem Hinweis auf die abgeschwächte Indizwirkung der regulierungsbehördlich festgelegten Gesamterlösobergrenze. 58 Zum Folgenden bereits Ludwigs, N&R 2018, 55 (58 f.), die Frage aufwerfend auch König, N&R 2018, 47 (50); Neun/Schlichting, IWRZ 2018, 32 (33); Staebe, EuZW 2018, 118 (122). 59 BGH, NJW 2012, 3092 Rn. 34; BGH, BeckRS 2016, 06673 Rn. 5. 60 Ludwigs, EnWZ 2013, 483 (487 f.); ders., N&R 2018, 55 (58 f.). 57
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4. Zwischenfazit Als erstes Zwischenfazit ist festzuhalten, dass sich im Hinblick auf die Organisation der Regulierungsverwaltung und das Regulierungsverfahren stilbildende Gemeinsamkeiten in den Netzsektoren feststellen lassen. Diese finden einen besonders prägnanten Ausdruck im Unionsprinzip der Weisungsunabhängigkeit der Regulierungsbehörde sowie in der – partiell ebenfalls unionsrechtlich veranlassten – organisationsrechtlichen Einzigkeit der Zuständigkeit der nationalen Regulierungsbehörde im Verhältnis zur kartellbehördlichen Missbrauchsaufsicht und zur zivilgerichtlichen Billigkeitskontrolle. III. Rechtsschutz Richtet man den Blick im Weiteren auf den Rechtsschutz im Netzregulierungsrecht, so lassen sich zwar auch hier zunächst bedeutsame Konvergenzen festhalten. Dies gilt sowohl für den in allen Netzsektoren ausgeschlossenen Suspensiveffekt von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen der BNetzA (§ 137 Abs. 1 TKG [i.V.m. § 44 S. 2 PostG61], § 76 Abs. 1 EnWG und § 68 Abs. 4 S. 1 ERegG) als auch für den bereits hervorgehobenen Ausschluss des Vorverfahrens gegen Beschlusskammerentscheidungen (§ 137 Abs. 2 TKG [i.V.m. § 44 S. 2 PostG] sowie § 68 Abs. 4 S. 2 und 3 ERegG).62 Dem stehen aber zumindest prima facie grundlegende Unterschiede im Hinblick auf den einschlägigen Rechtsweg und Instanzenzug (1.), die Rolle des subjektiven öffentlichen Rechts (2.), das Ausmaß der gerichtlichen Kontrolldichte (3.) sowie den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (4.) gegenüber. 1. Rechtsweg und Instanzenzug Zu den augenfälligen Rechtsschutzdivergenzen zwischen den Netzsektoren zählt der gegen regulierungsbehördliche Entscheidungen einzuschlagende Rechtsweg. Während in den Bereichen Telekommunikation, Post und Eisenbahnen nach allgemeinen Regeln (§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO) der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, erfolgt im Energiesektor eine am Vorbild des GWB orientierte abdrängende Sonderzuweisung an die zivilen Kartellgerichte (§§ 75 Abs. 4, 86 Abs. 1 EnWG63). Seit Etablierung dieser Rechtswegspaltung im EnWG 2005 wird über ihre Korrektur disku-
61 Zur Reichweite der Verweisung von § 44 S. 2 PostG auf das TKG 2004: VG Köln, N&R 2009, 276 (277); OVG Münster, N&R 2008, 48; BVerwG, NVwZ-RR 2006, 580 Rn. 6 f. 62 Zur Doppelnatur des Widerspruchsverfahrens als Verwaltungsverfahren und Sachurteilsvoraussetzung vgl. z. B. Kallerhoff/Keller, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 79 Rn. 2 m.w.N. 63 Siehe daneben auch die unter Rekurs auf § 75 Abs. 4 EnWG etablierte abdrängende Sonderzuweisung in § 35 Abs. 3 S. 2 KSpG für den Bereich der Kohlendioxidspeicherung.
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tiert.64 Betonung erfährt dabei regelmäßig die Bedeutung einer einheitlichen Rechtswegzuweisung für die Kohärenz der regulierungsrechtlichen Dogmatik.65 Umstritten ist allerdings, in welche Richtung die Harmonisierung erfolgen sollte. Während sich die Monopolkommission wiederholt für eine Zuweisung an die Kartellgerichte ausgesprochen hat,66 plädiert das wissenschaftliche Schrifttum überwiegend für den Verwaltungsrechtsweg.67 In der Regulierungspraxis spielt die Thematik aktuell zwar keine zentrale Rolle. Immerhin hat sich die Herbst-Justizministerkonferenz 2016 aber erneut mit der „Bereinigung des Systems der Rechtswegzuweisungen“ befasst und explizit für die Konzentration der regulierungsrechtlichen Entscheidungen in einer Gerichtsbarkeit ausgesprochen.68 Bei näherer Betrachtung ist die Sinnhaftigkeit einer Rechtswegvereinheitlichung in die eine oder andere Richtung allerdings aus zwei Gründen kritisch zu reflektieren. Zum einen sind sowohl in der Verwaltungs- als auch in der Zivilgerichtsbarkeit zusätzliche Kapazitäten für die Bewältigung der Verfahren geschaffen und spezieller Sachverstand (durch Konzentration auf wenige Spruchkörper) aufgebaut worden. Ein Pfadwechsel würde das funktionierende System aufbrechen und für alle Beteiligten zu Umstellungsaufwand mit daraus resultierenden Verzögerungen führen.69 Zum anderen werden die nachfolgenden Ausführungen (unter 2. und 3.) zeigen, 64 Ausführlich zuletzt Christiansen, Optimierung des Rechtsschutzes im Telekommunikations- und Energierecht, 2013, S. 271 ff.; Gärditz, Die Verwaltung 43 (2010), 309 (322 f.); Kahl, Droht die Entmachtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit durch die Zivilgerichte?, 2016, S. 79 ff.; Kresse/Vogl, WiVerw 2016, 275. 65 Statt vieler Burgi, NJW 2006, 2439 (2443); Gärditz, Die Verwaltung 43 (2010), 309 (322); Kahl (Fn. 64), S. 82; Masing (Fn. 1), D 161; Schneider, in: Fehling/Ruffert (Fn. 12), § 22 Rn. 6. 66 Zum TK-Sektor: Monopolkommission, 14. Hauptgutachten 2000/2001, 2003, Tz. 21; dies., Sondergutachten Nr. 24, 1996, Tz. 33; aus der Lit.: Attendorn/Geppert, in: Geppert/ Schütz (Fn. 38), § 137 Rn. 5 ff.; Geppert/Helmes, MMR 2007, 564 (565); Wissmann/Krull, in: Wissmann (Hrsg.), Telekommunikationsrecht, 2. Aufl. 2006, Kap. 18 Rn. 3; s. auch die entsprechende Entschließung des Bundesrats v. 14. 5. 2004 (BR-Drs. 379/04 [B]; bestätigt in BRDrs. 359/06 [B], S. 16) sowie die parallele Entschließung des Deutschen Bundestags v. 26. 5. 2004, BT-Drs. 15/3218; zuletzt in sektorenübergreifender Perspektive Kresse/Vogl, WiVerw 2016, 275 (296). 67 Vgl. Kahl (Fn. 64), S. 82 ff.; Ludwigs, in: Schmidt/Wollenschläger (Hrsg.), Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2015, § 12 Rn. 35; Rennert, BayVBl. 2015, 73 (75 f.); Schmidt-Aßmann, FS W.-R. Schenke, 2011, S. 1147 (1154); Schoch, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2009, § 50 Rn. 87 ff., 99; differenziert Gärditz, Die Verwaltung 43 (2010), 309 (322 f.); unentschieden Storr, DVBl. 2006, 1017 (1025). 68 Vgl. den – an die 76./79. Konferenz vom Juni 2005/2008 anknüpfenden – Beschluss v. 17. 11. 2016 zu TOP I.10: Bericht der länderoffenen Arbeitsgruppe „Bereinigung des Systems der Rechtswegzuweisungen“, abrufbar unter: http://www.jm.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/ index.php (zuletzt abgerufen am 6. 3. 2018). 69 Darauf hinweisend auch der Vizepräsident der BNetzA Franke, in: Die Verwaltung 49 (2016), 25 (51 ff.); plakativ die Präsidentin des BGH Limperg, in: Mohr (Hrsg.), Energierecht im Wandel, 2018, S. 27 (30): „never change a running system!“.
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dass die Judikatur in den unterschiedlichen Netzsektoren durch bemerkenswerte Parallelen gerade auch in solchen Bereichen gekennzeichnet ist, die gemeinhin zum „Hausgut verwaltungsrichterlicher Tätigkeit“70 gerechnet werden. Dies gilt für die Gewährleistung von Drittschutz gegen regulierungsbehördliche Entscheidungen ebenso wie für die Prüfung des Vorliegens von Beurteilungs- oder Ermessensermächtigungen und das zugehörige richterliche Kontrollmodell. Vor diesem Hintergrund stellt sich eine Rechtswegvereinheitlichung jedenfalls nicht als vordringliche Aufgabe dar. Sollte es allerdings hierzu kommen, wäre der Verwaltungsrechtsweg vorzugswürdig. Maßgeblich erscheint insoweit, dass es sich beim Rechtsschutz gegen regulierungsbehördliche Maßnahme um „typische Verwaltungskontrolle“ handelt, für die – auch im Lichte der Aufgabenzuweisung in Art. 95 Abs. 1 GG – eine größere Sachnähe der Verwaltungsgerichtsbarkeit besteht.71 Praktisch bedeutsamer erscheint unter dem Gesichtspunkt einer für den effektiven Rechtsschutz in Wettbewerbsmärkten elementaren Beschleunigung des Rechtsschutzes72 die Angleichung der Regelungen zum Instanzenzug. Während für das Hauptsacheverfahren in den Bereichen Energie und Telekommunikation nurmehr eine Tatsacheninstanz sowie eine Revisionsinstanz auf Bundesebene vorgesehen sind,73 besteht im Post- und Eisenbahnsektor weiterhin der klassisch dreizügige Instanzenzug. Während dies im Postsektor mit der allgemeinen Versteinerung des Rechtsrahmens erklärbar ist, muss der Befund im Eisenbahnbereich überraschen. Immerhin hatte die Bundesregierung noch in ihrem (gescheiterten) Entwurf eines Eisenbahnregulierungsgesetzes aus der 17. Legislaturperiode für die Etablierung eines zweizügigen Instanzenzugs mit dem OVG Münster als Eingangsinstanz plädiert.74 Im Rahmen des in der 18. Legislaturperiode verabschiedeten Artikelgesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich wurde dieser Ansatz jedoch nicht weiterverfolgt. Es bleibt hier vielmehr auch nach der Reform bei der Dreizügigkeit des Rechtswegs (VG, OVG, BVerwG). Zu überzeugen vermag dies weder unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz des regulierungsrechtlichen Rechtsschutzes noch mit Blick auf die Forderung nach schnellem Rechtsschutz innerhalb eines wettbewerblichen Kontextes.75 70
Wendung im Kontext von Mayen (Fn. 1), O 75. Statt vieler Kahl (Fn. 64), S. 83 f.; s. auch die weiteren Nachweise in Fn. 67. 72 Prägnant BVerfGE 55, 349 (369): „Wirksamer Rechtsschutz bedeutet zumal auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit“. 73 Näher Ludwigs, in: Schmidt/Wollenschläger (Fn. 67), § 12 Rn. 34 f.; kritisch zur Beschränkung der Zweizügigkeit auf Beschlusskammerentscheidungen im TK-Sektor: Masing (Fn. 1), D 175. Ausweislich von § 137 Abs. 3 S. 1 TKG bzw. § 86 Abs. 1 EnWG („in der Hauptsache“) konzentriert sich der vorläufige Rechtsschutz sowohl im TK- als auch im Energiesektor sogar auf eine Instanz, namentlich das VG Köln bzw. das zuständige Oberlandesgericht; kritisch Mayen (Fn. 1), O 59. 74 Vgl. zu § 66 Abs. 4 ERegG-E: BR-Drs. 559/12, S. 225 f.; BT-Drs. 17/12726, S. 101. 75 Ludwigs, NVwZ 2016, 1665 (1671); zum Beschleunigungsaspekt bereits überzeugend Mayen (Fn. 1), O 175. 71
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2. Drittschutz Aus der divergierenden Rechtswegzuweisung resultieren zumindest auf den ersten Blick auch markante Unterschiede beim Drittschutz. Dabei steht das am subjektiven öffentlichen Recht ausgerichtete Rechtsschutzmodell in den Bereichen Telekommunikation, Post und Eisenbahnen dem stärker verfahrensbezogenen Ansatz im Energiesektor gegenüber. Zur Erschließung des subjektiv-rechtlichen Gehalts der einschlägigen Rechtssätze greifen die Verwaltungsgerichte im Rahmen von Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) und subjektiver Rechtsverletzung (§ 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1 VwGO) regelmäßig auf die Grundsätze der überkommenen Schutznormlehre zurück.76 Im Schrifttum wird für die mehrpoligen Grundrechtssituationen im Regulierungsrecht zudem vielfach ergänzend oder konstitutiv auf die von Schmidt-Preuß geprägte Konfliktschlichtungsformel77 rekurriert.78 Eine Relativierung der Frage nach dem individualschützenden Charakter der einschlägigen Ordnungsnorm resultiert allerdings aus der vom BVerwG propagierten Drittschutzwirkung privatrechtsgestaltender Entgeltgenehmigungen im Telekommunikationsund Postsektor.79 Die Leipziger Richter haben hier explizit von der privatrechtsgestaltenden Wirkung einer Genehmigung der Regulierungsbehörde auf den Drittschutz der Vertragspartner des regulierten Unternehmens geschlossen. Zur Begründung wird auf den mit einer Fixpreisgenehmigung nach § 37 TKG bzw. § 23 PostG (s. jetzt auch § 33 Abs. 2 ERegG) verbundenen Eingriff in die Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verwiesen.80 Hieraus resultiert ein – mangels materiell-rechtlicher Aus-
76 Vgl. aus der ausdifferenzierten Judikatur im TK-Sektor exemplarisch: BVerwGE 130, 39 Rn. 13 ff., 18 ff., 22 ff.; BVerwGE 154, 173 Rn. 19 ff. 77 Danach ist ein subjektives Recht dann anzunehmen, „wenn eine Ordnungsnorm die kollidierenden Privatinteressen in ihrer Gegensätzlichkeit und Verflochtenheit wertet, begrenzt, untereinander gewichtet und derart in ein Konfliktschlichtungsprogramm einordnet, dass die Verwirklichung der Interessen des einen Privaten notwendig auf Kosten des anderen geht“ (grundlegend Schmidt-Preuß [Fn. 8], S. 247 f. [Hervorhebungen i. O.]; vgl. auch ders., FS Maurer, 2001, S. 777 [793]; ders., FS W.-R. Schenke, 2011, S. 1167 [1177]; ders., FS Isensee, 2006, S. 597 [608 f.]). 78 Siehe insb. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2012, S. 110 (vgl. auch S. 111 mit Fn. 430 zur dogmatischen Zuordnung); ferner Attendorn, Regulierungsbehörde als freier Marktgestalter und Normsetzer?, 2008, S. 364 ff.; Baumann, Der Drittschutz in der Marktregulierung physischer Netze, 2014, S. 53 ff.; Hardach, Die Anreizregulierung der Energieversorgungsnetze, 2010, S. 385 ff.; Merk, Recht der gaswirtschaftlichen Netzregulierung, 2012, S. 579 ff.; Peters, Rechtsschutz Dritter im Rahmen des EnWG, 2008, S. 83 ff.; Radtke, Materielle Maßstäbe der telekommunikationsrechtlichen ex ante Vorleistungsentgeltkontrolle, 2013, S. 211 ff.; Seeger, Die Durchleitung elektrischer Energie nach neuem Recht, 2002, S. 445 f.; Wegmann, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum TKG, 2. Aufl. 2009, § 59 Rn. 6 und § 61 Rn. 51. 79 Näher Ludwigs, Die Verwaltung 49 (2016), 261 (279 ff.); s. auch Franke, Die Verwaltung 49 (2016), 25 (45). 80 Zum TK-Sektor exemplarisch BVerwGE 152, 355 Rn. 20 f.; BVerwGE 151, 268 Rn. 18, 53; für den Postsektor z. B. BVerwGE 152, 355 Rn. 20 ff.
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sagekraft des privatrechtsgestaltenden Verwaltungsakts – fragwürdiger81 allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch für drittbetroffene Vertragspartner des regulierten Unternehmens. Ein grundlegend anderes Rechtsschutzmodell liegt der Anfechtungsbeschwerde im Energiesektor zugrunde.82 Entsprechend dem kartellrechtlichen Vorbild aus § 63 Abs. 2 GWB hängt die Beschwerdebefugnis hier gemäß § 75 Abs. 2 EnWG i.V.m. § 66 Abs. 2 EnWG entscheidend von der formalen Beteiligtenstellung im Verwaltungsverfahren ab. In erweiternder Auslegung kommt eine Beschwerdebefugnis in bestimmten Fallgestaltungen auch für nur potentiell Beizuladende in Betracht.83 Zwar fordern die Kartellgerichte im Rahmen der Beschwerdebefugnis daneben auch eine formelle und materielle Beschwer.84 Die Anforderungen bleiben aber nach überwiegender Ansicht hinter der Geltendmachung einer möglichen Rechtsverletzung gemäß § 42 Abs. 2 VwGO zurück.85 In kritischer Perspektive hat SchmidtPreuß schon frühzeitig auf die Inkonsistenz des Drittschutzsystems im EnWG aufmerksam gemacht und dafür plädiert, „den in § 65 Abs. 3 S. 4 GWB für das Eilverfahren beschrittenen Weg auch im Hauptsacheverfahren einzuschlagen und – wie auch sonst im Verwaltungsrecht – für einen Aufhebungsanspruch eine Rechtsverletzung bzw. (…) die Klagebefugnis zu fordern“.86 Hierfür spricht zum einen de lege ferenda der zu erzielende Gleichklang mit der Verpflichtungsbeschwerde, deren Zulässigkeit § 75 Abs. 3 S. 1 EnWG explizit von der Geltendmachung eines „Rechtsanspruch[s]“ abhängt.87 Zum anderen finden sich in der Judikatur bereits bei einer Würdigung de lege lata mehrere Entscheidungen, in denen der BGH die Begründet81 Vgl. allgemein Schmidt-Preuß (Fn. 8), S. 15 ff., 372 ff., mit treffendem Hinweis darauf, dass der Typus des Verwaltungshandelns nicht das subjektive öffentliche Recht definieren, sondern allenfalls hieran anknüpfen kann. 82 Siehe auch Mayen (Fn. 1), O 49, O 60 f. 83 Zu den unterschiedlichen Konstellationen vgl. BGH, RdE 2009, 185 Rn. 14, 16; OLG Düsseldorf, RdE 2010, 35 (39); instruktiv Bien, RdE 2009, 314 (315 ff.). 84 BGH, RdE 2010, 223 Rn. 3. 85 Statt vieler Hanebeck, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 23), § 75 Rn. 7, unter Hinweis darauf, dass anderenfalls die Formalisierung der Beschwerdebefugnis in § 75 Abs. 2 i.V.m. § 66 Abs. 2 EnWG konterkariert würde; ferner Huber, in: Kment (Hrsg.), EnWG, 2015, § 75 Rn. 14; Schmidt-Preuß, in: FS W.-R. Schenke, 2011, S. 1167 (1180); in diese Richtung auch BGH, RdE 2010, 223 Rn. 3; grundlegend zum GWB: BGH, NJW 2003, 3776 (3777); für eine (weitgehende) Gleichsetzung von materieller Beschwer und § 42 Abs. 2 VwGO dagegen Kühling/Hermeier, N&R 2007, 146 (151). 86 Schmidt-Preuß, in: Säcker (Fn. 4), Einl. C Rn. 298; jetzt auch § 63 Abs. 2 S. 2 GWB zur Anfechtungsbefugnis im Hauptsacheverfahren gegen die Ministererlaubnis nach § 42 GWB. 87 Statt vieler Hanebeck, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 23), § 75 Rn. 10, mit der Klarstellung, dass die bloße Verfahrensbeteiligung für die Beschwerdebefugnis damit nicht ausreicht; zur kontroversen Debatte im Rahmen von § 63 GWB: Kühnen, in: Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 63 GWB Rn. 26 f. m.w.N.; zur Forderung des tatsächlichen Vorliegens eines Rechtsanspruchs im Rahmen der Begründetheit der Verpflichtungsbeschwerde nach § 83 Abs. 4 EnWG überzeugend Boos, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 94. EL 2017, § 83 EnWG Rn. 13.
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heit einer Anfechtungsbeschwerde von der Verletzung des Beschwerdeführers in subjektiven Rechten abhängig gemacht und dabei sogar explizit auf die Parallele zu § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO hingewiesen hat.88 Hieran ist einerseits kritikwürdig, dass nicht erkennbar wird, weshalb dann nicht auch auf Zulässigkeitsebene im Rahmen der materiellen Beschwer die Möglichkeit einer subjektiven Rechtsverletzung zu fordern sein soll. Andererseits liefert die Judikatur zugleich einen prägnanten Beleg für das Denken der Kartellrichter in verwaltungsrechtlichen Kategorien und ein hiermit verbundenes Streben nach sektorenübergreifender Konsistenz des Rechtsschutzmodells. Die Ausrichtung am subjektiv öffentlichen Recht wäre im Übrigen auch grundsätzlich mit den Vorgaben des Unionsrechts vereinbar, wenngleich die – freilich noch wenig gefestigte – Judikatur des EuGH in den Sektoren Telekommunikation89 und Energie90 in Richtung einer erweiternden Auslegung der Schutznormtheorie weist.91 3. Gerichtliche Kontrolldichte Ein weiteres sektorenübergreifendes Diskussionsfeld bildet die Frage nach dem Ausmaß der gerichtlichen Kontrolldichte. Von der Antwort hängt ab, wer das „letzte Wort“ hat, die Regulierungsbehörde oder das Gericht. Überwunden scheint zwar die im Lichte von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG unhaltbare These eines umfassenden behördlichen Entscheidungsspielraums für sämtliche Regulierungsentscheidungen.92 Nicht zu verkennen ist aber, dass mit dem interdisziplinär geprägten Recht der Netzwirtschaften besondere Herausforderungen verbunden sind, die eine spezifische Rechtsschutzdogmatik bedingen.93 Das BVerwG hat dem zunächst im TK-Sektor Rechnung getragen und seit 2007 in ständiger Rechtsprechung – neben klassischen behördlichen Entscheidungsspielräumen94 – die dem Planungsermessen angenäherte Katego88 BGH, EnWZ 2015, 180 Rn. 25; EnWZ 2015, 411 Rn. 16; a.A. die bislang ganz herrschende Meinung im Schrifttum, vgl. z. B. Christiansen (Fn. 64), S. 143; Hanebeck, in: Britz/ Hellermann/Hermes (Fn. 23), § 83 Rn. 9. 89 EuGH, Rs. C-426/05, ECLI:EU:C:2008:103 Rn. 39 – Tele 2 (wonach eine potentielle Rechtsbetroffenheit ausreicht); EuGH, Rs. C-282/13, ECLI:EU:C:2015:24 Rn. 39 – T-Mobile Austria; Ludwigs, in: in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2. Aufl. 2018, §§ 137 – 139 TKG Rn. 70. 90 EuGH, Rs. C-510/13, ECLI:EU:C:2015:189 Rn. 37 ff., 50 – E.ON Földgáz Trade, wonach es zwar grundsätzlich Sache des nationalen Rechts ist, die Klagebefugnis und das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen zu bestimmen, dabei aber das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nach Art. 47 GRCh nicht beeinträchtigt werden darf. 91 Näher Ludwigs, in: Gärditz (Fn. 89), §§ 137 – 139 TKG Rn. 37. 92 In diese Richtung noch Bullinger, DVBl. 2003, 1355 (1358 f.); s. auch Masing (Fn. 1), D 152 ff., 195.; vgl. demgegenüber z. B. BVerwGE 153, 265 Rn. 15 (am Beispiel des sog. KeL-Maßstabs in § 32 Abs. 1 TKG); aus der Lit. bereits Burgi, NJW 2006, 2439 (2444): Storr, DVBl. 2006, 1017 (1022). 93 Zur Interdisziplinarität des Energierechts eingehend Schmidt-Preuß, FS Kühne, 2009, S. 329; ders., in: Storr (Hrsg.), Neue Impulse für die Energiewirtschaft, 2012, S. 1 (7 ff.). 94 Zur Anerkennung von Beurteilungsermächtigungen im Rahmen von Marktdefinition und -analyse (§§ 10 und 11 TKG): BVerwGE 131, 41 Rn. 14 ff.; BVerfG, NVwZ 2012, 694
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rie des Regulierungsermessens entwickelt.95 Eine derartige Letztentscheidungsbefugnis der BNetzA wird inzwischen bei der Auferlegung aller in § 13 TKG vorgesehenen Regulierungsverpflichtungen anerkannt.96 Zur Begründung stützt sich das Gericht zum einen darauf, dass die durch zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe gesteuerte tatbestandliche Abwägung nicht von einer daran anschließenden Ermessensbetätigung bei der Auferlegung von Regulierungsverpflichtungen getrennt werden könne.97 Zum anderen wird Bezug genommen auf die Zuständigkeit der BNetzA als ein besonderes Verwaltungsorgan, das mit besonderer fachlicher Legitimation in einem besonderen (Beschlusskammer-)Verfahren entscheidet.98 Für die Entwicklung einer Fehlerlehre rekurrieren die Leipziger Richter schließlich ausdrücklich auf die Abwägungsfehlerlehre im Planungsrecht.99 Richtet man den Blick auf die anderen Netzsektoren, wird deutlich, dass sich das Regulierungsermessen schrittweise zu einer sektorenübergreifenden Rechtsfigur fortentwickelt.100 Eine erste vorsichtige Rezeption erfolgte in einer Entscheidung des BVerwG vom 29. Mai 2013 zu den postrechtlichen Entgeltgenehmigungsvoraussetzungen.101 Im Eisenbahnsektor liegt bislang noch keine einschlägige Entscheidung vor. Vor dem Hintergrund der jüngsten Reform durch das Artikelgesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich und der hiermit erfolgten Verankerung des Beschlusskammerverfahrens in § 77 ERegG erscheint es allerdings naheliegend, dass sich die Figur des behördlichen Regulierungsermessens nunmehr auch hier etablieren wird.102 Besondere Hervorhebung verdient schließlich der Energiesektor. Dort haben die zuständigen Kartellgerichte zunächst eine betont restriktive Linie verfolgt und bisweilen sogar eine „uneingeschränkte“ gerichtliche Kontrolle regulierungsbehördli-
Rn. 27; näher Durner, DVBl. 2012, 299 (301 f.); zum sog. KeL-Maßstab nach § 32 Abs. 1 TKG: BVerwGE 150, 74 Rn. 31; BVerwGE 156, 75 Rn. 31 ff. 95 Grundlegend BVerwGE 130, 39 (48 f.); BVerwGE 131, 41 (65); aus der Folgejudikatur BVerwG, NVwZ 2009, 653 Rn. 58, 62; BVerwG, NVwZ-RR 2012, 192 Rn. 46; zur dogmatischen Einordnung: Ludwigs, JZ 2009, 290 (292 ff.). 96 Siehe etwa BVerwG, NVwZ 2013, 1352 (1356); Bier, in: Säcker (Fn. 38), Vor § 137 Rn. 10 ff. 97 Allgemein zu derartigen „Verzahnungen“ von Tatbestands- und Rechtsfolgeseite im Rahmen sog. Koppelungsvorschriften: Schmidt-Preuß, FS Maurer, 2001, S. 777 (788 ff.). 98 BVerwGE 130, 39 Rn. 29 f., für § 21 TKG; zur mangelnden Überzeugungskraft der vom BVerwG ebenfalls (a.a.O., Rn. 30) propagierten – zwischenzeitlich aber nicht mehr betonten (s. insb. BVerwGE 148, 48 Rn. 33 ff.) – Ableitung des Regulierungsermessens aus dem EUSekundärrecht: Gärditz, NVwZ 2009, 1005 (1007 f.). 99 St. Rspr. seit BVerwGE 131, 41 (62, 72 f.); s. auch noch die explizite Bezugnahme auf das planungsrechtliche Gebot der Konfliktbewältigung in BVerwG, NVwZ 2014, 942 Rn. 57. 100 Siehe schon Ludwigs, Die Verwaltung 49 (2016), 261 (276 ff.). 101 BVerwGE 146, 325 Rn. 32; hierzu Säcker/Mengering, N&R 2014, 74. 102 Ludwigs, NVwZ 2016, 1665 (1671).
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cher Entscheidungen propagiert.103 Ein valides Argument hierfür liefert § 83 Abs. 5 EnWG, der ausweislich seiner Entstehungsgeschichte104 eine (wortlautidentische) Parallelnorm zu § 71 Abs. 5 S. 1 GWB darstellt.105 Im Kartellrecht sorgt letztgenannte Vorschrift nach ganz überwiegender und mit Blick auf Wortlaut („insbesondere“), Entstehungsgeschichte106 und Systematik (Umkehrschluss zu § 71 Abs. 5 S. 2 GWB) auch überzeugender Auffassung für eine selbst die Zweckmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung umfassende gerichtliche Kontrolle.107 Ungeachtet dessen hat der BGH seit 2014 in einer Reihe von Entscheidungen die Kategorie des Regulierungsermessens auch auf den Energiesektor übertragen und der BNetzA substantielle Letztentscheidungsbefugnisse zuerkannt. Konkret wurde der Regulierungsbehörde ein Spielraum zugestanden, „der in einzelnen Aspekten einem Beurteilungsspielraum, in anderen Aspekten einem Regulierungsermessen gleichkommt“.108 Hieran ist zwar methodisch kritikwürdig, dass weder eine Auseinandersetzung mit § 83 Abs. 5 EnWG noch eine Klarstellung dazu erfolgt, ob und inwieweit es sich um einen echten Paradigmenwechsel handelt.109 Mit Blick auf die in diesem Beitrag adressierte Fragestellung zeigt sich aber eine klare Tendenz zur sek103 BGH, N&R 2008, 36 Rn. 42 (dort auch das Zitat im Text); s. auch BGH, ZNER 2008, 222 Rn. 50 ff., wo die Möglichkeit von Ausnahmen nur in „seltenen Fällen“ in Betracht gezogen wird; aus der Lit.: Schmidt-Preuß, FS R. Schmidt, 2006, S. 547 (556 f.); für eine nähere Auswertung der Rechtsprechung: Franke, Die Verwaltung 49 (2016), 25 (32 ff.); Gärditz, DVBl. 2016, 399 (401 ff.); Grüneberg, RdE 2016, 49 ff.; Pielow, in Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Fn. 4), Kap. 57 Rn. 45 ff., 59 ff.; Schütte, ER 2012, 108 (113 ff.). 104 BT-Drs. 15/3917, S. 72: „Die Vorschrift entspricht § 71 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“. 105 A.A. Säcker, in: Bien/Ludwigs (Fn. 3), S. 101 mit Fn. 88, der § 83 Abs. 5 EnWG als „eher zufällig weit [formulierte] Vorschrift“ qualifiziert. 106 Näher Soell, Das Ermessen der Eingriffsverwaltung, 1973, S. 36 ff. 107 Aus der Rspr. z. B. BGHZ 49, 367 (377); zuletzt OLG Düsseldorf, NZKart 2016, 380 (385 f.); Bornkamm, ZWeR 2010, 35 (36); Nothdurft, FS G. Hirsch, 2008, S. 285 (286 f.); K. Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Bd. 2, 5. Aufl. 2014, § 71 GWB Rn. 37; a.A. noch Bettermann, FS Bötticher, 1969, S. 13 (18); Rittner, FS H. Kaufmann, 1972, S. 307 (311); s. jetzt auch Mengering, Die Entgeltregulierung im Telekommunikationsund Energierecht, 2017, S. 367 ff. 108 BGH, RdE 2014, 276 Rn. 10 ff., 24 (Effizienzvergleich nach §§ 12 ff. ARegV); ferner BGH, RdE 2014, 495 Rn. 12 ff. (Qualitätselement gem. §§ 19, 20 ARegV); BGH, RdE 2016, 462 Rn. 17, 25 (Verlustenergiekosten als volatile Kosten nach § 11 Abs. 5 S. 2 ARegV); BGH, Beschl. v. 12. 12. 2017 – EnVR 2/17, Rn. 24 ff. (Ein- und Ausspeiseentgelte gem. §§ 30 Abs. 2 Nr. 7, 15 Abs. 2 – 7 GasNEV); s. daneben noch BGH, EnWZ 2015, 273 Rn. 16 ff., wo der BNetzA für die Bemessung des Zuschlags zur Abdeckung netzbetriebsspezifischer unternehmerischer Wagnisse nach § 7 Abs. 5 GasNEV ein klassischer Beurteilungsspielraum eingeräumt wird. 109 Vgl. insoweit bereits Ludwigs, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Fn. 4), Kap. 7 Rn. 23 m.w.N.; kritisch auch Gärditz, DVBl. 2016, 399 (403 ff.); in Richtung eines Kurswechsels weist BGH, NVwZ 2014, 1600 Rn. 15, wonach § 83 Abs. 5 EnWG – gerade umgekehrt zur kartellrechtlichen Deutung – zeige, dass die Ermessensentscheidung gem. § 65 Abs. 2 EnWG nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle auf Ermessensfehler unterliege.
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toren- und rechtswegübergreifenden Angleichung der Rechtsschutzdogmatik. Dies gilt umso mehr, als auch das im TK-Bereich adaptierte richterliche Kontrollmodell der Abwägungsfehlerlehre vom BGH für den Energiesektor übernommen wurde.110 4. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Universale Bedeutung kommt schließlich auch der Behandlung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen im (Verwaltungs-)Prozess zu. In der Praxis wird die Frage typischerweise bei Streitigkeiten um Netzentgeltgenehmigungen der Regulierungsbehörde virulent. Hier stehen sich das regulierte Unternehmen und der Zugang begehrende Wettbewerber gegenüber. Schmidt-Preuß spricht treffend von einer „multipolare[n] Konfliktlage par excellence“.111 Die staatliche Entscheidung über eine Vorlage, Verwertung und Offenlegung der Unterlagen trifft auf mehrere Privatrechtssubjekte mit diametral entgegengesetzten Interessen.112 Den grundrechtlich geschützten Geheimhaltungsbelangen stehen die Garantie effektiven Rechtsschutzes sowie der Grundsatz rechtlichen Gehörs gegenüber.113 Im Bereich der Telekommunikation hat der Gesetzgeber des TKG 2004 dieses „Trilemma“114 zunächst mittels eines Mechanismus zur behördlichen Verweigerung der Aktenvorlage nach § 138 Abs. 1 S. 1 TKG a.F. i.V.m. § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO aufzulösen versucht.115 Nicht vorgesehen war dagegen ein in-camera-Verfahren in der Hauptsache, bei dem es um „die Verwertung nur dem Gericht zugänglich gemachter Informationen bei der Sachentscheidung unter gleichzeitiger Abschottung gegenüber den Prozessbeteiligten [geht]“.116 Dem restriktiven Ansatz in § 138 TKG a.F. wurde indes durch das Mobistar-Urteil des EuGH vom 13. Juli 2006 die Grundlage entzogen.117 Der Gerichtshof leitete hier aus Art. 4 Rahmen-RL 2002/21/EG ab, dass die für Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörde berufene Stelle „über sämtliche für die Prüfung der Begründetheit eines Rechtsbehelfs nötigen Informationen verfügen muss“.118 Davon seien auch vertrauliche Informationen umfasst, die von der Regulierungsbehörde beim Erlass der streitgegenständlichen Entscheidung 110 BGH, RdE 2014, 276 Rn. 27; BGH, RdE 2014, 495 Rn. 25; BGH, RdE 2016, 462 Rn. 25. 111 Schmidt-Preuß, FS W.-R. Schenke, 2011, S. 1167 (1170), Hervorhebung im Original; grundlegend zur Differenzierung zwischen bi- und multipolaren Konfliktlagen: ders. (Fn. 8), S. 1 ff., 20 ff., 706 ff.; ders., FS Isensee, 2007, S. 597 (600 ff.). 112 Schmidt-Aßmann, FS W.-R. Schenke, 2011, S. 1147 (1151 f.). 113 Anschaulich Gaier, FS Scharf, 2008, S. 201 (203 ff.). 114 Gurlit, in: Säcker (Fn. 38), § 138 Rn. 6. 115 Für Einzelheiten vgl. Ludwigs, in: Gärditz (Fn. 89), §§ 137 – 139 TKG Rn. 22 ff. m.w.N. 116 Vgl. für die Begriffsbestimmung Schmidt-Aßmann, FS W.-R. Schenke, 2011, S. 1147 (1149). 117 Ebenso Mayen (Fn. 1), O 77; Schütze, CR 2006, 665 (667 f.); anders Herrmann/Bosch, N&R 2007, 79 (80). 118 EuGH, Rs. C-438/04, ECLI:EU:C:2006:463 Rn. 43 – Mobistar.
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berücksichtigt wurden. Zugleich unterstrich der EuGH, dass die zuständige Stelle die vertrauliche Behandlung der einschlägigen Daten zu gewährleisten und dabei die Erfordernisse eines effektiven Rechtsschutzes zu beachten und die Wahrung der Verteidigungsrechte der am Rechtsstreit Beteiligten sicherzustellen habe.119 Auf nationaler Ebene wurden diese Vorgaben zunächst vom BVerwG im Wege einer (fragwürdigen) richtlinienkonformen Auslegung und Rechtsfortbildung von § 99 VwGO umgesetzt.120 Im Rahmen der TKG-Novelle 2012 hat der Gesetzgeber dann mit § 138 TKG n.F. eine dem Mobistar-Urteil entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen und ein in-camera-Verfahren in der Hauptsache etabliert. Danach ist die BNetzA künftig zur uneingeschränkten Vorlage der Unterlagen an das zuständige Verwaltungsgericht verpflichtet (Abs. 1). Anders als bei § 99 Abs. 2 VwGO (i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO) besteht kein Verwertungsverbot für in-camera genutzte Unterlagen (§ 138 Abs. 2 S. 3 TKG). Schutzwürdigen Geheimhaltungsinteressen wird vielmehr durch die Möglichkeit eines vollständigen oder teilweisen Ausschlusses des Akteneinsichtsrechts gemäß § 100 VwGO sowie im Rahmen der gerichtlichen Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 VwGO entsprochen (§ 138 Abs. 2 TKG). Richtet man den Blick auf die drei anderen Netzwirtschaften, so ergibt sich prima facie ein gänzlich abweichendes Bild. Im Energiesektor kann das Beschwerdegericht die Offenlegung von Tatsachen oder Beweismitteln, deren Geheimhaltung aus wichtigen Gründen verlangt wird, in einem besonderen Zwischenverfahren nach § 84 Abs. 2 S. 4 – 6 EnWG anordnen. Dies gilt allerdings nur insoweit, als es für die Entscheidung auf diese Tatsachen oder Beweismittel ankommt, andere Möglichkeiten der Sachaufklärung nicht bestehen und nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls die Bedeutung der Sache das Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen überwiegt.121 Nicht zugänglich gemachte Unterlagen dürfen nach § 84 Abs. 2 S. 3 EnWG der gerichtlichen Entscheidung nur zugrunde gelegt werden, soweit ihr Inhalt vorgetragen wurde. Im Übrigen besteht ein Verwertungsverbot, so dass eine Beweislastentscheidung ergeht.122 Hieraus folgt zugleich der Ausschluss eines in-camera-Hauptsacheverfahrens. Wiederum anders stellt sich die Rechtslage im Eisenbahnsektor dar. Noch in der 17. Legislaturperiode wurde hier die Etablierung einer an § 138 TKG angelehnten (wenngleich weniger weitreichenden) Regelung von der Bundesregierung in ihrem – später am Bundesrat gescheiterten – Entwurf für ein Eisenbahnregulierungsgesetz vorgeschlagen.123 Im Rahmen der Diskussion um das letztlich am 2. Septem119
EuGH, Rs. C-438/04, ECLI:EU:C:2006:463 Rn. 43 – Mobistar. BVerwGE 127, 282 Rn. 10, 12 f., unter Reduzierung des Vorlageermessens aus § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO; zustimmend Salevic, CR 2007, 435 (436); Schemmer, DVBl. 2011, 323 (331); kritisch Gärditz, in: ders. (Fn. 89), § 99 VwGO Rn. 88; Linßen, Informationsprobleme und Schutz von Unternehmensgeheimnissen im TK-Regulierungsrecht, 2011, S. 149 ff. 121 Näher Schmidt-Aßmann, FS W.-R. Schenke, 2011, S. 1147 (1154 f.). 122 Franke, Die Verwaltung 49 (2016), 25 (50); Hanebeck, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 23), § 84 Rn. 7 f.; Huber, in: Kment (Fn. 85), § 84 Rn. 9. 123 Vgl. zu § 65 ERegG-E: BR-Drs. 559/12, S. 221; s. auch BT-Drs. 17/12726, S. 100. 120
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ber 2016 in Kraft getretene Artikelgesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich ist dieser Ansatz jedoch nicht mehr aufgegriffen worden. Mangels eisenbahnrechtlicher Sonderregelung gelten damit die allgemeinen Regeln des § 99 VwGO, so dass auch hier keine Grundlage für ein in-camera-Verfahren in der Hauptsache existiert.124 Nichts anderes gilt auch für den Postsektor. Die derart offengelegte Divergenz der einfachgesetzlichen Vorgaben in den unterschiedlichen Netzsektoren könnte aber wiederum einem unionsrechtlich geforderten Gleichklang weichen. Es fragt sich nämlich, ob der Verzicht auf ein in-camera-Verfahren in der Hauptsache mit den einschlägigen Richtlinienvorgaben vereinbar ist. Dafür lässt sich einerseits anführen, dass weder die Binnenmarktrichtlinien Strom und Gas noch die Eisenbahnrichtlinie oder die Postdienste-Richtlinie eine derart ausdifferenzierte Regelung zum Rechtsschutz enthalten, wie sie Art. 4 der TK-Rahmenrichtlinie bereithält.125 Andererseits finden sich auch in Art. 37 Abs. 12 und 16 Strom-RL 2009/72/EG und Art. 41 Abs. 12 und 16 Gas-RL 2009/73/EG sowie Art. 56 Abs. 10 Eisenbahn-RL 2012/34/EU und Art. 22 Abs. 3 Postdienste-RL 1997/67/EG Vorgaben, die wirksame Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörde voraussetzen. In die gleiche Richtung weisen auf primärrechtlicher Ebene der Rechtsschutzauftrag in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV126 und das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in Art. 47 GRCh127. Dass effektiver Rechtsschutz auch hinreichende tatsächliche Entscheidungsgrundlagen erfordert, ist letztlich eine „Trivialaussage“.128 Vor diesem Hintergrund spricht mehr dafür, die Mobistar-Grundsätze auch auf die Sektoren Energie, Eisenbahnen und Post zu übertragen.129 In diesem Sinne lässt sich von einem sektorenübergreifenden Unionsprinzip der Vollständigkeit der gerichtlichen Entscheidungsgrundlage sprechen. Zur Herstellung sektorenübergreifender Konvergenz bedarf es allerdings eines Tätigwerdens des Gesetzgebers, während eine unmittelbare Wirkung der einschlägigen Richtlinienvorgaben im Hinblick auf die mit einem in-camera-Hauptsacheverfahren verbundenen Belastungen privater Dritter ausscheiden muss.130 124
Ludwigs, NVwZ 2016, 1665 (1672). Hanebeck, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 23), § 84 Rn. 16. 126 Gärditz, in: ders. (Fn. 89), § 99 VwGO Rn. 84; vorsichtiger Schmidt-Aßmann, FS W.-R. Schenke, 2011, S. 1147 (1163 f.). 127 Gärditz, in: ders. (Fn. 89), § 99 VwGO Rn. 84. 128 Christiansen (Fn. 64), S. 226; s. auch EuGH, Rs. C-510/13, ECLI:EU:C:2015:189 Rn. 50 – E.ON Földgáz Trade. 129 In diese Richtung auch Burgi, NJW 2006, 2439 (2443); Mayen (Fn. 1), O 76 f.; für den Energiesektor: Ludwigs, in: Gärditz (Fn. 89), §§ 137 – 139 TKG Rn. 70; Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2015, Rn. 531; ausführlich Ruthig, in: Baur/Salje/ Schmidt-Preuß (Fn. 4), § 58 Rn. 48 ff. 130 Ebenso i.E. Mayen (Fn. 1), O 76; zur Paralleldiskussion im TK-Sektor vor der Neufassung von § 138 TKG vgl. Ludwigs, in: Gärditz (Fn. 89), §§ 137 – 139 TKG Rn. 25 m.w.N.; zum „Belastungsverbot“ bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien s. Schmidt-Preuß (Fn. 8), S. 799 f., unter Rekurs auf EuGH, Rs. C-91/92, ECLI:EU:C:1994:292 Rn. 24 – Faccini Dori. 125
Konvergenz oder Divergenz der Regulierung in den Netzwirtschaften
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5. Zwischenfazit Das zweite Zwischenfazit fällt ambivalent aus. Beim Rechtsschutz sind einerseits bedeutende Unterschiede zwischen den Netzsektoren zu verzeichnen, wie insbesondere die Rechtswegspaltung und der divergierende Grundansatz beim Drittschutz und im Umgang mit Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen zeigen. Andererseits ist die Entwicklung hin zu einem höheren Maß an Konvergenz auch im Bereich des Rechtsschutzes unverkennbar, wobei neben den Einwirkungen des Unionsrechts insbesondere die Rezeption der verwaltungsrechtlichen Dogmatik durch die zivilen Kartellgerichte als treibende Kraft fungiert. IV. Resümee Im Rahmen der eingangs des Beitrags in Bezug genommenen Debatte auf dem 66. Deutschen Juristentag wurde mit Blick auf die Regelungen über das Verfahrensrecht und den Rechtsschutz das Bild eines „bunte[n] Flickenteppichs“ gezeichnet und Bedarf für eine übergreifende Regelung des Rechts der Regulierungsverwaltung angemeldet.131 Zwölf Jahre später wird deutlich, dass sich trotz der getrennten Normenwerke in TKG, EnWG, PostG und ERegG bemerkenswerte Konvergenzen zwischen den Netzsektoren herausgebildet haben. Prägnante Beispiele für sektorenübergreifende Grundsätze bilden die Weisungsunabhängigkeit der Regulierungsbehörde, die Vollständigkeit der gerichtlichen Entscheidungsgrundlage oder auch die Einzigkeit der regulierungsbehördlichen Zuständigkeit. Zentrale Triebfedern des Angleichungsprozesses bilden neben gesetzgeberischen Anpassungen (insb. im Rahmen der jüngsten Reform des Eisenbahnrechts) auch der Einfluss des Unionsrechts sowie das erkennbare Selbstverständnis der Kartellrichter als funktionale Verwaltungsrichter. Angesichts dieses Befunds lässt sich sogar hinterfragen, ob dann überhaupt Handlungsbedarf für den Gesetzgeber besteht. Dafür spricht entscheidend, dass die vorstehend herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten sich vielfach erst im Wege komplexer – häufig unionsrechtlich überformter – Auslegungsprozesse ergeben haben und bisweilen höchst umstritten sind. Eine normative Vereinheitlichung wäre daher der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit förderlich. Sie müsste allerdings nicht notwendig im Wege eines übergreifenden Bundesnetzregulierungsgesetzes erfolgen (wie es 2006 in Stuttgart diskutiert wurde), sondern könnte auch durch systematische Anpassungen in den einzelnen Fachgesetzen erfolgen. Vielfach finden sich verallgemeinerungsfähige Musterregelungen für die Bereiche Organisation, Verfahren und Rechtsschutz bereits im geltenden Recht. Exemplarisch zu nennen sind insoweit etwa § 111 EnWG für das Verhältnis zur Kartellaufsicht, die §§ 33 Abs. 2 S. 3, 45 Abs. 2 S. 3 ERegG zum Ausschluss der zivilgerichtlichen Billigkeitskontrolle oder § 138 TKG für die Etablierung eines in-camera-Verfahrens in der Hauptsache. Inwieweit 131
In diese Richtung auch Mayen (Fn. 1), O 47.
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ein weitergehender Vereinheitlichungsbedarf auch für die anderen Bereiche des Regulierungsrechts besteht, kann an dieser Stelle zwar nicht vertieft werden. Sicher ist aber, dass auch insoweit eine Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Werk des Jubilars fruchtbare Erkenntnisse verspricht.
Grenzen der Regulierung Von Sebastian Merk, Siegen Wenn es einen Begriff gibt, der das Wundermittel zur Bekämpfung von Missständen in Wirtschaft und Marktabläufen bezeichnen soll, dann ist es der Terminus der Regulierung. Dieser Ausdruck ist spätestens seit den Zeiten von Finanzkrisen, aber auch aus Verbraucherschutzgesichtsgründen omnipräsent. Dabei wird häufig übersehen, dass die Renaissance der Regulierung gerade eine Gegenbewegung zu dem in den 80er und 90er Jahren vorherrschenden Diktum der Deregulierung war.1 Letztere wird u. a. geprägt durch die Privatisierung von Staatsbetrieben,2 also dem Rückzug des Staates aus zentralen Wirtschaftsbereichen. Spätestens im Laufe der Jahrtausendwende setzte jedoch eine Gegenbewegung ein, und der Begriff der Regulierung erlebte in der politischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion eine stetige Verwendung. Vorwiegend erfolgte dies insbesondere in den gerade zuvor (teil-)privatisierten Bereichen der Eisenbahn, Telekommunikation und Post. Ebenso in der Energiewirtschaft und deren geöffneten starren Demarkations- und Konzessionsgebieten3 schlug sich diese Begrifflichkeit schnell nieder,4 um die ordnenden Maßnahmen zur Umsetzung von Wettbewerb durch Dritte zu bezeichnen. Dabei ist die Entwicklung jedoch nicht stehen geblieben. Heute beschränkt sich der Regulierungsbegriff nicht mehr nur auf diese traditionellen Referenzgebiete des Wirtschaftsverwaltungsrechts, sondern ist in nahezu allen Wirtschaftsbereichen anzutreffen. Überall wo der Staat (vermeintlich) ordnend eingreift, ist von Regulierung die Rede. Dies führt zu einer Unschärfe des Begriffs. Weiter drängt sich mit der Potenzierung des Anwendungsbereichs in unzähligen Gebieten die Frage nach den ordnungspolitischen und rechtlichen Grenzen der regulativen Maßnahmen auf
1
Vgl. Schmidt-Preuß, in: FS Reiner Schmidt, S. 547 (549); Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, S. 41 ff.; vgl. den Hertog, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Volume III, S. 223 (245 ff.). 2 Vgl. z. B. Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens vom 27. 12. 1993, BGBl. I, S. 2378; Gesetz zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation vom 14. 09. 1994, BGBl. I, S. 2325; Überblick bei Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, Rn. 170 ff., 176 ff., 302; vgl. zur Deregulierung Krause, VW 1988, 348 (348). 3 Vgl. hierzu Ludwigs, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, § 6 Rn. 1. 4 Vgl. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, Rn. 164; v. Danwitz, DÖV 2004, 977 (980 ff.); Säcker, AöR 130 (2005), 180 (182).
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I. Vielschichtigkeit des Regulierungsbegriffs Grundsätzlich leitet sich der Begriff der Regulierung davon ab, dass staatlicherseits mit normativem Charakter Rahmenbedingungen gesetzt werden, die das Verhalten in bestimmten Marktsituationen lenken oder ersetzen.5 Insofern spricht dies für einen sehr allgemeinen Begriff des Regulierungsrechts, der letztendlich in jedem Rechts- und Wirtschaftsbereich Anwendung finden kann. Damit wird jedoch die Terminologie unscharf, zum Teil findet sie sogar rein soziologisch Verwendung.6 Regulierung wird dann zum Sammelbegriff für jegliche (wirtschafts-)politische Gestaltungen mit rechtlichem Annex. Durch ein solch weites Verständnis wird ausgeblendet, dass im historischen Kontext – zumindest für das deutsche öffentliche Recht – das Regulierungsrecht einen klar umrissenen Bereich des Wirtschaftsverwaltungsrechts umfasst, das spezifische Anwendungserfordernisse verlangt. Der Jubilar hat hier bereits früh eine systematische Unterscheidung der Begriffe eingefordert. Während er anfänglich den Regulierungsbegriff in zwei Kategorien unterteilte7, differenzierte er diesen später – mit fortschreitender Ausbreitung des Begriffs in Praxis und Recht der unterschiedlichsten Sachgebiete – auf drei Bedeutungsebenen aus.8 Hierbei erkennt er als Regulierung im engeren Sinne zunächst die Kategorie I. Darunter fallen alle regelnden Maßnahmen, die in den netzbezogenen Sektoren ergriffen werden.9 Bei der Kategorie I handelt es sich somit um den eigentlichen und traditionellen Regulierungsbegriff,10 der aus der sektorspezifischen Netzregulie5 Eeckhoff/Vossler, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, § 1 Rn. 2; vgl. für ein enges Verständnis z. B.: Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, Rn. 184, 217; Bulla, in: Schmidt/Vollmöller (Hrsg.), Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, § 11 Rn. 5 f.; Schebstadt, WuW 2005, 6 (7); Schulte/Kloos/ Apel, in: Schulte/Kloos (Hrsg.), Handbuch des Öffentlichen Wirtschaftsrechts, § 1 Rn. 111 f.; Burgi, JZ 2013, S. 745 (752 f.); vgl. für ein weitgehendes Verständnis z. B.: Eifert, in: Hoffman-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bnd. I, § 19 Rn. 5; Ruffert, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, § 7 Rn. 58 ff. 6 Ackermann/Petzold, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, § 8 Rn. 4; vgl. auch zum Definitionsproblem Goff, Regulation and Macroeconomic Performance, S. 3 f.; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, S. 15 ff.; OECD, Measuring Regulatory Performance, Expert Paper No. 1, August 2012, S. 8; den Hertog, in: Bouckaert/ De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Volume III, S. 223 (223 ff.); Rittner/ Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, § 29 Rn. 19; Ruthig/Stober, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Rn. 23 ff.; im Verhältnis zum Wettbewerbsrecht: Säcker, EnZW 2015, S. 531 (531 ff.). 7 Regulierung I und Regulierung II, so in: Schmidt-Preuß, in: FS Reiner Schmidt , S. 547 (548 f.); ähnlich Stober, in: FS Scholz, S. 943 (945), aber ohne die Unterscheidung der Netzbezogenheit. 8 Schmidt-Preuß, in: Baur/Sandrock/Scholtka/Shapira (Hrsg.), in: FS Gunter Kühne, S. 329 (330); zustimmend: Ludwigs, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, § 7 Rn. 13. 9 Hierzu und im Folgenden: Schmidt-Preuß, in: FS Gunter Kühne, S. 329 (330). 10 Vgl. detailliert: Schmidt-Preuß, in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, S. 68 (68 f.).
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rung von Bahn, Telekommunikation, Post und Energie entwachsen ist. Davon zu unterscheiden sind die systemisch-infrastrukturellen Ordnungsparameter für die in einer Volkswirtschaft fundamentalen Sektoren wie Banken, Versicherungen und Finanzdienstleister, die als Regulierung II einzuordnen sind. Auf einer dritten Ebene wird der Regulierungsbegriff in einem universellen Sinn verstanden – quasi als Auffangbegriff für all das, was nicht unter Kategorie I und II fällt. Letztendlich sind darunter alle weiteren Maßnahmen der Wirtschaftspolitik zu verstehen, die ihren rechtlichen Niederschlag in Normen und Beschränkungen finden. II. Legitimation der Regulierung I bis III Nachdem der weit verstandene Regulierungsbegriff in seinen drei Bedeutungsfacetten untergliedert wurde, gilt es den regulativen Rechtsrahmen in seiner jeweiligen Kategorie zu legitimieren und deren Grenzen zu bestimmen. Aufgrund der systematischen Unterscheidung verschiedener Anwendungsgebiete ist somit auch ein differenzierter Legitimationsmaßstab vorgezeichnet. 1. Klassische Regulierung der netzbezogenen Sektoren (Regulierung I) Ein typisches Referenzfeld für die Regulierung I findet sich im Energiewirtschaftsrecht, dem der Jubilar einen besonderen Schwerpunkt seiner Forschungstätigkeit gewidmet hat.11 Die Energieversorgung ist weitestgehend netzgebunden, so dass sich regulative Elemente hier bezeichnenderweise in den Bereichen Netzzugangsgewährung und Netzentgelten finden.12 Denn die Energieversorgungsleitungen im Strom- und Gasbereich bilden als notwendige Transportinfrastrukturen eine essentielle Fazilität, deren Nutzung zwingend erforderlich ist, um wettbewerblich auf der Großhandels- und Endkundenebene tätig zu werden. Gerade diese Leitungsnetze stellen jedoch ein natürliches Monopol dar, was nicht beliebig dupliziert werden kann.13 Anders ist es hingegen im Bereich des Zugangs zu den Gasspeicheranlagen. Hier besteht Wettbewerb, ein natürliches Monopol ist nicht gegeben.14 11 Exemplarisch: Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. I, 1. Halbbd., Einl. B und Einl. C; ders., EuR 2006 (Heft 4), 463 (463 ff.); ders., in: FS Reiner Schmidt, S. 547 (547 ff.); ders., in: FS Jarass, S. 115 (115 ff.); ders., in: FS Bartlsperger, S. 573 (573 ff.); ders., in: FS Scholz, S. 903 (903 ff.); ders., in FS Kühne, S. 329; ders., in: Brinktrine/Ludwigs/Seidel (Hrsg.), Energieumweltrecht in Zeiten von Europäisierung und Energiewende, 2014, S. 9 (9 ff.); ders., in: FS Hufen, S. 539 (539 ff.). 12 Vgl. zur Zugangs- und Netzentgeltregulierung Schmidt-Preuß, in: FS Jarass, S. 115 (120 ff.). 13 Schmidt-Preuß, in: FS Gunter Kühne, S. 329 (331); ders., in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, S. 68 (69); Merk, Recht der gaswirtschaftlichen Netzregulierung, S. 171. 14 Merk, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, § 20 Rn. 26 f.
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Ein natürliches Monopol wird gemeinhin angenommen, wenn ein Unternehmer den Markt kostengünstiger bedienen kann als ein oder mehrere Anbieter.15 Volkswirtschaftlich lässt sich dies insbesondere an der Subadditivität der Kostenfunktion ablesen, wenn also die Gesamtkosten16 für die Erzeugung von Teilmengen des Guts insgesamt die Gesamtkosten der Gütererzeugung übersteigen, sofern diese nur durch einen einzigen Anbieter bewirkt wird.17 Diesen Umstand der Subadditivität der Kostenfunktion erklärt sich aus den gegebenen steigenden Skalenerträgen (economies of scale) und bestehender Verbundersparnisse (economies of scope) bei der Errichtung und dem Betrieb von leitungsgebundenen Infrastrukturen.18 Gerade für den Energiebereich ist die natürliche Monopoleigenschaft der Strom- und Gasleitungsnetze unbestritten, denn es kann von einer Beständigkeit des natürlichen Monopols aufgrund der hohen versunkenen Kosten im Falle eines versuchten Markteintritts eines neuen Mitbewerbers ausgegangen werden.19 An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts dadurch, dass es z. B. im Bereich der Gasfernleitungsnetze zu verschiedenen Leitungsneubauten durch neue Marktteilnehmer gekommen ist, weil daraus kein wirksamer Leitungswettbewerb resultierte.20 Ob die konkrete Regulierung der Netzindustrien wirtschaftspolitisch sinnvoll und geboten ist, legitimiert sich aus dem Umstand der drohenden Marktausbeutung durch den natürlichen Monopolisten.21 Ohne regulative Eingrenzung der Umsetzung des Netzzugangs für Dritte, würde der natürliche Monopolist von den Netzzugangspetenten den maximalen Preis fordern und damit überhöhte Monopolpreise verlangen.22 Das „Ob“ und das konkrete „Wie“ der Zugangsgewährung ist somit Gegenstand der Regulierung. 15 Schmidt-Preuß, in: FS Gunter Kühne, S. 329 (330); Knipes, Wettbewerbsökonomik, S. 23; Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 271; Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, S. 68 ff.; Merk, Recht der gaswirtschaftlichen Netzregulierung, S. 151 m.w.N. 16 Schmidt-Preuß, in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, S. 68 (69); Welfens, Grundlagen der Wirtschaftspolitik, S. 191. 17 Vgl. Fritsch, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, S. 164 ff.; Schmidt-Preuß, in: Storr (Hrsg.) Neue Impulse für die Energiewirtschaft, S. 1 (9). 18 Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, S. 69; vgl. zu den Gasversorgungsnetzen: Merk, Recht der gaswirtschaftlichen Netzregulierung, S. 152 f. 19 Vgl. Fritsch, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, S. 182 ff. 20 Ausführlich: Merk, Recht der gaswirtschaftlichen Netzregulierung, S. 158 ff.; vgl. Monopolkommission, Sondergutachten Strom und Gas (2007), BT-DS. (v. 20. 11. 2007) 16/7087, Tz. 533; Monopolkommission, Sondergutachten Strom und Gas (2009), BT-DS. (v. 15. 09. 2009) 16/14060, Tz. 318 (m.w.N. Fn. 215). 21 Schmidt-Preuß, in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, S. 68 (70 f.). 22 Fritsch, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, S. 173 ff.; Welfens, Grundlagen der Wirtschaftspolitik, S. 837; Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. I, 1. Halbbd., Einl. B Rn. 105; ders., in: Brinktrine/Ludwigs/Seidel (Hrsg.), Energieumweltrecht in Zeiten von Europäisierung und Energiewende, S. 9 (11); ders., in:
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Die konkrete Ausgestaltung ist der verfassungsrechtlichen Prüfung zugänglich, wobei hierbei insbesondere Art. 12 (Berufsfreiheit) und Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit) virulent sind.23 Auf EU-Ebene sind es die entsprechenden Grundrechte der Unternehmensfreiheit aus Art. 16 GrCH und der Eigentumsfreiheit aus Art. 17 GrCH. Im Rahmen der Eigentumsfreiheit werden sich die regulativen Maßnahmen i. d. R. als Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erkennen lassen,24 bei der Berufsfreiheit sind regulative Eingriffe als Berufsausübungsregelung rechtfertigbar. Letztendlich kommt es bei der jeweiligen Rechtfertigungsprüfung insbesondere auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung i. e.S. (Abwägung) an,25 in diesem Zusammenhang sind die Ziele der Energieregulierung zu berücksichtigen. Die regulative Öffnung der Netzinfrastrukturen für Dritte dient u. a. dem Ziel der Ermöglichung von Wettbewerb im bestehenden natürlichen Netzmonopol sowie der Energieversorgungssicherheit (vgl. § 1 Abs. 2 EnWG).26 Damit sind gesetzlich die verbindlichen Ziele vorgegeben, denen die regulativen Maßnahmen dienen müssen. Diese Ziele sind es, die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung i. e.S. mit dem konkreten Regulierungseingriff abgewogen werden müssen.27 Die Regulierung der Netzindustrien steht in dem Spannungsfeld zwischen Simulation von Wettbewerb und drohender Überregulierung,28 die eine unbotmäßige Einschränkung der Marktteilnehmer bedeuten würde. Im Rahmen der Regulierung der Kategorie I wird aufgrund der strukturell bestehenden Ausbeutungstendenz der Marktgegenseite durch den natürlichen Monopolisten regelmäßig der regulative Eingriff zur Verwirklichung von Wettbewerb29 auf den vor- und nachgelagerten Märkten
Storr (Hrsg.) Neue Impulse für die Energiewirtschaft, S. 1 (10); ders., in: FS Reiner Schmidt, S. 547 (550). 23 Hierzu: Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. I, 1. Halbbd., Einl. C Rn. 199 ff. und Rn. 211 ff.; Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, S. 214 ff. und 556 ff.; vgl. zu energierechtlichen Bezügen hinsichtlich des europäischen Eigentumsgrundrechts: Schmidt-Preuß, EuR (Heft 4) 2006, S. 463 (465 ff. und 476 ff.); ders., in: FS Reiner Schmidt, S. 547 (555). 24 Beispielhafte Prüfung für die Netzzugangsregulierung im Gasbereich: Merk, Recht der gaswirtschaftlichen Netzregulierung, S. 547 ff. 25 Schmidt-Preuß, in: FS Reiner Schmidt, S. 547 (555); vgl. Einzelheiten zur Abwägung beispielshaft bei ders., NJW 2016, 1269 (1271). 26 Zum Spannungsverhältnis beider Ziele: Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. I, 1. Halbbd., Einl. B Rn. 107; vgl. Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Rn. 504 ff.; Franke, in: Schulte/Kloos (Hrsg.), Handbuch des Öffentlichen Wirtschaftsrechts, § 10 Rn. 49. 27 Schmidt-Preuß, in: FS Reiner Schmidt, S. 547 (551); vgl. beispielhafte Abwägung im Bereich der Netzzugangsregulierung im Gassektor: Merk, Recht der gaswirtschaftlichen Netzregulierung, S. 555 ff. 28 Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. I, 1. Halbbd., Einl. B Rn. 105 und Einl. C Rn. 192. 29 Vgl. Schmidt-Preuß, in: FS Reiner Schmidt, S. 547 (550 f.).
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zu einer Angemessenheit der verfassungsrechtlichen Grundrechtsprüfung führen.30 Denn die Wettbewerbsverwirklichung als großes volkswirtschaftlich erstrebtes Ziel dürfte i. d. R. die jeweiligen einzelnen Regulierungsmaßnahmen überwiegen (sofern die Geeignetheit und Erforderlichkeit im Einzelfall gegeben ist). Dem ist auch grundsätzlich weiter zuzustimmen. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die regulativen Maßnahmen von Beginn der (neueren) Regulierung der Energiemärkte von 1996/98 an bis heute immer weiter verdichtet wurden,31 so dass es inzwischen eine Vielzahl unterschiedlichster Maßnahmen gibt, die komplex ineinandergreifen.32 So hat zuletzt die Einführung und Novellierung der Anreizregulierung zu einer erheblichen Komplexität der regulativen Elemente geführt.33 Letztendlich sind damit immer weitergehende Einschränkungen der unternehmerischen Freiheiten verbunden, da sich der Unternehmer mit den Regulierungsvorgaben auseinandersetzen und sein Verhalten daran ausrichten muss. Zwar ist eine wettbewerbliche Belebung auf den vor- und nachgelagerten Märkten erreicht worden, jedoch ist es im Ergebnis nicht zu nachhaltig sinkenden Preisen – die bei einem funktionierenden Wettbewerb zu erwarten wären – für den Endkunden gekommen.34 Da die Summe der Regulierungsmaßnahmen aber auch in erheblicher Weise Kosten35 verursachen und damit zu einem Wohlstandsverlust für die gesamte Volkswirtschaft führen,36 ist es nach hier vertretener Auffassung angezeigt, diesen Faktor in der Angemessenheitsprüfung verstärkt zu berücksichtigen.37 30 Vgl. Schmidt-Preuß, in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, S. 68 (71). 31 Zur Genese der Entwicklungsschritte der energierechtlichen Regulierung: SchmidtPreuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. I, 1. Halbbd., Einl. B Rn. 80 – 82. 32 Guasch/Hahn, The Costs and Benefits of Regulation, Backround Paper World Bank, S. 27 f. sehen eine natürliche Tendenz zur Verkomplizierung der Regulierungsmaßnahmen durch die damit befassten Behörden. Dem können Transparenzanforderungen – auch über die entstehenden Regulierungskosten – entgegenwirken. 33 Vgl. hierzu Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, S. 295 ff.; Hardach, Die Anreizregulierung der Energieversorgungsnetze, S. 172 ff.; Franke, in: Schulte/Kloos (Hrsg.), Handbuch des Öffentlichen Wirtschaftsrechts, § 10 Rn. 62 ff. 34 Schmidt-Preuß, in: Bien/Ludwigs (Hrsg.), Das europäische Kartell- und Regulierungsrecht der Netzindustrien, S. 11 (14); vgl. zu den gestiegenen Haushaltskundenpreisen zwischen 2006 und 2016: BNetzA, Monitoringbericht 2016, S. 212 f.; BNetzA, Jahresbericht 2016, S. 11. 35 Vgl. CEPS, Assessing the costs and benefits of regulation, Study for the European Commission, Secretariat General, Final Report, 10. 12. 2013, S. 22 ff. 36 Vgl. die exemplarischen Berechnungen bei Guasch/Hahn, The Costs and Benefits of Regulation, Backround Paper World Bank, S. 5 ff. 37 Vgl. zur volkswirtschaftlichen Konsequenz in manchen Fällen geringfügige Störungen hinzunehmen: Eekhoff/Vossler, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, § 1 Rn. 3; vgl. zur methodologischen Problematik der Erfassung von Regulierungskosten: Hahn/Hird, 8 Vol. Yale Journal on Regulation (1991), 233 (237 ff.).
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Wenn die Verdichtung der Regulierung und die Summe vieler einzelner regulativer Elemente immer größere Kosten akkumuliert, das volkswirtschaftliche Resultat der Wettbewerbsbewirkung aber nur geringe positive Auswirkungen erreicht, dürfte die Verneinung der Rechtfertigung des Eingriffs logische Konsequenz sein. Denn dann kann ggf. von einer Überregulierung ausgegangen werden. Um dies exakt festzustellen, wäre eine Kosten-Nutzen Analyse der regulativen Maßnahmen als objektives Instrumentarium denkbar und zu entwickeln. Die Angemessenheitsprüfung müsste insofern aber nicht nur isoliert auf die konkrete Maßnahme beschränkt werden, sondern die Prüfung müsste die Summe der regulativen Eingriffe im Rahmen einer Gesamtabwägung gewichten und in Relation zu dem wirtschaftlichen Nutzen der Wettbewerbserzielung setzen. Ob die Grenze der zulässigen Regulierung somit im Bereich der energierechtlichen Regulierung überschritten wäre („Überregulierung“), kann nur im Einzelfall und im Hinblick auf die Summe der einzelbezogenen regulativen Elemente beantwortet werden, die den jeweiligen Marktteilnehmer individuell betreffen. Sicherlich wird dies im Regelfall nicht der Fall sein. Mit fortschreitender Einengung wirtschaftlicher Freiheiten der Marktteilnehmer, auflaufender Regulierungskosten und fehlender oder nur geringer Verbesserung der wettbewerblichen Situation, stellt sich jedoch die Rechtfertigung als immer problematischer dar. In solchen Fällen könnte dann auch auf das Konzept der Selbstregulierung, um deren Erforschung sich der Jubilar in besonderer Weise wissenschaftlich verdient gemacht hat,38 als weniger einschneidendes Instrumentarium zurückgegriffen werden.39 2. Systemisch-infrastrukturelle Regulierung in volkswirtschaftlich bedeutsamen Sektoren (Regulierung II) Während im Referenzgebiet der Regulierung I natürliche Monopole vorliegen, die in den Netzindustrien die Regulierungsbedürftigkeit auslösen, handelt es sich bei der systemisch-infrastrukturellen Regulierung der Kategorie II um Wirtschaftssektoren, die von herausragender wirtschaftlicher Bedeutung für das Gesamtgleichgewicht und die Funktionsfähigkeit einer Volkswirtschaft sind. Dabei handelt es sich klassischerweise um das Bank-, Finanzdienstleister- und Versicherungsgewerbe, weil diese Segmente notwendige Finanzierungs- und Absicherungsfunktionen erfüllen, ohne die ein moderner Wirtschafts- und Kapitalfluss undenkbar sind. Der Fokus der regulativen Maßnahmen im Bereich der Regulierung II ist jedoch nicht in erster Linie die Wettbewerbsgenese auf vor- oder nachgelagerten Stufen, sondern die Aufrechterhaltung und Stabilisierung der für die Volkswirtschaft essentiellen Finanzund Kapitalflussfunktionen.40 Insofern müssen sich die regulativen Eingriffe 38 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160, 181 f.; ders., in: Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, S. 19 (20 f.). 39 Vgl. beispielhaft im Gassektor die Kooperationsvereinbarung, hierzu Merk, RdE 2013, 349 (350). 40 Röhl, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, § 18 Rn. 39; vgl. Bauerfeind, BKR 2017, 187 (189 ff.).
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i. d. R. an dem überragenden Ziel der Finanzmarktstabilität messen lassen, dem wohl regelmäßig der Vorzug einzuräumen ist. Sofern sich jedoch die regulativen Maßnahmen z. B. auf rein anlegerschützende Regelungen beziehen,41 ist zu bedenken, dass aufgrund der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes, die zwar nicht ausdrücklich, aber dem Grunde nach in der Verfassung angelegt ist,42 Eigenverantwortung und Risikotragung der Wirtschaftsteilnehmer erhalten und respektiert werden müssen.43 Anlegerschutzregelungen stehen in der Gefahr der Risikoverschiebung wirtschaftlicher Verantwortlichkeiten und stellen eine Einschränkung individueller Freiheitsrechte (Art. 12, subsidiär Art. 2 GG) dar.44 Gerade im Hinblick auf die im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu eruierende Möglichkeit einer strukturellen Benachteiligung von Anlegern durch das eingriffsmildere Konzept der Selbstregulierung45 zu begegnen, dürfte hier deutliche Grenzen für zu weitreichende anlegerschützende Regelungen mit sich bringen.46 3. Universelle Regulierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen (Regulierung III) Mit der letzten Kategorie sind die Fälle der sog. social regulation umfasst,47 also Regelungen, mit denen in sonstigen Wirtschaftsbereichen außerhalb der Netzindustrien und Finanzmärkte Gemeinwohlziele gesteuert werden sollen.48 Es handelt sich um wirtschaftspolitische Steuerungsmaßnahmen, die nicht unter die Kategorien I und II fallen. Dies läuft rechtlich auf eine klassische Grundrechtsprüfung in Bezug auf die jeweiligen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, i. d. R. in Bezug auf Art. 12 und Art. 14 GG, hinaus. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass in den einschlägigen Wirtschaftsbereichen grds. Wettbewerb herrscht und damit eine Form der 41
Vgl. hierzu: Röhl, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, § 18 Rn. 39. Schmidt-Preuß spricht von der „Implizit-Garantie der sozialen Marktwirtschaft“ im GG, vgl. Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, S. 969 (981) m.w.N. 43 Hierzu und im Folgenden: Merk, in: Moritz/Klebeck/Jesch (Hrsg.), KAGB – Kapitalanlagesetzbuch, Band 1, Teilband 2, § 297 Rn. 9 ff.; v. Mises, Nationalökonomie, S. 653. 44 v. Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, S. 144. 45 Grundlegend zum Konzept der Selbstregulierung: Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160, 181 f.; ders., in: Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, S. 19 (20 f.). 46 Merk, in: Moritz/Klebeck/Jesch (Hrsg.), KAGB – Kapitalanlagesetzbuch, Band 1, Teilband 2, § 297 Rn. 9 ff. Auch eine juristisch-ökonomische Betrachtung spricht für eine zurückhaltende Regulierung im Bereich des Anlegerschutzes, vgl. hierzu: Fleischer, in: SchulteNölke/Schulze, Europäisches Vertragsrecht im Gemeinschaftsrecht, S. 171 (173 ff.); w.N. Fn. 26 bei Merk, in: Moritz/Klebeck/Jesch (Hrsg.), KAGB – Kapitalanlagesetzbuch, Band 1, Teilband 2, § 297. 47 Schmidt-Preuß, in: FS Kühne, S. 329 (330 sowie Fn. 6). 48 Schmidt-Preuß, in: FS Reiner Schmidt, S. 547 (549), dort noch als Regulierung II bezeichnet; den Hertog, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Volume III, S. 223 (224). 42
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Steuerung durch den Markt.49 Hier sind die verschiedensten Gemeinwohlbelange denkbar, die in einer Einzelfallprüfung die Rechtfertigung herbeiführen können. Jedoch ist generell – insbesondere aber bei Maßnahmen zur Wettbewerbsförderung – zu bedenken, dass im Rahmen einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung der Staat zunächst nach alternativen Möglichkeiten für die Beseitigung von Missständen suchen muss, bevor er selbst zur Regelsetzung greift und in Verfassungsrechte eingreift. Hier ist – wie in den anderen Kategorien der Regulierung – insbesondere das Primat der o.g. Selbstregulierung virulent. Dabei überlässt der Staat es den privaten Akteuren selbst, etwaige Missstände bzw. Marktverwerfungen zu korrigieren. Sofern der Staat sich hierbei auf die Kräfte des Marktes allein verlässt, handelt es sich um eine reine „gesellschaftliche Selbstregulierung“50, also dem Zusammenwirken von Privaten ohne Einwirkung des Staates. Darunter ist nach Schmidt-Preuß „die individuelle oder kollektive Verfolgung von Privatinteressen in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten zum legitimen Eigennutz“51 zu verstehen. Führt dies nicht zu einem gewünschten Ziel, kann der Staat im Rahmen einer „gesteuerten Selbstregulierung“52 den Marktteilnehmern Rahmenvorgaben setzen. Weiter behält er sich autonome administrative „Letztentscheidungskompetenz“53 vor, um die Gemeinwohlverwirklichung durch Regelsetzung zu verwirklichen. III. Soziale Marktwirtschaft als unabdingbarer Ordnungs- und Begrenzungsrahmen für jegliche Art von Regulierung Zwar nicht ausdrücklich, wohl aber dem Grunde nach, geht unsere verfassungsrechtliche Ordnung von einer freiheitlich-marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung sozialer Prägung aus (soziale Marktwirtschaft).54 Eine solche setzt anerkanntermaßen gewisse ordnende Tätigkeiten des Staates und Rahmenvorgaben für das Handeln der Marktteilnehmer voraus.55 Jedoch wird in einer marktwirtschaftlichen Wirt-
49 Schmidt-Preuß, in: Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, S. 19 (25) „dezentrale Steuerung“. 50 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160 (162); ders., in: FS Maurer, S. 777 (800). 51 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160 (162 f.); ders., in: Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, S. 19 (19) m.w.N. Fn. 1; zustimmend z. B. Calliess, AfP 2002, 465 (466); Makowski, Kartellrechtliche Grenzen der Selbstregulierung, S. 19; Merk, Recht der gaswirtschaftlichen Netzregulierung, S. 524. 52 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160 (165); ders., in: Kloepfer (Hrsg.), Selbstbeherrschung im technischen und ökologischem Bereich, S. 89 (91). 53 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160 (181 f.); ders., in: Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, S. 19 (21 f.). 54 Zur normativen Herleitung der sozialen Marktwirtschaft vgl. Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, S. 869 (899 ff.); ders., in: Brinktrine/Ludwigs/Seidel (Hrsg.), Energieumweltrecht in Zeiten von Europäisierung und Energiewende, S. 9 (11 f.). 55 v. Hayek, Marktwirtschaft und Wirtschaftspolitik, in: ders., Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, S. 3 (3 f.).
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schaftsordnung der Wettbewerb als wesentliches Ordnungsprinzip verstanden.56 Wirtschaftspolitik soll hierbei die Bedingungen schaffen, in denen sich der Wettbewerb möglichst frei und ungehindert entwickeln kann.57 Insofern sind regulative Eingriffe des Staates auf ein Minimum zu beschränken, um den Erkenntnisprozess58 des Wettbewerbs nicht zu verfälschen.59 Die Grenze zwischen einem unvertretbaren Laissez-faire und einem interventionistischen staatlichen Aktionismus ist im Einzelfall schwer zu ziehen. Hier setzen die einzelnen Abstufungen der Regulierungskategorien an, die – je nach Sachbereich – unterschiedliche Intensitäten an Regulierungsmaßnahmen zulassen. So ist z. B. im Bereich der sektorspezifischen Netzregulierung (Regulierung I) ggf. aufgrund der gegebenen Voraussetzungen von natürlichen Monopolen der Begründungsaufwand für regulative Maßnahmen geringer als bei Beschränkungen der Kategorie III.60 Denn in der Kategorie I geht es gerade um die Herbeiführung von Wettbewerbsanalogien, die aufgrund des natürlichen Monopols ohne die Regulierung nicht möglich wären.61 Jedoch zeigt das Beispiel des Energierechts der Regulierung I auch, dass mit zunehmender Verdichtung der regulativen Instrumentarien die Gefahr der Überregulierung in das Blickfeld tritt. Hierbei ist es angezeigt, die volkswirtschaftlich entstehenden Kosten für die immer umfassende Regulierung in die Angemessenheitsprüfung mit einzubeziehen. Nicht jede minimale Wettbewerbsverbesserung rechtfertigt nach hier vertretender Ansicht jedwede Ausweitung des regulativen Normen- und Pflichtengeflechts, wenn hierfür überproportionale Regulierungskosten einen Wohlstandsverlust in der Volkswirtschaft herbeiführen.62 Auch ist zu bedenken, dass die wirtschaftliche Dynamik in einer freiheitlichen Volkswirtschaft regelmäßig nicht durch staatliche Regulierungsvorgaben erreicht wird, sondern durch die eigenverantwortlich handelnden Wirtschaftsteilnehmer. Diese Dynamik wird aber gerade auch 56 Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, S. 969 (974 f.); ders., Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, S. 77 ff.; Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, Rn. 220 f. 57 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 254 ff., 270 ff.; v. Hayek, in: ders., Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, S. 3 (4). 58 v. Hayek, in: ders., Rechtsordnung und Handelsordnung, S. 132 (132 ff.). 59 v. Hayek, Marktwirtschaft und Wirtschaftspolitik, in: ders., Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, S. 3 (8); vgl. zum Wettbewerb als Steuerungsprinzip: Schmidt-Preuß, in: Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, S. 19 (25 f.); v. Lambsdorff, WuW 2001, 1177 (1177 ff.). 60 Vgl. Lepsius, GewArch Beilage WiVerw 04/2011, 206 (206 ff.) mit einer zu weitgehenden Einschränkung des Grundrechtsschutzes. 61 Schmidt-Preuß, in: FS Schmidt, S. 547 (550 f.). 62 Vgl. zu Regulierungskosten: Hahn/Hird, 8 Vol. Yale Journal on Regulation (1991), 233 (237 ff.); CEPS, Assessing the costs and benefits of regulation, Study for the European Commission, Secretariat General, Final Report, 10. 12. 2013, S. 22 ff.; Guasch/Hahn, The Costs and Benefits of Regulation, Backround Paper World Bank, 1997, S. 5 ff.; vgl. zur Versicherungswirtschaft: Krause, VW 1988, 405 (405 ff.).
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durch einen hohen Regulierungskostendruck eingeengt, da dieser als Markteintrittsbarriere für Dritte wirken kann. Dadurch kann die Produktivität eines ganzen Wirtschaftszweigs beschränkt werden.63 Dieser Aspekt ist bei künftigen regulativen Maßnahmen verstärkter in den Fokus zu nehmen, um der Gefahr einer Überregulierung vorzubeugen.
63 National Audit Office, The Business Impact Target: cutting the cost of regulation, HC 236 Session 2016 – 17, 29 June 2016, S. 5.
Verbraucherschutz durch das Bundeskartellamt – Bewährte und neue Instrumente Von Andreas Mundt, Bonn I. Einführung Schon bei den Überlegungen, die vor 60 Jahren zur Schaffung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und des Bundeskartellamtes geführt haben, spielte der Verbraucher eine zentrale Rolle. So erklärte Ludwig Erhard, dass es „(…) in meinem Bild der Wirtschaft nur einen Maßstab gibt, und das ist der Verbraucher.“1 Kartellrechtler würden dem möglicherweise reflexartig entgegenhalten, dass das Kartellrecht traditionell den Schutz des Wettbewerbs als solchen in den Mittelpunkt stellt. Tatsächlich verlangen das deutsche und das europäische Kartellrecht nicht, eine Beeinträchtigung der Konsumentenwohlfahrt im Einzelfall nachzuweisen, sondern gehen davon aus, dass Wettbewerbsbeschränkungen regelmäßig eine Gefährdung der Gesamtwohlfahrt mit sich bringen. Andererseits dürfte es aber wenig streitig sein, dass Verbraucher von einer funktionierenden Kartellrechtsdurchsetzung in erheblichem Maß profitieren. In welchem Umfang dies der Fall ist, vermag bei näherer, wenngleich nur exemplarischer, Betrachtung (nachfolgend unter III.) allerdings vielleicht doch zu überraschen. In den vergangenen Jahren hat die Debatte um das Verhältnis zwischen Verbraucherschutz und Kartellrecht eine neue Dynamik erfahren. Einerseits spielen ökonomische Erkenntnisse und Methoden eine zunehmend größere Rolle für das Kartellrecht insgesamt, während andererseits die Verbraucherbezüge verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen langsam zu einer „Verbraucherwissenschaft“ zusammenwachsen.2 Beides führt dazu, dass die Auswirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen auf Verbraucher stärker in den Blick genommen werden müssen und können: Welches Verbraucherleitbild ist der Kartellrechtsanwendung zugrunde zu legen? Wo nutzen Unternehmen gezielt sogenannte Beurteilungsfehler auf Seiten der Verbraucher aus und in-
1
Siehe zur Rolle des Verbrauchers bei der Schaffung des GWB Mundt, Die Politische Meinung – Sonderausgabe Mai 2017, 41 f. 2 So ist bspw. ein Sammelwerk erschienen, das den Blick auf den Verbraucher aus der Sicht ganz unterschiedlicher Akteure aus Wissenschaft, Politik und Rechtsanwendung zusammenführt, siehe Kenning/Oehler/Reisch/Grugel (Hrsg.), Verbraucherwissenschaften – Rahmenbedingungen, Forschungsfelder und Institutionen, Wiesbaden 2017.
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wieweit können solche Strategien im Rahmen der Kartellrechtsdurchsetzung aufgegriffen werden?3 Gleichzeitig ist im politischen Raum eine intensive Diskussion über die Notwendigkeit und den Mehrwert einer behördlichen Durchsetzung von Verbraucherrecht – insbesondere im Digitalbereich – geführt worden4 (im Einzelnen unter IV.). Auch hier stellt sich regelmäßig die Frage, inwieweit Verbraucher nicht schon durch effektive Kartellrechtsdurchsetzung und funktionierenden Wettbewerb „mitgeschützt“ werden – also Wettbewerb ganz im Sinne von Ludwig Erhard „der beste Verbraucherschutz ist“. Im Mittelpunkt der Diskussion steht aber, ob das für Deutschland prägende Modell der Verbraucherrechtsdurchsetzung auf dem Zivilrechtsweg, auch kollektiv durch Verbände, in Einzelfällen Ergänzungen in Gestalt eines Tätigwerdens von Behörden bedarf. Behördliche Ermittlungs- und Durchsetzungsbefugnisse könnten unter anderem gegenüber den großen Unternehmen der digitalen Wirtschaft Vorteile bringen, wenn z. B. der Nachweis von Rechtsverstößen Einblick in Unternehmensinterna erforderlich macht. Als politischer Kompromiss ist das Bundeskartellamt in einem ersten Schritt mit Befugnissen zur Durchführung von Sektoruntersuchungen und zur Abgabe schriftlicher Erklärungen in zivilgerichtlichen Verfahren mit verbraucherrechtlichen Bezügen als Amicus Curiae ausgestattet worden (dazu unter V.). Die Diskussion, ob diese Kompetenzen um echte Durchsetzungsbefugnisse erweitert werden sollten, wird sich in der laufenden Legislaturperiode fortsetzen. Dies gilt gerade auch im Zuge der Implementierung der reformierten Verordnung über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden (sog. CPC-VO5). Deutschland geht hier bislang – gemeinsam mit Österreich – einen Sonderweg, indem es praktisch fast alle eingehenden Durchsetzungsersuchen an Verbände delegiert, die dann die Abstellung der geltend gemachten Verstöße auf dem Zivilrechtsweg bewirken sollen. Im Zuge der Implementierung der reformierten Verordnung ins deutsche Recht wird eine Überprüfung dahingehend erforderlich werden, ob die in der Verordnung vor3 Das Bundeskartellamt hat sich mit dem Verhältnis von Wettbewerb, Kartellrecht, Verbraucherschutz und Verbraucherverhalten auf der Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht im Oktober 2016 intensiv auseinandergesetzt. Das in Vorbereitung auf die Tagung entstandene, ausführliche Arbeitspapier sowie ein Bericht von der Veranstaltung sind abrufbar unter: http:// www.bundeskartellamt.de/DE/UeberUns/Veranstaltungen/ArbeitskreisKartellrecht/arbeitskreis kartellrecht_node.html, alle in diesem Beitrag genannten Internetseiten wurden zuletzt abgerufen am 15. 1. 2018. 4 Dies war im Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“, S. 87 f. bereits angelegt (siehe etwa: https://www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag. pdf). Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat im Jahr 2014 einen Sachverständigenrat für Verbraucherfragen eingerichtet, der die Bundesregierung in der Verbraucherpolitik beraten soll (http://www.svr-verbraucherfragen.de/). 5 Verordnung (EU) 2017/2394 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2017 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004, ABl. 2017 L 345/1.
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gesehenen, erweiterten hoheitlichen Befugnisse und die verstärkte Zusammenarbeit der Behörden unterschiedlicher Mitgliedsstaaten auch in Deutschland eine stärkere Rolle der Behörden selbst erforderlich machen, als dies bisher der Fall ist. Neben der Diskussion um eine Stärkung des Durchsetzungsregimes kommen immer wieder auch Überlegungen auf, neue und spezifische Regeln für den Digitalbereich zu schaffen, etwa in Gestalt einer Plattformregulierung. Gerade die sog. disruptiven Geschäftsmodelle sind häufig damit verbunden, dass bestehende Regelwerke auf sie keine Anwendung finden und sie hierdurch gegenüber vorhandenen Marktakteuren Wettbewerbsvorteile haben. Beispiele sind etwa die Unternehmen Airbnb und Uber gegenüber Hotels bzw. Taxiunternehmen. Zugleich wird in diesen Fällen die Frage aufgeworfen, welche der überkommenen Regeln heute noch sachlich gerechtfertigt sind. Daneben gibt es den Fall, dass Plattformen Rechtsverstöße durch ihre Nutzer nicht konsequent abstellen, möglicherweise weil sie damit verbundene Umsatzeinbußen befürchten. Darauf hat der Gesetzgeber im Bereich sozialer Netzwerke mit dem sog. Netzwerkdurchsetzungsgesetz reagiert, das vom Bundesamt für Justiz durchgesetzt wird und die kurzfristige Sperrung oder Entfernung von Hasskriminalität und anderen strafbaren Inhalten aus sozialen Netzwerken auf Nutzerbeschwerden hin sicherstellen soll.6 Insgesamt kann auf die Frage, wie Verbraucher als Marktteilnehmer unterstützt werden können, ohne sie zu bevormunden, keine einheitliche Antwort gegeben werden. Vielmehr ist im Einzelfall zu entscheiden, wie unlauterem oder wettbewerbsbeschränkendem Verhalten von Unternehmen begegnet werden kann, ohne die Vertragsfreiheit und damit die Vielfalt im Markt, die auch Verbrauchern zugutekommt, zu stark zu beschränken (dazu nachfolgend unter II.). Der vorliegende Beitrag soll die verschiedenen Diskussionsstränge zusammenführen, die sich besonders gut an den Herausforderungen zeigen, die die Digitalisierung der Wirtschaft den staatlichen Organen stellt. Die Suche nach dem optimalen Miteinander von privater und behördlicher Rechtsdurchsetzung sowie Regulierung stellt auch die Verbindung zu den Forschungsschwerpunkten des Jubilars dar, der sich nicht nur mit dem Kartellrecht und dem Regulierungsrecht, sondern mit dem „wirtschaftsnahen Verwaltungsrecht“ insgesamt auseinander gesetzt hat. Damit richtet er den Blick auf die verschiedenen Formen staatlicher Eingriffe in Märkte, auf die Ziele eines solchen Eingreifens und auf Interessen und die Rolle privater Unternehmen in diesem Zusammenhang. II. Verbraucher als Marktteilnehmer Verbraucherverhalten ist seit jeher eine zentrale Größe kartellrechtlicher Ermittlungen und Entscheidungen gewesen. Dabei ist dem Kartellrecht manches Mal vorgeworfen worden, es lege unbesehen das Verbraucherbild eines homo oeconomicus zugrunde, während sich die Verbraucher in der Realität häufig nur eingeschränkt ra6
Siehe https://www.bundesjustizamt.de/DE/Presse/Archiv/2017/20171227.html?nn=3451902.
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tional verhielten.7 Dem kann aber entgegengehalten werden, dass Kartellrecht und Wettbewerbsökonomie zwar im Ausgangspunkt eine Vorstellung zugrunde liegt, wonach sich Marktteilnehmer mehrheitlich rational verhalten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Abweichungen von diesem Modell, soweit sie bekannt oder ermittelbar sind, nicht in Betracht gezogen werden. Zum einen legt das Bundeskartellamt in konkreten Verfahren und Entscheidungen keineswegs unkritisch-pauschal ein rationales Verbrauchermodell zugrunde, sondern ermittelt stets soweit wie möglich das tatsächliche Verbraucherverhalten. So wird, etwa im Rahmen der Marktabgrenzung, primär darauf abgestellt, welche Ausweichalternativen der Verbraucher tatsächlich wahrnimmt. Dies hat etwa dazu geführt, dass das Bundeskartellamt bei der Versorgung von Privathaushalten mit Strom von getrennten Märkten für die Belieferung von Grundversorgungskunden und Sondervertragskunden ausgeht.8 Auch im Rahmen von Missbrauchsverfahren können Beurteilungsfehler auf Verbraucherseite von Belang sein. Ein Beispiel hierfür ist der sog. default bias, also die Tendenz zur Beibehaltung von Voreinstellungen, der in den Verfahren der Europäischen Kommission gegen Microsoft wegen der Kopplung mit bzw. Vorinstallation des Windows Media Players9 bzw. des Microsoft Internet Explorers10 eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Kommission hat ausdrücklich angeführt, dass ein Hindernis für die Installation eines alternativen Browsers durch den Nutzer sei, dass er zuvor seine eigene Trägheit überwinden müsse. Hier wird also das einen Behinderungsmissbrauch erleichternde, bedingt rationale Verbraucherverhalten zu Lasten des Unternehmens berücksichtigt. Auf der anderen Seite werden Präferenzen oder vermeintliche Interessen von Verbrauchern auch als Rechtfertigung für Wettbewerbsbeschränkungen ins Feld geführt. 7
Siehe dazu auch Mundt/Stempel, Das Bundeskartellamt, in: Kenning/Oehler/Reisch/ Grugel (Hrsg.), Verbraucherwissenschaften – Rahmenbedingungen, Forschungsfelder und Institutionen, Wiesbaden 2017, S. 582 ff. sowie Bundeskartellamt, Wettbewerb und Verbraucherverhalten – Konflikt oder Gleichlauf zwischen Verbraucherschutz und Kartellrecht?, Hintergrundpapier zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht am 6. Oktober 2016, abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Diskussions_Hintergrund papier/AK_Kartellrecht_2016_Wettbewerb_und_Verbraucherverhalten.pdf?__blob=publica tionFile&v=3. 8 Siehe etwa B8 – 107/09 – Integra/Thüga, Rn. 35 ff., abrufbar unter: http://www.bundes kartellamt.de/SharedDocs/Entscheidung/DE/Entscheidungen/Fusionskontrolle/2009/B8 107 - 09.pdf?__blob=publicationFile&v=3; vgl. für den Bereich der Gasversorgung B8 – 69/14 – EWE/VNG, Rn. 168 ff., abrufbar unter: http://www.bun-deskartellamt.de/SharedDocs/Ent scheidung/DE/Entscheidungen/Fusionskontrolle/2014/B8 - 69 - 14.pdf?__blob=publicationFi le&v=2; hier wurden allerdings auch die unterschiedlich hohen Konzessionsabgaben (Rn. 175) und die Tatsache, dass ein Teil der Verbraucher aufgrund einer negativen Bonitätsbewertung effektiv über keine Wechselmöglichkeiten verfügt (Rn. 176), in die Marktabgrenzung einbezogen. 9 Entscheidung der Kommission vom 24. 5. 2004 in der Sache COMP/C-3/37.792 – Microsoft. 10 Beschluss der Kommission vom 16. 12. 2009 in der Sache COMP/C-3/39.530 – Microsoft (Kopplung).
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Häufig verbergen sich dahinter jedoch vielmehr Interessen der Unternehmen selbst. So führen Bestpreisklauseln – sei es auf Handelsplattformen oder Hotelportalen – nicht etwa dazu, dass Verbraucher günstige Preise erhalten, sondern haben tendenziell ein insgesamt erhöhtes Preisniveau zur Folge. Dem Verbraucher bleibt allenfalls das „gute Gefühl“, dass er – oder andere Verbraucher – nicht dieselbe Leistung an anderer Stelle günstiger erhalten können. Ob dieses Gefühl (einzelner) Verbraucher es rechtfertigen kann, mittels einer Wettbewerbsbeschränkung die auf der Plattform vertretenen Unternehmen zu zwingen, außerhalb der Plattform keine günstigeren Angebote zu machen und damit potentiell das Preisniveau insgesamt zu erhöhen, darf bezweifelt werden. Verbraucherverhalten ist aber nicht nur eine wichtige Größe in der Kartellrechtsanwendung. Funktionierender Wettbewerb ist auf eine aktiv am Marktgeschehen teilnehmende Marktgegenseite angewiesen. Soweit dies bei bestimmten Verbrauchern oder bestimmten Arten von getätigten Geschäften nicht der Fall ist bzw. Verbraucher sich – tatsächlich oder scheinbar – irrational verhalten, ist ein Regelungsrahmen, der dem effektiv entgegenwirkt, nicht nur im Interesse der Verbraucher selbst, sondern auch im Interesse des Wettbewerbs. Ein Beispiel hierfür ist die Markttransparenzstelle für Kraftstoffe, die der Gesetzgeber im Jahr 2013 beim Bundeskartellamt eingerichtet hat. Die Verbraucher können hier über angeschlossene Informationsdienste die aktuell gültigen Preise an Tankstellen in ihrem Umkreis oder auf ihrer Route einsehen und so ihre Auswahlentscheidungen besser informiert treffen. Derartige, mindestens regulierungsähnliche Eingriffe sind aus wettbewerblicher Sicht zwar grundsätzlich ambivalent, weil sie auch die Markttransparenz für die Anbieter selbst erhöhen können.11 Allerdings war in diesem Bereich die anbieterseitige Markttransparenz durch gegenseitige, flächendeckende Preisbeobachtung bereits sehr hoch,12 so dass die Markttransparenzstelle hier im Ergebnis vor allem das Informationsgefälle zwischen den Anbietern und den Verbrauchern verringert. Ein weiteres Beispiel sind Unternehmen, die durch ihre Angebotsgestaltung die Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Anbietern systematisch erschweren oder sich Beurteilungsfehler der Verbraucher zunutze machen, indem sie etwa lange Mindestvertragslaufzeiten oder anderweitig unflexible Vertragsmodelle anbieten. Dies ist insbesondere bei Dienstleistungen der Fall, deren Eigenschaften nicht von vornherein feststehen, sondern von vertraglicher Gestaltung abhängig sind. Typische Beispiele sind etwa die Märkte für Energie, Telekommunikation, Versicherungen oder Finanzdienstleistungen. Eine einheitliche Lösung für die Frage, wie hiermit am besten umzugehen ist, gibt es nicht. Der Staat kann als ultima ratio durch zwingende Vorgaben für Vertrags11 12
S. 29.
Siehe etwa Dewenter/Löw, NZKart 2015, 458 (459). Bundeskartellamt, Sektoruntersuchung Kraftstoffe, Abschlussbericht v. Mai 2011,
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inhalte, aber auch schon durch Informations- und Offenlegungspflichten reagieren. Maßnahmen, die bspw. eine bessere Vergleichbarkeit verschiedener Tarife ermöglichen, sind dabei gegenüber zwingenden Vorgaben oft das mildere Mittel und zudem marktwirtschaftlicher, weil sie eine grundsätzlich wünschenswerte Vielfalt verschiedener Vertragsmodelle nicht künstlich beschneiden. Daneben kann der Markt mit einigen Herausforderungen auch selbst umgehen und die Verbraucher bei ihrer Auswahlentscheidung unterstützen. Eine interessante, wenn auch ambivalente Rolle haben hierbei die Vergleichsportale eingenommen, die sich in verschiedenen Bereichen als hilfreiches Instrument für Verbraucher erwiesen haben, um den für die eigenen Bedürfnisse besten Anbieter zu finden. Zugleich sind die Portale selbst aber wegen einer möglicherweise intransparenten Gestaltung der Rankings und einer manchmal unklaren Rolle im Verhältnis zu den empfohlenen Anbietern in die Kritik geraten.13 Insoweit wird auch in der Politik diskutiert, welchen Offenlegungspflichten digitale Plattformen unterliegen sollten.14 III. Verbraucherschutz durch das Kartellrecht Auch wenn das deutsche und europäische Kartellrecht eine Gefährdung der Verbraucherwohlfahrt im Einzelfall nicht zur Voraussetzung ihres Eingreifens machen, so ist doch eindeutig festzustellen, dass Verbraucher von effektiver Kartellrechtsdurchsetzung in ganz erheblichem Maße profitieren. Sie stellt insbesondere sicher, dass der Verbraucher sich im Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern von Waren oder Dienstleistungen entscheiden kann und solche Produkte vorfindet, die seinen Preis- oder Qualitätsvorstellungen am besten entgegenkommen. Sofern sich Verbraucher marktmächtigen Unternehmen entgegen sehen, stellt die Missbrauchsaufsicht sicher, dass auch keine unangemessenen Preise oder sonstigen Bedingungen von ihm gefordert werden. So betrafen die in den vergangenen Jahren mit hohen Geldbußen belegten, klassischen Kartelle in zahlreichen Fällen unmittelbar verbraucherrelevante Güter wie etwa Bier,15 Wurst16 oder Zucker17. Auch in den umfangreichen Verfahren wegen ver13 Siehe etwa die Pressemitteilung über die Einleitung der Sektoruntersuchung Vergleichsportale durch das Bundeskartellamt, abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/ SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilung-en/2017/24_10_2017_Vergleichsportale.html. 14 Die Frage wird etwa in dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie veröffentlichte Grünbuch Digitale Plattformen aufgeworfen (abrufbar unter: https://gruenbuch.de. digital/de/startseite/). 15 Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Bierbrauer abrufbar unter: http://www.bundes kartellamt.de/SharedDocs/Entscheidung/DE/Fallberichte/Kartellverbot/2014/B10 - 105 - 11. html. 16 Pressemitteilung zum Bußgeldverfahren gegen Wursthersteller abrufbar unter: http:// www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2014/15_07_2014_ Wurst.html. 17 Pressemitteilung zum Bußgeldverfahren gegen Zuckerhersteller unter: http://www.bun deskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2014/18_02_2014_Zucker.html.
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tikaler Preisbindung im Lebensmitteleinzelhandel bei Produkten wie Süßwaren, Kaffee, Tiernahrung, Bier und Körperpflegeprodukten18 war der Verbraucher der Leidtragende der Absprachen. In der Fusionskontrolle zeigt sich am Fall Edeka/Kaiser’s Tengelmann19 exemplarisch, dass auch dieses Instrument darauf ausgerichtet ist, den Verbrauchern Ausweichmöglichkeiten zu erhalten. Nach den Feststellungen des Bundeskartellamtes war davon auszugehen, dass durch den Vollzug des Zusammenschlusses auf den bereits hoch konzentrierten, regionalen Absatzmärken der Qualitätswettbewerb vermindert sowie weitere Preiserhöhungsspielräume für die verbliebenen Wettbewerber eröffnet werden. Im Missbrauchsbereich spielt insbesondere der Versorgungssektor eine Rolle, wo der Verbraucher sich teilweise noch heute ohne jede Ausweichmöglichkeit einem Monopol gegenübersieht, etwa bei der Wasser- oder Wärmeversorgung. Hier schützt eine effektive Missbrauchsaufsicht vor überhöhten Preisen. In vielen vom Bundeskartellamt geführten Preishöhenmissbrauchsverfahren sind auch Rückerstattungen überhöhter Preise an die Verbraucher oder alternativ Preissenkungen für die Zukunft festgelegt worden, die sich insgesamt auf etliche hundert Millionen Euro belaufen.20 IV. Herausforderungen der Digitalisierung Die Digitalisierung führt Verbraucherschutz und Kartellrecht noch enger zusammen. Sie bietet den Verbrauchern und damit auch dem Wettbewerb zunächst einmal eine Vielzahl neuer Möglichkeiten und Chancen. Neue Geschäftsmodelle lassen sich mit vergleichsweise geringem Aufwand und dennoch hoher Reichweite erproben. Plattformen und Vergleichsportale schaffen eine hohe Auswahl und Transparenz zugunsten der Verbraucher. Zugleich ist der Digitalbereich aber auch mit besonderen Gefahren für Verbraucher und Wettbewerb verbunden. Durch Netzwerkeffekte entstehen – besonders in Bereichen, wo Verbraucher für dieselbe Funktion typischerweise nicht mehrere Plattformen nebeneinander nutzen (Single-Homing) – hohe Risiken, dass Märkte kippen (Tipping) und nur ein einziger Anbieter verbleibt. Dieser kann seine Vorteile dann immer weiter ausbauen, was 18 Pressemitteilung zum Vertikalfall abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/Sha redDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2015/18_06_2015_Vertikalfall.html. 19 Die Entscheidung ist veröffentlicht und unter http://www.bundeskartellamt.de/Shared Docs/Meldung/DE/AktuelleMeldungen/2015/09_07_2015_Ver%C3 %B6ffentlichung_Entschei dungen_Edeka_Tengelmann.html abrufbar. 20 Pressemitteilungen zu den Verfahren gegen Heizstromversorger (http://www.bundeskar tellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2015/03_11_2015_Entega.html?nn= 3591286), Wasserversorger (http://www.Bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Presse mitteilungen/2014/07_05_2014_BWB.html und http:// www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/ Meldung/DE/Pressemitteilungen/2015/19_10_2015_WSW_neu.html) sowie Fernwärmeversorger (http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2017/ 14_02_2017_Fernwaerme.html).
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neue Marktzutritte stark erschwert. Der Verbraucher sieht sich also zunehmend sehr großen Unternehmen gegenüber. Deren Geschäftsbedingungen und insbesondere der Umgang mit den Daten des Verbrauchers werfen Fragen auf, deren Klärung gerade erst begonnen hat. Disruptive Geschäftsmodelle können Bewegung in festgefahrene Märkte bringen, dem Verbraucher neue und attraktivere Angebote machen und für mehr Wettbewerb sorgen. Einige dieser Geschäftsmodelle bauen ihren Erfolg aber auch darauf auf, dass sie von bestehenden Regeln für bestimmte Branchen nicht erfasst werden. Hier ist die Frage zu stellen, inwieweit es dann Anpassungen dieser Regeln bedarf, um einerseits einen fairen Wettbewerb zwischen alten und neuen Akteuren zu ermöglichen, andererseits aber eine innovationsfeindliche „Überregulierung“ zu vermeiden. Teilweise greifen im Digitalbereich auch kartellrechtliche Regeln nicht voll. Wegen des Wissens um Netzwerkeffekte und Monopolisierungstendenzen setzen Unternehmen in einer frühen Phase allein darauf, möglichst hohe Marktanteile zu erzielen, ohne dass damit notwendigerweise schon entsprechende Umsätze verbunden sind. Dies hat dazu geführt, dass Unternehmenszusammenschlüsse, bei denen marktstarke Unternehmen für einen hohen Kaufpreis erworben wurden, nicht der Fusionskontrolle unterlagen, weil das Zielunternehmen in Deutschland noch sehr geringe Umsätze erzielte. Der Gesetzgeber hat hierauf in der 9. GWB-Novelle reagiert, indem er in § 35 Absatz 1a) GWB eine ergänzende Transaktionsschwelle eingeführt hat.21 Im Digitalbereich stellt sich auch in besonderer Weise die Frage, inwieweit die Kartellrechtsanwendung und die bestehenden, verbraucherrechtlichen Durchsetzungsmechanismen mit den neuen Entwicklungen umgehen können und wo es ggf. einer Stärkung der Rechtsdurchsetzung oder sogar neuer Regeln bis hin zu einer digitalspezifischen Regulierung bedarf. Dies kann bis zu Überlegungen gehen, Unternehmen wie Google oder Facebook in einer Weise zu regulieren, die sie in die Nähe nicht sinnvoll duplizierbarer, öffentlicher Infrastrukturen rücken würde. Richtet man den Blick ausschließlich auf den status quo bei Suchmaschinen und sozialen Netzwerken, so erscheint der Gedanke, diese Unternehmen als QuasiMonopolisten zu betrachten, die kaum mehr von Wettbewerbern angegriffen werden können, durchaus nicht abwegig. Erweitert man jedoch den zeitlichen Horizont ein wenig und blickt auf die Entwicklung von Unternehmen wie Microsoft, das noch immer eine große Rolle spielt, wo sich aber die Monopolisierungsbefürchtungen der Neunzigerjahre nicht bewahrheitet haben, gibt es vielleicht begründete Hoffnung, dass eine effektive Durchsetzung des vorhandenen Rechtsrahmens durch 21 Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur 9. GWB-Novelle verweist als Begründung für die Einführung der neuen Transaktionsschwelle insbesondere auf die Übernahme von WhatsApp durch Facebook im Jahr 2014, die wegen der geringen Umsätze von WhatsApp an sich weder der deutschen, noch der europäischen Fusionskontrolle unterfiel (Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BTDrucks. 18/10207, S. 70 f.).
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die Europäische Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden auch gegenüber den aktuellen „Digitalgiganten“ eine gute Herangehensweise ist. Das Bundeskartellamt hat im Umgang mit der digitalen Wirtschaft bereits umfangreiche Durchsetzungserfahrung gesammelt22 und baut auch unabhängig von konkreten Verfahren sein konzeptuelles Knowhow stetig aus.23 Es trägt damit, in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission und den Schwesterbehörden aus den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union dazu bei, dass auch internationale Digitalkonzerne sich an geltende Vorschriften halten und insbesondere ihre Marktmacht nicht unzulässig zulasten der Verbraucher ausnutzen. Beispielhaft hierfür steht das Verfahren gegen Facebook, in dem das Bundeskartellamt zum Ende des Jahres 2017 zu der vorläufigen Einschätzung gelangt ist, dass das Unternehmen auf dem deutschen Markt für soziale Netzwerke marktbeherrschend ist und diese Stellung missbräuchlich ausnutzt. Den Missbrauch sieht das Bundeskartellamt insbesondere darin, dass das Unternehmen die Nutzung des sozialen Netzwerks davon abhängig macht, unbegrenzt jegliche Art von Nutzerdaten aus Drittquellen sammeln und mit dem Facebook-Konto zusammenführen zu dürfen.24 V. Stärkung behördlichen Verbraucherschutzes Die Diskussion um eine Stärkung der Rechtsdurchsetzung insbesondere im Digitalbereich hat auch zu Überlegungen geführt, das Bundeskartellamt mit neuen Zuständigkeiten auszustatten, die ihm den Einsatz seiner Befugnisse in Kartellverwaltungsverfahren (§§ 32 ff. GWB) auch bei Verbraucherrechtsverstößen größeren Aus22 So sind bereits Verfahren gegen Amazon wegen Preisparitätsklauseln auf dem Marketplace sowie gegen Apple und Audible wegen einer Exklusivvereinbarung im Bereich Hörbücher geführt worden, die eingestellt werden konnten, nachdem die Unternehmen die vom Bundeskartellamt – in letzterem Fall in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission – beanstandeten Vereinbarungen aufgegeben hatten. Siehe den Fallbericht zum Amazon-Fall unter http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/AktuelleMeldungen/2013/10_ 12_2013_Fallbericht.html sowie die Pressemitteilung zum Apple/Audible-Fall unter http:// www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2017/19_01_2017_Au dible_Amazon.html. 23 So hat das Bundeskartellamt Anfang 2015 einen „Think Tank Internet“ eingerichtet, der u. a. ein Arbeitspapier zur Marktmacht von Plattformen und Netzwerken verfasst hat (http:// www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Berichte/Think-Tank-Bericht.pdf?__ blob=publicationFile&v=2) und die Arbeit der Beschlussabteilungen konzeptuell begleitet. In Zusammenarbeit mit der französischen Wettbewerbsbehörde ist darüber hinaus ein gemeinsames Papier zu Daten und ihren Auswirkungen aus das Wettbewerbsrecht entstanden, das ebenfalls öffentlich verfügbar ist, siehe http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/ DE/Presse-mitteilungen/2016/10_05_2016_Big%20Data.html. 24 Zu diesen Drittseiten gehören einerseits konzerneigene Dienste wie WhatsApp oder Instagram, andererseits aber auch Webseiten und Apps Dritter, auf die Facebook über Schnittstellen zugreifen kann. Siehe im Einzelnen die Pressemitteilung und das Hintergrundpapier zum Verfahren, die hier abrufbar sind: http:// www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/ Meldung/DE/Meldungen%20News%20Karussell/2017/19_12_2017_Facebook.html;jsessio nid=C0DDA33E9F0F3DDB671F0233641C67C2.1_cid371.
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maßes erlauben würden.25 Ein typisches Beispiel für ein nicht-marktmachtbezogenes Marktversagen, das die Behörde dann unter bestimmten Bedingungen ebenfalls adressieren könnte, sind Allgemeine Geschäftsbedingungen. Die Rechtfertigung, solche einseitig gestellten Bedingungen einer besonderen Kontrolle zu unterwerfen, besteht mittlerweile nicht mehr hauptsächlich in der Ausnutzung einer wirtschaftlichen Machtposition, die es dem Anbieter erlaubt, ihm günstige Vertragsbedingungen auch gegen den Willen des anderen Teils durchzusetzen.26 Vielmehr steht heute ein sog. „Informations- und Motivationsgefälle“ zwischen den Parteien im Fokus. Man geht davon aus, dass gerade bei Geschäften von vergleichsweise geringem Umfang die ungleiche Verteilung der Transaktionskosten dazu führt, dass es für den einzelnen Verbraucher regelmäßig irrational wäre, die ihm gestellten AGB zu lesen oder gar zu verhandeln. Damit könnte es – ohne eine AGB-Kontrolle – zu einem Verschlechterungswettbewerb hin zu möglichst kundenfeindlichen Geschäftsbedingungen kommen.27 AGB-Recht und anderes Verbraucherrecht – insbesondere auch das UWG – werden in Deutschland traditionell auf dem Zivilrechtsweg durchgesetzt. Hier hat sich insbesondere das Modell der kollektiven Rechtsdurchsetzung durch Verbände (etwa die Verbraucherzentralen oder die Wettbewerbszentrale) für die ganz überwiegende Zahl der Sachverhalte als sehr effektiv erwiesen. Der Gesetzgeber hat sich jedoch zurecht die Frage gestellt, ob dieses Durchsetzungsmodell – gerade im Digitalbereich – an Grenzen stoßen kann. Dies liegt insbesondere immer dann nahe, wenn sich der vermutete Rechtsverstoß nur mit Einblick in die internen Verhältnisse des jeweiligen Unternehmens aufklären lässt, was effektiv nur mit behördlichen Auskunftsbefugnissen machbar ist. Ebenso ist es denkbar, dass Verstöße zwar auf dem Zivilrechtsweg festgestellt werden, der Abstellungsmaßnahme aber die Breitenwirkung fehlt oder der Verstoß bereits zu Vermögensverschiebungen zu Lasten einer Vielzahl von Verbrauchern geführt hat, deren Rückabwicklung auf dem Zivilrechtsweg nicht effektiv möglich erscheint; auch hier können – gerade bei Massengeschäften – wieder Transaktionskosten und rationale Apathie eine wichtige Rolle spielen. In der vergangenen Legislaturperiode wurden verschiedene Maßnahmen zur Stärkung der Rechtsdurchsetzung beschlossen. Dies betrifft einerseits die Verbraucherverbände, wo in Gestalt der Marktwächter Finanzen und Digitale Welt zwei neue 25 Zu diesem nicht öffentlich gewordenen Vorschlag siehe Podszun/Schmieder, Verbraucherrechtliche Befugnisse des Bundeskartellamts, in: Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWBNovelle, S. 85 (106 ff.). 26 So noch die sog. Monopolrechtsprechung des Reichsgerichts, RGZ 62, 264, 266 („Wo der einzelne ein ihm tatsächlich zustehendes Monopol oder den Ausschluss einer Konkurrenzmöglichkeit dazu mißbraucht, dem allgemeinen Verkehr unbillige, unverhältnismäßige Opfer aufzuerlegen, unbillige und verhältnismäßige Bedingungen vorzuschreiben, da können dieselben rechtliche Anerkennung nicht finden.“). 27 Siehe hierzu etwa Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht, S. 154 ff.; Basedow, in: MüKo BGB, 7. Aufl. 2016, Vorbemerkung zu §§ 305 ff. Rn. 5 f.; sowie Käseberg, Verbraucherschutz als Teil der Marktordnung, Wirtschaftsdienst 2013, S. 33 f.
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Einrichtungen geschaffen wurden, die nicht nur eine Systematisierung der Marktbeobachtung zum Ziel haben, sondern den Verbraucherzentrale Bundesverband und die Verbraucherzentralen in den Ländern bei der Rechtsdurchsetzung ergänzen.28 Durch das Kleinanlegerschutzgesetz hat andererseits die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht eine neue, sehr weit formulierte Befugnis im Verbraucherschutz erhalten, die in § 4 Abs. 1a) des Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetzes festgeschrieben ist. Danach darf die Behörde im Rahmen ihrer bestehenden Aufsichtstätigkeit „alle Anordnungen […] treffen, die geeignet und erforderlich sind, um verbraucherschutzrelevante Missstände zu verhindern oder zu beseitigen, wenn eine generelle Klärung im Interesse des Verbraucherschutzes geboten erscheint.“ Auch für das Bundeskartellamt war bereits im Koalitionsvertrag eine neue Rolle im Bereich des Verbraucherschutzes angelegt.29 Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zur 9. GWB-Novelle gab es dann Überlegungen, die Behörde für Verbraucherrechtsverstöße größeren Umfangs mit Befugnissen auszustatten, die sich an denjenigen orientieren, die in Kartellverwaltungsverfahren gelten.30 Schlussendlich hat sich der Gesetzgeber aber entschieden, dem Bundeskartellamt in einem ersten Schritt nur zwei Instrumente an die Hand zu geben, nämlich die Durchführung von Sektoruntersuchungen und die Beteiligung an verbraucherrechtlichen Streitigkeiten vor Zivilgerichten als amicus curiae.31 Im Rahmen von Sektoruntersuchungen verfügt das Bundeskartellamt hierbei über alle wesentlichen Ermittlungsbefugnisse – mit Ausnahme von Durchsuchungen – wie es sie auch in Kartellverwaltungsverfahren einsetzen kann. Es kann also u. a. verbindliche Auskunftsbeschlüsse erlassen oder Vernehmungen durchführen und damit in Bereiche vordringen, wo die zivilrechtliche Sachverhaltsaufklärung an Grenzen stößt. Dies betrifft insbesondere die Aufklärung unternehmensinterner Vorgänge, was sich an den beiden zuerst eingeleiteten Sektoruntersuchungen gut zeigt: In der Sektoruntersuchung Vergleichsportale32 wird es u. a. darum gehen, das Zustandekommen von Rankings und die Verflechtungen verschiedener Vergleichsportale untereinander aufzuklären. Dies ist umfänglich nur mit den genannten behördlichen Auskunftsrechten zu leisten. Die Sektoruntersuchung zu Smart-TVs33 soll näher beleuchten, ob und in welchem Umfang personenbezogene Daten von den Anbietern solcher Ge28
Siehe etwa https://ssl.marktwaechter.de/der-marktwaechter. Siehe den Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“, S. 87 f., https://www. cdu.de/sites/default/files/ media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf. 30 Siehe dazu Podszun/Schmieder, Verbraucherrechtliche Befugnisse des Bundeskartellamts, in: Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, S. 85 (106 ff.). 31 Für eine ausführliche Darstellung der neuen Befugnisse siehe Becker, Zeitschrift für Wettbewerbsrecht 2017, 317 ff. 32 Pressemitteilung über die Einleitung abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/ SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2017/24_10_2017_Vergleichsportale.html. 33 Pressemitteilung über die Einleitung abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/ SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2017/13_12_2017_SU_SmartTV.html?nn= 3591568. 29
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räte erhoben, weitergegeben und kommerziell verwertet werden und inwieweit die Betroffenen hierüber ordnungsgemäß informiert werden. Beide Untersuchungen zeigen, dass es im bestehenden System der Verbraucherrechtsdurchsetzung Grenzen gibt, die gerade gegenüber großen und international agierenden Digitalunternehmen zum Tragen kommen. Hier wird sich der Gesetzgeber in der laufenden Legislaturperiode erneut mit der Frage auseinanderzusetzen haben, ob es für Verbraucher und Wettbewerb vorteilhaft sein kann, wenn die spezifischen Vorteile behördlicher Ermittlungs- und Durchsetzungsmaßnahmen auch in der Verbraucherrechtsdurchsetzung zum Tragen kommen können. Das zivilrechtliche Durchsetzungssystem könnte damit dort komplementär gestärkt werden, wo es im Einzelfall an Grenzen stößt. Wirksam sicherzustellen, dass die Geschäftspraktiken großer Digitalunternehmen geltendem Recht entsprechen, ist im Sinne der Verbraucher und aller redlich handelnden Unternehmen. Letztlich kann es auch im Interesse der betroffenen Unternehmen selbst liegen, wenn nämlich auch solche Verfahren dazu führen, dass eine umfassende „Digitalregulierung“, etwa von Internetplattformen, nicht erforderlich wird.
Nachträgliche Beschwerde gegen Entgeltgenehmigungen? Von Karsten Otte, Bonn* I. Einführung Das am 2. September 2016 in Kraft getretene Eisenbahnregulierungsgesetz hat für Trassennutzungsentgelte und Stationsentgelte die Genehmigungspflicht eingeführt. Rechtsgrundlage der Entscheidung der dafür zuständigen Beschusskammer ist § 45 ERegG i. V. m. § 80 Abs. 5 ERegG. Danach sind die Entgelte zu genehmigen, soweit die Ermittlung der Entgelte den Anforderungen der §§ 24 bis 40 und 46 und die Entgeltgrundsätze den Vorgaben der Anlage 3 Nummer 2 entsprechen. Seither ist es zu zahlreichen Genehmigungen von Trassenentgelten gekommen, u. a. der Trassenpreissysteme (TPS) 2018 und 2019 der DB Netz AG.1 Ihr Verhältnis zu zeitlich nachgelagerten Beschwerden ist im Gesetz nicht hinreichend klar konturiert, wie am nachstehend beschriebenen Fall aufgezeigt werden soll. Die Betreiber der Schienenwege hatten die beabsichtigten Entgelte und Entgeltgrundsätze des TPS 2018 nach Durchlaufen des gemäß § 19 Abs. 2 ERegG vorgesehenen Konsultationsverfahrens am 7. Oktober 2016 in schriftlicher Form an die Bundesnetzagentur übergeben und die Genehmigung beantragt. Am 6. Februar 2017 genehmigte die Beschlusskammer 10 der Bundesnetzagentur die beantragten Nutzungsentgelte mit Abwandlungen. Genehmigt wurden damit auch preiswertere Nachtzugpersonenverkehre in der Zeit zwischen 23 Uhr und 6 Uhr. Gegen den Beschluss erhoben zahlreiche Unternehmen aus unterschiedlichsten Gründen Klage; er ist daher noch nicht bestandskräftig.2 Eilanträge auf Aussetzung der Vollziehung scheiterten. Das TPS 2018 konnte damit im Dezember 2017 in Kraft treten. Am 15. August 2017 legte das Unternehmen U Beschwerde gegen die auf der Basis des TPS 2018 berechneten Nutzungsentgelte für 2018 angemeldete Trassen ein, weil durch das neu eingeführte zeitliche Segmentierungskriterium die Preise für Nachtzüge im Vergleich zum Vorjahr 2017 erheblich gestiegen waren.3 Die Preissteigerung führte U darauf zurück, dass die zeitliche Segmentierung zwischen 23 und 6 Uhr zu eng sei, weil es zur Personenaufnahme und -abgabe notwendige Halte vor * Der Verfasser ist Direktor in der Bundesnetzagentur. Er gibt hier seine persönliche Auffassung wieder. 1 BK10 – 16 – 0008_E v. 6. 2. 2017; BK10 – 17 – 0314_E v. 17. 1. 2018. 2 Stand 11. 4. 2018. 3 BK10 – 17 – 0288_E.
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und nach dem Zeitfenster für die Qualifizierung als preisgünstigeren Nachtzugverkehr nicht berücksichtige. Es handele sich dabei um gerade die Personen, die die Nachtfahrt anträten. In dem dem Genehmigungsantrag zum TPS 2018 vom Oktober 2016 vorgeschalteten Stellungnahmeverfahren war U mit seinem Einwand zuvor nicht durchgedrungen. Zu dem nachfolgenden Beschlusskammerverfahren BK10 – 16 – 0008_E hatte sich das Unternehmen dann aber weder hinzuziehen lassen, noch hatte es gegen den Genehmigungsbeschluss Klage erhoben. Mit der neuerlichen Beschwerde war folglich die Rechtsfrage aufgeworfen, ob es gegen genehmigte Entgelte – vor oder nach Eintritt der Bestandskraft – noch ein eigenes Beschwerderecht mit einem Anspruch auf nochmalige behördliche Prüfung gibt und, falls ja, ob dies ggf wegen unterlassener Beteiligung am vorangegangenen Genehmigungsverfahren verwirkt ist. II. Zulässigkeit der Beschwerde Eine Beschwerde ist bei der Bundesnetzagentur zulässig, wenn die Behörde für die Bearbeitung der Beschwerde zuständig ist (vgl. unter I. 1.) und wenn die Beschwerde statthaft ist (vgl. unter I. 2.). 1. Zuständigkeit der Beschlusskammer Die Beschlusskammer ist für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens zuständig. Die Zuständigkeit für die Durchführung von Beschwerdeverfahren liegt gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes über die Eisenbahnverkehrsverwaltung des Bundes (Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetz – BEVVG) i.V.m. § 77 Abs. 1 Satz 1 ERegG bei einer Beschlusskammer der Bundesnetzagentur. Nach dem Organisationsplan der Bundesnetzagentur ist für Entscheidungen über Beschwerden nach § 66 Abs. 1 ERegG die Beschlusskammer 10, Eisenbahnen, zuständig. 2. Statthaftigkeit der Beschwerde gegen Entgeltgenehmigungen Ist ein Zugangsberechtigter der Auffassung, durch Entscheidungen eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so hat er nach § 66 Abs. 1 ERegG – unabhängig von einer evtl. notwendigen Streitentscheidung in Bezug auf die Zuweisung von Schienenwegkapazität nach § 52 Abs. 7 ERegG – das Recht, die Regulierungsbehörde anzurufen. Die Beschwerdeführerin hatte ausführlich dargelegt, dass sie sich in ihren Rechten beeinträchtigt sieht. Das Recht zur Beschwerde ist ausweislich des Gesetzeswortlauts nicht weiter beschränkt. Das lässt insbesondere die Begründung zum Entwurf des Eisenbahnregulierungsgesetzes vermuten, wonach die Zugangsberechtigten aus § 66 Abs. 1 ERegG
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eine umfassende Möglichkeit der Befassung der Regulierungsbehörde mit Prüfgegenständen haben (Aufgabennorm).4 Die Beschwerde nach § 66 Abs. 1 kann sich auch gegen Regelungen zur Höhe und Struktur der Wegeentgelte richten, § 66 Abs. 4 Ziff. 6 ERegG. Die Aufgabennorm § 66 ERegG dient der Umsetzung von Art. 56 RL 2012/34/ EU.5 Nach Abs. 1 können Antragsteller (Zugangsberechtigte), wenn sie der Auffassung sind, ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in ihren Rechten verletzt worden zu sein, die Regulierungsstelle damit befassen. Zum Schutz von Kundenrechten im Personen- und Güterverkehr dehnt Abs. 2 das Beschwerderecht auf Verbraucherverbände aus. Der Gegenstand der regulierungsbehördlichen Befassung kann sehr verschieden sein, wie Art. 56 Abs. 1 Satz 1 Ziffern a bis g RL 2012/ 34/EU und der zur dessen Umsetzung dienende § 66 Abs. 4 Ziffern 1 bis 8 ERegG erkennen lassen. Auch der europarechtliche Kontext erfordert offenbar eine weite Auslegung des Beschwerderechts. Wird mit der Prüfung der Beschwerde die Eisenbahnrechtswidrigkeit einer Bestimmung für den Infrastrukturzugang oder eines Verhaltens aufgedeckt, kann die Regulierungsbehörde das Eisenbahninfrastrukturunternehmen gemäß der Befugnisnorm § 68 Abs. 3 ERegG mit Wirkung für die Zukunft zur Änderung der Regelungen im Sinne des § 66 Abs. 4 verpflichten oder diese Regelungen soweit für ungültig erklären, wie diese nicht mit den Vorschriften dieses Gesetzes in Einklang stehen. Die nach § 68 Abs. 3 ERegG gegebene Möglichkeit der Ungültigkeitserklärung oder der Verpflichtung zur Änderung von Regelungen im Sinne von § 66 Abs. 4 ERegG erfasst ausdrücklich auch die Regelungen von Infrastrukturbetreibern über die Höhe und Struktur der Wegeentgelte. Die Regelung weist Ähnlichkeit zu der auf rechtswidriges Verwaltungshandeln bezogenen Korrekturmöglichkeit in § 48 VwVfG auf. Wie auch in § 48 VwVfG steht der Behörde bei ihrer Entscheidung nach § 68 Abs. 3 ERegG ein Ermessen zu („kann“). § 68 Abs. 3 VwVfG weist dabei die Besonderheit auf, dass die Grundentscheidung (hier die Regelung im Sinne des § 66 Abs. 4 ERegG) nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben oder verändert werden kann. Mit Blick auf Entscheidungen über Wegeentgelte der Betreiber der Schienenwege scheint auch die Änderung oder Aufhebung einer einmal erteilten Genehmigung der Entscheidung in § 68 Abs. 3 ERegG jedenfalls nicht ausgeschlossen zu sein. Das Recht zur Beschwerde ist zeitlich nicht begrenzt: Überprüft werden können die „Höhe und Struktur der Wegeentgelte, die der Zugangsberechtigte zu zahlen hat oder hätte“ (§ 66 Abs. 4 Ziff. 6). Auch diese Beschreibung des Gegenstands des Beschwerderechts schließt nicht aus, sondern legt zunächst nahe, dass auch genehmigte Entgelte Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sein können. Denn Wegeentgelte,
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also Entgelte der Betreiber der Schienenwege, die der Zugangsberechtigte zu zahlen hat, sind immer genehmigt. Die Beschwerde nach § 66 Abs. 1 ERegG muss sich gem. Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 allerdings gegen eine Entscheidung des Infrastrukturbetreibers richten. Der Begriff der „Entscheidung“ ist dem fast gleichlautenden Art. 56 RL 2012/34/EU entnommen und wird dort durch die Buchstaben a bis g definiert. Dort heißt es „Ist ein Antragsteller der Auffassung, ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so hat er unbeschadet des Artikels 46 Absatz 6 das Recht, die Regulierungsstelle zu befassen, und zwar insbesondere gegen Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers oder gegebenenfalls des Eisenbahnunternehmens oder des Betreibers einer Serviceeinrichtung betreffend: a) den Entwurf und die Endfassung der Schienennetz-Nutzungsbedingungen; b) die darin festgelegten Kriterien; c) das Zuweisungsverfahren und dessen Ergebnis; d) die Entgeltregelung; e) die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die er zu zahlen hat oder hätte; f) die Zugangsregelungen gemäß Artikel 10 bis 13; g) den Zugang zu Leistungen gemäß Artikel 13 und die dafür erhobenen Entgelte.“
Aufgrund des gemeinsamen Ursprungs der Absätze 1 und 4 des § 66 in Art. 56 Abs. 1 RL 2012/34/EU6 kann § 66 Abs. 4 ERegG als spezielle Ausprägung des § 66 Abs. 1 ERegG verstanden werden. Als Folge ist in den § 66 Abs. 4 ERegG als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal hineinzulesen, dass die jeweils zu überprüfende Regelung eine zuvor getroffene „Entscheidung eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens“ darstellen muss. Die englische Sprachfassung der Richtlinie bestätigt diesen (möglichen) Vergangenheitsbezug, indem „decisions adopted by the infrastructure manager“ als Gegenstand der Befassung der Regulierungsstelle aufgeführt werden. Da nach der Definition in Art. 56 Abs. 1. Buchst. e) auch die Höhe und Struktur der Wegeentgelte Prüfungsgegenstand sein können, liegt es sodann nahe, dass die (bei Erstellung der Nutzungsbedingungen) getroffene Entscheidung des Infrastrukturbetreibers, die Entgelte in einer bestimmten Höhe festzulegen bzw. der folgende Genehmigungsantrag selbst tauglicher Beschwerdegegenstand ist. Eine Entscheidung des Betreibers der Schienenwege nach der regulierungsbehördlichen Genehmigung gem. § 45 ERegG kommt als Beschwerdegegenstand nicht in Betracht. Denn eine eigene Entscheidung, das Entgelt auf der Basis der genehmigten Entgeltregelung zu verlangen, kann nach der Genehmigung nicht mehr getroffen werden. Der Betreiber der Schienenwege darf nach § 45 Abs. 2 Satz 1 ERegG keine anderen als die genehmigten Entgelte vereinbaren. Die Genehmigung entfaltet Bindungswirkung. Eine Vereinbarung abweichender Entgelte ist wegen Verstoßes gegen Satz 1 unwirksam. Es gilt dann das jeweils genehmigte Entgelt als vereinbart, § 45 Abs. 2 Satz 2 ERegG. Die Genehmigung entfaltet insoweit Fiktionswirkung. 6
Abl. v. 14. 12. 2012, L 343/32.
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Trifft hingegen die Regulierungsbehörde binnen einer Frist von zwei Monaten nach Vorliegen der vollständigen und inhaltlich richtigen Unterlagen keine Entscheidung, so gilt das beantragte Entgelt nach § 46 Abs. 5 ERegG als genehmigt. Im Übrigen ist § 42a des Verwaltungsverfahrensgesetzes anzuwenden.7 Die Genehmigungsfiktion soll die gleiche Wirkung wie ein entsprechender ordnungsgemäß zustande gekommener und bekannt gegebener Verwaltungsakt entfalten. Nicht fingiert werden soll insbesondere dessen Rechtmäßigkeit. Vielmehr gelten nach der ausdrücklichen Bestimmung in § 42a Abs. 1 Satz 2 VwVfG die Regelungen über die Nichtigkeit, Rücknahme, Widerruf oder Erteilung eines Verwaltungsaktes entsprechend. Auch kann die Genehmigung mit Widerspruch und Anfechtungsklage angefochten werden.8 Ist nach alledem also spätestens im Antrag des Betreibers der Schienenwege auf Genehmigung der Entgelte die initiale Entscheidung zu sehen, deren Überprüfung mit der Beschwerde beantragt wird, scheint darin ein Beschwerdegegenstand ganz unproblematisch dann gesehen werden zu können, wenn diese Entscheidung durch die folgende behördliche Genehmigung auch gar keine Abwandlung erfahren hat. Dies war vorliegend der Fall. Die Genehmigung der Entgelte für das TPS 2018 veränderte zwar einige Marktsegmentfestlegungen und auch die Entgelthöhen für die Verkehrsdienste aufgrund von Antrag abweichender Tragfähigkeitsbetrachtungen. Die Festlegung des BdS zur Abgrenzung des Segments Nachzugverkehr hatte die Regulierungsbehörde in ihrem Beschluss vom 6. Februar 2017 aber unbeanstandet gelassen. Aber auch dann, wenn die Genehmigung des Antrags unter Abänderungen und abweichenden Festlegungen ausgesprochen würde9, könnte die beschwerdefähige Entscheidung des Eisenbahninfrastrukturunternehmen im Sinne der §§ 66 Abs. 1, 68 ERegG möglicherweise nur der durch die behördliche Genehmigung überformte Antrag sein und nicht die spätere Vereinbarung der genehmigten Entgelte in Infrastrukturnutzungsverträgen. Die den Antrag ändernde Genehmigung nimmt nur Korrekturen zu Wiederherstellung der Eisenbahnrechtskonformität des Antrags vor. Schon auf tatbestandlicher Ebene („Entscheidung“ als Beschwerdegegenstand) bestehen daher ernsthafte Zweifel an einem Beschwerderecht nach der Entgeltgenehmigung. In welchem Verhältnis stehen nun Beschwerderecht und Genehmigung der Entgelte? 7
Vgl. auch Ruge, N&R 2006, 151. OVG NRW, Beschl. v. 1. 12. 2017 – 13 B 676/17 – juris, Rn. 40. Vgl. hierzu auch die Einzelbegründung zu § 42a VwVfG im Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/ 10493, S. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 4. 7. 2017 – 10 S 37.16 – juris, Rn. 10; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 6. 2. 2008 – 3 M 200/07 – juris, Rn. 5 f.; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 42a Rn. 60 ff., 70 f. 9 Gleichsam als Beschneidung der Gestaltungsfreiheit des BdS durch Korrektur einer Eisenbahnrechtswidrigkeit seines Antrags auf Genehmigung. 8
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Dem Gesetz ist zunächst nicht unmittelbar zu entnehmen, dass der Gesetzgeber eine Rechtssicherheit angestrebt hätte, dass die genehmigten Entgelte für eine Netzfahrplanperiode „unangreifbar“ wären, dass er mithin der Entgeltgenehmigung Präklusionswirkung beimaß. § 66 Abs. 4 ERegG scheint auch für genehmigte Entgelte ausdrücklich eine Überprüfungsmöglichkeit vorzusehen. § 45 Abs. 2 ERegG und die Begründung des Gesetzesentwurfs dazu10 erwecken zunächst den Eindruck, dass der Gesetzgeber mit dem Genehmigungserfordernis lediglich wirksam die zivilrechtliche Billigkeitskontrolle unterbinden11 und eine Konzentration von Entscheidungen über Trassenentgelte bei der Bundesnetzagentur erreichen wollte, jedoch keine generelle Prüfungssperre für genehmigte Entgelte etabliert hat. Auch praktische Überlegungen lassen eine nochmalige Überprüfung der Genehmigungsentscheidung zunächst hilfreich erscheinen. Das Genehmigungsverfahren ist auf zwei Monate begrenzt (§ 46 Abs. 5 ERegG) und kann nur einmalig angemessen verlängert werden (§ 42a Abs. 2 Satz 2 VwVfG). Angesichts von großen Datenmengen und Komplexität unzureichend oder nicht geprüfte Gesichtspunkte des Entgeltantrags in einem ex-post-Verfahren weiter überprüfen zu können, würde das Entgeltgenehmigungsverfahren „entlasten“. Nach Lage der Dinge setzt sich ein zugangsberechtigtes Unternehmen zu vorangegangenem Verhalten auch nicht eo ipso mit der Beschwerde in direkten Widerspruch; insbesondere sind nicht schon durch eine Beschwerde an sich Anhaltspunkte für seine Verwirkung erkennbar. Das Beschwerderecht ist als niedrigschwelliges Recht ausgestaltet. Art. 56 der Richtlinie 2012/34/EU erfordert nicht einmal, dass der Antragsteller eine Rechteverletzung geltend macht, sondern lässt auch die Auffassung einer ungerechten Behandlung ausreichen, um eine Befassung der Regulierungsstelle zu erwirken. Andererseits kann von einer Verwirkung nur dann ausgegangen werden, wenn dem Zeitmoment (es war dem Beschwerdeführer möglich, seine Einwände im Genehmigungsverfahren vorzutragen) als weiteres Element durch die verspätete Geltendmachung von Einwänden ein Verstoß gegen Treu und Glauben hinzukommt.12 Ein entsprechendes Umstandsmoment ist nicht ohne weiteres gegeben, wenn die Beschwerdeführerin zuvor schlicht nichts gemacht hat. Ein solches „Nichtstun“ erfüllt lediglich das Zeitmoment. Zugangsberechtigte sind nicht verpflichtet, sich am Beschlusskammerverfahren zur Entgeltgenehmigung zu beteiligen. Einer Treuwidrigkeit widerspricht es jedenfalls, wenn die Beschwerdeführerin sogar an der von der Beschwerdegegnerin gemäß § 19 Abs. 2 ERegG eingeräumten Stellungnahmemöglichkeit teilgenommen und der Beschwerdegegnerin mitteilt, 10
BT-Drs. 18/8334, S. 205. Zustimmend Ludwigs, NVwZ 2016, 1665 – 1672; krit. Kühling, DVBl 2014, 1558 – 1565; vgl. auch EuGH zu § 315 BGB, Urt. v. 9. 11. 2017 – C-489/15 – juris; zust. Staebe, EuZW 2018, 118 – 122; ders., DVBl 2016, 1564 – 1571; Gerstner, EuZW 2018, 79 – 80; Ludwigs, N&R 2018, 55 – 59; krit. Mietzsch/Uhlenhut/Keding, IR 2018, 57 – 63 (die verbleibende kartellrechtliche Rechtsschutzmöglichkeiten nicht ausgeschaltet sehen). 12 Umstandsmoment, vgl. z. B. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 53 Rn. 23. 11
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dass sie mit der beabsichtigten Neuregelung nicht einverstanden ist. Damit wird jedenfalls nicht zu erkennen gegeben, dass die kritisierten Regelungen im Entgeltantrag akzeptiert werden. Es erscheint andererseits in der gesetzlichen Gesamtsystematik nicht überzeugend, wenn sich ein Zugangsberechtigter nach § 66 Abs. 4 ERegG mit einer statthaften Beschwerde gegen eine Genehmigungsentscheidung wenden könnte. Das Beschwerderecht nach § 68 Abs. 1 begründet einen Anspruch auf behördliche Prüfung. Die Behörde müsste sich nochmals mit der Genehmigung befassen. Die dort unter Zeitdruck schon entschiedenen oder gegebenenfalls außer Betracht gelassenen Gesichtspunkte würden im Beschwerdeverfahren (neu) überprüft. In diesem Fall würde die Regelung des § 68 Abs. 4 S. 2 ERegG umgangen werden. Danach findet in den Fällen, in denen die Regulierungsbehörde durch eine Beschlusskammer entscheidet, ein Vorverfahren nicht statt. Entscheidungen der Kammer sind danach grundsätzlich im Gerichtswege anzugreifen; eine abermalige Befassung der Behörde mit der Bescheidung kann nach dieser Genese gerade nicht verlangt werden. Die hiernach gebotene behördliche Prüfung ist durch die bereits erfolgte Überprüfung des Genehmigungsantrags und eine sich anschließende Genehmigung (auch unter Abänderungen des Antrags) überholt. Die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Gesichtspunkte hätten – soweit es keine neue Gesichtspunkte sind – im Genehmigungsverfahren Gegenstand der Abwägung sein müssen bzw. sein können. Eine nochmalige Überprüfung der in der Beschwerde vorgetragenen Gesichtspunkte führt zu einer nicht gewollten Doppelung der behördlichen Prüfung. Die Gesetzessystematik verletzt auch nicht Unionsrecht. Der Unionsgesetzgeber wollte den Zugangsberechtigten einen lückenlosen Rechtsschutz gegen Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers gewähren. Der Zugangsberechtigte sollte in jedem Fall die Regulierungsbehörde anrufen können, um Zweifel über die Eisenbahnrechtskonformität einer Entscheidung des Infrastrukturbetreibers prüfen lassen zu können und um diese Entscheidung gegebenenfalls abändern zu können. Die vom Unionsgesetzgeber in Art. 56 RL 2012/34/EU ermöglichte Überprüfung der Entscheidung des Infrastrukturbetreibers ist im Genehmigungsverfahren bereits verwirklicht. Ein neuer Beschwerdegegenstand durch eine neue Entscheidung des Infrastrukturbetreibers ist nicht geschaffen worden. Das Unionsrecht verfolgt nicht den Zweck, dem Zugangsberechtigten ein jederzeitiges Recht zur erneuten Befassung der Behörde mit Ereignissen zu geben, die bereits Beschwerde- und Entscheidungsgegenstand waren. Die „Beschwerde“ kann nach diesem Verständnis nur als weitere Anregung angesehen werden, eine behördliche Rücknahme der Genehmigung „anzustoßen“. Eine lückenhafte Umsetzung von Unionsrecht kann darin nicht erblickt werden. Fraglich bleibt demnach, ob die Genehmigung Präklusionswirkung auch für den Vortrag solcher Gesichtspunkte entfaltet, die seitens der Behörde im Genehmigungsverfahren nicht berücksichtigt werden konnten, weil der Beschwerdeführer sie nicht kannte oder weil sie sich erst nach dem Genehmigungsverfahren ereignet haben. In-
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soweit könnte das unionsrechtlich in Art. 56 RL 2012/34/EU verankerte Beschwerderecht der Zugangsberechtigten durch das Genehmigungsverfahren mit der Genehmigungsentscheidung nicht ausreichend verwirklicht sein. Für fehlende Kenntnis eines zur Zeit des Genehmigungsverfahrens existierenden Beschwerdegrundes gilt: Die Bündelungs- und Präklusionswirkung der Genehmigung erfordert sorgfältige Aufklärung durch alle Beteiligten und sperrt die Beschwerde aufgrund erst nachträglich erlangter Kenntnis. Insoweit ist die Aufklärungslast allen am transparenten Genehmigungsverfahren zugewiesen. Selbst wer bei Genehmigung keine Argumente vorgetragen hat, weil er die Auswirkungen einer Entgeltregelung nicht kennen konnte (etwa, weil der Infrastrukturbetreiber über die Auswirkungen einer Entgeltregelung nicht oder vielleicht sogar falsch informiert hat), kann sich auch später nicht beschweren (sondern muss klagen). Mit diesermaßen nachträglich erlangter Kenntnis ist der Zugangsberechtigte nicht weniger schutzwürdig als bei nachträglich eintretendem Ereignis. Beide Fälle sind folglich gleich zu behandeln. Im Kern sind Bündelungs- und Präklusionswirkung der eisenbahnrechtlichen Genehmigungsentscheidung über die Nutzungsentgelte gerade deshalb besonders gefährdet, weil die Genehmigung zeitlich weit vor ihrer Wirkung im folgenden Netzfahrplanjahr liegt und die Möglichkeit nachträglicher Veränderungen am Prüfgegenstand nicht klein ist. Der Gesetzgeber hat gerade mit der zeitlich gestrafften Durchführung des Verfahrens mit nur einmaliger Verlängerungsmöglichkeit den Akzent auf einen rechtssicheren und verlässlichen Verfahrensabschluss gelegt, das ein Ergebnis produziert, das eine taugliche Planungsgrundlage für Infrastrukturbetreiber und Zugangsberechtigte darstellt. Der Begriff der „Rechtssicherheit“ wird in der Begründung des Gesetzesentwurfs an zahlreichen Stellen genannt. Auch die Festlegung eines vorläufigen Entgeltes durch die Regulierungsbehörde in einem amtswegigen Genehmigungsverfahren in der Situation, wenn kein oder kein hinreichender Entgeltantrag vorliegt, dient ausweislich der Gesetzesbegründung der Rechtssicherheit für die Zugangsberechtigten (§ 46 Abs. 2 ERegG).13 Das legt nahe, dass der Gesetzgeber generell ein hohes Interesse an Rechts- und Planungssicherheit hat und mit der Genehmigung allgemein die Erreichung dieser Zwecke durch die mit behördlicher Entscheidung verbundene Bündelungsfunktion konnotiert hat. Die zeitliche Straffung und rechtssichere Ausgestaltung des Verfahrens werden sichtbar auch durch die Bestimmung in § 46 Abs. 5 ERegG. § 46 Abs. 5 ERegG ordnet schon seinem Wortlaut nach eine Rechtsfolge nur für den Fall an, dass die Bundesnetzagentur als zuständige Regulierungsbehörde über den Entgeltgenehmigungsantrag des Schienenwegebetreibers nicht innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Entscheidungsfrist eine – positive oder negative – Sachentscheidung über die zur Genehmigung gestellten Trassenentgelte und Entgeltgrundsätze trifft. Läuft die gesetzliche Entscheidungsfrist ab, ohne dass eine solche Entscheidung getroffen worden ist, wird die unterbliebene Entscheidung kraft gesetzlicher Fiktion durch eine dem 13
BT-DRs.18 – 8334 v. 4. 5. 2016, S. 305 (zu § 46 Abs. 2 ERegG).
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Antrag entsprechende Genehmigung ersetzt.14 Damit dient § 46 Abs. 5 ERegG, wie insbesondere auch der ausdrückliche Verweis auf die durch Art. 1 Nr. 5 des Vierten Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 11. Dezember 200815 zur Umsetzung von Art. 13 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über die Dienstleistungen im Binnenmarkt16 eingeführte Vorschrift des § 42a VwVfG verdeutlicht, allein der Verfahrensbeschleunigung und der Verbesserung der Rechtssicherheit für den Antragsteller, indem für die Bescheidung des Genehmigungsantrags eine verbindliche, nicht beliebig verlängerbare Frist bestimmt wird, mit deren Ablauf der Antragsteller auch im Fall einer behördlichen Säumnis eine – gleichsam als stillschweigend erteilt geltende – Entscheidung in den Händen hält.17 Eine auf nachträglich eintretenden Ereignissen gründende Beschwerdebefugnis mit der Folge erneuter behördlicher Prüfung würde diese Zwecke aushöhlen. Allenfalls ergäbe es Sinn, bei nachträglich eintretenden Ereignissen, die eine erteilte Genehmigung rechtswidrig werden lassen, das Ermessen zur Rücknahme der erteilten Genehmigung nach § 48 Abs. 1 VwVfG zu reduzieren. Zwar wäre noch zu erwägen, ob nicht „Waffengleichheit“ zwischen Betreiber der Schienenwege und Zugangsberechtigten in Bezug auf die Reichweite der Präklusionswirkung herzustellen ist. Denn der Betreiber der Schienenwege hatte in der jüngeren Vergangenheit die Änderung bereits genehmigter Entgelte beantragt und damit für sich in Anspruch genommen, Entgeltgrundsätze auch nachträglich noch einmal anpassen zu können.18 Die Beschlusskammer hatte solche begehrten Änderungen genehmigt. Die Schlussfolgerung liegt nahe, eine solche Änderungsmöglichkeit auch dem Zugangsberechtigten zu geben. Jedoch steht ein Antragsrecht bezüglich der Entgelte nun einmal nur dem jeweiligen Betreiber der Schienenwege zu.19 Unberührt bleibt auch die Prüfbefugnis der Regulierungsbehörde nach erteilter Genehmigung ex post.20 Zugangsberechtigte haben ihre Interessen lege lata vielmehr per Beteiligung am Genehmigungsverfahren und auf dem Klagewege gegen die Genehmigung zu wahren.21 14
OVG NRW, Beschl. v. 1. 12. 2017 – 13 B 676/17 – juris, Rn. 37. BGBl. I, S. 2418 ff. 16 ABl. L 376, S. 36 ff. 17 OVG NRW, Beschl. v. 1. 12. 2017 – 13 B 676/17 – juris, Rn. 38. Vgl. hierzu insbesondere die Erwägungsgründe 42, 43 und 63 der Richtlinie 2006/123/EG; zudem etwa Broscheit, GewArch 2015, 209; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 18. Aufl. 2017, § 42a Rn. 4; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 42a Rn. 11. 18 BK10 – 17 – 0338_E. 19 OVG NRW, Beschl. 13 E 503/17 v. 1. 12. 2017, Rn. 11 f. – juris. 20 So durchgeführt bei der Stationspreisprüfung, BK10 – 17 – 0087_E (Entgeltgenehmigung), BK10 – 17 – 0088_E (Entgeltgrundsätze) und BK10 – 17 – 00115_E (Ex-post-Verfahren Entgeltgrundsätze). 21 OLG NRW, Beschl. 13 E 503/17 v. 1. 12. 2017, Rn. 13 f. – juris. 15
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Das Ergebnis ist, dass es in Bezug auf genehmigte Entgelte und Entgeltgrundsätze kein Beschwerderecht von Zugangsberechtigten gemäß § 66 Abs. 1 und 4 ERegG gibt. Der Wortlaut von § 66 Abs. 4 Nr. 6 ERegG, dass sich Beschwerden oder amtsseitige Ermittlungen auch gegen Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers über die Höhe und Struktur der Wegeentgelte richten können, läuft nach der Genehmigung jedenfalls für Beschwerden leer. Dies ist notwendige Folge des Gesamtkonstrukts der Genehmigung, ihrer Wirkungen und der gegen sie gerichteten Rechtsschutzmöglichkeiten. Der deutsche Gesetzgeber hat mit der Entgeltgenehmigung einen vorgelagerten Rechtsschutz installiert, der die Entscheidung des Infrastrukturbetreibers überformt. Das wird auch damit begründet, dass gegen Entscheidungen der Beschlusskammer wegen § 68 Abs. 4 ERegG nur Klagen möglich sind und kein Widerspruch. Wenn eine Beschwerde gegen die Entscheidung von Infrastrukturbetreibern über die Höhe und Struktur (genehmigter) Entgelte zulässig wäre, müsste befürchtet werden, dass eine Vielzahl von Beschwerden zu erwarten wäre. § 66 Abs. 4 Nr. 6 ERegG wäre im Rahmen der „1zu1-Umsetzung“ von Art. 56 der RL 2012/34/EU redaktionell zu streichen gewesen. Das hat Folgen für § 68 Abs. 2 und 3 ERegG, die dann ebenfalls nicht mehr auf genehmigte Entgelte bezogen werden können. Auch auf Entscheidungen über Schienennetz-Nutzungsbedingungen (SNB) oder Nutzungsbedingungen für Serviceeinrichtungen (NBS) hat dieses Verständnis unmittelbaren Einfluss. Nur soweit SNB und NBS nicht durch Entscheidung der Beschlusskammer beanstandet wurden, bleiben nachträgliche Beschwerden nach § 66 ERegG möglich. Im Grunde muss aber auch für das Verbandsbeschwerderecht nach § 66 Abs. 2 ERegG und die Beschwerde bei nicht zustande kommenden Verträgen nach § 66 Abs. 3 ERegG und bei amtsseitigen Überprüfungen nach § 66 Abs. 4 ERegG gelten, dass diese sich nicht gegen genehmigte Entgelte und Entgeltgrundsätze richten können. Konkret kann die Beschwerdeführerin ihr Anliegen auf anderem Wege effizienter erreichen. Eine Teilnahme am Genehmigungsverfahren ist nach dessen Abschluss zwar nicht mehr möglich. Die Möglichkeit der Klage gegen den Beschluss ist aber nicht durch Nichtteilnahme am Genehmigungsverfahren versperrt. Das ERegG enthält keine § 75 Abs. 2 EnWG vergleichbare Regelung (Beschwerde zum OLG nur für Verfahrensbeteiligte).22 Die Klagemöglichkeit ist auch nicht durch Ablauf der einmonatigen Rechtsmittelfrist verwehrt, sondern – bei Beschwer – analog § 58 Abs. 2 VwGO innerhalb eines Jahres ab sicherer Kenntnis oder Kenntnisnahmemöglichkeit (grob fahrlässige Unkenntnis) des Beschlusses noch gegeben.23 22 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2. 10. 2009 – VI-3 Kart 26/08 (V) – juris, Rn. 48 (Kein Beschwerderecht nach § 75 Abs. 1 und 2 EnWG mangels einfacher Beiladung im Verfahren zur Festlegung neuer Rahmenbedingungen für die Ausgleichsleistungen im Gassektor). 23 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5. 9. 2016 – VII-Verg 19/16 – juris, Rn. 12; VG Köln, Urt. v. 3. 11. 2015 – 2 K 2961/14 – juris, Rn. 18; Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 59 Rn. 17.
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III. Rücknahme des Beschlusses Ohne Beschwerderecht bleibt die Anwendung der §§ 48 ff. VwVfG im Amtsverfahren mit eigenen Fristen24 eröffnet. Die als „Anregung“ verstandene Beschwerde des Beschwerdeführers kann bewirken, dass die Genehmigung ganz oder im Umfang der Eisenbahnrechtswidrigkeit nach § 48 VwVfG amtswegig (d. h. ohne Prüfungsanspruch) aufgehoben werden. Insoweit ist also – anders als nach § 68 Abs. 3 ERegG – sogar eine Rückwirkung der aufhebenden Regulierungsentscheidung möglich. Für die Aufhebung nach § 48 Abs. 1 VwVfG hat die Behörde Aufgreifermessen. Das hat den Vorteil, dass behördlich steuerbar ist, welche Rücknahmeverfahren gleichsam als ex-post-Verfahren in Genehmigungssachen durchgeführt werden können. Bei nachträglich eintretenden Ereignissen, die eine erteilte Genehmigung rechtswidrig werden lassen, mag man an eine Reduzierung des Aufgreifermessens denken (s. o. II.2.). § 48 Abs. 1 VwVfG erlaubt im Grundsatz die Aufhebung von Verwaltungsakten und macht keine Vorgaben zur Änderung von Regelungen. Nach der vollständigen Aufhebung folgt daher in der Regel eine neue Genehmigung, die in der Regel einen neuen Antrag des Infrastrukturbetreibers voraussetzen dürfte. Soll eine Genehmigung nur im Umfang der Beanstandung geändert werden, ist eine hierauf bezogene isolierte Aufhebung denkbar, wenn die beabsichtigte Regelung ein „Minus“ zur genehmigten Regelung darstellt und die Rechtswidrigkeit im Wege der teilweisen Rücknahme beseitigt werden kann. Diese Vorgehensweise würde keine größere, ausfüllungsbedürftige Lücke schaffen, wie sie eine Totalaufhebung zur Folge hätte. Die Rücknahme ist Ermessenentscheidung („kann“). Die Möglichkeit zur Rücknahme basiert auf dem Gedanken der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG). Dieser Bindung steht das Prinzip der Rechtssicherheit ebenbürtig gegenüber. Daher ist die Behörde weder verfassungsrechtlich noch aus einfachem Recht zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte verpflichtet,25 es sei denn, die Aufrechterhaltung wäre (etwa auch mit der belastenden Drittwirkung) schlechthin unerträglich. Ein rechtswidriger Verwaltungsakt kann nur zurückgenommen werden, wenn und soweit das öffentliche Interesse an der Wiederherstellung des gesetzmäßigen Zustan24 Die amtswegige Überprüfungsmöglichkeit nach § 66 Abs. 4 mit der Rechtsfolge einer ex-nunc-Anpassung der SNB nach § 68 Abs. 3 ERegG verdrängt nicht die allgemeine Regelung von § 48 VwVfG. Die Regelungswirkung des § 46 Abs. 5 ERegG ist freilich erschöpft. Die Entscheidungsfrist beginnt insbesondere nicht erneut oder weiter zu laufen, wenn die gesetzlich fingierte oder durch die Regulierungsbehörde getroffene Genehmigungsentscheidung später nach näherer Maßgabe von §§ 48, 49 VwVfG oder im Rechtsbehelfsverfahren aufgehoben wird, OVG NRW, Beschl. v. 1. 12. 2017 – 13 B 676/17 – juris, Rn. 42; vgl. wie hier zu § 42a VwVfG Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 42a Rn. 41; a.A. zuletzt aber VG Köln, Beschluss v. 29. 08. 2018 – 18 L 1628/ 18 (n.rkr.), freilich ohne den Weg für eine Beseitigung rechtswidriger Beschlüsse aufzuzeigen; wie hier aber offenbar OVG NRW, Beschluss v. 01. 12. 2017 – 13 B 676/17, Rn. 42. 25 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 48 Rn. 28 – 36.
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des durch Rücknahme das schutzwürdige Interesse des Betroffenen an der Aufrechterhaltung des Verwaltungsaktes überwiegt.26 Zur Abschätzung hat die Behörde sich mit dem jeweils zu beurteilenden Einzelfall auseinanderzusetzen. Insbesondere muss sie die Zumutbarkeit der durch die beabsichtigte Anordnung für den Betroffenen und gegebenenfalls für weitere Dritte eintretenden Situation würdigen und die widerstreitenden Interessen mit Blick auf die Auswirkungen der Rücknahme in dem konkret zur Entscheidung anstehenden Einzelfall gegeneinander abwägen.27 Soweit Vertrauen des durch den Verwaltungsakt Begünstigten eine Rolle spielt, ist dieses (nur) insoweit relevant, als dass der Begünstigte sich auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes verlassen durfte und sich im Vertrauen darauf eingerichtet hatte.28 Der Betroffene darf auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertrauen, wenn dessen Fehlerhaftigkeit nicht in seinem Verantwortungsbereich lag und er die Rechtswidrigkeit nicht kannte oder kennen musste. Beschlussadressaten (wohl nur die Antragsteller) sind zu entschädigen, wenn ihnen im Vertrauen auf die Bestandskraft des Beschlusses ein Vermögensnachteil entstanden ist. Dagegen ist Vertrauensschutz ausgeschlossen, wenn der Begünstigte kein Vertrauen gebildet hat.29 Zudem liegt im Eisenbahnregulierungsrecht üblicherweise eine Situation vor, in der mehrere Marktbeteiligte betroffen sind. Neben den Interessen des Infrastrukturbetreibers haben auch dritte Zugangsberechtigte Interessen, beispielsweise weil die Entgeltbildung zur austarierten Belastung der Zugangsberechtigten je nach deren Tragfähigkeit führt. Eine Änderung der Genehmigungsentscheidung kann auch Auswirkung auf diese Dritten haben. Der mit den vorstehend beschriebenen Abwägungsmechanismen gewährleistete Rechtsschutz bei Anwendung der §§ 48 ff. VwVfG dürfte im Kontext von erteilten Genehmigungen auch den unionsrechtlich intendierten Rechtsschutz der Zugangsberechtigten nach Art. 56 RL 2012/34/EU ausreichend verwirklichen.
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Ibid. J. Müller, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwVfG, 38. Edition 2018, § 48 Rn. 38 – 39. 28 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 48 Rn. 28 – 36. 29 Ibid. 27
Das Unternehmen als „wirtschaftliche Einheit“ im europäischen und deutschen Kartelldeliktsrecht Von Wulf-Henning Roth, Bonn I. Einführung Die 9. GWB-Novelle, die der Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU zum Kartellschadensersatz1 und einer weiteren Modernisierung des deutschen Wettbewerbs(Kartell-)rechts dienen soll,2 ist am 9. Juni 2017 in Kraft getreten.3 Mit dieser Novelle ist ein weiterer Schritt in Richtung Angleichung des deutschen Rechts an das europäische Wettbewerbsrecht vollzogen worden. Im Hinblick auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, auf der Grundlage des Art. 5 VO Nr. 1/20034 das europäische Kartellrecht mittels wirksamer Sanktionen zu verwirklichen,5 die sich an einheitlichen, am Unionsbußgeldrecht ausgerichteten Grundsätzen orientieren,6 aber ohne die konkreten Vorgaben einer darauf bezogenen Richtlinie, hat der deutsche Gesetzgeber die Regelungen des GWB über Bußgelder an die für das europäische Bußgeldrecht maßgebende Bebußung der Rechtsträger eines Unternehmens als „wirtschaftlicher Einheit“ (dazu unter III. 1.), einschließlich der Fälle einer rechtlichen und wirtschaftlichen Nachfolge hinsichtlich eines Rechtsträgers, herangeführt. Dabei ist das Bebußungsmodell des Unionsrechts für Unternehmen als „wirtschaftlicher Einheit“ nicht etwa 1:1 übernommen, sondern in den Regelungskontext der §§ 9, 30, 130 OWiG
1 Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26. 11. 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. 2014 L 349/1. 2 Aus dem Schrifttum etwa Weitbrecht, NJW 2017, 1574. 3 Gegenüber der in Art. 21 der Richtlinie gesetzten Umsetzungsfrist (bis zum 27. 12. 2016) um einiges verspätet. Um die Umsetzungsfrist dennoch einzuhalten, hat der Gesetzgeber in Art. 8 des Gesetzes bestimmt, dass die Umsetzungsregelungen rückwirkend zum 27. 12. 2016 in Kraft treten sollen. Diese auf Rechtssicherheit für den Zeitraum zwischen 27. 12. 2016 und 9. 6. 2017 abzielende Regelung vermeidet die Notwendigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des früheren GWB durch die rückwirkende Anwendung der §§ 33a ff. GWB n.F. 4 Verordnung Nr. 1/2003 des Rates v. 16. 12. 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1/1. 5 S. EuGH 11. 6. 2009 – C-429/07, Belastingdienst, ECLI:EU:C:2009:359 Rn. 36 – 37; BGH NJW 2015, 2198 (Rn. 18). 6 EuGH 18. 6. 2013 – C-681/11, Schenker, ECLI:EU:C:2013:404 Rn. 36, 40, 48 – 49; 14. 9. 2017 – C-177/16, Letvijas Autoru, ECLI:EU:C:2017:689 Rn. 64 ff.
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eingefügt worden, womit auch für die Zukunft gewisse Divergenzen zum Unionsrecht verbleiben.7 Im Kartelldeliktsrecht ist die Ausgangslage für den deutschen Gesetzgeber eine andere gewesen. Aus dem europäischen Primärrecht erwächst zwar eine Pflicht der Mitgliedstaaten, einen Schadensersatzanspruch für etwaige Geschädigte eines wettbewerbswidrigen Verhaltens vorzusehen (dazu unter III. 2.). Doch hat der Gerichtshof für dessen Ausgestaltung durch die Mitgliedstaaten nur einige wenige Vorgaben gemacht. Dabei ist auch und vor allem offen geblieben, ob der vom Gerichtshof für Art. 101 und 102 AEUV entwickelte Unternehmensbegriff der „wirtschaftlichen Einheit“ nicht nur für das Bußgeldrecht, sondern auch für die Schadensersatzsanktion Bedeutung gewinnen soll. Die Richtlinie 2014/104/EU, die einige der Grundfragen eines Schadensersatzanspruchs klären will (so den Grundsatz der Vollkompensation, den passing on–Einwand sowie Ansprüche mittelbar Geschädigter) und deren Regelungsziele primär auf die Erleichterung der Beweislage für die Geschädigten sowie auf eine sachgerechte Koordinierung der privaten mit der öffentlich-rechtlichen Rechtsdurchsetzung gerichtet sind, hat sich zum Unternehmensbegriff jeglicher Konkretisierung enthalten (unter IV.). Dieser Vermeidungsstrategie ist der deutsche Gesetzgeber gefolgt (unter II. und V.), womit die Reichweite des novellierten Schadens- (und auch Unterlassungs- und Beseitigungs-)anspruchs – zumindest auf den ersten Blick – offen geblieben ist. Angesichts der Tragweite der – im (z. T. auch interessegeleiteten) Schrifttum kontrovers diskutierten – Frage nach der Passivlegitimation bei kartelldeliktischen Ansprüchen ist eine Klärung geboten. Die Ergebnisse werden unter VI. zusammengefasst. Die folgenden Überlegungen zum Unternehmensbegriff im europäischen und deutschen Kartelldeliktsrecht sind Herrn Schmidt-Preuß gewidmet – dem hoch geschätzten Fakultätskollegen in freundschaftlicher Verbundenheit. Verf. hofft damit auf sein Interesse zu stoßen, liegt doch der Schwerpunkt seines breit gefächerten wissenschaftlichen Werks auch und gerade im (öffentlichen) Wirtschaftsrecht. II. Unternehmensbegriff und 9. GWB-Novelle Die für den Kartellschadensersatzanspruch zentrale (und gegenüber der früheren Regelung in § 33 Abs. 3 GWB a.F. kaum veränderte8) Norm des § 33a Abs. 1 GWB n.F. nennt als Adressaten nicht das „Unternehmen“, sondern formuliert allgemeiner („wer“) und bezieht sich dabei auf die einen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch vorsehende Norm des § 33 Abs. 1 GWB n.F., die ihrerseits den „Rechtsver7
Eingehend Thomas, AG 2017, 637 (640 f., 645); vgl. auch Ost/Kalfaß/Roesen, NZKart 2016, 447 (458). 8 Immerhin hatte § 33 Abs. 1 GWB a.F. einen Verstoß gegen „eine Vorschrift dieses Gesetzes“ und damit auch § 81 GWB im Blick, womit auf einen engen, rechtsträgerbezogenen Unternehmensbegriff Bezug genommen wurde. § 33 Abs. 1 GWB n.F. beschränkt sich dagegen auf Verstöße gegen Normen in Teil 1 des GWB.
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letzer“ adressiert und den damit Passivlegitimierten dahingehend definiert, dass es sich um jemanden handeln muss, der (wiederum: „wer“) gegen eine Vorschrift (nur mehr) des Ersten Teils des GWB (§§ 1 – 47) oder gegen Art. 101 oder 102 AEUV9 verstößt. In der Sache orientiert sich damit die Passivlegitimation nach den Adressaten der jeweiligen Verbotsnormen, die freilich unterschiedlichen Rechtsordnungen entstammen.10 Soweit in den Normen des GWB, also § 1 GWB oder §§ 18 – 21 GWB, von „Unternehmen“ die Rede ist, mag man von dem im deutschen Kartellrecht überkommenen Unternehmensbegriff11 ausgehen wollen,12 der einerseits (über das europäische Wettbewerbsrecht13 hinausgehend) auch die (bloße) Beschaffungstätigkeit als wirtschaftliche Tätigkeit erfassen und (bereits) mit dieser ein Unternehmen im Sinne des GWB konstituieren will,14 und andererseits Rechtsträger-orientiert und mithin nicht an der „wirtschaftlichen Einheit“ im Sinne des Unionswettbewerbsrechts ausgerichtet ist.15 Über alle Zweifel erhaben ist dieser Ansatz freilich nicht,16 wenn man in Rechnung stellt, dass jedenfalls § 1 GWB und auch die Freistellungsnorm des § 2 Abs. 1 GWB weitgehend die Terminologie und das Regelungskonzept des Art. 101 Abs. 1, 3 AEUV übernommen haben und nach dem Willen des Gesetzgebers mit der Verweisung in § 2 Abs. 2 GWB auf die (jeweils geltenden) Gruppenfreistellungsverordnungen eine enge Verknüpfung mit dem Wettbewerbsrecht der Union geschaffen werden sollte,17 und es von daher keineswegs fern liegt, die in den Nor-
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Es fehlt eine Bezugnahme auf Art. 106 AEUV. Zu der im Folgenden angedeuteten Differenzierung s. auch Blome, Rechtsträgerprinzip und wirtschaftliche Einheit, 2016, S. 291 ff., 344 ff. 11 Dazu Bechtold/Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 1 Rn. 7; Emmerich, Kartellrecht, 12. Aufl. 2012, § 20 Rn. 5 ff. 12 In diesem Sinne etwa Nordemann, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/ Meyer-Lindemann (Hrsg.), Kartellrecht, § 1 GWB Rn. 27; Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2016, Bd. 2/Teil 1, § 1 GWB Rn. 18 f.; Inderst/Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, S. 77 f. 13 Dazu EuGH 11. 07. 2006 – C-205/03 P, FENIN, ECLI:EU:C:2006:453 Rn. 26; 26. 3. 2009 – C-113/07 P, Selex, ECLI:EU:C:2009:191 Rn. 69; definitorisch zuletzt in diesem Sinne EuGH 14. 9. 2017 – C-177/16, Latvijas Autoru, ECLI:EU:C:2017, 689 Rn. 33. 14 Dies – im Gegensatz zum Unionsrecht – unabhängig davon, ob der Nachfrager downstream auf dem Angebotsmarkt die nachgefragten Waren in wirtschaftlicher Weise anbietet; s. etwa BGH WuW/E DE-R 1087 (1090) – Feuerlöschzüge; offen lassend BGH WuW/E DE-R 2161 (2162 f.) – Tariftreueerklärung III; BGH WuW/E DE-R 4037 (Rn. 59) – VBL-Gegenwert. 15 Anders offensichtlich Kling/Thomas, Kartellrecht, 2. Aufl. 2016, § 16 Rn. 34 („Konzern“ als „Unternehmen“), allerdings ohne nähere Begründung. 16 Bechtold/Bosch (Fn. 11), § 1 Rn. 8 ff. Zum Ganzen Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar (FK), Kartellrecht, 73. Lfg., 2011, § 1 GWB 2005 Rn. 57 f. 17 Nordemann, in: Loewenheim u. a. (Fn. 12), § 1 GWB Rn. 10 – 11. 10
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men jeweils verwendeten Begriffe und damit auch den des „Unternehmens“ im Lichte der Art. 101 f. AEUV zu verstehen.18 Bei Verstößen gegen die Verbotsnormen der Art. 101 und 102 AEUV (erweitert durch Art. 106 AEUV19) erscheint dagegen die Folgerung nahe liegend, wenn nicht zwingend, dass hier der unionsrechtliche Unternehmensbegriff (einschließlich der „wirtschaftlichen Einheit“) Maß geben soll, wenn und soweit man in den §§ 33a Abs. 1, 33 Abs. 1 GWB einen Verweis auf die dort genannten Verbotsnormen – unter Verzicht auf einen eigenständigen (und einheitlichen) Unternehmensbegriff im Rahmen der §§ 33a Abs. 1, 33 Abs. 1 GWB – sieht. Festzuhalten ist damit, dass die 9. GWB-Novelle die Passivlegitimation – zumindest explizit – keiner konkreten und eigenständigen Regelung zugeführt hat.20 Auch die Gesetzesbegründung der Bundesregierung21 enthält sich insoweit jeglicher Stellungnahme. Schon der Referentenentwurf des Ministeriums hatte bereits die inhaltlich unveränderte Übernahme des bisherigen Rechts betont. Dasselbe gilt für die Regierungsbegründung des Gesetzesvorschlags.22 Bemerkenswert ist dabei, dass die 9. GWB-Novelle für das Bußgeldverfahren – im Gegensatz zum Kartelldeliktsrecht – die „wirtschaftliche Einheit“ im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts sehr wohl berücksichtigen will und daran die Regelungen – in einer gegenüber dem europäischen Bußgeldrecht modifizierten Form – ausrichtet. Während das europäische Bußgeldrecht eine Bußgeldverantwortlichkeit nur für „Unternehmen“ und nicht für die handelnde Person kennt (Art. 23 VO 1/ 200323), setzt das deutsche Recht umgekehrt bei der für ein Unternehmen handelnden Person im Sinne einer Organ- oder Vertreterhaftung an (§ 9 OWiG), um das Unternehmen einer insoweit akzessorischen Bußgeldhaftung zu unterwerfen (§ 30 OWiG). Dies ist Grundlage der neuen Bußgeldregelung in § 81 Abs. 3a GWB, in der die Bußgeldverantwortlichkeit nach § 30 Abs. 1 OWiG auf „weitere juristische Personen …“ erstreckt wird, die auf die juristische Person, deren Leitungsorgan die Ordnungswidrigkeit begangen hat, „unmittelbar oder mittelbar bestimmenden Einfluss ausgeübt“ hat.24 Damit nimmt die Regelung auf die „wirtschaftliche Einheit“ Bezug und bezeichnet die Zusammenfassung dieser juristischen Personen als „Unternehmen“. Dies gilt dann auch für die Inbezugnahme der Verletzung der „Pflichten“, die das „Unternehmen“ treffen. Die Regierungsbegründung spricht insoweit davon, dass 18
Roth/Ackermann, in: FK (Fn. 16), § 1 GWB 2005 Rn. 56 ff.; offen gelassen von BGH WuW/E DE-R 4037 (Rn. 59); ablehnend Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 12), § 1 Rn. 18 f.; Nordemann, in: Loewenheim u. a. (Fn. 12), § 1 Rn. 24 f. 19 S. Erwägungsgrund No. 3 der Richtlinie 2014/104/EU. 20 Zu den im Vorfeld diskutierten Umsetzungsvarianten s. Könen, NZKart 2017, 15 (19). 21 BT-Dr. 18/10207. 22 Reg.-Begr., BT-Dr. 18/10207, S. 55. 23 Fn 4. 24 Dazu Ost/Kalfaß/Roesen, NZKart 2016, 447 (451 ff., 454 ff.); Timmerbeil/Blome, BB 2017,1544 (1546).
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damit der Unternehmensbegriff des Art. 101 AEUV bewusst übernommen werden soll, um im Rahmen einer unionsrechtsfreundlichen Auslegung auch eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 AEUV zu ermöglichen.25 Freilich ist damit für die zivilrechtliche Haftung noch nicht viel gewonnen: Während bei der Bußgeldhaftung der deutsche Gesetzgeber bestrebt gewesen ist, einen (zumindest weitgehenden) Gleichlauf mit der unionsrechtlichen Bußgeldhaftung zu erreichen, ist ein solcher Gleichlauf, mangels Existenz eines europäischen Deliktsrechts, für das deutsche Kartelldeliktsrecht weder realisierbar noch vom Gesetzgeber (ausdrücklich) angestrebt: Während die Regierungsbegründung extensiv die Übernahme des unionsrechtlichen Unternehmensbegriffs in das deutsche Bußgeldrecht erklärt, schweigt sie sich zur Rechtslage im Kartelldeliktsrecht aus. Mit diesem „beredtem“ Schweigen soll freilich keine Regelung getroffen werden: Weder wird man mit dem Postulat eines einheitlichen Unternehmensbegriffs im GWB arbeiten noch etwa aus § 81 Abs. 3a GWB einen Gegenschluss in der Weise ziehen können, dass der europäisierte Unternehmensbegriff auf das Bußgeldrecht beschränkt bleiben soll (dazu unten unter V. 2.). Lässt sich damit der 9. GWB-Novelle keine klare Aussage hinsichtlich des für das Kartelldeliktsrecht maßgebenden Unternehmensbegriffs entnehmen, stellt sich die Frage, ob und inwieweit das primäre und das sekundäre Unionsrecht Vorgaben für das deutsche Kartelldeliktsrecht enthalten, an denen es sich auszurichten hat.
III. Primäres Unionsrecht 1. „Wirtschaftliche Einheit“ Seit langem definiert der EuGH in st. Rspr. das „Unternehmen“ iSv Art. 101, 102 AEUV als eine eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende „Einheit“, die unabhängig von ihrer Rechtsform und damit auch ohne (vom nationalen Recht verliehener) Rechtssubjektivität Adressat der Verbotsnormen ist.26 Dabei kann es sich auch um eine aus mehreren Rechtsträgern bestehende „wirtschaftliche Einheit“27 handeln. Mit dieser begrifflichen Umschreibung versucht der Gerichtshof eine vom nationalen Recht unabhängige (autonome), unionsrechtseinheitliche Anwendung und Durchsetzung der wettbewerbsrechtlichen Verbotsnormen zu erreichen. Er kann sich dabei auch auf den Wortlaut der primärrechtlichen Normen stützen: Während Art. 54 AEUV zur Umschreibung des persönlichen Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit mit dem Begriff der „Gesellschaft“ (company; société) arbeitet, 25
BT-Dr. 18/10207, S. 86; ausführliche Begründung S. 88 – 89. EuGH 23. 4. 1991 – C-41/90, Höfner, ECLI:EU:C:1991:161 Rn. 21; st. Rspr. Zum Folgenden Roth/Ackermann, in: FK, Kartellrecht, 67. u. 68. Lfg., 2009, Art. 81 Abs. 1 EG – Grundfragen, Rn. 30, 104, 115 ff.; zuletzt ausführlich Blome (Fn. 10), S. 121 ff.; Ost/Kallfaß/ Roesen, NZKart 2016, 447 (448 ff.). 27 Zuletzt wieder EuGH 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 48. 26
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wenden sich die wettbewerbsrechtlichen Verbotsnormen an „Unternehmen“ (undertaking; entreprise) als Adressaten.28 Damit mögen die Vertragsverfasser zwar (nur) einen Oberbegriff für die Rechtsträger „natürliche Person“ und „Gesellschaft“ bzw. „juristische Person“ geschaffen haben wollen, doch öffnet sich der auf „Unternehmen“ als Adressaten bezogene Wortlaut der Art. 101, 102 AEUV einer eigenständigen, an den Zielsetzungen des Wettbewerbsrechts ausgerichteten und über den Begriff der „Gesellschaft“ hinausreichenden Bestimmung. Der Begriff des Unternehmens als „wirtschaftlicher Einheit“ folgt funktionalen (und nicht institutionellen) Kriterien. Entscheidend ist die Ermittlung einer wirtschaftlich am Markt gemeinsam agierenden Einheit, die auch aus mehreren Rechtsträgern bestehen kann. Damit wird eine aus mehreren Rechtsträgern bzw. Personen bestehende Gruppe zum Adressaten kartellrechtlicher Verhaltenspflichten.29 Von diesem sog. täterschaftlichen, die Verbotsnormen der Art. 101 und 102 AEUV konkretisierenden Unternehmensbegriff zu unterscheiden30 ist der bußgeldrechtliche Unternehmensbegriff, der für Zwecke der Durchführung des Kartellverfahrens und der Vollstreckung nach der (nach nationalem Recht zu bestimmenden) Rechtssubjektivität als Adressat einer Bußgeldentscheidung verlangt.31 Das „Unternehmen“ als Normadressat der Art. 101 und 102 AEUV kann aus einem einzigen Rechtsträger (natürliche oder juristische Person),32 aber auch aus einer Mehrheit von Rechtsträgern bestehen, wenn diese durch den bestimmenden Einfluss eines Rechtsträgers derart miteinander verbunden sind, dass die in diesem Sinne abhängigen Rechtsträger am Markt nicht mehr autonom agieren. Es handelt sich insoweit vor allem um konzernrechtliche Fallkonstellationen, in denen eine Gesellschaft (oder auch mehrere33) durch ihre wirtschaftlichen, organisatorischen und
28 EuGH 18. 7. 2013 – C-501/11 P, Schindler, ECLI:EU:C:2013:522 Rn. 102; 17. 9. 2015 – C-597/13 P, Total, ECLI:EU:C:2015:613 Rn. 32; vgl. auch zuletzt EuGH 27. 4. 2017 – C-516/ 15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 46. 29 Der Gerichtshof formuliert in st. Rspr., dass diese „wirtschaftliche Einheit“ als Adressat der Verbotsnormen nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung einzustehen habe; EuGH 10. 4. 2014, C-231/11 P bis C-233/11 P, Siemens, ECLI:EU:C:2014:256 Rn. 55, 66; 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:CU:C:2017:314 Rn. 49; Klotz, Wirtschaftliche Einheit und Konzernhaftung im Kartellzivilrecht, 2016, S. 62. 30 Zu dieser Unterscheidung etwa Blome (Fn. 10), S. 129 ff., 164 ff. 31 EuGH 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 50; Heinichen, Unternehmensbegriff und Haftungsnachfolge im Europäischen Kartellrecht, 2011, S. 122 ff. 32 Die Unternehmenseigenschaft auch von bloßen Geschäftsbereichen vertritt Heinichen (Fn. 31), S. 107 ff., wenn ihnen gesellschaftsintern die weitgehende Möglichkeit eingeräumt wird, sich am Markt autonom zu verhalten. Freilich wird damit nicht genügend berücksichtigt, dass mit den Handlungen im Geschäftsverkehr immer nur die Gesellschaft verpflichtet wird. Zudem steht auch ein autonom organisierter Geschäftsbereich immer unter der (auch organisatorischen) Kontrolle der Unternehmensleitung. 33 EuGH 18. 1. 2017 – C-623/15 P, Toshiba, ECLI:EU:C:2017:21 Rn. 48 f.
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rechtlichen Bindungen34 einen bestimmenden Einfluss (etwa durch Weisungen) auf die Geschäftspolitik einer anderen Gesellschaft (oder mehrerer) auszuüben vermag und diese Leitungsmacht auch tatsächlich ausübt: Dabei geht es um die tatsächliche Einflussnahme auf die allgemeine (nicht notwendig konkrete) Geschäftspolitik der abhängigen Gesellschaft im Hinblick auf Unternehmensstrategie, Betriebspolitik, Betriebspläne, Investitionen, Kapazitäten, Finanzausstattung, Personalwesen und Rechtsangelegenheiten.35 Bei einer 100 %- oder nahezu 100 %-Beteiligung arbeitet die Rechtsprechung mit einer widerlegbaren „Vermutung“, dass ein solch bestimmender Einfluss nicht nur möglich ist, sondern dass er auch tatsächlich ausgeübt wird.36 Eine „wirtschaftliche Einheit“ wird vom Gerichtshof nicht nur aufgrund konzernrechtlicher Verknüpfungen angenommen, sondern kann auch aufgrund anderer wirtschaftlicher oder rechtlicher Beziehungen zwischen Gesellschaften und natürlichen Personen bestehen. So wird die Verantwortlichkeit einer Gesellschaft für die für sie handelnden angestellten Vertreter (im Rahmen ihrer Aufgaben) und die Zurechnung dieses Vertreterverhaltens37 mit der Figur der „wirtschaftlichen Einheit“ begründet38 und auch auf Scheinunternehmer in arbeitnehmerähnlichen Beziehungen erstreckt.39 Ähnliches gilt für Handelsvertreter, die im Namen und für Rechnung des Geschäftsherrn tätig sind, dessen Weisungen sie zu befolgen haben, womit sie am Markt nicht autonom agieren können.40 Dabei kommt es weniger auf eine Eingliederung des Handelsvertreters in das Geschäft des Geschäftsherrn41 als auf die Risikoverteilung hinsichtlich der vorgenommenen Geschäfte und die Weisungsabhängigkeit an42. Für das Verhältnis zwischen Auftraggeber und selbständigen Dienstleistungsunternehmen ist eine „wirtschaftliche Einheit“ gleichfalls anzunehmen, wenn der Auftraggeber bestimmenden Einfluss auf den Dienstleister aufgrund der Existenz organisatorischer, wirtschaftlicher und/oder rechtlicher Beziehungen ausüben kann.43 34 Auch in Form eines (nicht notwendig ausgeübten) Vetorechts der Muttergesellschaft bei Entscheidungen des Tochterunternehmens: EuGH 18. 1. 2017 – C-623/15 P, Toshiba, ECLI:EU:C:2017:21 Rn. 60 f. 35 EuGH 10. 9. 2009 – C-97/08 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2009:536 Rn. 73 – 74. Es geht also nicht um eine konkrete Einflussnahme auf das wettbewerbswidrige Verhalten des abhängigen Unternehmens. 36 Zuletzt EuGH 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 54; st. Rspr.; EuGH 18. 7. 2013 – C-501/11 P, Schindler, ECLI:EU:C:2013:522 Rn. 107 – 109; 17. 9. 2015 – C-597/13 P, Total, ECLI:EU:C:2015:613 Rn. 36. 37 EuGH 7. 2. 2013 – C-68/12, Protimonopoly, ECLI:EU:C:2013:71 Rn. 25 ff. 38 EuGH 21. 7. 2016 – C-542/14, Remonts, ECLI:EU:C:2016:578 Rn. 23. 39 Rn. 27 mit Verweis auf EuGH 4. 12. 2014 – C-413/13, Kunsten Informatie, ECLI:EU:C:2014:2411 Rn. 35 – 36. 40 EuGH 16. 12. 1975 – verb. Rs. 40/73, Suiker Unie, ECLI:EU:C:1975:174 Rn. 538 – 540. 41 So EuGH 14. 12. 2006 – C-217/05, CEEES, ECLI:EU:C:2006:784 Rn. 43. 42 EuGH 11. 9. 2008 – C-279/06, CEPSA, ECLI:EU:C:2008:485 Rn. 36. 43 EuGH 21. 7. 2016 – C-542/14, Remonts, ECLI:EU:C:2016:578 Rn. 27.
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Eine Zuwiderhandlung der „wirtschaftlichen Einheit“ gegen Art. 101, 102 AEUV (im Sinne des täterschaftlichen Unternehmensbegriffs) muss – wie dargelegt – rechtsfolgenbezogen in einem zweiten Schritt eindeutig einem Rechtsträger mit Rechtssubjektivität zugerechnet werden, gegen den dann eine Geldbuße festgelegt werden kann (im Sinne einer bußgeldrechtlichen Verantwortlichkeit).44 Auch wenn es in einem Bußgeldverfahren im Ermessen der Kommission steht, welcher der zur wirtschaftlichen Einheit gehörenden Rechtsträger mit einem Bußgeld belegt werden soll,45 bedarf es doch zunächst der Feststellung, welcher Teil46 der „wirtschaftlichen Einheit“ den Verbotsverstoß unmittelbar47 und damit primär verantwortlich verwirklicht hat, leitet sich doch die Bußgeldhaftung der anderen Rechtsträger akzessorisch von der Haftung des primär verantwortlichen Unternehmens ab.48 Diese gesamtschuldnerische Mithaftung für die Geldbuße ist nicht auf eine Haftung als Bürge reduzierbar.49 Sie ist aber eine abgeleitete Haftung mit der Konsequenz, dass die Haftung der mithaftenden Rechtsträger nicht über diejenige hinausgehen darf, die in der Person des unmittelbar verantwortlichen Rechtsträgers verwirklicht ist,50 sodass eine Herabsetzung der Geldbuße ihr gegenüber auf die abgeleitete Haftung der anderen Rechtsträger durchschlägt.51 In st. Rspr. betont der Gerichtshof, dass für diese abgeleitete Haftung im Verhältnis Mutter- und Tochtergesellschaft der die „wirtschaftliche Einheit“ konstituierende bestimmende Einfluss der Muttergesellschaft auf die Tochter (im Sinne tatsächlich ausgeübter Leitungsmacht) es zugleich rechtfertigt, das rechtswidrige Verhalten der unmittelbar beteiligten Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft zuzurechnen.52 Aus der Rechtsprechung ist allerdings nicht klar erkennbar, ob auch eine abgeleitete Haftung in umgekehrter Richtung besteht, wenn nur die Mutter (bezogen auf das Geschäftsfeld der Tochter53) den Verbotstatbestand verwirklicht. Die vom Gerichtshof in vielen Urteilen begründete Zurechnung kraft Weisungen54, dem Fehlen eines au44
EuGH 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 50. EuGH 11. 7. 2013 – C-444/11 P, Team Relocations, ECLI:EU:C:2013:464 Rn. 159. 46 So die Formulierung in EuGH 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 60. 47 EuGH 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 61. 48 EuGH 19. 1. 2017 – C-351/15 P, Total, ECLI:EU:C:2017:27 Rn. 45; EuGH 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 59, 61. 49 EuGH 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 58. 50 EuGH 22. 1. 2013 – C-286/11 P, Tomkins, ECLI:EU:C:2013:29 Rn. 37, 39, 43, 49; 17. 9. 2015 – C-597/13 P, Total, ECLI:EU:C:2015:613 Rn. 38; 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 61 – 62. 51 EuGH 17. 9. 2015 – C-597/13 P, Total, ECLI:EU:C:2015:613 Rn. 41; 27. 4. 2017 – C516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 62. 52 St. Rspr.; zuletzt wieder EuGH 27. 4. 2017, C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 56 – 57. 53 Für andere Geschäftsfelder fehlt es insoweit am Vorliegen einer „wirtschaftlichen Einheit“. 54 EuGH 18. 1. 2017 – C-623/15 P, Toshiba, ECLI:EU:C:2017:21 Rn. 45. 45
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tonomen Verhaltens der Tochtergesellschaft am Markt und der Vermutung für die tatsächliche Ausübung bestimmenden Einflusses bei einer 100 %-Beteiligung der Mutter begründen zwar die Existenz einer „wirtschaftlichen Einheit“, sprechen aber zugleich nicht dafür, dass eine abgeleitete Bußgeldhaftung der Tochter für ein verbotswidriges Verhalten (allein) der Muttergesellschaft gerechtfertigt wäre: Der Tochtergesellschaft fehlt es an jeglicher Möglichkeit der Einflussnahme, sodass eine Zurechnung ausscheiden muss.55 Dies gilt auch in den anderen Fällen, in denen die Judikatur von einer „wirtschaftlichen Einheit“ ausgehen will: Eine abgeleitete Haftung des Geschäftsherren für das verbotswidrige Handeln seines Handelsvertreters lässt sich mit der Bindung des Handelsvertreters an die Weisungen des Geschäftsherrn begründen, nicht aber umgekehrt die Haftung des Handelsvertreters für das verbotswidrige Verhalten des Geschäftsherrn im Geschäftsfeld des Handelsvertreters. Dasselbe muss erst recht im Hinblick auf die Einschaltung selbständiger, aber weisungsabhängiger Servicegesellschaften gelten. 2. Zivilrechtliche Haftung a) Bestandsaufnahme Das unionale Primärrecht kennt hinsichtlich der privatrechtlichen Wirkungen gegen Art. 101 AEUV verstoßenden Verhaltens nur die Sanktion der Unwirksamkeit einer den Wettbewerb beschränkenden Vertragsklausel (Art. 101 Abs. 2 AEUV). Wie bei der Bußgeldhaftung wird die Regelung von Schadensersatzansprüchen dem europäischen Gesetzgeber überlassen: Art. 103 Abs. 2 AEUV erwähnt diese zwar nicht, aber die Norm enthält auch nur einen Beispielskatalog der unionsrechtlichen Regelungskompetenzen und sperrt insoweit nicht gegenüber einer unionalen Regelung von privatrechtlichen Ansprüchen bei Verstößen gegen europäisches Wettbewerbsrecht.56 Angesichts der Untätigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers hat der Gerichtshof erstmals in seiner Courage-Entscheidung, gestützt auf den Effektivitätsgrundsatz und die unmittelbare Wirkung der Art. 101, 102 AEUV, die in der Person des Betroffenen „Rechte entstehen“ lässt, „die die nationalen Gerichte zu wahren haben“,57 im 55 In diesem Sinne, aber mit anderer Begründung Klotz (Fn. 29), S. 186 f.; a.A. Kersting, WuW 2014, 1156 (1159); Kersting/Preuß, WuW 2016, 394 (395). Präzise Aussagen des Gerichtshofs fehlen. GA Kokott, C-97/08 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2009:262 Rn. 97 scheint (zu Unrecht) von einer wechselseitigen Zurechnung ausgehen zu wollen. 56 Ludwigs, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I – EUV/ AEUV, 53. Lfg. 2014, Art. 103 AEUV Rn. 24; Roth, in: Harrer/Gruber (Hrsg.), Europäische Rechtskultur, 2008, S. 31, 44 f. Die Regelung von Schadensersatzansprüchen bei Verstoß gegen nationales Wettbewerbsrecht ist – so wie dies die Richtlinie 2014/104/EU vorsieht – auf Art. 114 AEUV zu stützen. 57 EuGH 20. 9. 2001 – C-453/99, Courage, ECLI:EU:C:2001:465 Rn. 23; 13. 7. 2006 – C295/04 bis C-298/04, Manfredi, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 39; 14. 6. 2011 – C-360/09, Pfleiderer, ECLI:EU:C:2011:389 Rn. 28; 6. 11. 2012 – C-199/11, Otis, ECLI:EU:C:2012:684
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Wege der Rechtsfortbildung das Erfordernis eines Schadensersatzanspruchs abgeleitet, den „jedermann“, der durch ein wettbewerbswidriges Verhalten geschädigt worden ist, soll geltend machen können.58 Der Gerichtshof hat diesen Schadensersatzanspruch im Übrigen davon abhängig gemacht, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Schaden und verbotenem Verhalten bestehen muss, und betont, dass der Schadensersatzanspruch zumindest den unmittelbaren Vermögensschaden, den entgangenen Gewinn und die Zinsen umfassen muss.59 Zur Passivlegitimation – und damit zur Haftung der Rechtsträger einer „wirtschaftlichen Einheit“ – gibt es hinsichtlich dieses Schadensersatzanspruchs noch keine expliziten Aussagen. Zwar findet sich im Urteil Kone die Aussage, dass die Existenz eines Schadensersatzanspruchs geeignet sei, „Unternehmen“ von den Wettbewerb beschränkenden Verhaltensweisen abzuhalten.60 Jedoch ist diese beiläufige Erwähnung des Unternehmensbegriffs in der deutschen Sprachfassung ohne Gewicht, wird doch in der englischen und vor allem französischen Fassung des Urteils an dieser Stelle der Begriff (aufgrund einer anderen Satzkonstruktion) nicht verwendet. Ob es bei dem so postulierten Schadensersatzanspruch um einen dem Grunde nach im Unionsrecht verankerten Anspruch61 nach dem Vorbild der Rechtsprechung zur mitgliedstaatlichen Haftung nach Francovich-Grundsätzen62 handeln soll – also eine (ungeschriebene) unionsrechtliche Anspruchsgrundlage,63 die durch das mitgliedstaatliche Recht zu konkretisieren und zu ergänzen wäre – oder aber um eine (strikte) unionsrechtliche, an die Mitgliedstaaten gerichtete Verpflichtung,64 einen solchen Anspruch zu schaffen, ist noch nicht abschließend geklärt.65 Dies gilt auch insoweit, als der Gerichtshof von einem aus dem Unionsrecht folgenden
Rn. 41; 6. 6. 2013 – C-536/11, Donau Chemie, ECLI:EU:C:2013:366 Rn. 21; 5. 6. 2014 – C557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 20. 58 Zuletzt EuGH 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 21. 59 EuGH 13. 7. 2006 – C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 95. 60 EuGH 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1217 Rn. 23. Darauf verweist Kersting, WuW 2016, 329. 61 In diesem Sinne etwa Komninos, EC Private Law Enforcment, 2008, S. 171; Milutinovic, The ,Right to Damages‘ under EU Competition Law: from Courage v. Crehan to the White Paper and Beyond, 2010, S. 69 ff., 91 f.; Mäsch, EuR 2003, 825 (845); Mederer, EuZW 2013, 847 (848); Eilmansberger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 101 Rn. 128. 62 EuGH 19. 11. 1991 – C-6/90 und C-9/90, Francovich, ECLI:EU:C:1991:428; st. Rspr. 63 So etwa auch GA Kokott, 30. 1. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:45 Rn. 34; zum Ganzen Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht, 2017, S. 152. 64 Rittner/Dreher/Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 8. Aufl. 2014, Rn. 1728; Jaeger, in: Loewenheim u. a. (Fn. 12), Art. 101 Abs. 2 AEUV Rn. 40 Fn. 138; Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, S. 40 f.; Franck, Marktordnung durch Haftung, 2016, S. 620 f. 65 Bulst, in: Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd. 4), 2015, § 10 Rn. 6.
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Recht des Einzelnen auf Schadensersatz spricht:66 Dieses Recht kann unmittelbar durch einen unionsrechtlichen Anspruch oder mittelbar durch mitgliedstaatliches, an unionsrechtlichen Vorgaben orientiertes Recht verwirklicht werden. Manches spricht dafür, dass die Rechtsprechung des EuGH dahingehend zu verstehen ist, dass die Mitgliedstaaten, um die sich aus Art. 101, 102 AEUVergebenden Rechte des Einzelnen effektiv zu schützen, in ihrem nationalen Recht einen Schadensersatzanspruch kennen müssen, der bestimmten Mindestanforderungen (Kausalitätserfordernis; bestimmte Schadenspositionen) genügt: Das Unionsrecht begründet damit die Verpflichtung zur Schaffung eines solchen Anspruchs, überlässt aber die Modalitäten des Anspruchs den nationalen Rechtsordnungen.67 Im Einzelnen werden dabei den nationalen Gesetzgebern (Gerichten) hinsichtlich der Ausgestaltung des Schadensersatzanspruchs Vorgaben und Grenzen in mehrere Richtungen gesetzt68 (und in Art. 4 der Richtlinie 2014/104/EU wiederholt): Es gilt einerseits der Äquivalenzgrundsatz, wonach die Ausgestaltung des Schadensersatzanspruchs bei Verstoß gegen Unionsrecht für den Geschädigten nicht weniger günstig ausgestaltet sein darf als bei entsprechenden Rechtsbehelfen wegen eines Verstoßes gegen innerstaatliches Recht; andererseits gilt der Effektivitätsgrundsatz, wonach der vom Unionsrecht verliehene bzw. geforderte Anspruch auf Schadensersatz nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf. Darüber hinausgehend sind die Mitgliedstaaten an die „jedermann“-Formel ebenso gebunden wie an das Erfordernis eines ursächlichen Zusammenhangs, dessen Einzelheiten sie aber regeln können.69 Der vom Unionsrecht geforderte und durch mitgliedstaatliches Recht zu verwirklichende Schadensersatzanspruch umfasst zudem, wie erwähnt, den entstandenen Vermögensschaden (damnum emergens) und den entgangenen Gewinn (lucrum cessans) sowie die Zahlung von Zinsen. Dahinter können die Mitgliedstaaten nicht zurückbleiben. Wie weit reichend diese unionsrechtlichen Vorgaben für den im nationalen Recht zu verankernden Schadensersatzanspruch gehen sollen, zeigt das Urteil Kone zum umbrella pricing, wenn dort als Aktivlegitimierte („jedermann“) auch Abnehmer von Kartellaußenseitern eingestuft und damit der (als notwendig angesehene) Kausalzusammenhang über die mittelbaren Abnehmer der Rechtsverletzer (iSv Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104/EU) hinausgehend auf 66 S. etwa EuGH 6. 6. 2013 – C-536/11, Donau Chemie, ECLI:EU:C:2013:366 Rn. 32, 39; darauf stellt vor allem Mäsch, EuR 2003, 825 (845) ab. 67 EuGH 13. 7. 2006 – C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 64; 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:1317 Rn. 24. GA Kokott geht davon aus, dass alle Fragen des „ob“ eines Anspruchs primärrechtlich determiniert seien, während die Fragen des „wie“ in den Händen der Mitgliedstaaten lägen; C-557/12, ECLI:EU:C:2014:45 Rn. 23. In Rn. 24 formuliert sie, dass die zivilrechtliche Haftung der „Unternehmen“ im Unionsrecht unmittelbar verankert sei, was wohl auch eine primärrechtliche Festlegung der Passivlegitimation impliziert. 68 EuGH 20. 9. 2001 – C-453/99, Courage, ECLI:EU:C:2001:465 Rn. 29; 5. 6. 2014 – C557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 25. 69 EuGH 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 24.
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die (unmittelbaren und wohl auch mittelbaren) Abnehmer der Kartellaußenseiter erstreckt, zugleich aber eine Inanspruchnahme der Kartellanten davon abhängig gemacht wird, dass die Schäden von den Kartellanten vorausgesehen werden können.70 b) Der Grundsatz der Effektivität Während sich aus der Judikatur des Gerichtshofs keine expliziten Aussagen zum Anspruchsgegner und damit auch nicht zur Bedeutung und Tragweite der „wirtschaftlichen Einheit“ bei der Schadensersatzhaftung ergeben, hat man im Schrifttum aus dem vom Gerichtshof in Bezug genommenen Effektivitätsgrundsatz folgern wollen, dass die Rechtsträger der für den Verstoß gegen Art. 101, 102 AEUV verantwortlichen „wirtschaftlichen Einheit“ als Anspruchsgegner anzusehen sind.71 Diese These wird vor allem für die Haftung einer Muttergesellschaft mit bestimmendem Einfluss auf ihre gegen Art. 101, 102 AEUV verstoßende Tochtergesellschaft vertreten, aber auch umgekehrt für die Haftung der Tochtergesellschaft für ein wettbewerbswidriges Verhalten der Muttergesellschaft.72 Für die anderen, oben genannten Fälle einer wirtschaftlichen Einheit wird eine Haftung der beteiligten Rechtsträger im Einzelnen nicht thematisiert. Der Effektivitätsgrundsatz hat – was zum Teil im Schrifttum nicht hinreichend gewürdigt wird73 – in der Rechtsprechung des Gerichtshofs allgemein und auch in der Courage-Entscheidung im Besonderen zwei (sich zum Teil überlappende) Ausprägungen erfahren.74 Zum einen fungiert er – wie soeben angedeutet – neben dem Äquivalenzgrundsatz als Einschränkung des mitgliedstaatlichen (vor allem: Verfahrens-) Rechts dahingehend, dass dieses die Geltendmachung aus dem Unionsrecht stammender Ansprüche nicht „praktisch unmöglich“ oder „übermäßig erschweren“ darf75 und ist in dieser Variante auch in Art. 4 der Richtlinie 2014/104/EU übernommen worden. Es geht insoweit um eine Negativregel, die sich gegen Erschwerungen des nationalen Rechts bei der Durchsetzung aus dem Unionsrecht abgeleiteter Rechtspositionen richtet.76 Wenn und soweit das Primärrecht allerdings keine Fest70
EuGH 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 34. Kersting, Der Konzern 2011, 445 (457 f.); Blome (Fn. 10), S. 349 ff.; sehr str.; a.A. z. B. Scheidtmann, WRP 2010, 499 (502 ff.); Inderst/Thomas (Fn. 12), S. 76 ff. 72 Kersting, WuW 2014, 1156 (1159); Blome (Fn. 10), S. 362 (allerdings mit der Einschränkung, dass völlig unbeteiligte Konzernunternehmen nicht erfasst würden). 73 Z. B. bei Meessen (Fn. 64), S. 43; Thomas/Legner, NZKart 2016, 155 (157); Klotz, WuW 2017, 226 (227). 74 Zum Folgenden Roth, WRP 2013, 257 (261 f.); Tichy, in: Tichy/Potacs/Dumbrovsky (eds.), Effet Utile, 2014, S. 39, 41. 75 EuGH 20. 9. 2001 – C-453/99, Courage, ECLI:EU:C:2001:465 Rn. 29; 13. 7. 2006 – C295/04 bis C-298/04, Manfredi, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 62; 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014: 1317 Rn. 25, u. ö. 76 Vgl. dazu auch Tomasic, Effet utile, 2013, S. 14 ff.; Lianos, in: European Competition Law Annual 2013 – Effective and Legitimate Enforcement of Competition Law, 2016, S. 105, 108. 71
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legungen hinsichtlich der Anspruchsgegner eines Schadensersatzanspruchs bei Vorliegen einer „wirtschaftlichen Einheit“ kennt, wird man von einer Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes in dieser Variante wohl kaum ausgehen können, soweit ein Anspruch gegen die unmittelbar handelnde (Teil-)Einheit auf jeden Fall gegeben sein soll. In einer zweiten Ausprägung liegt die Funktion des Effektivitätsgrundsatzes in einer Interpretationsregel für das Unionsrecht, wonach der jeweiligen Norm des primären oder sekundären Unionsrechts „volle Wirksamkeit“ zukommen soll und die jeweilige zur Durchsetzung erforderliche nationale Regelung am Ziel der „praktischen Wirksamkeit“ zu messen ist.77 Damit ist nicht nur eine teleologische und auf die wirksame Durchsetzung der Regelung zielende Auslegung (im engen Sinne) gemeint, sondern auch und gerade die Forderung nach geeigneten Mechanismen für die Durchsetzung und Absicherung der unionsrechtlichen Rechtsposition durch das mitgliedstaatliche Recht. In den Worten der Kone-Entscheidung78 verlangt die „volle Wirksamkeit“ (full effectiveness) etwa der unmittelbar zwischen den Einzelnen wirkenden und ihnen Rechte verleihenden Verbotsnorm des Art. 101 AEUV, dass den Kartellopfern Schadensersatz gewährt wird und dass „jedermann“ diesen Schadensersatz soll geltend machen können; diese „volle Wirksamkeit“ soll zudem auch die Erstreckung der Schadensersatzansprüche auf Geschädigte erfordern, die ihre Waren von Kartellaußenseitern (zu erhöhten Preisen) bezogen haben.79 Diese Rechtsprechung rechtfertigt zwei Feststellungen. Zum einen: Die Erstreckung des Schadensersatzanspruchs auf Abnehmer von Kartellaußenseitern wird aus der Notwendigkeit abgeleitet, mittels des Schadensersatzanspruchs zugunsten auch dieser Abnehmergruppe die Aufrechterhaltung wirksamen Wettbewerbs zu gewährleisten. Nicht angesprochen wird dabei die Frage, ob nicht für die Erreichung dieses Ziels die Gewährung von Ansprüchen der unmittelbaren und mittelbaren Abnehmer der Kartellanten ausreichen würde. Dies lässt zumindest darauf schließen, dass das Erfordernis der „vollen Wirksamkeit“ nicht schon mit einer bloßen Mindesteffektivität erfüllt wird.80 Von daher liegt die Annahme nahe, dass für den Schadensersatzanspruch bei wettbewerbsrechtlicher Verantwortlichkeit einer „wirtschaftlichen Einheit“ die Möglichkeit einer alleinigen Inanspruchnahme der unmittelbar gegen die Verbotsnorm verstoßenden Gesellschaft nicht ausreicht.81 Zum anderen: Wenn und soweit auf der Seite der Geschädigten der Kreis der Anspruchssteller mit der „jedermann“-Formel als Konsequenz praktischer Wirksamkeit weit gezogen wird, so liegt es zumindest nicht fern, spiegelbildlich den Kreis der Anspruchsgegner 77 EuGH 20. 9. 2001 – C-453/99, Courage, ECLI:EU:C:2001:465 Rn. 26 – 27; 13. 7. 2006 – C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 90 – 91; Tomasic (Fn. 76), S. 18 f.; Lianos (Fn. 76), S. 105, 108. 78 Ebenso schon EuGH 20. 9. 2001 – C-453/99, Courage, ECLI:EU:C:2001:465 Rn. 26; 13. 7. 2006 – C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 60. 79 EuGH 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 32 – 33. 80 Anders insoweit Klotz, WuW 2017, 226 (227). 81 Im Ergebnis ebenso, aber mit anderer Begründung Kersting, VersR 2017, 581 (585).
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nicht zu eng zu fassen, sondern zumindest im Ausgangspunkt (und vorbehaltlich der Zurechnungsfragen im Detail82) auf alle Rechtsträger zu beziehen, die zu der in der „wirtschaftlichen Einheit“ gebündelten Gruppe von Rechtsträgern gehören. Unzweifelhaft würde dies dem Ziel förderlich sein, die Aufrechterhaltung wirksamen Wettbewerbs zu gewährleisten und zugleich die von Art. 101, 102 AEUV vermittelte Rechtsposition des einzelnen stärken. Der in der Courage-Rechtsprechung zum Effektivitätsgrundsatz zum Ausdruck kommende enge Bezug der Schadensersatzsanktion zu den wettbewerbsrechtlichen Verbotsnormen bedeutet in der Sache auch eine Gleichschaltung des private enforcement mit den Instrumenten des public enforcement. In dem Urteil Belastingdienst hat der Gerichtshof den engen inneren Zusammenhang zwischen Reichweite der Verbotsnormen und der Bußgeldhaftung betont, der einer Trennung der Verbotsnormen von den Bußgeldsanktionen entgegenstünde.83 Dass insoweit für die Schadensersatzhaftung aus der Sicht des Unionsrechts etwas anderes zu gelten hätte, vermag nicht einzuleuchten. Auch hier besteht derselbe enge Zusammenhang zwischen der die „wirtschaftliche Einheit“ ansprechenden Verbotsnorm und der gebotenen Sanktion, der es nahelegt, einen Gleichlauf von Verbotsadressaten und zivilrechtlicher Haftung zu erreichen. Insoweit ist aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Effektivitätsgrundsatz zu folgern, dass die von den Mitgliedstaaten zu verwirklichende Schadensersatzhaftung sich nach Möglichkeit nicht auf die Haftung der das verbotene Verhalten unmittelbar verwirklichenden (Teil-)Einheit beschränken darf, sondern sich – jedenfalls im Grundsatz – auf die der „wirtschaftlichen Einheit“ angehörigen Gruppenmitglieder erstrecken sollte.84 IV. Die Richtlinie 2014/104/EU Wenn auch die durch die Judikatur des Gerichtshofs entwickelten Vorgaben aus dem primären Unionsrecht für einen Schadensersatzanspruch der Opfer wettbewerbswidrigen Verhaltens dafür sprechen, dass bei einem Verstoß der „wirtschaftlichen Einheit“ gegen Art. 101, 102 AEUV eine persönliche Verantwortlichkeit des Handelnden zu verlangen ist und für die Haftung im Übrigen die die Leitungsmacht ausübende Einheit in der „wirtschaftlichen Einheit“ einzustehen hat, so ist damit noch nicht notwendig die Frage der Passivlegitimation im deutschen Kartelldeliktsrecht kraft unionsrechtskonformer Auslegung determiniert. Denn zunächst wird man sich fragen müssen, ob nicht die Richtlinie 2014/104/EU die hier angesprochene Problematik der Anspruchsgegner von Schadensersatzansprüchen insoweit eigenständig – etwa, wie im Schrifttum behauptet wird,85 durch Verweisung auf das nationale
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S. im Text oben bei Fn. 53 ff. EuGH 11. 6. 2009 – C-429/07, Belastingdienst, ECLI:EU:C:2009:359 Rn. 36. 84 Ebenso im Ergebnis Weitbrecht, WuW 2016, 959 (964 bei Fn. 35). 85 S. von Hülsen/Kasten, NZKart 2015, 296 (301) (stillschweigende Verweisung).
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Recht – regelt. Dies setzt freilich voraus, dass der Unionsgesetzgeber insoweit freie Hand hat und nicht durch die Courage-Judikatur des Gerichtshofs gebunden ist. 1. Die Rollenverteilung zwischen Primärrecht und Sekundärrecht a) Tragweite der EuGH-Judikatur Die Judikatur des Gerichtshofs zum Schadensersatzanspruch und anderen in der Richtlinie 2014/104/EU geregelten Fragen (wie etwa zum Einsichtsrecht von Kartellgeschädigten in Kommissionsakten) stellt zwar Anforderungen an das mitgliedstaatliche Recht, formuliert diese Anforderungen aber vielfach unter dem Vorbehalt der Ermangelung einschlägiger unionsrechtlicher Regelungen. Dies gilt etwa für die Verfahrensmodalitäten der Geltendmachung von Ansprüchen der Opfer wettbewerbswidrigen Verhaltens86 ebenso wie für die Kriterien der Ermittlung des Umfangs des Schadensersatzanspruchs87 oder andere Modalitäten der Geltendmachung des Anspruchs einschließlich der Konkretisierung des ursächlichen Zusammenhangs.88 Und der Anspruch auf Zugang zu den Dokumenten eines Kronzeugenprogramms, den der Gerichtshof unter den Vorbehalt einer Abwägung im Einzelfall unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte stellt, wird mit ausdrücklichem Hinweis darauf begründet, dass es an unionsrechtlichen Regelungen diesbezüglich fehle.89 Die vom Gerichtshof entwickelten Aussagen zum Schadensersatzanspruch und seinen näheren Konturen sind – da es in den Vorlageverfahren um mitgliedstaatliches Recht gegangen ist – zunächst allein als Aussagen zu den (primärrechtlichen) Anforderungen an das mitgliedstaatliche Recht zu begreifen.90 Soweit für einzelne Problembereiche in der Rechtsprechung ausdrücklich das Fehlen einer Regelung durch den Unionsgesetzgeber festgestellt worden ist, ist dies als ein Hinweis darauf zu verstehen, dass der Unionsgesetzgeber für diese Fragen nicht nur eine Regelungskompetenz gem. Art. 103 AEUV haben, sondern auf dieser Grundlage (wohl) auch Regelungsautonomie genießen soll. Die an das mitgliedstaatliche Recht gestellten Anforderungen gelten damit keineswegs notwendig in gleicher Weise auch für den Unionsgesetzgeber. Ihrer Funktion nach hat diese Rechtsprechung – mangels Regelung des Unionsgesetzgebers – gesetzesvertretende Wertigkeit, die eine abweichende Regelung durch den Unionsgesetzgeber durchaus offen lässt.91 Nichts anderes würde gelten, wenn der Gerichtshof mit seiner Courage-Rechtsprechung nicht 86
EuGH 20. 9. 2001 – C-453/99, Courage, ECLI:EU:C:2001:465 Rn. 29. EuGH 13. 7. 2006 – C-295/04, Manfredi, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 92. 88 EuGH 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 24. 89 EuGH 14. 6. 2011 – C-360/09, Pfleiderer, ECLI:EU:C:2011:389 Rn. 23; 6. 6. 2013 – C536/11, Donau Chemie, ECLI:EU:C:2013:366 Rn. 25. 90 Dies wird nicht hinreichend berücksichtigt von Kersting, WuW 2014, 564 (567 f.). 91 S. dazu näher Roth, ZHR 179 (2015) 668, 687; zustimmend Müller-Graff, ZHR 179 (2015) 691, 705. In ähnliche Richtung tendierend Franck (Fn. 64), S. 620 ff. 87
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nur aus dem Unionsrecht fließende Verpflichtungen der Mitgliedstaaten begründen, sondern einen im Unionsrecht verankerten Schadensersatzanspruch postulieren wollte: Ein solcher aus dem Effektivitätsprinzip abgeleiteter unionaler Anspruch wäre gegenüber einer Konkretisierung durch den Unionsgesetzgeber durchaus offen. b) Art. 103 AEUV Ein solche Sicht der Dinge korrespondiert mit der Regelungsermächtigung in Art. 103 Abs. 2 AEUV. Hier wird dem Unionsgesetzgeber (dem Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments) ein weit reichender Gestaltungsspielraum für Fragen eingeräumt,92 die man auf den ersten Blick – auch und vor allem – als Fragen des Primärrechts ansehen könnte: Die Regelung des Verhältnisses von unionsrechtlichem und nationalem Wettbewerbsrecht (lit. e.) oder aber die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf einzelne Wirtschaftszweige (lit. c.). Zwar wird die Schadensersatzsanktion – anders als die Einführung von Bußgeldern (lit. a.) – in Art. 103 Abs. 2 AEUV nicht erwähnt, doch handelt es sich bei der Auflistung nur um einen Beispielskatalog („insbesondere“), womit Art. 103 AEUV als Kompetenzgrundlage für eine Verordnung oder aber eine Richtlinie zur Harmonisierung mitgliedstaatlicher Regelungen, die sich auf Schadensersatzansprüche bei Verstoß gegen unionales Wettbewerbsrecht beziehen, dienen kann.93 Wie im Bußgeldrecht so ist die Regelungskonzeption des Art. 103 AEUV dahingehend zu verstehen, jenseits des Primärrechts (in seiner Konkretisierung durch den EuGH) grundlegende Fragen der Durchsetzung des unionalen Wettbewerbsrechts, also auch das Kartelldeliktsrecht, in die Hände des Unionsgesetzgebers zu legen. c) Schranken für den Unionsgesetzgeber? Welche vom Gerichtshof anhand des Art. 101 AEUV und des Effektivitätsgrundsatzes getroffene Aussagen zum Schadensersatzanspruch als primärrechtlich abgesichert (und damit für den Unionsgesetzgeber nicht korrigierbar) gelten müssen, ist insoweit alles andere als geklärt.94 Mit der Richtlinie 2014/104/EU folgt der Unionsgesetzgeber der Argumentation des Gerichtshofs sowohl hinsichtlich der aus dem Unionsverfassungsrecht folgenden Ableitung subjektiver Rechte der einzelnen, die die Existenz eines Schadensersatzanspruchs erfordern,95 wie auch hinsichtlich der 92
Andeutungen auch bei Klamert, EuZW 2017, 131 (133). Dies erscheint weitgehend unstreitig; vgl. etwa Milutinovic (Fn. 61), S. 315. Die Richtlinie 2014/104/EU stützt die Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Kartelldeliktsrechts, soweit es um Verstöße gegen mitgliedstaatliches Wettbewerbsrecht geht, zu Recht auf Art. 114 AEUV. 94 Die Ausübung der Kompetenz des Art. 103 Abs. 2 AEUV ist zumindest an die dort umschriebenen Ziele zurückgebunden; s. z. B. Schröter, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer (Hrsg.), Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2014, 1.A. Rn. 54. 95 Erwägungsgrund No. 3. 93
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Notwendigkeit der Existenz eines ursächlichen Zusammenhangs und des Umfangs des Anspruchs, der den eingetretenen Vermögensschaden, den entgangenen Gewinn und die Zinsen umfassen muss.96 Insoweit geht der Gesetzgeber einerseits (wohl) von einem primärrechtlich abgeleiteten „Besitzstand“97 aus, wobei die Konkretisierungsbefugnis durch die Mitgliedstaaten wie auch durch den Unionsgesetzgeber damit nicht in Frage gestellt werden soll (etwa Zinshöhe; Kausalitätstheorien, Berechnung des entgangenen Gewinns etc.). Andererseits enthält die Richtlinie in Art. 11 Abs. 2 Regelungen, etwa zugunsten der kleinen und mittleren Unternehmen, mit denen der Schadensersatzanspruch gegenüber bestimmten Unternehmen durchaus spürbar eingeschränkt werden soll. Soweit manche Aussagen des Gerichtshofs zum Effektivitätsprinzip, vor allem diejenigen, die unter den Vorbehalt des Handelns des Unionsgesetzgebers gestellt sind, als Aussagen zu den Anforderungen an das mitgliedstaatliche Recht zu verstehen sind, wird künftig zu klären sein, ob und in welchem Ausmaß damit auch primärrechtliche Vorgaben für den Unionsgesetzgeber gemacht werden sollten.98 Es ist zu wünschen, dass hier der Gestaltungsspielraum des Unionsgesetzgebers möglichst weitgehend gewahrt bleibt, sind doch Fragen des Kartelldeliktsrechts kaum als Fragen von verfassungsrechtlichem Gewicht anzusehen.99 Einige Andeutungen mögen genügen. Die Ableitung des Schadensersatzanspruchs aus der unmittelbaren Anwendbarkeit der Art. 101, 102 AEUV, der damit verbundenen Einräumung subjektiver Rechte und den Grundsätzen der vollen und praktischen Wirksamkeit dieser Normen100 ist für den Gesetzgeber bindend und entzieht diesem die Entscheidung nicht nur über das „ob“ der Existenz eines solchen Anspruchs, sondern impliziert auch die Vorgabe, dass es sich um einen effektiv wirkenden Anspruch handeln muss. Die in der Rechtsprechung angedeuteten grundsätzlichen Anforderungen an dessen Ausgestaltung – ursächlicher Zusammenhang; Umfang des Anspruchs – sind (wohl) als primärrechtlich determiniert anzusehen, im Übrigen stehen sie aber der Konkretisierung durch den Unionsgesetzgeber offen. Letzteres muss für die Fragen des Zusammenwirkens von private und public enforcement oder aber der Regelungen über die Beweiserhebung gelten. In der Kone-Entscheidung hat der Gerichtshof (wohl auch im Hinblick auf die Verabschiedung der Richtlinie 2014/104/EU) die Regelung der „Modalitäten für die Ausübung“ des Schadensersatzanspruchs unter den (umfassenden) Vorbehalt einer unionsrechtlichen Regelung gestellt,101 womit auch die Aussagen zur Rechtsstellung der Vertragspartner von Kar96
Erwägungsgrund No. 11 und 12. Erwägungsgrund No. 12. 98 Dazu eingehend Roth, ZHR 179 (2015) 668, 684 ff.; Franck (Fn. 64), S. 624 ff. 99 Vgl. insoweit das viel allgemeinere (und über das berechtigte Ziel hinausschießende) Plädoyer von Grimm, Europa ja – aber welches? 2. Aufl. 2016, S. 27 u. ö.; dazu Editorial Comments, C.M.L. Rev. 54 (2017) 1. 100 EuGH 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 20 – 21. 101 EuGH 5. 6. 2014 – C-557/12, Kone, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 24. 97
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tellaußenseitern durch den Unionsgesetzgeber modifizierbar erscheinen.102 Dies steht im Zusammenhang mit der ganz allgemeinen Frage, ob und inwieweit der Gesetzgeber den Kreis der ersatzberechtigten Personen („jedermann“) näher bestimmen und auch einschränken kann. 2. Primärrechtliche Vorprägung des Unternehmensbegriffs im Kartelldeliktsrecht? Der Unionsgesetzgeber hat mit Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2014/104/EU für sich die Kompetenz in Anspruch genommen, die Passivlegitimation beim Schadensersatzanspruch („unbeschadet des Rechts auf vollständigen Schadensersatz“) näher auszugestalten. Ist der Unionsgesetzgeber insoweit auch befugt, den Kreis der Adressaten bei Inanspruchnahme der Rechtsträger einer „wirtschaftlichen Einheit“ zu bestimmen? Fragt man nach primärrechtlichen Vorgaben, so ist darauf hinzuweisen, dass es insoweit an präzisen Aussagen (mangels entsprechender Vorlagen der nationalen Gerichte) fehlt und – wie erwähnt103 – die beiläufige Erwähnung des Unternehmensbegriffs in der deutschsprachigen Fassung des Kone-Urteils keine Aussagekraft besitzt. Einzig die im Urteil Belastingdienst zur Bußgeldsanktion getroffene Feststellung, wonach die (nationale) Bußgeldsanktion sich an der Reichweite der unionalen Verbotsnormen orientieren müsse,104 gibt (vielleicht) erste Hinweise: Zwar handelt es sich hier wiederum um eine Anforderung an das mitgliedstaatliche (Sanktions-) Recht, doch ist die Aussage wohl auch für den Unionsgesetzgeber von einigem Gewicht und auf die Schadensersatzsanktion durchaus übertragbar. Freilich ist die Aussage des Gerichtshofs (die zudem zur steuerlichen Abzugsfähigkeit von Geldbußen ergangen ist) doch sehr allgemein gehalten. Sie mag zwar die Annahme rechtfertigen, dass die Mitgliedstaaten auch die Figur der „wirtschaftlichen Einheit“ im Grundsatz in ihr Bußgeldrecht übertragen müssen. Doch wird man im Hinblick auf die Kompetenznorm des Art. 103 Abs. 2 lit. a AEUV durchaus von einem Gestaltungsspielraum des Unionsgesetzgebers ausgehen können.105 Einen solchen Gestaltungsspielraum wird man im Hinblick auf die Besonderheiten zivilrechtlicher Ansprüche erst recht für die Ausgestaltung der Passivlegitimation des Kartellschadensersatzanspruchs annehmen dürfen, zugleich aber den Grundsatz eines Gleichlaufs von Verbotsadressaten und Sanktion im Auge behalten müssen.
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Ebenso Franck (Fn. 64), S. 624 ff. Text bei Fn. 60. 104 EuGH 11. 6. 2009 – C-429/07, Belastingdienst, ECLI:EU:C:2009:4833 Rn. 33 ff.; vgl. ebenso in der Sache EuGH 18. 6. 2013 – C-681/11, Schenker, ECLI:EU:C:2013:404 Rn. 46 – 47. 105 So jedenfalls im Ergebnis auch Thomas/Legner, NZKart 2016, 155 (157). 103
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3. Der Unternehmensbegriff in der Richtlinie Im ausführlichen Katalog der Begriffsbestimmungen des Art. 2 der Richtlinie 2014/104/EU findet sich keine Definition des „Unternehmens“106 – ebenso wenig wie in den Erwägungsgründen. Dies erstaunt bei einem – in vielen Jahren vorbereiteten – Gesetzgebungsakt, der das nationale Kartelldeliktsrecht harmonisieren (und fortentwickeln) will. Und die zentrale Norm, die das Recht auf vollständigen Schadensersatz postuliert (Art. 3), will zwar jedem Opfer einen solchen Schadensersatzanspruch einräumen, enthält sich aber einer Aussage, von wem der Schadensersatz verlangt werden kann. In diesem Zusammenhang wird man unschwer vermuten können, dass unterschiedliche Positionen im Gesetzgebungsverfahren bezüglich des Unternehmensbegriffs im Kartelldeliktsrecht dazu geführt haben, auf eine eindeutige Festlegung zu verzichten107 – womit diese Frage hin zur Auslegung der Richtlinie nach unionsrechtlichen Auslegungsmethoden verschoben worden ist. Aus dem Fehlen einer expliziten Konzernhaftung auf ein „beredtes Schweigen“108 der Richtlinie bezüglich der Passivlegitimation der „wirtschaftlichen Einheit“ schließen zu wollen, geht zu weit: Der Regelungszusammenhang zwischen den Verbotsnormen der Art. 101, 102 AEUVund der Richtlinie als Sanktionsinstrument würde damit unnötig verkürzt. Freilich kann nicht behauptet werden, dass der Begriff des „Unternehmens“109 in der Richtlinie überhaupt keine Verwendung gefunden hat. Im Gegenteil: In der dem Gegenstand und dem Anwendungsbereich der Richtlinie gewidmeten Art. 1 Abs. 1 ist von einer Zuwiderhandlung eines „Unternehmens“ die Rede sowie von dem Recht, „den vollständigen Ersatz dieses Schadens von diesem Unternehmen … zu verlangen“. Als Rechtsverletzter definiert Art. 2 Nr. 2 das „Unternehmen …, das … die Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen hat.“ Der „Kronzeuge“ wird in Art. 2 Nr. 19 im Hinblick auf ein „Unternehmen“ bestimmt, in Art. 11 Abs. 1 die gesamtschuldnerische Haftung für „Unternehmen“ angeordnet, in Art. 11 Abs. 2, 3 die Haftung von kleineren und mittleren „Unternehmen“ beschränkt und schließlich in Art. 11 Abs. 4 die Haftungsbeschränkung für den Kronzeugen von der Haftung anderer „Unternehmen“ abhängig gemacht. In den Erwägungsgründen der Richtlinie wird der Begriff des „Unternehmens“ weitgehend (aber nicht vollständig) vermieden. Immerhin wird in Erwägungsgrund No. 31 hinsichtlich des Rechts, Beweismittel für die Schadensersatzklage zu verwen106
Darauf bauen Suchsland/Rossmann, WuW 2015, 973, auf. Dies erklärt auch das Fehlen von Hinweisen in den Erwägungsgründen der Richtlinie, auf das Inderst/Thomas (Fn. 12), S. 79, zu recht hinweisen. 108 Thomas/Legner, NZKart 2016, 155 (156). 109 Entreprise, undertaking; dies sind die Begriffe, die auch in Art. 101, 102 AEUV verwendet werden – im Gegensatz zu Art. 54 AEUV, wo von société und company die Rede ist. Dies erscheint auch folgerichtig, da der umfassendere Begriff des „Unternehmens“/entreprise/ undertaking Marktteilnehmer umfassen muss, deren Rechtsträger nicht nur „Gesellschaften“/ sociétés/companies, sondern auch natürliche Personen sind. 107
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den, klargestellt, dass die von einem Unternehmen einer Unternehmensgruppe, die für Zwecke der Art. 101, 102 AEUV „ein“ Unternehmen (implizit: kraft „wirtschaftlicher Einheit“) ist, erlangten Beweismittel auch den anderen Gruppenmitgliedern zur Verfügung stehen sollen. Und im Erwägungsgrund No. 3 wird für die zivilrechtliche Haftung festgestellt, dass sie auch bei wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlungen der öffentlichen Unternehmen und der Unternehmen, denen die Mitgliedstaaten besondere oder ausschließliche Rechte gewährt haben, eingreifen soll. Damit wird ausdrücklich auf den unionsrechtlichen Unternehmensbegriff in Art. 106 Abs. 1 AEUV Bezug genommen, was dafür spricht, dass bei den in Erwägungsgrund No. 3 erwähnten Zuwiderhandlungen gegen Art. 101, 102 AEUV (auf die Art. 106 Abs. 1 AEUV verweist) nichts anderes gelten kann. Die Verwendung des Begriffs des „Unternehmens“ im unionalen Sekundärrecht ist keineswegs einheitlich, vielmehr ist der Begriff immer auch sachgebietsbezogen und am Zweck der einzelnen Norm orientiert auszulegen. Letzteres gilt auch für das engere Gebiet des Wettbewerbsrechts,110 ohne dass damit notwendig eindeutige Ergebnisse erreicht werden könnten. So verwendet etwa Art. 23 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 VO Nr. 1/2003 den Begriff des „Unternehmens“, ohne ihn (im Sinne des täterschaftlichen oder bußgeldrechtlichen Begriffs) zu definieren. Während im Schrifttum insoweit für einen Gleichlauf111 mit dem täterschaftlichen Unternehmensbegriff der Art. 101, 102 AEUV (und nicht zu vergessen: Art. 106 AEUV) plädiert wird,112 spricht für eine Verwendung eines engeren, rechtsträgerbezogenen Unternehmensbegriffs,113 dass es bei diesen Normen (bereits) um die konkreten Adressaten einer Bußgeldentscheidung geht, die nur einem konkreten Rechtsträger (und nicht der „wirtschaftlichen Einheit“) zugestellt werden kann.114 Die Sache wird freilich dadurch nicht klarer, dass Art. 23 Abs. 1 wie auch Art. 23 Abs. 2 Satz 2 VO Nr. 1/ 2003 für die Höhe der Geldbuße den Gesamtumsatz (und damit die „wirtschaftliche Einheit“) berücksichtigen, also insoweit den täterschaftlichen Unternehmensbegriff im Auge haben. Auch im Bereich des unionalen soft law kann von einem einheitlichen Verständnis des Begriffs des Unternehmens keine Rede sein. Dies zeigt etwa die Kronzeugen110
Heinichen (Fn. 31), S. 79; Blome (Fn. 10), S. 127. Vgl. EuGH 11. 6. 2009 – C-429/07, Belastingdienst, ECLI:EU:C:2009:359 Rn. 33 ff. 112 Schneider/Engelsing in Münchener Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 2015, Art. 23 VO 1/2003, Rn. 59; Aberle, Sanktionsdurchgriff und wirtschaftliche Einheit im deutschen und europäischen Kartellrecht, 2013, S. 84; Nowak, in: Loewenheim u. a. (Fn. 12), Art. 23 VerFVO Rn. 17. 113 In diesem Sinne Blome (Fn. 10), S. 164 ff.; vgl. auch Klotz (Fn. 29), S. 112. 114 Wenn es bei Schneider/Engelsing, in: Münchener Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht (Fn. 112), Rn. 59 heißt, Art. 23 setze (bei Annahme des täterschaftlichen Unternehmensbegriffs) gedanklich voraus, dass der Bußgeldbescheid (nur) gegen eine nach nationalem Recht zu bestimmende Rechtspersönlichkeit zugestellt und vollstreckt werden könne, liegt eine Überlegung in umgekehrter Richtung näher: Art. 23 geht von der Verbotsnorm-Adressatenstellung der „wirtschaftlichen Einheit“ aus und adressiert die für die Bußgeldentscheidung in Frage kommenden Rechtsträger. 111
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Mitteilung,115 die die Frage, ob der Kronzeugenantrag einer jeden, einer „wirtschaftlichen Einheit“ zuzurechnenden Gesellschaft als ein Antrag mit Wirkung für alle der Gruppe der „wirtschaftlichen Einheit“ zuzurechnenden Gesellschaften zu behandeln ist, nicht entscheidet,116 und im Übrigen auch die notwendige Klarheit im Begrifflichen vermissen lässt: Zumeist ist von „Unternehmen“ die Rede, ohne dass dabei deutlich gemacht wird, ob auf den Unternehmensbegriff des Art. 101 AEUV Bezug genommen wird. Im englischen Text ist in Rn. 1 der Mitteilung – wie im Primärrecht – von undertaking die Rede, während in der Rn. 2 die Begriffe undertaking und company (im Deutschen nur: „Unternehmen“) verwendet werden. In Rn. 9a ist in der deutschen Sprachfassung dann von „juristischer Person“ und nicht vom „Unternehmen“ die Rede, wobei nicht einleuchtet, warum es nicht um „Gesellschaften“ gehen soll. Und für die „Unternehmenserklärung“ (die im Englischen als corporate statement umschrieben wird) heißt es in Rn. 31, dass es um eine Darlegung „im Namen“ des Unternehmens geht, obwohl doch die „wirtschaftliche Einheit“ gerade kein Namensträger sein muss. Auch für die Richtlinie 2014/104/EU ist keineswegs ausgemacht, dass der Begriff des Unternehmens (undertaking; entreprise) in allen Regelungen gleichsinnig verwendet wird. Eine Einzelnorm-orientierte Untersuchung steht diesbezüglich noch aus. 4. Verweisung auf nationales Recht oder unionsrechtsautonome Auslegung? a) Vertikale Verweisung? Im Schrifttum wird mit Nachdruck vertreten, dass die Richtlinie 2014/104/EU dadurch, dass sie für den Begriff des „Unternehmens“ keine Definition vorsehe, insoweit dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber Freiraum einräumen und damit eine Verweisung auf das nationale Recht vornehmen wolle.117 Dies, so die Behauptung, entspräche auch allgemeinen Grundsätzen der Rechtsangleichung118 bzw. allgemeinen Auslegungsgrundsätzen des Unionsrechts. Freilich lässt sich eine solchermaßen allgemein vorgetragene These nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs belegen.119 Eher ist das Gegenteil richtig. 115 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298/17. 116 Zu den damit verbundenen Fragen s. Koch, in: FS W.-H. Roth, 2015, S. 279. 117 von Hülsen/Kasten, NZKart 2015, 296 (297 f., 300); Suchsland/Rossland, WuW 2015, 973 (978 f.); Mäger, NZKart 2015, 329; vgl. auch Klotz (Fn. 29), S. 111. 118 Suchsland/Rossland, WuW 2015, 973 (978 f.); von Hülsen/Kasten, NZKart 2015, 296 (300). Die dort gegebenen Hinweise, dass die Richtlinie keine Voll- bzw. Totalharmonisierung bezwecke, geht am eigentlichen Problem – dem Gebot einer unionsrechtsautonomen Auslegung des Unternehmensbegriffs – vorbei. 119 Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Schlussanträge von GA Trstenjak in der Rechtssache C-81/09, ECLI:EU:C:2010:304 Rn. 43 f. als alleinigen (nicht besonders
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Seit vielen Jahren und in einer Vielzahl von Judikaten geht der Gerichtshof davon aus, dass in den EU-Richtlinien verwendete Begriffe und Ausdrücke einer unionsrechtsautonomen und einheitlichen Auslegung zugeführt werden müssen, die sich an Wortlaut, systematischer Stellung und Regelungszweck der Norm orientiert120 – dies als Konsequenz des Prinzips einheitlicher Anwendung des Unionsrechts und des Gleichheitssatzes, wonach die Einzelnen durch das Unionsrecht gleich zu behandeln sind.121 Dies gilt auch in (den vielen) Fällen, in denen das Unionsrecht den jeweiligen Begriff zwar im Normtext verwendet, nicht aber definiert.122 Dies ist nach st. Rspr. nur anders, wenn das Unionsrecht eine ausdrückliche vertikale Verweisung123 auf das nationale Recht vornimmt.124 Fehlt es in einem Rechtsakt an einer ausdrücklichen vertikalen Verweisung, greift der Grundsatz der autonomen Auslegung125 – und dies selbst dann, wenn in einem anderen Rechtsakt für denselben Begriff eine vertikale Verweisung vorgesehen ist.126 Vor diesem Hintergrund kann von einer stillschweigenden Verweisung auf nationales Recht127 (um die es hier gehen müsste), wenn überhaupt, dann nur in Ausnahmefällen ausgegangen werden.128 An keiner Stelle – weder im Normtext noch in den Erwägungsgründen – findet sich in der Richtlinie 2014/104/EU eine ausdrückliche Verweisung auf nationales Recht oder auch nur ein (versteckter) Hinweis auf eine solche Verweisung. Eine stillschweigende Verweisung wird man – als Ausnahmefall nur annehmen können, wenn vom Zweck des unionalen Rechtsakts her eine unionsrechtsautonome Auslegung nicht möglich erscheint. Dies lässt sich für die Richtlinie 2014/104/EU ausschließen. aussagekräftigen) Nachweis. Die Rspr. des EuGH wird von den in Fn. 117 zitierten Autoren nicht analysiert! 120 Zuletzt EuGH 20. 9. 2017 – C-186/16, Andriciuc, ECLI:EU:C:2017:703 Rn. 34. 121 Z. B. EuGH 18. 10. 2011 – C-34/10, Brüstle, ECLI:EU:C:2011:669 Rn. 25 – 26; 7. 9. 2017 – C-247/16, Schottelius, ECLI:C:2017:638 Rn. 31. 122 Zuletzt EuGH 7. 9. 2017 – C-247/16, Schottelius, ECLI:C:2017:638 Rn. 32. Dass das Unionsrecht bei fehlender Definition eines Begriffs keinen Regelungsanspruch erhebe und die volle Regelungskompetenz den Mitgliedstaaten überlasse (so die in Fn. 117 zitierten Autoren), widerspricht diametral der – nicht zur Kenntnis genommenen – Rspr. des Gerichtshofs. 123 Wie etwa in Art. 3 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit, ABl. 2008 L 327/9, für den Begriff des Arbeitnehmers. 124 EuGH 16. 4. 2015 – C-388/13, Nemzeti, ECLI:EU:C:2015:225 Rn. 33; 16. 7. 2015 – C184/14, A./.B, ECLI:EU:C:2015:479 Rn. 31. 125 Aus der Rspr. etwa EuGH 3. 9. 2014 – C-201/13, Deckmyn, ECLI:EU:C:2014:2132 Rn. 15. 126 Zum Begriff des Arbeitnehmers: EuGH 9. 7. 2015 – C-229/14, Balkaya, ECLI:EU:C:2015:455 Rn. 33 f., 49 f. 127 Vermeintlich zu einem solchen Fall: GA Trstenjak, C-81/09, ECLI:EU:C:2010:304 Rn. 43 ff., zu der Frage, ob in der Richtlinie 68/151 unter den Begriff der „Verpflichtungen“ einer Gesellschaft auch Geldbußen fallen. Hier stellt die GAin in der Sache nur klar, dass angesichts einer fehlenden Definition des Begriffs der „Verpflichtung“ das Gemeinschaftsrecht sich nicht dafür entschieden hat, Geldbußen als Verpflichtung zu werten, – dass es aber den Mitgliedstaaten freisteht, dies zu tun. 128 Zum Ganzen Roth, in: FS Prütting, 2018 (im Erscheinen).
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b) Die Regelungen der Richtlinie im Einzelnen Eine unionsrechtsautonome Auslegung des Unternehmensbegriffs lässt sich auch nicht mit der Überlegung in Frage stellen,129 die wesentliche, die Anspruchsgrundlage umschreibende Norm des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie benenne zwar die Anspruchsinhaber („jede … Person, die einen Schaden erlitten hat …“) sowie Voraussetzungen („Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht“) und Inhalt des Schadensersatzanspruchs („vollständigen Ersatz dieses Schadens“), nicht aber den Anspruchsgegner (also den Täter der Zuwiderhandlung). Mit dieser Unvollständigkeit der Anspruchsgrundlage – so könnte man argumentieren – werde die Regelung der Passivlegitimation dem nationalen Recht überlassen, das insoweit ergänzend hinzutreten muss. Indessen würde damit übersehen, dass Art. 3 Abs. 1 auf Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie aufbaut:130 Diese Norm umschreibt (so die Überschrift) „Gegenstand und Anwendungsbereich“ der Richtlinie dahingehend, dass jeder, der einen durch eine „Zuwiderhandlung eines Unternehmens …“ gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden erlitten hat, das Recht haben soll, Ersatz dieses Schadens „… von diesem Unternehmen…“ wirksam geltend zu machen. Damit wird aber gerade die Stellung als Anspruchsgegner angesprochen,131 die dann in Art. 3 Abs. 1 nicht noch einmal wiederholt zu werden braucht. Dies harmoniert mit Art. 11 Abs. 1, wonach „Unternehmen“, die durch gemeinschaftliches Handeln gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen haben, gesamtschuldnerisch haften sollen. Die Richtlinie 2014/104/EU blendet damit die Regelung der Passivlegitimation gerade nicht aus, sondern setzt sie in Art. 11 Abs. 1 voraus und regelt sie unmittelbar in Art. 1 Abs. 1. Der Umstand, dass der Gesetzgeber das „Unternehmen“ als Anspruchsgegner für den Schadensersatzanspruch in Art. 3 Abs. 1 nicht benennt und in Art. 1 Abs. 1 „nur“ Gegenstand und „Anwendungsbereich“ der Richtlinie umschreibt, spricht im Übrigen insoweit nicht für, sondern gegen eine Verweisung auf nationales Recht: Die der unionsrechtsautonomen Auslegung zugrunde liegenden Zwecke der einheitlichen Anwendung und der Gleichbehandlung erfordern, dass sowohl der Gegenstand wie auch der Anwendungsbereich der Richtlinie in allen Mitgliedstaaten einheitlich bestimmt werden.132 Nur so wird auch erreicht, dass der Zweck der Richtlinie, die Rechte der Opfer wettbewerbswidrigen Verhaltens als subjektive Rechte zu schützen und damit den Art. 101, 102 AEUV praktische Wirksamkeit zu verleihen,133 in allen mitgliedstaatlichen Rechten in gleicher Weise sichergestellt wird. Dies ergibt sich letztlich in mittelbarer Weise auch aus der Definitionsnorm des Art. 2 Nr. 2, wo 129
So aber andeutungsweise Klotz (Fn. 29); S. 111. I. E. Lettl, WRP 2015, 537 (538); zum Folgenden auch Kersting, WuW 2014, 564 (565) m.w.N. aus dem Schrifttum. 131 Vgl. auch die Bezugnahme auf das „zuwiderhandelnde Unternehmen“ in Erwägungsgrund No. 13. 132 Dies kommt bei Thomas/Legner, NZKart 2015, 155 (156) zu kurz. 133 S. Erwägungsgrund No. 3. 130
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als „Rechtsverletzer“ im Sinne der Regelungen der Richtlinie das „Unternehmen“ bezeichnet wird, das die Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen hat. Damit ist der Unternehmensbegriff Teil einer Definitionsnorm, die nach einer unionsrechtsautonomen Auslegung verlangt, und die damit auch die unionsrechtsautonome Auslegung ihrer Merkmale verlangt. c) Unionsrechtlicher Rahmen und mitgliedstaatliche Konkretisierungsbefugnis? Von der Frage einer vertikalen Verweisung ist ein damit verwandtes, aber anders gelagertes und in unserem Zusammenhang oftmals übersehenes Auslegungsproblem zu unterscheiden, das im deutschen Schrifttum seit langem diskutiert wird:134 Das Unionsrichtlinienrecht kennt zahlreiche Beispiele dafür, dass der Gesetzgeber mit Generalklauseln („gerechter Ausgleich“) oder unbestimmten Rechtsbegriffen („Schaden“) arbeitet, für die zwar in einem ersten Schritt eine unionrechtsautonome Begriffsprägung (im Sinne eines Begriffsrahmens) erforderlich ist, bei denen aber – in einem zweiten Schritt – eine sich innerhalb des Begriffsrahmens bewegende Normkonkretisierung (zumindest vorläufig) den mitgliedstaatlichen Organen überlassen bleiben soll.135 Man mag argumentieren wollen, dass der Unionsgesetzgeber mit dem in der Richtlinie 2014/104/EU verwendeten Begriff des „Unternehmens“ einen solchen unionsrechtlichen Rahmenbegriff habe schaffen wollen,136 der durch mitgliedstaatliches Recht auszufüllen ist. Für die Existenz einer solchen (begrenzten) Konkretisierungsbefugnis durch das mitgliedstaatliche Recht (im Rahmen des unionsrechtlichen Begriffs) ist die Zielsetzung der Gesetzgebung ebenso zu beachten wie der Gesamtzusammenhang, in dem die jeweilige Bestimmung steht und der für die hier diskutierte Problemlage besonders bedeutsam ist: Mit dem Begriff des „Unternehmens“ schließt sich der Gesetzgeber an die im Primärrecht verwendete und von der Rspr. ausgearbeitete Begrifflichkeit der Verbotsnormen an, um deren zivilrechtliche Sanktionierung es gehen soll. Damit wird aber die Begrifflichkeit in der Richtlinie vorgeprägt, die (wenn überhaupt) nur sehr wenig Spielraum für mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielraum lässt. Wollte man diesem Ansatz folgen, so wären zu dem unionsrechtlichen Begriffsrahmen im obigen Sinne auf jeden Fall die Grundsätze über die „wirtschaftliche Einheit“ zu zählen, wie sie bisher durch die Rspr. ausgearbeitet worden sind. Im Übrigen spricht das Ziel der Richtlinie, public und private enforcement bei Verstößen
134 Aus dem Schrifttum etwa Roth, in: FS Drobnig, 1998, S. 135; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 353 ff.; zuletzt Stempel, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht, 2016, S. 86 ff., 108 ff., 114 ff., 166 ff.; Lohse, Rechtsangleichungsprozesse in der Europäischen Union, 2017, S. 182 ff., 275 ff. 135 Beispiele bei Roth (Fn. 134). 136 In diesem Sinne (ohne konkreten Bezug auf die dargestellte Problematik) vielleicht die Andeutungen bei Suchsland/Rossland, WuW 2015, 973 (978).
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gegen unionales Wettbewerbsrecht zu koordinieren, dafür, einen Gleichlauf der Sanktionsadressaten zu erreichen. d) Fehlen eines europäischen Konzernhaftungsrechts Der Umstand, dass der Unionsgesetzgeber kein ausgearbeitetes Konzernhaftungsrecht geschaffen hat137 und Art. 50 AEUV in der Richtlinie nicht als Kompetenzgrundlage genannt ist, gewinnt für die Bestimmung des Unternehmensbegriffs keine Bedeutung. Dem Richtliniengesetzgeber geht es allein um die Harmonisierung von nationalen Regelungen des Kartelldeliktsrechts. Dass die Regelungen auch Implikationen für das von einigen, aber nicht von allen Mitgliedstaaten geregelte Konzernrecht haben mögen, liegt bereits in der Adressatenstellung der Verbotsnormen der Art. 101, 102 AEUV begründet; von daher ist das Fehlen von Regelungen über Konzernhaftung kein Argument für eine enge, die „wirtschaftliche Einheit“ negierende und damit Konzernsachverhalte ignorierende Deutung des Unternehmensbegriffs der Richtlinie. Auch braucht Art. 50 AEUV als Kompetenzgrundlage nicht genannt zu werden,138 geht es dem Unionsgesetzgeber seiner Zielsetzung nach nicht um eine Harmonisierung des Konzernhaftungsrechts im allgemeinen, sondern um die Gestaltung von Schadensersatzsanktionen, die u. a. auch in Konzernsachverhalten greifen können und damit um Kartellsanktionsrecht. Dafür ist Art. 103 AEUV (und bei Verstoß gegen nationales Kartellrecht: Art. 114 AEUV) die richtige und alleinige Kompetenznorm. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass sich die Haftung der Konzernmutter bei Verstoß der „wirtschaftlichen Einheit“ gegen Art. 101, 102 AEUVaus ihrer Mitgliedschaft in der „wirtschaftlichen Einheit“ und nicht etwa aus dem Gesellschaftsrecht ergibt; das Fehlen einer Konzernhaftung im Unionsrecht ist insoweit irrelevant.139 Ebenso wenig handelt es sich – wie teilweise postuliert wird – um eine „Durchbrechung“ der im mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrecht vorgesehenen Haftungstrennung,140 liegt doch die Haftung der Muttergesellschaft in ihrer Zugehörigkeit zur „wirtschaftlichen Einheit“ als Normadressat der Art. 101, 102 AEUV begründet. e) Unionsrechtsautonome Auslegung und Harmonisierungszweck Zu Recht ist im Schrifttum angemerkt worden, dass der Regelungs- und Harmonisierungszweck der Richtlinie im Wesentlichen die Fragen einer vollen Entschädigung, der Klärung der Stellung von mittelbaren Abnehmern (einschließlich der passing-on defence), des Zugangs zu Beweismitteln und der Koordination mit der öffentlich-rechtlichen Kartellrechtsdurchsetzung betrifft, nicht aber die Frage des An137
Dazu Inderst/Thomas (Fn. 12), S. 75 ff.; Klotz (Fn. 29), S. 110. Dies entgegen Klotz (Fn. 29); S. 110 f.; ders., WuW 2017, 226 (227). 139 Dies gegen Klotz, WuW 2017, 226 (227). 140 von Hülsen/Kasten, NZKart 2015, 296 (300).
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spruchsgegners.141 Richtig ist auch, dass die Richtlinie die Einzelheiten einer Haftung der in der „wirtschaftlichen Einheit“ zusammengefassten Gruppe von Rechtsträgern nicht zum Gegenstand einer Regelung gemacht hat. Gleichwohl kann – wie gezeigt – daraus nicht abgeleitet werden, dass die Passivlegitimation (entgegen Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie) aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeklammert wäre oder aber eine (vertikale) Verweisung auf nationales Recht vorgenommen werden müsste. Denn die Richtlinie verwendet für den Anspruchsgegner den Begriff des Unternehmens und dieser ist daher – auch ohne weitergehende, auf Harmonisierung zielende Regelungen – unionsrechtsautonom auszulegen. Unionsrechtsautonome Auslegung von in der Richtlinie verwendeten Begriffen und Harmonisierungszweck liegen auf verschiedenen Ebenen. f) Passivlegitimation bei Verstoß gegen mitgliedstaatliches Wettbewerbsrecht Spricht also im Ergebnis vieles dafür, den Unternehmensbegriff der Richtlinie unionsrechtsautonom auszulegen, so mag man sich trotzdem fragen, ob eine solche Auslegung nicht auf die Durchsetzung des unionalen Wettbewerbsrechts zu begrenzen ist. Diesbezüglich liegt nämlich – wie noch (unter V.) zu zeigen sein wird – ein Gleichlauf des personalen Anwendungsbereichs der Verbotsnormen der Art. 101, 102 AEUV und der Reichweite der Schadensersatzsanktion besonders nahe. Anders ist dies – auf den ersten Blick – bei der Sanktionierung der wettbewerbsrechtlichen Verbotsnormen der Mitgliedstaaten. Da die Richtlinie nicht der Vereinheitlichung des nationalen Wettbewerbsrechts dient, bleiben Unterschiede, was den persönlichen Anwendungsbereich der Verbotsnormen angeht, insoweit weiterhin erhalten: Wenn und soweit die mitgliedstaatlichen Rechte den Unternehmensbegriff ihrer Verbotsnormen enger fassen, zwingt die Richtlinie nicht dazu, den Unternehmensbegriff der jeweiligen Verbotsnorm an das Unionsrecht anzupassen. Soweit als Adressat einer nationalen Verbotsnorm – abweichend vom Unionsrecht – nur ein einzelnes Unternehmen als Rechtsträger und nicht eine Unternehmensgruppe wie die „wirtschaftliche Einheit“ fungieren kann, liegt es nahe anzunehmen, dass für die Schadensersatzsanktion bei Verstoß gegen nationales Wettbewerbsrecht doch von einer vertikalen Verweisung auf nationales Recht auszugehen ist. Ein zweiter Blick auf die Richtlinie spricht indessen gegen eine solche Deutung. Mit der Richtlinie soll gewiss nicht Einfluss auf den persönlichen Anwendungsbereich der nationalen Verbotsnormen genommen werden. Vielmehr geht es allein darum, den Schadensersatzanspruch gegen eine nach nationalem Recht wettbewerbswidrig handelnde Einheit auf andere Gesellschaften einer „wirtschaftlichen Einheit“ (im Sinne des Unionsrechts) zu erstrecken. Das nationale Wettbewerbsrecht bleibt also unberührt. Es geht insoweit allein um die Anordnung einer akzessorischen Haftung. Eine abweichende Behandlung bei Verstößen gegen nationales Wettbe141
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werbsrecht würde dem Zweck der Richtlinie, auf der Grundlage des Art. 114 AEUV auch das private enforcement bei Verstoß gegen das nationale Wettbewerbsrecht zu harmonisieren, um aus der Unterschiedlichkeit der Normen resultierende Beeinträchtigungen des grenzüberschreitenden Handelsverkehrs abzubauen, entgegenwirken. Auch wenn die Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht dazu anhält, den Adressatenkreis ihrer Verbotsnormen zu modifizieren, begründet sie die Verpflichtung, bei der Schadensersatzsanktion sich am unionalen Unternehmensbegriff der „wirtschaftlichen Einheit“ zu orientieren und insoweit eine akzessorische Haftung der die Leistungsmacht ausübenden Einheit in gleichem Umfang wie bei Verstößen gegen das Unionsrecht zu etablieren. Insoweit kann nichts anderes gelten als für die in der Richtlinie vorgesehenen Regelungen über Verfahrensvorschriften und über die gesamtschuldnerische Haftung, die allesamt auch bei Verstößen gegen das nationale Wettbewerbsrecht zur Anwendung kommen sollen. 5. Auslegungsgesichtspunkte Eine unionsrechtsautonome Auslegung des Unternehmensbegriffs der Richtlinie 2014/104/EU wird sich einerseits an den Regelungszwecken der Richtlinie und andererseits am Primärrecht orientieren müssen. a) Ziele der Richtlinie Die Erwägungsgründe der Richtlinie 2014/104/EU machen deutlich, dass der Schadensersatzanspruch der Opfer nicht nur als ein, aus dem Primärrecht fließendes subjektives Recht aufzufassen ist, sondern dass die Ausgestaltung des Anspruchs am Grundsatz der praktischen Wirksamkeit orientiert werden muss. Dies bedeutet für die Auslegung des Unternehmensbegriffs, dass dann, wenn Auslegungsalternativen bestehen, die für die Opfer günstigere Alternative zu wählen ist. Dies spricht für eine Passivlegitimation nicht nur der wettbewerbswidrig handelnden (Teil-)Einheit, sondern zumindest im Grundsatz auch der anderen zur Gruppe der „wirtschaftlichen Einheit“ gehörenden Gesellschaften, soweit sie tatsächlich Leitungsmacht ausüben.142 Hinzu kommt, dass die Erwägungsgründe der Richtlinie das private enforcement auf eine Stufe mit dem public enforcement stellen.143 Eines der Hauptziele der Richtlinie ist es, beide Instrumente der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts in ihrem Zusammenwirken kohärent zu regeln.144 Dass in diesem Rahmen die Adressatenstellung der „wirtschaftlichen Einheit“ eine unterschiedliche Ausgestaltung erfahren soll, und die Richtlinie nicht dem im Bußgeldrecht geltenden Gleichlauf mit der
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Dazu im Text oben bei Fn. 53 ff. Erwägungsgrund No. 3. 144 Erwägungsgrund No. 6. 143
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Normadressatenstellung bei Art. 101, 102 AEUV folgen will, kann – mangels entsprechender Anhaltspunkte – nicht angenommen werden.145 b) Primärrechtsorientierte Auslegung Wie bereits (unter IV. 1.) näher erörtert, wird man dem Unionsgesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung der adäquaten Rechtsfolgen einer Verletzung von Wettbewerbsvorschriften zubilligen müssen. Das Primärrecht macht insoweit keine expliziten Vorgaben. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind zwar deutliche Markierungen für die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber gesetzt worden, nicht aber für den Unionsgesetzgeber. Von daher erscheint es (nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung) auch nicht zwingend, dass der Unionsgesetzgeber die Rechtsfigur der „wirtschaftlichen Einheit“ aus Art. 101, 102 AEUV in das unionale Kartelldeliktsrecht übernehmen muss. Denkbar wären durchaus Regelungen, die allein beim handelnden Rechtsträger ansetzen und diesem die Passivlegitimation zuordnen, wenn und solange damit eine wirksame Durchsetzung der Kartellschadensersatzansprüche nicht in Frage gestellt würde. Freilich fehlt es in der Richtlinie an jeglichen Hinweisen darauf, dass der Unionsgesetzgeber eine insoweit eigenständige Konzeption verfolgen wollte. Mangels solcher Hinweise wird man davon auszugehen haben, dass die Richtlinie 2014/104/EU aufgrund des engen Regelungszusammenhangs mit den Verbotsnormen der Art. 101, 102 AEUV, deren Durchsetzung sie (auch) dienen soll, für die Passivlegitimation den Unternehmensbegriff der Verbotsnormen und mithin auch die Figur der „wirtschaftlichen Einheit“ übernehmen will.146 Deliktische Haftung der „wirtschaftlichen Einheit“ bedeutet dann, dass neben den handelnden Rechtsträgern auch die anderen Rechtsträger der Gruppe kraft Unionsrechts akzessorisch147 haften (wenn und soweit sie Leitungsmacht ausgeübt haben). Die Richtlinie bestimmt mithin auch für Zwecke des Deliktsrechts die grundsätzliche Haftung der in der Gruppe der „wirtschaftlichen Einheit“ zusammengefassten Unternehmen und überlässt es dem nationalen Recht, allein die prozessrechtliche Adressatenstellung festzulegen.148 145
Im Ergebnis ebenso Blome (Fn. 10), S. 365. In diesem Sinne z. B. Kersting, WuW 2014, 564 (565); Makatsch/Mir, EuZW 2015, 7 (8); Rehbinder, in: Loewenheim u. a. (Fn. 12) § 33 Rn. 42; a.A. Thomas/Legner, NJW 2016, 155 (156 ff.); Klotz (Fn. 29), S. 104 ff. 147 So zur Bußgeldhaftung EuGH 10. 9. 2009 – C-97/08 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2009:536 Rn. 77; 10. 4. 2014 – C-231/11 P bis C-233/11 P, Siemens, ECLI:EU:C:2014:256 Rn. 66; 27. 4. 2017 – C-516/15 P, Akzo Nobel, ECLI:EU:C:2017:314 Rn. 57 – 58. Die in diesen Urteilen angesprochene gesamtschuldnerische Haftung ist als Aussage zum sekundären Unionsrecht (Art. 23 VO 1/2003) zu werten. Die Richtlinie 2014/ 104/EU überlässt diese Rechtsfrage (anders als in Art. 11) dem Recht der Mitgliedstaaten. Nach deutschem Recht sind die §§ 830, 840 BGB anzuwenden. 148 Eine Berufung auf den „Trennungsgrundsatz“ (dazu unten im Text unter V. 3.) ist insoweit nicht möglich; Kühne/Woitz, DB 2015, 1028 (1029). 146
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Dieser Interpretationsansatz wird noch verstärkt durch die zum Bußgeldrecht getroffene Aussage des Gerichtshofs, wonach die Verbotsnormen einerseits und die zu ihrer Ahndung und Durchsetzung vorgesehenen Sanktionen andererseits als eine Einheit aufzufassen sind.149 Gewiss könnte der Unionsgesetzgeber Gründe finden, um für das Deliktsrecht von einer solchen Einheit abzuweichen, doch ist dies mit der Richtlinie 2014/104/EU nicht geschehen. Von daher ist diese Richtlinie, soweit es um Verstöße gegen Art. 101, 102 AEUV geht, im Lichte der Einheit von Verbotsnormen und Sanktionen auszulegen und der Unternehmensbegriff der Verbotsnormen der Auslegung der Richtlinie zugrunde zu legen. Da die Richtlinie dabei keine Differenzierungen zwischen Verstößen gegen unionales und mitgliedstaatliches Wettbewerbsrecht vornimmt, wird man diese Interpretation des Unternehmensbegriffs auch für die auf Art. 114 AEUV beruhende Harmonisierung im Hinblick auf Verstöße gegen das nationale Wettbewerbsrecht anzunehmen haben (unter IV. 4. f.). V. Die 9. GWB-Novelle 1. Einbindung in das bisher geltende Recht Mit der endgültig Gesetz gewordenen Regelung der Passivlegitimation in § 33a Abs. 1 i.V.m. § 33 Abs. 1 GWB, die auf eine eigenständige Definition des Unternehmensbegriffs verzichtet, sondern an die Normadressaten der in Bezug genommenen Verbotsnormen der Art. 101, 102 AEUV und der Vorschriften in §§ 1 – 47 GWB anzuschließen versucht, ist der Gesetzgeber – wie dargelegt – einer klaren Entscheidung zur Passivlegitimation bei der „wirtschaftlichen Einheit“ aus dem Wege gegangen.150 Diese Vermeidungsstrategie steht in offenem Kontrast zu der für das Bußgeldrecht gefundenen Lösung.151 Sie abstrahiert völlig vom Stand der Diskussion vor Erlass der 9. GWB-Novelle.152 Der Referentenentwurf hat die Gesetz gewordene Fassung vorgeschlagen. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass damit – aus welchen Gründen auch immer – die endgültige Entscheidung letztlich der Rechtsprechung überlassen bleiben sollte. Dies hat zu der These geführt, dass die in §§ 33a Abs. 1, 33 Abs. 1 GWB gefundene Regelung dem traditionellen Unternehmensbegriff schon deswegen folge, weil dieser nach bisherigem Recht maßgebend gewesen sei und der Gesetzgeber daran nichts habe ändern wollen.153 Freilich ist demgegenüber festzustellen, dass bereits nach bisherigem Recht jedenfalls der in § 1 GWB verwendete Begriff des Unterneh149
EuGH 11. 6. 2007 – C-429/07, Belastingdienst, ECLI:EU:C:2007:359 Rn. 36 – 37. Die Gesetzesbegründung der Bundesregierung enthält sich jeglicher Aussage zur Passivlegitimation; BT-Dr. 18/10207, S. 55. 151 S. oben im Text nach Fn. 22. 152 Zur Diskussion im Vorfeld der Gesetzesentstehung s. Könen, NZKart 2017, 15 (17); zu den diskutierten Umsetzungsvarianten: S. 19. 153 Könen, NZKart 2017, 15 (20). 150
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mens als ein unionsrechtlich geprägter Begriff aufgefasst werden sollte,154 und damit über § 33 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 GWB a.F. die „wirtschaftliche Einheit“ als passivlegitimiert angesehen werden konnte. Aber auch dann, wenn man dem nicht folgen will, kommt man an der Feststellung nicht vorbei, dass § 33 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 GWB a.F. auch Bezug auf die Verbotsnormen der Art. 101 und 102 AEUV genommen und jedenfalls insoweit auch auf den unionsrechtlichen Unternehmensbegriff der „wirtschaftlichen Einheit“ verwiesen hat. 2. Einbindung in das neue Recht Das Fehlen einer konkreten Regelung der Passivlegitimation bei Handeln einer „wirtschaftlichen Einheit“ steht in auffälligem Kontrast zur eingehenden Regelung der Bußgeldhaftung der zur „wirtschaftlichen Einheit“ gehörenden Gesellschaften in § 81 GWB n.F. Daraus wird man aber nicht e contrario die Folgerung ziehen können, dass es in §§ 33a Abs. 1, 33 Abs. 1 GWB n.F. beim überkommenen Unternehmensbegriff verbleiben sollte. Zum einen ist die Tragweite der Verweisung in §§ 33a Abs. 1, 33 Abs. 1 GWB auf § 1 GWB insoweit wenig geklärt, weil der in letzterer Norm verwendete Unternehmensbegriff möglicherweise unionsrechtlich geprägt ist. Zum anderen wird man die Verweisung auf Art. 101, 102 AEUV als Verweisung auf den unionsrechtlichen Unternehmensbegriff zu verstehen haben. Daraus ergibt sich zumindest, dass die eingehende und auf unionsrechtliche Vorgaben ausgerichtete Neuregelung der Bußgeldhaftung im GWB keinen Gegenschluss in der Weise zulässt, dass eine Haftung der Mitglieder der Gruppe einer „wirtschaftlichen Einheit“ bei Verstoß gegen Art. 101, 102 AEUV ausgeschlossen werden sollte. 3. Kartelldeliktsrecht und Trennungsprinzip Zum alten Recht ist in der deutschen Rechtsprechung155 wie auch im Schrifttum156 der auf die „wirtschaftliche Einheit“ gestützten akzessorischen Haftung der Muttergesellschaft seit jeher das gesellschaftliche Trennungsprinzip157 entgegen gehalten worden. Dieses gehört zu den grundlegenden Haftungsprinzipien des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts: Gesellschafter bzw. Aktionäre haften nicht für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft (§ 13 Abs. 2 GmbHG; § 1 Abs. 1 AktG). In konzernrechtlichen Strukturen hat dies zur Konsequenz, dass jedenfalls grundsätzlich die Haftung für deliktisches Handeln nur den jeweils handelnden Rechtsträger trifft und die dem Konzern angehörenden Unternehmen haftungsrechtlich nicht füreinander einzustehen haben. Indessen ist zu beachten, dass das Trennungsprinzip nicht nur die durch 154
Dazu Roth/Ackermann in FK (Fn. 16), § 1 GWB 2005 Rn. 56 f. LG Düsseldorf 8. 9. 2016, WuW 2017, 106 (Rn. 223). 156 Z. B. Scheidtmann, WRP 2010, 499 (501 f.); Bürger, WuW 2011, 130 (136 f.); Kling, ZWeR 2011, 170 (180 f.); Thomas, JZ 2011, 485 (493). 157 Bayer, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), GmbH-Gesetz, 19. Aufl. 2016, § 13 Rn. 5. 155
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die Rechtsprechung entwickelten Durchbrechungen kennt,158 sondern dass es der deutsche Gesetzgeber natürlich auch in der Hand hat, das Trennungsprinzip für einzelne Sachgebiete – wie hier für das Kartelldeliktsrecht – zu modifizieren. Bei näherem Zusehen ist jedoch das Trennungsprinzip gar nicht tangiert. Für die Verwirklichung der Bußgeldhaftung stellt der Gerichtshof allein auf den Urheber der Zuwiderhandlung gegen das unionale Wettbewerbsrecht ab und lässt mit dem autonom zu bestimmenden („täterschaftlichen“) Unternehmensbegriff in Art. 101, 102 AEUV insoweit keinen Raum für das Trennungsprinzip.159 In der Tat: Die Muttergesellschaft haftet für ein wettbewerbswidriges Verhalten der Tochter nicht aufgrund ihrer Stellung als Gesellschafterin, sondern als Teil der „wirtschaftlichen Einheit“, die den Normverstoß verwirklicht hat.160 In Anpassung an das unionale Recht – aber im Rahmen einer anderen Konstruktion – hat nun der deutsche Gesetzgeber in § 81 Abs. 3a GWB das Trennungsprinzip durchbrochen. Für das Schadensersatzrecht eröffnet die in §§ 33a Abs. 1, 33 Abs. 1 GWB enthaltene Verweisung auf die Adressaten der Art. 101, 102 AEUV und damit auf die „wirtschaftliche Einheit“ wiederum eine jenseits des Trennungsprinzips liegende Modifikation.161 Dies umso mehr, als in den Fällen einer gegen die (Teil-) Einheiten einer „wirtschaftlichen Einheit“ gerichteten Bußgeldentscheidung der Kommission nach § 33b GWB n.F. eine Bindungswirkung hinsichtlich des der Konzernmutter zurechenbaren Wettbewerbsverstoßes gegeben ist.162 Man mag diese faktische Abschwächung des Trennungsprinzips in rechtspolitischer Hinsicht bedauern. Sie ist jedoch durch die Vorgaben des Unionsrechts geboten. Damit ist freilich nicht gesagt, dass der deutsche Gesetzgeber diesen Abschied auf andere Rechtsbereiche (etwa die Produkthaftung) erstrecken könnte163 oder sogar sollte. Diese Frage ist unter rechtspolitischen Gesichtspunkten gesondert zu erörtern und vom Gesetzgeber sachgebietsbezogen zu entscheiden.164
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Dazu Bayer (Fn. 157) Rn. 11 ff.; Blome (Fn. 10), S. 316 m.N. aus der Rspr. EuGH 18. 7. 2013 – C-501/11 P, Schindler, ECLI:EU:C:2013:522 Rn. 101 – 102; Weck, NZG 2016, 1374. 160 Z. B. EuGH 10. 4. 2014 – C-231/11 P bis C-233/1 P, Siemens, ECLI:EU:C:2014:256 Rn. 55, 66; Kersting, Der Konzern 2011, 445 (452); Ost/Kalfaß/Roesen, NZKart 2016, 447 (455 f.). 161 A.A. im Hinblick auf das Trennungsprinzip etwa Kahlenberg/Heim, BB 2017, 1155 (1157). 162 Weitbrecht, WuW 2016, 959 (965). 163 Dazu Mäger, NZKart 2015, 329 (330); Inderst/Thomas (Fn. 12), S. 78. 164 Dies gegen Klotz, WuW 2017, 226 (228); ders. (Fn. 29), S. 188; Thomas/Legner, NZKart 2016, 155 (159). 159
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4. Richtlinienkonforme Auslegung Der deutsche Gesetzgeber hat mit der 9. GWB-Novelle seine Pflicht zu einer unionsrechtskonformen Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU zu erfüllen versucht.165 Von daher gilt als Auslegungsmaxime der Grundsatz, dass – solange kein Wille zu einer richtlinienwidrigen Umsetzung erkennbar ist – eine richtlinienkonforme Auslegung der Regelungsmaterie auch dann geboten ist, wenn es an einer klaren Entscheidung des Gesetzgebers fehlt: Der Wille des Gesetzgebers zu einer Erfüllung seiner unionsrechtlichen Verpflichtungen ermächtigt zu einer Auslegung, die gerade dieser allgemeinen Regelungsintention einer unionsrechtskonformen Umsetzung folgt,166 auch wenn der Wortlaut auf einem falschen Verständnis einer Richtlinienregelung beruht.167 Nur dann, wenn ein konkret identifizierbares Regelungsziel des Gesetzgebers bei einer nach Wortlaut und Sinn klaren Norm verfehlt oder verfälscht würde, ist eine richtlinienkonforme Auslegung nicht mehr möglich.168 Angesichts der Offenheit des Gesetzeswortlauts wie auch der erkennbaren Strategie des Gesetzgebers, sich vor einer klaren Aussage zu drücken, ist eine richtlinienkonforme Auslegung möglich: Die kartelldeliktsrechtlichen Regelungen der 9. GWB-Novelle sind ganz im Lichte der oben ausgeführten Richtlinienvorgaben und mithin im Lichte des dort verwendeten Unternehmensbegriffs und der damit verknüpften Passivlegitimation im Hinblick auf das Handeln einer „wirtschaftlichen Einheit“ zu verstehen. Dies gilt zum einen für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen bei Verstoß gegen Art. 101, 102 AEUV, für die §§ 33a Abs. 1, 33 Abs. 1 GWB einen Verweis auf die Adressaten dieser Verbotsnormen und damit auch auf die „wirtschaftliche Einheit“ vornehmen. Dies gilt zum anderen aber auch für die Verweisung auf §§ 1 ff. GWB: Wollte man für diese Verbotsnormen von einem im deutschen Recht überkommenen engeren Unternehmensbegriff ausgehen, so stünde dem das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung entgegen: Die §§ 33a, 33 Abs. 1 GWB sind im Lichte der Richtlinie in der Weise zu verstehen, dass § 33a Abs. 1 GWB neben der Haftung der handelnden und gegen die deutsche Verbotsnorm verstoßenden (Teil-) Einheit eine akzessorische Haftung der im Haftungsverbund der „wirtschaftlichen Einheit“ stehenden und Weisung erteilenden (Mutter-) Einheit vorsieht. Es geht also nicht um einen eigenen Verstoß der Muttergesellschaft gegen das Wettbewerbsrecht noch um eine (verschuldensabhängige) Verletzung einer evtl. Aufsichtspflicht der Mutter hinsichtlich der Tochter.169 Mit einer solchen Auslegung wird im Rahmen des deutschen Rechts zugleich das wertungsmäßig widersprüchliche Ergebnis vermieden, dass Unternehmen mit Leitungsmacht kraft Zurechnung in 165
Reg.-Begr., BT. 18/10207, S. 1. BVerfG NJW 2012, 669 (Rn. 51); BGH NJW 2012, 1073 (Rn. 32 – 33); BVerfG NJWRR 2016, 1366 (Rn. 44). 167 BGH 25. 7. 2014, V ZB 137/14 – juris Rn. 8; dazu Roth/Jopen, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 13 Rn. 57 – 58. 168 Zusammenfassend BGH 28. 6. 2017, ZIP 2017, 1475 (Rn. 24 – 25). 169 Für diese Deutung s. Thomas/Legner, NJW 2016, 155 (159 ff.). 166
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der „wirtschaftlichen Einheit“ zwar Adressaten einer Bußgeldhaftung sein können, nicht aber einer akzessorischen Schadensersatzhaftung.170 VI. Ergebnisse Gute Gründe sprechen dafür, dass die Richtlinie 2014/104/EU den im Primärrecht durch die Rechtsprechung entwickelten Unternehmensbegriff iS einer „wirtschaftlichen Einheit“ verwendet und damit die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen Schadensersatzanspruch nicht nur gegen die handelnde, gegen das Wettbewerbsrecht verstoßende Unternehmenseinheit vorzusehen, sondern auch eine akzessorische Haftung derjenigen Einheiten innerhalb der „wirtschaftlichen Einheit“, denen das wettbewerbswidrige Handeln zurechenbar ist. Welchen (Teil-)Einheiten ein wettbewerbswidriges Handeln zugerechnet werden kann, bedarf noch der Präzisierung. Nach der der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zugrunde gelegten Begründung kommt es für eine Zurechnung auf die tatsächlich ausgeübte Leitungsmacht an. Dies muss zur Folge haben, dass ein Mutterunternehmen für das wettbewerbswidrige Verhalten ihres Tochter- (und Enkel-)unternehmens einzustehen hat, nicht aber (mangels ausgeübter Leitungsmacht) umgekehrt ein Tochterunternehmen für das Verhalten seiner Mutter.171 Die insoweit begründete Haftung ist eine akzessorische Haftung,172 sodass kein Anlass besteht, nach gesellschaftlichen Haftungskonstruktionen173 Ausschau zu halten. Mit der 9. GWB-Novelle wollte der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie in das deutsche Recht übernehmen. Eine richtlinienkonforme Auslegung des deutschen Kartelldeliktsrechts muss ergeben, dass bei Vorliegen einer „wirtschaftlichen Einheit“ als Adressaten eines Schadensersatzanspruchs auch die eine Leitungsmacht ausübenden (Teil-)Einheiten in Frage kommen. Dies gilt zunächst insoweit, als §§ 33a Abs. 1, 33 Abs. 1 GWB bei einem Verstoß gegen die Art. 101, 102 AEUV auf die Normadressaten dieser Vorschriften verweisen. Dies gilt aber auch bei einem Verstoß gegen die §§ 1 ff. GWB, auch wenn man hier von einem engeren Unternehmensbegriff ausgehen will: § 33a Abs. 1 GWB ist richtlinienkonform in der Weise zu lesen, dass ein akzessorischer Schadensersatzanspruch auch gegen die die Leitungsmacht tatsächlich ausübende Einheit besteht.
170
Kersting, VersR 2017, 581 (584). S. oben im Text bei Fn. 53 ff. 172 Die Haftung ist eine gesamtschuldnerische nach §§ 830, 840 BGB (s. oben in Fn. 146). 173 So aber Kersting, Der Konzern 2011, 445 (449 ff.) (BGB-Gesellschaft der Konzerngesellschaften). 171
D. Energie- und Umweltrecht
Die Rechtsfolgen unwirksamer Preisanpassungsklauseln in der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes mit dogmatischer Bewertung im Lichte der Rechtsgeschäftslehre Von Ulrich Büdenbender, Düsseldorf I. Preisanpassungsklauseln in Energielieferungsverträgen für Elektrizität und Gas 1. Unverzichtbarkeit von Preisanpassungsklauseln Energielieferungsverträge über Elektrizität und Gas sind grundsätzlich langfristig angelegt, da der entsprechende Bedarf der Kunden nicht zeitlich begrenzt ist. Daraus folgt das Erfordernis, anstelle dauerhafter Festpreise Ausgangspreise mit Preisanpassungsklauseln zu vereinbaren, um Veränderungen hinsichtlich der einschlägigen Kosten angemessen Rechnung tragen zu können.1 Daraus resultieren im Falle von Kostensteigerungen Preiserhöhungen und im Falle von Kostenentlastungen entsprechende Preissenkungen. Zwar können die Kunden in Konsequenz des seit einigen Jahren effizienten Wettbewerbs sowohl in der Elektrizitäts- als auch in der Gaswirtschaft Preiserhöhungen durch Kündigung der Energielieferungsverträge und Wechsel zu einem anderen Energielieferanten ausweichen.2 Dies ändert jedoch an den beschriebenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nichts, da auch der neue Energielieferant keine dauerhaften Festpreise einräumen kann. Aus gutem Grund bewertet der BGH daher Preisanpassungsklauseln in Energielieferungsverträgen als ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft.3 Nicht ihre prinzipielle Verwendung, sondern allein ihre Ausgestaltung begegnet besonderen rechtlichen Vorgaben. Dabei ist eindeutig, dass Energielieferverträge typische Massenschuldverhältnisse sind. Individuelle Preisanpassungsvereinbarungen sind daher, von einzelnen großen Energieverbrauchern abgesehen, unpraktikabel. Allein standardisierte Verträge mit entsprechenden Preisanpassungsklauseln sind für die Rechtspraxis tauglich.
1
Zur Akzeptanz in wirtschaftlicher Sicht BGHZ 201, 230. Nähere Informationen bzgl. des aktuellen Standes des Wettbewerbs auf dem Markt für Grundversorgungskunden Bundesnetzagentur/Bundeskartellamt, Monitoringbericht 2015, S. 25, 189, 190. 3 BGHZ 201, 230; BGH, RdE 2008, 204. 2
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2. Typologie der Preisanpassungsklauseln Die Rechtslage hinsichtlich der Art der Preisanpassungsklauseln stellt sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Gruppe der Energieverbraucher differenziert dar.4 Für Kunden mit einem eher geringen Energiebedarf in Haushalten, Landwirtschaft, Gewerbe, freien Berufen und öffentlichen Einrichtungen bestehen näher ausgestaltete normative Rahmenbedingungen einschließlich von Vorgaben für Preisanpassungsklauseln. Bis zur Energierechtsreform 2005 sprach man insoweit von Tarifkunden, da – für die Elektrizitätswirtschaft begrenzt bis zum Jahr 1998 – in der Bundestarifordnung Elektrizität5 und, für die Gaswirtschaft bereits 1959 außer Kraft getreten, in der Bundestarifordnung Gas6 rechtliche Rahmenbedingungen zur Preisgestaltung bestanden. Die Befugnis der Energieversorgungsunternehmen (EVU) zu einseitigen Preisänderungen ergab sich aus §§ 4 Abs. 2 AVBEltV, 4 Abs. 2 AVBGasV. Im Jahr 2005 wurde die Rechtslage geändert. Die genannten Kunden sind nunmehr Grundversorgungskunden mit einem gesetzlichen Lieferanspruch nach § 36 EnWG, näher ausgestaltet durch die StromGVV und die GasGVV. In §§ 5 Abs. 2 StromGVV, 5 Abs. 2 GasGVV finden sich, in weitgehender Identität mit den Vorgängerregelungen in §§ 4 Abs. 2 AVBEltV, 4 Abs. 2 AVBGasV, als Rechtsnormen ausgestaltete Preisanpassungsklauseln. Auch wenn der Wortlaut der Normen ausdrücklich nur zeitliche und formelle Vorgaben für Preisanpassungen regelt, entspricht es der ständigen Rechtsprechung des BGH7 in Übereinstimmung mit dem Willen des Verordnungsgebers8, in den Regelungen normative Befugnisse zu einseitigen Preisanpassungen zu sehen. Entsprechend der Terminologie des Preisklauselrechts (§ 1 Abs. 2 PrKlG) handelt es sich um Leistungsvorbehalte. Zivilrechtlich begründen sie normative Leistungsbestimmungsrechte nach § 315 BGB, da in den genannten Regelungen keine näheren inhaltlichen Vorgaben für die zukünftige Preisentwicklung enthalten sind.9 Alle nicht als Grundversorgungs- und frühere Tarifkunden anzusehenden Kunden sind Sondervertragskunden. Dies sind einerseits Kunden mit einem Energiebedarf in einer Spannungs- und Druckstufe jenseits von Niederspannung und Niederdruck, auf die sich die normativen Vorgaben für Grundversorgungskunden und frühere Tarifkunden beschränken (§§ 1 Abs. 1 StromGVV, 1 Abs. 1 GasGVV). Angesprochen sind insoweit Verbraucher mit einem hohen Energiebedarf. Andererseits können aber auch Grundversorgungskunden zu Sondervertragskunden werden, wenn sie sich entweder einem anderen Lieferanten als dem Grundversorger (näher definiert 4
Vgl. zu dem gesamten Themenkomplex zuletzt Büdenbender, ZIP 2017, 1041 ff. BGBl. I 1989, 2225, außer Kraft getreten ohne Nachfolgeregelung. 6 BGBl. I 1959, 45, außer Kraft getreten ohne Nachfolgeregelung. 7 BGH, ZIP 2009, 1572. 8 Bundesratsdrucksache 77/79. 9 BGHZ 173, 315; BGH, RdE 2016, 305; zu dieser Rechtsprechung im Hinblick auf den Maßstab der Billigkeitskontrolle Büdenbender, NJW 2007, 2945; ders., ZIP 2017, 1041 (1043 f.). 5
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in § 36 Abs. 2 EnWG) im Rahmen des Wettbewerbs auf der Lieferantenebene zuwenden oder aber wenn sie von „ihrem“ Grundversorger mit dem Ziel von Preisnachlässen als Sondervertragskunden behandelt werden. In diesem Falle scheidet eine Anwendung der erwähnten Preisanpassungsklauseln als Rechtsnormen aus, da §§ 1 StromGVV, 1 GasGVV den Geltungsanspruch der Verordnungen auf Grundversorgungskunden gemäß § 36 EnWG beschränken. Allerdings ist es möglich, diese Regelungen durch vertragliche Vereinbarungen (Abschreiben oder Verweis auf die normativen Preisanpassungsklauseln) in Sonderverträge einzubeziehen. In diesem Falle handelt es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen nach § 305 BGB mit inhaltlicher Identität hinsichtlich der für frühere Tarif- und heutige Grundversorgungskunden bestehenden normativen Ausgestaltung. Darüber hinaus können EVU für Sondervertragskunden auch eigenständig entwickelte Preisanpassungsklauseln verwenden.10 Alle Sonderverträge mit Preisanpassungsklauseln unterliegen dem Geltungsanspruch der §§ 305 ff. BGB, insbesondere der Angemessenheitskontrolle nach § 307 BGB. II. Unwirksamkeit einer Vielzahl von Preisanpassungsklauseln Zahlreiche Preisanpassungsklauseln, die früher langjährig unbeanstandet Verwendung gefunden haben, sind in den letzten Jahren höchstrichterlich verworfen worden. Der EuGH11 hat § 4 Abs. 2 AVBGasV wegen Fehlens der europarechtlich vorgegebenen rechtzeitigen verpflichtenden Information der Kunden über Preisänderungen mit der Konsequenz eines Kündigungsrechts durch „ihr“ EVU für unzulässig erklärt. Entsprechendes gilt wegen inhaltlicher Identität für § 4 Abs. 2 AVBEltV und für §§ 5 Abs. 2 StromGVV, 5 Abs. 2 GasGVV.12 Infolge der Bindung der nationalen Gerichte an europarechtliche Vorgaben des EuGH hat der BGH13 seine Rechtsprechung angepasst und den Normen die Wirksamkeit als Preisanpassungsklauseln versagt. Auf der Basis dieser Regelungen vorgenommene Preisänderungen sind folglich ohne Rechtsgrundlage erfolgt. Dieser Mangel ist – ohne Rückwirkung – durch eine Ergänzung der §§ 5 Abs. 2 StromGVV, 5 Abs. 2 GasGVV seitens des Verordnungsgebers inzwischen beseitigt worden,14 so dass die Normen seit dem Inkrafttreten der Änderung (23. 10. 2014) wieder als Rechtsgrundlage herangezogen werden können.15 Soweit EVU in Sonderverträgen die für Tarif- und Grundversorgungskunden gültigen normativen Preisanpassungsklauseln im Wege vertraglicher Vereinbarung für 10
Vgl. dazu zuletzt BGH, ZIP 2016, 78. ZIP 2014, 2192. 12 BGH, ZIP 2016, 1025. 13 BGHZ 207, 209; BGH, NJW 2016, 3593 und ZIP 2016, 1025. 14 BGBl. I 2014, 1631. 15 Büdenbender, ZIP 2017, 1041 ff. 11
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anwendbar erklärten, ist auch dieses Vorgehen europarechtlich gescheitert. Der EuGH16 hat die Regelungen wegen inhaltlicher Substanzlosigkeit für europarechtswidrig erklärt. Der BGH17 ist infolge der Bindung an die Vorgaben des EuGH dieser Bewertung gefolgt und hat daher seine zuvor vertretene Rechtsauffassung aufgegeben, wonach die genannten Regelungen infolge einer Leitbildfunktion der für den Tarif- und Grundversorgungsbereich gültigen Rechtsnormen auch im Sondervertragsbereich als angemessene Preisanpassungsklauseln gemäß § 307 BGB anerkannt wurden.18 Soweit EVU davon abweichende individuell gestaltete Preisanpassungsklauseln entworfen haben, hat der BGH19 einen sehr strengen Kontrollmaßstab gemäß § 307 BGB praktiziert und zahlreiche Klauseln für unangemessen und damit für unwirksam erklärt. Bemerkenswerterweise erfasste dies auch solche Sachverhalte, in denen derartige Klauseln, verglichen mit den als Rechtsnormen ausgestalteten Preisanpassungsklauseln für Tarif- bzw. Grundversorgungskunden, konkreter ausgestaltet und damit in ihren Wirkungen besser vorhersehbar waren.20 In Konsequenz der beschriebenen Rechtslage waren und sind die EVU genötigt, für den Sondervertragsbereich deutlich präzisere Preisanpassungsklauseln zu entwerfen als für den Grundversorgungsbereich unverändert normativ statuiert. Hierzu zählt die verpflichtende Gleichbehandlung von Kostensenkungen und Kostenerhöhungen im Sinne von daraus abzuleitenden Preissenkungen im Falle von Kostenentlastungen anstelle einseitiger Befugnisse nur zur Preiserhöhungen bei Kostensteigerungen. Treten Kostenentlastungen und Kostensteigerungen auf, sind diese zu saldieren und erst nach einer solchen „Verrechnung“ in Preisänderungen umsetzbar. Hinsichtlich des zeitlichen Abstandes zwischen dem Eintritt von Kostenänderungen und der Weitergabe über die Preise gilt gleichfalls für Kostenerhöhungen und für Kostensenkungen der Grundsatz der Gleichbehandlung im Rahmen der Preisanpassung.21 Es ist den EVU untersagt, Preissteigerungen über das durch Kostenerhöhungen veranlasste Ausmaß hinaus vorzunehmen und dadurch den Gewinn zu erhöhen.22 Alle diese Anforderungen betreffen mangels Geltung des § 307 BGB für normative Preisanpassungsklauseln nicht deren Ausgestaltung, wohl aber inhaltlich identisch ihre Umsetzung in Anwendung des § 315 BGB.23 Andernfalls wird dem Erfordernis einer „billigen“ Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts nicht genügt (§ 315 16
ZIP 2013, 676. ZIP 2016, 1975; 2015, 1884. 18 Zur Leitbildrechtsprechung bis zur Verwerfung durch den EuGH vgl. BGHZ 186, 180. 19 Detailliert zu dieser Judikatur Büdenbender, in: Hecker/Hendler/Proelß/Reiff (Hrsg.), Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2011, S. 363 ff; ders., NJW 2009, 3125. 20 Kritisch dazu Büdenbender, (Fn. 19). 21 BGH, ZIP 2016, 78. Einzelheiten zu den Anforderungen an die Gestaltung bei Büdenbender, NJW 2013, 3601. 22 BGH, ZIP 2016, 78. 23 BGHZ 172, 319; BGH, ZIP 2009, 323; RdE 2016, 305. 17
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Abs. 1, 3 BGB). Für Preisanpassungsklauseln in Sonderverträgen muss die Klausel selbst die genannten Grundsätze zum Ausdruck bringen.24 III. Zivilrechtliche Konsequenzen Die beschriebene Rechtslage hat gravierende zivilrechtliche Konsequenzen. Sind Preisanpassungsklauseln unwirksam oder zwar grundsätzlich wirksam, jedoch im Widerspruch zu den Vorgaben des § 315 BGB umgesetzt, sind entsprechend vorgenommene Preiserhöhungen rechtsunwirksam. Sie sind ohne Rechtsgrund erfolgt und lösen damit bereicherungsrechtliche Rückforderungsansprüche der Kunden nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB aus, soweit sich nicht aus allgemeinem Zivilrecht eine andere Rechtslage ergibt. Entsprechend scheiden zukünftig neue Preiserhöhungen wegen gestiegener Kosten in einseitiger Form mangels Rechtsgrundlage aus. Da es sich um Massenschuldverhältnisse handelt, sind die wirtschaftlichen Konsequenzen gravierend. Hinzu kommt, dass zahlreiche über Preisanpassungsklauseln an die Kunden weitergegebene Kostensteigerungen auf politischen Vorgaben beruhen, denen die EVU unentrinnbar ausgesetzt sind und die sie daher besonders schwerwiegend treffen, wenn sich die Weitergabe an die Kunden als ausgeschlossen erweist.25 Dieser Aspekt ist bedeutsam, da auch aus politischen Vorgaben resultierende Preiserhöhungen (z. B. aus den Belastungen für die Subventionierung von Elektrizität aus erneuerbaren Energien nach dem EEG) über die generell praktizierten Preisanpassungsklauseln umgesetzt werden.26 Damit stellt sich als Rechtsfrage von grundlegender Bedeutung die Thematik, inwieweit Korrekturen des beschriebenen Ergebnisses aus allgemein gültigem Zivilrecht erfolgen. Europarechtlich sind derartige Korrekturen zulässig, wie der BGH27 zutreffend betont. Es handelt sich nicht um europarechtlich ausgeschlossene geltungserhaltende Reduktionen zur Aufrechterhaltung der Rechtswirksamkeit an sich unwirksamer Preisanpassungsklauseln, sondern um aus nationalem Zivilrecht abzuleitende Konsequenzen einer europarechtlichen Verwerfung von Rechtsnormen oder Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Sie zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen, ist nicht nur statthaft, sondern gerade Aufgabe der nationalen Judikatur.
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BGH, ZIP 2016, 78. Zu dem Volumen politischer Belastungen für die Strompreise vgl. Büdenbender, DÖV 2016, 712 (720, 721) mit weiteren Nachweisen. 26 BGH, ZIP 2016, 78; Büdenbender, NJW 2013, 3601 (3605). BGH, RdE 2017, 474 Rn. 9 ff. stellt klar, dass das Recht der Preisanpassungsklauseln uneingeschränkt auch für hoheitlich veranlasste Kostenbelastungen gilt. 27 BGHZ 208, 52; BGH, ZIP 2016, 1025; 2015, 2226. 25
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IV. Überblick über mögliche Ansätze für eine allgemein-zivilrechtliche Korrektur unwirksamer Preisanpassungsklauseln In Konsequenz der beschriebenen Rechtslage macht es Sinn, sich zunächst einen Überblick über allgemein gültige zivilrechtliche Rechtsinstitute zu verschaffen, durch deren Anwendung an sich auf unwirksamer Rechtsgrundlage bereits vorgenommene oder geplante Preisanpassungen im wirtschaftlichen Ergebnis ganz oder teilweise gehalten werden können. Insoweit ist, zunächst nur im Sinne eines Überblicks betrachtet und noch nicht als im Ergebnis einschlägig beschrieben, an folgende Aspekte zu denken: 1. Ergänzende Vertragsauslegung, §§ 133, 157 BGB Infolge der Unwirksamkeit einer zunächst normativ oder vertraglich angelegten Preisanpassungsklausel weist der Energielieferungsvertrag eine nachträglich entstandene Lücke auf. Diese ist planwidrig, weil im Widerspruch zu dem Willen der Parteien stehend anzusehen, da die Parteien infolge normativer oder vertraglicher Vorgabe einer Preisanpassungsklausel gerade keine für die gesamte Laufzeit des Energielieferungsvertrages gültige Festpreisvereinbarung treffen wollten, um den bereits angesprochenen ökonomischen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen. Damit ist zu überlegen, ob und wie diese planwidrige Lücke entsprechend dem Parteiwillen im Wege ergänzender Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB geschlossen werden kann. Eine solche die Vertragslücke schließende Regelung vermag, wenn sie anzunehmen ist, die Unwirksamkeit der Preisanpassungsklausel ganz oder teilweise zu überwinden, für die Vergangenheit und für die Zukunft. 2. Konkludente neue Preisvereinbarung, §§ 133, 145 ff. BGB Widerspricht ein Kunde einer rechtsunwirksam vorgenommenen Preisanpassungsklausel nicht, indem er den Energiebezug fortsetzt und die Jahresrechnungen ohne Widerspruch bezahlt, ist an eine konkludente Preisanpassung zu denken, wenn diese sich nach den Rechtsgrundsätzen der Rechtsgeschäftslehre (§§ 133, 145 ff. BGB) begründen lässt. Würde sie eintreten, tritt eine so zustande gekommene Preisabsprache im Ergebnis an die Stelle der Rechtslage, die sich durch seitens der EVU einseitig vorgenommene (aber unwirksame) Preisanpassungen ergeben sollte. Eine derartige konkludente Preisanpassung wirkt von dem Zeitpunkt an, für den das Zustandekommen der Abrede im Wege der Auslegung des Verhaltens anzunehmen ist. Insoweit handelt es sich um eine individuelle, vom Parteiverhalten im Einzelfall abhängige Regelung und nicht um eine kollektiv wirkende Befugnis des EVU im Rahmen von Massenschuldverhältnissen.
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3. Verjährungsrecht, §§ 194 ff. BGB Soweit es um Rückforderungsansprüche wegen vollzogener Preisanpassungen geht, sind die Gesichtspunkte der Verjährung zu betrachten. Von besonderer Bedeutung ist die subjektive Verjährungsseite im Sinne der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis der Energieverbraucher hinsichtlich der Unwirksamkeit der Preisanpassung, deren Vorliegen den dreijährigen Verlauf der Regelverjährungsfrist (§ 195 BGB) in Gang setzt (§ 199 Abs. 2 BGB).28 Die Verjährung schließt im Falle der Erhebung einer entsprechenden Einrede des EVU nur Rückforderungsansprüche der Kunden aus (§ 214 BGB). Für die Zukunft fehlt eine Rechtsgrundlage zur einseitigen Preisanpassung der EVU. 4. Verwirkung, § 242 BGB Jenseits des Verjährungsrechts kann eine Rückforderung der Kunden bzgl. der Preiserhöhungsbeträge an den Rechtsgrundsätzen der Verwirkung (§ 242 BGB) scheitern. Maßgeblich ist insoweit nach ständiger Rechtsprechung29 das Vorliegen eines besonderen Zeit – und eines Umstandsmomentes im Verhalten des Gläubigers, hier der Kunden. Aus dessen kumulativer Wirkung könnte sich ein schutzwürdiges Vertrauen der EVU als Rückzahlungsschuldner ergeben, für die Rückzahlung nicht mehr in Anspruch genommen zu werden. 5. Wegfall der Geschäftsgrundlagen, § 313 BGB Eine Anwendung der Rechtsgrundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) scheidet demgegenüber erkennbar aus, weil das Bestehen einer Preisanpassungsklausel nicht Geschäftsgrundlage des Vertrages, sondern ein unwirksamer Vertragsinhalt ist.30 6. Außerordentliches Kündigungsrecht der Kunden Schließlich ist zu überlegen, ob es ausreicht, dass Energieverbraucher infolge eines außerordentlichen Kündigungsrechts Preiserhöhungen auf rechtsunwirksamer Grundlage ausweichen und sich im Rahmen funktionsfähigen Wettbewerbs einem anderen Lieferanten zuwenden können. Rechtsgrundlage hierfür ist ein besonderes energierechtliches Kündigungsrecht der Kunden aus Anlass von Preiserhöhungen (§ 41 Abs. 3 EnWG, §§ 5 Abs. 3 StromGVV, 5 Abs. 3 GasGVV). Nach der Rechtsprechung des BGH31 ändert diese Befugnis jedoch an der Unwirksamkeit von Preis28
BGHZ 204, 325; zur subjektiven Seite BGH, RdE 2013, 35; MDR 2012, 1330. BGH, NJW 1965, 1532. 30 BGHZ 90, 74; BGH, ZIP 1991, 1600. 31 BGH, ZIP 2017, 477; RdE 2016, 305; NJW 2016, 3593.
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anpassungsklauseln nichts. Das Recht zur Kündigung ist nicht geeignet, die Unwirksamkeit der Klauseln zu kompensieren, so dass die Frage allgemein-zivilrechtlicher Rechtsfolgen dieser Unwirksamkeit unberührt bleibt. 7. Praktische Bedeutung der generell gültigen zivilrechtlichen Rechtsinstitute für die Thematik In der Rechtsprechung des BGH spielen die ergänzende Vertragsauslegung und konkludente Preisanpassungen zur Korrektur der an sich aus der Unwirksamkeit der Preisanpassung resultierenden Rechtslage eine besondere Rolle. Die hierzu ergangene Judikatur einschließlich ihrer dogmatischen Bewertung wird nachstehend näher analysiert. V. Ergänzende Vertragsauslegung 1. Auffassung des BGH zu den verschiedenen Klauseltypen Hinsichtlich der Frage, ob eine einseitige Preisanpassungsbefugnis der EVU im Falle unwirksamer Preisanpassungsklauseln im Wege ergänzender Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB begründbar ist, vertritt der BGH zu den verschiedenen bereits angesprochenen Fallkonstellationen eine unterschiedliche Auffassung. a) Tarif- und Grundversorgungskunden Für den Tarif- und Grundversorgungsbereich erkennt er eine solche Befugnis an.32 Die durch die Verwerfung der Preisanpassungsbefugnisse der EVU planwidrig entstandene Lücke wird durch das Recht geschlossen, im Falle von Kostensteigerungen (allein oder nach Saldierung mit Kostenentlastungen) ausschließlich die gestiegenen Kosten – also ohne zusätzliche Gewinne – über die Preise durch Preiserhöhungen an die Kunden weiterzugeben. Korrespondierend besteht die Verpflichtung, bei ausschließlichen oder nach Saldierung mit Kostensteigerungen eintretenden Kostenentlastungen entsprechende Preissenkungen vorzunehmen. Der zeitliche Abstand zwischen Änderungen von Kosten und dadurch veranlasste Preisanpassungen ist im Falle von Preiserhöhungen und Preissenkungen identisch zu gestalten. Im Ergebnis wird damit über die ergänzende Vertragsauslegung ein Zustand erreicht, wie er auch bei Anwendung rechtswirksamer normativer Preisanpassungsklauseln im Lichte der hierzu seitens des BGH33 in Konkretisierung des § 315 BGB vorgegebenen Kriterien bestünde. 32 BGH, RdE 2017, 16 mit weiteren Nachweisen aus seiner Rechtsprechung. Hiergegen OLG Bremen, ZNER 2017, 280 für kommunal beherrschte EVU wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Anhang A lit. b, c der Gasrichtlinie 2003/55/EG (Vorlageschluss an den EuGH). 33 BGH (Fn. 9).
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b) Sondervertragskunden mit für Tarif- und Grundversorgungskunden bestehenden, aber unwirksamen Preisanpassungsklauseln Gänzlich anders entscheidet der BGH, soweit Preisanpassungsklauseln im Sondervertragsbereich mit Übernahme der für den Tarif- bzw. Grundversorgungsbereich bestehenden Regelungen nach §§ 4 Abs. 2 AVBEltV, 4 Abs. 2 AVB GasV, 5 Abs. 2 StromGVV, 5 Abs. 2 GasGVV unwirksam sind. Hier soll es nicht dem mutmaßlichen Parteiwillen entsprechen, unmittelbar und sofort wirksam Preisanpassungen der EVU im Falle entsprechender Kostenänderungen vornehmen zu können. Vielmehr wird der einseitig seitens des EVU zunächst rechtsunwirksam durchgesetzte Preis erst nachträglich mit Rückwirkung zum vereinbarten Preis, wenn der Kunde der Preiserhöhung nicht innerhalb von drei Jahren nach Zugang der ersten Jahresrechnung mit dem erhöhten Preis widerspricht.34 Insoweit erfolgt die Annahme einer zeitlich deutlich verzögert begründeten einseitigen Befugnis der EVU zur Preisanpassung, während dieses Recht gegenüber Tarif- und Grundversorgungskunden sofort bestehen soll. Sind drei Jahre seitens der Kunden widerspruchsfrei verstrichen, resultiert daraus allerdings eine rückwirkende Sanierung mit der Folge des Ausschlusses eines bereicherungsrechtlichen Rückforderungsanspruchs nach §§ 812 ff. BGB. Dann, aber erst dann, besteht wirtschaftlich eine gleichwertige Regelung im Verhältnis zur konkreten Umsetzung der ergänzenden Vertragsauslegung für Tarif- und Grundversorgungskunden. Bemerkenswert ist, dass der BGH35 diese für Sonderkundenverträge entwickelte Lösung auch für Grundversorgungs- und Tarifkundenverträge zugunsten der EVU anwenden will, wenn sich daraus ein umfassenderes Preiserhöhungsrecht ergibt als bei Anwendung der an sich für diesen Bereich gültigen Grundsätze für die ergänzende Vertragsauslegung. Das ist der Fall, wenn die Preiserhöhung über das Volumen hinausgeht, das für den Bereich der Grundversorgungs- und Tarifkundenverträge infolge der strengen Begrenzung auf die Weitergabe von Kosten in Verbindung mit dem Ausschluss von Gewinnsteigerungen gilt. Geht das EVU über diese Begrenzung hinaus und ist das Erhöhungsvolumen daher nach den für den Grundversorgungs- bzw. Tarifkundensektor gültigen Regeln des BGH bzgl. der ergänzenden Vertragsauslegung an sich unwirksam, so wird es doch nachträglich wirksam, wenn der Kunde nicht innerhalb von drei Jahren nach Zugang der Jahresschlussrechnung widerspricht. Damit kombiniert der BGH die von ihm entwickelten Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung für den Sondervertragsbereich mit denjenigen für den Grundversorgungs- bzw. Tarifkundensektor im Sinne eines Meistbegünstigungsprinzips für die EVU. Zur Begründung genügt ihm der schlichte Hinweis, für eine Schlechterstellung der EVU bestehe kein Grund, obwohl die EVU insoweit durch die Befugnis zur sofortigen Weitergabe von Kostensteigerungen trotz unwirksamer Preisanpassungsklausel bereits geschützt sind. 34 35
BGH, RdE 2016, 301; ZIP 2015, 1297. BGH, RdE 2016, 18 Rn. 88.
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c) Sondervertragskunden mit EVU-individuellen Preisanpassungsklauseln Erneut anders wiederum hat der BGH36 die Frage einer Anwendbarkeit des Rechtsinstituts der ergänzenden Vertragsauslegung bewertet, soweit es um individuell seitens der EVU gestaltete Preisanpassungsklauseln im Sondervertragsbereich geht, die durch die Judikatur nach § 307 BGB verworfen wurden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Verträge nur noch eine Restlaufzeit von 12 – 24 Monaten haben. Da eine Anwendung der §§ 133, 157 BGB zur Schließung einer planwidrigen Lücke die Unzumutbarkeit des Fortbestehens des Vertrages ohne eine solche Lückenschließung voraussetzt, fehlt es für Verträge mit der angesprochenen begrenzten Restlaufzeit nach Auffassung des BGH an einer solchen Unzumutbarkeit. Vielmehr sei das Festhalten an dem vor der Preisanpassung gültigen Ausgangspreis für die EVU in solchen Fällen zumutbar. Auf den Umstand, dass das daraus resultierende faktische Festpreisniveau vor dem Hintergrund der leitungsgebundenen Energieversorgung in typischen Massenschuldverhältnissen eine erhebliche Multiplikatorwirkung erfährt – mit der Folge beträchtlicher Erlösausfälle auch bei einer nur noch begrenzten Restlaufzeit von 12 – 24 Monaten, insbesondere dann, wenn gerade in diese Zeit politisch indizierte Kostensteigerungen fallen –, geht der BGH in den bisher entschiedenen Fällen nicht näher ein. Insoweit vermisst er einen hinreichend substantiierten Sachvortrag der EVU, was hier im Hinblick auf die entschiedenen individuellen Sachverhalte nicht näher thematisiert werden kann. Bei dieser Bewertung spielt letztlich auch eine Rolle, dass nach § 306 Abs. 1 BGB im Falle völliger oder teilweiser Unwirksamkeit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Vertrag im Übrigen grundsätzlich wirksam bleibt. Etwas anderes gilt nach § 306 Abs. 3 BGB nur im Falle der Unzumutbarkeit einer solchen Rechtslage. Aus beiden Absätzen folgt ein Regel-Ausnahme-Prinzip zugunsten des Festhaltens an dem Vertrag unter Ausschluss der unwirksamen Allgemeinen Geschäftsbedingungen. 2. Kritik Die unterschiedliche dreigeteilte Haltung des BGH zur Möglichkeit, durch Anwendung der Rechtsgrundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB auf die Unwirksamkeit von Preisanpassungsklauseln in Energielieferungsverträgen zu reagieren, vermag nicht zu überzeugen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Voraussetzungen als auch auf die rechtlichen Konsequenzen des Rechtsinstituts.
36
BGH, RdE 2010, 375; 2009, 287.
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a) Objektiv vergleichbare Situation der Vertragsparteien Wenn der BGH – zu Recht – Festpreise als Konsequenz unwirksamer Preisanpassungsklauseln ablehnt, weil sie im Widerspruch zu dem erkennbaren Willen der Parteien stehen, wirtschaftlich ungerecht sind und auch negative Folgen für nicht betroffene Vertragsverhältnisse haben können, all dieses – wenn auch vom BGH nicht klar ausgesprochen – auch vor dem Hintergrund in erheblichem Umfang politisch induzierter Kostensteigerungen, so gilt dies für alle Sachverhalte mit unwirksamen Preisanpassungsklauseln gleichermaßen. Bemerkenswerterweise thematisiert der BGH den Aspekt der Zumutbarkeit des Festhaltens an dem Ausgangspreis vor der (unwirksamen) Preisanpassung allein für Fälle individuell gestalteter Preisanpassungsklauseln bei einer Restlaufzeit von 12 – 24 Monaten, ohne auf diesen Umstand näher einzugehen, soweit die Unwirksamkeit normativer Preisanpassungsklauseln (§§ 4 Abs. 2 AVBEltV, 4 Abs. 2 AVBGasV, 5 Abs. 2 StromGVV, 5 Abs. 2 GasGVV) betroffen ist. Spielte der Zumutbarkeitsaspekt hier in vergleichbarer Weise eine Rolle, wäre die Anwendbarkeit von vornherein zweifelhaft. Denn nach §§ 20 Abs. 1, StromGVV, 20 Abs. 2 GasGVV kann der Grundversorgungsvertrag mit einer Frist von 2 Wochen gekündigt werden. Zwar ist die Kündigung durch den Grundversorger nur möglich, wenn eine Pflicht zur Grundversorgung mangels Zumutbarkeit nach § 36 Abs. 1 Satz 2 EnWG nicht besteht (§§ 20 Abs. 1 Satz 2 StromGVV, 20 Abs. 1 Satz 2 GasGVV). Wäre die Rechtslage im Falle unwirksamer Preisanpassungsklauseln in Tarif- und Grundversorgungsverträgen mit derjenigen bei individueller Gestaltung seitens der EVU in Sonderverträgen vergleichbar und ein Festhalten am Ausgangspreis für eine Restlaufzeit von 12 – 24 Monaten für die EVU daher zumutbar, käme jedenfalls für diese Übergangszeit eine Preisanpassung nicht in Betracht. Eine solche Einschränkung der Anwendbarkeit der §§ 133, 157 BGB ist jedoch nicht Gegenstand der BGH-Judikatur37, die für Grundversorgungskunden (frühere Tarifkunden) zu dieser Thematik überhaupt keine Aussage trifft und sie damit offensichtlich für irrelevant hält. Zwar mag man, rechtspolitisch betrachtet, für diese differenzierte Behandlung im Ergebnis insoweit Verständnis haben, als die Unwirksamkeit der normativen Preisanpassungsklauseln im Tarif- bzw. Grundversorgungsbereich letztlich Folge eines politischen Versagens des Normgebers bei der Ausgestaltung der Preisanpassungsklauseln ist, während rechtsunwirksam gestaltete individuelle Preisanpassungsklauseln im Sondervertragsbereich grundsätzlich in den Verantwortungssektor der EVU fallen. Für die Rechtsanwendung spielt dieser Aspekt jedoch keine Rolle, da die Frage der wirtschaftlichen Zumutbarkeit eine Abwägung der Interessen und berechtigten Belange von Leistungen und Gegenleistungen im Vertragsverhältnis zwischen den EVU und ihren Kunden bedingt, nicht aber eine Ursachenanalyse hinsichtlich des Verantwortungsbereichs der Unwirksamkeit der Preisanpassungsklausel. Hinzu kommt, dass die weitaus überwiegende Anzahl unwirksamer Preisanpassungsklauseln im Sondervertragsbereich gerade Fälle der Übernahme der normati37
BGH, RdE 2017, 16.
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ven Klauseln für Tarif- und Grundversorgungskunden betrifft. Zur Aufrechterhaltung dieser Praxis hat der BGH38 selbst durch seine Leitbild-Rechtsprechung beigetragen. Insoweit strahlt das staatliche Versagen bei der Ausgestaltung normativer Preisanpassungsklauseln notwendiger Weise auf den Sondervertragsbereich aus. Dies verbietet es, im Hinblick auf die Handhabung der ergänzenden Vertragsauslegung zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen. b) Kein unterschiedlicher Parteiwillen zur Schließung der Vertragslücke Auch im Übrigen überzeugt die BGH-Rechtsprechung nicht. Liegt eine planwidrige Lücke in einem Vertrag vor, ist diese nach dem im Vertrag angelegten Parteiwillen zu schließen. Daher ist vorrangig unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu ermitteln, auf welche Weise die Parteien den durch Unwirksamkeit der Preisanpassungsklausel offen gebliebenen Aspekt der Preisentwicklung bei sachgerechter Abwägung der beiderseitigen Interessen geregelt hätten, wenn sie die Regelungsbedürftigkeit in Konsequenz der Unwirksamkeit der Preisanpassungsklausel erkannt hätten.39 Zwar spielen, insbesondere bei fehlenden Kriterien für den hypothetischen Parteiwillen, auch objektive Aspekte wie die Verkehrssitte, Treu und Glauben sowie die Ermittlung eines ausgewogenen und damit gerechten Vertragsinhalts eine Rolle. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Parteiwille den Vorrang hat und derartige objektivierte Aspekte nur nachrangig gelten. Nur dann wird dem Grundsatz der Privatautonomie hinreichend Rechnung getragen. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des BGH.40 Legt man diese Grundsätze für hier analysierte Thematik zugrunde, so drängt sich folgende Frage geradezu auf. Weshalb werden unwirksame normative Preisanpassungsklauseln für frühere Tarif- und heutige Grundversorgungskunden über eine ergänzende Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB durch eine als vermuteten Vertragskonsens unterstellte einseitige Befugnis der EVU zur Preisanpassung mit den aus § 315 BGB seitens des BGH entwickelten Maßstäben ersetzt, während für den Sondervertragsbereich die Unwirksamkeit der Preisanpassungsklausel nur dann nicht gerügt werden kann, wenn der Preisanpassung seitens der Energiekunden nicht in einer Frist von drei Jahren nach Zugang der Jahresrechnung mit den erhöhten Preisen widersprochen wird? Die differenzierte Betrachtung ist rechtlich nur dann akzeptabel, wenn sie sich aus dem hypothetischen Parteiwillen ableiten ließe. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der großen Mehrzahl der Kunden ist der Unterschied zwischen Tarif- und Grundversorgungsverträgen auf der einen Seite und Sonderverträgen auf der anderen Seite noch nicht einmal geläufig. Dasselbe gilt für die Frage, 38
BGH (Fn. 13, 18). Konsequenz der in ständiger Rechtsprechung entwickelten Formel: BGHZ 9, 273; 77, 301; 164, 286; BGH, NJW 2009, 2443. 40 Vgl. Nachweise in Fn. 39. 39
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ob eine Preisanpassung der EVU auf normativer oder nur auf vertraglicher Grundlage möglich ist. Besonders bemerkenswert ist die These, dass eine Kombination der für Sonderkunden und Tarif- bzw. Grundversorgungskunden entwickelten Grundsätze in dem letztgenannten Sektor möglich sei. Die These, diese Annahme entspreche dem mutmaßlichen Parteiwillen, ist eine reine Fiktion. Selbst die Rechtsprechung41 hat in Einzelfällen Schwierigkeiten zu entscheiden, ob der zwischen den Parteien abgeschlossene Vertrag als ein Tarif- bzw. Grundversorgungsvertrag oder als ein Sondervertrag zu bewerten ist. Unter dem Blickwinkel der kundenseitigen Bedürfnisse hinsichtlich der Art der Energieversorgung (Spannungs- bzw. Druckstufe) ist eine solche Abgrenzung nicht in pauschaler Form möglich, da Sonderverträge auch seitens der Grundversorger mit typischen Grundversorgungskunden geschlossen werden, wenn sich die EVU durch wettbewerblichen Preisdruck veranlasst sehen, den Grundversorgungskunden preislich gegenüber dem Grundversorgungsniveau entgegen zu kommen.42 Zu welch fragwürdigen Ergebnissen die Auffassung des BGH führt, wird am Beispiel von Kunden mit Speicherheizungsverträgen zur Deckung des Raumwärmebedarfs besonders deutlich. Dies betrifft in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt ca. 2 Mio. Kunden. Diese Kunden beziehen einerseits Elektrizität zur Deckung ihres allgemeinen Energiebedarfs (Licht, Kraft, Wärme) als Grundversorgungskunden nach § 36 EnWG (sofern nicht insoweit ein Sondervertrag abgeschlossen wurde) und andererseits Wärmespeicherstrom allein im Rahmen von Sonderverträgen, weil dieser Bedarf nicht unter § 36 EnWG fällt. Der unterschiedliche Bedarf wird meist, aber nicht immer über zwei verschiedene Zähler erfasst. Für ältere Verträge erfolgt die Messung vielfach immer noch über einen Zähler (sog. „Einwegemessung“), wobei der Kunde wegen des „normalen“ Strombezuges in der Ladezeit für Speicherstrom einen Zuschlag zu dem Strompreis für Speicherstrom bezahlt. Die vom BGH entwickelten unterschiedlichen Konsequenzen unwirksamer Preisanpassungsklauseln im Hinblick auf die Rechtsfolgen ergänzender Vertragsauslegung für den „normalen“ und den Speicherstrombezug sind in solchen Fällen offensichtlich weder überzeugend noch vermittelbar. c) Vergleichbare Interessenlage Unter dem Aspekt der Abwägung der wechselseitigen Interessen von Kunden und EVU gibt es ebenfalls keine tragfähigen Argumente dafür, die Konsequenzen unwirksamer Preisanpassungsklauseln in der vom BGH in inzwischen ständiger Rechtsprechung betonten Ungleichbehandlung von Kunden mit normativen Preisanpassungsklauseln und Kunden mit AGB-Preisanpassungsklauseln differenziert zu behandeln. Die wechselseitigen Interessen und ihre Gewichtung sind nicht unterschiedlich. So überrascht es auch nicht, dass der BGH für die Ungleichbehandlung beider 41 42
BGH, ZIP 2016, 1342. Vgl. dazu Bundesnetzagentur/Bundeskartellamt (Fn. 2).
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Kundengruppen im Falle unwirksamer Preisanpassungsklauseln keine überzeugende Begründung liefert, sondern jeweils nur betont, dass seine Auffassung der inzwischen ständigen Judikatur entspreche, ohne dass in den Ausgangsentscheidungen ein belastbarer Grund für die differenzierte Behandlung herausgearbeitet worden wäre. VI. Konkludente Preisanpassung infolge Fortsetzung des Energiebezugs und Bezahlung der infolge Preisanpassung erhöhten Rechnung ohne kundenseitigen Widerspruch 1. Entwicklung der Rechtsprechung Der BGH43 sieht in bestimmten Fallkonstellationen in dem fortgesetzten Energiebezug durch den Kunden, der Bezahlung der nach einer Preiserhöhung entsprechend höheren Jahresrechnung und in dem Fehlen eines kundenseitigen Widerspruchs eine konkludente Anpassung des vertraglich vereinbarten früheren Ausgangspreises auf den erhöhten Preis durch schlüssiges Verhalten der Parteien. Voraussetzung für eine Preisanpassungsvereinbarung ist nach Auffassung des BGH, dass die Preisanpassungsklausel wirksam ist und die Unwirksamkeit allein aus einer Nichtbeachtung der seitens des BGH zu § 315 BGB entwickelten Voraussetzungen hinsichtlich einer billigen Leistungsbestimmung resultiert. Ist die Preisanpassungsklausel hingegen unwirksam, scheidet nach Auffassung des BGH eine konkludente Preisanpassungsvereinbarung von vornherein aus, da der Kunde in derartigen Fällen allein (zunächst einmal) die ihm zugegangene Jahresrechnung faktisch bezahlen möchte, ohne dass diesem Verhalten der Gehalt einer die neuen Preise akzeptierenden Willenserklärung zukommt. Allerdings hat der BGH diesen Standpunkt in einer frühen Phase seiner umfangreichen Rechtsprechung zu EVU-seitigen Preiserhöhungen entwickelt, soweit seitens der EVU individuell erstellte, jedoch nach Auffassung des BGH gegen § 307 BGB verstoßende Preisanpassungsklauseln vorlagen. Hinsichtlich der gegenteiligen Beurteilung seitens des BGH für Preiserhöhungen, wenn wirksame Preisanpassungsklauseln im Einzelfall unbillig, weil gegen § 315 BGB verstoßend umgesetzt wurden, konnte der BGH – entschieden für die normativen Preisanpassungsklauseln im Tarif- bzw. Grundversorgungsbereich – seinerzeit noch von der Wirksamkeit der Preisanpassungsklauseln ausgehen. Nachträglich stellt sich die Rechtslage jedoch nach Verwerfung auch dieser Klauseln seitens des EuGH wegen Europarechtswidrigkeit, vom BGH konsequent in nationales Recht mit der Rechtsfolge der Unwirksamkeit der Klauseln umgesetzt,44 anders dar. Dies hätte den BGH veranlassen müssen, entweder seine für den Sonderkundenbereich abweichende Rechtsprechung zu korrigieren oder aber auch für den Tarif- und Grundversorgungssektor die Annah43 44
BGH, ZIP 2007, 2222; 2009, 323. BGH (Fn. 13, 17).
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me einer konkludenten Preisanpassungsabrede aufzugeben. Dies geschah jedoch nicht. Vielmehr betonte der BGH45 ausdrücklich die Fortgeltung seiner bisherigen Judikatur, ohne auf die angesprochenen Probleme einzugehen. 2. Relevante Fragestellungen und Kritik der Antworten des BGH Die These einer konkludenten Preisanpassungsabrede aufgrund des geschilderten Kundenverhaltens wirft drei konsequent voneinander zu trennende Problemkreise auf. a) Parallelität von konkludenter Preisanpassung und ergänzender Vertragsauslegung Einmal stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zu einseitigen Preisänderungsbefugnissen der EVU aufgrund ergänzender Vertragsauslegung, die der BGH gerade für unwirksame normative Preisanpassungsklauseln umfassend anerkennt. Schließlich handelt es sich in beiden Fallkonstellationen um vertragliche Korrekturen der durch unwirksame Preiserhöhungen gekennzeichneten Rechtslage, einmal durch konkludente Preisanpassung und einmal im Wege ergänzender Vertragsauslegung. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die ergänzende Vertragsauslegung generalisierend für alle vergleichbaren Verträge zur Schließung der planwidrigen Vertragslücke führt,46 während die Annahme einer konkludenten konsensualen Preisanpassungsabrede den neuen (höheren) Preis als Ergebnis eines individuellen Vertragskonsenses darstellt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Verhältnis beider Rechtsinstitute geklärt werden muss. Der BGH geht offensichtlich von einer parallelen Anwendbarkeit aus, was zur Folge hat, dass das EVU bei Vorliegen aller Voraussetzungen den erhöhten Preis sowohl infolge der einseitigen Befugnis zur Preisanpassung als auch als Ergebnis einer konkludenten Preisabrede verlangen kann. Die Parallelität der auf diese Weise zugelassenen einseitigen und konsensualen Preisfestsetzung irritiert. Grundsätzlich schließen sich beide Vorgehensweisen aus. Was schon ergänzend zur Schließung einer Vertragslücke in den Vertrag nach dem mutmaßenden Parteiwillen hineingelesen wird, bedarf nicht noch zusätzlicher „Erhärtung“ oder sogar Steigerung durch konkludente Preisanpassung. Anders stellt sich die Situation dar, wenn infolge konkludenter Preisanpassung ein Preisniveau erreicht wird, das oberhalb dessen liegt, was infolge der vom BGH herausgearbeiteten Restriktionen für über im Wege ergänzender Vertragsauslegung begründete einseitige Preisanpassungsbefugnisse der EVU erreichbar ist. Die Befugnis zur einseitigen Preisanpassung der EVU als Konsequenz ergänzender Vertragsauslegung unterliegt im Ergebnis denselben Anforderungen an ein sachgerechtes Vorgehen und damit an die Akzeptanz der neuen Preisfindung, wie sie 45 46
BGH, ZIP 2016, 1025. BGH (Fn. 32).
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durch den BGH für die Konkretisierung des Leistungsbestimmungsrechts nach § 315 BGB auf der Grundlage wirksamer normativer Preisanpassungsklauseln entwickelt wurden.47 Demgegenüber unterliegt eine konsensuale konkludente Preisanpassung diesen Vorgaben mangels Einseitigkeit des EVU-seitigen Vorgehens nicht, so dass insoweit auch höhere, nicht durch die Anforderung an die Billigkeit des Vorgehens festgelegte Preise akzeptiert werden. Im Ergebnis begründet die parallele Anwendung der Rechtsgrundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung auf der einen Seite und die Anerkennung konkludent zustande gekommener neuer konsensualer Preisabsprachen auf der anderen Seite eine sehr komfortable Absicherung der EVU. b) Voraussetzungen für konkludente Preisanpassungen Überprüft man die Sachgerechtigkeit der These einer konkludenten Preisabsprache jenseits dieser Bedenken, so ergeben sich zwei weitere konsequent voneinander zu trennende Fragestellungen: Einmal bedarf es in rechtsdogmatischer Hinsicht einer näheren Überprüfung, aufgrund welcher Verhaltensweise der Parteien des Energielieferungsvertrages und ihrer rechtlichen Würdigung überhaupt unter dem Aspekt der Vorgaben der Rechtsgeschäftslehre nach §§ 145 ff. BGB das Zustandekommen einer neuen Preisabsprache denkbar ist. Es ist bemerkenswert, dass der BGH insoweit keine näheren Ausführungen macht. Vielmehr beschränkt er sich auf die pauschale These, dass bei Vorliegen der angesprochenen Voraussetzungen ein konkludenter Konsens vorliege. Jenseits dieser rechtsgrundsätzlichen Thematik ist zu hinterfragen, ob in dem Verhalten des Kunden, erhöhte Preise ohne Widerspruch zu bezahlen und den Energiebezug mit demselben Lieferanten fortzusetzen, überhaupt eine Willenserklärung mit Akzeptanz des erhöhten Preises und nicht nur ein rein faktisches Verhalten gesehen werden kann. Beiden Aspekten ist nachzugehen. aa) Fehlen einer konkludent annahmefähigen Vertragsofferte der EVU Im Ausgangspunkt sollte eindeutig sein, dass die für einen konkludenten Konsens über einen neuen höheren Preis erforderliche Offerte nur von dem EVU, nicht aber von dem Kunden ausgehen kann. Denn Preiserhöhungen liegen im Interesse des EVU und gerade nicht im Interesse des Kunden. Die Erklärung des EVU aber, mit der Preiserhöhungen kommuniziert werden, ist eindeutig einseitig als Gestaltungserklärung, gestützt auf die Preisanpassungsklausel, zu verstehen und kann nicht als das Bemühen um einen Konsens mit den Kunden gewürdigt werden, wonach die Preisanpassung allein bei deren Einverständnis erfolgen soll. Gerade dies verbietet der Charakter eines Massenschuldverhältnisses, der den maßgeblichen Grund für das Erfordernis einseitiger Preisanpassungsbefugnisse des EVU bildet. Einseitige auf die (unwirksame) Preisanpassungsklausel gestützte Erklärungen des EVU, ergänzt um die Vorgaben des § 315 BGB, aber sind nicht als Offerte seitens der Kunden annahmefähig. Basis für eine Akzeptanz des Kunden im Sinne des Zu47
BGH (Fn. 9, 23).
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standekommens eines Vertrages bildet nur eine Offerte des EVU, nicht aber eine einseitige Preiserhöhung. Dies ist eine selbstverständliche Erkenntnis der Rechtsgeschäftslehre mit der Differenzierung zwischen Offerten und einseitigen Gestaltungserklärungen. Rechtlich relevante Verhaltensweisen der Energiekunden im Hinblick auf einseitige Preisanpassung des EVU sind damit nur unter dem Aspekt der Verjährung oder Verwirkung, nicht aber im Sinne einer Offerte als Basis für eine Akzeptanz seines der Kunden denkbar. Es irritiert, dass der BGH auf diese die Grundlagen der Rechtsgeschäftslehre betreffenden Aspekte mit keinem Wort eingeht. bb) Umdeutung der einseitigen Preisanpassung in eine Offerte des EVU? Mit dieser Feststellung aber ist noch nicht abschließend der Ausschluss einer konkludenten Preisanpassungsabrede geklärt. In Betracht kommt vielmehr eine Umdeutung der rechtsunwirksamen einseitigen Preisfestsetzung in eine Offerte des EVU, die dann bei einer sachgerechten Würdigung des Kundenverhaltens rechtsgrundsätzlich annahmefähig sein könnte. Basis für eine derartige Umdeutung ist § 140 BGB. Da die einseitige Preisanpassung mangels Wirksamkeit der Preisanpassungsklausel nichtig ist, liegen die Voraussetzungen des § 140 BGB für eine Umdeutung insoweit vor. Ferner müsste die „Umwidmung“ der einseitigen Gestaltungserklärung in eine Offerte bei Kenntnis des EVU von der Nichtigkeit der einseitigen Preisanpassung dessen Willen entsprechen. Ob eine solche Möglichkeit besteht, ist ein Grundsatzproblem der Rechtsgeschäftslehre. Es stellt sich nicht nur in dem hier diskutierten Zusammenhang, sondern auch an anderer Stelle, z. B. dahingehend, ob die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber, der der Arbeitnehmer nicht widerspricht, im Falle der Unwirksamkeit der Kündigung in eine Offerte zur Vertragsaufhebung mit Annahme durch den Arbeitnehmer umgedeutet werden kann. Die Rechtsprechung48 erkennt diese Möglichkeit, unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Fallgestaltung, rechtsgrundsätzlich an. Ein Parallelproblem kann im Mietrecht bestehen, wenn der Vermieter über ein einseitiges Bestimmungsrecht hinsichtlich der Miethöhe verfügt, er dieses Bestimmungsrecht unwirksam ausübt und sich die Frage stellt, ob darin ein Antrag auf Abschluss einer Vereinbarung zur Erhöhung des Mietzinses liegt, der seitens des Mieters annahmefähig ist. Insoweit ist die Judikatur sehr zurückhaltend.49 Die Rechtsprechung50 verlangt als grundlegende Voraussetzung für eine Umdeutung, dass der Erklärende – hier das EVU – sich bei Abgabe der Willenserklärung bewusst gewesen ist, dass sie einseitig vorgenommen nicht wirksam sein könne und es für diesen Fall zur Herbeiführung des rechtlich und wirtschaftlich angestrebten Erfolgs hilfsweise der Zustimmung des Erklärungsempfängers – hier des Ener48
BGH, NJW-RR 2014, 1423 Rn. 32. Ablehnend OLG Hamburg, WuM 1986, 82; LG München II, WuM 1996, 1382. 50 RG und BGH (Fn. 51, 52).
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giekunden – bedürfe. Darüber hinaus erfordere der Schutz des Erklärungsempfängers, hier des Energiekunden, dass er erkennt oder erkennen musste, dass der Erklärende für den Fall der Unwirksamkeit seiner einseitigen Gestaltungserklärung letztere als annahmefähige Offerte zur Vertragsänderung gelten lassen will. Andernfalls werde der Erklärungsempfänger mit einer Rechtswirkung der (unwirksamen) Gestaltungserklärung konfrontiert, mit der er nicht rechnen musste, was im Widerspruch zu § 133 BGB stünde. Dies ist gefestigte Judikatur bereits des RG51 und heute des BGH52. Es soll hier nicht weiter thematisiert werden, ob diese Anforderungen sachgerecht sind, was in der Literatur53 durchaus bezweifelt wird. Maßgeblich ist, dass sie die rechtsgrundsätzliche BGH-Judikatur zur Möglichkeit der Umdeutung rechtsgestaltender Erklärungen in Vertragsofferten darstellen, die der BGH in dem hier analysierten Zusammenhang überhaupt nicht heranzieht. Da die EVU in Jahrzehnte langer Praxis, durch die Rechtsprechung zunächst unbeanstandet, einseitige Preiserhöhungen vorgenommen haben, anerkannt durch die Rechtsprechung des BGH54 und erst in der jüngeren Vergangenheit in Konsequenz der EuGH-Rechtsprechung55 verworfen, kann den EVU gerade nicht unterstellt werden, bei ihren einseitigen Preisanpassungen von der Möglichkeit der Unwirksamkeit ausgegangen zu sein. Dies galt jedenfalls solange, bis der EuGH abweichend entschied und diese europarechtliche Vorgabe durch den BGH umgesetzt wurde. Gleichwohl eröffnet der BGH die Umdeutung in eine Vertragsofferte als Basis für eine konkludente Annahme durch die Energiekunden, ohne sich mit der rechtsgrundsätzlichen Thematik und insbesondere mit dem daraus resultierenden Widerspruch zu seiner eigenen Judikatur jenseits des Energierechts zu befassen. Dies ist zu beanstanden. Gerade der Aspekt der Massenschuldverhältnisse schließt es aus, dem EVU den Willen zu einer Umdeutung einer einseitigen Preisanpassung in einer Vertragsofferte pauschal zu unterstellen. Denn das EVU-Verhalten kann vor dem Hintergrund der Massenschuldverhältnisse nur einheitlich und nicht in jedem Einzelfall je nach dem Kundenverhalten differenziert rechtlich bewertet werden. Wollte man einseitige Preisanpassungen der EVU pauschal in Vertragsofferten umdeuten, wären die EVU darauf angewiesen, dass die Kunden ein Verhalten an den Tag legen, das als Akzeptanz zu bewerten ist. Gerade eine solche Bewertung aber wünschen die EVU in Massenschuldverhältnissen nicht.
51
RGZ 143, 123. BGH, NJW 1981, 43 (44).; NJW-RR 2005, 1464 (1466); 2007, 1382. 53 Faust, in: Heidel/Hüßtege/Mansel/Noack (Hrsg.), Nomos-Kommentar BGB Allgemeiner Teil/EGBGB, 3. Aufl. 2016, § 140 Rn. 33. 54 BGH (Fn. 7, 10, 18). 55 EuGH (Fn. 11, 16). 52
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cc) Nicht tragfähige Ungleichbehandlung der Bewertung des Kundenverhaltens in Fällen unwirksamer und wirksamer, aber im Einzelfall unwirksam umgesetzter Preisanpassungsklauseln Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Der BGH differenziert danach, ob die Unwirksamkeit der einseitigen Preisanpassung auf der Unwirksamkeit einer Preisanpassungsklausel beruht oder aber ob sie allein darauf zurückzuführen ist, dass eine wirksame Preisanpassungsklausel hinsichtlich der Art der Umsetzung wegen Widerspruchs zu den aus § 315 BGB abgeleiteten Anforderungen keine Gültigkeit hat. Bei dieser Argumentation gelangt der BGH zu dem Ergebnis, dass unwirksam umgesetzte wirksame Preisanpassungsklauseln eine Basis für konkludente Preisvereinbarungen bilden,56 während dies im Falle nichtiger Preisanpassungsklauseln nicht der Fall sei. Hier wolle der Kunde allein faktisch seine Rechnung bezahlen und seinem Verhalten keinen rechtsgeschäftlichen Erklärungswert beimessen, was für die EVU erkennbar sei.57 Diese Differenzierung ist nicht sachgerecht. Es wurde bereits an anderer Stelle58 angesprochen, dass die Kunden eine solche rechtlich feinsinnige Unterscheidung nicht anstellen und folglich ihrem Verhalten kein entsprechend differenzierter Erklärungswert beigemessen werden kann. Zu welch fragwürdigen Resultaten ein solcher Standpunkt führt, wird neben dem bereits erwähnten Beispiel eines Grundversorgungskunden mit zusätzlichem Sondervertrag für den Bezug von Wärmespeicherstrom (vgl. oben V 2. b) deutlich, wenn man die Rechtslage für typische Grundversorgungskunden betrachtet, die sich nach Kündigung des Grundversorgungsvertrages entweder einem Wettbewerber des Grundversorgers zuwenden oder aber weiter Energie von ihrem Grundversorger im Rahmen eines Sondervertrages beziehen. Solange ein Grundversorgungskunde Energie im Rahmen der Grundversorgung bezieht und die normativen Preisanpassungsklauseln bis zur gegenteiligen Entscheidung des EuGH59 in der Rechtspraxis als wirksam erachtet wurden, sah der BGH60 infolge der nur durch Widerspruch zu § 315 BGB unwirksamen Umsetzung im Einzelfall die Basis für eine konkludente Preisanpassungsabsprache als gegeben an. Dies hat er ausdrücklich klargestellt. Vereinbart derselbe Kunde nun mit seinem Grundversorger (oder auch mit einem anderen Lieferanten) abweichende Preise und Bedingungen, erhält die in den Energielieferungsvertrag aufgenommene Preisanpassungsklausel auch bei völlig identischer Ausgestaltung mit der normativen Regelung infolge der Bewertung als Sondervertrag die Qualität einer Allgemeinen Geschäftsbedingung. Dasselbe gilt, wenn das EVU sich um eine eigenständige standardisierte Ausgestaltung der Preisanpassungsklausel bemüht. Dann aber ist die einseitige Preisfestsetzung nicht wegen Widerspruchs zu den Vorgaben nach § 315 BGB im Lichte der BGH-Rechtsprechung, sondern bereits 56
BGH, ZIP 2007, 2233; 2009, 323; 2016, 1025. BGH, ZIP 2013, 1866; 2016, 1025. 58 Büdenbender, ZIP 2017, 1041 (1050). 59 EuGH (Fn. 11). 60 BGH (Fn. 56). 57
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wegen der Unwirksamkeit der Preisanpassungsklausel selbst nach § 307 BGB nichtig.61 Dies hat nach der BGH-Judikatur die Konsequenz, dass das Kundenverhalten eben nicht als rechtsgeschäftliche Annahme einer konkludenten Offerte des EVU zur Absprache einer neuen Preisabrede gewertet wird, sondern allein als faktisches Verhalten in dem Sinne, dass der Kunde nur seine Rechnung bezahlen wolle. Diese erheblichen Unterschiede in der rechtlichen Bewertung des Kundenverhaltens sind sachwidrig. Sie unterstellen den Kunden, in dieser Richtung überhaupt Erwägungen anzustellen, mit der Konsequenz einer differenzierten Bewertung als rechtsgeschäftliche Erklärung oder als nur faktisches Verhalten. Eine solche Differenzierung geht an der Praxis völlig vorbei. Die rechtliche Bewertung des Kundenverhaltens als faktisch oder als konkludente Willenserklärung hat allein bei dem Erklärungswert seines Handelns aus dem Blickwinkel eines verständigen Vertragspartners anzusetzen. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung62 und verbietet damit die vom BGH für Preisanpassungen in der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft vorgenommene abweichende Bewertung. In der Sache sieht sich der Kunde im Falle einseitiger Preiserhöhungen durch das EVU ebenso wie in einer Vielzahl von anderen Fällen im Wirtschaftsleben, in denen ihm Rechnungen präsentiert werden, in die Situation gestellt, zur Vermeidung wirklicher oder vermeintlicher Rechtsnachteile eine Rechnung zunächst einmal zu bezahlen, nicht aber das Verhalten des Vertragspartners mit rechtsgeschäftlicher Relevanz zu akzeptieren. Im Einzelfall mag es aufgrund besonderer Fallgestaltungen anders sein; dies ändert jedoch an der generalisierenden Bewertung im Rahmen von Massenschuldverhältnissen nichts. Daher ist sowohl die Möglichkeit, in einem solchen Fall überhaupt eine konkludente neue Preisabsprache zu sehen, als auch die differenzierte rechtliche Bewertung je nachdem, ob es sich um Tarif- bzw. Grundversorgungskunden auf der einen Seite oder um Sonderkunden auf der anderen Seite handelt, abzulehnen. Zutreffend ist im Regelfall allein die rechtliche Bewertung als allein tatsächliches Bezahlen einer Rechnung und nicht als konkludente Willenserklärung. VII. Wesentliche Ergebnisse Als wesentliche Ergebnisse der Analyse lässt sich Folgendes feststellen: 1. Bedingt durch die Rechtsprechung des EuGH sind Preisanpassungsklauseln in der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft, die viele Jahrzehnte unbeanstandet praktiziert wurden, aus europarechtlichen Gründen verworfen worden. Der BGH hat daraus für die Umsetzung in nationales Recht im Sinne der Unwirksamkeit der Klauseln die Konsequenzen gezogen. Für den Bereich der Grundversorgungskunden ist der Mangel in Folge einer Reform durch den Verordnungsgeber in §§ 5 Abs. 2 StromGVV, 5 Abs. 2 GasGVV – ohne Rückwirkung – beseitigt worden. Für Sonderver61 62
BGH (Fn. 35). BGHZ 36, 38; 103, 208; BGH, NJW 2010, 2422.
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tragskunden ist auch nach dieser Reform durch Übernahme der für Grundversorgungskunden gültigen Preisanpassungsklauseln keine wirksame Grundlage für einseitige Preisanpassungen der EVU zu erreichen. Insoweit sind folglich hinreichend konkrete von den EVU erarbeitete Klauseln als AGB erforderlich. 2. Ohne Berücksichtigung einschlägiger zivilrechtlicher Rechtsinstitute hätte die Unwirksamkeit von Preisanpassungsklauseln sowohl Rückforderungsansprüche der Kunden für in der Vergangenheit ohne Rechtsgrundlage vorgenommene Preiserhöhungen als auch für die Zukunft den Ausschluss einer Rechtsgrundlage für einseitige Preisanpassungen zur Folge. Da die Kosten für die leitungsgebundene Energieversorgung weiter steigen, im Bereich der Elektrizitätswirtschaft insbesondere durch eine Vielzahl politischer Vorgaben, entstünden dadurch für die EVU wirtschaftlich gravierende negative Konsequenzen. Der BGH ist bemüht, durch Anwendung allgemeiner zivilrechtlicher Rechtsinstitute für Abmilderung zu sorgen, da diese wirtschaftlichen Folgen für die EVU, die bereits durch die Konsequenzen der Energiewende erheblich belastet werden, nicht verkraftbar sind. Insoweit spielt auch eine Rolle, jedenfalls rechtspolitisch betrachtet, dass die Unwirksamkeit der normativen Preisanpassungsklauseln letztlich auf staatlichem Versagen bei der Normgebung beruht. 3. Als hinsichtlich der Anwendbarkeit prüfbedürftige einschlägige Rechtsinstitute zur Begrenzung dieser negativen wirtschaftlichen Auswirkungen kommen das Recht der Verjährung, die Verwirkung von Rückforderungsansprüchen, die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung sowie eine konkludente neue Preisvereinbarung infolge widerspruchslosen fortgesetzten Energiebezugs der Kunden bei gleichzeitiger Bezahlung der durch Preisanpassungen erhöhten Jahresrechnungen in Betracht. Der Schwerpunkt der BGH-Judikatur beruht auf den beiden letztgenannten Rechtsinstituten. 4. Zu Recht erkennt der BGH die Anwendbarkeit der Rechtsgrundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung infolge einer planwidrig entstandenen Regelungslücke infolge der Unwirksamkeit der Preisanpassungsklauseln an. Auf der Rechtsfolgenseite gelangt er allerdings zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, ob es sich um individuell gestaltete Preisanpassungsklauseln in Energielieferungsverträgen mit einer höchstens noch 12 bis 24 Monate dauernden Restlaufzeit, um Tarifbzw. Grundversorgungsverträge oder um Sonderkundenverträge mit Übernahme der normativen Preisanpassungsklauseln als AGB handelt. Im erstgenannten Fall verneint er in den bisher entschiedenen Fällen eine Korrektur der durch die Unwirksamkeit der Preisanpassungsklauseln entstandenen Rechtslage mangels Unzumutbarkeit für die EVU. Im Falle von Tarif- und Grundversorgungskunden erfolgt eine Schließung der Vertragslücke durch die dem mutmaßlichen Vertragskonsens zugeordnete einseitige Befugnis der EVU zur Preisanpassung nach denselben Grundsätzen, wie sie im Falle einer wirksamen Preisanpassungsklausel bestünden. Für den Sondervertragsbereich hingegen soll erst bei widerspruchslosem Verhalten der Energiekunden gegen die Vorgehensweise der EVU für eine Dauer von drei Jahren ab dem
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Erhalt der durch Preisanpassung erhöhten Jahresrechnung der zunächst rechtsunwirksam erhöhte Preis rückwirkend zum konsensual akzeptierten Preis werden. 5. Die differenzierte Behandlung der ergänzenden Vertragsauslegung für die beschriebenen unterschiedlichen Fallgruppen vermag nicht zu überzeugen. In der Ausganglage ist in allen Fällen eine durch Anwendung der §§ 133, 157 BGB zu schließende Vertragslücke entstanden, wobei über den Einzelfall hinaus auch die Multiplikatorwirkung der Rechtsunwirksamkeit von Preisanpassungsklauseln infolge der Massenschuldverhältnisse zu beachten ist. Auf der Rechtsfolgenseite gibt es in dem hypothetischen Parteiwillen auf Seiten beider Vertragspartner keine Grundlage für die seitens des BGH angenommenen völlig differenzierten Rechtsfolgen. Sachgerecht ist die für den Tarif- bzw. Grundversorgungssektor gefundene Lösung auch für alle anderen Kundengruppen. 6. Der BGH erkennt die Möglichkeit einer konkludenten konsensualen Preisanpassung für Fälle an, in denen der Kunde den rechtsunwirksam seitens des EVU festgesetzten höheren Preis nicht beanstandet, die Jahresrechnung bezahlt und den Energiebezug fortsetzt. Voraussetzung soll allerdings sein, dass eine rechtswirksame Preisanpassungsklausel besteht, die im Widerspruch zu den aus § 315 BGB resultierenden Vorgaben, konkretisiert durch den BGH, umgesetzt wurde. Für Fälle unwirksamer Preisanpassungsklauseln sieht der BGH hingegen in dem beschriebenen Kundenverhalten lediglich das faktische Bezahlen der erhöhten Jahresrechnung ohne rechtsgeschäftlichen Erklärungswert. Diese Judikatur begegnet mehreren schwerwiegenden Bedenken. 7. Bereits unter dem Blickwinkel der Dogmatik der Rechtsgeschäftslehre lässt der BGH jede Begründung für die Möglichkeit einer seitens der Kunden annahmefähigen Willenserklärung der EVU vermissen. Einseitige Gestaltungserklärungen, wozu die EVU-seitigen Preisanpassungen zählen, sind keine annahmefähigen Willenserklärungen. In Betracht kommt damit allein eine Umdeutung dieser Erklärung nach § 140 BGB in eine Vertragsofferte, die der Kunde konkludent annimmt. Hierzu fehlt seitens des BGH jede Argumentation. Im Ergebnis steht eine solche Umdeutung im Widerspruch zu der generell seitens BGH vertretenen Auffassung, wonach eine solche Umdeutung nur in Betracht kommt, wenn derjenige Vertragspartner, der eine einseitige Erklärung vornimmt, mit deren Unwirksamkeit rechnet. Diese Voraussetzung fehlt bzgl. der EVU, da diese bis zu den gegenteiligen Entscheidungen des EuGH von der Wirksamkeit ihres Preisgebarens infolge für wirksam erachteter Preisanpassungsklauseln ausgingen. 8. Die differenzierte Bewertung des Kundenverhaltens je nachdem, ob die Preisanpassungsklausel wirksam oder unwirksam ist, geht an der Realität vorbei. Den Kunden ist eine derartige differenzierte Betrachtung mit den damit verbundenen einschlägigen rechtlichen Bewertungen ihres Bezahlverhaltens nicht bewusst. Bereits die vielfach schwierige Frage der Abgrenzung von Grundversorgungs- und Sonderkundenverträgen und das z. T. bestehende Nebeneinander beider Vertragstypen bei
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denselben Kunden sprechen hiergegen. Insgesamt liegt in dem Vorgehen der Kunden jedenfalls im Normalfall kein Rechtsgeschäft, sondern ein rein faktisches Verhalten. 9. Die BGH-Judikatur zu den Rechtsfolgen unwirksamer Preisanpassungen hat sich zeitlich gestreckt entwickelt und ist maßgeblich durch Vorgaben des EuGH beeinflusst, vor allem nachträglich korrigiert worden. Sie wirkt in weitem Umfang partiell-isoliert für einzelne Fallgruppen und nicht „ganzheitlich“ entwickelt, nicht frei von Widersprüchen, begegnet unter dem Blickwinkel der Zivilrechtsdogmatik Bedenken und bildet kein in sich geschlossenes Konzept. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der BGH manche Rechtsfragen anders entschieden hätte, wenn der gesamte Themenkomplex unwirksamer Preisanpassungen für die verschiedenen Kundengruppen unter Einbeziehung der europarechtlichen Aspekte von vornherein umfassend zeitgleich zu beurteilen gewesen wäre. Dann hätte die Möglichkeit bestanden, ein geschlossenes und widerspruchsfreies Konzept zu entwickeln. Ob diese Vermutung zutrifft ist aber letztlich – wie stets in derartigen Fällen – Spekulation.
Netzregulierung und Kraftwerke Von Peter Franke, Bonn I. Erzeugungsanlagen und Netz im Elektrizitätsversorgungssystem Im System der Elektrizitätsversorgung sind Erzeugungsanlagen und Netze aufeinander angewiesen: Einerseits setzt die Teilnahme am Markt für die Kraftwerksbetreiber die Möglichkeit voraus, die Transport- oder Verteilfunktion des Netzes zu nutzen, um den Abnehmer zu erreichen. Andererseits werden Kraftwerke auf vielfältige Weise zur Gewährleistung eines sicheren Netzbetriebs benötigt. Das gilt vor allem für die Erbringung von Systemdienstleistungen. Zu diesen gehören die Frequenz- und Spannungshaltung, der Wiederaufbau der Versorgung nach einem großflächigen Stromausfall und übergreifend die Betriebsführung zur Gewährleistung eines sicheren Systembetriebs mit Überwachungs-, Koordinierungs- und Abstimmungsaufgaben sowie insbesondere dem Engpassmanagement. Entstanden ist diese Rollenverteilung erst im Zuge der wettbewerblichen Öffnung des Energiemarktes. Im System der Gebietsmonopole, die auch die dem Netz vorund nachgelagerten Marktstufen umfassten, waren sowohl die Erzeugung und Vermarktung des Stroms als auch die Erbringung von Dienstleistungen für den Netzbetrieb in der Regel Vorgänge innerhalb eines Unternehmens.1 Das änderte sich mit der Marktöffnung. Erzeugung und Netzbetrieb wurden durch die Entflechtungsregelungen unterschiedlichen Rechtsträgern zugeordnet.2 Das Erzeugungsunternehmen erhielt zur Vermarktung seines Stroms Zugang zum Netz nach den für alle Marktteilnehmer geltenden Regeln. Umgekehrt eröffnete die Netzöffnung die Möglichkeit, Systemdienstleistungen von Dritten erbringen zu lassen und diese in einem marktorientierten Verfahren zu kontrahieren. Das wichtigste Beispiel hierfür sind die Vorgaben zur Beschaffung von Regelenergie, die grundsätzlich im Rahmen einer gemeinsamen regelzonenübergreifenden Ausschreibung der vier Übertragungsnetzbetreiber über eine Internetplattform erfolgen muss (§ 6 StromNZV). Die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Energiewende haben dieses durch gegenseitige Abhängigkeit gekennzeichnete Verhältnis zwischen Netz und Erzeugung nachhaltig verändert: - Das Netz hat im Elektrizitätsversorgungssystem grundsätzlich eine dienende Funktion; es muss von den Standorten der Erzeugungsanlagen aus eine bedarfs1 Kühne, in: Pielow (Hrsg.), Sicherheit in der Energiewirtschaft, 2007, 129 (132); Büdenbender, ebd., S. 165 (167 f.). 2 Büdenbender, in: Pielow, Sicherheit in der Energiewirtschaft (Fn. 1), 165 (165 ff.).
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gerechte Versorgung der Abnehmer ermöglichen. Diese Funktionsverteilung findet ihren gesetzlichen Niederschlag vor allem in der Verpflichtung der Netzbetreiber zu einem bedarfsgerechten Netzausbau (§ 11 Abs. 1 S. 1, § 12 Abs. 3 EnWG). Für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien wird diese Ausbaupflicht einerseits zu einem Ausbauanspruch des Betreibers der Erzeugungsanlage gegenüber dem abnahmepflichtigen Netzbetreiber und den Betreibern vorgelagerter Netze bis zur 110 kV-Ebene verdichtet (§ 12 EEG 2017).3 Andererseits führt die grundlegende Umgestaltung des Stromerzeugungssystems zu einem so erheblichen Netzausbaubedarf, dass ohne eine Synchronisierung des Anlagenzubaus und des Netzausbaus die Sicherheit des Netzbetriebs durch die Überlastung des vorhandenen Netzes gefährdet wird. Angesichts der Verzögerungen beim Netzausbau hat der Gesetzgeber sich daher entschieden, den weiteren Zubau von Windenergieanlagen an Land in dem Gebiet, in dem die Übertragungsnetze besonders stark überlastet sind (Netzausbaugebiet), durch eine Drosselung des Anlagenneubaus hoheitlich zu steuern (§ 36c EEG 2017)4. Hierzu wird für das Netzausgebiet eine Obergrenze für den Anlagenzubau festgelegt; diese beträgt ab 2017 pro Jahr 58 % der installierten Leistung, die im Jahresdurchschnitt in den Jahren 2013 bis 2015 in diesem Gebiet in Betrieb genommen worden ist5. In dem als Netzausbaugebiet festgelegten Bereich wird damit die Entwicklung im Erzeugungssektor durch die vorhandene Transportkapazität begrenzt; der Grundsatz, dass der Zubau an Erzeugungsanlagen den Umfang des Netzausbaus bestimmt, wird also partiell umgekehrt6 : Durch die von der Bundesnetzagentur erlassene Erneuerbare-Energien-Ausführungsverordnung (EEAV) sind inzwischen Teile der Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sowie Bremen und Hamburg als Netzausbaugebiet festgelegt worden (§ 10 EEAV). - Auf die Funktion von Kraftwerken, netzbezogene Dienstleistungen zu erbringen, wirkt sich vor allem aus, dass die (vorrangige) Einspeisung von Strom aus Windkraft und Photovoltaik einerseits konventionelle Erzeugungskapazitäten verdrängt, andererseits konventionelle Erzeugungsanlagen (neben Speichern oder abschaltbaren Lasten) benötigt werden, um die Sicherheit des Netzbetriebs zu gewährleisten. Der Zugriff auf Kraftwerke in Engpasssituationen des Netzes gehört zu den seit jeher üblichen Instrumenten zur Gewährleistung eines sicheren Netzbetriebs, ohne dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen deswegen als „Kraft3
Boemke, in: Frenz/Müggenborg/Cosack/Hennig/Schomerus (Hrsg.), EEG, 5. Aufl. 2018 § 12 Rn. 11 ff.; König, in: Säcker (Hrsg.), BerlKommEnR EEG 2014, 2015, vor § 12 Rn. 4, § 12 Rn. 14 ff. – Für die vorgelagerte Transportnetzebene ist zur komplexen Ermittlung und Koordinierung eines bundesweiten bedarfsgerechten Ausbaus mit der Bedarfsplanung (§§ 12a ff. EnWG) ein eigenes Planungsinstrument geschaffen worden, das für die Ausbauplanungen der Übertragungsnetzbetreiber verpflichtend ist (§ 65 Abs. 2a EnWG). 4 Franzius, ZUR 2018, 11 (13). 5 Frenz, in: Frenz/Müggenborg/Cosack/Hennig/Schomerus, EEG (Fn. 3) § 36c Rn. 10 ff. 6 Zu parallelen Entwicklungen im Offshore-Bereich Franzius, ZUR 2018, 11 (17 Fn. 57).
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werksregulierung“ bezeichnet worden wären. Die Bezeichnung bleibt auch missverständlich, weil Adressat regulatorischer Pflichten weiterhin die Netzbetreiber sind. Dass der Begriff der „Kraftwerksregulierung“ sich gleichwohl eingebürgert hat, weist darauf hin, dass der netzbezogene Zugriff auf Kraftwerken inzwischen als neuer Aufgabenschwerpunkt der Energienetzregulierung und die rechtlichen Rahmenbedingungen als eigener energierechtlicher Regelungskomplex wahrgenommen werden.
II. Entwicklung und Instrumente des regulatorischen Zugriffs auf den Erzeugungssektor 1. Netze im Übergang zu einer veränderten Erzeugungsstruktur Dass die Entscheidung, für die acht ältesten deutschen Kernkraftwerke die Berechtigung zum Leistungsbetrieb zum 6. August 2011 auslaufen zu lassen (§ 7 Abs. 1a S. 1 Nr. 1 AtG), mit dem Risiko von Engpasssituationen im Netz verbunden war, zeichnete sich bereits im Vorfeld der gesetzgeberischen Entscheidungen zur Energiewende im Sommer 2011 ab.7 Vor dem Hintergrund dieser Besorgnisse wurde bei der Neuregelung der Restlaufzeiten eine befristete „Kaltreserveregelung“ zur Verhinderung von Gefahren oder Störungen der Sicherheit oder Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems oder zur Verhinderung einer Gefährdung oder Störung der Energieversorgung für den lebenswichtigen Bedarf aufgenommen (§ 7 Abs. 1e AtG a.F.). Danach konnte die Bundesnetzagentur bis zum 1. September 2011 bestimmen, eines der bereits außer Betrieb genommenen alten Kernkraftwerke bis zum Ablauf des 31. März 2013 in einem betriebsfähigen Zustand zur Erzeugung von Elektrizität zu halten (Reservebetrieb). Von dieser Ermächtigung musste kein Gebrauch gemacht werden, weil im Laufe des Jahres 2011 für mehrere in Kaltreserve befindliche konventionelle Kraftwerke Redispatch- bzw. Reservevorhaltungsverträge abgeschlossen werden konnten.8 Dass diese Vorsorge geboten war und fortentwickelt werden musste, wurde durch mehrere Engpasssituationen im Verlauf des Winters 2011/2012 bestätigt.9 Eine kritische Situation entstand vor allem während einer Kältewelle Anfang Februar 2012. Bei hohen Nord-Süd-Lastflüssen waren damals aufgrund von Gasversorgungsengpässen Gaskraftwerke in Süddeutschland nicht 7
BNetzA, Auswirkungen des Kernkraftwerk-Moratoriums auf die Übertragungsnetze und die Versorgungssicherheit – Bericht der Bundesnetzagentur an das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie v. 11. 4. 2011; BNetzA, Auswirkungen des KernkraftwerkMoratoriums auf die Übertragungsnetze und die Versorgungssicherheit – Aktualisierung v. 26. 5. 2011. 8 BNetzA, Bericht zu den Auswirkungen des Kernkraftausstiegs auf die Übertragungsnetze und die Versorgungssicherheit, zugleich Bericht zur Notwendigkeit eines Reservekernkraftwerks im Sinne der Neuregelungen des Atomgesetzes v. 31. 8. 2011, S. 65 ff. 9 Überblick bei Franke, in: Faßbender/Köck (Hrsg.), Versorgungssicherheit in der Energiewende – Anforderungen des Energie-, Umwelt- und Planungsrechts, 2014, 19 (21 ff.).
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verfügbar, so dass in dem betroffenen Raum keine weiteren Kraftwerke zur Verfügung standen, um durch Eingriffe in die Erzeugungsleistung einem Engpass entgegenzuwirken. Beim Ausfall auch nur eines großen Kraftwerks wäre die Versorgungssicherheit nicht mehr gewährleistet gewesen.10 Auf Dauer können solche Engpasssituationen nur durch Netzausbau wirksam verhindert werden. Während der Vorlaufzeit für seine Realisierung (Planung, Zulassung, Bau) muss mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit von Engpasssituationen im Übertragungsnetz gerechnet werden. Für eine Übergangszeit, deren Dauer vom Fortschritt des Netzausbaus abhängt, muss daher mit anderen Mitteln Vorsorge zur Gewährleistung der Sicherheit des Netzbetriebs getroffen werden11. Hierzu gehören zunächst netzbezogene Maßnahmen, insbesondere Netzschaltungen (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 EnWG), die von den Netzbetreibern ständig in großer Zahl ergriffen werden. Wenn dies zur Gewährleistung eines sicheren Netzbetriebs nicht ausreicht, sind marktbezogene Maßnahmen (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 EnWG) erforderlich, die Zugriffsmöglichkeiten auf den Kraftwerkssektor voraussetzen12: Um Leitungsabschnitte vor einer Überlastung zu schützen, greifen Übertragungsnetzbetreiber in der Regel zum Instrument des „Redispatch“. Droht an einer bestimmten Stelle im Netz ein Engpass, so werden Kraftwerke diesseits des Engpasses angewiesen, ihre Einspeisung zu drosseln, während Anlagen jenseits des Engpasses ihre Einspeiseleistung erhöhen müssen. Auf diese Weise wird ein Lastfluss erzeugt, der dem Engpass entgegenwirkt. Für den Redispatch-Einsatz geeignet sind daher nur Kraftwerke in räumlicher Nähe zur Engpassstelle. Solche Kapazitäten an geeigneten Standorten waren in Süddeutschland nach der Außerbetriebnahme der älteren Kernkraftwerke schon im Zeitpunkt der Energiewendegesetzgebung knapp. Verschärft wird die Situation dadurch, dass die Veränderungen in der Stromerzeugungsstruktur generelle Wirtschaftlichkeitsprobleme für konventionelle Kraftwerke aufwerfen. Die Erzeugung in konventionellen Kraftwerken wird durch den vorrangig abzunehmenden Strom aus erneuerbaren Energien verdrängt. Ferner hängt der in den verbleibenden Jahresbenutzungsstunden zu erzielende Preis vom Börsenpreis ab; dieser wird maßgeblich durch die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien bestimmt, weil § 2 Ausgl10 BNetzA, Bericht zum Zustand der leitungsgebundenen Energieversorgung im Winter 2011/12 v. 3. 5. 2012; BNetzA, Bericht zum Zustand der leitungsgebundenen Energieversorgung im Winter 2012/13 v. 20. 6. 2013. 11 Beckmann, in: Hebeler/Hendler/Proelß/Reiff (Hrsg.), Energiewende in der Industriegesellschaft, 2014, S. 55 (61 ff.); Büdenbender, in: Pielow, Sicherheit in der Energiewirtschaft (Fn. 1), S. 165 (172 ff.); Schmidt-Preuß, RdE 2017, Sonderheft, S. 3 (6 ff.); König, Engpassmanagement in der deutschen und europäischen Elektrizitätsversorgung, 2013, S. 415 ff.; Riewe, Versorgungssicherheit durch Kapazitätsmechanismen, 2016, S. 347 ff. 12 Zum Verhältnis netz- und marktbezogener Maßnahmen Büdenbender, in: Pielow, Sicherheit in der Energiewirtschaft (Fn. 1), S. 165 (172 f.); König, Engpassmanagement (Fn. 11), S. 491 ff.; ders., in: Säcker (Hrsg.), BerlKommEnR, 3. Aufl. 2014, § 13 EnWG Rn. 14; Riewe, Versorgungssicherheit (Fn. 11), S. 348, 350; Ruttloff, NVwZ 2015, 1086 (1090); Scholz/Tüngler, RdE 2010, 317 (318); Sötebier, in: Britz/Hellermann/Hermes (Hrsg.), EnWG, 3. Aufl. 2015 § 13 Rn. 30.
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MechV die Vermarktung des Stroms aus erneuerbaren Energien am Spotmarkt vorschreibt. Für Betreiber konventioneller Kraftwerke kann dies die Entscheidung nahelegen, angesichts der abnehmenden Auslastung bei gleichbleibenden Fixkosten ihre Anlagen vorübergehend oder endgültig stillzulegen. Zum 1. November 2017 waren bei der Bundesnetzagentur Erzeugungsanlagen mit einer Kapazität von 14.321,0 MW zur endgültigen Stilllegung angezeigt, davon sind Anlagen mit einer Kapazität von 8.654,9 MW bereits endgültig stillgelegt. Diese Entwicklungen haben zu einer qualitativen Veränderung der Rahmenbedingungen für die Erbringung von Systemdienstleistungen durch Erzeugungsanlagen geführt. Es geht nicht mehr nur um die Bedingungen für eine deutlich höhere Anzahl von Fällen, in denen Kraftwerke zur Sicherung des Netzbetriebs herangezogen werden müssen, sondern auch um Vorsorge, dass die erforderlichen Erzeugungskapazitäten überhaupt vorhanden sind. Dementsprechend werden inzwischen die – erheblich fortentwickelten – netzbezogenen Zugriffsmöglichkeiten auf Erzeugungsanlagen flankiert durch Anzeigepflichten und Stilllegungsverbote für Erzeugungsanlagen, die zur Gewährleistung eines sicheren Netzbetriebs notwendig sind. 2. Instrumente zur Gewährleistung der Netzstabilität Erzeugungsseitig kann die Sicherheit der Energieversorgung zum einen dadurch gefährdet sein, dass es kapazitätsbedingt nicht zu einem Ausgleich von Angebot und Nachfrage am Strommarkt kommt, also eine bedarfsgerechte Energieversorgung nicht gewährleistet ist; zum anderen kann die Gefährdung sich aus dem Fehlen von Erzeugungskapazitäten ergeben, die zur Erbringung von Systemdienstleistungen für das Netz geeignet sind, so dass die Sicherheit des Netzbetriebs nicht mehr gewährleistet wäre.13 Bezogen auf das gesamte Bundesgebiet war bisher die zur Bedarfsdeckung erforderliche Kraftwerksleistung vorhanden. Die Diskussion über die Notwendigkeit staatlicher Vorsorge für ausreichende Erzeugungskapazitäten wird denn auch vornehmlich mit Blick auf die künftige Entwicklung des Strommarktes und des Investitionsverhaltens bei Erzeugungsanlagen geführt. Gefährdungen der Netzstabilität sind jedoch auch bei insgesamt ausreichender Kraftwerksleistung möglich, weil für die Heranziehung einer Anlage im Rahmen des Engpassmanagements deren Standort von Bedeutung ist.14 Dies hat aktuelle praktische Auswirkungen von erheblichem Gewicht, weil die Veränderungen in der Erzeugungsstruktur zu vermehrten Engpasssituationen führen, die vor allem den süddeutschen Raum betreffen.
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Dass die Systemsicherheit als Kategorie der Versorgungssicherheit sich erst mit der Veränderung der Marktrollen durch die Liberalisierung herausgebildet hat, betont Kühne, in: Pielow, Sicherheit in der Energiewirtschaft (Fn. 1), S. 129 (132 f.); zum Netz- und Kraftwerksbezug Riewe, Versorgungssicherheit (Fn. 11), S. 112 f. 14 OLG Düsseldorf ZNER 2015, 367 (370); König, Engpassmanagement (Fn. 11), S. 153 f., 431 f.; Riewe, Versorgungssicherheit (Fn. 11), S. 353 f.
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Die Instrumente des regulatorischen Zugriffs auf den Erzeugungssektor sind dementsprechend ganz überwiegend darauf ausgerichtet, die Verfügbarkeit von Erzeugungskapazitäten zur Gewährleistung der Netzstabilität zu sichern. Seit 2011 sind sie in drei Schritten nachhaltig erweitert worden: 1. Die Notwendigkeit, die kraftwerksbezogenen Instrumente der Netzregulierung zu verstärken, wurde bereits im Zuge der Energiewendegesetzgebung 2011 gesehen. Neben der Ermächtigung zur Anordnung der „Kaltreserve“ gehörte hierzu vor allem die Anpassung der Voraussetzungen, unter denen im Rahmen des Redispatch aus netzbezogenen Gründen die Anpassung der Fahrweise von Kraftwerken verlangt werden kann. Bis 2011 beruhte die Mitwirkung der Kraftwerksbetreiber an derartigen Maßnahmen auf freiwilliger Grundlage.15 Der Gesetzgeber hat dies angesichts der absehbaren Zunahme von Engpassmaßnahmen als nicht ausreichend angesehen.16 Ein wirksames Engpassmanagement soll einerseits nicht mehr davon abhängen, ob es dem Netzbetreiber gelingt, die erforderlichen Kapazitäten vertraglich zu kontrahieren. Andererseits wäre es nicht zu rechtfertigen, den Anwendungsbereich der Notfallmaßnahmen nach § 13 Abs. 2 EnWG, für die grundsätzlich keine Entschädigung vorgesehen ist17, auf die praktisch häufigen Maßnahmen des Redispatch zu erweitern. Seit 2011 sind Kraftwerksbetreiber zur Mitwirkung an Redispatchmaßnahmen auf Anforderung des Übertragungsnetzbetreibers gegen angemessene Vergütung gesetzlich verpflichtet (§ 13a EnWG).18 Die Anpassungspflicht bezieht sich nach § 13a Abs. 1 S. 2EnWG sowohl auf Einspeisungen aus laufenden Kraftwerken als auch auf die Anforderung aus Erzeugungsanlagen, die erst betriebsbereit gemacht werden müssen. 2. Die Übertragungsnetzbetreiber haben unmittelbar nach den politischen Entscheidungen zur Energiewende 2011 in Abstimmung mit der Bundesnetzagentur die zur Netzstabilität benötigten Reservekapazitäten zunächst freihändig kontrahiert. Nachdem sich abzeichnete, dass die Sicherung von Reservekapazitäten für einen längeren Übergangszeitraum erforderlich sein würde, war die Überführung in ein geordnetes Verfahren zur Bedarfsermittlung und zur Reservebeschaffung geboten. Hinzu kam die zunehmende Zahl von Stilllegungen konventioneller Kraftwerke. Bei den ersten Stilllegungsankündigungen verfügten weder die Bundesnetzagentur noch die Übertragungsnetzbetreiber über verbindliche Handlungsinstrumente, um die Außerbetriebnahme von Anlagen, die zur Gewährleistung der Netzstabilität benötigt wurden, zu verhindern; nicht einmal die Anzeige von Stilllegungsabsichten war gesetzlich vorgeschrieben. Zunächst haben daher die Übertragungsnetzbetreiber unter 15 Sötebier, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 12), § 13 Rn. 36 ff.; Kindler, ZNER 2015, 378; König, Engpassmanagement (Fn. 11), S. 483; Wendt, Kapazitätsengpässe beim Netzzugang, 2012, S. 60. 16 BT-Drs. 17/6072, S. 71. 17 Wendt, Kapazitätsengpässe (Fn. 15), S. 68; Sötebier, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 12), § 13 Rn. 132 ff.; Scholz/Tüngler, RdE 2010, 317 (321 f.). 18 König, Engpassmanagement (Fn. 11), S. 436 ff.; ders., in: Säcker (Fn. 12), § 13 EnWG Rn. 28 ff.; Sötebier, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 12), § 13 Rn. 36 ff.
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Einbeziehung der Bundesnetzagentur Vereinbarungen mit Kraftwerksbetreibern über die zeitlich begrenzte Aussetzung von Stilllegungsentscheidungen und eine angemessene Vergütung getroffen. Nachdem sich weitere Stilllegungen abzeichneten, wurde klar, dass durch Vereinbarungen auf freiwilliger Basis ein weiterer Kapazitätsabbau jedenfalls nicht mit der Verlässlichkeit verhindert werden konnte, die angesichts der Risiken für die Versorgungssicherheit erforderlich war. Die Bundesnetzagentur hat daher angeregt, gesetzliche Regelungen zur Aussetzung von Entscheidungen über die Stilllegung von Kraftwerken zu prüfen.19 Der Gesetzgeber hat diese Anregung mit einer zum Jahresende 2012 in Kraft getretenen Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes20 aufgegriffen, auf deren Grundlage im Jahr 2013 die Reservekraftwerksverordnung21 erlassen wurde. Durch dieses Regelungspaket wurde ein im Kern bis heute unveränderter regulatorischer Rahmen für den Zugriff auf Erzeugungsanlagen zur Gewährleistung eines sicheren Netzbetriebs geschaffen. Der Reservebedarf wurde seither auf der Grundlage einer Systemanalyse durch die Übertragungsnetzbetreiber jährlich durch die Bundesnetzagentur geprüft und ggf. in bestimmter Höhe bestätigt (§ 3 Abs. 1 ResKV). Für die Beschaffung der als erforderlich bestätigten Reservekapazitäten aus bestehenden Anlagen wurde ein Interessenbekundungsverfahren vorgeschrieben (§ 4 ResKV). Wenn die erforderliche Reservekapazität auf diesem Wege nicht gesichert werden konnte, war unter zusätzlichen inhaltlichen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen die Ausschreibung neuer Anlagen als Ausnahmefall zugelassen (§ 3 Ab. 2 S. 2, § 8 ResKV), bei Ergebnislosigkeit dieses Verfahrens unter besonderen Voraussetzungen Errichtung und Betrieb einer neuen Anlage als ”besonderes netztechnisches Betriebsmittel” durch den Übertragungsnetzbetreiber selbst (§ 8 Abs. 4 ResKV). Beabsichtigte vorläufige und endgültige Stilllegungen von Erzeugungsanlagen mit einer Nennleistung ab 10 MW sind seit 2012 mindestens ein Jahr vorher dem Übertragungsnetzbetreiber und der Bundesnetzagentur anzuzeigen. Während dieses Zeitraums sind Stilllegungen verboten, sofern der Betrieb technisch und rechtlich möglich ist (jetzt § 13b EnWG). Auch nach Ablauf der Jahresfrist bleiben Stilllegungen verboten, sofern die Anlage systemrelevant ist; das ist der Fall, wenn ihre dauerhafte Stilllegung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer nicht unerheblichen Gefährdung oder Störung der Sicherheit oder Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems führen würde und diese Gefährdung oder Störung nicht durch andere angemessene Maßnahmen beseitigt werden kann. Systemrelevante Kraftwerke sind vom Übertragungsnetzbetreiber auszuweisen; die Ausweisung bedarf bei beabsichtigten endgültigen Stilllegungen der Genehmigung der Bundesnetzagentur 19
BNetzA, Bericht zum Zustand 2011/12 (Fn. 10), S. 107 f. Drittes Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften v. 20. 12. 2012, BGBl. I S. 2730. 21 Verordnung zur Regelung des Verfahrens der Beschaffung einer Netzreserve sowie zur Regelung des Umgangs mit geplanten Stilllegungen von Energieerzeugungsanlagen zur Gewährleistung der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems (Reservekraftwerksverordnung – ResKV) v. 27. 6. 2013, BGBl. I S. 1947. 20
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(jetzt § 13b Abs. 5 EnWG). Die Ausweisung ist auf das erforderliche Maß zu beschränken und kann für höchstens zwei Jahre erfolgen; bei Fortdauer der Gefährdung oder Störung ist aber eine erneute Ausweisung möglich.22 Vor allem die Regelungen zur Stilllegung von Kraftwerken waren im Gesetzgebungsverfahren stark umstritten. Um den Eingriff in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit auf das zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit notwendige Maß zu beschränken, war daher vorgesehen, dass die gesetzlichen Stilllegungsregelungen und die Reservekraftwerksverordnung bis Ende 2017 befristet sein sollten.23 3. Seine gegenwärtige Gestalt hat das regulatorische Instrumentarium zur Gewährleistung eines sicheren Netzbetriebs im Wesentlichen durch das im Jahr 2016 erlassene Strommarktgesetz erhalten. Dessen hauptsächlicher Zweck war eine gesetzgeberische Antwort auf die politische Forderung nach Einführung eines Kapazitätsmechanismus. Da zu dieser Antwort auch die Bildung einer Kapazitätsreserve gehörte, ist zur eindeutigen Unterscheidung von der noch zu erlassenden Kapazitätsreserveverordnung an die Stelle der bisherigen Reservekraftwerksverordnung die ”Netzreserveverordnung” getreten. Inhaltlich wird das bisherige System der Netzreserve und der Möglichkeit von Stilllegungsverboten für systemrelevante Kraftwerke im Wesentlichen fortgeführt; umgestaltet worden sind jedoch die Regelungen zur Vergütung herangezogener Kraftwerke. Ins Auge fällt zwar die Aufhebung der Befristung für die Regelungen über die Netzreserve und die Stilllegung von Kraftwerken.24 Hieraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass diese Vorschriften damit auf Dauer zum Kernbestand des regulatorischen Instrumentariums gehören sollen. Ihr Übergangscharakter – jedenfalls in der derzeitigen Ausgestaltung – ergibt sich vielmehr aus der Natur der Sache, weil sie auf Auswirkungen eines Umgestaltungsprozesses im Energieversorgungssystem reagieren. Vor allem angesichts der nicht genau zu prognostizierenden Verzögerungen beim Netzausbau ist die bisherige Befristung durch ein flexibleres Monitoringsystem ersetzt worden. Dementsprechend hat das Bundeswirtschaftsministerium während der Geltung der §§ 13a ff. EnWG mindestens alle zwei Jahre über die Wirksamkeit und Notwendigkeit dieser Maßnahmen einschließlich der dafür entstehenden Kosten zu berichten (§ 63 Abs. 2a S. 1 EnWG); in dem zum 31. Dezember 2022 zu veröffentlichenden Bericht ist auch dazulegen, ob eine Fortgeltung der Regelungen nach Satz 1 und der Netzreserveverordnung über den 31. Dezember 2023 22
König, in: Säcker (Fn. 12), § 13a EnWG Rn. 23. Nach Art. 2 Nr. 3 i. V. m. Art. 8 Abs. 2 des Dritten Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften v. 20. 12. 2012 (BGBl. I S. 2743) traten die Stilllegungsregelungen am 1. 1. 2018 außer Kraft; § 13b Abs. 1 Nr. 2 EnWG, § 14 Abs. 2 ResKV enthielten für die auf der Grundlage dieser Vorschriften erlassenen Verordnungsregelungen eine entsprechende zeitliche Begrenzung. 24 Mit Art. 6 Nr. 1 und 14 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Strommarktes v. 26. 7. 2016 (BGBl. I S. 1786) ist die Reservekraftwerksverordnung in Netzreserveverordnung umbenannt und durch Aufhebung der bisherigen Befristungsvorschrift über den 31. 12. 2017 hinaus verlängert worden. 23
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hinaus zur Gewährleistung der Sicherheit oder Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems weiterhin notwendig ist (§ 63 Abs. 2a S. 3 EnWG).25 Inhaltlich wesentlich verändert worden sind nach dem Erlass des Strommarktgesetzes lediglich die – vor allem unter Entflechtungsgesichtspunkten sensiblen – Regelungen für die besonderen netztechnischen Betriebsmittel mit dem Ziel, Wettbewerbsverzerrungen durch den Einsatz derartiger Anlagen am Markt wirksam auszuschließen. Das Strommarktgesetz sah dieses Ziel noch am besten dadurch erreicht, dass die besonderen netztechnischen Betriebsmittel vom Übertragungsnetzbetreiber selbst zu errichten waren (§ 13k EnWG a.F.), ohne dass die in § 8 ResKV vorgesehene externe Ausschreibung zuvor erfolglos verlaufen sein musste. Einen erneuten Richtungswechsel brachte das 2017 erlassene Netzentgeltmodernisierungsgesetz: Danach können die Übertragungsnetzbetreiber besondere netztechnische Betriebsmittel zwar „vorhalten“, sind aber nunmehr verpflichtet, mit der Errichtung und dem Betrieb Dritte zu beauftragen (§ 11 Abs. 3 S. 2 und 3 EnWG). Ferner werden die Voraussetzungen, unter denen die Übertragungsnetzbetreiber besondere netztechnische Betriebsmittel vorhalten können, auf den Zweck eingeschränkt, nach einem tatsächlichen örtlichen Ausfall eines oder mehrerer Betriebsmittel im Übertragungsnetz die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems wieder herzustellen („kurativer Redispatch“).26 Das hauptsächliche Ziel dieser raschen Folge von Neuregelungen bleibt unverändert, nämlich den Einsatz besonderer netztechnischer Betriebsmittel am Markt zu verhindern (§ 11 Abs. 3 S. 7 EnWG). Der Wandel der Einschätzung, wie dieses Ziel möglichst wirksam erreicht wird, unterstreicht einerseits, dass der Gesetzgeber sich der ordnungspolitischen Problematik von Eingriffen in den Erzeugungsmarkt bewusst ist; andererseits führt die mehrfache Neuausrichtung des Regelungskonzepts zu erheblichem Zeitdruck bei der Umsetzung, da die Beauftragung Dritter in einem wettbewerblichen, transparenten und diskriminierungsfreien Verfahren zu erfolgen hat (§ 11 Abs. 3 S. 4 und 5 EnWG). 3. Instrumente zur Kapazitätsvorsorge Die Schaffung von Rahmenbedingungen, die eine bedarfsgerechte Versorgung ermöglichen, bildet angesichts des hohen Gemeinwohlrangs einer sicheren Energieversorgung27 den Kern der staatlichen Gewährleistungsverantwortung im Energiebereich.28 Das vorhandene Instrumentarium zielt vor allem darauf, durch umfassende Mitteilungspflichten verlässliche Informationsgrundlagen für ein fortlaufendes Monitoring der Versorgungssicherheit für den Elektrizitäts- und Gasbereich durch das Bundeswirtschaftsministerium (§ 51 EnWG) zu schaffen. Die Erkenntnisse aus 25
BT-Drs. 18/7317, S. 74, 124. BT-Drs. 18/12999, S. 16; zur Entstehungsgeschichte Scholtka/Keller-Herder/Meyer, N&R 2018, 78 (78 ff.), zum Erfordernis eines tatsächlichen örtlichen Ausfalls ebd. 80 f. 27 BVerfGE 30, 292 (324); 66, 248 (258); 53, 30 (58); 91, 186 (206); 134, 242 Rn. 286. 28 BVerfGE 30, 292 (324); 134, 242 Rn. 286; Kühne, in: Pielow, Sicherheit in der Energiewirtschaft (Fn. 1), S. 129 (131); Riewe, Versorgungssicherheit (Fn. 11), S. 121 ff., 126 ff. 26
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dem Monitoring sowie getroffene oder geplante Maßnahmen sind Inhalt der im Zweijahresrhythmus vorzulegenden Berichte der Bundesregierung zum Stand und zur Entwicklung der Versorgungssicherheit im Bereich der Versorgung mit Erdgas und mit Elektrizität (§ 63 Abs. 2 EnWG). Grundlage des Monitoring sind auch die Informationen, die von den Betreibern der Elektrizitätsversorgungsnetze bei den Marktbeteiligten eingeholt werden, damit ihre Netze sicher und zuverlässig betrieben, gewartet und ausgebaut werden können (§ 12 Abs. 4 EnWG); diese Informationen und ergänzende Analysen sind, soweit sie für das Monitoring der Versorgungssicherheit erforderlich sind, dem Bundeswirtschaftsministerium zu übermitteln (§ 12 Abs. 5 S. 1 Nr. 2 und 3 EnWG). Ferner übermittelt die Bundesnetzagentur die bei ihr verfügbaren und zur Beobachtung und Bewertung der Versorgungssicherheit notwendigen Daten (§ 51 Abs. 5 S. 2 EnWG). Die Bemessung der Versorgungssicherheit erweist sich vor allem mit Blick auf die Fragen, inwieweit Importe zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit in Deutschland beitragen (§ 51 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 2 S. 3 EnWG) und wie der Beitrag fluktuierend einspeisender Anlagen, von Lastmanagement sowie des Einsatzes von Netzersatzanlagen zu bewerten ist (§ 51 Abs. 3 S. 2 EnWG), als zunehmend komplexe Einschätzung. Die bisher vorgesehene Vorlage einer nationalen Leistungsbilanz (§ 12 Abs. 4 S. 3 und Abs. 5 EnWG a.F.), also einer Gegenüberstellung der gesicherten Leistung und der Höchstlast, reicht hierfür nicht aus29. Bei der Messung der Versorgungssicherheit sollen nunmehr auch wahrscheinlichkeitsbasierte Analysen vorgenommen werden (§ 51 Abs. 4 S. 2 EnWG). Die hohe Zahl von Kraftwerksstilllegungen hat eine politische Diskussion über die Notwendigkeit eines Fördermechanismus ausgelöst, mit dem Vorsorge für die Verfügbarkeit von konventioneller Erzeugungskapazität in dem für eine bedarfsgerechte Versorgung erforderlichen Umfang getroffen werden soll.30 Der Gesetzgeber hat sich mit dem Strommarktgesetz gegen einen solchen Kapazitätsmechanismus entschieden; stattdessen sind die marktorientierten Instrumente zur Gewährleistung eines ausreichenden Angebots an Erzeugungskapazität gestärkt worden. Um Versorgungssicherheit auch für nicht vorhersehbare Extremsituationen, in denen zusätzliche Kapazitäten benötigt werden, zu gewährleisten, wird aber eine Kapazitätsreserve eingeführt (§ 13e EnWG). Sie kommt zum Einsatz, wenn trotz freier Preisbildung an der Strombörse kein ausreichendes Angebot existiert, um einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage zu ermöglichen. Dazu werden Erzeugungskapazitäten zusätzlich zu den bestehenden Erzeugungsanlagen außerhalb des Strommarktes vorgehalten und bei Bedarf eingesetzt. 29
BT-Drs. 18/7317, S. 59. Bourwieg, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 12), § 53 Rn. 2a ff., 4a ff.; Büdenbender, JbUTR 2013, S. 67 (78 ff.); Fehling, Die Verwaltung 47 (2014), 313 (319); zum Instrument des § 53 EnWG Bourwieg, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 12), § 53 Rn. 5 ff.; Hermes, in: Faßbender/Köck, Versorgungssicherheit in der Energiewende (Fn. 9), S. 71 (82) (= ZUR 2014, 259 [264]). 30
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Die Einschätzung, dass Preissignale einen grundsätzlich ausreichenden Anreiz für Investitionen in Kraftwerkskapazitäten geben werden, wird nicht überall geteilt. hält sich aber im Rahmen der prognostischen Einschätzungsbefugnis des Gesetzgebers. Hinzu kommt, dass die Maßstäbe für die Beurteilung der Versorgungssicherheit im Rahmen des Monitoring nach § 51 EnWG sich gerade auch auf die der Entscheidung gegen einen Kapazitätsmechanismus zugrunde liegenden Einschätzungen beziehen, indem Anpassungsprozesse an den Strommärkten auf Basis von Preissignalen zu analysieren und zu berücksichtigen sind (§ 51 Abs. 3 S. 2 EnWG). 4. Stilllegung von Braunkohlekraftwerken Der weiteren Vorsorge für eine Übergangszeit, aber auch der Erreichung der Klimaschutzziele dient die Einführung einer Sicherheitsbereitschaft für ältere Braunkohlekraftwerke (§ 13 g EnWG), die blockscharf im Gesetz bezeichnet sind. Diese werden sukzessive für vier Jahre in die Sicherheitsbereitschaft überführt und anschließend stillgelegt. Auf diese Kraftwerke kann in der befristeten Sicherheitsbereitschaft nur als letzte Absicherung der Stromversorgung zurückgegriffen werden, wenn es wider Erwarten trotz freier Preisbildung am Strommarkt nicht zu einem Ausgleich von Angebot und Nachfrage kommt.31 III. Auswirkungen der „Kraftwerksregulierung“ und ihr finanzieller Ausgleich 1. Netzstabilität als Hauptzweck Die Instrumente der „Kraftwerksregulierung“, vor allem die Stilllegungsregelungen (§§ 13b, 13c EnWG), reagieren auf Entwicklungen am Strommarkt, jedoch grundsätzlich nur mit dem Ziel, die für die Stabilität des Netzbetriebs notwendige Erzeugungskapazität zu sichern32. Mit dem Strommarktgesetz hat der Gesetzgeber nicht nur die Frage, ob Instrumente zur Kapazitätsvorsorge erforderlich sind, derzeit grundsätzlich negativ beantwortet, sondern auch die Instrumente der „Kraftwerksregulierung“ im Lichte dieser Entscheidung umgestaltet. Dabei hat er für einzelne Instrumente, insbesondere die Kapazitätsreserve (§ 13e EnWG), bestimmt, dass sie ausnahmsweise zur Kapazitätsvorsorge beitragen sollen, damit aber zugleich geklärt, dass für die Anwendung der übrigen Instrumente nur das Ziel der netzbezogenen Versorgungssicherheit eine Rolle spielt.
31
BT-Drs. 18/7317, S. 59. Zu Recht betont von Schmidt-Preuß, RdE 2017, Sonderheft, S. 3 (6 [Redispatch], 7 [Stilllegungsverbot, Netz- und Kapazitätsreserve, Sicherheitsbereitschaft], 8 [besondere netztechnische Betriebsmittel]). 32
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2. Auswirkungen der Instrumente der „Kraftwerksregulierung“ Die Anwendung der Instrumente netzbezogener Indienstnahme von Erzeugungsanlagen wirkt sich nicht mit gleicher Intensität aus und hängt vor allem von der Marktentwicklung ab. Diese war in den vergangenen Jahren dadurch gekennzeichnet, dass viele konventionelle Kraftwerke nur eine geringe Auslastung durch Teilnahme am Strommarkt erreichen konnten. Für die Betroffenheit der Kraftwerksbetreiber ist daher nicht nur die Intensität des Eingriffs in die unternehmerische Freiheit der Entscheidung über den Kraftwerkseinsatz, sondern vor allem die Kompensation der Heranziehung zu netzbezogenen Dienstleistungen durch „angemessene Vergütung“ von zentraler Bedeutung; auch in den gerichtlichen Verfahren zur „Kraftwerksregulierung“ stehen weniger die Voraussetzungen der Indienstnahme als die Vergütungsfragen im Vordergrund. Nach der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers gegen einen Kapazitätsmechanismus sind bei der Vergütung nur die nachteiligen Auswirkungen zu berücksichtigen, die sich aus der Indienstnahme ergeben. Der Gesetzgeber gibt dementsprechend als Grundregel vor, dass der Betreiber der Anlage wirtschaftlich weder besser noch schlechter zu stellen ist, als er ohne die Indienstnahme stünde (§ 13a Abs. 2 S. 1 EnWG)33; damit bleiben insbesondere Auswirkungen der Marktentwicklung grundsätzlich unberücksichtigt, a) Redispatch Die im Rahmen des Redispatch herangezogenen Kraftwerke sind zwar verpflichtet, ihre Fahrweise den netzbezogenen Erfordernissen anzupassen. Anders als die Anlagen der Netzreserve werden aber beim Redispatch Erzeugungsanlagen nur bei konkretem Bedarf zur Gewährleistung der Netzstabilität in die Pflicht genommen, wobei allerdings aufgrund der räumlichen Konzentration der Engpassstellen überwiegend eine begrenzte Zahl von Kraftwerken im süddeutschen Raum herangezogen wird. Der Einsatz der Anlage am Strommarkt ist dabei lediglich für die Dauer der Heranziehung dann ausgeschlossen, wenn eine marktbezogene Fahrweise mit dem Ziel der Redispatchmaßnahme nicht in Einklang zu bringen ist34; im Übrigen ist die Teilnahme am Strommarkt und eine den Marktverhältnissen entsprechende Fahrweise des Kraftwerks uneingeschränkt möglich. Entsprechend dem Grundsatz, dass der Anlagenbetreiber wirtschaftlich weder besser noch schlechter zu stellen ist, als er ohne die Redispatchmaßnahme stünde (§ 13a Abs. 2 S. 1 EnWG), besteht zunächst Anspruch auf Erstattung der Auslagen für die Vornahme der Einspeisungsanpassung, also insbesondere der Beschaffung der Einsatzenergie, sowie für die Herstellung der Betriebsbereitschaft (§ 13a Abs. 2 S. 2 Nr. 1 und 4 EnWG). Eine im Wesentlichen auf die Erstattung dieser Auslagen be33
In diesem Sinne auch OLG Düsseldorf, ZNER 2015, 367 (370, 373). Hierzu am Beispiel der Teilnahme am Intraday-Handel OLG Düsseldorf, ZNER 2015, 367 (372). 34
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grenzte Vergütungsregelung durch die Bundesnetzagentur35 ist gerichtlich aufgehoben worden.36 Der Gesetzgeber hat hierauf im Strommarktgesetz durch eine erhebliche Erweiterung der Vergütungspflicht reagiert.37 Danach sind zum einen auch bestimmte nachgewiesene Opportunitätskosten zu berücksichtigen. Hierbei geht es um Gewinnmöglichkeiten, die für andere Betreiber am Strommarkt – etwa durch Teilnahme am Intraday-Handel – bestehen, dem zum Redispatch herangezogenen Kraftwerksbetreiber aber entgehen können (§ 13a Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EnWG).38 Zum anderen sind auch fixe Kosten, nämlich der durch die Anpassung des Kraftwerksbetriebs verursachte „anteilige“ Werteverbrauch zu berücksichtigen (§ 13a Abs. 2 S. 2 Nr. 2 EnWG). Das ermöglicht Gleichbehandlung entsprechend der tatsächlichen Inpflichtnahme für Redispatchzwecke und vermeidet den möglichen Effekt des in der früheren Vergütungsregelung vorgesehenen Schwellenwerts39, dass dieser durch gezielten Nichteinsatz von Kraftwerken erreicht werden könnte.40 Die gleiche Zielrichtung hat die Regelung, dass der anteilige Werteverbrauch sich aus dem Verhältnis zwischen den für die Redispatchmaßnahme anrechenbaren Betriebsstunden und den für die Anlage bei der Investitionsentscheidung betriebswirtschaftlich geplanten Betriebsstunden ergibt (§ 13a Abs. 3 EnWG). Würde man auf die Relation zwischen der Dauer der Redispatchmaßnahme und der jeweiligen tatsächlichen Betriebsstundenzahl abstellen, würde gleichfalls ein Anreiz entstehen, die Anlage möglichst wenig am Strommarkt einzusetzen, um hierdurch den auf Redispatchmaßnahmen entfallenden Anteil zu erhöhen.41 Damit spielt weder ein möglicher gezielter noch ein marktbedingter Nichteinsatz von Kraftwerken für die Vergütungshöhe eine Rolle. Das erscheint im Ergebnis als sachgerechte gesetzgeberische Entscheidung42, weil bei einer Orientierung an der tatsächlichen Betriebsstundenzahl die Vergütung für Redispatch auf eine Regelung zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit konventioneller Erzeugungsanlagen mit geringer sonstiger Auslastung hinausliefe. Dass konventionelle Kraftwerke in den vergangenen Jahren teilweise nur sehr geringe Betriebsstundenzahlen erreichen konnten, ist jedoch eine Folge der Marktentwicklung und nicht der Indienstnahme für Redispatchmaßnahmen, so dass dieser Umstand bei der Angemessenheit der Vergütung nicht zu berücksichtigen ist. 35 BNetzA, Festlegung von Kriterien für die Bestimmung einer angemessenen Vergütung bei strombedingten Redispatchmaßnahmen und bei spannungsbedingten Anpassungen der Wirkleistungseinspeisung – BK8 – 12 – 019-, v. 30. 10. 2012, S. 11 ff. 36 OLG Düsseldorf, ZNER 2015, 367 (370 ff.). 37 Stelter/Ipsen, EnWZ 2016, 483 (485). – Die erweiterte Vergütungspflicht gilt nach § 13a Abs. 5 EnWG rückwirkend, um für den Übergangszeitraum nach der gerichtlichen Aufhebung der Festlegung der Bundesnetzagentur Rechtssicherheit über die Höhe des Vergütungsanspruchs zu schaffen (BT-Drs. 18/7317, S. 88). 38 OLG Düsseldorf, ZNER 2015, 367 (372 f.). 39 BNetzA, Festlegung von Kriterien für die Bestimmung einer angemessenen Vergütung (Fn. 35), S. 3 (Tenorziffer 5). 40 OLG Düsseldorf, ZNER 2015, 367 (377). 41 OLG Düsseldorf, ZNER 2015, 367 (377). 42 Stelter/Ipsen, EnWZ 2016, 483 (485).
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Von einer Erstattung ausdrücklich ausgenommen sind Betriebsbereitschaftsauslagen und eine Verzinsung des gebundenen Kapitals (§ 13a Abs. 4 EnWG). Diese Kosten fielen nach Auffassung des Gesetzgebers durch die grundsätzliche Teilnahme der Erzeugungsanlage an den Strommärkten unabhängig von der angeforderten Anpassung der Fahrweise des Kraftwerks ohnehin an.43 Auch diese Entscheidung des Gesetzgebers ist umstritten und Gegenstand zivilgerichtlicher Verfahren. Die Forderung nach einer Vergütung, die auch die durch § 13a Abs. 4 EnWG ausgeschlossenen Kosten berücksichtigt, wird damit begründet, dass zu einer marktgerechten Vergütung auch die Kosten der Vorhaltung der Erzeugungskapazität und eine angemessene Kapitalverzinsung gehörten. Dabei wird jedoch zunächst nicht berücksichtigt, dass durch die Redispatchregelungen keine allgemeine Vorhaltepflicht begründet wird. Der Anpassungsanspruch bezieht sich zwar nicht nur auf betriebsbereite Kraftwerke, sondern auch auf solche Anlagen, die erforderlichenfalls erst betriebsbereit gemacht werden müssen (§ 13a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EnWG), wobei die Kosten für die Herstellung der Betriebsbereitschaft erstattet werden (§ 13a Abs. 2 S. 2 Nr. 4 EnWG). Eine generelle Pflicht zur Kapazitätsvorhaltung folgt daraus aber noch nicht. Sie ergibt sich erst daraus, dass die Anlage unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 13b Abs. 2 EnWG als systemrelevant ausgewiesen wird und als Teil der Netzreserve (§ 13d Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 EnWG) einem Stilllegungsverbot unterliegt. In diesen Fällen muss der Kraftwerksbetreiber die Betriebsbereitschaft weiter vorhalten oder wiederherstellen (§ 13b Abs. 4 S. 3 und 4 sowie Abs. 5 S. 11 EnWG). Dann werden jedoch auch Betriebsbereitschaftsauslagen einschließlich eines Leistungspreises für die Bereithaltung der Anlage erstattet (§ 13c Abs. 1 Nr. 1 EnWG, § 6 Abs. 3 Nr. 2 und 3 NetzResV). Die Redispatch- und Stilllegungsregelungen erweisen sich damit als – bei den Eingriffsvoraussetzungen wie bei den Rechtsfolgen – abgestuftes Instrumentarium: Bei einer nur auf § 13a EnWG gestützten Indienstnahme hat der Gesetzgeber zutreffend gesehen, dass die Vorhaltekosten durch die Entscheidung des Betreibers, grundsätzlich am Strommarkt teilzunehmen, und nicht durch die Heranziehung zum Redispatch entstehen. Von einer Pflicht zur Kapazitätsvorhaltung kann nur in Fällen beabsichtigter Stilllegung und nur für die Gruppe systemrelevanter Kraftwerke gesprochen werden; der Gesetzgeber trägt in diesen Fällen der erhöhten Eingriffstiefe des gesetzlichen Stilllegungsverbots durch eine entsprechende Erweiterung der Vergütungspflicht Rechnung. Rechtlicher Anknüpfungspunkt für die Forderung nach Gewährung einer Eigenkapitalverzinsung ist ferner die Überlegung, dass die zum Redispatch herangezogenen Erzeugungsanlagen für eine Übergangszeit bis zum erforderlichen Netzausbau als „Leitungsersatz“ fungieren. Weil der Netzbetreiber nach erfolgtem Netzausbau für einen vergleichbaren Betriebszweck nach den Grundsätzen der Stromnetzentgeltverordnung die Erstattung von Gemeinkosten einschließlich einer Eigenkapitalverzinsung geltend machen könne, sei kein Grund dafür ersichtlich, bei der Heranziehung von Kraftwerken zur Gewährleistung der Systemsicherheit des Netzes einen Leis43
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tungsanteil von vornherein auszuschließen.44 Allerdings folgt hieraus nicht, dass ein angemessener Leistungsanteil nur nach den Grundsätzen der Stromnetzentgeltverordnung ermittelt werden könnte.45 Gegen die Übernahme der Regelungen zur Eigenkapitalverzinsung (§ 7 StromNEV) spricht vor allem, dass das Preisbildungssystem im Netz- und im Kraftwerksbereich nicht vergleichbar ist46: Für das Übertragungsnetz als natürliches Monopol ist die Eigenkapitalverzinsung die einzige Gewinnerzielungsmöglichkeit des Betreibers, der Eigentümer des Übertragungsnetzes zu sein hat (§ 8 Abs. 2 S. 1 EnWG) und dem jede energiewirtschaftliche Betätigung auf den dem Netzbetrieb vor- und nachgelagerten Marktstufen verwehrt ist (§ 8 Abs. 2 S. 2 und 3 EnWG). Die Erzeugungsanlage wird hingegen in erster Linie zur Erzielung der am Markt möglichen Erlöse errichtet und betrieben. Dieser marktorientierte Einsatz – der naturgemäß für den Anlagenbetreiber nicht die Gewähr bietet, am Markt stets Erlöse zu erzielen, die eine Vollkostendeckung ermöglichen – wird durch Redispatch nur insoweit eingeschränkt, als eine marktorientierte Fahrweise der Anlage mit dem Ziel der konkreten Redispatchmaßnahme nicht vereinbar ist. Für nachgewiesene Erlösmöglichkeiten am Markt, die dem Netzbetreiber hierdurch entgehen, ist Entschädigung zu leisten (§ 13a Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EnWG). Damit wird erreicht, dass der Kraftwerksbetreiber insgesamt so gestellt wird wie bei einer uneingeschränkten Teilnahme am Erzeugungsmarkt. b) Vorläufige und endgültige Stilllegung Unter den Instrumenten der „Kraftwerksregulierung“ sind die Stilllegungsregelungen sicher die mit der größten Eingriffstiefe. Hierbei ist wesentlich, dass sie an die freie Entscheidung eines Anlagenbetreibers anknüpfen, der für einen Weiterbetrieb seiner Anlage vorübergehend oder auf Dauer keine Perspektive sieht und diese daher vorläufig oder endgültig stilllegen will. Der Anlagenbetreiber hat eine solche Stilllegungsabsicht für Anlagen mitit einer Nennleistung ab 10 MW mindestens ein Jahr vorher dem Übertragungsnetzbetreiber und der Bundesnetzagentur anzuzeigen (§ 13b Abs. 1 S. 1 EnWG). Der Übertragungsnetzbetreiber prüft nach Eingang der Anzeige unverzüglich, ob die Anlage systemrelevant ist. Ein zeitlich begrenztes Stilllegungsverbot besteht zunächst während des Zeitraums der Prüfung der Systemrelevanz (§ 13b Abs. 1 S. 2 EnWG). Ist die Systemrelevanz zu verneinen, ist die Stilllegung zulässig, sobald der Übertragungsnetzbetreiber dies dem Kraftwerksbetreiber mitgeteilt hat (§ 13b Abs. 1 S. 3 EnWG). Wird die Systemrelevanz bejaht, bleibt eine 44
OLG Düsseldorf, ZNER 2015, 367 (376). OLG Düsseldorf, ZNER 2015, 367 (376). 46 Daher kann auch daraus, dass für die besonderen netztechnischen Betriebsmittel, die nach § 8 Abs. 4 ResKV vom Übertragungsnetzbetreiber errichtet und betrieben werden konnten, eine Vergütung nach den Grundsätzen der Stromnetzentgeltverordnung gewährt worden wäre, nicht unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten ein Anspruch auf Eigenkapitalverzinsung für die von der geltenden Redispatchregelung betroffenen Anlagen abgeleitet werden, weil die Anlagen nach § 8 Abs. 4 ResKV dauerhaft nicht am Strommarkt eingesetzt werden durften. 45
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Stilllegung verboten, solange und soweit der Übertragungsnetzbetreiber die Anlage als systemrelevant ausweist (§ 13b Abs. 4 S. 1 und Abs. 5 S. 1 Nr. 1 EnWG), wobei die Ausweisung in Fällen endgültiger Stilllegung einer Genehmigung durch die Bundesnetzagentur bedarf (§ 13b Abs. 5 S. 1 Nr. 2 EnWG). Die Voraussetzungen für eine Bejahung der Systemrelevanz werden bei der erstmaligen Ausweisung und bei weiteren Ausweisungen für vorläufige Stilllegungen im Zwei-Jahres-Abstand (§ 13b Abs. 4 S. 2 EnWG), für endgültige Stilllegungen in angemessenem Abstand (§ 13b Abs. 5 S. 9 und 10 EnWG) überprüft. Für die Bewertung der Eingriffstiefe der Stilllegungsregelung ist der Zusammenhang mit einer ohnehin bestehenden Stilllegungsabsicht des Betreibers wesentlich, weil der Eingriff in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit damit von vornherein weniger auf die Möglichkeiten zur Teilnahme am Strommarkt als auf die nachteiligen Auswirkungen der durch das Stilllegungsverbot begründeten Verpflichtung zur weiteren Vorhaltung der Anlage zielt. Der Gesetzgeber trägt dem durch eine Ausdehnung der Vergütungspflicht Rechnung. Neben den Kosten der Herstellung der Betriebsbereitschaft, den Erzeugungsauslagen und dem anteiligen Werteverbrauch wird ein Leistungspreis für die Bereithaltung der Anlage gewährt, wobei die Kosten berücksichtigt werden, die dem Betreiber zusätzlich und fortlaufend auf Grund der Vorhaltung der Anlage für die Netzreserve nach § 13d entstehen (§ 13c Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchstabe b EnWG). Bei einer endgültigen Stilllegung ist ferner zu berücksichtigen, dass für die Dauer der Verpflichtung zum Weiterbetrieb eine anderweitige Verwendung des Anlagengrundstücks und weiterverwendbarer Anlagen oder Anlagenteile ausgeschlossen ist. Daher sieht § 13c Abs. 3 S. 1 Nr. 4 EnWG für diese Fälle eine angemessene Verzinsung auch dann vor, wenn und soweit eine verlängerte Kapitalbindung besteht. Die Erweiterung der Vergütungspflicht erhöht die Anforderungen an die gesetzgeberische Entscheidung, ob und unter welchen Bedingungen der Kraftwerksbetreiber nach dem Ende der Indienstnahme für die Sicherheit des Netzbetriebs mit seiner Anlage wieder am Strommarkt teilnehmen kann. Vor allem die Gewährung eines Entgelts für die Vorhaltung der Anlage kann zur Erstattung von Kosten führen, die in den vergangenen Jahren viele Betreiber konventioneller Kraftwerke am Strommarkt nicht erwirtschaften konnten. Bei mangelnder Wirtschaftlichkeit des Anlagenbetriebs entscheiden sich Betreiber in der Regel für eine vorläufige Stilllegung, weil sie die Option eröffnet, bei veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Betriebsbereitschaft wiederherzustellen.47 Wird eine zur vorläufigen Stilllegung vorgesehene Anlage als systemrelevant ausgewiesen, werden Anlagenbetreiber sich vielfach für eine Inanspruchnahme der vollen Vergütung nach § 13c Abs. 1 S. 1 EnWG entscheiden, weil einerseits der Weiterbetrieb der Anlage auf absehbare Zeit nicht wirtschaftlich wäre und andererseits eine vorläufige Stilllegung verboten ist. Hätte der Gesetzgeber in einem solchen Fall wegen der gezahlten Vergütungen eine Rückkehr an den Strommarkt ausgeschlossen, wäre die vom Betreiber getroffe47
BT-Drs. 18/7313, S. 92.
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ne Stilllegungsentscheidung mit Rückkehroption faktisch zu einer endgültigen Stilllegung verschärft worden.48 Andererseits erlangt der Anlagenbetreiber bei voller Inanspruchnahme der für das Stilllegungsverbot vorgesehenen Vergütung Vorteile gegenüber Mitbewerbern.49 Der Gesetzgeber hat das Problem im Strommarktgesetz 2016 mit der Einräumung eines Wahlrechts in Fällen vorläufiger Stilllegung zu lösen versucht: Entweder verzichtet der Kraftwerksbetreiber auf die Erstattung von Betriebsbereitschaftsauslagen und kann grundsätzlich ohne Einschränkungen für den Markt produzieren; das entspricht im Wesentlichen den Handlungsmöglichkeiten und Vergütungsansprüchen nach den Redispatch-Regelungen. Oder er nimmt den vollen Vergütungsanspruch nach § 13c Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EnWG in Anspruch, kann seine Anlage während der Ausweisung als systemrelevant nur zur Gewährleistung eines sicheren Netzbetriebs betreiben (§ 13c Abs. 2 S. 1) und ist bei Wegfall der Ausweisung mit der Rückkehr an den Strommarkt verpflichtet, den Restwert der erhaltenen investiven Vorteile zu erstatten (§ 13c Abs. 2 S. 2 EnWG).50 c) Netzreserve Zur Netzreserve gehören die dem Stilllegungsregime unterliegenden Anlagen (§ 13d Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 EnWG), die nach § 4 NetzResV kontrahierten Anlagen und geeignete Anlagen im europäischen Ausland (§ 13d Abs. 1 S. 2 Nr. 3 EnWG). Die Einsatzmöglichkeiten und Vergütungsansprüche bei Anlagen, die zur vorläufigen oder endgültigen Stilllegung angezeigt sind, ergeben sich aus §§ 13b und 13c EnWG. Für alle übrigen Anlagen gilt, dass sie aufgrund freier Entscheidung des Betreibers in die Netzreserve einbezogen sind.51 Es ist davon auszugehen, dass die Be48 Auch die für die Rückkehr an den Strommarkt früher geltende Frist von fünf Jahren und die im Regierungsentwurf des Strommarktgesetzes vorgesehene Frist von vier Jahren (BTDrs. 18/7313, S. 92) waren problematisch, weil angesichts der Möglichkeit einer raschen Veränderung der Marktbedingungen ihre Auswirkungen nicht verlässlich absehbar waren. 49 Neben dem Leistungspreis für die Bereithaltung der Anlage (§ 13c Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchstabe b EnWG), der am Markt nicht immer erwirtschaftet werden kann, ergibt sich ein Vorteil auch aus der Erstattung der Kosten für die Herstellung der Betriebsbereitschaft (§ 13c Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchstabe a EnWG), die der Betreiber nach vorläufiger Stilllegung bei einer Rückkehr an den Markt selbst tragen müsste. 50 Für Anlagen, die der Betreiber endgültig stilllegen will, trifft § 13c Abs. 4 EnWG eine entsprechende Regelung: Bei einem Verzicht auf die Betriebsbereitschaftsauslagen ist eine Teilnahme am Strommarkt grundsätzlich möglich. Wird die volle Vergütung geltend gemacht, darf die Anlage bis zu ihrer endgültigen Stilllegung nicht am Strommarkt teilnehmen (§ 13c Abs. 4 S. 1 EnWG). Da bei einer endgültigen Stilllegung geeignete Anlagenteile wiederverwertet werden können und durch die in Anspruch genommene volle Vergütung Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Kraftwerken entstanden sein können, ist der Restwert der erhaltenen investiven Vorteile bei wiederverwertbaren Anlagenteilen zu erstatten (§ 13c Abs. 4 S. 2 EnWG). 51 Auch Erzeugungsanlagen, die auf der Grundlage von Vereinbarungen für die Winter 2011/2012 und 2012/2013 – also vor der erstmaligen gesetzlichen Regelung einer netzbezogenen Kraftwerksreserve – herangezogen werden, stehen aufgrund freier unternehmerischer Entscheidung für Reservezwecke zur Verfügung. Die entsprechenden Vereinbarungen waren
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treiber sich angesichts der Marktverhältnisse, aber auch unter Berücksichtigung von Alter und Zustand ihrer Anlage zum Abschluss von Verträgen über die Teilnahme an der Netzreserve (§ 1 Abs. 2, § 5 NetzResV) entschlossen haben. d) Kapazitätsreserve Auch die Kapazitätsreserve, die – mit einer Reserveleistung von zunächst 2 GW – schrittweise ab dem Winterhalbjahr 2018/2019 außerhalb der Strommärkte gebildet wird (§ 13e Abs. 1 S. 2 EnWG). wird ausschließlich im Rahmen eines wettbewerblichen Ausschreibungsverfahrens oder gleichwertigen wettbewerblichen Verfahrens beschafft (§ 13e Abs. 2 EnWG). Die Beteiligung an der Kapazitätsreserve erfolgt also gleichfalls aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung des Betreibers, wobei grundsätzlich für alle Anlagen ein Vermarktungs- und Rückkehrverbot gilt (§ 13e Abs. 4 EnWG), mit Blick auf die besonderen Anforderungen an die Einspeisebereitschaft der Anlage aber weitere Kosten vergütet werden können.52 e) Besondere netztechnische Betriebsmittel Nach § 11 Abs. 3 EnWG können die Übertragungsnetzbetreiber besondere netztechnische Betriebsmittel vorhalten, um die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems bei einem tatsächlichen örtlichen Ausfall eines oder mehrerer Betriebsmittel im Übertragungsnetz wiederherzustellen. Die Abgrenzung zur Netzreserve ergibt sich vor allem daraus, dass örtliche Ausfälle des Übertragungsnetzes nicht nur zu besorgen (§ 2 Abs. 2 NetzResV), sondern tatsächlich erfolgt sein müssen und besondere netztechnische Betriebsmittel zur Wiederherstellung einer sicheren und zuverlässigen Versorgung erforderlich sind. Mit dem Betrieb dieser Betriebsmittel sind Dritte zu beauftragen, die im Wettbewerb und im Wege transparenter Verfahren beauftragt werden. f) Stilllegung von Braunkohlekraftwerken Eine Sonderstellung nehmen die Regelungen zur Stilllegung von Braunkohlekraftwerken ein (§ 13 g EnWG), die eine gesetzliche Stilllegungsanordnung enthalten, das ausdrücklich klimapolitisch motiviert ist (§ 13 g Abs. 1 S. 1 EnWG). Die Verbindung zum Ziel der Versorgungssicherheit ergibt sich erst aus der Ausgestaltung als „gestreckte Stilllegung“: Gesetzlich angeordnet wird zunächst eine vorläubereits von den Vorgaben der Reservekraftwerksverordnung ausgenommen (§ 1 Abs. 3 ResKV) und bleiben auch nach § 1 Abs. 3 NetzResV von den geltenden Regelungen freigestellt. 52 Das betrifft nach § 13e Abs. 3 S. 3 Nr. 3 und 4 EnWG zum einen die Mehrkosten der Brennstoffversorgung, die jederzeit sichergestellt sein muss, zum anderen die Kostenerstattung für die Bereitstellung von Schwarzstartfähigkeit, also der Fähigkeit zum Wiederaufbau des Netzes (BT-Drs. 18/8915, S. 33 f.).
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fige Stilllegung für die in § 13 g Abs. 1 S. 1 EnWG bezeichneten Anlagen, wobei eine endgültige Stilllegung grundsätzlich53 erst nach vier Jahren erfolgen darf und muss (§ 13 g Abs. 1 S. 2 EnWG). Für den Zeitraum zwischen vorläufiger und endgültiger Stilllegung stehen die Kraftwerke als Sicherheitsbereitschaft zur Verfügung (§ 13 g Abs. 2 EnWG), jedoch nicht als Instrument zur Gewährleistung der Netzstabilität, sondern nur zur Deckung des lebenswichtigen Bedarfs an Elektrizität in einer Versorgungskrise (§ 1 Abs. 6 EltSV). Auch der Entschädigungsumfang weicht, da es um eine direkte gesetzliche Stilllegungsanordnung geht, von den Kompensationsregelungen der eigentlichen „Kraftwerksregulierung“ ab und orientiert sich an der Höhe der Erlöse, die der Betreiber mit der stillzulegenden Anlage in den Strommärkten während der Sicherheitsbereitschaft erzielt hätte (§ 13 g Abs. 5 S. 1 EnWG). 3. Verfassungsrechtliche Fragen Mit den Regelungen zur „Kraftwerksregulierung“ werden zum einen die Möglichkeiten des Kraftwerksbetreibers eingeschränkt, die Anlage seinen unternehmerischen Zielen entsprechend einzusetzen und, soweit die Heranziehung des Kraftwerks für einen sicheren Netzbetrieb erforderlich ist, angemessen vergütet zu werden. Stellt man allein hierauf ab, liegt es nahe, die Zugriffsmöglichkeiten auf Kraftwerke an den Anforderungen zu messen, die an eine (ausgleichspflichtige) Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG)54 zu stellen sind.55 Der Zugriff auf Erzeugungsanlagen beschränkt jedoch nicht nur die Verfügungsmöglichkeiten des betroffenen Betreibers, sondern hat durch die Regelungen zur finanziellen Kompensation auch Auswirkungen auf die Wettbewerbsposition von Kraftwerksbetreibern, die am Strommarkt teilnehmen und mit den Betreibern der in die „Kraftwerksregulierung“ einbezogenen Anlagen konkurrieren. In einer Marktsituation, in der viele konventionelle Kraftwerke nur eine geringe Auslastung erreichten, hat das dazu geführt, dass Betreiber Interesse bekundet haben, gleichfalls herangezogen zu werden. Damit wurde deutlich, dass die gesetzlich vorgeschriebene „angemessene Vergütung“ zu Erlösen führen könnte, die am Markt nicht erzielbar wären.56 Der Gesetzgeber bewegt sich also im Spannungsfeld gegenläufiger Interessen, die gleichermaßen grundrechtlich geschützt sind. Art. 12 Abs. 1 GG, dessen Schutzbereich auch das Verhalten der Unternehmer im Wettbewerb umfasst57, bietet einen verfassungs53 Frühestens nach Ablauf des ersten Jahres der Sicherheitsbereitschaft ist nach § 13 g Abs. 6 EnWG eine vorzeitige endgültige Stilllegung möglich. 54 BVerfGE 58, 137 (149 f.); 79, 174 (192); 100, 226 (245 f.). 55 Möstl, in: Gundel/Lange (Hrsg.), Energieversorgung in Zeiten der Energiewende, 2015, S. 87 (97 f.) (= EnWZ 2015, 243 [246]); Schmidt-Preuß, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2016, Kap. 107 Rn. 33; Steffens, VerwArch. 105 (2014), 313 (337 ff.). 56 Hieran knüpft auch die beihilferechtliche Beurteilung der Vergütungsregelungen der „Kraftwerksregulierung“ an (hierzu Ludwigs, REE 2018, 1 [3 ff.]; Riewe, Versorgungssicherheit [Fn. 11], S. 496 ff.). 57 BVerfGE 32, 311 (317); 46, 120 (137).
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rechtlichen Prüfungsmaßstab, der diese komplexen Auswirkungen auf die Berufsausübung mehrerer Betroffenengruppen mit unterschiedlichen Interessen dadurch berücksichtigt, dass ein am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierter Ausgleich gefunden werden muss. Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung müssen durch ausreichende Gemeinwohlgründe gerechtfertigt sein58, wobei vernünftige Gründe des Allgemeinwohls ausreichen59. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass ein an diesen Anforderungen orientierter Ausgleich vor allem eine Umgestaltung der Regelungen über die finanzielle Kompensation der Indienstnahme erforderte. Auf weitere Regelungen zu den Voraussetzungen, unter denen Kraftwerke herangezogen werden können, hat er verzichtet, weil die Verwaltungspraxis für Betreibergruppen, deren Heranziehung zu erhöhter wirtschaftlicher und rechtlicher Betroffenheit führen würde, angemessene Lösungen gefunden hat. Das gilt vor allem für Betreiber industrieller Kraftwerke, bei denen das Verlangen einer geänderten Fahrweise unmittelbar auch die an das Kraftwerk gekoppelte industrielle Produktion beeinträchtigen würde. Daher werden industrielle Kraftwerke im Rahmen des Redispatch nicht herangezogen.60 Die Kraftwerke, die am Redispatch teilnehmen, produzieren in der Regel für den Strommarkt; über ihren Einsatz entscheiden die Betreiber unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten und unterwerfen sich hierbei festen Kriterien für die Einsatzreihenfolge ihrer Anlagen. Für diese Betroffenengruppe steht im Vordergrund weniger die Einschränkung der Verfügungsbefugnis als die Frage, ob die Indienstnahme der Anlage mit der hierfür gewährten finanziellen Kompensation zu einem wirtschaftlichen Ergebnis führt, das dem marktorientierten Einsatz der Anlage gleichkommt. Bei der Umgestaltung des Instrumentariums der „Kraftwerksregulierung“ durch das Strommarktgesetz stand dementsprechend das Ziel im Vordergrund, die finanzielle Kompensation für die Heranziehung von Anlagen zu verbessern, hierbei aber zu vermeiden, dass die betroffenen Anlagen besser gestellt werden als konkurrierende Anlagen, die nur für den Markt produzieren. Mit der Entschädigung für den anteiligen Werteverzehr und in Stilllegungsfällen der Gewährung eines Leistungspreises für die Vorhaltung der Anlage löst sich die Kompensationsregelung vom Grundsatz bloßer Kostenerstattung und bezieht wesentliche Elemente einer marktorientierten Vergütung ein. Das gilt auch für die Anerkennung von entgangenen Erlösmöglichkeiten. Damit bildet die Kompensationsregelung die Kosten ab, die mit der Anlage am Markt hätten erwirtschaftet werden können. Hieraus ergibt sich zugleich die Rechtfertigung für 58
BVerfGE 94, 372 (390); 101, 331 (347); 121, 317 (346); 125, 260 (360). BVerfGE 81, 156 (189); 125, 260 (360). 60 BNetzA, Festlegung wegen der Standardisierung vertraglicher Rahmenbedingungen für Eingriffsmöglichkeiten der Übertragungsnetzbetreiber in die Fahrweise von Erzeugungsanlagen –BK6 – 11 – 098–, v. 30. 10. 2012, S. 3 f. (Tenorziffer 3), 42; König, in: Säcker (Fn. 12), § 13 EnWG Rn. 33; Möstl, in: Gundel/Lange, Energieversorgung in Zeiten der Energiewende (Fn. 55), S. 87 (96 f.). – Die Festlegung ist durch das OLG Düsseldorf, 28. 4. 2015 –VI-3 Kart 357/12 (V)– aufgehoben worden, wobei die Regelung zu industriellen Kraftwerken nicht beanstandet worden ist (S. 41 f., 49 ff. d. Ausf.); die Festlegung ist insgesamt aufgehoben worden, weil sie inhaltlich nicht teilbar ist (S. 28 d. Ausf.). 59
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den Verzicht auf eine Eigenkapitalverzinsung. In einer Marktsituation, in der zahlreiche konventionelle Kraftwerke nicht in der Lage sind, ihre Vollkosten zu erwirtschaften, wäre die pauschale Berücksichtigung der vollen Eigenkapitalverzinsung bei der Heranziehung einer Anlage eine sachlich nicht gerechtfertigte Bevorzugung. Darüber hinaus enthält die Kompensationsregelung auch Elemente, mit denen die Interessenlage bei einer veränderten Marktsituation berücksichtigt wird. Bei steigenden Marktpreisen würden die Erlösmöglichkeiten am Strommarkt zunehmen und die Stilllegungen von Kraftwerken zurückgehen; hinzu kommt, dass mit fortschreitendem Netzausbau Zahl und Dauer der Engpasssituationen und damit auch der Indienstnahme von Kraftwerken tendenziell abnehmen werden. Unter solchen Bedingungen kann es bei einer Indienstnahme von Anlagen vorteilhaft sein, ungehindert an den Strommarkt zurückkehren zu können; in Stilllegungsfällen wird dies durch das Wahlrecht bei der Inanspruchnahme eines Leistungspreises für die Vorhaltung der Anlage erleichtert. Insgesamt bietet die durch das Strommarktgesetz erweiterte und zugleich stärker differenzierende Kompensationsregelung ein abgestuftes Instrumentarium, das durch eine angemessene Vergütung für die herangezogenen Kraftwerke und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten konkurrierender Anlagen den durch Art. 12 Abs. 1 GG gebotenen Ausgleich gewährleistet. IV. Die Indienstnahme von Erzeugungsanlagen als regulatorische Aufgabe 1. Beleihung oder Indienstnahme? Die Heranziehung von Kraftwerken zur Gewährleistung der Netzstabilität erfolgt durch den Übertragungsnetzbetreiber: Er kann die Änderung der Fahrweise von Kraftwerken verlangen (§ 13a Abs. 1 S. 1 EnWG), die Zulässigkeit einer Stilllegung hängt davon ab, ob er eine Anlage als systemrelevant ausweist (§ 13b Abs. 4 S. 1 und Abs. 5 S. 1 Nr. 1 EnWG), und schließlich erfolgt auch die Vergütung für die Inpflichtnahme im Verhältnis zwischen Netz- und Kraftwerksbetreiber. Hieraus ist gefolgert worden, die Übertragungsnetzbetreiber nähmen damit Hoheitsbefugnisse wahr, für die es aber an dem erforderlichen gesetzlichen Beleihungstatbestand und der gebotenen Intensität der staatlichen Aufsicht fehle.61 Der Gesetzgeber hat ersichtlich eine andere Rollenverteilung beabsichtigt, indem er die Gewährleistung der Netzstabilität als Aufgabe ausgestaltet hat, die in der Verantwortung der Netzbetreiber, aber nach Maßgabe hoheitlicher Vorgaben wahrzunehmen ist (§§ 11, 13 ff. EnWG). Dass die Verantwortung für die Sicherheit des Netzbetriebs privaten Unter61 Wolfers/Wollenschläger, N&R 2013, 251 (253 f., 256); in Betracht gezogen, im Ergebnis aber abgelehnt wird eine Beleihung von Fehling, Die Verwaltung 47 (2014), 313 (341); Möstl, in: Gundel/Lange, Energieversorgung in Zeiten der Energiewende (Fn. 55), S. 87 (98); Ruttloff, NVwZ 2015, 1086 (1089).
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nehmen zugewiesen wird, hält sich im Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Indienstnahme Privater62 zur Sicherstellung auch von Belangen mit (unumstritten) hohem Gemeinwohlrang wie der Versorgungssicherheit. Bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung handelt der Netzbetreiber gegenüber den anderen Marktakteuren – Abnehmern, Stromhändlern, Betreibern von Erzeugungsanlagen und Speichern oder Anbietern von ab- und zuschaltbaren Lasten – nicht hoheitlich, sondern insgesamt in privatrechtlichen Formen. Für die Instrumente der Kraftwerksregulierung wird das ersichtlich vorausgesetzt63 oder ausdrücklich angeordnet (§ 13d Abs. 3 EnWG, § 1 Abs. 2 NetzResV). 2. Systemverantwortung der Übertragungsnetzbetreiber Ausgangspunkt der regulatorischen Verantwortung für die Systemsicherheit des Netzes ist die Verpflichtung der Netzbetreiber, ein sicheres, zuverlässiges und leistungsfähiges Energieversorgungsnetz zu betreiben (§ 11 Abs. 1 S. 1 EnWG). Diese Verpflichtung wird für die Übertragungsnetzebene in zwei Stufen konkretisiert64 : § 12 EnWG umschreibt zunächst die Aufgaben der Übertragungsnetzbetreiber im „Normalbetrieb“, also bei einem im Wesentlichen störungsfreien Zustand des Netzes. Die Verpflichtung, dauerhaft die Fähigkeit des Netzes sicherzustellen, die Nachfrage nach Übertragung von Elektrizität zu befriedigen und insbesondere durch entsprechende Übertragungskapazität und Zuverlässigkeit des Netzes zur Versorgungssicherheit beizutragen (§ 12 Abs. 3 S. 1 EnWG), ist Anknüpfungspunkt der energiewirtschaftlichen Bedarfsplanung (§§ 12a ff. EnWG). § 13 EnWG konkretisiert die Verpflichtung zum Betrieb eines sicheren Netzes bei Gefährdung der Sicherheit oder Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems in der jeweiligen Regelzone (§ 13 Abs. 4 EnWG). Zur Wahrnehmung dieser Systemverantwortung des Übertragungsnetzbetreibers ist ein abgestuftes Instrumentarium vorgesehen, das von netzbezogenen Maßnahmen über marktbezogene Maßnahmen – vor allem die Handlungsmöglichkeiten der „Kraftwerksregulierung“ – bis hin zu der Befugnis nach § 13 Abs. 2 EnWG reicht, sämtliche Stromeinspeisungen, Stromtransite und Stromabnahmen den Erfordernissen eines sicheren und zuverlässigen Betriebs des Übertragungsnetzes anzupassen65.
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BVerfGE 125, 260 (361). BT-Drs. 17/6072, S. 71. – König, in: Säcker (Fn. 12), § 13 EnWG Rn. 30; Sötebier, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 12), § 13 Rn. 35 ff. 64 Tschida, Die Systemverantwortung der Netzbetreiber, 2016, S. 77 ff., 96 ff.; König, Engpassmanagement (Fn. 11), S. 408 ff.; Sötebier, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 12), § 13 Rn. 1 ff.; Tüngler, in: Kment (Hrsg.), EnWG (2015) § 12 Rn. 3. 65 Riewe, Versorgungssicherheit (Fn. 11), S. 348 ff. 63
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3. Regulierungsverfahren im Dreiecksverhältnis von Netzbetreiber, Kraftwerksbetreiber und Regulierungsbehörde Die Zuweisung der Verantwortung für die Sicherheit des Netzbetriebs in Engpassoder anderen Gefährdungssituationen an den Übertragungsnetzbetreiber trägt dem Umstand Rechnung, dass nur dieser in der Lage ist, kurzfristig und unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf den gesamten Netzbetrieb die im Einzelfall erforderlichen Entscheidungen zu treffen66. Die Anwendung der Instrumente zur Gewährleistung der Systemsicherheit orientiert sich jedoch an vielfältigen hoheitlichen Vorgaben. Diese Steuerung ist geboten, weil es sich bei der Versorgungssicherheit um einen Gemeinwohlbelang von besonderem Gewicht handelt, aber auch deshalb, weil die Handlungsmöglichkeiten zur Wahrnehmung seiner Systemverantwortung den Übertragungsnetzbetreiber in die Lage versetzen, in privatrechtlicher Form in den Rechtskreis anderer Marktakteure einzugreifen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Intensität der hoheitlichen Vorgaben abgestuft: Präventiver behördlicher Kontrolle im Einzelfall unterliegt angesichts seiner erheblichen Eingriffstiefe das Verbot der endgültigen Stilllegung einer Erzeugungsanlage (§ 13b Abs. 5 S. 1 Nr. 2 EnWG). Hauptsächliches Instrument zur Gewährleistung einer einheitlichen und sachgerechten Anwendung der Instrumente der „Kraftwerksregulierung“ sind jedoch Festlegungen, für die § 13j EnWG einen ausgedehnten Ermächtigungskatalog enthält. Für die Heranziehung zum Redispatch kann die Regulierungsbehörde danach normergänzende Festlegungen zum Adressatenkreis und zu den technischen Anforderungen an die betroffenen Anlagen sowie zu Methodik und Datenformat der Anforderung durch den Übertragungsnetzbetreiber treffen (§ 13j Abs. 1 S. 1 EnWG). Hieraus ergibt sich eine umfassende Befugnis der Behörde zur Konkretisierung der Voraussetzungen, unter denen der Übertragungsnetzbetreiber Kraftwerke zum Redispatch heranziehen kann. Das gilt insbesondere für die Frage, welche Anlagen und in welcher Reihenfolge diese durch eine am Maßstab der Erforderlichkeit orientierte Auswahl der Maßnahmen herangezogen werden können.67 Die Bundesnetzagentur hat hierzu festgelegt, dass bestimmte Gruppen von Kraftwerken vom Redispatch ausgenommen sind und vorrangig Anlagen mit einer hohen netzphysikalischen Wirkung herangezogen werden sollen, um den Eingriff in die Fahrweise der Kraftwerke möglichst gering zu halten.68 Die Festlegungsermächtigungen zu den Voraussetzungen für die Heranziehung von Anlagen betreffen die Entscheidungssphäre des Übertragungsnetzbetreibers. Insoweit bleibt es bei dem Grundsatz, dass Adressat von Entscheidungen der Regulierungsbehörde der Netzbetreiber ist, der seine gesetzliche Systemver66
Sötebier, in: Britz/Hellermann/Hermes (Fn. 12), § 13 Rn. 2. BT-Drs. 17/6072, S. 71. 68 BNetzA, Festlegung wegen der Standardisierung vertraglicher Rahmenbedingungen für (Fn. 60), S. 4 (Tenorziffer 4), 43 ff.; hierzu König, in: Säcker (Fn. 12), § 13 EnWG Rn. 43 ff. – Die Festlegung ist durch das OLG Düsseldorf, 28. 4. 2015 –VI-3 Kart 357/12 (V)– aufgehoben worden; die Regelungen zur Einsatzreihenfolge sind dabei nicht beanstandet worden (S. 42 ff., 51 ff. d. Ausf.). Die Festlegung ist insgesamt aufgehoben worden, weil sie inhaltlich nicht teilbar ist (S. 28 d. Ausf.). 67
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antwortung und ergänzende behördliche Vorgaben gegenüber anderen Marktakteuren in privatrechtlicher Form durchsetzen kann, ohne dass der Dritte durch Entscheidungen der Regulierungsbehörde unmittelbar rechtlich betroffen ist. Hieraus folgt, dass Kraftwerksbetreiber in den Regulierungsverfahren nicht notwendig beizuladen sind, sondern dass über ihre Beteiligung im Rahmen des durch § 66 Abs. 2 Nr. 3 EnWG eingeräumten Ermessens zu entscheiden ist. Erfolgt keine Beiladung, ist damit grundsätzlich69 auch die Beschwerdebefugnis ausgeschlossen (§ 75 Abs. 2 EnWG).70 Teilweise modifiziert werden diese Grundsätze im Zusammenhang mit Festlegungen zur Konkretisierung der gesetzlichen Vergütungsregelungen beim Redispatch (§ 13j Abs. 1 S. 2 EnWG). In diesen Fällen sind nähere Informationen zu den Grundlagen des Vergütungsanspruchs nicht beim Netz-, sondern beim Kraftwerksbetreiber vorhanden. Der Gesetzgeber hat daher die Rollenverteilung der klassischen regulatorischen Kostenkontrolle dadurch modifiziert, dass die Regulierungsbehörde die für vergütungsbezogene Festlegungen und für die Prüfung der angemessenen Vergütung notwendigen Kostendaten einschließlich etwaiger Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse unmittelbar bei den Kraftwerksbetreibern erheben kann (§ 13j Abs. 1 S. 3 EnWG). Umfang, Zeitpunkt und Form der Daten und ihrer Übertragung können durch Festlegung gegenüber den auskunftspflichtigen Kraftwerksbetreibern geregelt werden (§ 13j Abs. 1 S. 5 EnWG); insoweit wird der Adressatenkreis für Festlegungen nach § 29 Abs. 1 EnWG erweitert. Daran, dass auch die Vergütung im Privatrechtsverhältnis zwischen Netz- und Kraftwerksbetreiber abgewickelt wird, ändert sich damit allerdings nichts. Die vergütungsbezogenen Auskunftsrechte der Regulierungsbehörde sind darauf gerichtet, die Informationsgrundlagen sowohl für einzelfallübergreifende Vorgaben durch Festlegung als auch für eine wirksame Kostenkontrolle im Einzelfall zu schaffen. Dem Netzbetreiber werden die hierauf gestützten Erkenntnisse der Behörde vor allem dadurch vermittelt, dass der Umfang der Vergütung in der vertraglichen Vereinbarung mit dem Kraftwerksbetreiber „nach Abstimmung mit der Bundesnetzagentur“ festgelegt wird (§ 6 Abs. 2 S. 1 NetzResV). Die Abstimmung mit dem Netzbetreiber ist nicht als bestandskraftfähige Entscheidung der Regulierungsbehörde ausgestaltet; Zweck der Abstimmung ist vielmehr, dem Netzbetreiber vor einer vertraglichen Bindung im Verhältnis zum Kraftwerksbetreiber informell zu verdeutlichen, in welcher Höhe er mit einer Anerkennung im Rahmen der regulatorischen Kostenkontrolle rechnen kann. Verbindlich entscheidet die Behörde über die Höhe der regulatorisch anerkannten Kosten durch die Festlegung zu einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Über-
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Eine Beschwerdebefugnis aus Gleichbehandlungsgründen kann bestehen, wenn eine Beteiligung im behördlichen Verfahren aus Zweckmäßigkeitsgründen unterblieben ist (BGHZ 169, 370 Rn. 18 ff.; BGH RdE 2009, 185 Rn. 14). 70 Das gilt nicht nur für die Anfechtungs-, sondern auch für die Feststellungsbeschwerde, weil es an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis zwischen dem Kraftwerksbetreiber und der Regulierungsbehörde fehlt.
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tragungsnetzbetreiber71 (§ 13c Abs. 5 EnWG, § 6 Abs. 2 S. 2 NetzResV). Unmittelbare Beteiligungs- und Rechtsschutzmöglichkeiten in den regulatorischen Verfahren haben die Kraftwerksbetreiber danach nur, wenn sie Adressat von Entscheidungen der Behörde im Rahmen der vergütungsbezogenen Datenerhebung sind. Über die Höhe des Vergütungsanspruchs des Kraftwerksbetreibers wird hingegen im privatrechtlichen Schuldverhältnis zum Netzbetreiber entschieden. Vor allem der durch die Abstimmungspflicht zwischen Behörde und Netzbetreiber gewährleistete Informationstransfer über die behördlichen Schlussfolgerungen aus der Erhebung der Kostendaten beim Kraftwerksbetreiber zeigt, dass der Gesetzgeber an der Trennung der Rechtsverhältnisse zwischen der Behörde und dem Netzbetreiber als alleinigem Adressaten regulatorischer Entscheidungen sowie zwischen dem Netz- und dem Kraftwerksbetreiber festhalten wollte. Unmittelbare Beteiligungs- und Rechtsschutzmöglichkeiten des Kraftwerksbetreibers in den Verfahren zur regulatorischen Anerkennung von Vergütungszahlungen bestehen danach grundsätzlich nicht.72 V. Perspektiven der „Kraftwerksregulierung“ Nachdem zunächst die klassischen regulatorischen Aufgaben des Netzzugangs und der Entgeltkontrolle im Vordergrund standen (und auf Dauer Kernaufgaben bleiben), erhält die Energieregulierung mit der umfassenden Ausformung der Instrumentarien zur Gewährleistung eines sicheren Netzbetriebs seit 2011 teilweise den Charakter einer „Infrastrukturaufsicht“73. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Zuweisung flankierender nichtregulatorischer Aufgaben, vor allem bei der Planung des Übertragungsnetzausbaus, an die Bundesnetzagentur. Es geht hierbei einerseits nicht um kurzfristige Aufgaben, weil sie den länger angelegten Prozess der Anpassung des Netzes an eine neue Erzeugungsstruktur begleiten. In diesem Prozess fordern die Beteiligten zu Recht eine Verstetigung der Rahmenbedingungen der Energiewende. Andererseits muss man sich bewusst sein, dass es um eine Verlagerung des Schwerpunkts regulatorischer Aufgaben geht, die aus der besonderen Situation der Energiewende resultiert und daher zwar für einen längeren Übergangszeitraum, aber nicht auf Dauer erforderlich sein wird. Da in der Bedarfsplanung Maßstab für die Erforderlichkeit von Netzausbaumaßnahmen ein sicherer Netzbetrieb „ohne Redispatch“ ist, wird auch die Einflussnahme auf den Kraftwerkssektor mit der Realisierung des Netzausbaus an Bedeutung verlieren. Damit werden auch die ordnungspolitischen Bedenken gegen den regulatorischen Zugriff auf den grundsätzlich wettbewerbsof71 Zum Instrument der freiwilligen Selbstverpflichtung Meyer/Paulus, in: Holznagel/ Schütz (Hrsg.), ARegV, 2013, § 11 Rn. 97 ff.; Weyer, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Regulierung in der Energiewirtschaft (Fn. 55), Kap. 82, Rn. 40 ff. 72 Eine Ausnahme gilt für die Sicherheitsbereitschaft; die Vergütung wird hier von der Bundesnetzagentur mit privatrechtsgestaltender Wirkung für das Rechtsverhältnis zwischen Kraftwerks- und Netzbetreiber festgesetzt (§ 13 g Abs. 7 S. 1 und 2 EnWG). 73 Hierzu auch Franke, in: Holznagel (Hrsg.), 20 Jahre Verantwortung für Netze, 2018, S. 105 (121 ff.).
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fenen Erzeugungssektor relativiert. Dass der Gesetzgeber sie ernstnimmt, zeigt vor allem das Bemühen um wirksame Vorsorge gegen Wettbewerbsverzerrungen zwischen den in die Reservesysteme einbezogenen und den für den Markt produzierenden Kraftwerken.
Neues zur Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Anlagenzulassung im Immissionsschutzrecht Von Hans D. Jarass, Münster I. Spätestens seit dem Störfall in Seveso ist klar, dass zur Vermeidung von Störfällen (und zudem zur Begrenzung ihrer Auswirkungen) spezifische Regelungen erforderlich sind. Im EU-Recht werden die Störfälle als schwere Unfälle bezeichnet. Dem entsprechend finden sich dazu sowohl im deutschen Recht wie im EU-Recht umfangreiche Vorgaben. Dabei verlangt das EU-Recht bei der Zulassung der Errichtung wie der wesentlichen Änderung störfallträchtiger Vorhaben generell eine Öffentlichkeitsbeteiligung. Dem ist das deutsche Recht bis in die jüngste Zeit nicht gerecht geworden. Erst durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2012/18/EU zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen1 wurde dem durch die Änderung zahlreicher Vorschriften und die Einfügung neuer Vorschriften im Bundes-Immissionsschutzgesetz Rechnung getragen. Die Regelungen des BundesImmissionsschutzgesetzes knüpfen dabei nicht wie das EU-Recht, unmittelbar am sog. Betriebsbereich an, sondern an den Anlagen, die einen Betriebsbereich bilden oder Bestandteil eines solchen Bereichs sind.2 Der Betriebsbereich ist gem. § 3 Abs. 5a der gesamte unter der Aufsicht eines Betreibers stehende Bereich, in dem bestimmte gefährliche Stoffe in bestimmten Mengen vorhanden sind oder entstehen können.3 Meist umfasst er eine Vielzahl genehmigungsbedürftiger und nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen. Diese Betriebsbereichsanlagen kann man als „Störfallanlagen“ kennzeichnen.4 Die Umsetzung der Vorgaben zur Öffentlichkeitsbeteiligung bei Störfallanlagen erfolgt im deutschen Recht, dessen Systematik entsprechend, getrennt für genehmigungsbedürftige Anlagen (dazu unten II.–IV.) und für nicht genehmigungsbedürftige Anlagen (dazu unten V., VI.). Die weitere Verpflichtung in Art.15 RL 2012/18 zur Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Zulassung von Vorhaben, die keine Störfall1
Vom 30. 11. 2016 (BGBl. I, S. 2749). Etwa in § 15 Abs. 2a BImSchG, in § 16a BImSchG, in § 17 Abs. 4, in § 19 Abs. 4 BImSchG, in § 20 Abs. 1a, in § 23a Abs. 1 BImSchG, in § 23b Abs. 1 BImSchG, in § 23c, in § 25 Abs. 1a, in § 25a und in § 31 Abs. 2a BImSchG. 3 Näher dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 3 Rn. 6 ff. Um welche Stoffe es sich handelt und in welchen Mengen sie vorhanden sein müssen, ergibt sich aus dem Anhang I der Richtlinie 2012/18/EU. 4 Dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 3 Rn. 95. 2
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anlagen sind, sich aber in der Nachbarschaft von solchen Anlagen befinden, wird hingegen nicht im Bundes-Immissionsschutzgesetz geregelt.5 II. 1. Die Probleme im Hinblick auf die Genehmigung der Änderung genehmigungsbedürftiger Störfallanlagen ergaben sich aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber zwar in § 3 Abs. 5c BImSchG den Begriff des „angemessenen Sicherheitsabstands“ legal definiert hat. Doch geht es dabei nur um die Verwendung dieses Begriffs im Bundes-Immissionsschutzgesetz. Der Begriff wird dort durchweg für verfahrensrechtliche bzw. instrumentelle Regelungen benutzt, etwa in § 16a BImSchG, in § 19 Abs. 4 BImSchG und in § 23b BImSchG. Das erklärt, warum der Begriff gem. § 3 Abs. 5c S. 2 BImSchG ausdrücklich auf die störfallspezifischen Faktoren beschränkt wird. Dazu zählen die Faktoren, die mit dem Betriebsbereich und der Störfallanlage zusammenhängen, aber auch die Eigenheiten der betroffenen Anlagen und Bereiche in der Nachbarschaft, soweit sie für die Gefährdungslage relevant sind. Zudem dürften auch Schutzmaßnahmen an den betreffenden Objekten erfasst sein, ist doch der angemessene Sicherheitsabstand auf die Schutzobjekte des § 3 Abs. 5d BImSchG zu beziehen.6 Für die materielle Festlegung des angemessenen Sicherheitsabstands können nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs auch sozioökonomische Faktoren, also Belange sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Art, bedeutsam sein,7 Belange, die unter bestimmten Voraussetzungen eine Reduzierung des angemessenen Sicherheitsabstands rechtfertigen können. Dagegen kommt es für den angemessenen Sicherheitsabstand i.S.d. Bundes-Immissionsschutzgesetzes nicht auf soziökonomische Faktoren, sondern allein auf störfallspezifische Faktoren an, wie § 3 Abs. 5c S. 2 BImSchG ausdrücklich festhält. Die Festlegung des angemessenen Sicherheitsabstand im materiellen Sinn bleibt außen vor und wird in Anlehnung an die Rechtsprechung den allgemeinen Vorgaben des Bauplanungsrechts zur Zulassung von Vorhaben (v. a. § 34 Abs. 1 BauGB) überlassen, um insb. bei bestehenden Störfallanlagen das strenge Durchsetzungsregime des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zu vermeiden.8 Normativ wurde das zudem dadurch klargestellt, dass die Einhaltung des angemessenen Sicherheitsabstands 5 Insoweit kommen vereinzelt andere bundesrechtliche Vorschriften zur Anwendung, wie § 8 UVPG, v. a. aber landesrechtliche Vorgaben zum Baugenehmigungsverfahren; vgl. auch § 70 MBO; Uechtritz, DVBl 2017, 659. 6 Fachkommission Städtebau der Bauministerkonferenz, Berücksichtigung des Art. 12 Seveso-II-Richtlinie im baurechtlichen Genehmigungsverfahren, 2015, S. 7; wohl a.A. Wasielewski, UPR 2017, 7. 7 BVerwGE 145, 290 Rn. 35 im Anschluss an EuGH, C-53/10, Slg. 2011, I-8311 Rn. 44. 8 Farsbotter/Weise, I+E 2017, 56; Wiese, I+E 2017, 11. Dafür mag man anführen, dass der ausreichende Schutz für bestehende Anlagen in der Tat angesichts der jahrelangen Untätigkeit in Fragen des Störfallabstands ein gewichtiges Anliegen ist.
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nach der neuen Regelung des § 3 Abs. 5 der 12. BImSchV keine Betreiberpflicht darstellt.9 Im Bereich der immissionsschutzrechtlichen Änderungsgenehmigung führt das zu Schwierigkeiten, weil eine solche Genehmigung allein bei Auswirkungen der Änderung auf die Voraussetzungen der Nr. 1 des § 6 Abs. 1 BImSchG vorgesehen ist, nicht hingegen bei Auswirkungen auf die Voraussetzungen der Nr. 2 des § 6 Abs. 1 BImSchG, denen die bauplanungsrechtlichen Anforderungen zuzurechnen sind. Wenn aber der materielle angemessene Sicherheitsabstand im Bauplanungsrecht verankert ist, dann fällt er unter § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG, mit der Folge, dass eine Änderung einer genehmigungsbedürftigen Anlage, die zu einer Reduzierung des angemessenen Sicherheitsabstands führt, keine Änderung i.S.d. § 16 BImSchG darstellt und daher keines immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens bedarf. Die dadurch entstehende Lücke, die mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist, wurde durch die neue Vorschrift des § 16a BImSchG geschlossen, die in solchen Fällen eine Änderungsgenehmigung mit Öffentlichkeitsbeteiligung verlangt. 2. Der Anwendungsbereich des § 16a BImSchG setzt die Änderung einer genehmigungsbedürftigen Störfallanlage voraus, die nicht bereits unter § 16 BImSchG fällt. Die Änderung muss störfallrelevant i.S.d. § 3 Abs. 5b BImSchG sein. Es muss die Möglichkeit bestehen, dass sich durch die Änderung erhebliche Auswirkungen auf die Gefahren schwerer Unfälle (dazu) ergeben oder die Klasse des Betriebsbereichs geändert wird. Ausdrücklich erfasst wird auch der Fall, dass ein Betriebsbereich der oberen Klasse zu einem der unteren Klasse wird.10 Generell dürfte es für die Störfallrelevanz nicht darauf ankommen, ob die Auswirkungen positiver oder negativer Art sind.11 Weiter muss die Änderung dazu führen, dass der angemessene Sicherheitsabstand nicht gewahrt wird oder es zu einer erheblichen Gefahrenerhöhung kommt. Die beiden Faktoren bilden das Gegenstück zur Wesentlichkeit der Änderung in § 16 Abs. 1 BImSchG, weshalb auf diese Regelung nicht zusätzlich zurückgegriffen werden kann, insb. nicht auf § 16 Abs. 1 S. 2 BImSchG. Auf dieser Stufe werden generell nur Fälle der Zunahme der Gefährdung erfasst.12 Was die erste Alternative angeht, so muss durch die Änderung der angemessene Sicherheitsabstand zu benachbarten Schutzobjekten erstmalig unterschritten oder der bereits unterschrittene Abstand räumlich noch weiter unterschritten werden. Mit angemessenem Sicherheitsabstand ist der Abstand des § 3 Abs. 5c BImSchG gemeint, nicht der ggf. weniger strenge Sicherheitsabstand des Art. 13 Abs. 2 RL 2012/ 18. Für den Sicherheitsabstand des § 3 Abs. 5c BImSchG sind allein störfallspezifi9
Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 6 Rn. 31. Schulte/Michalk, in: Giesberts/Reinhardt (Hrsg.), Umweltrecht, Stand 2017, § 3 Rn. 91a; krit. Schmidt/Becker, Immissionsschutz 2016, 64. 11 Darauf kommt es erst an, wenn es um die Genehmigungsbedürftigkeit geht. 12 Krit. Storost, in: Ule/Laubinger (Hrsg.), BImSchG, Stand 2017, § 16a Rn. C16. 10
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sche Faktoren relevant, nicht hingegen sozioökonomische Faktoren.13 Zudem geht es dabei (allein) um die Wirkungen auf die benachbarten Schutzobjekte des § 3 Abs. 5d BImSchG. Weiter greift die Genehmigungspflicht, wenn die Änderung eine erhebliche Gefahrenerhöhung im Hinblick auf schwere Unfälle bewirkt. Durch diese erst im Gesetzgebungsverfahren eingefügte Alternative soll den EU-rechtlichen Voraussetzungen Rechnung getragen werden.14 Dafür genügt es gem. Art. 15 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 11 RL 2012/18, wenn sich erhebliche Auswirkungen auf die Gefahren schwerer Unfälle ergeben „könnten“, zumal es um die Frage der Genehmigungsbedürftigkeit (und nicht die der Genehmigungsfähigkeit) geht; notwendig sind aber hinreichende Anhaltspunkte.15 In Betracht kommt das etwa bei einer deutlichen Erhöhung der Mengen gefährlicher Stoffe,16 weiter beim Einsatz eines neuen problematischen Stoffes, bei der Erhöhung der Durchflussmengen oder der Betriebsparameter für Druck und Temperatur sowie bei einer Verlagerung der sicherheitsrelevanten Anlagen in Richtung Schutzobjekt.17 Schließlich wird auch diese Alternative auf die Schutzobjekte des § 3 Abs. 5d BImSchG beschränkt,18 obgleich das dem Wortlaut des § 16a Abs. 2 S. 1 BImSchG (und des Art. 15 Abs. 1 i.V.m. Art. 11 RL 2012/ 18) nicht zu entnehmen ist. Die Genehmigungspflicht entfällt gem. § 16a S. 2 BImSchG, wenn bereits auf der Ebene einer raumbedeutsamen Planung oder Maßnahme dem Abstandsgebot durch verbindliche Vorgaben Rechnung getragen wurde.19 Das kann durch Planungen und Maßnahmen für Betriebsbereiche oder für Schutzobjekte geschehen sein,20 etwa durch im Hinblick auf das Vorhaben ausreichend konkrete Bebauungspläne oder Planfeststellungen, nicht aber durch Flächennutzungspläne.21 Voraussetzung ist, dass es dabei zu einer vollständigen Konfliktbewältigung im Hinblick auf schwere Unfälle gekommen ist.22 Unklar ist, ob die Regelung des § 16a S. 2 BImSchG auch für die Alternative der Gefahrenerhöhung gilt.23
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Dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 3 Rn. 106. BT-Drs. 18/9417, S. 49. 15 Vgl. Czajka, in: Feldhaus (Hrsg.), BImSchG, Stand 2017, § 16a Rn. 8; zu eng Büge/ Ziegler, in: Giesberts/Reinhardt (Hrsg.), Umweltrecht, Stand 2017, § 16a Rn. 20. 16 Uechtritz, DVBl 2017, 663. 17 Wiese, I+E 2017, 14. 18 BT-Drs. 18/9417, S. 50. 19 BT-Drs. 18/9417, S. 27. 20 BT-Drs. 18/9417, S. 41. 21 BT-Drs. 18/9417, S. 41. 22 Storost, in: Ule/Laubinger (Hrsg.), BImSchG, Stand 2017, § 16a Rn. C21. Zur vollständigen Konfliktbewältigung vgl. Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 50 Rn. 28. 23 Dafür Czajka, in: Feldhaus (Hrsg.), BImSchG, Stand 2017, § 16a Rn. 17. 14
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Zudem dürfte in Anlehnung an § 16 Abs. 5 BImSchG eine Genehmigung beim bloßen Ersatz bzw. Austausch von Anlagen und Anlagenteilen nicht erforderlich sein.24 Die Rechtslage ist allerdings unsicher. 3. § 16a BImSchG erweitert, wie dargelegt, die Genehmigungspflicht nach § 16 BImSchG, schafft einen „Auffangtatbestand“ für die Fälle störfallrelevanter Änderungen, die von § 16 BImSchG nicht erfasst werden.25 Liegen die Voraussetzungen des § 16a BImSchG vor, dürften daher für die Erteilung der Genehmigung die gleichen Vorgaben wie im Bereich des § 16 BImSchG gelten, unter Beachtung der EUrechtlichen Anforderungen. Die Erteilung der Genehmigung setzt, wie im Bereich des § 16 nicht nur voraus, dass die Anforderungen des § 6 Abs. 1 BImSchG beachtet werden, sondern auch die des § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG.26 Auch ist nicht nur die Einhaltung von Vorschriften zu prüfen, die schwere Unfälle betreffen. Vielmehr umfasst der Prüfungsmaßstab, § 6 Abs. 1 BImSchG entsprechend, alle öffentlich-rechtlichen Vorschriften, wie das in § 23b Abs. 1 S. 4 BImSchG für das Pendant der nicht genehmigungsbedürftigen Störfallanlagen ausdrücklich vorgesehen ist. III. Probleme bereitete weiter der Umstand, dass die Ersterrichtung einer genehmigungsbedürftigen Anlage wie deren Änderungen auf der Grundlage des § 19 BImSchG in den im Anhang zur 4.Bundes-Immissionsschutzverordnung mit dem Buchstaben „V“ gekennzeichneten Fällen nur einem vereinfachten Genehmigungsverfahren ohne Öffentlichkeitsbeteiligung unterliegt. Um diese Konsequenz für die Störfallanlagen zu vermeiden, schließt die neue Regelung des § 19 Abs. 4 S. 1 BImSchG das vereinfachte Verfahren bei Störfallanlagen generell aus. Sie betrifft Neugenehmigungen gem. § 4 BImSchG und Änderungsgenehmigungen nach § 16 BImSchG sowie nach § 16a BImSchG. Die Voraussetzungen für die Anwendung des § 19 Abs. 4 BImSchG sind wie bei § 16a BImSchG die Störfallrelevanz der Errichtung bzw. Änderung und die Unterschreitung des angemessenen Sicherheitsabstands bzw. eine erhebliche Gefahrenerhöhung. Wenig glücklich ist der Hinweis auf den „Betrieb“, der sich auch in § 23a BImSchG und § 23b BImSchG findet. Der Betriebsbezug gilt auch für die Änderungsgenehmigung. Das Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung weicht im Bereich des § 19 Abs. 4 BImSchG etwas von dem im BImSchG üblichen Verfahren ab. Ein Erörterungstermin findet generell nicht statt. Weiter wird durch § 19 Abs. 4 S. 3 BImSchG der Kreis der einwendungsberechtigten Personen etwas eingeschränkt; darauf wird bei § 23b BImSchG noch näher einzugehen sein, wo sich die gleiche Einschränkung findet. Hinsicht der Frist, innerhalb der die Genehmigung zu erteilen ist, gilt gem. § 19 Abs. 4 S. 3 BImSchG die Drei-Monatsfrist des § 16 Abs. 3 BImSchG. 24
Czajka, in: Feldhaus (Hrsg.), BImSchG, Stand 2017, § 16a Rn. 12. BT-Drs. 18/9417, S. 15. 26 Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 16 Rn. 35 – 39.
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IV. Schließlich findet sich für die störfallrelevante Änderung genehmigungsbedürftiger Störfallanlagen eine weitere Neuregelung in § 15 Abs. 2a BImSchG. Danach hat die Genehmigungsbehörde, nachdem ihr eine geplante Änderung angezeigt wurde, zusätzlich zur Beurteilung der Genehmigungsbedürftigkeit nach § 16 BImSchG zu prüfen, ob die Änderung gem. § 16a BImSchG einer Genehmigung bedarf. Erfasst werden davon störfallrelevante Änderungen, die nicht gleichzeitig wesentliche Änderungen i.S.d. § 16 BImSchG sind,27 weil § 16 BImSchG, wie dargelegt, allein Änderungen mit Bedeutung für § 6 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG betrifft, nicht aber Änderungen mit alleiniger (wesentlicher) Bedeutung für § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG, etwa für die Vorgaben des Bauplanungsrechts zum angemessenen Sicherheitsabstand.28 Damit die Behörde die Genehmigungsbedürftigkeit prüfen kann, sind der Anzeige die dafür erforderlichen Unterlagen beizufügen. Ggf. teilt die Behörde gem. § 15 Abs. 1 S. 4 BImSchG dem Träger des Vorhabens mit, welche zusätzlichen Unterlagen noch notwendig sind. Weiter kann die Genehmigungsbehörde gem. § 15 Abs. 2a S. 2 BImSchG die Einholung eines Gutachtens zu den Auswirkungen der Änderung auf die Gefahren schwerer Unfälle verlangen.29 Sind die Unterlagen vollständig, muss die Entscheidung über die Genehmigungsbedürftigkeit gem. § 15 Abs. 2a S. 1 BImSchG unverzüglich, spätestens aber innerhalb von zwei Monaten ergehen. Die etwas längere Frist als bei § 15 Abs. 2 S. 1 BImSchG ist durch die Schwierigkeiten der Prüfung bedingt.30 Die Entscheidung wird regelmäßig zusammen mit der Entscheidung nach § 15 Abs. 2 S. 1 BImSchG ergehen. Kommt die Behörde zu dem Schluss, dass eine Genehmigung notwendig ist, muss ein Genehmigungsverfahren durchgeführt werden. Sieht sie keine Notwendigkeit für eine Genehmigung, ergeht eine Freistellungserklärung. Sie ermöglicht gem. § 15 Abs. 2a S. 3 BImSchG die sofortige Vornahme der Änderung. Aus EU-rechtlichen Gründen ist, anders als bei § 15 Abs. 2 S. 2 BImSchG, eine fiktive Freistellung für den Fall, dass innerhalb einer bestimmten Frist keine Erklärung abgegeben wird, nicht vorgesehen.31 Solange daher keine behördliche Entscheidung vorliegt, ist die Vornahme der Änderung unzulässig. V. 1. Schließlich führt die Richtlinie 2012/18/EU zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen bei den Störfallanlagen zu Problemen, die nicht von der 4. Bundes-Immissionsschutzverordnung erfasst werden und 27
BT-Drs. 18/9417, S. 27. Dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 6 Rn. 31 – 33. 29 BR-Drs. 237/16(B), S. 6. 30 BT-Drs. 18/9417, S. 27. 31 BT-Drs. 18/9417, S. 27.
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daher immissionsschutzrechtlich nicht genehmigungsbedürftig sind. Für diesen Fall schreibt § 23b BImSchG eine Genehmigungspflicht und ein Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung vor. Nicht erfasst wird die Zulassung von Anlagen in der Nachbarschaft von Störfallanlagen, die selbst keine Störfallanlagen sind, etwa bei der Errichtung eines Gartencenters in der Näher einer Störfallanlage. Hier greifen § 3d UVPG und andere Regelungen, v. a. landesrechtlicher Art. Die unter § 23b BImSchG fallenden Anlagen stellen, wie auch der Wortlaut des 23b Abs. 1 S. 1 BImSchG (und der des § 23a Abs. 1 S. 1 BImSchG) verdeutlicht, „nicht genehmigungsbedürftige Anlagen“ i.S.d. BImSchG dar, unterliegen somit den Vorgaben für solche Anlagen, modifiziert durch die Regelungen in § 23a – § 23c BImSchG. Dagegen kommen die Vorschriften des BImSchG für genehmigungsbedürftige Anlagen nicht zur Anwendung. Dementsprechend nimmt § 23b Abs. 1 S. 5 BImSchG für den Prüfungsmaßstab nicht auf § 6 BImSchG, sondern auf § 22 BImSchG Bezug. Besser wäre es gewesen, wenn statt des Begriffs der Genehmigung etwa der der Erlaubnis benutzt worden wäre, um Verwechslungen mit der Genehmigung für genehmigungsbedürftige Anlagen zu vermeiden. 2. Die Genehmigungspflicht kommt zum Tragen, wenn im Anzeigeverfahren nach § 23a BImSchG, auf das noch einzugehen sein wird, die Voraussetzungen des § 23a Abs. 2 S. 1 BImSchG bejaht wurden. Ob diese Entscheidung zutreffend ist, spielt keine Rolle, solange sie nicht nichtig ist. Macht der Anlagenbetreiber von seinem Recht in § 23a Abs. 3 BImSchG Gebrauch und beantragt die Genehmigung nach § 23b BImSchG ohne vorherige Durchführung des Anzeigeverfahrens, dann sind die Voraussetzungen des § 23a Abs. 2 S. 1 BImSchG im Genehmigungsverfahren zu prüfen.32 Die Genehmigungspflicht entfällt gem. § 23b Abs. 1 S. 2 BImSchG, wenn bereits auf der Ebene einer raumbedeutsamen Planung oder Maßnahme dem Abstandsgebot durch verbindliche Vorgaben Rechnung getragen wurde.33 Insb. kann das durch Planungen und Maßnahmen für Betriebsbereiche oder für Schutzobjekte geschehen sein.34 Weiter dürfte in Anlehnung an § 16 Abs. 5 BImSchG eine Genehmigung beim bloßen Ersatz bzw. Austausch von Anlagen und Anlagenteilen in Anlehnung an § 16 Abs. 5 BImSchG nicht erforderlich sein; die Rechtslage ist allerdings unsicher; auf die abweichenden Situation bei der Anzeige wird noch einzugehen sein. 3. Was den Gegenstand der Genehmigung angeht, so bildet die gesamte Anlage den Gegenstand der Genehmigung, wenn es sich um die Errichtung und den Betrieb einer (neuen) Anlage handelt. Geht es um eine Änderung, sind die Teile der Anlage Genehmigungsgegenstand, die geändert werden sollen, sowie die sonstigen Teile, auf die sich die Änderung auswirkt.35 32
Zu diesen Voraussetzungen Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 23a Rn. 10 – 12. BT-Drs. 18/9417, S. 27. 34 BT-Drs. 18/9417, S. 41. 35 Vgl. Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 16 Rn. 31 – 33.
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4. Die Erteilung der Genehmigung hängt zum einen gem. § 23a Abs. 1 S. 5 BImSchG davon ab, ob die Anforderungen des § 22 Abs. 1 BImSchG und die der aufgrund von § 23 BImSchG erlassenen Rechtsverordnungen, insb. die Vorgaben der 12. BImSchV, eingehalten werden. Nicht einschlägig sind die Vorgaben des § 5 BImSchG.36 Darüber hinaus müssen gem. § 23b Abs. 1 S. 5 BImSchG alle öffentlichrechtlichen Vorschriften (mit Anlagenbezug) sowie die Belange des Arbeitsschutzes beachtet sein. Insoweit gilt vergleichbares wie bei § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG. Insbesondere müssen die bauplanungsrechtlichen Vorgaben zu angemessenen Sicherheitsabstand eingehalten sein, orientiert an den Vorgaben des EuGH und des BVerwG.37 Sind alle Genehmigungsvoraussetzungen gegeben, ist die Genehmigung gem. § 23b Abs. 1 S. 5 BImSchG zu erteilen. Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung. Die Genehmigung kann gem. § 23b Abs. 1 S. 6 BImSchG unter Bedingungen erteilt und mit Auflagen verbunden werden, soweit das erforderlich ist, um die Genehmigungsvoraussetzungen sicherzustellen. Insoweit stellt sich die Situation wie bei der Regelung des § 12 Abs. 1 S. 1 BImSchG dar, die sich lediglich auf andere Genehmigungsvoraussetzungen bezieht. Möglich sind damit neben Bedingungen und Auflagen auch Inhaltsbestimmungen. 5. Gem. § 23b Abs. 2 S. 1 BImSchG ist die Öffentlichkeit im Genehmigungsverfahren zu beteiligen. Dazu wird das Vorhaben gem. § 23b Abs. 2 S. 2 BImSchG öffentlich bekannt gemacht. Form und Inhalt der Bekanntmachung werden in § 18 Abs. 2 der 12. BImSchV näher geregelt. Weiter sind der Antrag, die Unterlagen und die entscheidungserheblichen Berichte und Empfehlungen, die der Behörde im Zeitpunkt der Bekanntmachung vorliegen, gem. § 23b Abs. 2 S. 2 BImSchG für einen Monat auszulegen. Für die Einzelheiten gelten die Vorgaben des § 18 Abs. 3 der 12. BImSchV. Unterlagen mit Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen sind gem. § 23b Abs. 2 S. 2 BImSchG nicht auszulegen; an ihre Stelle tritt eine entspr. Inhaltsbeschreibung. Gem. § 23b Abs. 3 S. 2 BImSchG können innerhalb der Frist des § 10 Abs. 3 S. 4 BImSchG schriftlich oder elektronisch Einwendungen erhoben werden.38 Einwendungen sind somit während der Auslegung der Unterlagen und bis zu zwei Wochen danach möglich. Bei Industrieemissions-Anlagen beträgt die Nachfrist sogar einen Monat. Einwendungsberechtigt sind zum einen, wie bei § 19 Abs. 4 S. 3 BImSchG und bei § 73 Abs. 4 S. 1 VwVfG, alle Personen, deren rechtliche Belange durch das Vorhaben berührt werden. Das ist enger als in der Regelung des § 10 Abs. 3 S. 4 BImSchG; nicht vorausgesetzt wird jedoch, dass die Personen in einem subjektiven Recht betroffen sein können.39 Einwendungsbefugt sind insb. auch Umweltrechtsvereini-
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BT-Drs. 18/9417, S. 29. BT-Drs. 18/9417, S. 16 f. 38 Dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 10 Rn. 28, 87. 39 Vgl. Ramsauer/Wysk, in: Kopp/Ramsauer (Hrsg.), VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 73 Rn. 74.
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gungen.40 Die Einwendungen können gem. § 23b Abs. 2 S. 3 BImSchG i.V.m. § 10 Abs. 3 S. 4 Hs. 1 BImSchG bis zu zwei Wochen nach dem Ende der Auslegung zu erheben; dagegen ist die Verlängerung der Einwendungsfrist gem. § 10 Abs. 3 S. 4 Hs. 2 BImSchG nicht anwendbar. Werden Einwendungen nicht bzw. nicht rechtzeitig erhoben, kommt gem. § 23b Abs. 2 S. 4 BImSchG die Regelung des § 10 Abs. 3 S. 5 BImSchG zum Tragen, also eine formelle Präklusion, die das weitere Verwaltungsverfahren betrifft, nicht aber eine (für eine Klage bedeutsame) materielle Präklusion.41 Gem. § 23b Abs. 3 S. 1 BImSchG sind die Stellungnahmen aller Behörden einzuholen, deren Aufgabenbereich durch das Vorhaben berührt wird; die Situation ist hier wie bei § 10 Abs. 5 S. 1 BImSchG. Das dürfte auch für ausländische Behörden gelten. Die Entscheidung über den Genehmigungsantrag muss innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen: Geht es um die Errichtung einer Anlage, beträgt die Frist gem. § 23b Abs. 4 S. 1 BImSchG sieben Monate. Geht es um die Änderung einer Anlage beträgt die Frist gem. § 23b Abs. 4 S. 2 BImSchG sechs Monate. Die Fristen beginnen zu laufen, wenn die Antragsunterlagen, auch soweit sie nicht auszulegen sind, vollständig eingereicht wurden.42 Gem. § 23b Abs. 4 S. 3 BImSchG kann die Frist um drei Monate verlängert werden, wenn eine fristgemäße Entscheidung nicht möglich ist, weil (1) die Prüfung des Antrags mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist oder (2) der Antragsteller eine Verfahrensverzögerung verursacht hat. Letzteres kommt insb. dann in Betracht, wenn gegenüber dem eingereichten Antrag Änderungen vorgenommen werden sollen. Die Überlastung der Behörde ist kein zureichender Grund.43 Die Fristverlängerung ist gem. § 23b Abs. 4 S. 4 BImSchG im Regelfall zu begründen; in atypischen Fällen kann davon abgesehen werden („soll“). Eine Fristverlängerung ist auch mehrfach möglich.44 Allerdings dürfte das, dem Sinn der Regelung entsprechend, nur in seltenen Ausnahmefällen zulässig sein. Schließlich kann gem. § 8 UVPG eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich sein. 6. Die Genehmigung ist gem. § 18 Abs. 4 S. 1 der 12. BImSchV schriftlich oder elektronisch zu erteilen und zu begründen. Sie ist gem. § 18 Abs. 4 S. 1 der 12. BImSchV dem Antragsteller, und den Personen, die Einwendungen erhoben haben, zuzustellen. Haben mehr als 50 Personen Einwendungen erhoben, kann die Zustellung gem. § 18 Abs. 4 S. 3 der 12. BImSchV durch eine öffentliche Bekanntmachung ersetzt werden. Unabhängig davon ist der Genehmigungsbescheid generell gem. § 18 Abs. 5 S. 1, 2 der 12. BImSchV im amtlichen Veröffentlichungsblatt und im Internet oder in örtliche Tageszeitungen öffentlich bekannt zu machen. Gem. § 18 Abs. 5 S. 3 der 12. BImSchV ist der Genehmigungsbescheid zwei Wochen zur Einsicht auszu40 Anwendbar ist auch die Regelung des § 10 Abs. 3a BImSchG zur Bedeutung der Umweltvereinigungen (dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 10 Rn. 91). 41 Dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 10 Rn. 92 – 95. 42 Vgl. Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 10 Rn. 122 43 Dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 10 Rn. 123. 44 Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 10 Rn. 123.
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legen; mit dem Ablauf der Auslegung gilt der Bescheid (unabhängig von § 18 Abs. 4 der 12. BImSchV) gem. § 18 Abs. 5 S. 5 der 12. BImSchV Dritten als zugestellt. Das ist für die Klagefrist bedeutsam. VI. 1. Durch die neue Regelung des § 23a BImSchG wird dem störfallrechtlichen Genehmigungsverfahren gem. § 23b BImSchG ein Anzeigeverfahren vorschaltet. In diesem Verfahren soll vorab geklärt werden, ob überhaupt eine Genehmigung nach § 23b BImSchG erforderlich ist. Damit soll ggf. der Verwaltungs-, Zeit- und Kostenaufwand für ein Genehmigungsverfahren vermieden werden.45 Die Regelung hat eine ähnliche Funktion und Ausgestaltung wie die des § 15 BImSchG. 2. Das Anzeigeverfahren kommt bei jeder Errichtung eine Störfallanlage sowie bei der Änderung einer solchen Anlage zum Tragen. Zudem müssen die Errichtung bzw. die Änderung störfallrelevant sein. Das ist gem. § 3 Abs. 5b BImSchG der Fall, wenn sich erhebliche Auswirkungen auf die Gefahr schwerer Unfälle ergeben oder sich die Klasse des Betriebsbereichs ändert. Die Anzeige muss gem. § 23a Abs. 1 S. 1 BImSchG schriftlich oder elektronisch erfolgen. Wird der elektronische Weg gewählt, kann die zuständige Behörde gem. § 23a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 BImSchG verlangen, dass Antrag und Unterlagen zusätzlich in schriftlicher Form eingereicht werden, ggf. auch in mehreren Exemplaren. Der Anzeige sind gem. § 23a Abs. 1 S. 2 BImSchG Unterlagen beizufügen, die für die Feststellung der Genehmigungsbedürftigkeit nach § 23a Abs. 2 S. 1 BImSchG erforderlich sind, nicht für die Feststellung der Genehmigungsfähigkeit. Wird das Vorhaben aufgegeben, entfällt rückwirkend die Anzeigepflicht; eine erstattete Anzeige ist zu korrigieren. Das behördliche Verfahren wird eingestellt. 3. Sind die Unterlagen vollständig, muss die Behörde gem. § 23a Abs. 2 S. 1 BImSchG entscheiden, ob eine Genehmigung nach § 23b BImSchG notwendig ist. Das ist der Fall, wenn durch eine störfallrelevante Errichtung bzw. durch eine störfallrelevante Änderung der Anlage der angemessene Sicherheitsabstand zu benachbarten Schutzobjekten erstmalig oder räumlich weitergehend unterschritten wird. Mit angemessenem Sicherheitsabstand ist der Abstand des § 3 Abs. 5c BImSchG gemeint, nicht der ggf. weniger strenge Sicherheitsabstand des Art. 13 Abs. 2 RL 2012/18. Weiter sind für den Sicherheitsabstand des § 3 Abs. 5c BImSchG, wie dargelegt, allein störfallspezifische Faktoren, nicht hingegen sozioökonomische Faktoren relevant. Zudem geht es (allein) um die Wirkungen auf die benachbarten Schutzobjekte i.S.d. § 3 Abs. 5d BImSchG.46 Weiter ist eine Genehmigung nach § 23b BImSchG erforderlich, wenn es aufgrund der Errichtung (und Betrieb) bzw. der Änderung der Anlage (trotz unveränder45 46
BT-Drs. 18/9417, S. 16, 28. Dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 3 Rn. 109 – 112.
Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Anlagenzulassung
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tem Abstand) zu einer erheblichen Gefahrenerhöhung im Bereich der Risiken schwerer Unfälle kommt. Dabei handelt es sich, wie auch der Wortlaut („oder“) verdeutlicht, um eine alternative, nicht um eine kumulative Voraussetzung.47 Durch diese erst im Gesetzgebungsverfahren eingefügte Alternative soll den EU-rechtlichen Voraussetzungen Rechnung getragen werden.48 In Anlehnung an Art. 15 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 11 RL 2012/18 genügt es, wenn sich erhebliche Auswirkungen auf die Gefahren schwerer Unfälle ergeben „könnten“, zumal es um die Frage der Genehmigungsbedürftigkeit (und nicht die der Genehmigungsfähigkeit) geht; notwendig sind aber hinreichende Anhaltspunkte. Schließlich wird auch diese Alternative in der Amtlichen Begründung auf die Schutzobjekte des § 3 Abs.5d beschränkt,49 obgleich das dem Wortlaut des § 23a Abs. 2 S. 1 BImSchG (und des Art. 15 Abs. 1 i.V.m. Art. 11 RL 2012/18) nicht zu entnehmen ist. Die Entscheidung muss gem. § 23a Abs. 2 S. 2 BImSchG innerhalb von zwei Monaten nach Eingang der Anzeige und der erforderlichen Unterlagen erfolgen. Die Frist beginnt mit der Vollständigkeit der Unterlagen zu laufen. Für die Fristberechnung und die nicht mögliche Verlängerung gilt nichts anderes als bei § 15 Abs. 2 S. 1 BImSchG.50 Weiter ist die positive Entscheidung, also die Bejahung der Genehmigungsbedürftigkeit, gem. § 23a Abs. 2 S. 2 BImSchG dem Vorhabensträger bekannt zu geben und der Öffentlichkeit nach den einschlägigen Bestimmungen der Umweltinformationsgesetze zugänglich zu machen. Daher besteht ein Anspruch auf Zugang gem. § 3 UIG. Die Verneinung der Genehmigungsbedürftigkeit ist gem. § 23a Abs. 2 S. 3 BImSchG im amtlichen Veröffentlichungsblatt sowie entweder im Internet oder in örtlichen Tageszeitungen, die im Bereich des Betriebsstandorts verbreitet sind, öffentlich bekannt zu machen, um damit, wie in der Amtlichen Begründung festgehalten wird, die „notwendige Anstoßwirkung für den Drittrechtsschutz“ zu erzeugen.51
VII. Die neuen Regelungen zur Umsetzung der Öffentlichkeitsbeteiligung bei Störfallanlagen liefern ein Paradebeispiel dafür, wie kompliziert sich die Umsetzung der Richtlinien des Unionsrechts gestalten kann. Aus einer Regelung, die im Wesentlichen in einem Absatz einer Richtlinienvorschrift enthalten ist (Art. 15 Abs. 1 RL 2012/18/EU), ergibt sich eine Vielzahl von Regelungen im Bundes-Immissionsschutzgesetz bis hin zu neuen Paragraphen. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der unterschiedlichen Systematik des deutschen und des EU-Rechts. Daher gilt es über die Anpassung der deutschen Systematik an die des EU-Rechts nachzudenken. Vieles würde einfacher und anwendungsfreundlicher, wenn man den Kreis der ge47
Vgl. BT-Drs. 18/9417, S. 50. BT-Drs. 18/9417, S. 51. 49 BT-Drs. 18/9417, S. 50. 50 Dazu Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 15 Rn. 34. 51 BT-Drs. 18/9417, S. 28.
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nehmigungsbedürftigen Anlagen besser mit dem Kreis der Industrieemissions-Anlagen, der Störfallanlagen und der UVP-pflichtigen Anlagen abstimmen würde.
Das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis zwischen Energiewirtschaft und Raumordnung – Der Kompetenzstreit um die Erdverkabelung Von Martin Kment, Augsburg* I. Einführung Der Jubilar steht dem Energierecht wissenschaftlich sehr nahe und hat dieses auch aus der verfassungsrechtlichen Perspektive heraus intensiv beleuchtet.1 Für das Energierecht stellt die politische Abkehr von den konventionellen Energieträgern, wie den fossilen Brennstoffen und den nuklearen Energieträgern, einen markanten Wendepunkt dar (Energiewende),2 der nunmehr eine neue Dimension erreicht hat. Fokussierte sich die juristische Aufmerksamkeit zunächst auf den Wechsel der Energieträger – weg von konventionellen Energien hin zu erneuerbaren Energiequellen –3 richtet sie nun den Blick auf die Ertüchtigung und den Ausbau des Energietransports, wobei insbesondere der Bau von Höchstspannungsenergieleitungen, welche zu den Übertragungsnetzen zählen, in den Vordergrund rückt. Die Errichtung und die Ertüchtigung von Übertragungsnetzen besitzen neben ihrer energiewirtschaftlichen Komponente4 durchaus auch raumordnungsrechtliche Bezugspunkte und werden als solche von landesplanerischen Vorgaben adressiert. Prominente Beispiele liefern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, die in ihren raumordnungsrechtlichen Planwerken das Thema Höchstspannungsfreileitung aufgreifen und mit festgeschriebenen Mindestabständen zu Wohnnutzungen die Leitungsprojekte in die Erde zwingen (Erdverkabelung). Da der Bundesgesetzgeber im Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG)5 und im Bundesbedarfsplangesetz (BBPlG)6 ebenfalls zur Erdverkabelung Aussagen getroffen hat, wirft dies die Frage nach der kompetenzrechtlichen Zuläs* Die Bearbeitung wurde am 11. 09. 2017 abgeschlossen. Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Grundlagen der Energiepolitik, in: Säcker (Hrsg.), Energierecht, Band I/1, 2014, Einleitung C. 2 Vgl. zur politischen Entwicklung: Kment, Streitfragen der Erdverkabelung, 2017, S. 1 f. 3 Schirmer, DVBl. 2016, 285 (285). 4 Siehe zu den Defiziten der energiewirtschaftlichen Regelwerke Kment, UPR 2014, 81 (81 f.); Fest/Nebel, NVwZ 2016, 177 (180). 5 BGBl. 2009 I, S. 2870; zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. 12. 2016 (BGBl. 2016 I, S. 3106). 6 BGBl. 2013 I, S. 2543; zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. 07. 2016 (BGBl. 2016 I, S. 1786). 1
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sigkeit des landesplanerischen Agierens auf. Dieser Problemlage soll nachfolgend Aufmerksamkeit geschenkt werden. II. Landesplanerische Grundlagen des Übertragungsnetzausbaus im Bereich der Elektrizität Niedersachsen hatte im Jahr 2007 bereits ein Erdkabelgesetz7 erlassen; seit dem Jahr 2008 finden sich einzelne Bestimmungen nunmehr im Landesraumordnungsprogramm (LROP Nds.).8 Nordrhein-Westfalen ist diesem Beispiel gefolgt; auch dort hat man sich des Themas Erdverkabelung im aktuellen Landesentwicklungsplan angenommen (LEP NRW).9 1. Niedersächsische Vorgaben des Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 6 ff LROP Nds. Die wesentlichen Regelungen zur Erdverkabelung sind in Kapitel 4.2 Ziffer 07 des LROP Nds. verankert. Dort ist als Sätze 6 bis 9 der nachfolgend beschriebene Norminhalt als Ziele der Raumordnung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG ausgewiesen: „6 Trassen für neu zu errichtende Höchstspannungsfreileitungen sind so zu planen, dass die Höchstspannungsfreileitungen einen Abstand von mindestens 400 m zu Wohngebäuden einhalten können, wenn a) diese Wohngebäude im Geltungsbereich eines Bebauungsplans oder im unbeplanten Innenbereich im Sinne des § 34 BauGB liegen und b) diese Gebiete dem Wohnen dienen. 7
Gleiches gilt für Anlagen in diesen Gebieten, die in ihrer Sensibilität mit Wohngebäuden vergleichbar sind, insbesondere Schulen, Kindertagesstätten, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen. 8
Der Mindestabstand nach Satz 6 ist auch zu überbaubaren Grundstücksflächen in Gebieten, die dem Wohnen dienen sollen, einzuhalten, auf denen nach den Vorgaben eines geltenden Bebauungsplanes oder gemäß § 34 BauGB die Errichtung von Wohngebäuden oder Gebäuden nach Satz 7 zulässig ist. 9
Ausnahmsweise kann dieser Abstand unterschritten werden, wenn
a) gleichwohl ein gleichwertiger vorsorgender Schutz der Wohnumfeldqualität gewährleistet ist oder b) keine geeignete energiewirtschaftlich zulässige Trassenvariante die Einhaltung der Mindestabstände ermöglicht.“
7
GVBl. 2007, S. 709. GVBl. 2008, S. 132; zuletzt geändert durch Verordnung vom 06. 07. 2017 (GVBl. 2017, S. 232). 9 GVBl. 2017, S. 123. 8
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2. Festlegungen Nr. 8.2 – 4 des Landesentwicklungsplans NRW (LEP NRW) Im Landesentwicklungsplan NRW geht der Plangeber auf Fragen der Erdverkabelung näher ein. Dort ist als Ziel der Raumordnung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG die folgende Festlegung vorgesehen: „Neue Höchstspannungsfreileitungen auf neuen Trassen mit einer Nennspannung von 220 kV und mehr, die nicht unmittelbar neben einer bestehenden Hoch- oder Höchstspannungsleitung errichtet werden, sind so zu planen, – dass ein Abstand von 400 m zu Wohngebäuden und Anlagen vergleichbarer Sensibilität – insbesondere Schulen, Kindertagesstätten, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen – eingehalten wird, die im Geltungsbereich eines Bebauungsplans oder im unbeplanten Innenbereich im Sinne des § 34 BauGB liegen und diese Gebiete dem Wohnen dienen, – dass ein Abstand von 200 m zu Wohngebäuden eingehalten wird, die im Außenbereich im Sinne des § 35 BauGB liegen. Ausnahmsweise kann dieser Abstand unterschritten werden, wenn gleichwohl ein gleichwertiger vorsorgender Schutz der Wohnumfeldqualität gewährleistet ist oder keine andere technisch geeignete und energiewirtschaftsrechtlich zulässige Variante die Einhaltung der Mindestabstände ermöglicht.“
3. Erläuterung der Plansätze Zur Begründung ihrer planerischen Feststellungen weisen beide Plangeber darauf hin, dass die Energiewende und der Ausbau des europäischen Stromverbundnetzes ein erhöhtes Bedürfnis am Ausbau des Höchstspannungsnetzes erzeugt hätten. Bei der Befriedigung dieses Bedarfs sei zu berücksichtigen, dass eine neue Trasse für eine neue Höchstspannungsfreileitung insbesondere dann raumverträglich sei, wenn sie ausreichende Abstände zur Wohnbebauung einhält. Letztgenannte Abstände lieferten der Planungspraxis eine begründete und gleichzeitig handhabbare Grundlage, um sensible Bereiche frühzeitig zu identifizieren und zügig geeignete Alternativen zu untersuchen. Außerdem wird darauf verwiesen, dass die Versorgung mit Energie u. a. umweltverträglich sein und den Anforderungen an eine nachhaltige Raumentwicklung genügen soll.10 III. Verhältnis der landesplanerischen Festlegungen zu bundesrechtlichen Vorgaben 1. Regelungskollisionen Unterzieht man die Plansätze des Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 6 – 8 LROP Nds. und der Nr. 8.2 – 4, S. 1 LEP NRW einer näheren Untersuchung, wird deutlich, dass diese 10 Siehe die Begründung zu der Verordnung zur Änderung der Verordnung über das Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen v. 24. 09. 2014, S. 50 sowie den Landesentwicklungsplan NRW 2017, S. 93.
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durchaus zu Regelungswidersprüchen im Verhältnis zu bundesrechtlichen Vorgaben des EnLAG und BBPlG führen können.11 Dies ist im Wesentlichen darin begründet, dass die landesplanerischen Vorgaben bei Unterschreiten der landesplanerisch definierten Abstandswerte zu Wohnbebauungen bzw. ihnen gleichgestellten Nutzungen ein Freileitungsverbot aussprechen, von dem nur unter bestimmten Voraussetzungen unter Beachtung von Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 9 LROP Nds. bzw. von Nr. 8.2 – 4, S. 2 LEP NRWabgewichen werden kann. Beide Planwerke verlangen für den Ausnahmefall einmütig, dass trotz Eindringens in den 400 m- bzw. 200 m-Schutzbereich „gleichwohl ein gleichwertiger vorsorgender Schutz der Wohnumfeldqualität gewährleistet ist oder keine andere technisch geeignete und energiewirtschaftsrechtlich zulässige Variante die Einhaltung der Mindestabstände ermöglicht“. Diese ausgewählten Anforderungen verengen den Entscheidungsspielraum der zuständigen Planfeststellungsbehörde insbesondere bei der Verwirklichung von Höchstspannungsdrehstromleitungen (HDÜ), die nach Maßgabe des § 2 EnLAG bzw. § 4 BBPlG auf deutlich mehr Aspekte abstellen muss, um über die Ausübung des gesetzlich eingeräumten Rechts, eine Erdverkabelung zu verlangen, befinden zu können.12 Würde die zuständige Planfeststellungsbehörde andere Gesichtspunkte – etwa Kostengesichtspunkte oder naturschutzfachliche Aspekte – in den Vordergrund stellen, hierauf eine Nichtausübung des Verlangens einer Erdverkabelung stüt11 Siehe dazu auch Mann, Rechtsfragen der Anordnung von Erdverkabelungsabschnitten bei 380 kV-Pilotvorhaben nach dem EnLAG, Rechtsgutachten 2016, S. 58 ff. 12 Die Prüfungsleistung ist nicht darauf verengt, die in den Auslösetatbeständen verankerten Belange des Wohnumfeldschutzes und des Naturschutzes ausschließlich in den Blick zu nehmen, sondern wird in der Regel beträchtlich darüber hinausgehen; sie ist von ihrer thematischen Ausrichtung meist breit gestreut. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass der zuständigen Behörde mit Vorliegen der Tatbestände des § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 – 5 EnLAG zwei ganz unterschiedliche Ausführungsvarianten zur Wahl stehen, die zwangsläufig auch hinsichtlich ihrer Folgen und Auswirkungen recht divergent zu Buche schlagen. So darf man bei den Kosten, der Versorgungssicherheit, der Störanfälligkeit, der technischen Belastbarkeit, der Reparaturmöglichkeit, der Haltbarkeitsdauer und der technischen Ausführung der verschiedenen Ausführungsvarianten bedeutsame Abweichungen erwarten. Gleiches gilt hinsichtlich der (Sicht-)Betroffenheit von Anwohnern und von Eigentümern der Grundstücke, auf denen das Vorhaben errichtet werden soll; die Rücksicht auf die Belange der Letztgenannten ergibt sich schon aus der enteignungsrechtlichen Vorwirkung der Planfeststellung nach § 45 Abs. 2 EnWG. Hinzu kommen denkbare Gesundheitsgefahren durch elektromagnetische Felder oder Lärmimmissionen durch Koronageräusche. Weiter zu beachten sind die Einwirkung auf Natur und Landschaftsbild, die Vereinbarkeit mit bestehenden Infrastrukturen wie auch die Folgen für den Flächenverlust. Auch sind Vorbelastungen von Bedeutung bzw. die Qualität der tangierten Gebiete oder die Siedlungsdichte sowie viele andere Bereiche, die in divergierenden Betroffenheiten wie auch Begünstigungen münden können. Selbst der Umstand, dass mit der Ausübung des Verlangens in die Rechtssphäre des Vorhabenträgers eingegriffen wird und hierdurch mitunter ein Grundrechtseingriff ausgelöst werden kann, ist in die Erwägungen mit einzubeziehen. Letztgenannter Aspekt zwingt dazu, auch gegenüber dem Vorhabenträger eine verhältnismäßige Lösung zu finden. Und schließlich darf auch der Pilotcharakter der Vorhaben, der einer umfassenden Erdverkabelung widerspricht, nicht übersehen werden. Nähere Erläuterungen zum Pilotcharakter der Erdverkabelung bei Kment, Streitfragen der Erdverkabelung, 2017, S. 14, 17.
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zen und damit für eine Freileitungsausführung optieren, würde diese planerische Entscheidung leerlaufen, da die (vermeintlich) verbindlichen Zielfestlegungen des Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 6 – 8 LROP Nds. und der Nr. 8.2 – 4, S. 1 LEP NRW eine Freileitung verbieten würden.13 2. Kein Erfordernis widerstreitender Regelungsinhalte Der aufgezeigte Konfliktfall14 ist jedoch nur gedanklicher Anstoß, um sich der kompetenzrechtlichen Befugnisräume der hier angesprochenen Raumordnung und Fachplanung zu vergewissern und das relevante Bundesrecht15 von den einschlägigen landesrechtlichen Planvorgaben abzugrenzen. Eine mögliche verfassungsrechtliche Sperrwirkung konkurrierenden Bundesrechts ist von einem inhaltlichen Widerspruch zwischen Bundes- und Landesrecht jedoch nicht abhängig.16 Das bedeutet, dass Landesgesetze (und hierauf basierende Planungen) auch dann unzulässig und nichtig sind, wenn der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat und die Regelungen beider Gebietskörperschaften miteinander inhaltlich „harmonieren“.17 Es bedarf somit keiner näheren Untersuchung der Rechtsfolgenübereinstimmungen und -widersprüche von Bundes- und Landesrecht, um Widerspruchsfelder zu lokalisieren und diesbezüglich einen „Anwendungsvorrang“18 zu ermitteln.19 Die Kompetenzfrage ist hiervon unabhängig und generell zu beantworten. IV. Konkurrierende Bundeskompetenz zum Energierecht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG Die Kompetenztitel der Art. 71 ff. GG geben Aufschluss, in welchen Bereichen dem Bund in Abkehr von der Grundregel des Art. 70, 30 GG die Gesetzgebungskom13
So auch Mann, Rechtsfragen der Anordnung von Erdverkabelungsabschnitten bei 380 kV-Pilotvorhaben nach dem EnLAG, Rechtsgutachten 2016, S. 60 ff. 14 Siehe die obigen Ausführungen unter III. 1. 15 Gemeint sind § 2 EnLAG und § 4 BBPlG. 16 BVerfG, Beschl. v. 29. 03. 2000 – 2 BvL 3/96 –, BVerfGE 102, 99, 115; BVerfG, Urt. v. 10. 02. 2004 – 2 BvR 834/02 –, BVerfGE 109, 190, 230. 17 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 2016, Art. 72 Rn. 11, 11a; vgl. auch Uhle, in: Maunz/ Dürig, GG, 2016, Art. 72 Rn. 78 ff. 18 So Mann, Rechtsfragen der Anordnung von Erdverkabelungsabschnitten bei 380 kVPilotvorhaben nach dem EnLAG, Rechtsgutachten 2016, S. 62. Die Terminologie gehört vielmehr in den Zusammenhang des Unionsrechts. Dort beschreibt der Anwendungsvorrang den Wirkungszusammenhang zwischen europäischem und nationalem Recht; vgl. dazu etwa Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (3 ff.); Kment, in: Festschrift Jarass, 2015, S. 301 (316). 19 So aber Mann, Rechtsfragen der Anordnung von Erdverkabelungsabschnitten bei 380 kV-Pilotvorhaben nach dem EnLAG, Rechtsgutachten 2016, S. 62; Ohms/Weiss, in: Säcker (Hrsg.), Energierecht, Bd. 1/2, 2014, Vorb. EnLAG Rn. 30; Schulte/Apel, DVBl. 2011, 862 (869).
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petenz zugesprochen ist.20 Im vorliegenden Zusammenhang kommt eine Anwendung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG in Betracht. Mit der Gesetzgebungszuständigkeit für die Wirtschaft in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG hat der Bund wohl eine der bedeutendsten im Katalog der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen inne.21 Sie umfasst nicht nur die Organisation der Wirtschaft, der Wirtschaftszweige und der wirtschaftenden Personen, sondern auch die Steuerung und Lenkung des Wirtschaftslebens insgesamt.22 Im Zusammenspiel mit Art. 72 Abs. 2 GG wird damit dem Bund die Aufgabe übertragen, Sorge für die Wirtschaftskraft und die Wirtschaftseinheit der Bundesrepublik Deutschland zu tragen.23 Um diesem Auftrag gerecht zu werden, schafft der Bund bundeseinheitlich Recht;24 anderenfalls wäre eine Rechtszersplitterung, die auf abweichende Regelungen der Länder oder deren legislative Untätigkeit zurückzuführen wäre, zu befürchten, die erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen würde.25 Die Verantwortung für das Recht der Wirtschaft nimmt der Bund gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG – neben anderen Rechtsbereichen – im Bereich des Energierechts wahr. Dabei umfasst die Energiewirtschaft sowohl die Energiegewinnung als auch die Verteilung aller Energien und Energieträger.26 Dies schließt auch Regelungen zu Energiepreisen und zu Energieleitungen ebenso wie Vorschriften zur Energieversorgung und Energieeinspeisung ein.27 V. Wahrnehmung der Bundeskompetenzen durch Regelungen zur Erdverkabelung im EnLAG und BBPlG Mit Erlass des EnLAG und des BBPlG hat der Bundesgesetzgeber von der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG Gebrauch gemacht.28 In diesem Kontext können die Vorgaben des soeben angesprochenen 20 21
(2). 22
BVerfG, Urt. v. 27. 07. 2004 – 2 BvF 2/02 –, BVerfGE 111, 226, 247. Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 2015, Art. 74 Rn. 50; Kment, NWVBl. 2017, 1
BVerfG, Urt. v. 10. 05. 1960 – 1 BvR 190/58 –, BVerfGE 11, 105, 110 ff.; BVerfG, Beschl. v. 11. 07. 2006 – 1 BvL 4/00 –, BVerfGE 116, 202, 215 f. 23 Kment, NWVBl. 2017, 1 (2); Wittreck, in: Dreier (Hrsg.) (Fn. 21), Art. 74 Rn. 50. 24 Vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Fn. 17), Art. 72 Rn. 22; Uhle, in: Maunz/Dürig (Fn. 17), Art. 72 Rn. 73. 25 BVerfG, Urt. v. 24. 10. 2002 – 2 BvF 1/01 –, BVerfGE 106, 62, 145, 147; BVerfG, Urt. v. 26. 01. 2005 – 2 BvF 1/03 –, BVerfGE 112, 226, 249. 26 Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. II, 2010, Art. 74 Rn. 89. 27 Herrmanns/Austermann, NdsVBl. 2010, 175 (176); Rengeling/Szczekalla, in: Bonner Kommentar zum GG, 2016, Art. 74 Rn. 121 f. 28 Weisensee, ER 2016, 68 (69); Schiller, RdE 2012, 423 (423); Rufin, ZUR 2009, 66 (72); Lecheler, RdE 2010, 41 (44); Ohms/Weiss, in: Säcker (Hrsg.) (Fn. 19), Vorb. EnLAG Rn. 7 ff.; Appel, NVwZ 2016, 1516 (1517); de Witt/Krause, RdE 2012, 328 (331). Zu den Regelungsgegenständen des EnLAG und des BBPlG vgl. Kment, Streitfragen der Erdverkabelung, 2017, S. 3, 6.
Das Spannungsverhältnis zwischen Energiewirtschaft und Raumordnung
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§ 2 EnLAG und des § 4 BBPlG29 zu Ausführungsalternativen hinsichtlich der Errichtung, der Änderung oder des Betriebs von elektrischen Höchstspannungsleitungen auch dem Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zugeordnet werden. Die Regelungen des § 2 EnLAG und des § 4 BBPlG erfüllen außerdem die Anforderungen der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG.30 Ungeachtet der gesetzlichen Begründung, die bereits viele Gründe liefert,31 lässt sich dies auch daraus herleiten, dass sich § 2 EnLAG und § 4 BBPlG auf Vorhaben beziehen, die einen Pilotcharakter für ganz Deutschland besitzen.32 Die bei ihrer Verwirklichung ermittelten Erkenntnisse sollen bundesweit auch für andere Vorhaben Fortschritte bringen. Dieser Umstand rechtfertigt es auch, die bei der Verwirklichung der Erdkabelvorhaben anfallenden Mehrkosten auf alle Energienetzbetreiber umfassend umzulegen.33 Folglich müssen für die Vorhaben bundeseinheitliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, um den Regelungserfolg nicht unnötig zu gefährden. VI. Eingeschränkter Befugnisrahmen des Landesgesetzgebers – Raumordnung und ihr Verhältnis zum Fachrecht Die verfassungsrechtliche Einordnung der energiewirtschaftlichen Regelungen des § 2 EnLAG und des § 4 BBPlG wirft die Frage auf, in welcher Beziehung hierzu landesplanerische Vorgaben zu Mindestabständen von Höchstspannungsfreileitungen stehen. Im Kern geht es um die Abgrenzung von gesamtplanerischem Raumordnungsrecht zum energiewirtschaftlichen Fachrecht. Dies setzt eine nähere Untersuchung des Kompetenzbereichs der Raumordnung voraus. 1. Verfassungsrechtlicher Kompetenzrahmen der Raumordnung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG Der Verfassung lassen sich nur wenige Anhaltspunkte entnehmen, welche Kompetenzfülle mit dem Kompetenztitel der Raumordnung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG verbunden sein soll. Dies ist für den Kompetenzkatalog des Grundgesetzes allerdings nicht ungewöhnlich, sind doch die einzelnen Kompetenzen mit gewissen „Randun29
Siehe die obigen Ausführungen unter III. 1. So auch Lecheler, RdE 2010, 41 (44); a. A. Schulte/Apel, DVBl. 2011, 862 (868 f.). Siehe zu Einzelheiten dieses Kriteriums BVerfG, Urt. v. 24. 10. 2002 – 2 BvF 1/01 –, BVerfGE 106, 62, 135 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Fn. 17), Art. 72 Rn. 15 ff. 31 BT-Drs. 16/10491, S. 15. 32 OVG Münster, Urt. v. 24. 08. 2016 – 11 D 2/14.AK -, Juris Rn. 189; Ohms/Weiss, in: Säcker (Hrsg.) (Fn. 19), § 2 EnLAG Rn. 65; Herbold/Pleiner, UPR 2013, 258 (261); Mann, Rechtsfragen der Anordnung von Erdverkabelungsabschnitten bei 380 kV-Pilotvorhaben nach dem EnLAG, Rechtsgutachten 2016, S. 18, 30; Fest/Nebel, NVwZ 2016, 177 (183); Schirmer, DVBl. 2016, 285 (289); Weisensee, ER 2016, 68 (69). 33 BT-Drs. 16/10491, S. 17; Schirmer, DVBl. 2010, 1349 (1354), ders., DVBl. 2016, 285 (288); de Witt/König, DVBl. 2013, 955 (960). 30
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schärfen“ belegt, die im Wege der Auslegung möglichst klein zu halten sind.34 Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem sog. Baurechtsgutachten aus dem Jahr 1954 mit der Frage nach der Bedeutung der Raumordnungskompetenz und ihres Zusammenspiels mit anderen Kompetenztiteln erst- und letztmalig befasst.35 Das deutlich vor der Föderalismusreform I im Jahr 2006 erteilte Gutachten bestimmt – trotz einiger Vorbehalte –36 weiterhin die kompetenzrechtliche Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG.37 In seinem Gutachten kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Erkenntnis, dass die Raumordnung die zusammenfassende hoheitliche Gestaltung des Raums jenseits der Ortsebene unter überörtlichen und überfachlichen Gesichtspunkten beschreibe.38 Raumordnung ist also eine übergeordnete, zusammenfassende und die Fachplanungen aufeinander abstimmende Planung.39 2. Auftrag und Gestaltungskraft der Raumordnung nach Maßgabe des Raumordnungsgesetzes Die aufgezeigten verfassungsrechtlichen Basislinien werden unmittelbar durch die in § 1 Abs. 1 ROG definierte Verwaltungsaufgabe der Raumordnung (Anwendungsbereich) nachgezeichnet. Dort wird abschließend definiert, dass sich die Raumordnung damit befasst, den Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und auch seine Teilräume zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern.40 Instrumente zur Erfüllung dieses Arbeitsauftrags sind die zusammenfassenden, überörtlichen und fachübergreifenden Raumordnungspläne, die raumordnerische Zusammenarbeit und die Abstimmung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen.41 So können Konflikte auf den unterschiedlichen Planungsebenen vermieden werden (§ 1 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 ROG) und Vorsorge für einzelne Nutzungen und Funktionen des Raums getroffen werden (§ 1 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 ROG).42
34
Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Fn. 17), Art. 70 Rn. 6 ff. BVerfG, Gutachten v. 16. 06. 1954 – 1 PBvV 2/52 –, BVerfGE 3, 407. 36 Vgl. dazu Kment, NuR 2006, 217 (218). 37 Vgl. jüngst Petschulat, Die Regelungskompetenzen der Länder für die Raumordnung nach der Föderalismusreform, 2015, S. 47; Kment, NWVBl. 2017, 1 (5). 38 BVerfG, Gutachten v. 16. 06. 1954 – 1 PBvV 2/52 –, BVerfGE 3, 407 (425); ebenso Schmidt-Aßmann, FS Weyreuther, 1993, S. 73 (73); Runkel, in: Bielenberg/Runkel/Spannowsky (Hrsg.), Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, 2016, L § 1 Rn. 45; Kment, NuR 2006, 217 (218). 39 Beckmann, NWVBl. 2011, 249 (250); Kment, NWVBl. 2017, 1 (5); Durner, Konflikte räumlicher Planung, 2005, S. 33; Deutsch, EurUP 2016, 90 (91); Petschulat, Die Regelungskompetenzen der Länder für die Raumordnung nach der Föderalismusreform, 2015, S. 44. 40 Runkel, in: Bielenberg/Runkel/Spannowsky (Hrsg.) (Fn. 38), L § 1 Rn. 46. 41 BVerwG, Urt. v. 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04 –, BVerwGE 125, 116, 135 ff. 42 Finkelnburg/Ortloff/Kment, Öffentliches Baurecht, 2017, § 20 Rn. 12 ff. 35
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3. Raumbezogene Koordinierungsfunktion und Sicherungsfunktion der Raumordnung ohne Ersetzungs- bzw. Verdrängungsbefugnis a) Verbindlicher Koordinierungs- und Sicherungsanspruch Um im Verhältnis zu anderen Planungen und fachgesetzlich veranlassten raumbedeutsamen Maßnahmen ihren Koordinierungs- und Sicherungsauftrag erfüllen zu können, darf die Raumordnung verbindliche raumbezogene Vorgaben für andere Sachmaterien treffen.43 Die Bindungswirkungen, die in den §§ 4, 5 ROG gebündelt angeordnet sind, kennen insbesondere die Beachtenspflicht nach § 4 Abs. 1 S. 1 ROG.44 Diese hält alle öffentlichen Stellen an, ihre raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen in Übereinstimmung mit den Zielen der Raumordnung zu bringen.45 Die Bindungswirkungen erfassen alle öffentlichen Stellen, also gem. § 3 Abs. 1 Nr. 5 ROG alle Behörden des Bundes und der Länder, kommunale Gebietskörperschaften, bundesunmittelbare und die der Aufsicht eines Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts. Gemeint sind damit auch alle Träger der Fachplanung bzw. des Fachrechts.46 Hierbei ist unbedeutend, ob sich die adressierten Fachplanungen bzw. Fachbehörden in der Zuständigkeit des Bundes oder der Länder befinden. Lediglich § 5 Abs. 1 ROG schafft eine gewisse Privilegierung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen des Bundes dahingehend, dass die Bindungswirkungen von Zielen der Raumordnung nur eintreten, wenn die zuständige Stelle oder Person auf Seiten des Bundes bei der Aufstellung des Raumordnungsplans nach § 10 ROG beteiligt worden ist und sie innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Mitteilung des rechtsverbindlichen Ziels nicht widersprochen hat.47 b) Schutzbedürftige Fachkompetenz und Gesichtspunkte der sachgerechten Aufgabenzuweisung Die zunächst weiträumig erscheinenden Einwirkungsmöglichkeiten der Raumordnung auf das Fachrecht sind jedoch nicht unbegrenzt gewährleistet, denn sie müssen sich innerhalb des bereits beschriebenen48 Aufgaben- und Funktionsbereichs der Raumordnung nach § 1 Abs. 1 ROG halten.49 Obschon das Fachrecht anders als die 43
Durner, Konflikte räumlicher Planung, 2005, S. 11. Finkelnburg/Ortloff/Kment, Öffentliches Baurecht, 2017, § 20 Rn. 33. 45 BVerwG, Beschl. v. 20. 08. 1992 – 4 NB 20/91 –, BVerwGE 90, 329, 332 f.; Kment, Rechtsschutz im Hinblick auf Raumordnungspläne, 2002, S. 73. 46 Zentralinstitut für Raumplanung, DVBl. 2005, 1149 (1156). 47 Runkel, in: Bielenberg/Runkel/Spannowsky (Hrsg.) (Fn. 38), L § 5 Rn. 36 ff.; Zentralinstitut für Raumplanung, DVBl. 2005, 1149 (1157); Kment, NuR 2010, 392 (392). 48 Siehe die obigen Ausführungen unter VI./2. 49 Heemeyer, in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), Festlegungen zum Verkehr in Regionalplänen, 2007, S. 7; Runkel, in: Spannowsky/Runkel/Goppel, ROG, 2010, § 1 Rn. 72. 44
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kommunale Selbstverwaltung nicht auf eine verfassungsrechtliche Gewährleistung wie Art. 28 Abs. 2 GG verweisen kann, ist es auch ein verfassungsrechtliches Gebot, den Kompetenzbereich der Fachplanungen zu respektieren.50 Es ist aber auch ein Gebot der Sachgerechtigkeit, die Steuerungspotenziale der jeweiligen staatlichen Planungs- und Gestaltungsebenen (überörtliche und örtliche Gesamtplanung sowie Fachrecht) optimal miteinander operieren zu lassen.51 c) Überschneidungsbereiche bei der Aufgabenerfüllung und ihre Abgrenzung Der Aufgabenbereich der Raumordnung – vor allem die fachgesetzlichen Raumgehalte zu koordinieren und Räume für zukünftige Aufgaben und Funktionen zu sichern – bedingt regelmäßig, dass der Aktionsraum von Raumordnung und Fachplanung bzw. Fachrecht nicht frei von Überschneidungen ist.52 Gleichwohl darf die Raumordnung keine Ersatzfachplanung betreiben oder sich an die Stelle des Fachrechts setzen.53 Der somit notwendige Ausgleich – die Abgrenzung – zwischen der Raumordnung und dem Fachrecht wird maßgeblich durch das Kriterium der Überfachlichkeit der Raumordnung hergestellt.54 Nach diesem Kriterium darf die Raumordnung Sachbereiche nur derart weitgehend regeln, wie aus überfachlichen Gründen ein Bedarf nach überörtlicher Abstimmung der unterschiedlichen Nutzungsansprüche an den Raum besteht,55 also nicht Fachinteressen, sondern überfachliche Fragen angesprochen sind.56 Dieser eröffnete überfachliche Anwendungsbereich darf allerdings nicht übersteuernd dahingehend verstanden werden, dass die Kompetenz der Raumordnung so weit ginge, ihr eine integrative Überkompetenz zuzusprechen, die über alle übrigen Fachkompetenzen hinweg raumbezogene Regelungsgegenstände an sich ziehen kann.57 Raumordnung kann das Fachrecht weder ganz, noch in Bezug
50
Stüer/Hönig, UPR 2002, 333 (334). Vgl. dazu auch BVerwG, Urt. v. 17. 09. 2003 – 4 C 14/01 –, BVerwGE 119, 25; SchmidtEichstaedt, LKV 2012, 49 (52); Kment, BauR 2012, 1867 (1869). 52 Battis, Öffentliches Baurecht und Raumordnungsrecht, 2014, Rn. 57; Runkel, in: Bielenberg/Runkel/Spannowsky (Hrsg.) (Fn. 38), L § 1 Rn. 72. 53 BayVerfGH, Entscheidung v. 15. 07. 2002 – Vf. 10-VII-00 –, DÖV 2003, 78 (80); Spannowsky, UPR 2000, 418 (421); Finkelnburg/Ortloff/Kment, Öffentliches Baurecht, 2017, § 20 Rn. 12; Schink, NWVBl 2016, 177 (181). 54 BVerfG, Gutachten v. 16. 06. 1954 – 1 PBvV 2/52 –, BVerfGE 3, 407 (425); Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 2015, Rn. 3653; Kment, NWVBl. 2017, 1 (6). 55 BayVerfGH, Entscheidung v. 15. 07. 2002 – Vf. 10-VII-00 –, DÖV 2003, 78 (80); Hönig, NuR 2004, 158 (158); Durner, Konflikte räumlicher Planung, 2005, S. 255. 56 Schink, NWVBl 2016, 177 (181); Kment, NWVBl. 2017, 1 (6); Lieber, NVwZ 2011, 910 (911). 57 Durner, Konflikte räumlicher Planung, 2005, S. 256; Kment, NuR 2010, 392 (393). 51
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auf einzelne thematische Abschnitte ersetzen.58 Auch sind Vorgaben zu konkreten betrieblichen Vorgängen (Betriebsbeschränkungen) grundsätzlich nicht Regelungsgegenstand der Raumordnung.59 Die Raumordnung richtet sich nicht auf fachliche, sektoral zu erfüllende Angelegenheiten; insbesondere nicht, wenn diese Angelegenheiten inhaltlich-fachlicher, nichträumlicher Art sind.60 Vielmehr sollen die vorgefundenen Vorgaben der Fachplanung durch die Raumordnung in eine gesamträumliche, zusammenfassende Konzeption, einen Ordnungsrahmen, eingebettet werden.61 Überschreitet die Raumordnung diese Kompetenzgrenze, ist sie rechtswidrig und somit nichtig.62 Für die Bestimmung von Standorten und Linienverläufen bedeutet dies im Verhältnis von Raumordnung zu Fachrecht, dass die Raumplanung nicht die Verwirklichung eines konkreten Projekts an einer konkreten Stelle im Raum vorschreiben kann oder die Errichtung eines linienförmigen Vorhabens (Straße, Schiene, Elektrizitätsleitung) an einer exakten Linie vorgeben darf.63 Die Raumordnung darf lediglich bestimmte Flächen als grundsätzlich geeignet ansehen, das fragliche Projekt dort zu verwirklichen;64 der Verwirklichungsentschluss muss dem Fachrecht jedoch verbleiben. Umgekehrt darf die Raumordnung der Fachplanung bestimmte Flächen entziehen und diese alternativen Nutzungsformen zuweisen.65 Damit kann der Gestaltungsspielraum der Fachplanung66 erheblich eingegrenzt werden, weil nur noch die 58
BayVerfGH, Entscheidung v. 15. 07. 2002 – Vf. 10-VII-00 –, DÖV 2003, 78 (80); Spannowsky, UPR 2000, 418 (421); Kment, NuR 2010, 392 (393); Schink, NWVBl 2016, 177 (181); Beckmann, NWVBl. 2011, 249 (250). 59 Siehe etwa BVerwG, Urt. v. 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04 –, BVerwGE 125, 116; Deutsch, NVwZ 2010, 1520 (1523). Es sind nur seltene Ausnahmefälle denkbar, in denen die Raumordnung eine betriebsbezogene Regelung treffen muss. In diesen Fällen steht und fällt die Lösung des raumbezogenen Nutzungskonflikts mit der betriebsbezogenen raumordnerischen Festlegung. Eine Konfliktbewältigungschance auf nachfolgender planerischer Ebene oder in einem Genehmigungsverfahren scheidet in diesen Fällen aus. Vgl. dazu VGH Kassel, Urt. v. 21. 08. 2009 – 11 C 227/08.T –, LKRZ 2010, 66; Kment, BauR 2012, 1867 (1871); Reidt, DVBl. 2011, 789 (795), unter Bezugnahme auf ein Nachtflugverbot. 60 Spannowsky, UPR 2000, 418 (425). 61 Kment, DVBl. 2006, 1336 (1337); Langguth, ZfBR 2011, 436 (438); Schink, NWVBl. 2016, 177 (181); Erbguth/Schubert, Öffentliches Baurecht, 2014, § 3 Rn. 2. 62 Kment, NuR 2010, 392 (393). 63 BVerwG, Urt. v. 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04 –, BVerwGE 125, 116 (139); Kment, NWVBl. 2017, 1 (6). 64 BVerwG, Urt. v. 15. 05. 2003 – 4 CN 9/01 –, BVerwGE 118, 181 (194). 65 Kment, NuR 2010, 392 (393); Zentralinstitut für Raumplanung, DVBl. 2005, 1149 (1157). 66 Diesem Ansatz steht nicht entgegen, dass mitunter in einzelnen Bereichen des Fachplanungsrechts, wie dem Bergrecht, die Planfeststellung nach Ansicht der Rechtsprechung ohne Abwägung erfolgt und damit der Gestaltungsspielraum wesentlich hinter dem Gestaltungsspielraum der Gesamtplanung zurückbleibt. Vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 15. 12. 2006 – 7 C 1/06 –, BVerwGE 127, 259 Rn. 28: „Das allgemeine (und drittschützende) fachplanerische Abwägungsgebot gilt für die bergrechtliche Planfeststellung nicht.“; Hoppe/Spoer, Bergrecht und Raumordnung, 1999, S. 118 f.; Kment, ZUR 2016, 331 (333).
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verbleibenden Freiflächen für die Verwirklichung des Vorhabens in Betracht kommen.67 Dies kann im Einzelfall sogar so weit gehen, dass die Raumordnung die Örtlichkeit der einzelnen Alternativflächen räumlich definiert68 oder gar die Suche nach Alternativstandorten versagt.69 d) Missbrauchsfälle Die Raumordnung darf zu keiner Zeit ihre eigentliche Aufgabenstellung nach § 1 Abs. 1 ROG vergessen und muss stets ein Instrument zur Lösung raumbezogener Konflikte im Hinblick auf Raumnutzungsansprüche und Raumfunktionen bleiben.70 Insbesondere hat die Raumordnung die fachliche Deutungshoheit, also die fachliche Einschätzung über Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit bestimmter Vorhaben – auch im Hinblick auf ihre grundsätzlichen räumlichen Auswirkungen – zu respektieren. Die fachrechtlichen Wertungen dürfen nicht durch Mittel der Raumordnung umgangen bzw. ausgehebelt werden, etwa indem man einem als „unerwünscht“ eingestuften Vorhaben jegliche räumliche Verwirklichungschance dadurch nimmt, dass man hierfür schlichtweg keinen geeigneten Standort finden möchte.71 Die Raumordnung weist dieses „Missbrauchspotenzial“ auf, da nahezu jedwedes gesellschaftliche Problem eine räumliche Relevanz besitzt.72 Bei dieser Sichtweise würde die Aufgabe der Raumordnung ihrem Träger ein allgemeinpolitisches Mandat vermitteln und zu einer keinen (kompetenzrechtlichen) Beschränkungen länger unterworfenen Ersatzgesetzgebung mutieren.73 So kann sich der Träger der Raumordnung bei Verkennung seiner ihm eigentlich übertragenen Aufgabe solcher Themen annehmen, die er durch den Bundes- oder – bei regionaler Raumplanung – durch den Landesgesetzgeber als nicht ausreichend gelöst ansieht.74 Gerade in NordrheinWestfalen zeigen sich mit raumplanerischen Vorgaben für den Einsatz bestimmter Brennstoffe, raumplanerischen Vorgaben zur Reduzierung von Treibhausgasen (Klimaschutzgesetzgebung) oder einem Totalausschluss einzelner Technologien (Fracking) eher unrühmliche Auswüchse in diese Richtung.75
67
BVerwG, Urt. v. 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04 –, BVerwGE 125, 116, 139. Heemeyer, in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), Festlegungen zum Verkehr in Regionalplänen, 2007, S. 9, 11; Kment, NuR 2010, 392 (394). 69 BVerwG, Urt. v. 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04 –, BVerwGE 125, 116, 137 f. 70 Kment, NWVBl. 2017, 1 (6 f.); Deutsch, NVwZ 2010, 1520 (1522). 71 Kment, NWVBl. 2017, 1 (7). 72 Deutsch, NVwZ 2010, 1520 (1522). 73 Durner, Konflikte räumlicher Planung, 2005, S. 256; Deutsch, NVwZ 2010, 1520 (1522). 74 Siehe dazu auch Frenz, NVwZ 2016, 1042 (1044); Kment, NWVBl. 2017, 1 (7). 75 Deutsch, NVwZ 2010, 1520 (1522); Beckmann, NWVBl. 2011, 249 (250); Kment, NWVBl. 2017, 1 (7 ff.); a.A. wohl OVG Münster, Urt. v. 03. 09. 2009 – 10 D 121/07.NE –, ZNER 2009, 284 (289 f.). 68
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VII. Beurteilung der landesplanerischen Festsetzung Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 6-9 LROP Nds. und Nr. 8.2 – 4 LEP NRW Die aufgezeigten Grundlinien des Verhältnisses von gesamtplanerischer Raumordnung und dem themenspezifischen Fachplanungsrecht erlauben es, die landesplanerischen Festsetzungen des Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 6 – 8 LROP Nds. und der Nr. 8.2 – 4, S. 1 LEP NRW verfassungsrechtlich einzuordnen. 1. Rechtfertigungsversuche hinsichtlich einer zulässigen raumordnungsrechtlichen Planung Zur Rechtfertigung der raumplanerischen Notwendigkeit der gewählten Abstandsregelungen ist in den Begründungen zu den betreffenden Plansätzen Unterschiedliches vorgetragen worden. a) Begründung des niedersächsischen Landesraumordnungsprogramms Im niedersächsischen Landesraumordnungsprogramm wird die eigene Planungsaktivität dahingehend verstanden, dass das Raumordnungsrecht „für neu zu errichtende Höchstspannungsfreileitungen einen Maßstab für die Abstandsplanung zu Wohngebäuden setzen (will).“76 Dieser abstrakt generelle Maßstab hat nach Ansicht des Plangebers die Funktion, der Praxis eine Hilfestellung zu geben, um sensible Bereiche frühzeitig zu identifizieren und zügig geeignete Alternativen zu prüfen.77 Als Maßstab dienen dem Plangeber allgemein definierte Abstandsfestlegungen: „Durch die Festlegung von Abständen sollen mögliche gesundheitliche Beeinträchtigungen vorsorgend vermieden und Beeinträchtigungen des Wohnumfeldes minimiert werden.“78 Diese angestrebte Nutzungskoordination und hohe Gewichtung von Belangen, welche die Wohnumfeldqualitäten betreffen, finden aus der Sicht des Plangebers ihre Grundlage in der Aufgabe und Leitvorstellung der Raumordnung. Man beruft sich in diesem Zusammenhang vor allem auf das Vorsorgeprinzip79 und leitet hieraus einen Vorrang gegenüber der Fachplanung ab.80 Diese Sichtweise erlaubt es dem Plangeber in Niedersachsen sodann, die Definition eines Abstandes von 400 m zu 76
Begründung zu der Verordnung zur Änderung der Verordnung über das Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen v. 24. 09. 2014, S. 50. 77 Begründung zu der Verordnung zur Änderung der Verordnung über das Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen v. 24. 09. 2014, S. 50. 78 Begründung zu der Verordnung zur Änderung der Verordnung über das Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen v. 24. 09. 2014, S. 50. 79 Begründung zu der Verordnung zur Änderung der Verordnung über das Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen v. 24. 09. 2014, S. 50 f. 80 Begründung zu der Verordnung zur Änderung der Verordnung über das Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen v. 24. 09. 2014, S. 51. Hervorhebung nicht im Original.
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Wohngebäuden im Siedlungszusammenhang, der deutlich über den fachrechtlichen Gesundheitsschutz nach Maßgabe des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) hinausgeht, damit zu rechtfertigen, „dass dadurch die wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang gebracht und eine dauerhafte, großräumig ausgewogene Ordnung erreicht werden [kann] (§ 1 Abs. 2 ROG)“.81 b) Begründung des Landesentwicklungsplans Nordrhein-Westfalen Die Begründung des landesplanerisch angestrebten Regelungsmechanismus fällt in Nordrhein-Westfalen umfangreich aus. Zu Beginn wird darauf hingewiesen, dass die landesplanerischen Mindestabstände dazu beitragen, „mögliche Beeinträchtigungen des Wohnumfeldes vorsorgend zu vermeiden. Bei der raumordnerischen Abstimmung von Leitungstrassen sollen solche sensiblen Bereiche frühzeitig identifiziert und geeignete Alternativen geprüft werden.“82 Die gewählten Abstände gehen – wie beim niedersächsischen Pendant –83 deutlich über den Bereich hinaus, der aus fachlichen Gesichtspunkten nach Maßgabe der 26. Bundesimmissionsschutzverordnung (26. BImSchV) als maßgeblicher Grenzwert einzuhalten ist. Gleichwohl wird eine ausgedehnte Abstandssicherung für erforderlich gehalten.84 Der Plangeber ist der Ansicht, „dass es im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen häufig zu kaum überwindbaren Raumnutzungskonflikten zwischen Wohnbebauung und Höchstspannungsleitungen kommt. Da es in der Vergangenheit keine vergleichbare raumordnerische Abstandregelung gab, rückten Wohngebiete und Höchstspannungsleitungen immer weiter zusammen, wodurch sich die Raumnutzungskonflikte über die Jahre potenzierten. (…) (D)iese Konflikte (sollen) bei neuen Wohngebietsausweisungen oder neuen Höchstspannungstrassen zukünftig möglichst verhindert werden.“85 Sodann betont auch der nordrhein-westfälische Plangeber mit Nachdruck das Vorsorgegebot.86 Es liefert die Grundlage für die Definition der gewählten Abstandswerte und soll erneut einen Beleg für den Vorrang des Raumordnungsrechts gegenüber dem Fachrecht erbringen. In der Begründung wird ausgeführt: „Nutzungskoordination und hohe Gewichtung von Belangen, die die Wohnumfeldqualitäten betreffen, finden zunächst ihre Grundlage in der Aufgabe und Leitvorstellung der Raumordnung. In § 1 ROG ist das Vorsorgeprinzip festgelegt, nachdem für einzelne Raumfunktionen und Raumnutzungen bei gleichzeitiger Konfliktminimierung entsprechende Vorsorge zu treffen ist. Hieraus leitet sich darüber hinaus auch der raumord81 Begründung zu der Verordnung zur Änderung der Verordnung über das Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen v. 24. 09. 2014, S. 51. 82 Landesentwicklungsplan NRW 2017, S. 93. Hervorhebung nicht im Original. 83 Siehe die obigen Ausführungen unter VII. 1. a). 84 Landesentwicklungsplan NRW 2017, S. 93 f. 85 Landesentwicklungsplan NRW 2017, S. 93. 86 Landesentwicklungsplan NRW 2017, S. 93.
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nerische Auftrag zum Interessenausgleich und zur Konfliktminimierung zwischen Siedlungsstruktur, Infrastruktur und Freiraumschutz ab. Dieser raumordnerische Auftrag zielt auf eine großräumige Betrachtung ab und kann insoweit über das Fachrecht hinausgehen.“87 Später heißt es zur Definition eines 400 m-Abstands: „Bei der Bestimmung und Begründung eines hinreichenden Abstandes von 400 m zu Wohngebäuden im Siedlungszusammenhang kommen daher Vorsorgegrundsätze der Planung zum Tragen, die (…) sich darin begründen, dass dadurch die wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang gebracht und eine dauerhafte, großräumig ausgewogene Ordnung erreicht werden kann (§ 1 Abs. 2 ROG). (…) Der Abstand von 400 m ist auch bei der Bauleitplanung und sonstigen Satzungen zu berücksichtigen, damit bei Neuausweisungen dauerhaft ein ausreichender Vorsorgeabstand zwischen Leitungen und Wohnbebauung erhalten bleibt.“88 2. Fehlende konkrete räumliche Anbindung Die dargelegten Gründe für die landesplanerischen Festsetzungen89 sind in der Sache sicherlich geeignet, um im Einzelfall bzw. bei einer Summe konkreter Gegebenheiten die Ansiedlung von elektrischen Höchstspannungsfreileitungen raumordnungsrechtlich auszuschließen.90 Es dürfte in der konkreten planerischen Konfliktbewältigung ebenfalls zulässig sein, Höchstspannungsfreileitungen nur im Ausnahmefall unter Beachtung der im Planwerk selbst aufgeführten Ausnahmetatbestände (Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 9 LROP Nds. und Nr. 8.2 – 4, S. 2 LEP NRW) zu ermöglichen. In ihrem tatsächlich anzutreffenden generellen Ansatz entheben sich die Planaussagen des Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 6 – 9 LROP Nds. und der Nr. 8.2-4 LEP NRW jedoch der konkreten Planungssituation und entwickeln sich damit zu einer unzulässigen „Korrekturgesetzgebung“ bzw. einem – den Bundesgesetzgeber – unzulässig korrigierenden Planwerk.91 Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 6-9 LROP Nds. und Nr. 8.2-4 LEP NRW entwickeln ein eigenständiges Regelwerk, unter welchen generellen Voraussetzungen bei der Errichtung, Änderung oder dem Betrieb von neu zu errichtenden Höchstspannungsleitungen im Fall der Wohnbebauungsannäherung generell welche technische Ausführungsart anzuwenden ist. Dieses sind keine gesamtplanerischen Fragestellungen, sondern fachrechtliche Themeninhalte. Derartigen Themeninhalten muss sich das Fachrecht widmen. Mit § 2 EnLAG und § 4 BBPlG hat sich der Bundesgesetzgeber dieser Aufgabe abschließend gestellt.
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Landesentwicklungsplan NRW 2017, S. 93. Hervorhebung besteht nicht im Original. Landesentwicklungsplan NRW 2017, S. 93 f. Hervorhebung besteht nicht im Original. 89 Siehe hierzu bereits die obigen Ausführungen unter VII. 1. 90 Vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04 –, BVerwGE 125, 116, 139; Kment, NuR 2010, 392 (393); Zentralinstitut für Raumplanung, DVBl. 2005, 1149 (1157). 91 Siehe hierzu die obigen Ausführungen unter VI. 3. d). 88
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Zu einem anderen Befund gelangt man nur, wenn die Landesplanung – anders als vorliegend der Fall – planerisch zur Bewältigung einer konkreten räumlichen Konfliktlage ansetzen würde. In letztgenanntem Fall könnte das Raumordnungsrecht parallel in Stellung gebracht werden. Den ermittelten Befund vermag auch der Vorsorgegedanke, der mehrfach vorgetragen wird,92 nicht zu erschüttern. Das Vorsorgeprinzip93 verschafft nämlich der Raumordnung keine zusätzlichen Befugnisse, die eine Kompetenzverschiebung zwischen Fachrecht und Raumordnungsrecht rechtfertigen könnten. Es ist einzig ein Rechtsprinzip, um staatlichen Hoheitsträgern eine Rechtfertigung für über das Schutzbedürfnis hinausgehende Maßnahmen zu liefern;94 es trägt also eine Ermächtigungs- und Legitimationsfunktion in sich, Präventionsmaßnahmen unter Unsicherheitsbedingungen anzuordnen bzw. auszuführen.95 Die innerstaatliche Kompetenzverteilung (zwischen Fachplanung und Gesamtplanung) ist jedoch nicht der Anwendungsbereich des Vorsorgeprinzips. Anderenfalls müsste aus dem Vorsorgeprinzip abgeleitet werden können, dass bei Gefährdungen der Umwelt die Raumordnung Vorzug vor dem Fachrecht genießen sollte. Dies ist dem umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip jedoch nicht zu entnehmen. Anders gewendet: Das Vorsorgeprinzip kann nur zu einem Befugniszuwachs innerhalb eines Kompetenzbereichs führen, jedoch keine Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern bewirken.96 Ein Übergriff auf die Fachkompetenz des Wirtschaftsrechts (Energiewirtschaft), die ebenfalls dem Vorsorgegrundsatz verpflichtet ist und diesem auch gerecht wird, ist der Raumordnung nicht erlaubt. VIII. Resümee Der Ausbau der Energienetze tangiert viele Interessen. Auch einzelne Bundesländer versuchen, durch landesplanerische Vorgaben auf die Streckenverläufe und die Ausführungsart Einfluss zu nehmen. Dabei stoßen sie jedoch auf verfassungsrechtliche Grenzen. So können die Plansätze des Kap. 4.2 Ziff. 07 S. 6-9 LROP Nds. und des Nr. 8.2 – 4 LEP NRW nicht auf den Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG (Raumordnung) gestützt werden. Sie regeln einen Themenbereich, welcher der verfassungsrechtlichen Kompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (Wirtschaft) zugewiesen ist. Damit setzt sich der Bundesgesetzgeber mit seinen Normen gegenüber den Ländern durch. Die beiden in den Blick genommenen niedersächsischen und nord-
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Siehe hierzu die obigen Ausführungen unter VII. 1. Siehe hierzu etwa Werner, UPR 2001, 335 (335 ff.). 94 Kment, NWVBl. 2017, 1 (9). 95 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, S. 155; vgl. auch den Sachverständigenrat für Umweltfragen, Stellungnahme 18, Fracking zur Schiefergasgewinnung – Ein Beitrag zur energie- und umweltpolitischen Bewertung, 2013, S. 40. 96 Kment, NWVBl. 2017, 1 (9). 93
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rhein-westfälischen Planungskomplexe werden somit durch das (Bundes-)Fachrecht verdrängt;97 sie sind verfassungswidrig (Sperrwirkung) und folglich nichtig.
97 So im Ergebnis etwa auch Appel, NVwZ 2016, 1516 (1517); Weisensee, ER 2016, 68 (69); Rufin, ZUR 2009, 66 (72); Hermanns/Austermann, NdsVBl. 2010, 175 (176 f.).
Digitalisierung als Herausforderung und Chance für Energiewirtschaft und Energierecht Von Torsten Körber, Köln I. Energiewende durch Dekarbonisierung, Dezentralisierung und Digitalisierung Die Digitalisierung hat im Zuge der Energiewende auch die Energiewirtschaft erreicht. Im Mittelpunkt der politischen Agenda in Deutschland und Europa steht seit langem die Dekarbonisierung der Energieerzeugung, also die Verringerung des CO2Ausstoßes mit dem Ziel des Klimaschutzes. Das ist in Deutschland – anders als in Frankreich, wo dieses Ziel dadurch erreicht werden kann, dass man auf Atomkraft setzt – aufgrund des gleichzeitigen Atomausstiegs kein einfaches Unterfangen. Zu diesem Zweck wird insbesondere der Ausbau von Photovoltaik und Windenergie forciert und seit der Jahrtausendwende massiv subventioniert. Anfangs geschah dies mit geradezu astronomischen Fördersätzen von über 50 Cent/kWh,1 während jüngste Ausschreibungen auf dem Gebiet der Offshore-Windparks zeigen, dass jedenfalls Windenergie heute auch ganz ohne Subventionen wettbewerbsfähig ist.2 Dass es sich dabei weitgehend um sehr kostspielige „Symbolpolitik“ handelt, weil eine rein national betriebene, nicht mit dem EU-weiten Emissionshandel abgestimmte Dekarbonisierung den CO2-Ausstoß effektiv gar nicht mindert, ficht die Politik ebenso wenig an wie der Umstand, dass das Klima ein globales Phänomen ist, dem nationale Alleingänge wenig nützen. Den Preis dafür zahlt der Verbraucher in Gestalt eines Strompreises, der heute zu den höchsten auf der Welt zählt. Hatte der damalige Bundesumweltminister Trittin im Juli 2004 noch versprochen, „dass die Förderung erneuerbarer Energien einen durchschnittlichen Haushalt nur rund 1 Euro im Monat kostet – so viel wie eine Kugel Eis“,3 so lag der Mehraufwand im Jahr 2017 allein für die EEG-Umlage bereits bei rund 330 Euro für einen Vier-Personen-Haushalt, also – um in dem verwendeten Bild zu bleiben – bei den Kosten einer Kugel Eis pro Tag. Von den rund 30 Cents, die eine Kilowattstunde 2017 die Haushaltskunden heute kostet, sind 57,6 % Steuern und Abgaben, gefolgt von den regulierten Netzentgelten mit
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Wirth, Fraunhofer ISE, Aktuelle Fakten zur Photovoltaik in Deutschland, 2017, S. 11. S. http://www.faz.net/-gqe-8wvsz (abgerufen am 5. 12. 2017). 3 Pressemitteilung vom 30. 7. 2014, https://www.bmub.bund.de/pressemitteilung/erneuerba re-energien-gesetz-tritt-in-kraft/ (abgerufen am 5. 12. 2017). 2
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25,6 %. Dem Wettbewerb zugänglich bleiben Erzeugung und Vertrieb, die 2017 nur noch weniger als 20 % zum Strompreis beigetragen haben.4 Eng mit der Dekarbonisierung verbunden ist eine Dezentralisierung der Energieerzeugung. Die Umstellung auf erneuerbare Energien hat einen Strukturwandel weg von einer zentralen, verlässlichen, einfach regelbaren Stromversorgung durch große Kohle- und Kernkraftwerke hin zu einer dezentralen, stärker volatilen und schwieriger regelbaren Stromerzeugung auf der Basis von Wind und Sonne bewirkt. Diese Dezentralisierung wirft komplexe Probleme in Bezug auf die Versorgungssicherheit auf: einerseits, weil Strom nicht mehr primär dort produziert wird, wo er gebraucht wird (Westen und Süden), sondern dort, wo besonders viel Wind weht (Norden und Osten); andererseits, weil die auf erneuerbaren Energien basierenden, dezentralen Erzeugungsanlagen ganz überwiegend an das Verteilnetz angeschlossen sind, das dafür nicht ausgelegt ist und zunehmend bidirektionale Lastflüsse verkraften muss. Die Zahl großer konventioneller Stromerzeugungsanlagen war und ist überschaubar. Nach der im Internet abrufbaren Kraftwerkliste der Bundesnetzagentur waren im November 2017 noch acht Kernkraftwerke und rund 250 auf fossilen Brennstoffen basierende Großkraftwerke mit einer Netto-Nennleistung von 100 MW oder mehr in Betrieb. Die Zahl der (oft sehr kleinen) Anlagen, die „Grünstrom“ aus erneuerbaren Energien erzeugen, ist deutlich größer. Ihre Zahl wird in Deutschland auf etwa 1,5 Millionen geschätzt, wobei die zahlenmäßig bei weitem meisten Anlagen PV-Dachanlagen sind.5 98 % dieser Anlagen sind dezentral auf der Niederspannungsebene an die Verteilnetze angeschlossen,6 die im Gegensatz zu den Übertragungsnetzen überwiegend noch nicht „digitalisiert“ sind. Beides – die zunehmende Belastung des Endverbrauchers mit den Kosten der Energiewende ebenso wie die zunehmende Belastung der Netze durch Dezentralisierung und verbrauchsferne Stromerzeugung – soll nunmehr (auch) durch die Digitalisierung abgemildert werden. In Deutschland wurde im Dezember 2016 das „Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende“7 verabschiedet. Dieses Gesetz soll nach dem Willen des Gesetzgebers so etwas wie das „Stammgesetz der Digitalisierung im Energiebereich“ werden. Der Titel verspricht allerdings mehr als das Gesetz hält, denn das Gesetz beschäftigt sich keineswegs mit der Digitalisierung insgesamt, sondern im Wesentlichen erst einmal mit dem Messwesen als einem wichtigen ersten Schritt.8 Kern des Gesetzes ist das Messstellenbetriebsgesetz (MsbG), das einen mittelfristig umfassenden „Rollout“ intelligenter oder jedenfalls moderner, digitaler Messeinrichtungen und Datenverarbeitungseinrichtungen (sog. „Smart Meter Gateways“) vorsieht. Durch diese 4 Vgl. http://www.verivox.de/themen/strompreiszusammensetzung/ (abgerufen am 5. 12. 2017). 5 Wirth, Fraunhofer ISE, Aktuelle Fakten zur Photovoltaik in Deutschland, 2017, S. 6. 6 Wirth, Fraunhofer ISE, Aktuelle Fakten zur Photovoltaik in Deutschland, 2017, S. 32. 7 BGBl. 2016 I, 2034. 8 Zur Entwicklung s. auch vom Wege/Wagner, N&R 2016, 2 ff.
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sowohl bei Erzeugern als auch bei Verbrauchern installierten digitalen Einrichtungen soll es möglich werden, Erzeugung und Lasten flächendeckend und umfassend in Echtzeit zu erfassen und damit die Grundlage für ein digital gesteuertes Energiesystem sowohl auf der Ebene der Netze (Smart Grids) als auch und vor allem der Märkte (Smart Markets) zu schaffen. Die Bundesregierung hat zur Begründung für den mit dem MsbG angestrebten Smart-Meter-Rollout unterstrichen, dass sich die Verbraucher immer mehr zu „Prosumern“ (oder „Prosumenten“) entwickelten und dass ein modernes, digital vernetztes Messwesen dem Verbraucher präzise Informationen liefern und die Umsetzung variabler Tarife ermöglichen solle.9 Damit befindet sich der deutsche Gesetzgeber im Einklang mit der EU-Kommission, die ganz ähnliche Vorstellungen im Vorschlag für eine 4. Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie vom 23. Februar 2017 geäußert hat. Das MsbG nimmt die Inhalte dieser Richtlinie – jedenfalls was das Messwesen angeht – in weiten Teilen bereits vorweg. Die Kommission betont in der Begründung zu ihrem Vorschlag, dass ein digitales Messwesen die Verbraucher befähige, durch die Nutzung neuer technischer Möglichkeiten ihre Stromrechnung zu senken, indem sie ihre Nachfrage der Produktion folgend flexibel anpassen. Sie strebt sogar vollmundig an, den Konsumenten „in das Zentrum des Energiemarktes zu rücken“ und ihn als Prosumer in die Produktion einzubinden. Das setze voraus, dass die Konsumenten „in Echtzeit“ auf Preissignale der Strombörsen reagieren und – z. B. durch Nutzung smarter Haushaltsgeräte, Heiz- und Kühlgeräte, Speicher und der Elektromobilität – davon profitieren könnten.10 Bevor die Verbraucher die Vorteile dieser digitalen Transformation genießen können, sind freilich – wie bei der Energiewende insgesamt – wiederum erhebliche Investitionen erforderlich. Es wird geschätzt, dass die Installation digitaler Zähler und Smart Meter in etwa das Zehnfache der traditionellen (und zudem bereits vorhandenen) analogen Ferraris-Zähler kosten wird. Eine komplette Digitalisierung aller 45 bis 47 Millionen Zählpunkte in Deutschland dürfte Investitionen von rund 15 Mrd. Euro erfordern.11 Die auf die Haushalte und Unternehmen zukommenden Kosten sind nicht nur materieller Art. Darüber hinaus stellen sich Fragen des Datenschutzes und der IT-Sicherheit. Anders als ein analoger Ferraris-Zähler, der mit Augen und Kugelschreiber ausgelesen werden muss, der keine Daten senden kann und den man daher auch nicht von außen hacken kann, öffnet eine deutschlandund europaweite digitale Vernetzung „intelligenter“ Strom- und Gaszähler ein Tor in die Privatsphäre der Anschlussnehmer und Anschlussnutzer. Wie die Energiewende insgesamt ist auch die durch das MsbG vorangetriebene „Digitalisierung der Energiewende“ also letztlich eine Wette auf die Zukunft, für welche die Verbraucher erst einmal „Vorkasse“ in Form von Geld und Daten leisten 9
BT-Drs. 18/7555, S. 1, 62; zum Begriff der Digitalisierung auch Booz, N&R 2017, 130 f. COM (2016) 864 final, 4 f. 11 Vgl. Ernst&Young, Kosten-Nutzen-Analyse für einen flächendeckenden Einsatz intelligenter Zähler, 2013, S. 145. 10
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müssen. Mit etwas Glück besteht aber durchaus die Chance, dass die Verbraucher diesmal auch eine „digitale Dividende“ einfahren können. II. Smart Grids durch Digitalisierung Die Dezentralisierung der Stromerzeugungsanlagen und die Trennung von Stromproduktion und -verbrauch bewirken für die kommenden Jahre einen erheblichen Netzausbaubedarf. Dieser besteht sowohl auf der Ebene der Übertragungsnetze als auch auf der Ebene der Verteilnetze, an welche heute die meisten EE-Anlagen angeschlossen sind. Insoweit ist zunächst die Frage aufgeworfen, welchen Beitrag die Digitalisierung für die Netzsicherheit, aber auch für eine Reduzierung des Netzausbaubedarfs leisten kann. Eine intelligente bzw. „smarte“ Netzführung (Smart Grids) bedeutet in diesem Kontext, wie die BNetzA ausgeführt hat, dass Netzzustände in Echtzeit erfasst werden können und Möglichkeiten zur Steuerung und Regelung der Netze bestehen, so dass die bestehende Netzkapazität tatsächlich voll genutzt werden kann.12 Die Übertragungsnetze werden schon heute in aller Regel intelligent geführt. Sie sind bereits Smart Grids. Engpässe auf der Ebene der Übertragungsnetze können daher – unbeschadet weiterer Flexibilitätsoptionen wie Speicher, KWK und Power-To-Gas – grds. nur durch physischen Netzausbau behoben werden.13 Der Schwerpunkt der digitalen Ertüchtigung der Netze liegt mithin auf der Ebene der Verteilnetze. Auf dieser Ebene sind bei weitem noch nicht alle Netze „intelligent“. Für eine flächendeckende Digitalisierung dieser Netze besteht allerdings auch kein zwingender Bedarf. Das folgt erstens schon daraus, dass nicht an jedes Verteilnetz in relevantem Umfang EE-Anlagen angeschlossen sind. Rund 80 % der installierten EE-Einspeiseleistung sind an nur 17 der über 800 deutschen Verteilnetze angeschlossen.14 Zweitens sind die bedeutsamen EE-Produktionsanlagen in aller Regel bereits digitalisiert. Ausgehend von der installierten Leistung waren 2015 schon 77 % der installierten EE-Leistung sowohl fernmessbar als auch fernsteuerbar, nur 15 % ließen sich gar nicht aus der Ferne regeln. Allerdings waren das zahlenmäßig nur 7 % der EE-Anlagen, während 75 % der EE-Anlagen (insbesondere kleine PV-Anlagen auf privaten Dächern) nicht regelbar, sondern mit einer pauschalen Spitzenkappung ausgestatten waren.15 Digitalisierungsdefizite bestehen also insbesondere bei den kleinen „Prosumer“-Anlagen, die für die Netzstabilität letztlich weniger relevant sind. Drittens hat die BNetzA schon in ihrem Eckpunktepapier 2011 darauf hingewiesen, dass es für die Sicherstellung der Versorgungssicherheit ausreiche, Daten an den Ortnetzstationen und an einigen „neuralgischen“ Punkten im Netz 12
BNetzA, „Smart Grid“ und „Smart Market“, Eckpunktepapier, 2011, S. 11. BNetzA, „Smart Grid“ und „Smart Market“, Eckpunktepapier, 2011, S. 9, 16. 14 Säcker, EnWZ 2017, 294, 295. 15 BMWi, 5. Monitoringbericht, 2015, S. 107.
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zu erheben.16 Im Vergleich zu einem umfassenden Smart Meter Rollout, wie es das MsbG anstrebt, sprechen wir hierbei über ganz andere Zahlen, denn es gibt in Deutschland rund 600.000 Ortsnetzstationen, aber bis zu 47 Millionen potentielle Zählpunkte für intelligente Zähler. Viertens wird der für einen sicheren und zuverlässigen Netzbetrieb erforderliche Daten- und Informationsaustausch unter der Bezeichnung „Energieinformationsnetz“ auf der Grundlage des § 12 Abs. 4 EnWG schon heute weitgehend gewährleistet. In diesem Zusammenhang bestehen umfassende Informationspflichten der Produzenten, der gewerblichen Verbraucher und neuerdings auch der Speicherbetreiber. Erweitert man den Fokus fünftens auf das Ziel, Effizienz von Netzausbau und Netzbetrieb zu steigern, so kann der Smart Meter Rollout unter diesem Aspekt jedenfalls netzdienlich sein. Das BMWi geht in seinem 5. Monitoringbericht 2015 davon aus, dass sich die Netzausbaukosten auf der Verteilnetzebene durch neue Planungsansätze und intelligente Netztechnologien um bis zu 20 % reduzieren lassen.17 Wie viel „Smart Metering“ dafür notwendig ist, wird im Einzelnen zu ermitteln sein. Eine flächendeckende Digitalisierung bis in die Privathaushalte hinein ist dafür aber sicherlich nicht erforderlich.
III. Smart Markets durch Digitalisierung Die neuen Regelungen im MsbG zielen vor diesem Hintergrund ebenso wie die Bestimmungen des Winterpakets der Kommission zu Recht in erster Linie auf die Ermöglichung von Smart Markets und auf die Hebung des daraus resultierenden Potentials für die Verbraucher. Ob dies mehr als ein frommer Wunsch bzw. ein politisches „Verkaufsargument“ für den Smart Meter Rollout ist, wird sich allerdings noch zeigen müssen. Derzeit schließen Haushaltskunden Jahresverträge, bei denen der Preis pro Kilowattstunde vorab festgelegt wird. Das geht auch gar nicht anders, weil die derzeitigen analogen Ferraris-Zähler grds. nur einmal pro Jahr manuell abgelesen werden und nicht digital vernetzt sind. Die große Masse der Haushalts- und Gewerbekunden kann daher schon aus technischen Gründen nicht von kurzfristigen Preisschwankungen auf den Energiemärkten profitieren, geschweige denn „in Echtzeit“ die günstigsten Strom- und Gaspreise nutzen. Angebot und Nachfrage nach zeit- oder gar lastvariablen Tarifen im Sinne einer aktiven Marktteilnahme der Haushaltskunden halten sich dementsprechend noch in sehr engen Grenzen.18 Ähnliches gilt für kleine EE-Stromproduzenten, also etwa die Betreiber von PV-Dachanlagen, die Strom nach dem EEG traditionell zu einem Festpreis an den Netzbetreiber abgeben können und sich nicht um den Marktpreis kümmern müssen. Für sie gilt aufgrund von Einspeisevorrang, Abnahmepflicht und Festpreisvergütung die bequeme Devise „Produce and forget“. Für Anlagen bis 100 kW installierte Leistung – das sind bei den PV16
BNetzA, „Smart Grid“ und „Smart Market“, Eckpunktepapier, 2011, S. 8 f. BMWi, 5. Monitoringbericht, 2015, S. 108. 18 Vgl. auch Lange/Möllnitz, N&R 2016, 258, 261. 17
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Dachanlagen zahlenmäßig etwa 98 % – ist diese Festpreisvergütung nach wie vor möglich und üblich (§§ 21, 53 EEG). 1. Reale Kosten und potentieller Nutzen für die Verbraucher Der Smart Meter Rollout soll das ändern, erfordert allerdings zunächst einmal erhebliche Investitionen. Die Installation einer intelligenten Messeinrichtung mit Smart Meter Gateway kostet etwa das Zehnfache eines analogen Ferraris-Zählers. Dies wirft – zusammen mit den Kosten des laufenden Betriebs – die Frage nach der Wirtschaftlichkeit auf. Insbesondere war und ist umstritten, ob eine umfassende Digitalisierung des Messwesens sich auch für die Verbraucher lohnen wird. Ganz in diesem Sinne hatte schon die Stromrichtlinie 2009, die den Anstoß zum Smart Meter Rollout gegeben hat, einen Wirtschaftlichkeitsvorbehalt enthalten.19 Die Bundesregierung hat daher vor Erlass des MsbG umfassende Wirtschaftlichkeitsanalysen erstellen lassen.20 Darauf basierend hat das MsbG eine Regelung implementiert, nach welcher der verpflichtende Einbau intelligenter Messsysteme nur bei Letztverbrauchern mit einem Jahresverbrauch über 6.000 kWh oder einer installierten Leistung über 7 kW erfolgen muss (§ 29 Abs. 1 MsbG). Bei einem Jahresverbrauch von bis zu 6.000 kWh oder einer installierten Leistung über 1 kW bis einschließlich 7 kW kann der Messstellenbetreiber (also in der Regel der Verteilnetzbetreiber) sich freiwillig für den Einbau digitaler Messeinrichtungen entscheiden (§ 29 Abs. 2 MsbG). Diese unternehmerische Entscheidung wird maßgeblich von der Einschätzung des ökonomischen Potentials des Smart Meterings abhängen. Die bei weitem meisten Privathaushalte fallen in die zweite Kategorie. Der durchschnittliche deutsche Vier-Personen-Haushalt verbraucht nach einer BDEW-Studie nur 4.750 kWh im Jahr21 und fällt damit in den Bereich des „freiwilligen“ Rollouts. Im Anwendungsbereich des insoweit einschlägigen § 29 Abs. 2 MsbG enthält der Smart Meter Rollout eine Marktkomponente. Allerdings handelt es sich dabei um einen stark regulierten Markt. Der Gesetzgeber, der den Stromverbraucher durch die Energiewende schon arg geschröpft hat, ist sichtlich bemüht, wenigstens die Mehrbelastung durch den Smart Meter Rollout zu begrenzen. Einen durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 4.750 kWh darf das digitale Messwesen nach § 31 Abs. 3 Nr. 1 MsbG max. 60 Euro im Jahr kosten. Zieht man davon 20 Euro „Sowieso-Kosten“ ab (d. h. den Betrag, der ohnehin für das Messwesen anfallen würde), so liegt das Einsparpotential nach Einschätzung des Gesetzgebers also gerade mal bei 40 Euro pro Vier-Personen-Haushalt und Jahr.22 19
Anhang 1 (2) zur Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG, AblEG 2009 L 211/55. 20 Vgl. etwa Ernst&Young (Fn. 11). 21 BDEW, Stromverbrauch im Haushalt, 2016, S. 6. 22 RegBegr, BT-Drucks. 18/7555, S. 5.
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Ob die Aussicht auf Mehreinnahmen von 40 Euro pro Durchschnittshaushalt und Jahr die Messstellenbetreiber ökonomisch zu einem freiwilligen Rollout motivieren kann, erscheint sehr zweifelhaft. Auch ist wenig wahrscheinlich, dass ein so geringes Einsparpotential ausreicht, um die Verbraucher, wie es sich deutscher und europäischer Gesetzgeber wünschen, dazu zu motivieren, aktiv am Strommarkt teilzunehmen, indem sie ihr Verbrauchsverhalten immer wieder nachjustieren und nicht nur einmal im Jahr, sondern permanent nach den günstigsten Preisen Ausschau halten. Ein solches Vorgehen wäre letztlich allenfalls automatisiert sinnvoll und das würde wiederum erhebliche weitere Investitionen erfordern. Smarte Haushaltsgeräte, wie die Kommission sie aufzählt, sind nicht nur teuer, sondern auch mit Blick auf Datenschutz und IT-Sicherheit nicht jedermanns Sache. Bestimmte Verbrauchstatbestände – etwa Fernsehen oder Kochen – lassen sich zudem weder vollständig automatisieren noch in die tiefe Nacht verlegen, wenn Strom besonders billig ist. Für den Durchschnittsverbraucher des Jahres 2018 sind daher noch keine wirklich nennenswerten Vorteile der Teilnahme an einem „Smart Market“ ersichtlich. Die Transaktionskosten übersteigen den möglichen Gewinn deutlich. Dies gilt umso mehr als – wie bereits oben ausgeführt wurde – noch nicht einmal 20 % des Strompreises überhaupt Markt und Wettbewerb zugänglich sind. Zum Vergleich: Den 40 Euro, die ein Vier-Personen-Haushalt mit 4.750 kWh Jahresverbrauch nach Einschätzung des Gesetzgebers durch ein Smart Metering pro Jahr einsparen kann, stehen derzeit allein im Strombereich rund 330 Euro für die EEG-Umlage (d. h. knapp 30 mal so viel wie die Bundesregierung bei Inkrafttreten des EEG 2004 versprochen hatte23) und insgesamt sogar über 760 Euro für sonstige Steuern, Abgaben und Umlagen pro Jahr und Haushalt gegenüber.24 Mittel- bis langfristig könnte sich das allerdings ändern, wenn der Übergang von einer brennstoffbasierten zu einer auf Strom aus erneuerbaren Energien setzenden Energieversorgung gelingt, denn dies würde den Stromverbrauch und damit auch das Einsparpotential erheblich erhöhen. Derzeit verbrauchen die Haushalte noch dreimal mehr Energie für Heizung als für Hausstrom25 und auch die Mobilität ist ganz überwiegend brennstoffbasiert. Ein Vier-Personen-Haushalt, der eine Gasheizung durch eine Wärmepumpe ersetzt, verbraucht dadurch 5.000 bis 10.000 kWh Strom im Jahr mehr (d. h. das Doppelte bis Dreifache). Der im März 2017 vorerst
23 Vgl. Pressemitteilung vom 30. 7. 2014, https://www.bmub.bund.de/pressemitteilung/er neuerbare-energien-gesetz-tritt-in-kraft/ (1 Euro im Monat, abgerufen am 5. 12. 2017). 24 Berechnungsbasis: 4750 kWh/Jahr und Anteile der einzelnen Posten am Strompreis nach der Aufstellung unter http://www.verivox.de/themen/strompreiszusammensetzung/ (abgerufen am 5. 12. 2017). 25 Es ist daher richtig und wichtig, dass das MsbG nicht nur auf den Stromsektor zielt, sondern auch – wenn auch eher unter „ferner liefen“ ein Smart Metering im Gasbereich umfasst, vgl. dazu auch Couval/Ahnis, IR 2016, 270.
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zurückgestellte Entwurf für ein „Gebäudeenergiegesetz“ (GEG)26 hätte jedenfalls für Neubauten erheblichen Druck in Richtung Installation von Wärmepumpen bewirkt. Der neue Bundestag wird diesen (aus ökonomischer Sicht nicht unzweifelhaften) Ansatz in der neuen Legislaturperiode sicher wieder aufgreifen. Wer sich zusätzlich ein Elektromobil kauft, benötigt bei einer Kilometerleistung von rund 15.000 km/ Jahr nochmals 3.000 bis 4.000 kWh zusätzlich im Jahr. Das ökonomische Potential steigt weiter, wenn Verbraucher auch selbst (z. B. durch PV-Anlagen oder Blockheizkraftwerke) Strom produzieren bzw. in Hausbatterien oder Elektromobilbatterien speichern und dann aktiv als „Prosumer“ in Hochpreiszeiten am Markt anbieten können. Der Gesetzgeber wird diese Entwicklungen auch über das MsbG hinausgehend begleiten und dabei insbesondere darauf achten müssen, technische und ökonomische Innovation nicht durch dem technischen Status quo verhaftete, nicht technologieneutrale Regelungen und übermäßige Regulierung zu behindern.27 2. Datenpreisgabe und Datenschutz Auch in Bezug auf den Datenschutz hat der Gesetzgeber in den §§ 49 bis 75 MsbG umfassende Vorkehrungen getroffen, die zwar noch nicht mit der am 25. Mai 2018 wirksam werdenden EU-Datenschutz-Grundverordnung abgestimmt sind, aber weitgehend mit dieser kompatibel sein dürften.28 Der grundrechtsrelevante Datenschutzaspekt war letztlich sogar ein wesentlicher Grund dafür, eine gesetzliche Regelung statt des ursprünglich vorgesehenen Verordnungspakets zum Smart Meter Rollout zu erlassen.29 Durch die umfassenden Datenschutzregelungen wird ein Stück weit ausgeglichen, dass Anschlussnehmer und Anschlussnutzer kein Mitspracherecht hinsichtlich des „Ob“ des Smart Metering haben. Die Entscheidung über den Einbau intelligenter Messeinrichtungen, soweit er nicht schon gesetzlich vorgeschrieben ist, nicht Anschlussnehmer oder gar Anschlussnutzer, sondern dem Messstellenbetreiber zu überlassen, war sicher richtig, denn sonst wäre das grds. im öffentlichen Interesse liegende Vorhaben der Digitalisierung der Energiewirtschaft im datenschutzverliebten Deutschland von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Andererseits ist der Datenschutz gerade aufgrund dieser teilweisen „Entmündigung“ der Bürger von hoher Bedeutung, um einen Missbrauch der Energiedaten zu vermeiden. Beispielsweise kann man über den Energieverbrauch sehr genau ermitteln, wann die Anschlussnutzer morgens aufstehen, wann sie die Wohnung verlassen und wiederkehren, ins Bett gehen usw.
26 Vgl. Referentenentwurf des BMWi vom 23. 1. 2017, http://www.enev-online.eu/geg/refe rentenentwurf/text/ 17.01.23_GEG_Entwurf_fuer_Verbaendeanhoerung.pdf (abgerufen am 5. 12. 2017). 27 Vgl. auch Scholtka/Martin, RdE 2017, 113, 116 ff. zum Anpassungsbedarf in Bezug auf Blockchain-basierte Geschäftsmodelle. 28 Dazu Bretthauer, EnWZ 2017, 56 ff. 29 RegBegr. BT-Drs. 18/7555, S. 65.
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Deshalb findet sich in den §§ 49 ff. MsbG zu Recht ein überaus differenziertes Regelungsgeflecht, das im Grundsatz vom Vorliegen eines gesetzlichen Erlaubnistatbestandes für die Datennutzung ausgeht, Datenerhebung und Datennutzung aber strengen Restriktionen und Zweckbindungen unterwirft, um sie auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 MsbG erfolgt die Messwerterhebung für Strom (Messung entnommener Elektrizität) durch eine Zählerstandsgangmessung, die nach der Legaldefinition in § 2 Nr. 27 MsbG als „Messung einer Reihe viertelstündig ermittelter Zählerstände von elektrischer Arbeit“ erfolgt. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Daten auch ohne weiteres übermittelt werden könnten. Vielmehr stellt § 60 MsbG dafür weitere strenge Anforderungen auf. Eine Übermittlung der Daten an die berechtigten Stellen in Echtzeit ist grds. nicht vorgesehen. Vielmehr werden die Daten – je nach Zweck – monatlich bzw. täglich übermittelt und auch dies in Fällen des § 55 Abs. 1 Nr. 2 MsbG nur bei Letztverbrauchern mit einem Jahresstromverbrauch von über 10.000 kWh (§ 60 Abs. 3 Nrn. 1b, 2b, 3b und 4b MsbG). Für durchschnittliche Haushaltskunden bleibt es danach grds. bei einer einmal jährlich (für die Jahresabrechnung) erfolgenden Datenübermittlung mit dem Unterschied, dass diese nunmehr automatisiert und nicht im Wege der „Turnschuhablesung“ erfolgt. Darüber hinausgehende Dateneinsichtsrechte genießen neben dem Anschlussnutzer selbst (§ 61 MsbG) nur die Anlagenbetreiber (d. h. die Betreiber von Erzeugungsanlagen i.S.d. § 2 Nr. 1 MsbG) sowie die Netzbetreiber (§§ 63, 64 MsbG), wobei die insoweit übermittelten Daten einer strengen Zweckbindung und diesbezüglichen Löschpflichten unterliegen. Eine über die §§ 60 bis 64 MsbG hinausgehende Datenübermittlung ist in Bezug auf personenbezogene Daten nach § 65 Abs. 1 MsbG nur mit einer datenschutzrechtlich wirksamen Einwilligung i.S.d. § 4a BDSG zulässig. Da es für einen Personenbezug ausreicht, dass ein solcher hergestellt werden kann,30 dürfte dieses Erfordernis bei Tarif- und Verbrauchsdaten praktisch immer gegeben sein, denn jeder Smart Meter kann aufgrund einer individuellen Anschlusskennung einem konkreten Anschlussnutzer zugeordnet werden.31 Um die Entstehung von „Smart Markets“ anzustoßen, ist – sowohl mit Blick auf die Kosten-Nutzen-Seite als auch mit Blick auf die Effektuierung der Datennutzung, vor allem aber auch hinsichtlich der Motivation der privaten Endverbraucher zur Teilnahme an diesem Markt – noch einiges an Arbeit zu leisten, auch wenn der Smart Meter Rollout irgendwann einmal in hinreichendem Umfang erfolgt ist. Derzeit ist das noch „Zukunftsmusik“, denn anders als der Gesetzgeber dies beabsichtigt hatte, konnte der Rollout bisher noch nicht einmal beginnen, weil auch über ein Jahr nach Inkrafttreten des MsbG kein einziges Smart-Meter-Gateway vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zertifiziert wurde.32 Nach der Legaldefinition des § 30 MsbG ist der Einbau intelligenter Messsysteme aber technisch 30
Dazu etwa Schild, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, § 3 BDSG Rn. 19 m.w.N. Bretthauer, EnWZ 2017, 56, 57. 32 S. https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/DigitaleGesellschaft/SmartMeter/SmartMeterGa teway/ Zertifikate24Msbg/produkte.html (abgerufen 5. 12. 2017). 31
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erst dann möglich, „wenn mindestens drei voneinander unabhängige Unternehmen intelligente Messsysteme am Markt anbieten“. Damit wird frühestens im Laufe des Jahres 2018 zu rechnen sein. 3. Von der Energieversorgung zur datenbasierten Energiedienstleistung Bei aller gebotenen Vorsicht wäre es dem Projekt nicht angemessen, das in der Digitalisierung des Messwesens und letztlich der Energiewirtschaft insgesamt liegende Potential allein aus dem Blickwinkel des ökonomischen und technischen Status quo zu betrachten. Vielmehr sollte auch berücksichtigt werden, dass damit eine Grundlage für verbesserte oder gänzlich neue Geschäftsabläufe und Geschäftsmodelle geschaffen wird. Abgesehen davon, dass bereits durch das MsbG selbst die Rollen teils neu verteilt und neue Marktakteure geschaffen wurden,33 können innerhalb bestehender Unternehmen Geschäftsabläufe durch die Nutzung umfassender Datensätze effektiver gestaltet, aber auch z. B. Wartungsprozesse rationalisiert werden, weil dem Verschleiß ausgesetzte Komponenten sich kontinuierlich „selbst“ überwachen und Reparaturbedarf anzeigen können (predictive maintainance, „selbstheilende Netze“).34 Ähnlich wie Breitbandnetze im Bereich der Telekommunikation eine Fülle neuer Dienste und Geschäftsmodelle möglich gemacht haben, eröffnet die Digitalisierung auch im Energiebereich die Möglichkeit für die Entwicklung einer Vielzahl von Diensten und Geschäftsmodellen, die mit Energielieferung im klassischen Sinne zu tun haben können, aber nicht notwendig zu tun haben müssen. Solche Dienste können z. B. auch an die etablierten Kundenbeziehungen knüpfen. Die Energieversorger können (und müssen) sich zu Energiedienstleistern mit umfassendem Serviceangebot weiterentwickeln.35 Ihre Dienstleistungen können – angefangen vom Angebot erleichterter Abrechnung und flexiblerer Tarifgestaltung über die Unterstützung von Prosumern beim Vertrieb von PV-Strom und die Hausautomation bis hin zu eher außerhalb des klassischen Energiebereichs liegenden Diensten wie Sicherheitslösungen und Notrufeinrichtungen für Senioren reichen. Diese neuen, digitalen oder digital unterstützten Dienste werden teils als klassische „Leistung-gegen-Geld“-Dienste angeboten werden, teils werden sie aber auch auf ganz neuen Geschäftsmodellen basieren. Hierbei ist insbesondere die bereits heute im Internet zu verzeichnende Entwicklung hin zu mehrseitigen Plattformen beachtenswert, bei denen ein Unternehmen (Plattform) mehrere Kundengruppen miteinander in Kontakt bringt, dabei aber nicht notwendig alle Kundengruppen (gleich) bepreist. Klassisches Beispiel sind Suchdienste oder soziale Netzwerke, bei denen die eine Seite (Verbraucher) keinen Geldpreis für die Dienste zahlen muss, weil das Geschäftsmodell auf einer Finanzierung durch Werbekunden auf der anderen 33
S. dazu eingehend Funke, RdE 2017, 506 ff. Vgl. Müller, AG 2017, R73. 35 Vgl. auch Booz, N&R 2017, 130, 137.
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Marktseite basiert. Diese können auf den Internetseiten der Plattformen (Google, Facebook etc.) entgeltliche Anzeigen schalten, deren Zielgenauigkeit durch Auswertung der Suchanfragen und Interessen der Verbraucher erhöht wird. Solche Plattformunternehmen können auch auf Märkten operieren, für die ihnen selbst die klassischen physischen Ressourcen fehlen. So ist Airbnb heute ein wesentlicher Anbieter auf dem Markt für die Wohnungsvermittlung ohne über eigene Wohnungen zu verfügen und Uber tut ein Gleiches auf dem Markt für Fahrdienstleistungen ohne nennenswerte eigene Fahrzeugflotte. Entsprechende Angebote sind auch auf dem Gebiet der Energiedienstleistungen möglich und werden bereits praktiziert. Ein Beispiel ist Next Kraftwerke, ein Unternehmen das – ohne eigene Kraftwerke zu besitzen – als Plattform kleine Erzeugungsanlagen zu größeren „virtuellen Kraftwerken“ bündelt, um am Regelenergiemarkt teilzunehmen.36 Dieses Beispiel zeigt zugleich, dass neue Geschäftsmodelle auch dazu beitragen können, die Leistungen von Anbietern, die für sich genommen „zu klein“ sind, um selbstständig an einem Markt teilzunehmen, zu koordinieren und zu bündeln und dadurch den Wettbewerb zu intensivieren. Dass insoweit gerade mit Blick auf „Prosumer“ ein erhebliches Betätigungsfeld für neue Dienstleister besteht, liegt auf der Hand. Neben den etablierten Energieversorgern und gänzlich neuen Unternehmen haben auch „Platzhirsche“ aus anderen Bereichen ein Auge auf den Energiebereich geworfen. So hat z. B. Google den Smart-Home-Anbieter Nest erworben und dadurch „einen Fuß in der Tür“ dieses Zukunftsmarktes. Mit den neuen Unternehmen hat oftmals auch eine neue Servicementalität (und eine entsprechende Erwartungshaltung) der Verbraucher in die Energiemärkte Einzug gehalten. Auch dies ist eine Herausforderung, der die klassischen Energieversorger sich stellen müssen. Denkt man noch einen Schritt weiter, so könnten solche Plattformunternehmen vielleicht nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer noch weiterreichenden, direkten „Sharing Economy“ sein, die weitgehend unmittelbar zwischen den Bürgerinnen und Bürgern erfolgt und ohne Intermediäre auskommt. Dies wäre z. B. auf der Basis von Blockchain-Technologien und Smart Contracts denkbar.37 Diese Technologien erlauben sichere „peer-to-peer“-Transaktionen. Entsprechende Geschäftsmodelle sind bereits in der Erprobung. So findet seit 2016 z. B. in Brooklyn, New York, mit dem Brooklyn Microgrid ein Modellversuch statt, bei dem Hauseigentümer mit PV-Dachanlagen erzeugte, überschüssige Energie bei der Basis der Blockchain-Software Ethereum automatisiert und direkt – ohne den „Umweg“ über ein Energieversorgungsunternehmen, einen Großhändler oder eine Strombörse – an benachbarte Hauseigentümer verkaufen.38 Im März 2017 hat Innogy die ersten 1.000 Ladesäulen
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Vgl. https://www.next-kraftwerke.de/ (abgerufen am 5. 12. 2017). Dazu auch ausführlich Scholtka/Martin, RdE 2017, 113 ff. 38 Vgl. http://brooklynmicrogrid.com/ sowie https://www.newscientist.com/article/2079334blockchain-based-microgrid-gives-power-to-consumers-in-new-york/ (abgerufen am 5. 12. 2017). 37
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für Elektroautos auf die Blockchain-Technologie umgestellt.39 Nach einer aktuellen Umfrage von dena und ESMT gab die Hälfte der befragten Führungskräfte aus Energieunternehmen an, bereits mit Blockchain-Technologien zu experimentieren oder dies zu planen, jeder Fünfte sah darin sogar einen potentiellen „Gamechanger“.40 IV. Fazit Die Digitalisierung der Energiewirtschaft steht in vielen Bereichen noch am Anfang. Gleiches gilt für ihre Begleitung durch den Gesetzgeber und durch die Rechtswissenschaft. Diese Entwicklung birgt Risiken, eröffnet aber vor allem ein großes Potential für neue Geschäftschancen. Der Gesetzgeber steht – wie das MsbG zeigt – in vielen Bereichen in der Pflicht, die digitale Transformation zu begleiten, um sie zu ermöglichen und dafür zu sorgen, dass die Interessen der Verbraucher nicht auf der Strecke bleiben. Doch ist Digitalisierung wie in anderen Sektoren auch in erster Linie eine Gestaltungsaufgabe der Unternehmen. Vornehmste Aufgabe des Gesetzgebers sollte es in den nächsten Jahren sein, das bestehende Recht fit für die Digitalisierung zu machen. Dabei sollte er sich vom Ziel technologieneutraler Regulierung leiten lassen. Er sollte sich im Lichte des durch die Digitalisierung intensivierten Wettbewerbs vor allem aber auch immer wieder fragen, ob und in welchem Maße eine Regulierung überhaupt noch erforderlich und sinnvoll ist. Wie der Gesetzgeber steht auch die Wissenschaft vor der schwierigen Aufgabe, die immer komplexer werdende Gemengelage von Technik, Ökonomie und Recht zu verstehen und Unternehmen wie Staat auf dieser Basis zu unterstützen. Die besondere Verantwortung der Wissenschaft liegt dabei gerade auf einem so stark von Ideologie und einseitiger Interessenvertretung geprägten Gebiet wie der „Digitalisierung der Energiewende“ darin, als neutrale Mittlerin auf der Basis sachlicher, wissenschaftlich fundierter Analyse zu wirken und Fehlentwicklung aufzudecken und zu kritisieren. Dieser Gedanke stand hinter der maßgeblich von Matthias Schmidt-Preuß mitbestimmten Gründung der Wissenschaftlichen Vereinigung für das gesamte Regulierungsrecht, die diesen Zielen verpflichtet ist.41 Obgleich wenn die Wissenschaft in der Politik nicht immer sogleich Gehör findet, gilt letztlich auch hier, dass ein steter Tropfen den Stein höhlen kann. Ganz in diesem Sinne hat sich auch der Jubilar immer wieder unermüdlich, gedankenreich und mit wissenschaftlichem Tiefgang in den
39 Vgl. http://www.wiwo.de/unternehmen/energie/elektromobilitaet-innogy-ruestet-1000-la desaeulen-auf-blockchain-technologie-um/19525166.html sowie https://bitcoinblog.de/2016/ 02/26/rwe-und-slock-it-wollen-ethereum-fuer-elektroautos-nutzen/ (abgerufen am 5. 12. 2017). 40 S. https://www.dena.de/newsroom/meldungen/blockchain-energiewirtschaft-bereitet-sichauf-neues-digitales-verfahren-fuer-transaktionen-vor/ (abgerufen am 5. 12. 2017). 41 S. www.regulierungsrecht.eu.
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energierechtlichen Diskurs eingeschaltet.42 Matthias Schmidt-Preuß wird dem Energierecht sicher auch in Zukunft eine wesentliche Stimme verleihen und auf diesem und anderen Gebieten des Rechts hoffentlich noch lange ein gewichtiges Wort mitzureden haben.
42 Jüngst etwa Schmidt-Preuß, Energierecht heute, in: RdE-Sonderheft Oktober 2017, S. 3 ff.
Die Abänderbarkeit (energie-)regulierungsrechtlicher Behördenentscheidungen Von Gunther Kühne, Clausthal/Göttingen I. Einleitung Zu den vom Jubilar gepflegten Rechtsgebieten gehören neben den klassischen Materien des öffentlichen Rechts wie das Staatsrecht und das Verwaltungsrecht auch moderne Querschnittsgebiete wie das Umweltrecht und das Wirtschafts(verwaltungs-)recht. Besondere wissenschaftliche Sichtbarkeit hat der Jubilar in neuerer Zeit auf den Feldern des Energierechts und des Regulierungsrechts erlangt. Dies ist ganz wesentlich auf seine Mitarbeit am Berliner Kommentar zum Energierecht1 und innerhalb des Instituts für Energie- und Regulierungsrecht Berlin2 sowie im Rahmen der im Jahre 2013 gegründeten „Wissenschaftlichen Vereinigung für das gesamte Regulierungsrecht“ zurückzuführen.3 Eine würdigende Erwähnung dieser Verdienste des Jubilars zu dessen 70. Geburtstag durch den Verfasser ist umso mehr veranlasst, als dieser in der ihm zu seinem eigenen 70. Geburtstag gewidmeten Festschrift aus der Feder des Jubilars einen grundlegenden Beitrag über „Das Regulierungsrecht als interdisziplinäre Disziplin – am Beispiel des Energierechts“4 empfangen hat. Wesenselemente der Regulierung sind Wettbewerbsherstellung und -gewährleistung sowie Gemeinwohlsicherung.5 Hierbei geschieht die Verfolgung dieser Ziele nach landläufigem Verständnis durch hoheitliche Einwirkung auf den betroffenen Lebensbereich.6 Instrument der Zielverfolgung ist nach deutschem Verständnis regelmäßig ein Verwaltungsakt auf der Grundlage von Rechtsnormen. Auf gemeinschaftsrechtlicher und gemeinschaftsrechtlich unterlegter Ebene sind es im Energie-
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Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Dres. h.c. Franz Jürgen Säcker. Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Dr. Dres. h.c. Franz Jürgen Säcker. 3 Vgl. die Homepage der Vereinigung. 4 Festschrift für Gunther Kühne zum 70. Geburtstag, 2009, S. 329 ff. 5 Vgl. Ruffert, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2009, § 7 Rn. 9. 6 Vgl. Ruffert (Fn. 5). Neuerdings will Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 47 ff., Regulierung in einem methodischen Sinne als verhaltenssteuernde und gemeinwohlorientierte Einwirkung des Gesetzgebers auf einen Lebensbereich verstanden wissen, worunter dann auch erhebliche Teile des Privatrechts fallen sollen; dazu kritisch Kühne, AcP 217 (2017), 687 ff. 2
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bereich Festlegungen und Genehmigungen (§ 29 Abs. 1 EnWG).7 Mit der Herbeiführung einer Regelung durch Verwaltungsakt oder eine Regulierungsentscheidung stellt sich gerade bei Entscheidungsakten, die auf längere Geltungsdauer angelegt sind, die Frage ihrer Abänderbarkeit. Auf den ersten Blick etwas bürokratisch anmutend, umgreift diese Frage doch sehr erhebliche, auch rechtsethisch geprägte, Grundsatzprobleme. Verwaltungs- und damit auch Regulierungsentscheidungen enthalten regelmäßig Rechtsanwendungsentscheidungen auf der Grundlage der im Zeitpunkt des Erlasses geltenden Rechtslage. Ihre Richtigkeit, d. h. ihre Übereinstimmung mit der Rechtslage, kann während ihrer Geltungsdauer in verschiedener Weise beeinträchtigt sein oder werden: - Die Entscheidung ist bereits im Zeitpunkt ihres Erlasses fehlerhaft, weil sie auf einer unrichtigen Tatsachenlage oder auf einer unrichtigen Rechtsanwendung beruht; - die Entscheidung war im Zeitpunkt ihres Erlasses fehlerfrei; jedoch hat sich nachträglich die Tatsachengrundlage oder die Rechtslage so verändert, dass die Entscheidung nach dieser Veränderung nicht mehr mit dem ursprünglichen Inhalt ergehen könnte. Diese Fallkonstellationen erfasst und regelt das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht in § 48 (Rücknahme) bzw. § 49 (Widerruf) VwVfG. Die Rechtslage wird im Bereich des Regulierungsrechts für den Energiebereich dadurch verkompliziert, dass § 29 Abs. 2 EnWG eine partielle Regelung auf europarechtlicher Grundlage vorsieht: Danach ist die Regulierungsbehörde (im Folgenden: Regbeh.) befugt, die von ihr festgelegten oder genehmigten Bedingungen und Methoden nachträglich zu ändern, soweit dies erforderlich ist, um sicherzustellen, dass sie weiterhin den Voraussetzungen für eine Festlegung oder Genehmigung genügen (Satz 1). Nach Satz 2 bleiben die §§ 48, 49 VwVfG unberührt. Die durch die Existenz des § 29 Abs. 2 EnWG bewirkte Komplikation ist eine zweifache: Zum einen kann die europarechtliche Unterlegung des § 29 Abs. 2 zu einer Anwendungsverschiebung innerhalb des Gefüges der §§ 48, 49 VwVfG führen. Dies ist in der bisherigen Rechtsprechung bereits insoweit geschehen, als im Hinblick auf das Effektivitätsprinzip der Durchsetzung der europarechtlich vorgegebenen Rechtslage mittels Rücknahme (oder Widerrufs) oft der Vorrang vor dem Vertrauensschutzinteresse des Adressaten eingeräumt worden ist.8 Zum anderen enthält § 29 Abs. 2 EnWG durch die Unberührtheitsklausel zugunsten der §§ 48, 49 VwVfG den Charakter einer bloßen Teilregelung des Komplexes 7 Art. 17 Abs. 6 EltRiLi 2009: „Den Regulierungsbehörden obliegt es, … festzulegen oder zu genehmigen“; § 29 Abs. 1 EnWG: „Die Regulierungsbehörde trifft Entscheidungen … durch Festlegungen … oder durch Genehmigung…“. 8 Vgl. dazu Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer (Hrsg.), VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 48 Rn. 8 f.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 48 Rn. 266.
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„Abänderung von Regulierungsentscheidungen“. Solche Teilregelungen zur Rückgängigmachung von Verwaltungsentscheidungen finden sich auch in anderen verwaltungsrechtlichen Spezialmaterien, wo sie häufig mehr Zweifelsfragen als Klarheit schaffen.9 Das hier angesprochene Verhältnis des § 29 Abs. 2 EnWG zu §§ 48, 49 VwVfG ist in neuerer Zeit Gegenstand der Entscheidung des Kartellsenats des BGH vom 12. Juli 2016 – EnVR 15/15 –10 gewesen. Es ging um die von der BNetzA im Jahre 2013 verfügte Aufhebung von auf der Grundlage des Leitfadens 2011 erteilten Genehmigungen für die Zeit ab 1. Januar 2015. Die Aufhebungsentscheidung erfolgte im Hinblick auf die am 5. Dezember 2012 getroffene Festlegung zur sachgerechten Ermittlung individueller Netzentgelte nach § 19 Abs. 2 Satz 1 StromNEV. Der BGH hielt mit der Vorinstanz die Entscheidung der BNetzA über die Aufhebung der streitbefangenen Genehmigung auf der Grundlage des § 29 Abs. 2 EnWG für rechtmäßig. Der Kartellsenat klärt mit diesem Beschluss einige wichtige Fragen des (Energie) Regulierungsrechts, so dass es erstaunlich ist, dass die Entscheidung nicht in die Amtliche Sammlung aufgenommen worden ist: II. Die relevanten Rechtsnormen und ihre „policies“ Die Problematik der Abänderbarkeit (energie-)regulierungsrechtlicher Behördenentscheidungen beurteilt sich nach Rechtsnormen, welche teils dem deutschen Recht, teils dem primären und sekundären Gemeinschaftsrecht angehören. 1. § 29 Abs. 2 EnWG Die Vorschrift enthält in Satz 1 eine tatbestandlich voraussetzungslose Befugnis der Regbeh., die von ihr nach Abs. 1 festgelegten oder genehmigten Bedingungen und Methoden nachträglich zu ändern, soweit dies erforderlich ist, um sicherzustellen, dass sie weiterhin den Voraussetzungen für eine Festlegung oder Genehmigung genügen, wobei die §§ 48, 49 VwVfG unberührt bleiben (S. 2). Der Erlass dieser Bestimmung erfolgte im Jahre 2005 in Umsetzung von Art. 23 Abs. 4 EltRL 2003/54/ EG.11 Eine identische Bestimmung enthielt Art. 25 Abs. 4 GasRL 2003/55/EG. Im Jahre 2009 sind die Regelungen dann in Art. 37 Abs. 10 Satz 1 EltRL 2009/72/EG bzw. Art. 41 Abs. 10 Satz 1 GasRL 2009/73/EG überführt worden. Hintergrund die9 Vgl. etwa die Zusammenstellung nach Rechtsmaterien bei Ramsauer (Fn. 8), § 48 Rn. 37 ff. In besonderer Weise unübersichtlich ist z. B. das Verhältnis zwischen §§ 48, 49 VwVfG einerseits und § 18 BBergG andererseits, vgl. Kühne, in: Boldt/Weller/Kühne/ v. Mäßenhausen (Hrsg.), BBergG, 2. Aufl. 2016, § 18 Rn. 20 ff. 10 RdE 2016, 532. 11 Die Vorschrift lautete: „Die Regulierungsbehörden sind befugt, falls erforderlich von den Betreibern der Übertragungs- und Verteilernetze zu verlangen, die in den Absätzen 1, 2 und 3 genannten Bedingungen, Tarife, Regeln, Mechanismen und Methoden zu ändern, um sicherzustellen, dass diese angemessen sind und nicht diskriminierend angewendet werden“.
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ser weiten Befugnis war offenbar der Gedanke, die Regulierungsbehörden mit einem hohen Maß an Flexibilität angesichts des noch unerprobten Instrumentariums der Regulierung auszustatten.12 2. Rechtsprinzipien des EU-Rechts Neben den Regelungen des sekundären Gemeinschaftsrechts, insbesondere den Energiebinnenmarkt-Richtlinien, sind bei der Anwendung des gemeinschaftsrechtsbasierten nationalen Rechts auch die Verfassungsprinzipien des primären Gemeinschaftsrechts zu beachten. Hierzu zählt einmal der Grundsatz des Vertrauensschutzes, der sich aus dem in Art. 2 EUV niedergelegten Rechtsstaatsprinzip ableitet.13 Die Rechtsprechung des EuGH hat dazu eine Linie entwickelt, die insbesondere den Widerruf von Verwaltungsakten innerhalb des Beihilfenrechts betrifft. Ihr Kennzeichen sind die im Verhältnis zum deutschen Recht engen Grenzen, innerhalb derer das Vertrauensschutzprinzip für den Begünstigten zum Tragen kommen kann.14 Das vertrauensschutzorientierte System des § 48 Abs. 2 – 4 VwVfG wird daher im Schrifttum als weitgehend „entkernt“ angesehen.15 Verantwortlich gemacht wird hierfür vor allem das die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts vorantreibende Effektivitätsprinzip (Art. 4 Abs. 3 EUV). 3. §§ 48, 49 VwVfG Die §§ 48, 49 VwVfG tragen bei Rücknahme und Widerruf von (begünstigenden) Verwaltungsakten dem Vertrauensschutzgedanken prinzipiell auf zwei Arten Rechnung: Zum einen fließt der Vertrauensschutz in die Ermessensausübung („kann“) nach §§ 48, 49 VwVfG ein.16 Zum anderen gewährt § 49 Abs. 6 VwVfG im Falle des Widerrufs eines begünstigenden Verwaltungsakts nach § 49 Abs. 2 Nr. 3 bis 5 VwVfG einen Entschädigungsanspruch für den durch das schutzwürdige Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts in der Person des Begünstigten entstandenen Vermögensnachteil. Diese vertrauensschutzorientierten Regelungen hinsichtlich 12
So etwa Franke, in: Schneider/Theobald (Hrsg.), Recht der Energiewirtschaft, 4. Aufl. 2013, § 19 Rn. 64. 13 Statt vieler: Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 5. Aufl. 2016, Art. 2 EUV Rn. 26. 14 Ramsauer (Fn. 8), § 48 Rn. 8. 15 Kahl, in: Calliess/Ruffert (Fn. 13), Art. 4 EUV Rn. 68 a.E. 16 Inwieweit der Gedanke des Vertrauensschutzes bei der Ermessensausübung insbesondere nach § 49 Abs. 2 VwVfG berücksichtigungsfähig ist, ist zwischen Rechtsprechung und Teilen des Schrifttums umstritten. Während das BVerwG (BVerwG NVwZ 1992, 565) den Vertrauensschutz i. d. R. als durch § 49 Abs. 6 VwVfG abgedeckt sieht, will man in der Literatur den Vertrauensschutz z. T. auch im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt wissen (so Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, (Fn. 8), § 49 Rn. 30).
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des Verwaltungshandelns sind Ausfluss des in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltenen Rechtsstaatsprinzips.17 Das als Gegengewicht auf EU-Ebene wirkende Effektivitätsprinzip existiert auf nationaler Ebene so nicht. III. Die tatbestandlichen Problembereiche des § 29 Abs. 2 EnWG 1. Begriff und Arten der „Änderung“ § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG verwenden den Begriff der nachträglichen Änderung („ändern“) der von der Regbeh. festgelegten oder genehmigten Bedingungen und Methoden. Diese Terminologie ist im deutschen Verwaltungsrecht ungebräuchlich. Sie findet sich etwa im § 51 Abs. 1 Satz 1 VwVfG über das Wiederaufgreifen des Verfahrens („Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts“). Änderungsbescheide werden von der Rechtsprechung regelmäßig an den Maßstäben der §§ 48, 49 VwVfG gemessen, also in die Kategorien der Rücknahme bzw. des Widerrufs eingeordnet.18 Dies ist jedenfalls aus deutscher Sicht auch sachgerecht: Der farblose Begriff der „Änderung“ lässt nicht erkennen, in welchem Umfang Eingriffe der Behörde in von ihr geschaffene Verwaltungsrechtslagen Beschränkungen unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes unterworfen werden müssen. Gegenständlich legt der Begriff der „Änderung“ ein Verständnis nahe, welches jeden Eingriff in den Inhalt einer in der Vergangenheit getroffenen Verwaltungsentscheidung umfasst. Schmidt-Preuß hat in der Literatur den Gegenstand möglicher „Änderungen“ näher ausdifferenziert.19 Er unterscheidet zwischen additiven (Hinzutreten eines zusätzlichen Regelungselements), substitutiven (Ersetzung eines bisherigen Regelungselements durch ein neues) und Komplett-„Änderungen“ (Aufhebung der gesamten Regelung ohne Neuregelung). Eine „Änderung“ i.S. von § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG soll nur in den beiden erstgenannten Konstellationen, nicht dagegen in der 3. Variante vorliegen. Der BGH20 hat – wie vor ihm schon das OLG Düsseldorf21 – in seinem Beschluss vom 12. Juli 2016 auch diese letzte Konstellation als „Änderung“ i.S. des § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG angesehen. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Der hinter der Vorschrift stehende Flexibilisierungszweck lässt es sinnvoll erscheinen, der Regbeh. auch die bloße Aufhebung einer Regelung zu ermöglichen. Gerade in einem so unerprobten Tätigkeitsfeld wie der Regulierung kann es Situationen geben, in denen Regelungen wegen Nichtbewährung oder wegen alternativer Lösungswege ersatzlos wieder aufgehoben werden müssen. 17
Statt vieler: Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2017, Art. 20 Rn. 140. BVerwGE 87, 241, 244 f.; aus dem Schrifttum Salje, EnWG, 2006, § 29 Rn. 18. 19 Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1/1, 3. Aufl. 2014, § 29 EnWG Rn. 65. 20 RdE 2016, 532. 21 RdE 2015, 200 Rn. 41 f. 18
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2. „Änderung“ bei geänderter Tatsacheneinschätzung Das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht unterscheidet hinsichtlich der Zulässigkeit der Rückgängigmachung von Verwaltungsakten zwischen Tatsachenänderungen (Widerruf nach § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG) und Rechtsänderungen (Widerruf nach § 49 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG). Veränderungen bei der Einschätzung oder Bewertung von Tatsachen berechtigen die Behörde nur dann zum Eingriff in den Bestand des Verwaltungsakts, wenn der veränderten Einschätzung ihrerseits neue Tatsachen, z. B. neue wissenschaftliche Erkenntnisse, zugrunde liegen.22 § 29 Abs. 2 EnWG kennt solche Einschränkungen nicht. Dies würde z. B. bedeuten, dass eine „Änderung“ auch dann zulässig ist, wenn sich die Beurteilung auf der Grundlage der bisherigen Tatsachen verändert hat. Die Zielsetzung der Flexibilitätssteigerung und die Unerprobtheit zahlreicher Instrumente der Regulierungstätigkeit und –maßstäbe sprechen deutlich dafür, auch Änderungen auf solcher Grundlage nach § 29 Abs. 2 EnWG zuzulassen.23 3. „Änderungen“ für die Vergangenheit? Als weitere Frage im Rahmen des § 29 Abs. 2 EnWG wird erörtert, ob nur „Änderungen“ mit Wirkung für die Zukunft oder auch solche vorgenommen werden können, die für die Vergangenheit wirken. Die Problematik hat Bezug zum Vertrauensschutzgedanken. Das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht lässt die Rücknahme eines Verwaltungsakts für die Zukunft oder für die Vergangenheit zu (§ 48 Abs. 1 VwVfG), während der Widerruf nur mit Wirkung für die Zukunft zulässig ist (§ 49 Abs. 1 VwVfG). Der Wortlaut des § 29 Abs. 2 VwVfG deutet auf die Zulässigkeit nur für die Zukunft hin, wie sich aus dem Wort „weiterhin“ ableiten lässt – ein Merkmal, das in den zugrunde liegenden Richtlinientexten allerdings fehlt. Das OLG Düsseldorf hat denn auch in zwei Beschlüssen vom 6. Oktober 2016 die rückwirkende Aufhebung eines Erlösobergrenzenbescheids24 bzw. einer Genehmigung über eine Netzentgeltbefreiung25 unter Hinweis auf die zukunftsbezogene Flexibilisierungsabsicht abgelehnt.26 Die Befugnis der Regbeh. zur methodologisch-inhaltlichen Gestaltung gerade für die Zukunft („weiterhin“) jenseits des Gegensatzpaares „richtig – falsch“ ist der 22
Vgl. Ramsauer (Fn. 8), § 49 Rn. 45 m.w.Nachw. In diesem Sinne auch BGH (Fn. 10), Rn. 35 ff. 24 VI-5 Kart 21/14 (V), ZNER 2016, 478 (Ls.). 25 VI-5 Kart 13/15 (V), ZNER 2016, 478 (479). 26 Die Frage, ob nach § 29 Abs. 2 EnWG „Änderungen“ für die Vergangenheit zulässig sind, ist nicht mit der Frage gleichzusetzen, ob die Vorschrift eine anfänglich rechtmäßige Entscheidung voraussetzt („weiterhin“). Wie § 48 Abs. 1 VwVfG zeigt, können auch anfänglich rechtswidrige Entscheidungen mit Wirkung nur für die Zukunft zurückgenommen werden. 23
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rechtspolitische Zweck der Regelung. Dagegen spielt der Gedanke der Fehlerkorrektur innerhalb der Teleologie des § 29 Abs. 2 EnWG nur eine allenfalls untergeordnete Rolle,27 weshalb die Änderungsbefugnis nach § 29 Abs. 2 EnWG sowohl rechtmäßige als auch rechtswidrige Entscheidungen erfasst.28 Auch der BGH will „Änderungen“ nach § 29 Abs. 2 EnWG in der Regel nur mit Wirkung für die Zukunft angeordnet wissen. Ausnahmen sollen entsprechend den Grundsätzen über die unechte Rückwirkung im Rahmen des Gedankens des Vertrauensschutzes verarbeitet werden. 4. Änderungsermessen Bei der Frage, ob die Regbeh. von ihrer Änderungsbefugnis nach § 29 Abs. 2 EnWG Gebrauch machen will, steht ihr Ermessen zu.29 Im Rahmen der dazu von ihr anzustellenden Überlegungen hat sie insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Teil sowohl des europäischen als auch des deutschen Rechts zu berücksichtigen. Ähnliches gilt für das Vertrauensschutzprinzip, das allerdings in relativer Nähe zum Problem des Verhältnisses zwischen § 29 Abs. 2 EnWG und §§ 48, 49 VwVfG steht und deshalb in diesem Zusammenhang erörtert werden soll. IV. Das Verhältnis zwischen § 29 Abs. 2 EnWG und §§ 48, 49 VwVfG 1. Meinungsspektrum Nach § 29 Abs. 2 Satz 2 EnWG „bleiben“ die §§ 48, 49 VwVfG „unberührt“. Die Gesetzgebungsmaterialien geben zur Bedeutung dieser Unberührtheitsklausel keinen Aufschluss.30 Dabei hätte zu einer Klarstellung durchaus Anlass bestanden, können solche Klauseln doch durchaus in mehrfachem Sinne gedeutet werden.31 So kann das „Unberührtbleiben“ die unbeeinträchtigte Anwendbarkeit der anderen Norm i.S. der Klarstellung der Eigenständigkeit der unberührten Norm unter Ausschluss einer Verdrängungswirkung, ferner die Regelung einer Vorrangstellung zugunsten der un27
Missling, EnWZ 2017, 84 (86). So zutreffend Wahlhäuser, in: Kment (Hrsg.), EnWG, 2015, § 29 Rn. 35; Britz/Herzmann, in: Britz/Hellermann/Hermes, EnWG, 3. Aufl. 2015, § 29 Rn. 21 unter Hinweis darauf, dass bei Beschränkung auf anfänglich rechtmäßige Entscheidungen rechtswidrige Entscheidungen, die nur nach § 48 VwVfG zurückgenommen werden können, stärker bestandsgeschützt wären als rechtmäßige. 29 Einhellige Meinung; statt vieler: Britz/Hellermann (Fn. 28), § 29 Rn. 23. 30 Britz, N&R 2006, 6, äußert den Verdacht, der Gesetzgeber sei sich selbst nicht völlig im Klaren darüber gewesen, ob die Verfahrensregeln des EnWG grundsätzlich abschließenden Charakter haben sollen oder nicht. 31 Zu den verschiedenen Bedeutungen von Unberührtheitsklauseln näher Böckel, Instrumente der Einpassung neuen Rechts in die Rechtsordnung (unter besonderer Berücksichtigung der Unberührtheitsklauseln), 1993, S. 70 ff., 92 f. 28
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berührt bleibenden Norm(en) wie auch die Anordnung einer kumulativen Anwendung zweier Vorschriften(gruppen) bedeuten. Dementsprechend vielfältig ist auch das Meinungsspektrum: - Ein Teil der Stellungnahmen im Schrifttum32 vertritt die These von der Eigenständigkeit von § 29 Abs. 2 EnWG einerseits und §§ 48, 49 VwVfG andererseits. Beide Normbereiche sind dann nebeneinander anzuwenden. Auch der BGH vertritt wohl diese Auffassung.33 - Ferner wird eine einwirkende kumulative Konkurrenz zwischen § 29 Abs. 2 und §§ 48, 49 VwVfG in der Weise angenommen, dass die Maßgaben der §§ 48, 49 VwVfG in § 29 Abs. 2 EnWG hineinzulesen sind.34 Der BGH hat diese Ansicht klar abgelehnt.35 - Schließlich wird auch partielle verdrängende Spezialität des § 29 Abs. 2 EnWG gegenüber §§ 48, 49 VwVfG von Schmidt-Preuß vertreten.36 Soweit ein Kollisionsverhältnis zwischen § 29 Abs. 2 und § 49 VwVfG besteht – Schmidt-Preuß nimmt ein solches nur im Fall der substitutiven Änderung an37 – werde § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4 VwVfG durch die Spezialregelung des § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG verdrängt.
2. Bewertung Die aufgezeigten denkbaren Varianten des Verhältnisses zwischen § 29 Abs. 2 EnWG einerseits und §§ 48, 49 VwVfG andererseits werfen ein deutliches Licht auf das Sorgfaltsdefizit des Gesetzgebers. Offenbar ist dieser sich über die Komplexität des hier in Rede stehenden Konkurrenzverhältnisses nicht im Klaren gewesen.38 Allerdings entspringt die auch hier verwendete Unberührtheitsklausel nicht immer nur sachlichen Regelungsintentionen. Nicht selten sind sie psychologisch zu erklären: Der Gesetzgeber möchte zuweilen nur denkbaren Fehlschlüssen über die Verdrängung konkurrierender Normen aufgrund des lex-specialis-Arguments entgegenwirken. Darunter leidet dann die präzise Erfassung des tatbestandlichen Überdeckungsbereichs. So ist es auch hier. Bei Änderungen für die Vergangenheit kommt nicht § 29 Abs. 2 EnWG, sondern nur § 48 VwVfG zur Anwendung, so dass eine Konkurrenz nicht bestehen kann. Ist eine tatbestandliche Konkurrenz zwischen den beiden Bereichen gegeben, so liegt allerdings kein Spezialitätsverhältnis des 32 Britz/Hellermann, EnWG, 3. Aufl. 2015, § 29 Rn. 18, 25; Wahlhäuser (Fn. 28), § 29 Rn. 38. 33 RdE 2016, 532, Rn. 24, 28 („Daneben …“). 34 So offenbar Salje, EnWG, 2006, § 29 Rn. 22. 35 RdE 2016, 532, Rn. 24 – 28. 36 Schmidt-Preuß (Fn. 19), § 29 EnWG Rn. 75. 37 Schmidt-Preuß (Fn. 19), § 29 EnWG Rn. 70. 38 In diese Richtung auch Britz, N&R 2006, 6 (8).
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§ 29 Abs. 2 EnWG gegenüber § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4 VwVfG vor. Dies liegt daran, dass § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG tatbestandlich über §§ 48, 49 VwVfG hinausgeht (Befugnis zu Änderungen nicht nur bei anderer Sach- und Rechtslage, sondern auch bei Erkenntnisfortschritt).39 Überschneiden sich somit beide Anwendungsbereiche, so können sie entweder unabhängig voneinander sein oder in teleologischer Abhängigkeit stehen, indem etwa die Vertrauensschutzmerkmale des § 49 VwVfG kumulierend in § 29 Abs. 2 EnWG hineininterpretiert werden. Eine solche kumulierende Einwirkung würde Änderungen nach § 29 Abs. 2 EnWG jedoch erheblich erschweren. Dem BGH40 ist darin zu folgen, dass dies mit der § 29 Abs. 2 EnWG zugrunde liegenden Absicht, gerade im Hinblick auf die Neuartigkeit der Regulierungsmethodik ein flexibles Anpassungsinstrument zu schaffen, nicht vereinbar wäre. Die beiden Befugnisgrundlagen stehen also selbständig nebeneinander. Dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ist dabei im Rahmen der Ausübung des Änderungsermessens Rechnung zu tragen. Hierbei kann es zu Differenzierungen nach der Art der zu ändernden Entscheidung kommen. V. Differenzierung der Ermessensausübung nach der Art der zu ändernden Entscheidung? Die Vorschrift des § 29 Abs. 2 EnWG wird im Hinblick auf die fehlende Berücksichtigung des Vertrauensschutzes überwiegend kritisch gesehen.41 Dabei werden die hierzu vertretenen Auffassungen auf alle in § 29 Abs. 2 EnWG angesprochenen Entscheidungen über die Festlegung oder Genehmigung von Bedingungen und Methoden erstreckt. Diese Entscheidungen nach § 29 Abs. 2 EnWG können nun allerdings sehr verschieden geartet sein. Die Festlegung ist typischerweise an eine Mehrzahl von Adressaten gerichtet und dient der Standardisierung von Entscheidungsinhalten hinsichtlich wiederkehrender Fragestellungen.42 Sie stellt nach h.M.43 eine Allgemeinverfügung dar. Dabei bewegt sie sich im Grenzbereich von Gesetzesnorm und Verwaltungsakt. Demgegenüber entspricht die „Genehmigung“ dem Modellbild des deutschen Verwaltungsakts.44 Ein typischer Fall der Festlegung ist die Methodenregulierung. Im Anschluss an die BGH-Entscheidung vom 12. Juli 201645 hat Missling46 kritisch die Auffassung vorgetragen, dass die regulierungsbehördliche Änderungsbe39
Vgl. Franke (Fn. 12), § 19 Rn. 64. RdE 2016, 532, Rn. 26 ff. 41 So z. B. Pielow, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2016, Kap. 43 Rn. 48, Schmidt-Preuß (Fn. 19), § 29 EnWG Rn. 76. 42 Schmidt-Preuß (Fn. 19), § 29 EnWG Rn. 10. 43 Seit BGH RdE 2008, 362 (363) („EDIFACT“) st. Rspr. 44 Pielow (Fn. 41), Kap. 44 Rn. 4. 45 RdE 2016, 532. 46 Missling, EnWZ 2017, 84 (86). 40
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fugnis nach § 29 Abs. 2 EnWG nur die Methodenfestlegungen, nicht aber Einzelverwaltungsakte wie Genehmigungen erfasst. Methodenfestlegungen wären danach nach § 29 Abs. 2 EnWG änderbar, während in Einzelverwaltungsakte nur nach Maßgabe der §§ 48, 49 VwVfG eingegriffen werden könnte. Missling will Einzelverwaltungsakte aus dem Anwendungsbereich des § 29 Abs. 2 EnWG ausgeschieden wissen, insbesondere auch im Hinblick auf die Nichtberücksichtigung des Vertrauensschutzes, wie er in den §§ 48, 49 VwVfG zum Ausdruck kommt.47 Dafür, dass Einzelverwaltungsakte wie Genehmigungen aus dem Anwendungsbereich des § 29 Abs. 2 EnWG ausgenommen werden, lassen sich weder auf europäischer noch auf deutscher Ebene Anhaltspunkte finden. Im Gegenteil: Die Entscheidungsmodalitäten der Methodenregulierung einerseits und des Einzelverwaltungsakts andererseits sind funktional in dieser Schärfe nicht voneinander zu trennen. Zentrale Aufgabe der (methoden-)regulierenden Festlegung ist die inhaltliche Vorstrukturierung und Standardisierung einer Vielzahl von Einzelentscheidungen.48 Die konkrete Umsetzung der Festlegungsinhalte kann dann u. U. über Einzelverwaltungsakte (Genehmigungen) erfolgen.49 Die von Missling vertretene Zuweisung nur der Methodenregulierung an § 29 Abs. 2 EnWG, der Einzelverwaltungsakte demgegenüber nur an §§ 48, 49 VwVfG würde bei Hintereinanderschaltung von Festlegung und Genehmigung die Durchsetzung von Festlegungsänderungen behindern: Ein erhöhtes Vertrauensschutzniveau bei den nachfolgenden Einzelverwaltungsakten gegenüber den rechtsnormähnlichen (Methoden-)festlegungen wäre geeignet, deren Änderungen nach § 29 EnWG zu behindern: Die bestandsgeschützten Einzelverwaltungsakte ständen der Durchsetzung geänderter methodenregulatorischer Maßstäbe entgegen. Dies würde dem europarechtlichen Effektivitätsgebot widersprechen. Wenn auch damit eine kategoriale Elimination der Einzelverwaltungsakte aus dem Tatbestand des § 29 EnWG ausscheidet, so trifft die Auffassung Misslings zur Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Methodenregulierung und Einzelverwaltungsakt unabhängig von der Situation der Hintereinanderschaltung doch einen richtigen Kern: das unterschiedliche Bedürfnis nach Vertrauensschutz. Soweit Festlegungen eine abstrakt-generelle Regelung für eine Vielzahl von Fällen enthalten, stehen sie den Rechtsnormen zumindest nahe.50 Die Erwartung auf den Fortbestand von Rechtsnormen wird vom Rechtsstaatsprinzip (Vertrauensschutz) des Art. 20 Abs. 3 GG indes nicht geschützt,51 wohl aber in differenzierter Weise das Vertrauen in den Fortbestand administrativer Einzelakte, wie zahlreiche einfachgesetz47
Missling, a.a.O. (85). Vgl. oben Fn. 42 und den dazugehörigen Text. 49 Schmidt-Preuß (Fn. 19), § 29 EnWG Rn. 10. 50 Vgl. auch BGH RdE 2008, 362 (363) („Die Allgemeinverfügung ist damit nicht absolut trennscharf von der abstrakten Regelung zu unterscheiden“). 51 BVerfGE 128, 90, 106: „Die schlichte Erwartung, das geltende Recht werde auch in der Zukunft unverändert fortbestehen, ist verfassungsrechtlich nicht geschützt“. 48
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liche Bestimmungen nach Art der §§ 48, 49 VwVfG zeigen.52 Dieser Differenzierung ist im Rahmen der Ermessensausübung bei Änderungseingriffen der Regbeh. auf der Grundlage des § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG Rechnung zu tragen.53 VI. Analoge Anwendung des § 49 Abs. 6 VwVfG? Zur Linderung oder gar Behebung des innerhalb des § 29 EnWG kritisierten Vertrauensschutzdefizits wird z. T. im Schrifttum vorgeschlagen, § 49 Abs. 6 VwVfG auf Änderungen nach § 29 EnWG analog anzuwenden.54 Anders als bei der Regelung über die Voraussetzungen der Änderungen und des dabei obwaltenden Vertrauensschutzes stehen einer solchen Analogie keine Bedenken aus europarechtlicher Sicht entgegen. Die Vorschriften der Art. 37 Abs. 10 Satz 1 EltRL 2009/72/EG bzw. Art. 41 Abs. 10 Satz 1 GasRL 2009/73/EG sind nicht so zu verstehen, dass sie im Falle einer Änderung die Gewährung einer Entschädigung verbieten. Im Rahmen der Umsetzung sind also die Mitgliedstaaten frei, im Falle einer Änderung die Gewährung eines Ersatzes des Vertrauensschadens vorzusehen. Daher kann ein solcher Anspruch auch im Wege der Analogie aus mitgliedstaatlichem Recht hergeleitet werden. Dies ist bei Änderungen auf der Grundlage des § 29 EnWG unter engen Voraussetzungen auch angebracht. Voraussetzung ist dafür zunächst, dass die bei der Ermessensausübung vorzunehmende Abwägung trotz des auch hier zu berücksichtigenden Vertrauensschutzaspekts zugunsten der Änderung ausfällt. Weiter ist für einen solchen Anspruch zu verlangen, dass sich die Änderung auf einen Einzelverwaltungsakt bezieht. Allgemeinen normativen Festlegungen kommt – wie bereits dargelegt – nicht eine gleichermaßen intensive vertrauenauslösende Wirkung zu. VII. Schlussbemerkungen 1. Bei der Handhabung des europarechtlich unterlegten § 29 Abs. 2 EnWG sind sowohl das Vertrauensschutzprinzip als auch das Effektivitätsprinzip zu berücksichtigen. Mangels näherer tatbestandlicher Ausformung kann die Abwägung zwischen beiden Prinzipien nur im Rahmen der Ausübung des Änderungsermessens herbeigeführt werden. Der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ist dabei bei Einzelverwaltungsakten (Genehmigungen) stärker zu gewichten als bei rechtsnormähnlichen Festlegungen. Kein erhöhter Vertrauensschutz kommt Einzelverwaltungsakten i. d. R. nur dann zu, wenn sie in Umsetzung von geänderten Festlegungen ergehen. 2. Das Problem der Abänderbarkeit regulierungsrechtlicher Entscheidungen nach § 29 Abs. 2 EnWG und der unübersichtliche Meinungsstand zu dessen Handhabung 52
Statt vieler: Sachs (Fn. 17), Art. 20 Rn. 140. Bei Hintereinanderschaltung von Festlegung und Genehmigung kommt es z. B. darauf an, in welchem Umfang die vorangegangene Festlegung bereits in Einzelverwaltungsakte umgesetzt worden ist. 54 Schmidt-Preuß (Fn. 19), § 29 EnWG Rn. 76. 53
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zeigen deutlich das Problem der Koordinierung des auf spezifischen Regelungszielen beruhenden gemeinschaftsrechtlichen Regulierungsrechts mit den der Verwirklichung allgemeiner rechtsethischer Postulate dienenden, den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Grundlagenmaterien wie dem allgemeinen Verwaltungs(verfahrens)recht. Ganz ähnliche Probleme treten in neuerer Zeit bei der Koordination zwischen regulierungsrechtlichem Gemeinschaftszivilrecht einerseits und dem mitgliedstaatlichen allgemeinen Zivilrecht andererseits auf: Beispiele sind das Problem der Folgen von Verstößen gegen energieregulatorisches Gemeinschaftsverbraucherschutzrecht für Preisanpassungsklauseln55 und die zivilrechtliche Billigkeitskontrolle (§ 315 BGB) regulierter Infrastrukturnutzungsentgelte (Eisenbahn).56 3. Ursächlich für die Koordinationsprobleme ist insbesondere die unzulängliche tatbestandliche Ausformung allgemeiner Rechtsprinzipien innerhalb des sekundären Gemeinschaftsrechts. Dieses wird in seiner Gestalt hauptsächlich durch politisch motivierte Zielvorstellungen aus dem jeweiligen Sachbereich gespeist, deren Stellenwert dann durch das Effektivitätsprinzip methodologisch gleichsam „geadelt“ wird. Dieses neigt tendenziell zur Verdeckung anderer relevanter, u. U. aber gegenläufiger Ordnungsprinzipien. 4. Das Regulierungsrecht, insbesondere das Energieregulierungsrecht, demonstriert damit deutlich die Schwierigkeiten, die sich der Herstellung einer nicht nur auf sektoralen politischen Zielvorstellungen, sondern auch auf rechtsethischen Ordnungsprinzipien beruhenden stimmigen europäischen (Wirtschafts-)Rechtsordnung entgegenstellen. Nimmt man den interdisziplinären Charakter des (Energie-)Regulierungsrechts zwischen Recht, Ökonomie und Technik hinzu,57 über den der Jubilar vor einem knappen Jahrzehnt so anschauliche Überlegungen angestellt hat,58 so kann man bei diesem Rechtsgebiet mit ihm in der Tat von einem Faszinosum sprechen.59
55 Vorabentscheidungsersuchen des OLG Bremen an den EuGH vom 19. 5. 2017 – 2 U 115/ 16 –, EnWZ 2017, 271. 56 Urt. des EuGH v. 9. 11. 2017, C-489/15. 57 Diese Interdisziplinarität hat sich im Laufe des vergangenen Jahrzehnts im Zeichen der Energiewende sowie der Züchtung von Märkten, etwas verharmlosend „Marktdesign“ genannt, und neuestens der Digitalisierung noch bedeutend gesteigert. 58 Festschrift für Gunther Kühne zum 70. Geburtstag, 2009, S. 329 ff. 59 A.a.O (342).
Energie × Miete – Das Mietrecht als Instrument zur Steigerung der Energieeffizienz von Gebäuden Von Gösta Christian Makowski, Frankfurt am Main I. Energie – Die energetische Effizienz von Gebäuden als ein Ziel des Energierechts Angesichts der wachsenden Herausforderungen, die mit dem Klimawandel einhergehen, gewinnt der Klimaschutz als Politikziel weiter an Gewicht. Dies betrifft die internationale, die europäische und die nationale Ebene gleichermaßen: Auf überstaatlicher Ebene bildet das von den Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen 2015 verabschiedete Übereinkommen von Paris1 einen Meilenstein; es wird darin unter anderem das rechtlich verbindliche Ziel vereinbart, den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 8C über dem vorindustriellen Niveau zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, den Temperaturanstieg auf 1,5 8C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Auf Unionsebene wurden die bereits 2007 im Rahmen des „Klima- und Energiepakets 2020“2 gesetzten Klimaschutzziele durch die Staats- und Regierungschefs der EU im Oktober 2014 fortgeschrieben; als Hauptziele verfolgt die EU danach eine Senkung der Treibhausgasemissionen um mindestens 40 % (gegenüber dem Stand von 1990), eine Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energiequellen auf mindestens 27 % und eine Steigerung der Energieeffizienz um mindestens 27 % bis 2030.3 In Deutschland wurde 2016 der Klimaschutzplan 20504 vom Bundeskabinett verabschiedet, der inhaltliche Orientierung für den Prozess zum Erreichen der nationalen Klimaziele in Einklang mit dem Übereinkommen von Paris geben soll. Bereits zuvor beschlossene Klimaziele werden darin bekräftigt: Die Treibhausgasemissionen in Deutschland sollen bis spätestens 2030 um mindestens 55 % gegenüber dem Niveau von 1990 gesenkt werden 1
ABl. Nr. L 282/4 v. 19. 10. 2016; hierzu Morgenstern/Dehnen, ZUR 2016, 131 ff. Https://publications.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/49c57f2a-3d7a-41d3 – 9471-fc2734119eba/language-de/format-HTML/source-65047298 (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018). 3 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 23./24. 10. 2014, EUCO 169/14; Tz. 2 f.; s. Ludwigs, in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2016, Kap. 6 Rn. 25. 4 Klimaschutzplan 2050 v. 14. 11. 2016, Broschüre Nr. 2261, https://www.bmub.bund.de/fi leadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Klimaschutz/klimaschutzplan_2050_bf.pdf (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018). 2
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und um mindestens 70 % bis 2040. Hierzu werden Leitbilder, Meilensteine und Maßnahmen für alle Handlungsfelder formuliert, darunter insbesondere der Gebäudebereich. Einen wichtigen Baustein jeglicher Klimaschutzstrategien bildet neben der Steigerung der Umwandlungseffizienz und Abkehr von fossilen Brennstoffen das prominent auch in Art. 194 AEUV5 normierte Ziel der Förderung der Energieeffizienz.6 Wird allgemein mit Effizienz das Verhältnis von Ertrag und Aufwand bezeichnet, bezieht sich bei dem Begriff der Energieeffizienz der Aufwand entsprechend auf den Energieeinsatz.7 Eine Legaldefinition enthält etwa die Energieeffizienz-Richtlinie, wonach unter Energieeffizienz „das Verhältnis von Ertrag an Leistung, Dienstleistungen, Waren oder Energie zu Energieeinsatz“ zu verstehen ist.8 Eine zentrale Rolle für die Energieeffizienzsteigerung wiederum kommt dem Gebäudesektor zu. Immobilien werden für bis zu 30 % der Treibhausgasemissionen in Deutschland verantwortlich gemacht.9 Auch die auf EU-Ebene erhobenen Zahlen weisen den Gebäudebestand als energieintensiven Bereich aus, der ein beträchtliches Potential für kostenwirksame Energieeinsparungen birgt: So sind etwa 75 % der Gebäude aktuell nicht energieeffizient, zudem werden in den einzelnen Mitgliedstaaten lediglich 0,4 – 1,2 % des Bestands renoviert.10 Vor diesem Hintergrund wurden weitreichende Ziele für den Beitrag dieses Bereichs zum Klimaschutz formuliert: Das Energiekonzept der Bundesregierung fordert einen nahezu klimaneutralen Gebäudebestand bis 2050.11 II. Miete – Das Mietrecht als Teil des energieeffizienzrechtlichen Instrumentenmix’ Zur Umsetzung der Klimaschutz- und Energieeffizienzziele wurde bereits eine Vielzahl rechtlicher Maßnahmen ergriffen. Charakterisiert wird sie durch deren He-
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S. hierzu Schmidt-Preuß, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Bd. 1/1. Halbband, 3. Aufl. 2014, Einleitung B. Rn. 113; vgl. auch ders., in: Baur/Salje/ Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2016, Kap. 10 Rn. 6 ff. 6 Britz/Eifert/Reimer, in: dies. (Hrsg.), Energieeffizienzrecht, 2010, S. 63 f. 7 Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, 2013, S. 403 ff.; ders., in: Baur/Salje/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2016, Kap. 15 Rn. 11. 8 Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2012/27/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 10. 2012 zur Energieeffizienz, ABl. Nr. L 315/1 v. 14. 11. 2012; s. hierzu Pielow, ZUR 2010, 115 (118 f.). 9 Klimaschutzplan 2050 (Fn. 4), S. 42. 10 S. etwa Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 19. 12. 2017, IP/17/5129. 11 BMWi, Energiekonzept v. 28. 09. 2010, S. 22, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/ Downloads/E/energiekonzept-2010.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018).
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terogenität.12 Vielzahl und Heterogenität der Gestaltungen rechtfertigen den weithin verwendeten Begriff des Instrumentenverbunds oder Instrumentenmix‘.13 Ob vor diesem Hintergrund von einem „neuen Rechtsgebiet“ des Energieeffizienzrechts gesprochen werden kann14 mag bezweifelt werden;15 dennoch sollen im Folgenden unter dem Begriff des Energieeffizienzrechts rechtliche Gestaltungen zusammengefasst werden, die „auf die Steigerung der Energieeffizienz zielen“.16 Die Vielfalt der Instrumente zeigt sich insbesondere in der Bandbreite der Gestaltungsmodi, die von staatlicher Steuerung bis zu gesellschaftlicher Selbstregulierung reichen. Dabei soll im Folgenden im Einklang mit der von Schmidt-Preuß nachhaltig geprägten Typologie und Terminologie unter (gesellschaftlicher) Selbstregulierung „die individuelle oder kollektive Verfolgung von Privatinteressen in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten zum legitimen Eigennutz“17 verstanden werden. Staatliche Steuerung als Antonym ist demgegenüber „jede Gestaltung der Lebensverhältnisse durch einen Träger öffentlicher Gewalt“.18 Sie bezeichnet die „operative – i. d. R. administrative, bisweilen gouvernementale – Beeinflussung des Verhaltens Privater zur Durchsetzung von Gemeinwohlzielen“.19 Als Oberbegriff für Verhaltenslenkung oder -beeinflussung jeder Art soll der Terminus Gestaltung dienen.20 Handlungsinstrumente, die zwischen den Polen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung anzusiedeln sind, sollen hier unter dem Begriff der gesteuerten Selbstregulierung zusammengefasst werden.21 Staatliche Steuerung im Sinn imperativer oder direkter Verhaltenssteuerung ist gekennzeichnet durch den Einsatz traditioneller Instrumente der Eingriffs- oder Lenkungsverwaltung in Form von Ge- und Verboten.22 Im Energieeffizienzrecht beinhal12 Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, 2013, S. 401; s. auch Britz/Eifert/Reimer, in: dies. (Hrsg.), Energieeffizienzrecht, 2010, S. 69; Schomerus, NVwZ 2009, 418 ff.; Pielow, ZUR 2010, 115 ff.; Jesse, in: Britz/Eifert/Reimer (Hrsg.), Energieeffizienzrecht, 2010, S.16 f. 13 S. nur Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2013. 14 So Britz/Eifert/Reimer, in: dies. (Hrsg.), Energieeffizienzrecht, 2010, S. 66. 15 Ludwigs, in: Brinktrine/Ludwigs/Seidel (Hrsg.), Energieumweltrecht in Zeiten von Europäisierung und Energiewende, 2014, S. 175 (183 ff.). 16 Britz/Eifert/Reimer, in: dies. (Hrsg.), Energieeffizienzrecht, 2010, S. 63 (67). 17 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (162 f.), Hervorhebung i. Orig.; ihm folgend Calliess, AfP 2002, 465 (466); Faber, Jugendschutz im Internet, 2005, S. 28 f.; Lübbe-Wolff, in: Gesellschaft für Umweltrecht (Hrsg.), Dokumentation zur 24. wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V., 2001, S. 29 (73); Sendler, UPR 1997, 381 (381). 18 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (163). 19 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160, (163 f.). 20 Vgl. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (162 f.). 21 Vgl. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (165). 22 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (162); Sparwasser/Engel/Voßkuhle, in: dies. (Hrsg.), Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, § 2 Rn. 58 f.; Ludwigs, in: Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, 2013, S. 459.
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tet sie entsprechend die unmittelbare Anordnung energiesparender Maßnahmen. Ein Beispiel bilden die bußgeldbewehrten Nachrüstungspflichten der Energieeinsparverordnung (EnEV) 2016.23 Sie stellen ordnungsrechtliche Vorgaben dar, denen materieller Gesetzescharakter zukommt, und die grundsätzlich nicht der Disposition von Vertragsparteien unterliegen.24 Dass dem Staat traditionelle imperative Steuerungsinstrumente zur Verfügung stehen, bedeutet jedoch nicht, dass er für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben hierauf beschränkt wäre. Mit Schmidt-Preuß ist eine „Abkehr vom klassischen Gestaltungsmodus imperativer Zweckverwirklichung zugunsten arbeitsteiliger Gemeinwohlkonkretisierung durch Staat und Private“ zu konstatieren.25 Privates Verhalten ist nicht per se und unmittelbar am Gemeinwohl ausgerichtet. In Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten dient es legitimerweise eigennützigen Zielen.26 Außer durch den Marktmechanismus allein kann eine Gleichrichtung öffentlicher und privater Interessen auch durch die staatliche Induktion27 selbstregulativer Gemeinwohlbeiträge erfolgen.28 Damit ist der Wirkungsmechanismus gesteuerter Selbstregulierung beschrieben. Er macht es sich zunutze, dass häufig mehrere Möglichkeiten bestehen, Eigeninteresse legitim zu befriedigen und zugleich das Gemeinwohl zu fördern. In dieser Situation kann der Staat im Wege steuernder Vorgaben das Verhalten Privater in der Weise beeinflussen, dass sie sich für solche Optionen entscheiden, die zugleich gemeinwohlverträglich sind.29 Das Energieeffizienzrecht weist zahlreiche Ausprägungen regulierter Selbstregulierung auf.30 Prädestiniert für selbstregulative Gestaltungen ist insoweit das Verhältnis zwischen Vermietern und Mietern von Gebäuden, und damit dessen rechtlicher Rahmen, das Mietrecht: Eigentümer und Nutzer eines Gebäudes haben maßgeblichen Einfluss auf dessen Energieeffizienz. Während der Eigentümer vorrangig Kontrolle über die Gebäudesubstanz hat und es in seiner Hand liegt, sie – mehr oder weniger – energieeffizient zu gestalten, wirkt sich das Verhalten des Nutzers maßgeblich auf die Menge der in einem Gebäude konsumierten Energie aus. Beide – Gebäudeeigentümer und -nutzer – stehen sich regelmäßig als Vermieter und Mieter 23
§§ 10, 27 Abs. 1 Nr. 4 bis Nr. 6 EnEV; s. hierzu Hertel, DNotZ 2014, 258 (267 f.). Stock, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 94. EL Juli 2017, 91. Verordnung über energiesparenden Wärmeschutz und energiesparende Anlagentechnik bei Gebäuden (Energieeinsparverordnung – EnEV), Einführung Rn. 5. 25 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (228). 26 Vgl. von Weizsäcker, in: Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, 2005, S. 85 (89). 27 S. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (165); ders., in: Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, 2005, S. 19 (22). 28 Di Fabio, JZ 1997, 969 (973); Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (165 f.). 29 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (162); Hoffmann-Riem, in: ders. (Hrsg.), Modernisierung von Recht und Justiz, 2000, S. 34. 30 Hierzu auch Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, 2013, S. 460 ff. 24
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gegenüber und sind damit über ein Mietrechtsverhältnis miteinander verbunden. Es liegt daher auf der Hand, dass die Gestaltung dieses Rechtsverhältnisses bedeutende Auswirkungen auch auf die Energieeffizienz von Gebäuden haben kann und – im positiven Sinn auf das Politikziel Klimaschutz gerichtet – einen Beitrag zur Energieeffizienz des vermieteten Gebäudebestands leisten kann; in quantitativer Hinsicht wird die Bedeutung des Mietrechts selbst unter Außerachtlassung von Gewerberaummietverhältnissen deutlich: Von den ca. 40 Millionen Wohnungen in Deutschland sind 24 Millionen Mietwohnungen.31 Ein gewichtiger Grund, das Mietrecht mit dem Ziel der Steigerung der Gebäudeenergieeffizienz in den Blick zu nehmen, liegt auch in seiner Eignung, das sog. „Investor-Nutzer-Dilemma“ aufzulösen oder jedenfalls zu mildern. Allgemein wird damit der Umstand beschrieben, dass Investitionen unterbleiben, weil der Investor langfristig keinen Ertrag aus seiner Investition erzielen kann, dagegen der Nutzer den Vorteil nicht zu zahlen hat.32 Im Energieeffizienzrecht wird die Problematik regelmäßig im Zusammenhang mit Maßnahmen der energetischen Modernisierung ausgemacht: Ein Vermieter mag sich aufgrund einer Kosten-Nutzen-Abwägung gegen Investitionen in die energetische Modernisierung entscheiden; soweit er auch die aus einer geringeren Energieeffizienz resultierenden entsprechend höheren Betriebskosten auf den Mieter umlegen kann, wird er von Investitionen in eine Erhöhung der Energieeffizienz kaum profitieren.33 Umgekehrt würde der Vermieter zunächst die Investitionskosten tragen und insoweit sein Kapital binden; die Amortisation hinge dagegen im laufenden Mietverhältnis von den gesetzlichen Mieterhöhungsmöglichkeiten ab, soweit diese eine Umlage von Modernisierungskosten vorsehen.34 Es wird deutlich, dass eine Lösung des Investor-Nutzer-Dilemmas die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Mietvertragsparteien berühren muss und nur durch deren sachgerechten Ausgleich gelingen kann. Eine besondere Eignung des Mieter-Vermieter-Verhältnisses für energieeffizienzrechtliche Gestaltungen liegt zudem darin begründet, dass es die Möglichkeit bietet, vom Potential selbstregulativer Eigenvornahme zu profitieren: Durch die Einbeziehung des Sachverstands Privater kann ihr Know-how genutzt, der Staat entlastet und gleichzeitig durch erhöhte Akzeptanz seitens der Adressaten eine verbesserte Wirksamkeit erreicht werden.35 31 Entwurf eines Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln (Mietrechtsänderungsgesetz – MietRÄndG), BT-Drs. 17/10485, S. 13. 32 https://de.wikipedia.org/wiki/Nutzer-Investor-Dilemma (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018). 33 Vgl. Kramer, ZUR 2007, 283 (284). 34 Klinski, ZUR 2010, 283 f.; vgl. InWIS Forschung & Beratung GmbH, Konzeptstudie: Wege aus dem Vermieter-Mieter-Dilemma, S. 8, http://web.gdw.de/uploads/pdf/InWIS-Vermieter-Mieter-Dilemma.pdf (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018). 35 Vgl. nur Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004, S. 98 ff.; Franzius, AöR 126 (2001), 403 ff; Schmidt-Preuß, in: Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, 2005, S. 19 (21);
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III. Energie × Miete: Referenzgebiete Es lassen sich vielfältige Beispiele finden, wie durch die Gestaltung des Rechtsverhältnisses zwischen Eigentümern und Nutzern von Gebäuden – und zwar gerade in ihrer Rolle als Vermieter bzw. Mieter – die Energieeffizienz von Gebäuden bzw. deren Nutzung gesteigert werden kann.36 Insbesondere mit Blick auf die Zunutzemachung der Vorteile gesteuerter Selbstregulierung sollen im Folgenden die gesetzlichen Regelungen zur energetischen Modernisierung, zur Umlage bestimmter Betriebskosten auf den Mieter, zum Energieausweis und zum Mieterstrom beleuchtet werden. Auch aktuelle Überlegungen zur Förderung der Elektromobilität berühren das Verhältnis zwischen Mieter und Vermieter und werden daher in die nachstehenden Ausführungen einbezogen. Schließlich soll in diesem Zusammenhag die – rein selbstregulative – kautelarjuristische Praxis sogenannter „Green Leases“ aufgegriffen werden. 1. Energetische Modernisierung Wie gesehen birgt der Gebäudebestand erhebliches Potential zur Steigerung der Energieeffizienz.37 Gehoben werden kann es insbesondere durch energetische Modernisierung. Sie wird als eine der „wichtigsten Zukunftsaufgaben im Wohnungsmarkt“ wahrgenommen.38 Damit geht der Befund einher, dass die energetische Sanierungsrate erhöht werden muss, um die Energieeffizienzziele im Gebäudebereich zu erreichen.39 Jedoch können sich Mieterrechte als Hemmnis für die Durchführung einer energetischen Modernisierung erweisen:40 Hauptpflicht des Vermieters ist es nach § 535 Abs. 1 S. 1 und 2 BGB, dem Mieter den vertragsgemäßen Gebrauch der Mietsache zu gewähren und diese in einem vertragsgemäßen Zustand zu erhalten.41 Mit einer (energetischen) Modernisierung einhergehende Beeinträchtigungen des Mietgeders., FS Kriele, 1997, S. 1157 (1159); Rehbinder, in: Winter (Hrsg.), European Environmental Law, 2000, S. 239 (241); Schuppert, in: Berg/Fisch/Schmitt Glaeser/Schoch/SchulzeFielitz, Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, Die Verwaltung Beiheft 4, 2001, S. 201 (228 f.); Lübbe-Wolff, NVwZ 2001, 481 ff. 36 Vgl. zu den „Schnittstellen zwischen Mietrecht und Energierecht“ auch Klinski, WuM 2012, 354 ff. 37 S. o. unter I. 38 Entwurf eines Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln (Mietrechtsänderungsgesetz – MietRÄndG), BT-Drs. 17/10485, S. 1. 39 BMWi, Energiekonzept v. 28. 09. 2010, S. 22, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/ Downloads/E/energiekonzept-2010.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018). 40 Klinski, ZUR 2010, 283; vgl. auch Sternel, NZM 2010, 722. 41 Menn, in: Ghassemi-Tabar/Guhlig/Weitmeyer (Hrsg.), Gewerberaummiete, 2015, § 535 Rn. 1, 98.
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brauchs können einen Mangel der Mietsache i.S.v. § 536 Abs. 1 S. 1 BGB begründen, der wiederum etwa nach § 535 Abs. 1 BGB einen Erfüllungsanspruch des Mieters auf Herstellung einer mangelfreien Mietsache sowie Gewährleistungsrechte nach den §§ 536 ff. BGB auslösen kann, insbesondere Minderung (§ 536 BGB) und Schadensersatz (§ 536a Abs. 1 BGB) bis hin zu Kündigungsrechten (§ 543 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB).42 Um mietrechtliche Hemmnisse energetischer Modernisierungen abzubauen, wurde zuletzt das Mietrechtsänderungsgesetz (MietRÄndG) erlassen.43 Ein Schlüssel für die Sanierung vermieteter Räume ist die Pflicht des betroffenen Mieters, seinen Mietgegenstand betreffende Sanierungsmaßnahmen zu dulden. Diese Duldungspflicht findet sich seit Inkrafttreten des MietRÄndG in § 555d BGB. Der Mieter muss die Modernisierungsmaßnahmen bis zu der in § 555d Abs. 2 BGB festgelegten Härtefallgrenze hinnehmen, etwa indem er einem vom Vermieter mit der Modernisierung beauftragten Handwerker Zutritt zum Mietgegenstand gewährt.44 Der abschließende Charakter der Aufzählung der in Frage kommenden Maßnahmen soll den Mieter vor sogenannten „Luxusmodernisierungen“ schützen.45 Eine Duldungspflicht für energetische Modernisierungen ist nicht erst durch das MietRÄndG in das Mietrecht eingeführt worden.46 Sie wurde darin jedoch erweitert und präzisiert, um der energetischen Modernisierung größeres Gewicht zu verleihen.47 So bestand unter der vorherigen Rechtslage Unsicherheit über den Kreis der insoweit privilegierten Maßnahmen: Die Duldungspflicht knüpfte nach § 554 Abs. 2 BGB a.F. tatbestandlich an Maßnahmen „zur Einsparung von Energie“ an. Diese Formulierung ließ offen, ob nur die Einsparung von Endenergie oder auch von Primärenergie umfasst war. Praktisch relevant wurde die Frage bei der Umstellung der Heizungsart, insbesondere von einer Gasetagenheizung auf Fernwärme: Hierbei wird die Einsparung von Endenergie kaum nachweisbar sein, die von Primärenergie dagegen schon.48 Die Klärung dieser Frage durch den BGH, der gestützt auf Entstehungsgeschichte und Normzweck die Einsparung (auch) von Primärenergie
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Sternel, NZM 2010, 722. Gesetz über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln (Mietrechtsänderungsgesetz – MietRÄndG), BGBl. I 2013 S. 434. 44 Blank, in: Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017, § 555a Rn. 10. 45 Artz, in: Säcker/Rixecker/Oetker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 555d Rn. 1. 46 Zur Entstehungsgeschichte s. Eisenschmidt, in: Börstinghaus/Eisenschmidt (Hrsg.), Modernisierungs-Handbuch, 2014, Kap. 1 Rn. 1 ff. 47 Entwurf eines Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln (Mietrechtsänderungsgesetz – MietRÄndG), BT-Drs. 17/10485, S. 2. 48 Vgl. Wilcken, NZM 2006, 521 f. 43
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ausreichen ließ,49 wurde mit dem MietRÄndG in der Weise kodifiziert, dass ein Katalog von Legaldefinitionen zulässiger und zu duldender Modernisierungsmaßnahmen formuliert wurde (§ 555b BGB), der eben auch die Einsparung (nicht erneuerbarer) Primärenergie beinhaltet. Eine darüber noch hinausgehende Erleichterung für energieeffizienzfördernde Modernisierungen bringt der Katalog von zu duldenden Maßnahmen, indem auch solche der Primärenergieeinsparung dienende Maßnahmen eingeschlossen werden, bei denen die Einsparung nicht in Bezug auf die Mietsache erfolgt, wie beispielsweise der Installation einer Photovoltaikanlage auf dem Dach eines Mietshauses, bei welcher der erzeugte Strom nicht der Versorgung der Mietsache dient.50 Naturgemäß liegt in den Kosten, welche die Durchführung der notwendigen baulichen Maßnahmen für den Gebäudeeigentümer mit sich bringt, ein weiteres Hemmnis für energetische Modernisierungen.51 Es kann sich dementsprechend reduzieren, soweit der Vermieter in die Lage versetzt wird, diese zu refinanzieren. Eine Möglichkeit zur Umlage von Modernisierungskosten auf den Mieter sieht das geltende Mietrecht in § 559 Abs. 1 BGB vor: Danach kann der Vermieter die Miete um 11 % der für Modernisierungsmaßnahmen aufgewendeten Kosten erhöhen. Auch insoweit hat zuletzt das MietRÄndG Neuerungen gebracht, die jedoch – anders als bei der Duldungspflicht – nicht zu einer Erleichterung energieeffizienzfördernder Modernisierungen geführt haben. Betroffen waren wieder Maßnahmen, die (nur) zu einer Einsparung von Primärenergie führen: Vor Inkrafttreten des MietRÄndG wurde – trotz im Detail unterschiedlichen Wortlauts der einschlägigen Regelungen – überwiegend von einem Gleichlauf von Duldungspflicht und Mieterhöhungsrecht bei der (bloßen) Primärenergieeinsparung ausgegangen, und zwar mit dem Ergebnis, dass der Vermieter bei allen Modernisierungsmaßnahmen, für die eine Duldungspflicht besteht, dem Mieter eine Mieterhöhung auferlegen konnte.52 Durch die Einführung des MietRÄndG hat sich der Gesetzgeber hiervon distanziert und die Möglichkeit des Vermieters, die Miete im Falle einer Modernisierung zu erhöhen, von einer Pflicht des Mieters, derartige Maßnahmen zu dulden, entkoppelt.53 Anders als bisher erfolgt keine Kostenumlage mehr für Modernisierungsmaßnahmen gemäß § 555b Nr. 2 BGB, durch die ausschließlich nicht erneuerbare Primärenergie eingespart wird, ohne dass bezüglich der Mietsache eine Ersparnis von Endenergie erreicht wird.54
49 BGH, Urt. v. 24. 09. 2008 – VIII ZR 275/07 = NJW 2008, 3639; zust. Hinz, ZMR 2011, 685 (688 f.). 50 Entwurf eines Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln (Mietrechtsänderungsgesetz – MietRÄndG), BT-Drs. 17/10485, S. 20. 51 Klinski, WuM 2012, 354. 52 Derleder, NZM 2013, 441 ff. 53 Artz, in: Säcker/Rixecker/Oetker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 559 Rn. 6. 54 Schüller, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck (Hrsg.), BeckOK BGB, 2017, § 559 Rn. 18.
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Auch nach dieser mieterschützenden Korrektur blieb der Umfang der Modernisierungsumlage jedoch Gegenstand politischer Diskussionen.55 Eine weitere Möglichkeit zur Refinanzierung von Modernisierungskosten kann die Berücksichtigung des – durch die Modernisierung verbesserten – energetischen Zustands des Gebäudes im Rahmen von Mieterhöhungen darstellen. Das geltende Mietrecht erlaubt Mieterhöhungen bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete, wobei diese anhand bestimmter Wohnwertmerkmale zu bestimmen ist, § 558 Abs. 1, 2 BGB. Zunächst war zweifelhaft, ob darin, namentlich in das Merkmal der „Beschaffenheit“ des Wohnraums, auch dessen energetische Beschaffenheit einfließen kann.56 Der Gesetzgeber hat dies – im positiven Sinn – ebenfalls mit dem MietRÄndG klargestellt, indem er in die bestehenden Wohnwertmerkmale des § 558 Abs. 2 BGB die „energetische Ausstattung und Beschaffenheit“ einschloss. Die Wirksamkeit dieser Maßnahme wird jedoch verschiedentlich in Zweifel gezogen, hätten sich doch an den meisten örtlichen Wohnungsmärkten energetische Beschaffenheitsmerkmale noch nicht als wesentliche Kriterien für die Wohnungswahl etabliert.57 Eine Verbesserung ließe sich insoweit über die geeignete Gestaltung von Mietspiegeln erreichen. Sie geben eine Übersicht über die ortsübliche Vergleichsmiete (§ 558c Abs. 1 BGB). Die Berücksichtigung energetischer Differenzierungsmerkmale in Mietspiegeln wurde in jüngerer Vergangenheit verstärkt von Kommunen, Mieterverbänden und Vertretern der Wohnungswirtschaft verfolgt.58 Entsprechend finden sich mittlerweile zahlreiche Beispiele solcher sogenannter „ökologischer Mietspiegel“. So werden die Einhaltung bestimmter Energieverbrauchskennwerte (z. B. Berliner Mietspiegel 201759) bzw. Energieeffizienzklassen (z. B. Mietspiegel der Stadt Bochum60) oder die Durchführung bestimmter Modernisierungsmaßnahmen (z. B. Mietspiegel für Darmstadt 201661) als wohnwerterhöhende Merkmale vorgesehen. Auch insoweit 55
In dem 2016 vorgelegten Entwurf eines „Zweiten Mietrechtsnovellierungsgesetzes“ war unter anderem vorgesehen, dass nach einer Modernisierung nur noch 8 % der anfallenden Modernisierungskosten auf den Mieter umlegbar sein sollten. 56 Hierzu Börstinghaus, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 13. Aufl. 2017, § 558 Rn. 81. 57 S. nur Klinski, Rechtskonzepte zur Beseitigung des Staus energetischer Sanierungen im Gebäudebestand, in: Umweltbundesamt (Hrsg.), Texte 36/2009, S. 185; Börstinghaus, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 13. Aufl. 2017, § 558 Rn. 81a. 58 BMVBS, Hinweise zur Integration der energetischen Beschaffenheit und Ausstattung von Wohnraum in Mietspiegeln (Stand: 01. 06. 2013), http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Ve roeffentlichungen/BMVBS/Sonderveroeffentlichungen/2013/DL_Mietspiegel.pdf;jsessionid= 3C9717C10798F5C174131D02877CD291.live21304?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018). 59 Vgl. Berliner Mietspiegel 2017, http://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/mietspie gel/de/download/Mietspiegel2017.pdf (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018). 60 Vgl. Mietspiegel für nicht preisgebundenen Wohnraum im Gebiet der Stadt Bochum gültig vom 01. 01. 2017 bis 31. 12. 2018, https://m.bochum.de/C12571 A3001D56CE/vwCon tentBKey/W29LCCUN439BOCMDE/$FILE/Mietspiegel_Bochum.pdf (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018). 61 Vgl. Mietspiegel für Darmstadt 2016, https://www.darmstadt.de/fileadmin/PDF-Rubri ken/Leben_in_Darmstadt/wohnen/Mietspiegel-2016.pdf (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018).
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ist freilich zu beachten, dass ein Mietspiegel – wie die ortsübliche Vergleichsmiete – nur „widerspiegeln soll, was tatsächlich ist“.62 Sie können nicht anordnen, was der Markt nicht anerkennt. Ihr Potential liegt daher hier darin, Transparenz und damit ein Bewusstsein für die energetische Qualität von Gebäuden zu schaffen.63 Der rechtspolitisch umstrittenste64 Bestandteil des MietRÄndG war und ist die Beschränkung der Mietminderung in § 536 Abs. 1a BGB. Handelt es sich bei den Sanierungsarbeiten um energetische Modernisierungen gemäß § 555b Nr. 1 BGB, ist eine Minderungsmöglichkeit des Mieters für einen Zeitraum von drei Monaten ab Beginn der Modernisierungsmaßnahme ausgeschlossen. Einerseits soll die Regelung den Vermieter dazu veranlassen, die Maßnahme möglichst schnell und reibungslos durchzuführen.65 Andererseits beraubt sie den Mieter eines wirksamen Gewährleistungsrechts und greift zu seinen Lasten in das Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung ein. Der Ausnahmetatbestand ist daher zu Recht eng beschränkt auf solche energetischen Modernisierungen, die dem Mieter im Ergebnis zugutekommen. Insgesamt wird durch die Gestaltung des Rechtsrahmens Raum geschaffen für die eigenverantwortliche Durchführung energetischer Modernisierungen von Gebäuden. Beim Austarieren von Mieter- und Vermieterinteressen wird sachgerecht energieeffizienzförderndes Verhalten induziert.66 Zu Recht findet es regelmäßig eine Grenze dort, wo Mieter an Effizienzgewinnen nicht mehr unmittelbar, sondern nur als Teil der Allgemeinheit Anteil haben. 2. Betriebskostenumlage Verschiedene weitere Ausprägungen energieeffizienzrechtlicher Gestaltung des Mietverhältnisses finden sich im Bereich des Betriebskostenrechts. Insoweit sind zunächst gesetzliche Privilegierungen des Energie-Contractings zu nennen. Hierunter wird die zeitlich und räumlich abgegrenzte Übertragung von Aufgaben der Energiebereitstellung sowie Energielieferung auf einen Dritten verstanden, der im eigenen Namen und auf eigene Rechnung handelt.67 Im Rahmen des re-
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Börstinghaus, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 13. Aufl. 2017, § 558 Rn. 81a. Klinski, Rechtskonzepte (Fn. 57), S. 187. 64 S. nur Börstinghaus, NZM 2012, 697; Hau, NZM 2014, 809; Oechsler, Vertragliche Schuldverhältnisse, 2. Aufl. 2017, Rn. 837; Eisenschmid, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 13. Aufl. 2017, § 535, Rn. 65; Dietrich, ZMR 2012, 241. 65 Entwurf eines Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln (Mietrechtsänderungsgesetz – MietRÄndG), BT-Drs. 17/10485, S. 14, 17 f. 66 Vgl. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (185). 67 Zu den verschiedenen Ausprägungen des Contractings s. Hack, Energie-Contracting, 3. Aufl. 2015, Rn. 12 ff. 63
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gelmäßig praktizierten sog. Betreibermodells68 übernimmt der Vermieter nach dem Mietvertrag die Versorgung des Mieters mit Wärme, beauftragt aber den Contractor in einem separaten Vertrag mit der Lieferung von Wärme, wobei der Contractor entweder eine bestehende Heizungsanlage übernimmt oder eine neue plant, finanziert und errichtet und die volle Anlagenverantwortung trägt, sie also betreibt, wartet, instand setzt und bedient sowie die Brennstoffe einkauft.69 Unter dem Gesichtspunkt der Energieeffizienz wird das Contracting als vorteilhaft gegenüber der Eigenversorgung von Gebäuden angesehen, etwa aufgrund eines professionelleren Energiemanagements oder des Einsatzes energieeffizienzsteigernder Technologien, sowie aufgrund des betriebswirtschaftlichen Eigeninteresses des Contractors an einem möglichst energieeffizienten Betrieb.70 Einigen sich Vermieter und Mieter bereits beim Mietvertragsschluss auf eine Versorgung durch einen Contractor, ist dies rechtlich unbedenklich.71 Umstritten war lange Zeit jedoch, ob und unter welchen Voraussetzungen der Wechsel zu einer Wärme-Contracting-Versorgung im laufenden Mietverhältnis möglich ist. Als problematisch wurde angesehen, dass der Mieter mit dem Energiepreis auch die darin typischerweise eingerechneten Kosten für Wartung, Instandsetzung und Erneuerung der Anlage tragen muss, obwohl er die entsprechenden Anteile als Kalkulationsposten der Grundmiete weiter entrichtet und somit insoweit doppelt belastet wird und darüber hinaus die ebenfalls einkalkulierte Gewinnquote des Contractors trägt.72 Vor diesem Hintergrund wurde die Umstellung auf das Contracting weithin als zustimmungsbedürftige Vertragsänderung betrachtet.73 Insoweit tritt das Investor-Nutzer-Dilemma klar zutage.74 Zu einer deutlichen Erleichterung trug zunächst 2007 der BGH bei, indem er eine Umstellung auf Contracting als zulässig beurteilte, wenn sich – wie in der Praxis regelmäßig der Fall – Vermieter und Mieter bei Vertragsschluss auf eine Kostenumlage gemäß der Anlage 3 zu § 27 II. BV oder der Betriebskostenverordnung geeinigt haben, und die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltende Fassung der Verordnung die Kosten der Wärmelieferung als umlagefähige Betriebskosten aufführte.75 Mit dem Ziel, klare Rahmenbedingungen zu schaffen, wurde die Thematik schließlich im MietRÄndG einer gesetzlichen Regelung zugeführt: Seit Inkrafttreten des neuen § 556c BGB ist ein Wechsel zu einer Contracting-Versorgung 68
Niesse/Wiesbrock, NZM 2013, 530 ff. Hack, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 82. EL Oktober 2014, Contracting, Rn. 57. 70 Hack, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 82. EL Oktober 2014, Contracting, Rn. 17. 71 Eisenschmid, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 13. Aufl. 2017, § 535 Rn. 121. 72 Gies, in: Hannemann/Wiegner (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Mietrecht, 5. Aufl. 2015, § 24 Rn. 352. 73 S. etwa BGH, Urt. v. 06. 04. 2005 – VIII ZR 54/04 = NJW 2005, 1776; BGH, Urt. v. 01. 06. 2005 – VIII ZR 84/04 = WuM 2005, 456. 74 Dazu o. unter II. 75 BGH, Urt. v. 27. 06. 2007 – VIII ZR 202/06 = NJW 2007, 3060. 69
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nach Vertragsschluss auch ohne entsprechende vertragliche Vereinbarung mit dem Mieter über die Wärmelieferung zulässig.76 Ausreichend ist nach § 556c Abs. 1 S. 1 BGB insoweit die vertragliche Verpflichtung zur Tragung der Kosten für Wärme und Warmwasser. Demgegenüber enthält die Vorschrift jedoch auch Korrektive, um die Interessen des Mieters zu wahren: Erforderlich ist grundsätzlich die Neuerrichtung der Anlage; zudem wird die Kostenneutralität für den Mieter gefordert. Eine weitere, energieeffizienzrechtlich steuernde Gestaltung von Mietverhältnissen liegt in den gesetzlichen Vorgaben zur Abrechnung von Heizkosten, wie sie die Heizkostenverordnung (HeizKV) vorsieht. Stand bei ihrem Erlass 1981 noch die Verringerung der Ölabhängigkeit und damit die Versorgungssicherheit im Vordergrund, rückte bei folgenden Novellierungen der HeizKV auch die Energieeinsparung mit dem Ziel des Klimaschutzes in den Fokus.77 Während das Betriebskostenrecht eine pauschale, insbesondere verbrauchsunabhängige Abrechnung grundsätzlich zulässt, gilt dies nicht für Heiz- und Warmwasserkosten: Die Heizkostenverordnung normiert insoweit eine Pflicht zur Kostenverteilung (auch) nach Verbrauch, §§ 6 ff. HeizKV. Danach hat der Gebäudeeigentümer die Kosten der Versorgung mit Wärme und Warmwasser grundsätzlich zu mindestens 50 % nach dem erfassten Verbrauch auf die einzelnen Nutzer zu verteilen. Damit einher gehen Pflichten zur Verbrauchserfassung (§ 4 HeizKV) und zur Mitteilung der Ablesungsergebnisse (§ 6 Abs. 1 S. 2 ff. HeizKV). Indem der individuelle Verbrauch und die hierdurch verursachten Kosten aufgezeigt werden, soll der Nutzer in die Lage versetzt werden, durch bewusste Energienutzung den eigenen Verbrauch zu senken.78 Einen starken Anreiz in diese Richtung setzt zudem die Kostentragung nach Verbrauch, die den Nutzer unmittelbar von seiner Verbrauchsreduzierung profitieren lässt.79 Die HeizKV sieht ausdrücklich vor, dass ihre Vorschriften rechtsgeschäftlichen Bestimmungen vorgehen (§ 2 HeizKV); zudem sanktioniert sie Verstöße gegen die Pflicht zur verbrauchsabhängigen Abrechnung, indem sie ein Kürzungsrecht des Nutzers bezüglich des auf ihn entfallenden Kostenanteils vorsieht (§ 12 Abs. 1 S. 1 HeizKV). Sie normiert damit in klassisch ordnungsrechtlicher Weise unmittelbar verhaltenssteuernde Gebote – einerseits. Andererseits bedient sie sich jedoch selbstregulativer Gestaltungsmechanismen: Während den Betroffenen grundsätzlich die Freiheit bleibt, nach ihren eigenen Präferenzen Energie zu verbrauchen, werden sie einer reflexiven Steuerung unterworfen. Nach Schmidt-Preuß zeichnet diese sich dadurch aus, dass Private „Informations-, Lern- und Selbstkontrollprozessen“ ausgesetzt wer-
76 Schneider, in: Spielbauer/Schneider (Hrsg.), Mietrecht, 2013, § 556c Rn. 10; Schmid/ Zehelein, in: Säcker/Rixecker/Oetker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 556c Rn. 8 77 Lammel, HeizKV, 4. Aufl. 2015, Einleitung Rn. 1, 5. Die Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit bildet demgegenüber ein untergeordnetes Ziel, s. Schmid, NZM 2009, 104 f. 78 Lammel, HeizKV, 4. Aufl. 2015, § 1 Rn. 1. 79 Gramlich, in: ders. (Hrsg.), Mietrecht, 13. Aufl. 2015, HeizkostenV § 1.
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den, „die sie zu den gewünschten Gemeinwohlbeiträgen – gleichsam aus freier Einsicht – veranlassen sollen“.80 Dasselbe Wirkungsprinzip gesteuerter Selbstregulierung wird mit dem Smart Metering verfolgt, das mit der Digitalisierung der Energiewende an Bedeutung gewinnt. Ausgehend vom dritten EU-Binnenmarktpaket enthält das 2016 in Kraft getretene Messstellenbetriebsgesetz (MsbG) insoweit verbindliche gesetzliche Vorgaben.81 Nach der ebenfalls im MsbG enthaltenen Legaldefinition (§ 2 Nr. 7 MsbG) ist unter einem intelligenten Messsystem oder (synonym zu verwenden) Smart Meter eine in ein Kommunikationsnetz eingebundene moderne Messeinrichtung zur Erfassung elektrischer Energie zu verstehen, die den tatsächlichen Energieverbrauch und die tatsächliche Nutzungszeit widerspiegelt (und weiteren, näher bestimmten Anforderungen genügt). Auf der Grundlage einer Kosten-Nutzen-Analyse sieht das MsbG eine Pflicht zum Einbau von Smart Metern derzeit nur bei größeren Letztverbrauchern und Anlagenbetreibern vor, und dies auch nur, wenn es technisch möglich und wirtschaftlich vertretbar ist (§ 29 Abs. 1 MsbG). Soweit Smart Meter jedoch Verwendung finden, werden sie als „Instrument für mehr Energieeffizienz“ betrachtet: Sie sollen zum einen dem Letztverbraucher Informationen über sein Verbrauchsverhalten liefern und ihn auf diese Weise zu energiesparendem Verhalten motivieren; zum anderen sollen sie die Umsetzung variabler Tarife ermöglichen, die wiederum Anreize zu Verbrauchsverlagerungen setzen.82 3. Energieausweis Ursprünglich hatten Mieter (Entsprechendes gilt für Käufer) von Immobilien kaum Zugang zu verlässlichen Informationen über den energetischen Zustand des betreffenden Gebäudes. Sie konnten diese Eigenschaft daher auch nicht zur Grundlage ihrer Entscheidung über die Anmietung machen. Entsprechend konnten hiervon auch keine Anreize für Eigentümer zu einer Steigerung der Energieeffizienz ausgehen.83 Dem durch die Schaffung von Transparenz entgegenzuwirken, war erklärtes gesetzgeberisches Ziel bei der Einführung des Energieausweises: Er soll der Unterrichtung aller Marktteilnehmer über energetische Eigenschaften von Gebäuden dienen.84 Deren Energieverbrauch soll damit stärker in das öffentliche Bewusstsein gerückt und die energetische Qualität eines Gebäudes als wertbildender Faktor anerkannt werden. 80 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (192); s. auch ders., in: Gesellschaft für Umweltrecht (Hrsg.) Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 309 (321 f.). 81 S. den Überblick, auch zur Entwicklung bei Lange/Möllnitz, EnWZ 2016, 448 ff.; Lüdemann/Ortmann/Pokrant, EnWZ 2016, 339 ff. 82 Entwurf eines Gesetzes zur Digitalisierung der Energiewende, BT-Drs. 18/7555. S. 62; s. auch Schomerus, NVwZ 2009, 418. 83 Vgl. Wustlich, ZUR 2007, 281. 84 Stangl, IBR 2008, 1334, Rn 4.
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Hierzu sieht die Energieeinsparverordnung (EnEV) Pflichten zur Vorlage eines Energieausweises vor, namentlich bei Errichtung eines Gebäudes, dessen Verkauf sowie der Vermietung, Verpachtung oder dem Leasing eines Gebäudes.85 Trotz dieser Vorlagepflichten besteht jedoch insoweit kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch. Die Verpflichtungen sind vielmehr rein öffentlich-rechtlicher Natur;86 ihre Verletzung zieht keine zivilrechtlichen Sanktionen nach sich,87 sondern stellt nur eine Ordnungswidrigkeit dar.88 Es erscheint daher konsequent, die Vorlage des Energieausweises nicht dahingehend auszulegen, dass der Vermieter für etwaige Mängel des Energieausweises einstehen will. Der Energieausweis an sich wird gerade kein Bestandteil des Mietvertrages und kann infolgedessen auch keine gewährleistungsrechtlichen Minderungs-, Rücktritts- und Schadensersatzansprüche auslösen.89 Den Parteien unbenommen bleibt es selbstverständlich, individuell-vertraglich entsprechende Regelungen – im Sinn eines „Green Lease“ (dazu sogleich90) – in den Mietvertag aufzunehmen.91 Diese gesetzliche Gestaltung weist die für die gesteuerte Selbstregulierung charakteristische Verbindung von hoheitlicher Steuerung – sanktionsbewehrte Vorlagepflicht – und selbstregulativer Autonomie auf:92 Welche Konsequenzen Mieter, Käufer und Eigentümer aus den durch den Energieausweis vermittelten Erkenntnissen ziehen, bleibt ihnen überlassen. Jedoch werden sie in die Lage versetzt, Energieeffizienz zu einem Kriterium eigennütziger Entscheidungen zu machen und damit insoweit gleichgerichtete Gemeinwohlinteressen zu verwirklichen. 4. Green Lease Energieeffizienzrechtliche Gestaltungen können sich auch rein selbstregulativ, also ohne hoheitlich steuernde Einflussnahme entwickeln. Ein prägnantes Beispiel bieten die sogenannten „Green Leases“. Unter dieser Bezeichnung werden Mietverträge propagiert, die durch verschiedenartige Regelungen Umweltgesichtspunkte von Gebäuden und deren Nutzung gewährleisten sollen, darunter deren Energieeffizienz. Die Vertragsparteien nutzen hierfür die Spielräume, die ihnen das bürgerliche Recht abseits zwingender Vorgaben bietet. Naturgemäß sind diese im Geschäfts-
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§ 16 Abs. 1, 2 EnEV. Stangl, IBR 2008, 1334, Rn 47. 87 Vgl. OLG Schleswig, Urt. v. 13. 03. 2015 – 17 U 98/14 = NJW 2015, 2668. 88 § 27 Abs. 1 Nr. 2 ff. EnEV. 89 Müller-Kulmann, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 94. EL Juli 2017, § 5a EnEG, Rn 11. 90 S. u. unter II. 4. 91 Söfker, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 94. EL Juli 2017, § 16 EnEV, Rn 18; Stangl, IBR 2008, 1334, Rn 60. 92 Vgl. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (165). 86
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raummietrecht größer als im Bereich der Wohnraummiete.93 Die Gestaltungsmöglichkeiten reichen von allgemeinen Zielsetzungen und unverbindlichen Absichtsbekundungen bis hin zu mit Vertragsstrafe bewährten Handlungspflichten. Angesichts der weiten Spanne möglicher „grüner“ Regelungen seien hier nur einzelne Regelungsmöglichkeiten exemplarisch herausgegriffen. Als Nachweis einer gewissen Umweltfreundlichkeit bedient sich der Markt anerkannter Gebäudezertifizierungen,94 ihrerseits Systeme privater Selbstregulierung. Ausgehend von der Marktbedeutung solcher Zertifikate spielen sie auch im Bereich grüner Mietverträge eine erhebliche Rolle. Im Wege sog. Zertifizierungsklauseln kann nicht nur die Aufrechterhaltung einer vorhandenen Zertifizierung durch die Normierung von Verhaltenspflichten sichergestellt, sondern auch der Weg für die erstmalige Realisierung einer Zertifizierung oder einer höheren Zertifizierungsstufe geebnet werden. Denn nicht zuletzt sind das Erreichen und die Erhaltung einer Zertifizierung von dem Nutzungs- und Bewirtschaftungsverhalten der Mietvertragsparteien abhängig. Das Verhalten von Vermieter und Mieter gemäß den Anforderungen eines anerkannten Gebäudezertifikates zu steuern, ist erklärtes Ziel derartiger Klauseln. Wie gesehen,95 wurden bereits mietrechtliche Hemmnisse für die energetische Modernisierung beseitigt. Trotzdem bleibt noch Raum für vertragliche Gestaltungen, um weiteres Potential für Energieeffizienzgewinne zu realisieren. So besteht im Bereich der Geschäftsraummiete mangels Verweisung in § 578 Abs. 2 BGB etwa keine gesetzliche Möglichkeit zur Umlage von Modernisierungskosten, wie sie § 559 BGB im Bereich der Wohnraummiete vorsieht. Dies – auch formularvertraglich zulässig96 – vorzusehen, kann Gegenstand eines „Green Lease“ sein. Auch darüber hinaus können im Geschäftsraummietrecht über Abweichungen bis hin zum Ausschluss von Bestimmungen (etwa des Sonderkündigungsrechts des Mieters, § 555e BGB) weitreichende Erleichterungen der energetischen Modernisierungen vereinbart werden.97 Aus Gründen der Energieeffizienz wünschenswerten Entscheidungen des Vermieters kann im Betriebskostenrecht der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz (vgl. §§ 556 Abs. 3 S. 1 Hs. 2, 560 Abs. 5 BGB98) entgegenstehen. Er bezeichnet die vertragliche 93 Vgl. Makowski, in: Ghassemi-Tabar/Guhling/Weitemeyer (Hrsg.), Gewerberaummiete, 2015, Vor § 535 Rn. 58. 94 Vgl. die Zertifizierungssysteme der DGNB (Deutsche Gesellschaft für nachhaltiges Bauen), der BREEAM (Building Research Establishment‘s Environmental Assessment Method) und des LEED (Leadership in Energy and Environmental Design). Hierzu etwa Schlemminger, NJW 2014, 3185 ff. 95 S. o. unter III. 1. 96 Neuhaus, Handbuch der Geschäftsraummiete, 6. Aufl. 2017, Rn. 114. 97 Neuhaus, Handbuch der Geschäftsraummiete, 6. Aufl. 2017, Rn. 89 ff. 98 Die Vorschriften sind im Geschäftsraummietrecht nicht anwendbar, allerdings gilt der darin normierte Wirtschaftlichkeitsgrundsatz als Ausdruck eines auf Treu und Glauben beruhenden Rechtsgedankens auch dort, s. nur Schmid, in: Ghassemi-Tabar/Guhling/Weitemeyer (Hrsg.), Gewerberaummiete, 2015, § 556 Rn. 119.
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Nebenpflicht des Vermieters, bei Maßnahmen und Entscheidungen, die Einfluss auf die Höhe der vom Mieter zu tragenden Betriebskosten haben, auf ein angemessenes Kosten-Nutzen-Verhältnis Rücksicht zu nehmen.99 Als geschützt werden damit gerade die finanziellen Interessen des Mieters angesehen.100 Einer mit diesen Interessen nicht gleichgerichteten Berücksichtigung von Umweltschutzgesichtspunkten wird Zurückhaltung entgegengebracht.101 Etwa in der Umlage der Kosten teureren „Ökostroms“ wird deshalb ein Verstoß gegen den Wirtschaftlichkeitsgrundsatz gesehen.102 Demgegenüber sind im Rahmen eines „Green Lease“ jedoch Vereinbarungen möglich, die das Gebot der Wirtschaftlichkeit zum Schutze der Umwelt einschränken. So kommen Regelungen in Betracht, die den Vermieter verpflichten, dem Mieter Strom aus erneuerbaren Energiequellen zur Verfügung zu stellen. Zu Unrecht wird der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz im Geschäftsraummietrecht jedoch für unabdingbar gehalten.103 Dies mag für einen allgemeinen Ausschluss zutreffend sein; für konkret umschriebene Einzelmaßnahmen erscheint es jedoch als zu pauschal: Ein Verstoß gegen das Transparenzgebot und das Verbot unangemessener Benachteiligung (§ 307 Abs. 1 S. 1 und 2 BGB) lässt sich hier nicht ohne weiteres annehmen. Insbesondere Unternehmen, gleich ob auf Mieter- oder auf Vermieterseite, bezwecken mit Green Leases neben Kosteneinsparungen eine positive Außenwirkung. Dass sie damit eigennützig handeln, steht nicht im Widerspruch zur Gemeinwohlverwirklichung, sondern fördert sie geradezu.104 In dieser Gleichrichtung von privaten und öffentlichen Interessen liegt das große Potential gesteuerter Selbstregulierung.105 5. Mieterstrom Mit dem 2017 in Kraft getretenen Mieterstromgesetz106 sollen nach den bereits stärker in den Ausbau erneuerbarer Energien involvierten Hauseigentümern nun auch Mieter vermehrt in die Energiewende eingebunden und wirtschaftlich beteiligt werden. Zudem unterschritt Deutschland beim Ausbau der Stromerzeugung aus So99
BGH, Urt. v. 28. 11. 2007 – VIII ZR 243/06 = NZM 2008, 78. Milger, NZM 2012, 657 (658). 101 Riecke, in: Schmid (Hrsg.), Handbuch der Mietnebenkosten, 15. Aufl. 2016, Rn. 1074a; Schmid/Zehelein, in: Säcker/Rixecker/Oetker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 556 Rn. 122. 102 Schmid, in: Ghassemi-Tabar/Guhling/Weitemeyer (Hrsg.), Gewerberaummiete, 2015, § 556 Rn. 130. 103 So aber Riecke, in: Schmid (Hrsg.), Handbuch der Mietnebenkosten, 15. Aufl. 2016, Rn. 1054a; Schmid, in: Ghassemi-Tabar/Guhling/Weitemeyer (Hrsg.), Gewerberaummiete, 2015, § 556 Rn. 132. 104 Vgl. Schmidt-Preuß, in: Gesellschaft für Umweltrecht (Hrsg.) Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 309 (321 f.). 105 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (185); Makowski, Kartellrechtliche Grenzen der Selbstregulierung, 2007, S. 26 f. 106 Gesetz zur Förderung von Mieterstrom und zur Änderung weiterer Vorschriften des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, BGBl. 2017 I S. 2532. 100
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larenergie mehrfach das Jahresziel von 2.500 Megawatt.107 Auch hier setzt das Gesetz an und will den Ausbau von Solaranlagen auf Wohngebäuden vorantreiben.108 Obwohl bei der Versorgung des Mieters mit „Solarstrom vom Hausdach“ im Vergleich zum gängigen Strombezug aus dem Netz bestimmte Kosten wie Netzentgelte, netzseitige Umlagen, Stromsteuer sowie die Konzessionsabgabe nicht anfallen, waren Mieterstrommodelle – die vollumfänglich der EEG-Umlage unterliegen – für Vermieter bisher nicht wirtschaftlich. Dies soll mithilfe einer direkten Förderung von Mieterstrom aus Solaranlagen korrigiert werden.109 Unter Mieterstrom werden Modelle verstanden, im Rahmen derer Mieter eines Wohngebäudes mit Strom aus einer in räumlicher Nähe vorhandenen dezentralen Stromerzeugungsanlage wie einer Solaranlage außerhalb des allgemeinen Stromnetzes versorgt werden. Für den Bedarf der Mieter etwaige erforderliche Reststrommengen werden zusätzlich am Strommarkt eingekauft, von den Mietern nicht verbrauchter Strom kann ins Netz der allgemeinen Versorgung eingespeist und vergütet werden. Herzstück des EEG 2017 ist der Mieterstromzuschlag. Gefördert wird Strom aus Solaranlagen mit einer installierten Leistung von insgesamt bis zu 100 Kilowatt, die auf, an oder in einem Wohngebäude installiert sind, soweit der Strom an einen Letztverbraucher geliefert und von diesem innerhalb des Gebäudes oder im unmittelbaren räumlichen Zusammenhang mit dem Gebäude ohne Durchleitung durch ein Netz verbraucht wird. Der Zuschlag stellt keine Einspeisevergütung dar, weil der Strom im Rahmen des Mieterstrommodells nicht in das allgemeine Netz eingespeist wird.110 Nichtsdestotrotz ähnelt der Mieterstromzuschlag inhaltlich den Regelungen zur Einspeisevergütung. So wird die Höhe des Mieterstromzuschlags gemäß § 23b EEG 2017 nach den anzulegenden Werten nach § 48 Abs. 2 und § 49 EEG 2017 berechnet. Allerdings erhält der Anlagenbetreiber im Rahmen eines Mieterstrommodells im Unterschied zur herkömmlichen Einspeisung von Strom in ein Netz nach § 21 Abs. 1 und 2 EEG 2017 neben dem Zuschlag auch den Erlös aus dem Stromverkauf, ohne dafür Netzentgelte, netzseitige Umlagen, Stromsteuer sowie die Konzessionsabgabe zahlen zu müssen. Aus diesem Grund wird nach § 23b Abs. 1 EEG 2017 von den anzulegenden Werten ein Abzug vorgenommen.111
107 Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von Mieterstrom und zur Änderung weiterer Vorschriften des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, BT-Drs. 18/12355 v. 16. 05. 2017, S. 1. 108 BT-Drs. 18/12355 v. 16. 05. 2017, S. 1, 12; BMWi, Eckpunktepapier Mieterstrom v. 09. 03. 2017, S. 1, https:// www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/E/eckpunkte-mieterstrom. pdf?__blob=publicationFile&v=10 (zuletzt eingesehen am 09. 02. 2018); vgl. auch Kirch, jurisPR-UmwR 2017, 7, Anm. 1. 109 Kirch, jurisPR-UmwR 2017, 7, Anm. 1; BT-Drs. 18/12355 v. 16. 05. 2017, S. 1, 12. 110 BT-Drs. 18/12355 v. 16. 05. 2017, S. 16. 111 BMWi, Eckpunktepapier Mieterstrom (Fn. 108), S. 2 f. mit einer Übersicht über die Vergütungssätze; BT-Drs. 18/12355 v. 16. 05. 2017, S. 2; Kirch, jurisPR-UmwR 2017, 7, Anm. 1.
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Zweck des EEG 2017 ist neben dem Ausbau der Stromerzeugung aus Solarenergie die intensivere Einbindung und Beteiligung der Mieter als „Akteure der Energiewende“112. Dazu soll Mieterstrom nicht nur für die Anlagenbetreiber, sondern auch für die Letztverbraucher wirtschaftlich attraktiv gemacht werden. Die gesetzliche Gestaltung des Mieterstroms bedient sich damit eines weiteren Typus‘ gesteuerter Selbstregulierung, der finanziellen Steuerung.113 Durch positive Anreize wird erwünschtes, gemeinwohlförderliches Verhalten induziert, ohne jedoch durch direkte Verhaltenssteuerung die private Entscheidungsautonomie zu beschränken, wovon wiederum Effizienz und Akzeptanz der Gestaltung und damit deren Wirksamkeit profitieren.114 6. Elektromobilität Dass der Förderung der Elektromobilität zentrale Bedeutung für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor und mithin im Hinblick auf die Steigerung der Energieeffizienz zukommt, wird auch im Klimaschutzplan anerkannt.115 Hierin wird gerade auch die Kopplung des Verkehrssektors mit dem Gebäudesektor als wesentlich hervorgehoben.116 Da die Kaufentscheidung für ein Elektrofahrzeug nach wie vor erheblich davon beeinflusst wird, ob entsprechende Ladeeinrichtungen am Wohnsitz oder Arbeitsplatz vorhanden sind,117 nimmt die Politik zusehends den privaten Raum bei der Förderung der Elektromobilität in den Blick. Auch hierfür spielen die vom Mietrecht gesetzten Rahmenbedingungen eine zentrale Rolle.118 Etwa steht die Errichtung von Ladeinfrastruktur durch den Mieter vor nicht unerheblichen rechtlichen Hürden.119 Die Errichtung eines Ladepunktes am gemieteten Garagenstellplatz ist ohne Eingriffe in die Gebäudesubstanz des Mietgegenstandes meist nicht zu bewerkstelligen. Derartige bauliche Maßnahmen werden jedoch typischerweise die Grenze des vertragsgemäßen Gebrauchs überschreiten und daher die Zustimmung des Vermieters voraussetzen.120 Das Ermessen des Vermieters bei der Erteilung der Zustimmung wird durch die Generalklausel nach § 242 BGB begrenzt, in deren Rahmen im Wege mittelbarer Grundrechtswirkungen die widerstreitenden
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BT-Drs. 18/12355 v. 16. 05. 2017, S. 25. Dazu Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (221). 114 Vgl. Schmidt-Preuß, in: Gesellschaft für Umweltrecht (Hrsg.) Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 309 (320). 115 Klimaschutzplan 2050 (Fn. 4), S. 55. 116 Klimaschutzplan 2050 (Fn. 4), S. 48. 117 Rodi/Hartwig, ZUR 2014, 592 f. 118 Vgl. Ludwigs/Huller, RdE 2017, 497 (498). 119 Harendt/Mayer, KommJur 2016, 161. 120 Häublein, in: Säcker/Rixecker/Oetker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 535 Rn 87. 113
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Interessen beider Mietvertragsparteien zu berücksichtigen sind.121 Der Vermieter ist demnach zur Zustimmung nach Treu und Glauben verpflichtet, wenn die Maßnahme dem Mieter erhebliche Vorteile und ihm keine wesentlichen Nachteile bringt.122 Diese Abwägung fällt in der Rechtspraxis aber gerade dann zugunsten des von Art. 14 GG geschützten Erhaltungsinteresses des Vermieters aus, wenn mit der beabsichtigten Veränderung nachhaltige Eingriffe in die Bausubstanz verbunden sind, aus denen sich eine Beeinträchtigung oder die Gefahr einer dauernden Verschlechterung ergeben kann.123 Dabei werden an eine nachhaltige Substanzbeeinträchtigung keine allzu hohen Anforderungen gestellt, Bohrungen und Dübelungen einer Maßnahme werden bereits als ausreichend erachtet.124 Überträgt man dies auf die Errichtung von Ladepunkten, so wird das Interesse des Mieters im Falle einer verweigerten Zustimmung regelmäßig hinter das des Vermieters zurücktreten. Diese im aktuellen Mietrecht für die Schaffung von Ladeinfrastruktur enthaltenen Hemmnisse wurden in dem Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates vom 21. Juni 2016 zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes und des Bürgerlichen Gesetzbuches zur Förderung der Barrierefreiheit und Elektromobilität aufgegriffen.125 Ziel dieses Gesetzesentwurfs ist es, den Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge im privaten Raum durch flankierende gesetzgeberische Maßnahmen im Wohnungseigentumsrecht und im Mietrecht zu erleichtern.126 Der Gesetzesentwurf nimmt sich im Hinblick auf das Mietrecht die Regelung des § 554b BGB zum Vorbild, die eine Privilegierung der Mieterinteressen beim barrierefreien Umbau des Mietobjektes vorsieht. Der Entwurf sieht vor, diese Bestimmung für bauliche Maßnahmen zur Förderung der Elektromobilität als entsprechend anwendbar zu erklären. Dies hätte zur Folge, dass der Mieter bei Bestehen eines berechtigten Interesses gegen den Vermieter einen Anspruch auf Zustimmung zur Errichtung eines Ladepunktes hat. Eine Verweigerung der Zustimmung wäre hingegen nur bei einem überwiegenden Erhaltungsinteresse des Vermieters möglich. Auch wenn die Umsetzungschancen für den Gesetzentwurf derzeit unklar sind, zeigt er doch den richtigen Weg für die Erreichung von Energieeffizienzzielen auf: Durch das Einbeziehen energieeffizienzrechtlicher Erwägungen in den mietrechtlichen Interessenausgleich gelingt es, dass Private selbstregulativ, in Freiheit und zum legitimen Eigennutz Gemeinwohlziele verfolgen.127 121
BVerfG, Beschl. v. 28. 03. 2000 – 1 BvR 1460/99 = NJW 2000, 2658; Bickert, ZfIR 2016, 856 (857). 122 Häublein, in: Säcker/Rixecker/Oetker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 535, Rn 87. 123 Meyer-Abich, NZM 2015, 520 (521); LG Köln, Beschl. v. 30. 10. 1997 – 6 T 472/97 = NZM 1998, 759; vgl. Harendt/Mayer, KommJur 2016, 161 f. 124 LG Köln, Beschl. v. 30. 10. 1997 – 6 T 472/97 = NZM 1998, 759. 125 BR-Drs. 340/16; hierzu Bickert, ZfIR 2016, 856 ff. 126 BR-Drs. 340/16, S. 3. 127 Vgl. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (165).
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IV. Schluss Die Betrachtung der verschiedenen Referenzgebiete hat gezeigt, dass das Energieeffizienzrecht in vielfältiger Weise gestaltend auf das Rechtsverhältnis zwischen Mieter und Vermieter einwirkt. Die beschriebenen Gestaltungen haben gemein, dass sie sich der Selbstregulierung bedienen und deren Vorteile zunutze machen: Öffentliche und private Interessen lassen sich gleichrichten, so dass effizient Gemeinwohlbeiträge Privater induziert werden. So erweisen die Beispiele auch die fortdauernde Relevanz der (gesteuerten) Selbstregulierung. Der Jubilar hat sich vielfach und grundlegend mit der gesteuerten Selbstregulierung befasst. Seinen Arbeiten sind tiefe Einsichten in diesen Gestaltungsmodus und dessen rechtliche Rahmenbedingungen zu verdanken. Wie gesehen, haben sie nichts von ihrer Aktualität verloren.
Prinzipien und System der Entgeltregulierung am Beispiel der Stromnetzentgeltverordnung Von Jochen Mohr, Leipzig* I. Einführung Zu den zentralen Forschungsbereichen von Matthias Schmidt-Preuß gehört seit vielen Jahren die Entgeltregulierung der Netzwirtschaften, wobei sich sein Augenmerk nicht nur auf übergreifende Fragen einer wettbewerblichen und zugleich sozialen Wirtschaftsordnung richtet,1 sondern auch auf die hochkomplexen Details einer (grund-)rechtskonformen Ermittlung der Stromnetzentgelte.2 Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, in einem Beitrag zu Ehren des wissenschaftlichen Wirkens von Matthias Schmidt-Preuß die Prinzipien und das System der Entgeltregulierung zu beleuchten, wie sie sich am Beispiel der im Jahr 2005 erlassenen Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) darstellen.3 Bekanntlich brachte die Reform des Jahres 1998 eine grundlegende Liberalisierung der deutschen Energiemärkte,4 vom Jubilar als Beginn eines neuen kopernikanischen Zeitalters der Energiepolitik eingestuft.5 Ein zentraler normativer Ausdruck dieser Liberalisierung war der europarechtlich initiierte § 6 EnWG 1998, wonach jedermann einen Anspruch auf „Durchleitung“ von Strom durch fremde Netze gegen Zahlung eines angemessenen Entgelts hatte.6 Heute * Der Beitrag befindet sich auf dem Stand vom 1. 12. 2017. 1 Beispielhaft Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977; ders., IR 2004, 146 ff.; ders., in: FS R. Schmidt, 2006, S. 547 ff.; ders., in: FS Säcker, 2011, S. 969 ff.; ders., in: Säcker/ders. (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, S. 68 ff.; ders., in: Bien/Ludwigs (Hrsg.), Das europäische Kartell- und Regulierungsrecht der Netzindustrien, 2015, S. 11 ff. 2 Beispielhaft Schmidt-Preuß, et 2003, 758 ff.; ders., Substanzerhaltung und Eigentum. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Bestimmung von Netznutzungsentgelten im Stromsektor, 2003; ders., N&R 2004, 90 ff.; ders., N&R 2005, 51 ff. 3 Stromnetzentgeltverordnung vom 25. 7. 2005 (BGBl. I S. 2225), zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 17. 7. 2017 (BGBl. I S. 2503); vertiefend Mohr, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht (= BerlKommEnR), 4. Aufl. 2018, Kommentierung der §§ 1 bis 33 StromNEV. 4 Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht, 2015, S. 550 ff. 5 Schmidt-Preuß, in: FS R. Schmidt (Fn. 1), S. 547. 6 Siehe zur Interpretation des Jedermann-Erfordernisses bezüglich § 33 Abs. 1 GWB a.F. Mohr (Fn. 4), S. 660 ff.; aus der Rechtsprechung siehe EuGH, Urt. v. 20. 9. 2001 – Rs. C-453/ 99, Slg. 2001, I-6297 Rn. 26 – Courage; EuGH, Urt. v. 14. 6. 2011 – Rs. C-360/09, EuZW 2011, 598 Rn. 28 – Pfleiderer.
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sprechen wir, terminologisch genauer, vom Zugang zu den Stromnetzen, englisch vom Third Party Access.7 Denn ein Transport vom Ort der Einspeisung zum Ort der Entnahme ist bei Elektrizität aus physikalischen Gründen nicht möglich,8 anders als jedenfalls theoretisch bei Gas.9 Da es sich bei der Elektrizität auch in Zeiten einer ökologisch motivierten Energiewende um ein homogenes Gut handelt, bei dem ein Wettbewerb nicht über die Qualität,10 sondern über die Entgelte und die sonstigen Leistungsbedingungen erfolgt,11 steht die zutreffende Ermittlung marktwirtschaftsanaloger, d. h. nicht zu niedriger und nicht zu hoher Netzentgelte im Zentrum der Diskussion.12 Im Rahmen des zunächst implementierten verhandelten Netzzugangs sollte die Höhe des Netzentgelts zwischen den Netzbetreibern und den Netznutzern individuell ausgehandelt werden.13 Aufgrund der marktbeherrschenden Position der Netzbetreiber – diese sind im Elektrizitätsbereich regelmäßig natürliche Monopolisten14 – führte dieses vermeintlich privatautonomiefreundliche Zugangskonzept in der Rechtswirklichkeit allerdings dazu, dass die asymmetrischen Wettbewerbsverhältnisse nicht nivelliert, sondern weiter perpetuiert wurden.15 In den Worten der Privatrechtstheorie bewirkte die Zuerkennung formal gleicher Verhandlungspositionen aufgrund der tatsächlichen Machtverhältnisse eine übermäßige Einschränkung der
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Siehe Art. 32 RL 2009/72/EG (vormals Art. 20 RL 2003/54/EG); hierzu EuGH, Urt. v. 22. 5. 2008 – Rs. C-439/06, Slg. 2008, I-3913 – Citiworks; EuGH, Urt. v. 9. 10. 2008 – Rs. C239/07, Slg. 2008, I-7523 – Sabatauskas; aus dem Schrifttum Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 18 Rn. 67; Schumacher, Vertikale Integration im Erdgasmarkt, 2011, S. 89. 8 Vgl. Büdenbender, Energiewirtschaftsgesetz, 2003, § 6 EnWG Rn. 7; Mohr (Fn. 4), S. 586. Folgerichtig lassen sich physikalische Elektrizitätsflüsse von der Erzeugung über den nationalen und internationalen Handel bis hin zum Vertrieb durch die einzelnen Marktteilnehmer nicht dokumentieren; vgl. BDEW, Leitfaden „Stromkennzeichnung“, Stand August 2017, S. 8, im Internet abrufbar unter https://www.bdew.de/media/documents/Leitfaden-Strom kennzeichnung_2017.pdf (zuletzt abgerufen am 1. 12. 2017). 9 Näher Pritzsche/Vacha, Energierecht, 2017, § 6 Rn. 126 ff. 10 Nach den §§ 78 f. EEG 2017 besteht, in Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben (Art. 3 Abs. 9 RL 2009/72/EG), im Interesse der Transparenz und zum Schutz der Verbraucher eine Pflicht zur Stromkennzeichnung; siehe im Einzelnen den Leitfaden „Stromkennzeichnung“ (Fn. 8). Hierin kann man aus wettbewerbstheoretischer Sicht eine nicht-qualitative Produktdifferenzierung sehen. 11 Monopolkommission, Sondergutachten 59: Strom und Gas 2011: Wettbewerbsentwicklung mit Licht und Schatten, Rn. 66; Mohr (Fn. 4), S. 515. 12 Siehe zum historischen Streitstand Schmidt-Preuß, Substanzerhaltung (Fn. 2), S. 15 ff. 13 Brunekreeft/Keller, in: Knieps/Brunekreeft (Hrsg.), Zwischen Regulierung und Wettbewerb, Netzsektoren in Deutschland, 2. Aufl. 2000, S. 125 ff.; jüngst Mengering, Die Entgeltregulierung im Telekommunikations- und Energierecht, 2017, S. 62. 14 Näher Schmidt-Preuß, in: FS R. Schmidt (Fn. 1), S. 547 ff.; ders., in: Grundsatzfragen des Regulierungsrechts (Fn. 1), S. 68 f.; Mohr, in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, S. 94, 96 f. 15 Trute/Broemel, ZHR 170 (2006), 706 (709).
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materialen Vertragsfreiheit der Netznutzungspetenten.16 Um die Öffnung der Strommärkte für den Wettbewerb nicht zu behindern, war somit eine normative Vorstrukturierung des Netzzugangs und der Netzentgelte geboten.17 Vor diesem Hintergrund schlossen zunächst die Interessenverbände der Industrie und der Energiewirtschaft sog. Verbändevereinbarungen,18 in denen sie u. a. die Grundsätze für die Berechnung der Netzentgelte festlegten.19 Wohl auch mangels eigener Erfahrungen mit einer wettbewerbsanalogen Regulierung des strukturell vermachteten Energiesektors hat der deutsche Gesetzgeber die sog. Verbändevereinbarung II plus Strom im Zuge der EnWG-Novelle 2003 sodann insoweit „verrechtlicht“, als § 6 Abs. 1 S. 5 EnWG 2003 für die auf Grundlage der Verbändevereinbarung berechneten Netznutzungsentgelte eine Vermutung „guter fachlicher Praxis“ aufstellte.20 Den damals noch für die Entgeltkontrolle zuständigen Kartellbehörden verblieb damit lediglich ein begrenzter Spielraum für Korrekturen.21 Bereits kurz nach Erlass des EnWG 2003 traten die europäischen Beschleunigungsrichtlinien für elektrischen Strom 2003/54/EG und für Gas 2003/55/EG in Kraft,22 da der Richtliniengeber die Umsetzung der ersten Binnenmarktrichtlinien in einigen Mitgliedstaaten als zu zögerlich erachtete.23 Mit den Beschleunigungsrichtlinien wurden die Mitgliedstaaten zur Errichtung nationaler Regulierungsbehörden verpflichtet, die von den Interessen der Energiewirtschaft und dem Einfluss der Tagespolitik tatsächlich unabhängig sind.24 Zum zentralen Aufgabenbereich der na16 Mohr (Fn. 4), S. 190 ff.; zur philosophischen Fundierung des Konzepts einer chancengleich-materialen Freiheit Adomeit/ders., Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 4. Aufl. 2018, Teil 2 Rn. 127 ff. und Teil 9 Rn. 5 ff. 17 Zur Bedeutung von Wettbewerb und Marktöffnung siehe Schmidt-Preuß, Substanzerhaltung (Fn. 2), S. 48. 18 Verbändevereinbarung I Strom v. 22. 5. 1998, Verbändevereinbarung II Strom v. 13. 12. 1999, Verbändevereinbarung II plus Strom v. 13. 12. 2001. 19 Näher Schmidt-Preuß, ZNER 2002, 262 (264 ff.); ders., Substanzerhaltung (Fn. 2), S. 20 f.; Scholtka/Brucker, Entgeltregulierung der Energienetze, 2013, Rn. 16 ff.; Salje, in: Baur/ders./Schmidt-Preuß (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Aufl. 2016, Kap. 36. 20 Krit. Säcker/Boesche, ZNER 2002, 183 ff. 21 Schmidt-Preuß, Substanzerhaltung (Fn. 2), S. 20. 22 Richtlinie 2003/54/EG v. 26. 6. 2003 über gemeinsame Regeln für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl.EG Nr. L 176 v. 15. 7. 2003; Richtlinie 2003/55/EG v. 26. 6. 2003 über gemeinsame Regeln für den Erdgasbinnenmarkt, ABl.EG. Nr. L 176 v. 15. 7. 2003. 23 Lecheler/Gundel, EuZW 2003, 621. 24 Art. 23 RL 2003/54/EG, Art. 25 RL 2003/55/EG. Nach umstrittener Ansicht des EuGH dürfen die Mitgliedstaaten die regulierungsbehördlich festgelegten Netznutzungsentgelte im Eisenbahnsektor keiner Billigkeitskontrolle gem. § 315 BGB unterziehen, da sie hierdurch die unionsrechtlich geforderte Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden nach Art. 30 RL 2001/ 14/EG unterliefen; vgl. EuGH, Urt. v. 9. 11. 2017 – Rs. C-489/15, EuZW 2018, 74 – CTL Logistics GmbH/DB Netz AG. Noch nicht geklärt ist, ob die Grundsätze der Entscheidung auch auf den Energiesektor übertragen werden können; das OLG Düsseldorf hat die Rechtsfrage offengelassen (Beschl. v. 10. 1. 2018 – VI-3 Kart 1202/16 [V] – Lichtblick). Als grund-
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tionalen Regulierungsbehörden gehört es seitdem, die Netzanschluss- und Netzzugangsbedingungen einschließlich der Entgelte für die Übertragung von elektrischem Strom bzw. die Fernleitung von Gas und deren Verteilung entweder im Einzelfall zu bestimmen (Einzelentgeltregulierung) oder die entsprechenden Kalkulationsmethoden und Kriterien vorzugeben (Methodenregulierung).25 Darüber hinaus schrieben die Richtlinien verpflichtend einen regulierten Netzzugang vor.26 Vor diesem Hintergrund durfte der deutsche Normgeber die Bestimmung der wesentlichen Zugangsbedingungen nicht mehr den Verbänden überlassen, sondern musste diese selbst vorgeben.27 Im deutschen Recht wurde der regulierte Netzzugang durch die §§ 20 ff. EnWG 2005 umgesetzt28 und in den vier von der Bundesregierung auf der Grundlage von § 24 EnWG erlassenen „Kernverordnungen“ näher ausgeformt.29 Auch im Rahmen eines derartigen Systems gesetzlicher Zugangsansprüche ergeben sich die konkreten Zugangsbedingungen – also die Voraussetzungen für das „Wie“ des Zugangs – freilich nicht direkt aus dem Gesetz.30 Der Stromnetzzugang vollzieht sich vielmehr gem. § 20 Abs. 1a EnWG i.V.m. den §§ 3, 23 bis 26 StromNZV auf der Grundlage privatrechtlicher Verträge.31 Die Regulierungsbehörde kann allerdings nach § 29 Abs. 1 EnWG i.V.m. § 27 Abs. 1 Nr. 15 StromNZV einen Muster-Netznutzungsvertrag festlegen, der einheitliche Mindeststandards für die Netznutzung im Bereich der Energieentnahme gewährleistet.32 Wahlweise kann sie gem. § 28 StromNZV auch sog. Standardangebote festlegen, um einen funktionierenden und diskriminierungsfreien Netzzugang durch marktweit überwiegend standardisierte Netzzugangsbedingungen zu fördern.33 Zusätzlich sind die für die Netznutzung erforderlichen Verträge legenden Ausdruck der „Ordnung […der] sektorspezifischen Regulierung“ bewertet die Entscheidung Gerstner, EuZW 2018, 79; zur dogmatischen Einordnung der Billigkeitsvermutung gem. §§ 45 Abs. 2 S. 3, 33 Abs. 2 S. 3 ERegG siehe Säcker, in: Mohr (Hrsg.), Energierecht im Wandel, 2018, S. 130, 132. 25 Mohr (Fn. 4), S. 553. 26 Art. 20 RL 2003/54/EG; Art. 23 RL 2003/55/EG. 27 Ein weiterer Grund war, dass sich die Verbände im Gassektor – wohl auch angesichts der Beschleunigungsrichtlinie Gas – nicht auf eine Anpassung der Verbändevereinbarung Gas einigen konnten, wodurch ein Wettbewerb in der Gaswirtschaft de facto ausgeschlossen war; Neveling, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, Stand Oktober 2011, § 20 Abs. 1b EnWG Rn. 10 f.; Hartmann, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, Stand Januar 2010, § 20 EnWG Rn. 11. 28 Säcker/Boesche, in: Säcker (Hrsg.), BerlKommEnR, 3. Aufl. 2014, § 20 EnWG Rn. 2 ff. 29 Dies sind die Netzzugangsverordnungen und die Netzentgeltverordnungen Strom und Gas, vgl. Schmidt-Preuß, in: FS R. Schmidt (Fn. 1), S. 547 f. 30 Laubenstein, in: BerlKommEnR (Fn. 3), § 23 StromNZV Rn. 4. 31 Mohr (Fn. 4), S. 603; im Einzelnen Laubenstein (Fn. 30), § 3 StromNZV Rn. 2 und öfter. 32 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15. 3. 2017 – 3 Kart 105/15, RdE 2017, 351 Ls. 1 und Rn. 23 ff. 33 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15. 3. 2017 – 3 Kart 105/15, RdE 2017, 351 Rn. 35; Laubenstein (Fn. 3), § 28 StromNZV Rn. 3.
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von den Netzbetreibern nach § 20 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 EnWG im Internet zu veröffentlichen, um im Wege der Transparenz eine wettbewerbliche Marktöffnung zu gewährleisten.34 Die in § 20 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 EnWG enthaltenen Transparenzpflichten werden durch § 17 StromNZV näher ausgeformt.35 Dies ist nachfolgend nicht näher zu vertiefen. Das „Herzstück der Energierechtsreform“36 bildete die Berechnung der Netzzugangsentgelte gem. § 21 EnWG, im Elektrizitätsbereich konkretisiert durch die Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) vom 25. Juli 2005.37 Die StromNEV wird – worauf noch näher einzugehen ist – seit dem 1. Januar 2009 durch die auf Basis von § 21a Abs. 6 EnWG erlassene Anreizregulierungsverordnung (ARegV) überlagert, die nunmehr das Regelverfahren der Ex-ante-Entgeltregulierung vorgibt.38 Bei der Ausgestaltung der Entgeltregulierung musste der Gesetzgeber der wettbewerbstheoretischen Erkenntnis Rechnung tragen, dass selbst persistente natürliche Monopole nicht notwendig mit einem Ausschluss von den Grundprinzipien des Wettbewerbs einhergehen, sondern einer wettbewerbsfördernden Zugangs-, Entgeltund Entflechtungsregulierung unterstellt werden können, um durch kompetitive Neutralisierung der netzspezifischen Marktmacht einen wirksamen Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Marktstufen zu ermöglichen.39 Ebenso wie auf wettbewerblich organisierten Märkten ist auch eine marktmächtige Stellung in den Netzsektoren somit nicht automatisch gleichzusetzen mit antikompetitiver wirtschaftlicher Macht. Vielmehr muss die Rechtsordnung die positiven Wirkungen der netzspezifischen Marktmacht für die Investitions- und Innovationsbereitschaft der Netzbetreiber fördern und gleichzeitig deren missbräuchliche Ausübung verhindern.40
34 Salje, EnWG, 2006, § 20 EnWG Rn. 17; Sieberg, in: Bartsch/Röhling/Salje/Scholz (Hrsg.), Stromwirtschaft, 2. Aufl. 2008, Kap. 50 Rn. 27; zu § 17 StromNZV Laubenstein (Fn. 30), § 17 StromNZV Rn. 6. 35 Laubenstein (Fn. 3), § 17 StromNZV Rn. 6 ff. 36 Schmidt-Preuß, N&R 2004, 90; dies gilt auch heute noch, vgl. Jansen, in: Stuhlmacher/ Stappert/Schoon/ders. (Hrsg.), Grundriss zum Energierecht, 2. Aufl. 2015, Kap. 4 Rn. 1. 37 Stromnetzentgeltverordnung v. 25. 7. 2005, BGBl. I S. 2225. 38 Mengering (Fn. 13), S. 82 f.; eine zeitlich begrenzte Ausnahme von der Anreizregulierung zugunsten der kostenorientierten Entgeltbildung gem. § 23a EnWG enthält § 1 Abs. 2 ARegV; vgl. Schmitz, in: BerlKommEnR (Fn. 28), § 23a EnWG Rn. 9. 39 Knieps, Wettbewerbsökonomie, 3. Aufl. 2008, S. 23 ff. 40 Mohr, in: Kühling/Körber (Hrsg.), Regulierung – Wettbewerb – Innovation, 2017, S. 213, 249 f.
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II. Prinzipien der Stromnetzentgeltverordnung 1. Übergreifende Maßstäbe der Netzentgeltfindung gem. § 21 EnWG a) Allgemeines Wie gesehen, bezieht sich die wettbewerbsfördernde Regulierung der Stromnetze insbesondere auf die Netznutzungsentgelte,41 da sich ein Marktversagen in von wirtschaftlicher Macht geprägten Märkten regelmäßig in antikompetitiv überhöhten Preisen äußert.42 Folgerichtig macht der Verordnungsgeber mit der StromNEV zwingende Vorgaben zur Berechnung der Entgelte für den Zugang zu den Elektrizitätsübertragungs- und den Elektrizitätsverteilernetzen. Die Verordnung konkretisiert insoweit die Generalklausel des § 21 Abs. 1 und 2 EnWG, indem sie die Methoden der Kostenermittlung und das Verfahren zur Umrechnung der ermittelten Kosten in Netznutzungsentgelte determiniert.43 Gem. § 21 Abs. 1 Hs. 1 EnWG müssen die Bedingungen und die Entgelte für den Netzzugang angemessen, diskriminierungsfrei und transparent sein. Sie dürfen – bei nicht eigentumsrechtlich entflochtenen Netzbetreibern – gem. § 21 Abs. 1 Hs. 2 EnWG zudem nicht ungünstiger sein, als sie von den Betreibern der Energieversorgungsnetze in vergleichbaren Fällen für Leistungen innerhalb ihres Unternehmens oder gegenüber verbundenen oder assoziierten Unternehmen angewendet und tatsächlich oder kalkulatorisch in Rechnung gestellt werden. Die zentrale Regelung für die Netznutzungsentgelte enthält § 21 Abs. 2 EnWG. Diese müssen nach Satz 1 auf der Grundlage der Kosten einer Betriebsführung gebildet werden, die denen eines effizienten und strukturell vergleichbaren Netzbetreibers entsprechen, unter Berücksichtigung sowohl von Anreizen für eine effiziente Leistungserbringung als auch einer angemessenen, wettbewerbsfähigen und risikoangepassten Verzinsung des eingesetzten Kapitals.44 Soweit die Entgelte kostenorientiert gebildet werden, wie dies gem. § 6 ARegV auch in der Anreizregulierung der Fall ist,45 dürfen Kosten und Kostenbestandteile, die sich ihrem Umfang nach im Wettbewerb nicht einstellen würden, nach Satz 2 nicht berücksichtigt werden.
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Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen im Öffentlichen Recht, 2013, S. 123. 42 I. Schmidt, WuW 2012, 795; Mohr, N&R 2016, 194. 43 Mohr (Fn. 3), Vorbem. StromNEV Rn. 1. 44 Dies gilt jedenfalls solange, als in einer Rechtsverordnung nach § 24 EnWG nicht eine Abweichung von der kostenorientierten Entgeltbildung bestimmt ist. 45 Siehe hierzu noch unten, II. 3.
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b) Kostenorientierung Aus § 21 Abs. 2 S. 1 EnWG lässt sich zunächst die Grundentscheidung für eine kostenorientierte Entgeltbildung ableiten,46 wobei mit Kostenorientierung – wie noch zu zeigen ist – kein Voll- bzw. Istkostenansatz gemeint ist. Da der Unterhalt von Elektrizitätsleitungen einen hohen Kapitaleinsatz erfordert, setzen sich die Gesamtkosten des Netzbetreibers zum überwiegenden Teil aus Kapitalkosten zusammen,47 wohingegen die Betriebskosten bislang noch eine eher untergeordnete Rolle spielen.48 § 21 Abs. 2 EnWG macht für die Fremdkapitalkosten und die Abschreibungen keine gesonderten Vorgaben. Insbesondere lässt sich dem Gesetz keine Entscheidung für eine Nettosubstanzerhaltung entnehmen, wie dies noch unter Geltung der Verbändevereinbarung II plus Strom der Fall war.49 Für die Nettosubstanzerhaltung und damit für den Ansatz von Wiederbeschaffungskosten wird angeführt, dass dieses Konzept einen Ausgleich für die Inflation leiste, indem Abschreibungen mittels Indexierung auf der Basis von Tagesneuwerten erfolgen, welche die um die jährliche anlagenspezifische Inflation fortgeschriebenen Anschaffungskosten einer Sachanlage widerspiegeln.50 Die Bewertung zu Tagesneuwerten soll damit der Notwendigkeit einer Ersatzbeschaffung nach Ablauf der Abschreibungszeit Rechnung tragen.51 Demgegenüber erfolgt der Inflationsausgleich nach dem Konzept der Realkapitalerhaltung nicht über die Abschreibungen, sondern über die Eigenkapitalverzinsung des Restwertes des betriebsnotwendigen Anlagevermögens mit einem Nominalzinssatz, der um die Inflationsrate über dem ansonsten anzuwendenden Realzins liegt.52 Theoretisch sollten die Konzepte der Nettosubstanzerhaltung und der Realkapitalerhaltung zu demselben Ergebnis kommen.53 Praktische Vorteile der Realkapitalerhaltung sind allerdings, dass weder Probleme bei der Berechnung von Tagesneuwerten bestehen,54 noch historisch nicht passgenau dimensionierte Netze fortgeschrieben werden.55 46
Schmidt-Preuß, N&R 2004, 90; siehe auch Erwägungsgrund 18 RL 2003/54/EG. Mohr (Fn. 3), § 6 StromNEV Rn. 1. 48 Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob Kapital- und Betriebskosten im Interesse einer innovationsfördernden Regulierung de lege ferenda gleich zu behandeln sind; dafür Mohr (Fn. 40), S. 213, 219, 262 ff. 49 Anders noch der Entwurf des § 20 Abs. 3 S. 3 Hs. 1 EnWG 2005, siehe dazu SchmidtPreuß, Substanzerhaltung (Fn. 2), S. 63 ff.; ders., et 2003, 758 (761 ff.); ders., N&R 2005, 51. 50 Bauer/Bier/Weber, et 2005, Special „Energierechtsreform und Regulierung“, 12 f. 51 BGH, Beschl. v. 25. 4. 2017 – EnVR 17/16, RdE 2017, 344 Rn. 54 – Stadtwerke Werl GmbH. 52 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6. 6. 2012 – VI-3 Kart 225/07 (V), juris, unter B. II. 1.2. 53 Dies gilt jedenfalls hinsichtlich des Inflationsausgleichs. 54 Die Umrechnung der historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten der betriebsnotwendigen Alt-Anlagegüter auf Tagesneuwerte zum jeweiligen Stichtag erfolgt seit dem 1. 1. 2013 (vgl. § 32 Abs. 9 StromNEV) gem. § 6 Abs. 3 S. 2 StromNEV unter Verwendung von Indexreihen des Statistischen Bundesamtes nach Maßgabe des § 6a StromNEV; zur Zulässigkeit von § 6a StromNEV siehe OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27. 4. 2017 @ VI-5 Kart 17/ 15 (V), RdE 2017, 298 Ls. 3. 47
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Wohl auch, weil im Zuge der Neuregelung des EnWG im Jahr 2005 erhebliche Unklarheiten hinsichtlich einer fairen und wettbewerbsanalogen Eigenkapitalverzinsung bestanden,56 schreibt § 21 Abs. 2 S. 1 EnWG explizit vor, dass die Netznutzungsentgelte hinreichende Anreize für eine angemessene, wettbewerbsfähige und risikoangepasste Verzinsung des eingesetzten Kapitals geben müssen. Im Ausgangspunkt gilt, dass auf die berechtigten Interessen eines potentiellen Investors zu blicken ist, da die Netzentgeltregulierung eine Situation wie bei wirksamem Wettbewerb simulieren soll. Ein Investor wird jedoch regelmäßig nur dann Kapital zur Verfügung stellen, wenn er mit einem hinreichenden Return on Investment rechnen kann. Bedeutsam ist insoweit das in § 21 Abs. 2 S. 1 EnWG normierte Merkmal der Risikoadäquanz,57 wobei letztere durch das ökonomische Konzept der Opportunitäts- bzw. Alternativkosten operationalisiert werden kann. Opportunitätskosten bilden die durch die Wahl einer Entscheidungsalternative entgangenen Erfolge der besten verdrängten Alternative ab.58 Das Konzept der Opportunitätskosten will somit den Preis bestimmen, den ein Eigenkapitalgeber unter wettbewerblichen Bedingungen für die Übernahme von netzspezifischen Risiken verlangen würde.59 Hiernach ist die Eigenkapitalverzinsung dann angemessen, wenn sie der Rendite entspricht, die ein Eigenkapitalgeber unter den konkreten Marktbedingungen künftig für eine gleichartige Investition erzielen könnte, soweit diese angemessen und wettbewerbsanalog ist.60 c) Effizienz und Als-ob-Wettbewerb Bei einer reinen Kostenregulierung, auch als Cost-plus-Regulierung benannt, basieren die Entgelte auf den tatsächlichen Kosten des Unternehmens für die Bereitstellung der Leistung (Cost) zuzüglich eines Zuschlags für Gewinne bzw. Risikokosten oder einer angemessenen Verzinsung des eingesetzten Kapitals (Plus).61 Da derartige Verfahren den Unternehmen keine Anreize für eine Steuerung von Qualität und Leistung und damit für eine Steigerung der Effizienz – verstanden als Erreichung eines Zieles mit möglichst geringem Aufwand – setzen, sondern beispielsweise zu Überinvestitionen führen können, wird der betriebswirtschaftliche Grundsatz der Kostenorientierung in § 21 EnWG durch „Korrekturfaktoren“ ergänzt.62 Von zentraler Bedeutung ist der Effizienzgrundsatz, wie er in § 21 Abs. 2 S. 1 EnWG normiert ist.63 Die Effizienz ist ihrerseits eine Ausprägung des Grundsatzes des Als-ob-Wettbe55
Näher Mohr (Fn. 3), § 6a StromNEV Rn. 2. Siehe Schmidt-Preuß, Substanzerhaltung (Fn. 2), S. 21 f. 57 Schmidt-Preuß, N&R 2004, 90 (91). 58 Friedl/Hofmann/Pedell, Kostenrechnung, 3. Aufl. 2017, S. 60. 59 Großfeld/Egger/Tönnes, Recht der Unternehmensbewertung, 8. Aufl. 2016, Rn. 794. 60 Kühn, Yardstick Regulierung für Elektrizitätsverteilungsnetzbetreiber, 2006, S. 65. 61 Monopolkommission, Wettbewerbspolitik im Schatten „nationaler Champions“, 15. Hauptgutachten 2002/2003, Rn. 1170; Pritzsche/Vacha (Fn. 9), § 4 Rn. 300. 62 Büdenbender, Kostenorientierte Regulierung von Netzentgelten, 2007, S. 25 ff. 63 Ludwigs, Die Verwaltung 2013, 155 ff.; Mohr (Fn. 4), S. 271 ff. 56
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werbs, wie er im Merkmal der Angemessenheit gem. § 21 Abs. 1 EnWG64 und ergänzend in § 21 Abs. 2 S. 2 EnWG lokalisiert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist es überzeugend, wenn man Effizienz und Wettbewerb als zwei Seiten einer Medaille ansieht.65 Dogmatisch findet die Wettbewerbsanalogie ihre Verortung im Verbot von Marktmachtmissbräuchen gem. Art. 102 AEUV, §§ 19, 29 GWB.66 Im Ausgangspunkt handelt ein Netzbetreiber dann wettbewerbsanalog, wenn er durch das von ihm geforderte Entgelt seine effizienten Kosten deckt und einen angemessenen, den Besonderheiten der jeweiligen Marktverhältnisse entsprechenden Gewinn erzielt.67 Auch bei wirksamem Wettbewerb können Unternehmen keine beliebigen Kosten auf ihre Vertragspartner überwälzen (Ist-Kosten), sondern nur solche, die auch ein statisch und dynamisch effizienter Wettbewerber haben würde (Soll-Kosten). Andernfalls würden rational handelnde und wohl informierte Kunden die Preise nicht akzeptieren und zu Konkurrenten abwandern. In einer wettbewerblichen und sozialen Marktwirtschaft bewahrt auch das Eigentumsgrundrecht die Netzbetreiber nicht vor einer wettbewerbsanalogen Effizienzkontrolle.68 Nach ihrer Zielsetzung haben die Normen des Wettbewerbsrechts und der wettbewerbsanalogen Regulierung der Netzsektoren damit einen rechtstatsächlichen und normativen Bezug auf das System des Privatrechts.69 Gemeinsamer Bezugspunkt aller Tatbestände gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist der „systemwidrige Gebrauch traditionell rechtmäßiger privatrechtlicher Handlungsfreiheiten.“70 Ebenso wie die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen eine zentrale Voraussetzung für die Koordination der individuellen Wirtschaftspläne über den Markt ist, schützt der Wettbewerb die Selbstbestimmung der privaten Wirtschaftssubjekte gegen Willkür und Machtmissbrauch.71 Die Sicherung eines wirksamen Wettbewerbsprozesses dient damit dem Schutz der Verbraucher, indem sie die Voraussetzungen für ein souveränes Konsumentenverhalten und eine effiziente sowie breitgefächerte Güter- und Dienstleistungsproduktion schafft.72 So stellt der regulatorisch zu simulierende Wettbewerb schon im Vorfeld eines Vertragsschlusses sicher, dass es zu keinen Situatio-
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So Säcker/Meinzenbach, in: BerlKommEnR (Fn. 28), § 21 EnWG Rn. 42. Schmidt-Preuß, in: Grundsatzfragen des Regulierungsrechts (Fn. 1), S. 68, 82. 66 Büdenbender (Fn. 62), S. 31; Mohr, in: Grundsatzfragen des Regulierungsrechts (Fn. 14), S. 94, 104. 67 Mohr (Fn. 4), S. 490. 68 Schmidt-Preuß, Substanzerhaltung (Fn. 2), S. 58; ders., et 2003, 758 (760); ders., N&R 2004, 90 (91); Mohr (Fn. 4), S. 607 ff. 69 Mohr (Fn. 4), S. 200. 70 Mestmäcker, ZWeR 2010, 1 (9 f.). 71 Säcker, in: Bornkamm/Montag u. a. (Hrsg.), Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht (= MünchKommEuWettbR), 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 22; Honsell, ZIP 2008, 621 (627). 72 Dreher, JZ 1997, 167 (177). 65
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nen kommt, die im Nachhinein wegen einer gravierenden Störung der Vertragsparität zu korrigieren wären.73 2. Entfaltung der Maßstäbe des § 21 EnWG durch die Stromnetzentgeltverordnung a) Allgemeines Die Grundprinzipien des § 21 EnWG werden durch den Verordnungsgeber in der StromNEV „Schritt für Schritt entfaltet“.74 Die StromNEV behandelt die Methoden zur Bestimmung der Entgelte für den Zugang zu den Elektrizitätsübertragungs- und Elektrizitätsverteilernetzen inklusive der Ermittlung der Entgelte für dezentrale Einspeisungen. Trotz der grundlegenden Neuausrichtung des Zugangskonzepts vom verhandelten zum regulierten Netzzugang übernahm der Verordnungsgeber im Jahr 2005 nicht wenige Grundsätze aus der praktisch erprobten Verbändevereinbarung II plus Strom.75 Paradigmatisch sind die Kostenorientierung76 sowie das im Rahmen der Kostenträgerrechnung bedeutsame entfernungsunabhängige Netzentgelt,77 von § 15 Abs. 1 S. 1 StromNEVauch als transaktionsunabhängiges Punktmodell bezeichnet.78 Andere Vorgaben aus der Verbändevereinbarung II plus Strom wurden demgegenüber nicht vollständig in die StromNEV übernommen, beispielsweise der bereits behandelte Grundsatz der Substanzerhaltung im Rahmen der Abschreibungen auf das betriebsnotwendige Anlagevermögen. Im Einzelnen: b) Kostenorientierung Der Grundsatz der Kostenorientierung wird durch § 3 Abs. 1 StromNEV näher konkretisiert.79 Hiernach sind die Netzkosten für die Ermittlung der Netzentgelte nach den Vorschriften über die Kostenartenrechnung gem. den §§ 4 bis 11 StromNEV zusammenzustellen. In der Kostenartenrechnung wird ermittelt, welche Kosten angefallen sind, d. h. der Aufwand des Netzbetreibers wird in ansatzfähige Kosten überführt.80 Unter den Aufwand im bilanziellen Sinne fallen alle Aktivitäten des Netzbetreibers, die sein Eigenkapital in einer Abrechnungsperiode mindern, ohne Unterscheidung danach, ob die Tätigkeiten aus betrieblichen oder nicht-betrieblichen Zwecken veranlasst wurden. Die nach den §§ 4 bis 11 StromNEV berücksich73
Canaris, AcP 200 (2000), 273 (293); Mohr, AcP 204 (2004), 660 (684 f.). Schmidt-Preuß, N&R 2004, 90 (92). 75 Salje (Fn. 19), 2. Aufl. 2016, Kap. 36 Rn. 8. 76 Schmidt-Preuß, N&R 2004, 90 (92). 77 Schmidt-Preuß, N&R 2004, 90 (93). 78 Schütz/Schütte, in: Holznagel/Schütz (Hrsg.), ARegV, 2012, § 6 ARegV, Anhang: § 3 StromNEV, Rn. 36. 79 Büdenbender (Fn. 62), S. 26 f. 80 Wöhe, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 26. Aufl. 2016, S. 882. 74
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tigungsfähigen Kosten erfassen demgegenüber allein solche Aufwendungen, die aus dem betrieblichen Leistungsprozess heraus entstanden sind.81 Dies stimmt überein mit § 21 Abs. 2 S. 1 EnWG, wonach lediglich die Kosten der Netz-Betriebsführung ersatzfähig sind. Wesentliche Ausprägungen der Kostenorientierung bilden die Grundsätze der Verursachung bzw. Zurechnung, wonach Kosten nur denjenigen Kostenstellen und Kostenträgern zugeordnet werden dürfen, die diese Kosten auch tatsächlich verursacht haben.82 Dies ist insbesondere bei der Gliederung der Kosten in Einzel- und Gemeinkosten bedeutsam.83 Während Einzelkosten den Kostenträgern direkt aus der Kostenartenrechnung zugerechnet werden können, muss bei Gemeinkosten im Rahmen der Kostenstellenrechnung gem. den §§ 12 ff. StromNEV eine verursachungsgerechte Schlüsselung erfolgen. Von der Zurechnung der Gemeinkosten zu den Leistungseinheiten zu unterscheiden ist die vorgelagerte Frage, ob Gemeinkosten überhaupt dem Netzbetrieb zuzuordnen sind. Dies bestimmt sich im Rahmen der Kostenartenrechnung gem. § 4 Abs. 5 StromNEV.84 Nach § 16 StromNEV sind die Kosten der Netznutzung schließlich diskriminierungsfrei und verursachungsgerecht auf die Gesamtheit der Netznutzer zu verteilen.85 c) Effizienz und Als-ob-Wettbewerb Der ebenfalls in § 21 Abs. 2 S. 1 EnWG lokalisierte Effizienzgrundsatz findet sich inhaltlich deckungsgleich in § 4 Abs. 1 StromNEV, wonach bilanzielle und kalkulatorische Kosten nur insoweit anzusetzen sind, als sie den Kosten eines effizienten und strukturell vergleichbaren Netzbetreibers entsprechen. Aus § 21 Abs. 2 S. 2 EnWG als höherrangiger Norm folgt ergänzend, dass bei der Netzkostenermittlung alle Kosten oder Kostenbestandteile nicht berücksichtigungsfähig sind, die sich ihrem Umfang nach im Wettbewerb nicht einstellen würden. Als eine Ausprägung des Wettbewerbsbezugs der Regulierung wird – wie einleitend mit Blick auf § 20 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 EnWG gesehen – auch die Preistransparenz verstanden.86 Im Rahmen der Netzentgeltregulierung soll das Transparenzgebot die Angemessenheit der Netzentgelte und deren Kontrollierbarkeit sicherstellen.87 Zum einen müssen Netzbetreiber ihre Netznutzungsentgelte und bestimmte Strukturmerkmale der Netze nach § 27 Abs. 1 und 2 StromNEV im Internet veröffentlichen.88 81
Schütz/Schütte (Fn. 78), § 6 ARegV, Anhang: § 3 StromNEV, Rn. 17. Dahmen, Kostenrechnung, 4. Aufl. 2014, S. 14. 83 Friedl/Hofmann/Pedell (Fn. 58), S. 63. 84 Mohr (Fn. 3), § 4 StromNEV Rn. 15. 85 Vgl. Zenke/Schweizer, EnWZ 2014, 398. 86 Schmidt-Preuß, N&R 2004, 90 (94). 87 Säcker/Meinzenbach (Fn. 64), § 21 EnWG Rn. 50. 88 Begr. des Verordnungsgebers, BR-Drs. 245/05, S. 43; siehe auch BT-Drs. 18/8915, S. 41. 82
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Die Veröffentlichungspflicht gem. § 20 Abs. 1 EnWG i.V.m. § 27 StromNEV bezieht sich nicht auf die konkrete Kostenkalkulation.89 Weiterhin legt § 28 StromNEV den Netzbetreibern zur Vorbereitung der Kostenprüfung gem. den §§ 4 ff. StromNEVumfangreiche Dokumentationspflichten auf.90 Die Vorschrift soll eine effektive und kosteneffiziente Regulierung sicherstellen.91 Die Bundesnetzagentur gibt für die Erstellung des Berichts gem. § 28 StromNEV eine einheitliche Struktur vor.92 Schließlich dürfen die Regulierungsbehörden nach dem im Jahr 2016 neu geschaffenen § 31 ARegV auf ihrer Internetseite netzbetreiberbezogen und in nicht anonymisierter Form die in § 31 Abs. 1 Nr. 1 bis 12 ARegV genannten Informationen veröffentlichen.93 Die Regelung soll die Transparenz der Anreizregulierung weiter erhöhen, indem sie eine gesetzliche Ermächtigung zur Veröffentlichung verschiedener Informationen enthält.94 Bei den in § 31 Abs. 1 ARegVaufgeführten Daten handelt es sich nach überzeugender Ansicht nicht um schützenswerte Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, weshalb die netzbetreiberbezogene Veröffentlichung nicht in Widerspruch zu § 71 EnWG sowie weiteren energierechtlichen, dem Schutz von Betriebsund Geschäftsgeheimnissen dienenden Vorschriften steht.95 Denn die dort genannten Informationen sind nicht geeignet, exklusives technisches oder kaufmännisches Wissen zugänglich zu machen und so eine Wettbewerbsposition der Netzbetreiber zu beeinträchtigen.96 Zum anderen müssen die Netzbetreiber im Interesse der Transparenz und Kontrollierbarkeit der Netzentgelte den Grundsatz der Stetigkeit beachten, weshalb grundsätzlich diejenigen Methoden beizubehalten sind, die schon in der Vergangenheit angewandt wurden.97 Dem Grundsatz der Stetigkeit verpflichtet sind ebenfalls die Regulierungsbehörden bei ihren Regulierungsentscheidungen, etwa bei der Festsetzung der Eigenkapitalverzinsung gem. § 7 StromNEV. Dies kann ebenso wie bei den Netzbetreibern aber nur insoweit gelten, als nicht Änderungen in den tatsächlichen Rahmenbedingungen eine Anpassung der Berechnungsmethoden erforderlich machen. 89
Säcker/Meinzenbach (Fn. 64), § 21 EnWG Rn. 56. Dazu OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16. 11. 2017 – VI-5 Kart 20/16 (V). 91 So die Begr. des Verordnungsgebers, BR-Drs. 245/05, S. 43. 92 Für die dritte Regulierungsperiode siehe BNetzA, Beschl. v. 26. 4. 2017 – BK8 – 17 – 0001-A; hierzu Dobler/Boß, VersorgW 2017, 167 (171). 93 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16. 2. 2017 – VI-5 Kart 24/16 (V), RdE 2017, 202; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16. 2. 2017 @ VI-5 Kart 24/16 (V), EnWZ 2017, 315; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3. 4. 2017 – VI-3 Kart 11/17 (V), RdE 2017, 413. 94 Erläuterung 947. BR, 8. 7. 2016, TOP 45; siehe auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16. 2. 2017 @ VI-5 Kart 24/16 (V), EnWZ 2017, 315 Rn. 71. 95 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16. 2. 2017 @ VI-5 Kart 24/16 (V), EnWZ 2017, 315 Rn. 74; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3. 4. 2017 – VI-3 Kart 11/17 (V), RdE 2017, 413 Ls. 2; a.A. OLG Brandenburg, Beschl. v. 10. 7. 2017 – 6 Kart 1/17, EnWZ 2018, 29. 96 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16. 2. 2017 @ VI-5 Kart 24/16 (V), EnWZ 2017, 315 Rn. 76 a.E. 97 Ballwieser, in: K. Schmidt (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch, 3. Aufl. 2013, § 252 HGB Rn. 78 ff. 90
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Im Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrages wurde etwa diskutiert, ob die wirtschaftskriseninduzierte Niedrigzinsphase in Deutschland eine Anpassung oder jedenfalls eine Plausibilisierung der Berechnungsmethoden hinsichtlich des Wagniszuschlags gem. § 7 Abs. 5 StromNEVerforderlich macht, da Investoren nach tatsächlichen Marktbeobachtungen eine stabile Gesamtmarktrendite erwarteten (TotalMarket-Return-Ansatz). Sinke somit der risikolose Basiszinssatz gem. § 7 Abs. 4 StromNEV, sei der Wagniszuschlag gem. § 7 Abs. 5 StromNEVentsprechend anzuheben.98 Auf die Eigenkapitalverzinsung ist zurückzukommen.99 d) Netzdienliches Abnahmeverhalten Ein zentraler Grundsatz der StromNEV ist schließlich die finanzielle Entlohnung eines netzdienlichen Abnahmeverhaltens.100 Gem. § 15 Abs. 1 S. 3 StromNEV ist für die Einspeisung elektrischer Energie – im Gegensatz zu derjenigen von Gas – kein Netzentgelt zu entrichten,101 obwohl nicht nur Energieversorgungsunternehmen und Verbraucher, sondern auch einspeisende Unternehmen gem. § 17 Abs. 1 EnWG einen Anspruch auf Netzanschluss und gem. § 20 EnWG einen solchen auf Netznutzung haben.102 Ganz im Gegenteil erhalten Betreiber von dezentralen Erzeugungsanlagen unter den Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 StromNEV vom Betreiber des Stromverteilernetzes, in dessen Netz sie einspeisen, ein vermiedenes Netzentgelt.103 Allerdings wird der Anwendungsbereich dieser Vorschrift gem. § 120 EnWG künftig schrittweise zurückgeführt, da sie ihren ursprünglichen Normzweck – die Vermeidung eines unnötigen Netzausbaus durch lastnahe Einspeisung104 – unter den Bedingungen einer zunehmend von volatilen Energiequellen geprägten Energiewendelandschaft nicht mehr adäquat erfüllen kann.105 Im Laufe des Normgebungsverfahrens hat der Gesetzgeber die Neuregelung dahingehend angepasst, dass die schritt98 Der Total Market Return-Ansatz (TMR) basiert auf der Annahme einer stabilen Gesamtmarktrendite und impliziert damit eine inverse Beziehung zwischen der – historisch niedrigen – Umlaufsrendite gem. § 7 Abs. 4 StromNEV und der Marktrisikoprämie gem. § 7 Abs. 5 StromNEV. Vgl. einerseits BNetzA, Beschl. v. 5. 10. 2016 – BK4 – 16 – 160 (Strom) und BNetzA, Beschl. v. 5. 10. 2016 – BK4 – 16 – 161 (Gas), S. 13, und andererseits BDEW, Bewertung: Festlegung der Eigenkapitalverzinsung für Strom- und Gasnetze in der 3. Regulierungsperiode durch die Bundesnetzagentur v. 10. 11. 2016, S. 12, im Internet abrufbar unter https://www.bdew.de/media/documents/Stn_20170814_EK-Zinsfestlegungen-Strom-und-Gas netze-3RP.pdf (zuletzt abgerufen am 1. 12. 2017). 99 Siehe unter III. 2. c). 100 Zu den technischen Rahmenbedingungen des Netzbetriebs Mohr (Fn. 4), S. 515 ff. 101 BNetzA, Bericht zur Netzentgeltsystematik Elektrizität, Stand: Dezember 2015, S. 32. 102 Krit. deshalb de lege ferenda Börner, VersorgW 2017, 129 (130). 103 Missling, in: Zenke/Wollenschläger/Eder (Hrsg.), Preise und Preisgestaltung in der Energiewirtschaft, 2014, Kap. 9 Rn. 137. 104 Näher OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31. 8. 2016 – VI-3 Kart 127/15 (V), RdE 2017, 83. 105 BT-Drs. 18/11528, S. 12; siehe auch Lange/Weise, IR 2014, 146 (147); Petermann, EWeRK 2016, 185 (186); Bourwieg/Brockmeier, ER 2017, 234 ff.; Mohr (Fn. 3), § 18 StromNEV Rn. 1 f.
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weise Abschmelzung der Zahlungen aus vermiedenen Netzentgelten auf Anlagen mit volatiler Stromerzeugung begrenzt wird.106 Vor diesem Hintergrund wird man den Normzweck von § 18 StromNEV neuerdings vornehmlich in einer finanziellen Unterstützung systemdienlicher, da steuerbarer Erzeugungsanlagen sehen können.107 Insoweit deckt sich die Vorschrift mit dem Normzweck von § 19 StromNEV, der ebenfalls der passgenauen Synchronisation von Angebot und Nachfrage und damit der Beförderung eines stabilen Netzbetriebs dient.108 Hierzu unterliegen die individuellen Netzentgelte gem. § 19 Abs. 2 StromNEV weder der Einzelentgeltgenehmigung i.S.d. § 23a EnWG noch der Anreizregulierung gem. § 21a EnWG, sondern einer eigenständigen Genehmigungspflicht.109 3. Verhältnis zur Anreizregulierung Seit dem Jahr 2009 unterliegen die Energienetze einer Anreizregulierung, da letztere im Gegensatz zu einer statisch kostenorientierten Effizienz-Regulierung jedenfalls für die Dauer der Regulierungsperiode auch dynamische Effizienzen befördert.110 Im Ausgangspunkt zielt die Anreizregulierung darauf ab, die Preis- oder Erlösobergrenze für einen bestimmten Zeitraum von den in der Vergangenheit entstandenen Kosten des Netzbetriebs zu entkoppeln, um auf diesem Wege Anreize für eine effiziente Leistungsbereitstellung zu setzen.111 Diese Herangehensweise folgt aus den Nachteilen einer reinen Kostenregulierung. Sie akzeptiert die Informationsasymmetrie zulasten der Regulierungsbehörde, indem sie das Gewinnstreben der Unternehmen für die Zwecke der Regulierung ausnutzt.112 Ziel ist es, die Preisbildung auf kompetitiven Märkten zu imitieren. § 21a Abs. 2 S. 1 EnWG schreibt insoweit die Berücksichtigung von Effizienzvorgaben vor. Die Erlösobergrenze wird somit während des Laufes der Regulierungsperiode nicht nur an die allgemeine Geldentwicklung unter Berücksichtigung eines generellen sektoralen Produktivitätsfaktors angepasst (§ 21a Abs. 4 S. 7 EnWG), sondern auch an eine regulatorische Effizienzvorgabe, den sog. X-Faktor.113 Jede Produktivitätssteigerung, die höher ausfällt als 106 Änderung eingefügt durch den Ausschuss für Wirtschaft und Energie, BT-Drs. 18/ 12999, S. 21: Bei Anlagen mit volatiler Stromerzeugung erfolgt die Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte in drei Schritten, so dass ab 2021 keine vermiedenen Netzentgelte mehr für Stromeinspeisungen aus solchen Anlagen gezahlt werden. Für Neuanlagen mit volatiler Erzeugung entfallen die vermiedenen Netzentgelte vollständig ab dem 1. 1. 2018, für steuerbare Anlagen hingegen erst ab dem 1. 1. 2023. Zudem wird die Berechnungsgrundlage für alle Zahlungen ab 2018 auf das Niveau der Netzentgelte des Jahres 2016 eingefroren. 107 Mohr (Fn. 3), § 18 StromNEV Rn. 7. 108 Petermann, Die Ermittlung der Netznutzungsentgelte, Vortrag auf einem Workshop des enreg am 27. 1. 2017 in Bonn. 109 Schmitz (Fn. 38), § 23a EnWG Rn. 14. 110 Zum Verhältnis von Anreizregulierung und Innovationen siehe Mohr, RdE 2017, 273 ff. 111 Mohr (Fn. 4), S. 624 f.; Pritzsche/Vacha (Fn. 9), § 4 Rn. 300. 112 Berndt, Die Anreizregulierung in den Netzwirtschaften, 2011, S. 68. 113 Brunekreeft/Meyer, et 1 und 2/2011, S. 40.
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der X-Faktor, kommt bis zum Ende der Regulierungsperiode dem regulierten Unternehmen zugute, indem diesem die entsprechenden Erlöse als Gewinn verbleiben. Demgegenüber wirken sich Produktivitätssteigerungen gewinnmindernd aus, die unter den Effizienzvorgaben liegen.114 Das kommt unter Berücksichtigung regulatorisch bedingter Verallgemeinerungen der Preisbildung bei wirksamem Wettbewerb nahe, wo Unternehmen ebenfalls keine beliebigen Ist-Kosten auf ihre Vertragspartner überwälzen können, sondern nur solche Soll-Kosten, die auch ein dynamisch-effizient produzierender Wettbewerber haben würde.115 Obwohl es sich bei der kostenorientierten Entgeltbildung und der Anreizregulierung um divergierende Kontrollkonzepte handelt,116 gelten die oben geschilderten Vorgaben des § 21 EnWG auch im System der Anreizregulierung.117 Dies folgt bereits aus § 21a EnWG, der in seinen Absätzen 1, 4 S. 2 und S. 5 auf § 21 EnWG verweist.118 Auch die zentralen Regelungen der StromNEV haben unter dem Primat der Anreizregulierung weiterhin Gültigkeit.119 So verweist § 6 Abs. 1 S. 1 ARegV für die Ermittlung des Ausgangsniveaus zur Bestimmung der Erlösobergrenze explizit auf die Kostenartenrechnung gem. §§ 4 bis 11 StromNEV. Im allgemeinen System der Anreizregulierung erfolgt die Kostenprüfung gem. § 6 Abs. 1 S. 3 ARegVallerdings nicht jährlich, sondern nur im vorletzten Kalenderjahr vor Beginn der fünfjährigen Regulierungsperiode auf der Basis der Daten des letzten abgeschlossenen Geschäftsjahres. Auf der Grundlage der hiernach anerkennenswerten Kosten gibt die Regulierungsbehörde den Netzbetreibern für die einzelnen Kalenderjahre der Regulierungsperiode eine Erlösobergrenze vor, die grundsätzlich von der tatsächlichen Entwicklung der Kosten unabhängig ist.120 Die Vorschriften der Kostenartenrechnung sind auch auf Investitionsmaßnahmen i.S.d. § 23 ARegV anzuwenden.121 So können als Kosten einer genehmigten Investitionsmaßnahme nach § 23 Abs. 1 S. 3 ARegV Betriebs- und Kapitalkosten geltend gemacht werden. Soweit § 23 ARegV keine spezifischen Vorgaben macht, sind die ansatzfähigen Kostenpositionen nach den §§ 5
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Fritsch, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, 9. Aufl. 2014, S. 211. Mohr (Fn. 4), S. 619. 116 Dies betont Büdenbender (Fn. 62), S. 18. 117 Vgl. Säcker/Meinzenbach (Fn. 64), § 21 EnWG Rn. 38, 59 ff.; Schütte, in: Kment (Hrsg.), EnWG, 2015, § 21 EnWG Rn. 64 ff. 118 Zur Rechtslage vor Inkrafttreten der ARegV siehe BGH, Beschl. v. 3. 3. 2009 – EnVR 79/07, RdE 2010, 19 (20) Rn. 12 – SWU-Netze, konkret zur Kürzung des Umlaufvermögens im Rahmen der Eigenkapitalverzinsung bei fehlendem Nachweis der Betriebsnotwendigkeit; zur neuen Rechtslage siehe OLG München, Beschl. v. 7. 7. 2016 – Kart 1/15, RdE 2017, 97 (98) Rn. 22, wonach in das Ausgangsniveau gem. § 6 ARegV i.V.m. § 5 Abs. 1, § 4 Abs. 1 und § 21 Abs. 2 EnWG nur diejenigen Kosten aufzunehmen sind, die denen eines effizienten und strukturell vergleichbaren Netzbetreibers entsprechen. 119 Mohr (Fn. 3), Vorbem. StromNEV Rn. 36. 120 Hummel, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 86. EL 2015, ARegV Einführung Rn. 15. 121 Ausführlich Mohr, N&R 2016, 194 ff. 115
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bis 8 StromNEV zu ermitteln.122 Der im Jahr 2016 neu geschaffene § 10a ARegV bezieht sich für die Berechnung des Kapitalkostenaufschlags ebenfalls auf die §§ 6, 7 und 8 StromNEV sowie auf Anlage 1 zu § 7 StromNEV. Gleiches gilt bezüglich der neuen Anlage 2a zu § 6 ARegV für die Berechnung des Kapitalkostenabzugs. § 17 Abs. 1 ARegV verweist für die Ermittlung der Netzentgelte auf die Kostenstellenrechnung und die Kostenträgerrechnung nach den §§ 12 bis 21 StromNEV. Weiterhin gelten gem. § 6 Abs. 1 S. 2 ARegV, dass die §§ 28 bis 30 StromNEV entsprechend. Lediglich die Anwendung von § 3 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StromNEV wird von § 6 Abs. 2 S. 2 ARegVexplizit ausgeschlossen, da in der Anreizregulierung die Fortentwicklung des Kostenniveaus im Zeitablauf durch Anpassungen nach der Regulierungsformel berücksichtigt wird.123 Kosten und Erlöse bzw. Erträge, die dem Grunde oder der Höhe nach auf einer Besonderheit des Geschäftsjahres beruhen, auf das sich die Kostenprüfung bezieht, sind gem. § 6 Abs. 2 S. 1 ARegV bei der Ermittlung des Ausgangsniveaus der Erlösobergrenze nicht zu berücksichtigen.124 III. Zur Systematik der Stromnetzentgeltverordnung 1. Betriebliche Kosten- und Erlösrechnung Vorstehend wurde bereits auf die Kostenarten-, die Kostenstellen- und die Kostenträgerrechnung Bezug genommen. Diese sind im Folgenden näher zu erläutern. Nach einer Grundannahme der betrieblichen Kostenrechnung kann ein Unternehmen nur dann dauerhaft auf dem relevanten Markt bestehen, wenn alle durch die – wettbewerblich-effiziente – Leistungserstellung verursachten Kosten von den Umsatzerlösen gedeckt sind.125 Die kalkulatorische Kostenrechnung der StromNEV verrechnet deshalb alle Netzkosten auf die Produkte, mithin auf die Kostenträger, die ihren Anfall verursachen.126 Die StromNEV folgt dabei dem Grundaufbau der Kosten- und Erlösrechnung mit ihren Unterpunkten Kostenartenrechnung, Kostenstellenrechnung und Kostenträgerrechnung.
122 Vgl. zur EK-Verzinsung etwa OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11. 9. 2013 – VI-3 Kart 198/ 12 (V), RdE 2014, 26 Rn. 36 ff.; näher Mohr, N&R 2016, 194 (201 ff.). 123 BR-Drs. 312/1/10, S. 24. 124 BNetzA, Beschl. v. 13. 6. 2014 – BK8 – 12/3254 – 11, Anlage Zwischendokumentation des Ausgangsniveaus, der Aufwands- und Vergleichsparameter, S. 2. – E.ON Netz GmbH; Mohr (Fn. 3), § 3 StromNEV Rn. 3. 125 Sturm, Kostenrechnung, 2005, S. 8. 126 Allgemein Sturm (Fn. 125), S. 8.
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2. Kostenartenrechnung a) Grundlagen Die Erfassung der ansatzfähigen Kosten im Rahmen der Kostenartenrechnung bildet die Grundlage der betrieblichen Kostenrechnung.127 Hierzu werden alle in einer Periode im Gesamtbetrieb angefallenen Güterverzehre und ihre Wertansätze belegmäßig erfasst.128 Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen bilanziellen und kalkulatorischen Kosten:129 Während bilanzielle Kosten direkt der Tätigkeitsgewinnund Verlustrechnung entnommen werden können, steht kalkulatorischen Kosten entweder ein Aufwand in anderer Höhe (Anderskosten) oder gar kein nämlicher Aufwand gegenüber (Zusatzkosten).130 Zudem werden die ansatzfähigen Kosten vom sonstigen Aufwand getrennt. Schließlich werden sämtliche in einer Periode im Gesamtbetrieb angefallenen Kosten nach der Art der verbrauchten Kostengüter sachlich gegliedert.131 Von zentraler Relevanz ist wie gesehen die Gliederung in Einzel- und Gemeinkosten anhand ihrer Zurechenbarkeit.132 In der StromNEV ist die Methode zur Ermittlung der ansatzfähigen Kosten in den §§ 4 bis 11 normiert. Diese Vorschriften bestimmen auf Basis einer effizienzbasierten Vollkostenrechnung abschließend, welche Kosten des Netzbetriebs berücksichtigungsfähig sind.133 In die kalkulatorische Rechnung sind zwar auch aufwandsgleiche Kosten gem. § 5 StromNEV, kostenmindernde Erlöse und Erträge gem. § 9 StromNEV sowie Kosten für Verlustenergie gem. § 10 StromNEV einzubeziehen. Der Schwerpunkt liegt aber bei den kalkulatorischen Kosten gem. § 4 Abs. 2 S. 2 StromNEV i.V.m. mit den §§ 6 bis 8 StromNEV.134 Zu den Anderskosten zählen die kalkulatorischen Abschreibungen nach § 6 StromNEV und die kalkulatorische Gewerbesteuer nach § 8 StromNEV, zu den Zusatzkosten die kalkulatorische Eigenkapitalverzinsung nach § 7 StromNEV.135 Der Wettbewerbsbezug kommt in § 4 Abs. 1 StromNEV zum Ausdruck, der einen marktmachtinduzierten Vollkostenansatz ausschließt.136
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Friedl/Hofmann/Pedell (Fn. 58), S. 63. Vgl. Plinke/Rese/Utzig, Industrielle Kostenrechnung, 8. Aufl. 2015, S. 62. 129 Friedl/Hofmann/Pedell (Fn. 58), S. 63. 130 Wöhe (Fn. 80), S. 886; Plinke/Rese/Utzig (Fn. 128), S. 66. 131 Vgl. Plinke/Rese/Utzig (Fn. 128), S. 62. 132 Friedl/Hofmann/Pedell (Fn. 58), S. 63. 133 Laubenstein/van Rossum, in: ARegV (Fn. 78), § 21 EnWG Rn. 57 f. 134 BGH, Beschl. v. 9. 7. 2013 – EnVR 37/11, RdE 2014, 24 Rn. 17 – KNS. 135 Vgl. dazu Wöhe (Fn. 80), S. 886. 136 Missling (Fn. 103), Kap. 9 Rn. 86. 128
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b) Insbesondere: Kalkulatorische Abschreibungen Nach § 6 Abs. 1 S. 1 StromNEV ist bei der Ermittlung der Netzkosten im Interesse der Gewährleistung eines langfristig angelegten leistungsfähigen und zuverlässigen Netzbetriebs als Kostenposition die Wertminderung der betriebsnotwendigen Anlagegüter in Ansatz zu bringen. Anders als die aufwandsgleichen Kosten i.S.d. §§ 4, 5 StromNEV sind für die Netzentgeltkalkulation relevante Abschreibungen also nicht wertmäßig aus der Gewinn- und Verlustrechnung übertragbar, vgl. § 6 Abs. 1 S. 2 StromNEV.137 Ansatzfähige Abschreibungen sind solche, die die Wertminderung betriebsnotwendiger Anlagegüter ausgleichen und zugleich im Interesse eines langfristig angelegten leistungsfähigen und zuverlässigen Netzbetriebs die Wiederbeschaffung dieser Anlagegüter nach Ende der jeweiligen Nutzungsdauer ermöglichen. Der kalkulatorische Ansatz der StromNEV findet einen wesentlichen Ausdruck im Merkmal der Betriebsnotwendigkeit gem. § 6 Abs. 1 S. 1 StromNEV, wonach nur solche Anlagen abgeschrieben werden können, die dem Ablauf des Geschäftsbetriebs zu dienen bestimmt sind138 und die gem. § 4 Abs. 1 StromNEV auch ein effizienter und strukturell vergleichbarer Netzbetreiber einsetzen würde.139 Weiterhin zeigt sich der kalkulatorische Ansatz in der Begrenzung der Eigenkapitalquote auf 40 Prozent gem. § 6 Abs. 2 S. 4 StromNEV.140 So verpflichtet schon § 1 Abs. 1 EnWG die Regulierung der Energienetze auf eine preisgünstige Energieversorgung. Zudem soll nach § 1 Abs. 2 EnWG ein wirksamer und unverfälschter Wettbewerb bei der Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas sichergestellt werden. Nach allgemeinen betriebswirtschaftlichen Grundsätzen ist es aber regelmäßig nicht sinnvoll, langfristig eine höhere Eigenkapitalquote als 40 Prozent aufzuweisen. Der Verordnungsgeber geht daher vertretbar davon aus, dass sich 40 Prozent übersteigende Eigenkapitalanteile unter Wettbewerbsbedingungen nicht einstellten.141 Für die Ermittlung der konkreten Abschreibungsbeträge ist als Bemessungsgrundlage – neben der Abschreibungszeit – die Bewertung des betriebsnotwendigen Sachanlagevermögens erforderlich.142 Wie bereits erläutert, kann hierfür sowohl auf 137 Insoweit zutreffend BNetzA, Beschl. v. 13. 6. 2014 – BK8 – 12/3254 – 11, Anlage Zwischendokumentation des Ausgangsniveaus, der Aufwands- und Vergleichsparameter, S. 28 – E.ON Netz GmbH. 138 So BNetzA, Beschl. v. 13. 6. 2014 – BK8 – 12/3254 – 11, Anlage Zwischendokumentation des Ausgangsniveaus, der Aufwands- und Vergleichsparameter, S. 28 – E.ON Netz GmbH. 139 So die Begr. des Verordnungsgebers, BR-Drs. 245/05, S. 33; siehe auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21. 1. 2016 – VI-5 Kart 33/14 (V), RdE 2016, 242 Rn. 58. 140 Näher BGH, Beschl. v. 14. 8. 2008 – KVR 42/07, ZNER 2008, 222 Rn. 39 ff. – Rheinhessische Energie; Mohr (Fn. 3), §§ 6, 6a StromNEV Rn. 32. 141 BGH, Beschl. v. 14. 8. 2008 – KVR 42/07, ZNER 2008, 222 Rn. 39 ff. – Rheinhessische Energie. 142 Gem. § 7 Abs. 1 S. 2 StromNEV knüpft auch die kalkulatorische Eigenkapitalverzinsung an den kalkulatorischen Restwert des Anlagevermögens abzüglich vorgenommener Abschreibungen an.
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historische Anschaffungs- und Herstellungskosten als auch auf Wiederbeschaffungskosten abgestellt werden.143 Historische Anschaffungs- und Herstellungskosten zielen grundsätzlich auf die Kapitalerhaltung ab (Realkapitalerhaltung), wohingegen die Wiederbeschaffungskosten der Substanzerhaltung des Unternehmens dienen (Nettosubstanzerhaltung). Der Verordnungsgeber hat sich in § 6 StromNEV auf der Grundlage eines politischen Kompromisses für einen Mittelweg entschieden.144 So wurde das aus den Verbändevereinbarungen stammende Konzept der Nettosubstanzerhaltung lediglich für die eigenfinanzierten Altanlagen beibehalten. Bezüglich eigenfinanzierter Neuanlagen führte der Verordnungsgeber dagegen das Konzept der Realkapitalerhaltung ein.145 Für Altanlagen erfolgt der Inflationsausgleich somit im Rahmen der Abschreibungen auf der Basis von Tagesneuwerten, um dadurch die Nettosubstanz zu erhalten. Hierzu dienen die Indexreihen gem. § 6a StromNEV.146 Dabei ist der Tagesneuwert in § 6 Abs. 3 S. 1 StromNEV als der unter Berücksichtigung der technischen Entwicklung maßgebliche Anschaffungswert zum jeweiligen Bewertungszeitpunkt definiert. Im Einklang mit dem Effizienzmaßstab bedeutet dies, dass Anpassungen an den jeweiligen technischen Standard vorzunehmen sind.147 Die Abschreibungen für Neuanlagen erfolgen demgegenüber – ebenso wie diejenigen für den fremdfinanzierten Anteil der Altanlagen – auf der Grundlage der tatsächlichen Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten, wobei der Inflationsausgleich im Wege einer Verzinsung des Restwertes mit einem Nominalzinssatz erfolgt, der um die Inflationsrate über dem Realzins liegt.148 c) Insbesondere: Verzinsung des Eigenkapitals Die Festlegung der Eigenkapitalverzinsung der Netzbetreiber folgt einem eigenständigen System, das in seinen Grundsätzen durch § 21 EnWG vorgegeben und in § 7 StromNEV näher bestimmt wird.149 Der Gesamtzusammenhang der Regelungen in den §§ 6, 7 StromNEV verdeutlicht, dass es sich insoweit um ein abgeschlossenes Regelungswerk handelt, das die Eigenkapitalverzinsung losgelöst vom Handelsrecht normiert.150 Wie erläutert, sind die Entgelte auch im Rahmen der Anreizregulierung nach § 21 Abs. 2 S. 1 EnWG unter Berücksichtigung einer angemessenen, wettbewerbsfähigen und risikoangepassten Verzinsung des eingesetzten Kapitals zu bilden. 143
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6. 10. 2016 – VI-5 Kart 21/14, RdE 2017, 34 (42). Mohr (Fn. 3), § 6 StromNEV Rn. 4 und 7. 145 Empfehlungen des Wirtschaftsausschusses v. 27. 6. 2005, BR-Drs. 245/1/05, S. 38. 146 Zur Zulässigkeit – konkret bezüglich der Parallelvorschrift in der GasNEV – siehe OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23. 9. 2015 – VI-3 Kart 113/13 (V), RdE 2015, 524 Rn. 65 ff.; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21. 1. 2016 – VI-5 Kart 33/14 (V), RdE 2016, 242, 244 Rn. 42 ff. 147 So zu § 6 Abs. 3 S. 1 GasNEV das OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21. 1. 2016 – VI-5 Kart 33/14 (V), RdE 2016, 242 (245) Rn. 59. 148 Mohr (Fn. 3), § 6 StromNEV Rn. 7. 149 Mohr (Fn. 3), § 7 StromNEV Rn. 10. 150 BGH, Beschl. v. 14. 8. 2008 – KVR 39/07, RdE 2008, 323 Rn. 37 – Vattenfall. 144
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Mit dieser Vorschrift will der Gesetzgeber gewährleisten, dass hinreichend Eigenund Fremdkapital für Investitionen in die Netze zur Verfügung stehen.151 Zugleich soll den Interessen der Netznutzer Rechnung getragen werden, die für die Netznutzung nur wettbewerbsanaloge Preise zahlen wollen. Die Eigenkapitalverzinsung ist hiernach dann angemessen, wenn die Kapitalgeber für das eingesetzte Kapital eine Rendite erhalten, die sie einerseits veranlasst, das Kapital in dem Unternehmen zu belassen, und andererseits Anreize für weitere effiziente Investitionen in das Unternehmen und die Netzinfrastruktur setzt.152 Dies erfordert, dass ein Investor für Investitionen, die der Erhaltung und dem bedarfsgerechten Ausbau des Netzes im Sinne der gesetzlichen Zielsetzung nach § 11 Abs. 1 S. 1 EnWG dienen, auf eine angemessene Rendite vertrauen kann.153 Grundlage für die Verzinsung kann allein das betriebsnotwendige Eigenkapital gem. § 7 Abs. 1 S. 1 StromNEV sein, das durch § 7 Abs. 1 S. 2 StromNEV definiert wird.154 Die Verzinsung erfordert sodann eine risikoadäquate Bewertung, mithin also eine Einbeziehung der unternehmerischen Risikofaktoren.155 Der Zinssatz ist so zu gestalten, dass Kapitalgeber auch im Vergleich mit sonstigen Anlagemöglichkeiten auf den internationalen Kapitalmärkten ein Interesse an einer Investition in die Energieversorgungsnetze haben, ohne ihnen damit nicht-marktgerechte Überrenditen zuzubilligen.156 Insoweit folgerichtig ermittelten die Regulierungsbehörden die Höhe der Eigenkapitalverzinsung mit Billigung der Obergerichte in den ersten beiden Regulierungsperioden157 auf der Grundlage des Capital Asset Pricing Model (CAPM).158 Entsprechend den normativen Vorgaben in § 7 Abs. 5 StromNEV blickt dieses auch in der Rechtspraxis allgemein anerkannte Bewertungsmodell159 auf die Aktienrenditen börsennotierter Netzbetreiber.160 Das CAPM entspricht damit der vom Gesetzgeber ins Auge gefassten Betrachtung der Opportunitätskosten (Alternativkosten), indem es den Preis zu bestimmen sucht, den ein Eigenkapitalgeber für die 151
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24. 4. 2013 – VI-3 Kart 61/08, N&R 2013, 219; Büdenbender, RdE 2008, 69 (72). 152 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24. 4. 2013 – VI-3 Kart 61/08, N&R 2013, 219; Lippert, RdE 2009, 353 (359). 153 BGH, Beschl. v. 14. 8. 2008 – KVR 39/07, RdE 2008, 323 Rn. 39 – Vattenfall; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24. 4. 2013 – VI-3 Kart 61/08, N&R 2013, 219. 154 Zum Vorstehenden siehe BGH, Beschl. v. 14. 8. 2008 – KVR 39/07, RdE 2008, 323 Rn. 37 – Vattenfall. 155 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24. 4. 2013 – VI-3 Kart 61/08, N&R 2013, 219; Müller, N&R 2008, 53 (56). 156 BT-Drs. 15/5268, S. 119; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21. 1. 2016 – VI-5 Kart 33/14 (V), RdE 2016, 242 Rn. 71. 157 Für die erste Regulierungsperiode BGH, Beschl. v. 27. 1. 2015 – EnVR 39/13, RdE 2015, 247 Rn. 29 – Thyssengas; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24. 4. 2013 – VI-3 Kart 61/08, N&R 2013, 219 (220). 158 Für die erste Regulierungsperiode BNetzA, Beschl. v. 7. 7. 2008 – BK4 – 08 – 068, S. 11. 159 Egger/Tönnes, EWeRK 2016, 362 (363 f.). 160 Hern/Haug, et 6/2008, 26 (27).
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Übernahme von netzspezifischen Risiken verlangt.161 Hätte ein Eigenkapitalgeber sein Kapital nicht in das Netzbetreiber-Unternehmen eingebracht, sondern am internationalen Kapitalmarkt in vergleichbare Anlagemöglichkeiten investiert, hätte er damit Erlöse erwirtschaftet. Diese entgangenen Erlöse für eine entgangene Kapitalanlage sind die Opportunitätskosten des eingesetzten Eigenkapitals, die unter Berücksichtigung der modelltheoretischen Restriktionen,162 der normativen Vorgaben etwa in § 7 Abs. 4 und 5 StromNEV und der Besonderheiten der betrachteten nationalen und internationalen Märkte der kalkulatorischen Eigenkapitalverzinsung entsprechen.163 3. Kostenstellenrechnung Die berücksichtigungsfähigen Netzkosten bilden die Grundlage für die Kostenstellenrechnung gem. den §§ 12 bis 14 StromNEV. Die Kostenstellenrechnung stellt das Bindeglied zwischen Kostenartenrechnung und Kostenträgerrechnung dar, indem sie die unterschiedliche Kostenentstehung in den einzelnen Teilbereichen eines Betriebes transparent macht.164 Nach allgemeinen Grundsätzen sind Kostenstellen als Orte der Kostenentstehung rechnungsmäßig abgegrenzte Teile des Gesamtbetriebes, für die die Kosten separat erfasst werden.165 Im Rahmen der StromNEV verteilt die Kostenstellenrechnung die ansatzfähigen Kosten – genauer: die auf der Basis der Netzkosten errechneten maximalen Erlöse nach den Vorgaben der ARegV – auf die betrieblichen Kostenstellen, in denen die Kosten angefallen sind. Anders als Einzelkosten können Gemeinkosten einem Kalkulationsobjekt nicht direkt zugerechnet werden, da sie von mehreren Kalkulationsobjekten gemeinsam verursacht werden. Einzel- und Gemeinkosten unterscheiden sich damit nach der Zurechenbarkeit zu einem Kalkulationsobjekt.166 Eine wesentliche Aufgabe der Kostenstellenrechnung liegt insoweit in der Erfassung der den Kostenträgern nicht direkt zurechenbaren Gemeinkosten am Ort des Kostenanfalls mittels einer Kostenschlüsselung.167 Vor diesem Hintergrund wird die Kostenstellenrechnung zuweilen auch als
161
Großfeld/Egger/Tönnes, Recht der Unternehmensbewertung (Fn. 59), Rn. 794. BNetzA, Beschl. v. 7. 7. 2008 – BK4 – 08 – 068, S. 14; ausführlich Großfeld/Egger/ Tönnes (Fn. 59), Rn. 802 ff. 163 Kleinlein/Schubert, NJW 2014, 3191 (3192). 164 Plinke/Rese/Utzig (Fn. 128), S. 85 f. 165 Springer Gabler Verlag, Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Kostenstelle, im Internet abrufbar unter http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/634/kostenstelle-v5.html (zuletzt abgerufen am 1. 12. 2017). 166 Friedl/Hofmann/Pedell (Fn. 58), S. 45. 167 Springer Gabler Verlag, Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Kostenstellenrechnung, abrufbar unter http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/1778/kostenstellenrechnung-v6.html (zuletzt abgerufen am 1. 12. 2017). 162
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Gemeinkostenrechnung bezeichnet.168 Welche Haupt- und Nebenkostenstellen zu bilden sind, ergibt sich aus Anlage 2 zur StromNEV. 4. Kostenträgerrechnung Schließlich sind im Rahmen der Kostenträgerrechnung gem. den §§ 15 bis 21 StromNEV für jede Netz- und Umspannstufe die konkreten Netzentgelte zu bilden.169 Gem. § 14 Abs. 3 S. 2 StromNEV haben sich die Kostenträger an den vorhandenen Netz- und Umspannebenen zu orientieren. Sie sind im Einzelnen nach Anlage 3 zur StromNEV zu bilden.170 In der Kostenträgerrechnung werden die in der Kostenartenrechnung erfassten und gegliederten Kostenarten gem. § 15 Abs. 2 StromNEV möglichst vollständig auf die Ausbringungsmengeneinheiten je Kostenträger aufgeteilt.171 Zentrale Leitschnur ist das Verursachungsprinzip, wie § 16 Abs. 1 S. 1 StromNEV klarstellt. Hiernach werden einem Bezugsobjekt diejenigen Einzelkosten zugerechnet, die von ihm verursacht werden, mit anderen Worten diejenigen Kosten, die wegfallen, wenn das Bezugsobjekt nicht erstellt wird.172 Die Zurechnung der netzbezogenen Gemeinkosten erfolgt demgegenüber nach § 12 S. 2 StromNEV indirekt über die Kostenstellenrechnung, wobei sie gem. § 12 S. 3 und 4 StromNEV ebenfalls verursachungsgerecht über eine angemessene, sachgerechte und transparente Schlüsselung erfolgen muss. Hierfür kann etwa auf das Proportionalitätsprinzip oder das Durchschnittsprinzip zurückgegriffen werden.173 Ein objektiv richtiges Verfahren für die Auswahl des im konkreten Fall geeigneten Verteilungsschlüssels existiert in der Betriebswirtschaftslehre nicht, weshalb sich die Kosten eines Produkts wohl niemals vollkommen exakt ermitteln lassen.174 Folglich verbleiben auch den regulierten Unternehmen gewisse Beurteilungsspielräume.175 Dies mag Bedenken zu entkräften helfen, wonach die Regulierung die Herstellung von Freiheit primär mit den Mitteln des Zwangs erstrebe.176 IV. Schlussbemerkungen Die Entgeltregulierung der Stromnetze bildet im Zusammenspiel zwischen Energiewirtschaftsgesetz, Stromnetzentgeltverordnung und Anreizregulierungsverord168
Plinke/Rese/Utzig (Fn. 128), S. 87. Zum Folgenden Plinke/Rese/Utzig (Fn. 128), S. 100. 170 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31. 8. 2016 – VI-3 Kart 116/15 (V), RdE 2017, 28 Rn. 31. 171 Allgemein Plinke/Rese/Utzig (Fn. 128), S. 100. 172 Friedl/Hofmann/Pedell (Fn. 58), S. 53. 173 Friedl/Hofmann/Pedell (Fn. 58), S. 54. 174 Ewert/Wagenhofer, Interne Unternehmensrechnung, 8. Aufl. 2014, S. 12. 175 Mengering (Fn. 13), S. 201. 176 Vgl. Schmidt-Preuß, in: FS R. Schmidt (Fn. 1), S. 547, 551; mit anderem Zungenschlag Säcker, ZNER 2004, 98, wonach Freiheit durch Wettbewerb und Wettbewerb durch Regulierung herzustellen sei. 169
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nung ein hochkomplexes, durch die Rechtspraxis immer weiter ausdifferenziertes Regelungssystem auf der Schnittstelle zwischen Recht und Ökonomie. Vor diesem Hintergrund ist es geboten, sich ihrer grundlegenden Zwecke, Prinzipien und Systematik in regelmäßigen Abständen zu versichern, um angesichts der spezifischen Einzelfragen nicht den Blick für die übergreifenden Zusammenhänge zu verlieren. Hierzu werden die wissenschaftlichen Werke von Matthias Schmidt-Preuß auch in Zukunft eine wertvolle Leitschnur geben.
Zum Aspekt der Wirtschaftlichkeit in der neuen Ordnung der kerntechnischen Entsorgung Von Hans-Christoph Pape, Berlin Die vergangene Legislaturperiode hat weitreichende gesetzliche Änderungen im Feld der kerntechnischen Entsorgung gesehen. Diese finden sich im Wesentlichen in dem Artikelgesetz zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung1 und den Änderungen des Standortauswahlgesetzes2 wieder. In Umsetzung der gesetzlichen Neuerungen sind eine Reihe organisatorischer Maßnahmen erfolgt, insbesondere die Gründung des Entsorgungsfonds, der Bundesgesellschaften für Zwischen- und Endlagerung, sowie der Aufsichtsbehörde für Entsorgungssicherheit. Der Aufbau der Organisationen ist noch im Gange, die Festlegung der Strukturen und Verfahren ist in ihren Einzelheiten noch nicht abgeschlossen. Den gesetzlichen und organisatorischen Änderungen liegt die allgemeine Vorstellung zugrunde, dass durch die getroffenen Vorgaben die gesellschaftliche Akzeptanz und das Vertrauen in ein faires Standortsuchverfahren und die Sicherheit der Endlagerlösung gestärkt werden kann und soll. Ein Aspekt, der neben der Bürgerbeteiligung und höchsten Sicherheitsstandards in der öffentlichen Erörterung nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, in der langfristigen Wahrnehmung aber eine zunehmende Bedeutung gewinnen dürfte, ist neben der Weiterentwicklung des Standes von Wissenschaft und Technik die Wirtschaftlichkeit der Entsorgungs-Aktivitäten über die kommenden Jahre und Jahrzehnte. Das Ziel der Wirtschaftlichkeit bildet einen Kern der gesetzlichen Vorgaben für die öffentlichen Haushalte (§ 7 BHO). Gleichzeitig werden die Begriffe Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit nicht selten als dem Ziel höchster Sicherheit entgegengesetzt wahrgenommen: Kostensenkung gleichsam als „Einsparung“ von Sicherheit. Eine von fachlichen Kriterien bestimmte, unabhängige Entscheidung zu den Sicherheitsanforderungen vorausgesetzt, gilt aber auch in diesem (nuklearen) Lebensbereich, dass unterschiedlich kostenträchtige oder -effiziente Maßnahmen und Umsetzungsarten zur Verfügung stehen können, um ein (Sicherheits-)Ziel zu erreichen. 1
Gesetz zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung vom 27. 1. 2017, BGBl. I, S. 114. Das Artikelgesetz ist mit Erteilung der beihilfenrechtlichen Genehmigung der Europäischen Kommission am 16. 6. 2017 in Kraft getreten. 2 Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle (Standortauswahlgesetz – StandAG) vom 5. 5. 2017 (BGBl. I S. 1074), zuletzt geändert durch Artikel 2 Absatz 16 des Gesetzes vom 20. 7. 2017 (BGBl. I S. 2808).
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Es liegt deshalb gleichermaßen im Interesse konkreter gesetzlicher Zweckerreichung wie langfristiger gesellschaftlicher Akzeptanz, in der kerntechnischen Entsorgung auch Wirtschaftlichkeit anzustreben. Die gesetzliche Neuordnung der Verantwortung für die kerntechnische Entsorgung setzt die Empfehlungen der Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs (KFK) um3 und zielt unter anderem auch darauf ab, durch die Bündelung der Finanzierungs- und Entsorgungsverantwortung in öffentlichen Händen die Bedingungen für eine verantwortungsbewusste und kosteneffiziente Gestaltung aus einem Guss4 zu verbessern. Dies ist eine deutliche Änderung gegenüber der Situation in der Vergangenheit, in der die Finanzierung in Händen der in wesentlichen Teilen privaten Kernkraftwerksbetreiber lag. Diese haben nun durch die Zahlung eines zusätzlichen Risikoaufschlages auf den Grundbetrag des Einzahlungsbetrages5 an den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsfonds ihre finanzielle Verantwortung vollständig erfüllt, sodass in der Zukunft allein der Fonds für die entstehenden Kosten einstehen wird. Dementsprechend wird die Berücksichtigung wirtschaftlicher Aspekte zukünftig dem Eigeninteresse des Staates und seiner Bürger dienen, und nicht wie bisher nur „fremde“ Eigentumsinteressen der Betreiber von Kernkraftwerken betreffen. Diese veränderte Interessenlage wird sich allerdings nur dann in einer verbesserten Berücksichtigung wirtschaftlicher Möglichkeiten niederschlagen, wenn sich anstelle der bisher vom Eigeninteresse der Kernenergieunternehmen angetriebenen kritischen Äußerungen zu Kostensteigerungen und Verzögerungen nun innerhalb der gänzlich in staatlichem Eigentum befindlichen Einrichtungen eine bewusste Wahrnehmung der Wirtschaftlichkeit als gesamtgesellschaftlichem Interesse entwickelt. Nicht auszuschließen wäre allerdings auch eine Verwirklichung des Risikos, dass mangels ausreichender organisatorischer Vorkehrungen innerhalb der nun gänzlich staatlich beherrschten Sphäre das Kriterium der 3 Empfehlungen der Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs (KFK-Empfehlungen), siehe www.bmwi.de/redaktion/DE/Downloads/B/bericht-derexpertenkommission-kernener-gie.pdf. 4 KFK-Empfehlungen S. 20 (Kapitel 4): „Nach Auffassung der Kommission soll künftig derjenige die finanzielle Sicherungspflicht haben, der auch die Pflicht zur Handlung in der Kette der nuklearen Entsorgung hat. Das ist unter dem Gesichtspunkt eines Gleichlaufs von Steuerung, Verantwortung und Haftung angemessen.“ S. 33 (Kapitel 4.10): „Die vorgeschlagene Zusammenführung der Handlungs- und finanziellen Sicherungspflichten stellt die Grundlage für einen neuen Entsorgungskonsens her …“. 5 Gemäß § 7 Abs. 2 S. 1 Entsorgungsfondsgesetz waren die Einzahlenden verpflichtet, einen in Anhang 2 des Gesetzes benannten Geldbetrag, der den abgezinsten zukünftigen Entsorgungskosten entspricht, in Barmitteln an den Fonds zu entrichten. Dem entsprach der Übergang der Finanzierungsverantwortung für Zwischen- und Endlagerung. Darüberhinaus hatten sie gemäß § 7 Abs. 3 S. 1 die Möglichkeit, einen Risikoaufschlag an den Fonds zu zahlen. Mit Einzahlung des Risikoaufschlages endete gemäß § 7 Abs. 3 S. 2 die Verpflichtung der Einzahlenden zur Leistung von etwaigen Nachschüssen in den Fonds gemäß § 8 Abs. 2. Am 3. Juli 2017 haben die Betreiber der Kernkraftwerke in Deutschland fristgerecht (der gesetzlich vorgesehene 1.7. war ein Samstag) und vollständig die Grundbeträge und Risikoaufschläge in Höhe von insgesamt 24.147.852.704 E in Barmitteln an den Fonds geleistet.
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Wirtschaftlichkeit verblasste und schleichend durch andere Einflussfaktoren und Gestaltungskriterien verdrängt würde. Im Folgenden soll verschiedenen Aspekten der Frage nachgegangen werden, welche strukturellen Vorgaben der gesetzlichen Neuordnung und daraus folgende organisatorische Gegebenheiten auf diese Themenkreise der Wirtschaftlichkeit der Entsorgung einwirken6. Vor dem Hintergrund der erfolgten Neuordnung der kerntechnischen Entsorgung in Deutschland bietet es sich an, folgende Themenkreise zu betrachten: I.
Die Wirtschaftlichkeit der Entsorgungsaktivitäten – Sie zielt auf die Verwirklichung kosteneffizienter Umsetzungsoptionen der Entsorgung.
II. Die Wirtschaftlichkeit der (Re-) Finanzierung durch den Fonds – Sie zielt auf sicheren und hohen finanziellen Erfolg der Anlage der eingezahlten Kapitalmittel und gleichzeitig Kosteneffizienz der Fonds-Verwaltung. III. Die Wirtschaftlichkeit aus der Koordinierung von Finanzierung und Entsorgung – Sie zielt auf die Optimierung von Entsorgungskosten und Kapitalerträgen durch Koordinierung beider Bereiche.
I. Wirtschaftlichkeit der kerntechnischen Entsorgungsmaßnahmen Den neu gegründeten staatlichen Gesellschaften für die Lagerung nuklearer Stoffe, der Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH (BGE) und der Bundesgesellschaft für Zwischenlagerung mbH (BGZ), obliegen die notwendigen Maßnahmen der Planung, der Errichtung, des Betriebs und des Verschlusses von Zwischen- und Endlagern.7 Die staatliche Beteiligung an diesen Gesellschaften hält und verwaltet das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU). Die sicherheitsbezogene Aufsicht wird auf Bundesebene durch das ebenfalls neu gegründete, aus dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) hervorgegangene Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) wahrgenommen. Für die entstehenden Kosten werden auf der Basis entsprechender Wirtschaftspläne der beiden Bundesgesellschaften und der Behörde Ansätze im Bundeshaushaltsplan (Einzelplan 16, Kapitel 1603 – Zwischenlagerung und Endlagerung radioaktiver Abfälle) festgelegt, die eine Erstattung der tatsächlich anfallenden Kosten durch das BMU über das jeweilige Haushaltsjahr erlauben. 6 Nicht erfasst sind Sachverhalte der Zwischen- und Endlagerung, die noch nach dem bisherigen System der Kostenerstattung durch die Betreiber von Kernkraftwerken gemäß EndlagervorausleistungsVO finanziert werden. 7 Die Übertragung der Handlungsverantwortung im Bereich der Zwischenlagerung auf die BGZ erfolgte auf Grundlage von § 2 Abs. 1 S. 3 Entsorgungsübergangsgesetz durch Bescheid des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Die Handlungsverantwortung im Bereich der Endlagerung wurde der BGE auf der Grundlage von § 9a Abs. 3 S. 2 Atomgesetz übertragen.
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Im Fall beispielsweise der BGZ stellt das BMU, jeweils für das vergangene Haushaltsjahr auf Grundlage der geprüften Jahresrechnung der Bundesgesellschaft, die Höhe der insgesamt angefallenen und erstatteten Kosten fest und macht durch Bescheid gemäß § 4 Abs. 2 S. 4 Entsorgungsübergangsgesetz gegenüber dem Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung (Entsorgungsfonds) die Auszahlung an den Bundeshaushalt, d. h. dessen Refinanzierung gemäß § 4 Abs. 1 Entsorgungsübergangsgesetz, geltend. Für die genannten Organisationen schreibt die BHO die Berücksichtigung der Prinzipien von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit vor. Für die im Bundes-Haushaltsplan vorgesehenen Haushaltsmittel des BMU sieht § 7 Abs. 1 S. 1 BHO die Beachtung der Grundsätze von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit verbindlich vor. Dies gilt für die Höhe der Haushaltsansätze ebenso wie für deren Einsatz. Auch die in privatrechtlicher Form gegründeten Lagergesellschaften des Bundes, BGZ und BGE, sind beim Einsatz der ihnen vom Bund zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel an die Wahrung der Grundsätze von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu binden8. Die entsprechende Prüfung durch Bundesrechnungshof und Parlament ist in den §§ 69, 69a, 90, 92 Abs. 1 und 104 BHO verankert. Für die Wirtschaftlichkeit des gesamten Vorgehens wird es dabei gerade in der aktuellen Phase des fortgeschrittenen Aufbaus wesentlich um die Frage gehen, ob ausreichende Vorkehrungen für eine wirtschaftlichkeitsförderliche Gestaltung der Strukturen und Verfahren bestehen. Relevante Einflüsse reichen dabei von Vorkehrungen zur kosteneffizienten Gestaltung einzelner Entsorgungsmaßnahmen über solche zur wirksamen Einbindung aller relevanten Akteure, um bestehende Synergien und Kostensenkungspotenziale angemessen nutzen zu können, bis hin zu einer effizienten Gestaltung der staatlichen Budgetkontrolle durch Parlament und Bundesrechnungshof. Wesentliche Bedeutung wird dabei zunächst der Ausübung der Beteiligungsverwaltung des BMU für die vollständig im Eigentum des Bundes stehenden Gesellschaften BGZ und BGE zukommen. Als Teil der Bundesregierung unterliegt das Ministerium dabei den Vorgaben der BHO zur Wirtschaftlichkeit. Diese Vorgaben können durch die Nutzung der in den jeweiligen Satzungen der Gesellschaften vorgesehenen Aufsichtsrechte und korrelierenden Pflichten und Anreizen der Geschäftsführung zur wirtschaftlichen Gestaltung ihrer Aufgaben erfüllt werden. Als Hilfsmittel für eine wirtschaftliche Ausgestaltung einzelner Maßnahmen wird man sich dabei auch auf bewährte Instrumente der externen Begutachtung und der öffentlich-rechtlichen Auftragsvergabe an externe Dienstleister stützen können. Als wichtiger struktureller Faktor für die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Entsorgungsmaßnahmen wird die institutionelle und funktionelle Unabhängigkeit der Beteiligungsverwaltung des BMU über die Vorhabenträger BGZ und BGE gegenüber der im selben Bundesministerium angesiedelten Aufsicht über die dem BMU nach8
Vgl. dazu auch § 18 Abs. 3 des Gesellschaftsvertrags der BGE (Internetseite BGE).
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geordnete Aufsichtsbehörde BfE anzusehen sein. Im Vergleich zur Vergangenheit, als die Funktionen des Vorhabenträgers und der Aufsicht in einer Behörde, dem BfS, vereint waren, ist dies ein deutlicher Fortschritt. Da sich der Gesetzgeber mit den entsprechenden Regelungen, z. B. im Fall der BGZ in § 2 Abs. 1 S. 2 2. Hs. Entsorgungsübergangsgesetz, gegen die Möglichkeit einer Aufteilung der Zuständigkeiten für Beteiligungsverwaltung und Behördenaufsicht jeweils auf verschiedene Ministerien entschieden hat, kommt es jetzt auf die stringente Trennung der Funktionen innerhalb des zuständigen Ministeriums BMU an, um die Vorgaben der einschlägigen EU-Richtlinie9 einzuhalten. Gleichzeitig wird es für die Wirtschaftlichkeitserfolge der Beteiligungsverwaltung der Bundesgesellschaften wesentlich auch auf die wirksame Einbindung der in anderen Teilen der Bundesregierung verfügbaren Fachkompetenzen ankommen. So liegen in BMBF und insbesondere BMWi langjährige Erfahrungen mit staatlichen Unternehmen im Bereich nuklearer Entsorgung und Renaturierung vor. Ebenfalls für die Aufsichtstätigkeit relevant sind die aus dortiger Projektförderung herrührenden Forschungsergebnisse und Daten zum Stand von Wissenschaft und Technik, insbesondere auch zu aktuellen Entwicklungen in der nationalen und internationalen Sicherheits- und Entsorgungsforschung. Bisher waren organisatorische Vorkehrungen zur Einbindung anderer Ressorts zwar wenig entwickelt; im Aufsichtsrat der BGE war ein Angehöriger des BMF vertreten, für die BGZ war kein Aufsichtsrat gebildet. Solche Gestaltungen sind aber der Anpassung in überschaubarer Zeit zugänglich. II. Wirtschaftlichkeit des Entsorgungsfonds Die zentrale gesetzliche Vorgabe für den Entsorgungsfonds ist die Vermehrung des von den Kraftwerksunternehmen eingezahlten Kapitalstocks über die kommenden Jahre und Jahrzehnte, um die zukünftig erwarteten Ausgaben für die nukleare Entsorgung decken zu können. Gemäß § 10 Abs. 1 EntsorgFondsG dürfen die Mittel des Fonds „nur zur Erfüllung des Fondszwecks“ nach § 1 Absatz 2 verwendet werden. Dieser besteht darin, „die Finanzierung der Kosten für die sichere Entsorgung der (…) radioaktiven Abfälle (…) zu sichern“. Dies deckt sich mit den KFK-Empfehlungen10.
9 Richtlinie 2011/70/EURATOM des Rates vom 19. 7. 2011 über einen Gemeinschaftsrahmen für die verantwortungsvolle und sichere Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle (ABl. L 199 vom 2. 8. 2011, S. 48). 10 KFK-Empfehlungen S. 35 „Der Fonds könnte schlank ausgestaltet werden und müsste seine Kosten selbst erwirtschaften. Gerade die Frage der Auszahlungen dieses sich am Ende auflösenden Fonds könnte ohne Konflikte zwischen unterschiedlichen Ressortzuständigkeiten aus einer Hand erfolgen. Ein solcher Fonds wäre vor allem gegenüber sachfremden Begehrlichkeiten und Eingriffen besser geschützt als ein Sondervermögen.“
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Gemäß § 12 Abs. 1 EntsorgFondsG gelten die für die Bundesverwaltung geltenden Bestimmungen des Haushaltswesens und damit auch der in § 7 BHO verankerte Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit für den Fonds entsprechend. Die Wirtschaftlichkeit des Entsorgungsfonds wird durch zwei Faktoren bestimmt: Zum einen geht es um die Kosteneffizienz der Fondsverwaltung, die neben dem administrativen Aufwand für die einzelnen Aktivitäten des Fonds maßgeblich auch durch die Vermeidung unnötiger Kosten beispielsweise in der Liquiditätssteuerung und bei der Auswahl von (standardisierten gegenüber individuellen) Anlageprodukten bestimmt wird. Zum anderen kommt es wesentlich auf den wirtschaftlichen Erfolg der Kapitalanlage an, um die für die Zukunft nötige Verzinsung und damit den erforderlichen Ausbau des Kapitalstocks zu erreichen. Das Gesamtergebnis beider Faktoren, Aufwand und Ertrag über die kommenden Jahrzehnte, entscheidet über die Erreichung des gesetzlichen Zwecks. Dafür sind folgende drei Elemente wesentlich: 1. Zügiger Aufbau der Organisation und Erstanlage; 2. Angemessene Verzinsung des angelegten Kapitals; 3. Inhaltliche Vorgaben für die Anlagepolitik. 1. Zügiger Aufbau einer effizienten Organisation und Erstanlage der Fondsmittel Erste wesentliche Bedingung für eine ertragreiche Anlage der eingezahlten Fondsmittel liegt im zügigen Aufbau einer handlungsfähigen und kosteneffizienten Organisation und in der zügigen Erstanlage der eingezahlten liquiden Mittel, um so Zeit und Umfang der derzeitigen Negativverzinsung der vorübergehenden Einlage bei der Bundesbank auf ein Mindestmaß zu begrenzen11. Dieser Organisations-Aufbau musste mit kürzestem zeitlichem Vorlauf stattfinden, ohne dass auf bereits vorhandene organisatorische Strukturen zurückgegriffen werden konnte. So war es von Vorteil, dass die Stiftung übergangsweise in den Räumen des BMWi mit entsprechender technischer Unterstützung starten und für die vorübergehende Erst-Einlage der eingezahlten Kapitalmittel und deren Verwaltung auf die Dienste der Bundesbank zurückgreifen konnte. Zügig wurden eigenes Personal rekrutiert und die notwendigen externen Dienstleister kontrahiert. Parallel zu diesem noch laufenden Aufbauprozess der Organisation der Stiftung wurden Vorgaben für die Anlagenpolitik entwickelt und das eigentliche Geschäft der Kapitalanlage und -verwaltung gestartet. Vor diesem Hintergrund ist es als Erfolg zu werten, dass mittlerweile über 10 % des Fondskapitals investiert worden sind und der Vorstand eine weitere Steigerung 11 Zwar fließen die Zinsaufwendungen des Fonds über die Abführung der BundesbankErträge indirekt dem Bundeshaushalt zu; sie gehen damit aber dem gesetzmäßigen Verwendungszweck der Entsorgungsfondsmittel verloren.
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der Anlagegeschwindigkeit angekündigt hat. Im Blick auf die noch ausstehende Anlage etwa des neunfachen Volumens wird deutlich, dass dieses scheinbar sehr befristete Übergangsproblem des Aufbaus und zügiger Erstanlage eine wesentliche, eigenständige Herausforderung für die Wirtschaftlichkeit des Gesamtvorhabens darstellt. 2. Verzinsung der Kapitalanlagen des Fonds Die den Empfehlungen der KFK und dem darauf basierenden Neuordnungsgesetz zugrundeliegende Kalkulation orientiert sich für den festgesetzten Grundbetrag der Einzahlungen an einer durchschnittlichen Verzinsung, wie sie auch in der Vergangenheit von den Kraftwerke-betreibenden Unternehmen erzielt wurde.12 Der zusätzlich eingezahlte Risikozuschlag führt zu einer zusätzlichen finanziellen Absicherung und rechnerischen Entlastung der gesamten Verzinsungsanforderungen. Diese Kalkulationen waren allerdings nur die rechnerische Grundlage für eine angemessene Festsetzung der Einzahlungsbeträge. Sie entlasten den Fonds in keiner Weise von der grundlegenden Zweckbestimmung in § 1 Abs. 2, die Finanzierung aller zukünftigen Ausgaben zu sichern. Daraus folgt, dass sich der Fonds gegebenenfalls nicht auf eine Argumentation zurückziehen könnte, dass er allein mit der Erfüllung einer prognostizierten oder geplanten Kapitalverzinsung seinen Verpflichtungen gerecht wird. Vielmehr ist der Fonds in seinem Verzinsungserfolg kontinuierlich daran zu messen, welche Erträge am Kapitalanlagemarkt jeweils faktisch möglich sind, um ihn so in der Lage zu halten, gegebenenfalls auch steigende Entsorgungskosten in der Zukunft in sicherer Weise abdecken zu können. Bei der für die erzielbare Renditehöhe wesentlichen Frage der Risikotragung wird der Fonds zwei erhebliche Vorteile nutzen können. Zum einen steht ihm mit dem Risikoaufschlag ein bedeutender Pufferbetrag zur Kompensation zwischenzeitlicher Börsenwertschwankungen zur Verfügung. Zum anderen wird es ihm der hohe Anteil von Zahlungsverpflichtungen, die erst in mehreren Jahrzehnten anfallen werden, erlauben, Marktschwankungen ohne Zwang zum Verkauf der entsprechenden Wertpapiere auszuhalten. Gleichzeitig steht er nicht wie die meisten anderen Fonds unter dem Druck, permanent zusätzliche Kapitalmittel zu akquirieren und dies durch Image fördernde Maßnahmen zu begleiten. 3. Inhaltliche Vorgaben für die Kapitalanlagen des Fonds Neben den grundlegenden gesetzlichen Zweck, die Finanzierung der Kosten der nuklearen Entsorgung zu sichern, indem die eingezahlten Kapitalmittel angemessen verzinst werden, treten mit den Bestimmungen der AnlageRL in dessen §§ 1, 2 und 4 Abs. 1, 3 rechtlich bindende inhaltliche Vorgaben für die Anlageentscheidungen des Fonds. 12 Siehe die Ergebnisse des sog. Stresstests von WKGT und der KFK-Empfehlungen. Darin wird eine durchschnittliche jährliche Verzinsung von 4,58 % festgestellt bzw. vorgesehen.
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Zum einen handelt es sich dabei in Gestalt der §§ 1, 2 und 4 Abs.1 AnlageRL um Bestimmungen, die in entsprechender Anwendung bekannter Regelungen im Versicherungsaufsichtsgesetz und der Pensionfonds-Aufsichtsverordnung zur Begrenzung finanzieller Risiken beitragen sollen. Hier kann sich der Fonds an langjähriger Praxiserfahrung anderer Unternehmen und Behörden orientieren. Die Bestimmung in § 4 Abs. 3 S.1 AnlageRL verpflichtet den Vorstand, bei seinen Anlageentscheidungen den gegen Investitionen in Kernkraftwerks-Unternehmen gerichteten Beschluss des Deutschen Bundestages zu berücksichtigen. Auch wenn man daraus eine Ablehnung von Investitionen in Unternehmen ableitet, die nur indirekt an Kernkraftwerken beteiligt sind, so wird sich die dadurch ausgeschlossene Gruppe von Anlagemöglichkeiten vergleichsweise klar abgrenzen lassen und in seiner Auswirkung auf das verfügbare Anlageuniversum überschaubar bleiben. Unklarer ist dies bei der Auslegung der Bestimmung in § 4 Abs. 3 S. 2. AnlageRL. Sie sieht vor, dass „der Vorstand [integriert] in die Anlagestrategie ESG (Environmental, Social, Governmental)-Kriterien“ integriert. Je nach Ausgestaltung der einzelnen Kriterien könnte dies zu weitreichenden Ausschlüssen von Unternehmen als Anlageobjekten führen, so dass sich daraus nachteilige Wirkungen auf verfügbare Liquidität und Renditechancen für den Fonds ergeben könnten. Hier wird abzuwägen sein, inwieweit der gesetzliche Zweck der ertragsstarken und sicheren Anlage durch ergänzende inhaltliche Vorgaben eingeschränkt werden soll und darf. Dabei sind Situationen denkbar, in denen z. B. die Erfüllung von Kriterien guter Governance gleichzeitig auf längerfristig vertrauenswürdige Strukturen und belastbare Ertragsaussichten schließen lassen. Demgegenüber sind aber auch Konstellationen vorstellbar, in denen strengere Vorgaben z. B. zu sozialen oder Umweltkriterien von der Mehrheit der Anleger im Markt nicht geteilt werden und so zu einer Einschränkung renditestarker Anlagemöglichkeiten für den Fonds führen würden. Ein besonderer Aspekt wird die Frage sein, ob der Fonds eine Art Vorreiterrolle für die Anlagepolitik des Bundes einnehmen sollte und inwieweit dies gegebenenfalls dazu führen würde, dass er faktisch gehindert wäre, Standard-Anlageformen des Marktes zu nutzen. Dies könnte im Ergebnis nicht nur zu niedrigerer Wertsteigerung/Verzinsung führen, sondern würde im Vergleich zu administrativ einfach handhabbaren Standardprodukten des Marktes auch höhere Bearbeitungs- und Verwaltungskosten nach sich ziehen. 4. Umsetzungsfragen der Wirtschaftlichkeit des Fonds Die verschiedenen Aspekte der Wirtschaftlichkeit des Fonds spiegeln sich in den der Umsetzung dienenden Bestimmungen des § 12 EntsorgFondsG. Gemäß § 12 Abs. 1 EntsorgFondsG sind die für die Bundesverwaltung geltenden Bestimmungen des Haushalts-, Kassen- und Rechnungswesens auf den Fonds entsprechend anzuwenden.
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Daneben enthält § 12 Abs. 3 EntsorgFondsG konkrete Vorgaben zur Buchführung. Unbeschadet der Verpflichtungen des Fonds als bundesunmittelbarer juristischer Person des öffentlichen Rechts nach den §§ 108 und 109 BHO ist der Fonds gemäß § 12 Abs. 3 S. 1 EntsorgFondsG verpflichtet, „die Entwicklung der nach § 9 erfolgten Vermögensanlagen, den Bestand des Fonds einschließlich der Forderungen und Verbindlichkeiten sowie die Einnahmen nach § 7 und Ausgaben nach § 10 nachzuweisen.“ Für die Zwecke der laufenden Aufsicht und der späteren Rechnungsprüfung sollen demnach in der Jahresrechnung einerseits der aktuelle Bestand einschließlich der Zu- und Abgänge finanzieller Mittel beim Entsorgungsfonds nachvollziehbar gemacht werden; andererseits soll mit dem Nachweis der Entwicklung der Vermögensanlagen ein Bild der tatsächlichen Wertentwicklung des Bestandes vermittelt werden. Dabei wird sich natürlich auch die Frage nach der angemessenen Behandlung stiller Reserven stellen. Mit der Vorgabe, die Angaben in der Jahresrechnung, und nicht nur in Berichten an Kuratorium und Bundesregierung aufzuführen, wird auch eine direkte Informationsquelle für die Öffentlichkeit geschaffen. Darüber hinaus ergeben sich aus § 12 Abs. 2 EntsorgFondsG bzw. § 22 der Satzung des Fonds halbjährliche bzw. vierteljährliche Berichtspflichten über die aktuelle Geschäftsentwicklung gegenüber den drei aufsichtführenden Ministerien. § 15 Abs. 3 der Satzung sieht entsprechende Berichtspflichten gegenüber dem Kuratorium vor. Diese fallen im vierten Quartal mit der Vorlage der Jahresrechnung zusammen. Die rechtlichen Vorgaben zur Durchsetzung der Wirtschaftlichkeitsziele des Fonds durch Führung, Kontrolle und ggf. Zwang des Fonds vervollständigen das Bild. Die Verantwortung für die Durchsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben zur Wirtschaftlichkeit der Fonds-Verwaltung liegt auf mehreren Schultern. Gemäß § 5 EntsorgFondsG führt der Vorstand die Geschäfte der Stiftung, d. h. er ist für das tägliche Geschäft der Anlage von Kapitalmitteln zuständig und kann dazu entsprechend näherer Vorgaben der Satzung externe Dienstleister beauftragen. Er ist bei seiner Geschäftsführung an die Beschlüsse des Kuratoriums gebunden. Gemäß § 5 Abs. 4 EntsorgFondsG legt der Vorstand dem Kuratorium auf Grundlage der allgemeinen Marktentwicklung die grundsätzliche Ausrichtung der Anlageentscheidungen zur Entscheidung vor und schreibt die Anlagepolitik mindestens einmal im Jahr fort. Durch dieses Initiativrecht kommt ihm faktisch auch hinsichtlich der grundsätzlichen Ausrichtung des Fonds eine große Gestaltungsmacht zu. Gemäß § 4 Abs. 1 S. 1, 3 EntsorgFondsG entscheidet das Kuratorium über die grundsätzlichen Fragen, also beispielsweise über die Leitlinien der Anlagepolitik, und überwacht den Vorstand bei der diesem gemäß § 5 obliegenden Ausführung der Kuratoriumsbeschlüsse und Führung der Geschäfte13. Der in § 11 Abs. 1 ver13
hen).
Näheres dazu in §§ 5 – 18 der Satzung (wie in § 4 Abs. 1 S. 4 EntsorgFondsG vorgese-
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pflichtend vorgegebene Finanz- und Wirtschaftsplan des Fonds ist jährlich zu aktualisieren und vom Kuratorium zu genehmigen. Gemäß Absatz 2 sind dazu Szenarien zu erstellen, die alle drei Jahren zu aktualisieren sind. Absatz 3 sieht eine Genehmigungspflicht durch das BMWi im Einvernehmen mit BMF und BMU für diese Planungen des Fonds vor, wobei im Gesetz eine auf der Grundlage der bisherigen und der zukünftigen Kosten- und Zinsentwicklung erstellte Kalkulation über die Angemessenheit der Finanzausstattung des Fonds besonders herausgestellt wird. Die Genehmigung geht über die in § 13 EntsorgFondsG festgelegte Rechtsaufsicht über die Tätigkeit des Fonds insoweit hinaus, als die Prüfung der Fondsplanungen nicht auf rechtliche Kriterien begrenzt ist. Die auf Grundlage von § 9 Abs. 2 EntsorgFondsG vom BMF erlassenen Anlagerichtlinien (AnlageRL)14 sehen in § 3 verbindlich die Einrichtung eines das Kuratorium beratenden Anlageausschusses vor. Der Anlageausschuss soll gewährleisten, dass dem Kuratorium an jeder Stelle seiner Führungs- und Aufsichtsfunktion unabhängig vom Vorstand der Stiftung bestqualifizierte Wertung und fachliche Unterstützung zur Verfügung steht. Weitere Bestimmungen zur Arbeit des Anlageausschusses finden sich in der Satzung des Fonds. Gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 EntsorgFondsG kann das Kuratorium auch die Bundesbank beratend hinzuziehen. Auch die Betrauung externer Dienstleister ist nicht ausgeschlossen. Dem Kuratorium kommt damit eine bestimmende Rolle bei der Ausrichtung der Anlagepolitik zu: Aufgrund der allgemeinen Ermächtigung in § 4 Abs. 1 EntsorgFondsG, über alle grundsätzlichen Fragen zu beschließen, die mit der Erfüllung des Stiftungszwecks zusammenhängen, hätte er sogar die Möglichkeit, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben (insbesondere der AnlageRL) auch eigenständig Grundsätze der Anlagepolitik zu entwickeln; legt der Vorstand Vorschläge für eine Anlagestrategie vor, so obliegt dem Kuratorium gegebenenfalls beraten durch den Anlageausschuss die Letzt-Entscheidung. Diese Prüfungs- und Genehmigungssituation hinsichtlich der grundsätzlichen Ausrichtung der Anlageentscheidungen des Fonds ergibt sich mindestens einmal jährlich durch die gesetzliche Verpflichtung des Vorstandes, die Anlagepolitik mindestens einmal im Jahr fortzuschreiben. Damit ist gewährleistet, dass das Kuratorium kontinuierlich in die Anlagepolitik des Fonds einbezogen wird und gegebenenfalls nötige Anpassungen zeitnah und im Einklang mit dem Kuratorium erfolgen. Falls nötig, kann es aber jederzeit auch eigenständig oder auf Vorschlag des Vorstandes Beschlüsse zu grundsätzlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Stiftungszweck, also auch der Wirtschaftlichkeit der Anlagepolitik, treffen. Dies wird insbesondere dann relevant werden, wenn sich in der tatsächlichen Anlagepraxis des Vorstandes Fragen ergeben, in denen der Vorstand und/oder das Kuratorium drin14 Allgemeine Verwaltungsvorschrift für die Stiftung „Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung“ gemäß § 9 Abs. 2 S. 1 des Entsorgungsfondsgesetzes vom 27. 6. 2017, BAnz AT 30. 06. 2017 B1, S. 1.
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genden Entscheidungsbedarf sieht/sehen. Dies wäre etwa dann denkbar, wenn sich zwischen Vorstand einerseits und Kuratorium und Anlageausschuss andererseits Klärungsbedarf zum Erfolg laufenden Anlagegeschäfts oder Auslegungsunterschiede zu inhaltlichen Vorgaben der Anlagepolitik, wie z. B. zur Konkretisierung von ESG-Kriterien und deren Auswirkung auf die Wirtschaftlichkeit, ergäben. In einer solchen Konstellation erhielte die Regelung in § 3 AnlageRL besondere Bedeutung, dass der Anlageausschuss nicht nur allgemein für den Fonds, sondern „zur Beratung des Kuratoriums“ einzurichten ist. Zusätzlich obliegt dem Kuratorium die Überwachung der Geschäftsführung: Auf Grundlage der Berichte des Fonds-Vorstands, der Erörterungen in den Kuratoriumssitzungen und den im Wesentlichen durch den Vorsitz des Kuratoriums in den sitzungsfreien Perioden aufrechtzuerhaltenden Informationsaustausch hat sich das Kuratorium kontinuierlich zu vergewissern, dass die vorgesehenen Strukturen funktionieren und besondere Herausforderungen zeitgerecht wahrgenommen und bearbeitet werden. Daneben steht die Rechtsaufsicht des Bundes, die durch das BMWi im Einvernehmen mit BMF und BMU ausgeübt wird. Sie dient der Vorabklärung und nachträglichen Kontrolle der Einhaltung der maßgeblichen rechtlichen Vorschriften. Dass dabei in den laufenden Kontakten auch Informationen ausgetauscht werden, die erkennen lassen, ob die rechtlich bindenden Beschlüsse des Kuratoriums eingehalten werden, trägt dazu bei, dass keinerlei „rechtsfreie Räume“ entstehen. Zur Durchsetzung von Entscheidungen steht der Rechtsaufsicht das Instrument der Weisung zur Verfügung. Eine besondere Eingriffsbefugnis ordnet das Gesetz darüber hinaus in § 5 Abs. 5 S. 1 EntsorgFondsG an: Danach kann die Bundesregierung „konkrete Anlagevorhaben durch Weisung untersagen“. Unabhängig von der im Einvernehmen mit BMF und BMU auszuübenden Rechtsaufsicht des BMWi ist hierdurch die Möglichkeit gegeben, übergeordnete staatliche Interessen im Einzelfall durch Weisung an den Vorstand durchzusetzen. Diese Befugnis ist auch unabhängig von der Berechtigung des Kuratoriums aus § 4 Abs. 1 und § 5 Abs. 4 S. 1 EntsorgFondsG, grundsätzliche Fragen bzw. die grundsätzliche Ausrichtung der Anlageentscheidungen des Fonds zu bestimmen und die Geschäftsführung des Vorstands zu überwachen. Angesichts der hälftigen Besetzung des Kuratoriums mit Vertretern der Bundesregierung und zusätzlich der Vertretung der die jeweilige Regierung tragenden Fraktionen in der anderen Hälfte der Kuratoriumsmitglieder ist nur im Ausnahmefall vorstellbar, dass die Bundesregierung darauf angewiesen sein sollte, von diesem Instrument des Durchgriffs auf konkrete Anlagevorhaben Gebrauch zu machen. Denkbare Anwendungsfälle dieser Ermächtigung wären Investitionsvorhaben des Fonds, sofern sie der wirtschaftlichen Zweckbindung des Fonds zuwiderliefen. Vorstellbar wäre auch, dass der Bund auf diesem Weg übergeordnete Interessen z. B. im außen- oder sicherheitspolitischen Bereich verwirklichte. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit sich der gesetzliche Begriff des konkreten Anlagevorhabens nicht nur auf die Untersa-
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gung konkreter Investitionsvorhaben, sondern auch auf die Untersagung konkreter Vorhaben zur Gestaltung der Anlage-Politik des Fonds anwenden lässt. Dabei wäre beispielsweise an eine Entscheidung des Vorstandes zu denken, bestimmte Gruppen von Unternehmen oder ein einzelnes Unternehmen wegen grundsätzlicher Vorbehalte von weiteren Anlagen des Fonds auszuschließen. Hier können sich vergleichbare Widersprüche zum Zweck der Wirtschaftlichkeit der Anlageentscheidung ebenso ergeben, wie es im Fall einer konkreten Investitionsentscheidung für ein wenig ertragsstarkes Anlageobjekt auftreten könnte. Ebenso könnte der Bund bei solchen Vorhaben zur Gestaltung der Anlagepolitik des Fonds auch in übergeordneten Interessen z. B. der Außen- oder Sicherheitspolitik betroffen sein.
III. Die Wirtschaftlichkeit aus der Koordinierung von Finanzierung und Entsorgung Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit der kerntechnischen Entsorgung hat neben den jeweiligen inneren Verhältnissen bei Fonds und Vorhabenträgern auch die wirtschaftlichkeitsorientierte Koordinierung von Fonds und Entsorgung. Zunächst kommt es dabei auf die effiziente Abstimmung der Liquiditätssteuerung des Fonds auf die zukünftigen Ausgabentermine für Entsorgungsmaßnahmen an, d. h. es ist zu gewährleisten, dass sich der Fonds in der Bewirtschaftung seiner Kapitalmittel rechtzeitig auf die Zahlungstermine für die Ausgaben der Zwischen- und Endlagerung einstellen kann. Gemäß § 11 Abs. 4 S. 2 Entsorgungsfondsgesetz (EntsorgFondsG) teilt der Bund dem Fonds bis Ende September jeden Kalenderjahres auf der Grundlage der Planung für den Bundeshaushalt die für die nächsten drei Kalenderjahre geplanten Entsorgungsmaßnahmen und die zu erwartenden Kosten mit. Gemäß Satz 1 ist der Bund allgemein verpflichtet, den Fonds so rechtzeitig über die geplanten Kostenfolgen der zukünftigen Entsorgungsmaßnahmen zu unterrichten, dass der Fonds darauf eine Planung der Anlage und zeitgerechten Liquidität der Fondsmittel gründen kann. Dem ist die Obliegenheit der Beteiligungsverwaltung an BGZ und BGE zu entnehmen, im allgemeinen Haushaltsinteresse des Bundes den Fonds auch zu anderen Zeitpunkten zu informieren, sofern für den Fonds relevante Veränderungen der Ausgabenplanung eingetreten sind. Sofern die Veränderungen zum Zeitpunkt ihres Eintritts einen ausreichenden Vorlauf für angemessene Anpassungen des Fonds nicht mehr zulassen würden, ist das Gesetz so auszulegen, dass auch bereits über vorläufige Planungen zu unterrichten ist, damit der Fonds sich rechtzeitig vorbereiten kann. Die Frage, wann genau die Kriterien für eine solche unterjährige Unterrichtungsverpflichtung gemäß § 11 Abs. 4 S. 1 EntsorgungsfondsG erfüllt sind, dürfte im Einzelfall schwer zu beantworten sein. Im Interesse an einer Vermeidung rechtlicher Streitigkeiten und der Gewährleistung bestmöglichen Informationsaustausches erscheint es daher sinnvoll, durch organisatorische Maßnahmen für einen möglichst kontinuierlichen Informationsaustausch zu sorgen, der unabhängig von der konkre-
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ten Unterrichtungspflicht wirkt. Hier ist insbesondere an die gegenseitige Beteiligung in Aufsichtsgremien und die Einführung regelmäßigen unterjährigen Informationsaustausches zu denken. Eine weitergehende Optimierung wäre dergestalt vorstellbar, dass verschiedene, gleichermaßen zur Erreichung des Entsorgungszwecks geeignete Maßnahmen danach ausgewählt und gestaltet werden, dass damit ein möglichst vorteilhafter finanzieller Effekt in Richtung auf eine Senkung der Finanzierungskosten bzw. Erwirtschaftung zusätzlicher Kapitalerträge erreicht werden kann. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung mit diesem konkreten Inhalt ist nicht erkennbar. Die Vorgabe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit in § 7 BHO bezieht sich aber auf das staatliche Budget als Ganzes und strebt die wirtschaftlichste Gesamtlösung an. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass über die rechtzeitige Nennung der Entsorgungskostenplanung an den Fonds hinaus, die Verwaltung der staatlichen Beteiligungen an den beiden Vorhabenträgern der Zwischen- und Endlagerung gehalten ist, im Interesse der Wirtschaftlichkeit des Gesamtvorhabens bei ihrer Entsorgungsplanung auch Optimierungspotenziale im Bereich der Kapitalanlage des Fonds auszuschöpfen. Dies macht natürlich nicht nur einen angemessenen Informationsaustausch, sondern eine Gesamtplanung möglichst „aus einem Guss“ notwendig. Alle beteiligten Vertreter des Bundes sind in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich auf das Gebot der Wirtschaftlichkeit und die jeweilige gesetzliche Zielerreichung verpflichtet. Sie sind daher gehalten, auf eine übergreifende Gesamtplanung und -umsetzung aus einem Guss hinzuwirken. Dies wird durch geeignete Abstimmungsverfahren und institutionelle Vorkehrungen wie gegenseitige Beteiligung in Aufsichtsgremien zu erreichen sein. So wäre ein angemessener Informationsaustausch zwischen Fonds und Vorhabenträgern einzurichten. Auch ein eigenständiges Abstimmungsgremium mit unmittelbarer Beteiligung der Vorhabenträger und des Fonds könnte dazu sinnvoll sein. In der Aufsichtsebene sollten eine Vertretung der Beteiligungsverwaltung des BMU in Bundes- und Rechtsaufsicht und Kuratorium ebenso dazu gehören wie eine Beteiligung von BMWi und BMF in Aufsichtsgremien der Vorhabenträger BGZ und BGE. Darüber hinaus liegt es in der Verantwortung von Bundesregierung, Bundesrechnungshof und Parlament, Ergebnisse und weitere Entwicklung kontinuierlich zu verfolgen und, soweit erforderlich, laufende Einigungsprozesse zwischen den unmittelbar Beteiligten aufrechtzuerhalten und zu unterstützen. IV. Ergebnis Im Ergebnis kann man davon ausgehen, dass die Bedingungen für die Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit der Entsorgung durch die Zusammenfassung der Ge-
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samtverantwortung für die Gestaltung der Entsorgung und für die Finanzierung in einer, der öffentlichen, Hand verbessert worden sind; ein Erfolg für angemessenen Rang und Schutz der Wirtschaftlichkeit letztlich aber von der weiteren Ausgestaltung und Nutzung der jeweiligen Befugnisse und Verfahren in der Zukunft abhängen wird. Herausforderungen zeigen sich in beiden Bereichen: Bei der wirtschaftlichen Ausgestaltung der Entsorgungsmaßnahmen wird es sehr darauf ankommen, dass die Vorhabenträger das Ziel der Kosteneffizienz angemessen schon bei ihren strukturellen Entscheidungen berücksichtigen, insbesondere bei der Einbindung von relevantem Erfahrungswissen aus anderen staatlichen Bereichen. Darauf hat die staatliche Beteiligungsverwaltung hinzuwirken, ebenso wie indirekt die Kontrolle durch Bundesrechnungshof und Parlament. Die Wirtschaftlichkeit der Finanzierung ergibt sich aus der Kosteneffizienz der Fonds- und Kapital-Verwaltung und der Höhe der erwirtschafteten Kapitalerträge. Dabei wird es bedeutsam sein, geeignete und effiziente Kontrollmechanismen einzuüben, mögliche Zusammenhänge zwischen Anlagearten und Verwaltungskosten transparent zu machen und die Wirkungen geplanter Anlagestrategien rechtzeitig vorher einzuschätzen, um das Ziel der Refinanzierung der Entsorgungsmaßnahmen nicht zu beeinträchtigen. Bei allem ist klar: Die Erstanlage ist bislang erst zu einem Bruchteil erfolgt und muss zügig vorangebracht werden. Die schwierigsten Fragen dürften längerfristig in der optimierten Koordinierung der beiden Bereiche der Entsorgungsplanung und der Finanzierungsplanung liegen. Eine wesentliche Vorbedingung für Erfolge in diesem Bereich können die Vorhabenträger bzw. die Beteiligungsverwaltung dadurch leisten, dass die Entsorgungsplanung und Informationen über mögliche Änderungen dem Fonds möglichst frühzeitig mitgeteilt werden, so dass die Kapitalanlage entsprechend angepasst werden kann. Darüber hinaus obliegt es der staatlichen Beteiligungsverwaltung, durch rechtzeitige Aufnahme von Informationen über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Kapitalanlagen des Fonds darauf hinzuwirken, dass diese gegebenenfalls bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Gestaltungsoptionen im Entsorgungsbereich berücksichtigt werden können. Dies verstärkt die Notwendigkeit einer gesicherten Einbindung der Fonds-Verwaltung in die Entscheidungsfindungsmechanismen im Entsorgungsbereich. Die Berücksichtigung des Fonds und der aufsichtführenden Ressorts in den Aufsichtsgremien der Vorhabenträger wäre ein geeigneter Schritt in dieser Richtung. Die derzeitige Situation gut ein Jahr nach Inkrafttreten des gesetzlichen Rahmens zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung ist durch Aufbauerfolge und bleibende Herausforderungen für eine wirtschaftliche Entwicklung gekennzeichnet. Die erreichten Fortschritte beim Aufbau der neuen Strukturen und Verfahren bilden eine gute Grundlage, um jeweils den nötigen Blick auf die anderen Beteiligten und Bereiche zu verbessern und die kommenden Herausforderungen für eine wirtschaftliche Gestaltung der kerntechnischen Entsorgung in Deutsch-
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land durch ein geschicktes Fein-Tuning von Beteiligungsstrukturen und Verfahren zu unterstützen. Vielleicht passt das Bild eines schweren Lastwagens in der Beschleunigung: Die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Systems hat sich bereits gezeigt; mit steigender Geschwindigkeit kommt es jetzt zunehmend auf Übersicht und Akkuratesse bei jeder Lenkbewegung an. In diesem Sinne wird es für die Wirtschaftlichkeit der Entsorgung essentiell sein, den gesetzlich vorgegebenen Kurs mutig und sachkundig weiter zu verfolgen und die (Wirtschaftlichkeits-)Wirkungen im Vorhinein gut zu bedenken.
Ersatzversorgungssituationen, Anschlussnutzungsverträge und Notstromentnahme im Übertragungsnetz Von Kai Uwe Pritzsche, Berlin* Sind Letztverbraucher direkt an die Hoch- oder Höchstspannungsleitungen des Übertragungsnetzes angeschlossen, so sind viele energierechtliche Bestimmungen des Verbraucherschutzes, wie die §§ 36 und 38 EnWG zur Grund- und Ersatzversorgung oder die Niederspannungsanschlussverordnung, nicht anwendbar, da sie auf das Niederspannungsnetz beschränkt sind. Mit der zunehmenden Differenzierung der Energieversorgung im Rahmen der Liberalisierung des Energiemarkts und der Energiewende wachsen aber die Komplexität der Strukturen im Netz und das Risiko des Ausfalls von Stromversorgern. Letzteres haben beispielsweise die Insolvenzen von Teldafax 2011, Flexstrom 2013 oder von Care Energy im Jahr 2017 gezeigt. Außerdem können auch andere Situationen entstehen, in denen für Stromlieferungen unerwartet die vertragliche Grundlage fehlt.1 Fällt dem normalen Haushaltskunden sein Stromlieferant aus, so springt nach § 38 i.V.m. § 36 EnWG der örtlich zuständige Grundversorger2 als Ersatzversorger ein. Wie ist dies jedoch, wenn der Kunde, dessen Versorger „ausfällt“, direkt an eine höhere Spannungsebene angeschlossen ist, etwa das Hoch- oder Höchstspannungsnetz eines Übertragungsnetzbetreibers (ÜNB)? Kann der Netzkunde auch bei Belieferung aus dem Übertragungsnetz verlangen, dass er auch bei Ausfall seines Lieferanten weiter mit Strom versorgt wird, darf oder gar muss der ÜNB dies trotz der Entflechtung übernehmen und worauf kann der ÜNB dann gegebenenfalls seinen Anspruch auf Bezahlung des entnommenen Stroms stützen? Der Jubilar, Herr Prof. Dr. jur. Matthias Schmidt-Preuß, hat in seiner Arbeit immer ein besonderes Interesse für die Schnittstellen staatlicher Regelung und der Privatwirtschaft gehabt, was sich insbesondere auf Fragen der energierechtlichen Regulierung fokussiert hat.3 Er hat diese Entwicklung seit dem Anfang der Liberalisierung * Für Vorarbeiten im Rahmen eines Vermerks zu einem verwandten Thema, auf die ich zur Erarbeitung dieses Beitrags zurückgreifen durfte, danke ich Frau Julia Sack, Managing Associate im Berliner Büro von Linklaters LLP, und Frau Dr. Christina Heber, Associate im Berliner Büro von Linklaters LLP. 1 Vgl. die Aufzählung solcher möglichen Situationen bei Eder, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierechtskommentar, 60. EL Juni 2008, § 38 EnWG Rn. 14. 2 Zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit des Grundversorgers vergleiche Busche, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, 2014, § 36 Rn. 34 ff. 3 Siehe beispielsweise Schmidt-Preuß, in: FS Kühne, 2009, S. 329 ff.; ders., in: Bien/ Ludwigs (Hrsg.), Das europäische Kartell- und Regulierungsrecht der Netzindustrien, 2015,
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Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts mitverfolgt, begleitet und mitgestaltet. So merkte er 2015 zusammenfassend an, dass im Energierecht „prozessuale Tatbestände und materielle Anforderungsprofile in innovativ-operativen Gesamttatbeständen regelmäßig konvergieren“.4 Diese als Prozess zu verstehende gegenseitige Bedingung von Norm und Praxis gilt im Energiemarkt und im Energierecht, die stark von typisierten Regelungen unterhalb der Gesetze wie Verordnungen, Festlegungen und Standardverträgen geprägt sind, nicht nur für die Tätigkeit des Gesetzgebers, sondern auch für die Regelsetzung Privater. Die von dem Jubilar mitgeprägten verfahrensrechtlichen und materiellen Grundsätze des Energierechts, beispielsweise zum Eigentumsschutz und zur Entflechtung der Netzbetreiber, werden heute in der durch Regulierung und Energiewende geprägten neuen Energiewelt einem besonderen Stresstest unterzogen, in der sie sich bewähren müssen. Dies soll vorliegend in einer für die Stromversorgung typisch komplexen Situation untersucht werden. Der Beitrag geht der Frage nach, welche Regelungen gelten, wenn bei Belieferung eines Kunden mit Strom direkt aus Spannungsebenen oberhalb der Niederspannung der Stromlieferant ausfällt bzw. nicht nahtlos ein neuer Lieferant die Stromlieferung übernimmt. Welche gesetzlichen oder vertraglichen Regelungen greifen dann ein? I. Grund- oder Ersatzversorgung im Übertragungsnetz? Auch bei einem Netzanschluss auf höheren Spannungsebenen können Situationen auftreten, bei denen es zu Stromlieferungen kommt, die keinem Stromlieferanten zugeordnet werden können. Zwar werden in der Regel nur große Kunden an das Hochoder Höchstspannungsnetz angeschlossen, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie professionell mit ihren Stromlieferverträgen umgehen. Schließlich hängt häufig die gesamte Produktion oder der Geschäftsbetrieb von einer kontinuierlichen Stromversorgung ab. Abgesehen von den Fällen von Großkunden gibt es aber auch im Hoch- und Höchstspannungsnetz auch andere Situationen. So sind beispielsweise an Kundenanlagen von Großverbrauchern, die an höhere Spannungsebenen angeschlossen sind, entsprechend der Definition in § 3 Nr. 24a EnWG regelmäßig kleinere Letztverbraucher angeschlossen. Man denke beispielsweise an eine verpachtete Kantine oder kleinere Fremdfirmen auf einem Industriegelände. Da Kundenanlagen nach § 3 Nr. 16 EnWG aber keine Elektrizitätsversorgungsnetze sind, können auch die an das Kundennetz angeschlossenen kleineren Kunden ohne Vermittlung eines Verteilernetzes an höhere Spannungsebenen angeschlossen sein. Gleichzeitig wird der Wettbewerb um die Belieferung gewerblicher Kunden aber immer schärfer und viele der Lieferanten haben nicht mehr die Größe und Leistungsfähigkeit der früheren vertikal integrierten Lieferanten, so dass das Insolvenzrisiko S. 11 ff.; ders., Verfassungsrechtliche Grundlagen der Energiepolitik, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, 2010, Einleitung C, S. 68 ff. 4 Schmidt-Preuß, in: FS Hufen, 2015, S. 545.
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höher ist als früher. Zu einem vertragslosen Zustand kann es aber im Stromlieferverhältnis beispielsweise auch kommen, wenn ein beabsichtigter Liefervertrag nicht abgeschlossen wird5 oder wenn der Abschluss unwirksam ist. In dieser Situation entsteht unter Umständen ein Zustand, in dem auch auf Hoch- und Höchstspannungsebene Stromlieferungen erfolgen, die nicht einem bestehenden Liefervertrag zugeordnet werden können. 1. Keine direkte Anwendung der Ersatzversorgung Bezieht ein Letztverbraucher Energie, ohne dass diese Lieferung einem Liefervertrag zugeordnet werden kann, sieht § 38 EnWG eine Ersatzversorgung vor. Dies bedeutet, dass die Energie als von dem nach § 36 EnWG regional zuständigen Grundversorger geliefert gilt, wofür dieser die dafür veröffentlichten Allgemeinen Preise abrechnen kann. Die Ersatzversorgung ist ein gesetzliches Schuldverhältnis,6 das durch die StromGVV konkretisiert wird.7 Daher könnte man daran denken, ob nicht auch auf der Ebene der Hoch- und Höchstspannung diese Ersatzversorgung zur Anwendung gebracht werden kann, wenn der Liefervertrag entfällt. Allerdings finden die Regelungen zur Grund- bzw. Ersatzversorgung nach §§ 36 ff. EnWG ausdrücklich nur auf der Niederspannungsebene Anwendung. Sie sind daher schon nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Bestimmung nicht direkt auf Regelungen für Letztverbraucher, die Strom aus dem Übertragungsnetz entnehmen, anwendbar. Dies entspricht auch dem Zweck der Ersatzversorgung, den Verbrauchern eine kontinuierliche Stromversorgung auch dann zu sichern, wenn ihr Stromlieferant ausfällt oder der Liefervertrag nicht besteht.8 Aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Regelung, die eine Ersatzversorgung nur im Niederspannungsnetz vorsieht, scheidet eine Ersatzversorgungspflicht in höheren Spannungsebenen als gesetzliches Schuldverhältnis aus.9 2. Analoge Anwendung von § 38 i.V.m. § 36 EnWG? Sind die Regelungen zur Ersatzversorgung nach den §§ 36, 38 EnWG auf der Hoch- und Höchstspannungsebene nicht direkt anwendbar, so könnte man daran denken, ob nicht eine analoge Anwendung in Betracht kommt. Dies würde voraussetzen,
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Vgl. Busche (Fn. 2), § 38 Rn 1. BT-Drs. 15/3917, S. 66; de Wyl/Eder/Hartmann, Netzanschluss- und Grundversorgungsverordnungen, 2016, § 3 StromGVV/GasGVV Rn. 1. 7 § 39 EnWG. 8 Busche (Fn. 2), § 38 Rn. 3. 9 de Wyl/Eder/Hartmann (Fn. 6), Teil 2 G Rn. 91, 97. 6
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dass diesbezüglich eine planwidrige Regelungslücke vorliegt und dass die Interessenlage vergleichbar wäre.10 a) Keine planwidrige Regelungslücke Die differenzierte Regelung, die der Gesetzgeber bei der Grund- und Ersatzversorgung ausdrücklich nur für die Niederspannungsebene getroffen hat, spricht zunächst gegen die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke. Dass der Gesetzgeber bei den §§ 36 und 38 EnWG den Anwendungsbereich ausdrücklich auf die Niederspannung beschränkt hat, spricht auch dagegen, dass er die Anwendung dieser Regelungen nur versehentlich nicht auf die anderen Spannungsebenen erstreckt hat. Selbst auf der Ebene der Niederspannung ist die Anwendbarkeit differenziert, siehe die Regelungen zu geschlossenen Verteilernetzen in § 36 Abs. 4 EnWG,11 die Eigenbedarfsdeckung nach § 37 Abs. 1 Satz 1 EnWG und die Ausnahme von der Grundversorgungspflicht für Haushaltskunden in Kundenanlagen i.S. von § 3 Nr. 25 EnWG mit Netzanschluss in Mittelspannung.12 Angesichts dieser differenzierten Regelung kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Fehlen von entsprechenden Grund-/Ersatzversorgungsregelungen in höheren Spannungsebenen planwidrig ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen hat, dass dadurch auch Situationen auftreten können, in denen bei einem Wegfall des Stromlieferanten kein gesetzlich bestimmter Lieferant zuständig ist.13 b) Keine vergleichbare Interessenlage Neben der planwidrigen Regelungslücke müsste für die analoge Anwendung der Ersatzversorgung auch auf höheren Spannungsebenen außerdem eine vergleichbare Interessenlage zu der Lage auf der Niederspannungsebene bestehen. Gegen eine solche Vergleichbarkeit der Situation sprechen allerdings die Entstehungsgeschichte der Regelungen und der von ihnen verfolgte Zweck. Die Grundversorgung nach § 36 EnWG und ihr folgend die Ersatzversorgung nach § 38 EnWG verfolgen den Zweck der Daseinsvorsorge.14 Die Daseinsvorsorge 10
Vgl. zu den Voraussetzungen einer analogen Anwendung: BGH, Urt. v. 8. 11. 2016 – II ZR 304/15, DStR 2017, 335; Grüneberg, in: Palandt (Hrsg.), BGB, 2018, vor 1 Einl. Rn. 48; Honsell, in: Staudinger (Hrsg.), BGB, 2014, Einl. zum BGB Rn. 156. 11 de Wyl/Eder/Hartmann (Fn. 6), Teil 2 F Rn. 46. 12 de Wyl/Eder/Hartmann (Fn. 6), Teil 2 F Rn. 46. 13 Eder (Fn. 1), § 38 Rn. 9; Hellermann, in: Britz/Hellermann/Hermes (Hrsg.), EnWG, 2015, § 38 Rn. 6. 14 Busche (Fn. 2), § 36 Rn. 2; de Wyl, in: Schneider/Theobald (Hrsg.), Recht der Energiewirtschaft, 2013, § 14 Rn. 3; Hempel, in: ders./Franke (Hrsg.), Recht der Energie- und Wasserversorgung, 119. AL 2014, § 36 Rn. 11.
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ist eine öffentliche Aufgabe des Staates.15 Im Bereich der Energieversorgung hat das BVerfG schon früh entschieden, dass die Sicherstellung der Energieversorgung zum Bereich der Daseinsvorsorge zählt.16 § 36 EnWG dient der Daseinsvorsorge in Umsetzung der europäischen Elektrizitätsrichtlinie.17 Nach Art. 3 Abs. 3 der Elektrizitätsrichtlinie müssen die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass alle Haushaltskunden – und nach Entscheidung des Mitgliedstaats auch Kleinunternehmer – im jeweiligen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten über eine Grundversorgung verfügen. Grundversorgung meint dabei das Recht auf Versorgung mit Elektrizität einer bestimmten Qualität zu angemessenen, leicht und eindeutig vergleichbaren, transparenten und nichtdiskriminierenden Preisen.18 Haushaltskunden sind definiert als natürliche oder juristische Personen, die Elektrizität für den Eigengebrauch im Haushalt kaufen, wobei gewerbliche und berufliche Tätigkeiten ausgeschlossen sind.19 Art. 3 Abs. 3 Elektrizitätsrichtlinie und damit auch ihre Umsetzung ins deutsche Recht in der Grundversorgung dient der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung in der Energieversorgung.20 Art. 3 Abs. 3 der Elektrizitätsrichtlinie macht das Recht der Letztverbraucher, Strom zu beziehen, nicht davon abhängig, ob ein wirksamer Liefervertrag besteht. Insofern folgt auch die Notwendigkeit, Regelungen für die Ersatzversorgung zu treffen, aus der Verpflichtung zur Sicherung der Grundversorgung.21 Dies zeigt sich auch daran, dass der Gesetzgeber nach § 38 Abs. 1 Satz 3 EnWG für Haushaltskunden, für die europarechtlich die Pflicht der Mitgliedstaaten besteht, für eine Grundversorgung zu „leicht und eindeutig vergleichbaren und transparenten und nichtdiskriminierenden Preisen“ zu sorgen, auch bei der Ersatzversorgung auf die Preisbeschränkung nach § 36 Abs. 1 Satz 1 EnWG verweist. Für andere Letztverbraucher gilt diese Preisbeschränkung nach § 36 Abs. 1 Satz 1 EnWG nicht. Dies zeigt im Übrigen auch den Zweck des Verbraucherschutzes der Regelungen. Von der Daseinsvorsorge begünstigt sind neben privaten Letztverbrauchern auch kleine Gewerbetreibende unter der Definition des Haushaltskunden nach § 3 Nr. 22 EnWG. Auch die Elektrizitätsrichtlinie sieht vor, dass eine Grundversorgung für kleine Unternehmen erfolgen kann.22 E contrario folgt daraus, dass sich die Da15
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, § 1 Rn. 16a. BVerfG, Beschluss vom 20. 3. 1984 – 1 BvL 28/82, NJW 1984, 1872; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 10. 9. 2008 – 1 BvR 1914/02. 17 Richtlinie 2009/72/EG vom 13. 7. 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG; BT-Drs. 15/3917, S. 66. 18 Art. 3 Abs. 3 Elektrizitätsrichtlinie. 19 Art. 2 Nr. 10 Elektrizitätsrichtlinie. 20 Erwägungsgründe 45, 46 und 50 Elektrizitätsrichtlinie. 21 Hellermann (Fn. 13), § 38 Rn. 12. 22 Art. 3 Abs. 3 Elektrizitätsrichtlinie: „[…] Kleinunternehmen, nämlich Unternehmen, die weniger als 50 Personen beschäftigen und einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von höchstens 10 Mio. EUR haben, […]“. 16
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seinsvorsorge nicht auf alle Letztverbraucher erstreckt, insbesondere nicht auf große Gewerbetreibende, worum es sich typischerweise bei den direkt an das Hoch- und Höchstspannungsnetz angeschlossenen Kunden handelt. Das Argument der Daseinsvorsorge gilt aber für die großen Verbraucher in Verfolgung ihres Geschäftsbetriebs nicht. An das Hoch- und Höchstspannungsnetz sind jedoch schon aus Gründen der technischen Zweckmäßigkeit keine Haushaltskunden angeschlossen, sondern nur Großverbraucher. Darüber liegt eine vergleichbare Interessenlage nicht vor, da die Letztverbraucher, die an das Übertragungsnetz angeschlossen sind, nicht mit dem Massengeschäft in der Niederspannung vergleichbar sind. Die Ersatzversorgung soll bei den Massengeschäften im Niederspannungsnetz gewährleisten, dass diese auf der Grundlage von standardisierten Preisen und Bedingungen abgewickelt werden können und kein Verbraucher plötzlich keinen Versorger hat.23 An das Übertragungsnetz sind aber nur individuelle Kunden angeschlossen, die auch keine Standardlastprofile haben. Sie sind in der Regel auch geschäftserfahrene Kaufleute, denen zuzumuten ist, sich um ihre Lieferantenlage selbst zu kümmern. Weder die Regelungen über die Grund- noch über die Ersatzversorgung können daher im Übertragungsnetz analoge Anwendung finden.24 3. Zwischenergebnis Insofern lässt sich festhalten, dass bei Stromlieferungen an Kunden, die ihren Strom unmittelbar aus dem Hoch- oder Höchstspannungsnetz beziehen, weder eine unmittelbare noch eine entsprechende Anwendung der Regelungen über die Grund- oder die Ersatzversorgung nach den §§ 36, 38 EnWG in Betracht kommt. II. Vertragliche Lieferansprüche und Belieferungspflichten Finden die Regelungen zur Ersatzversorgung bei einer Stromentnahme im Hochund Höchstspannungsnetz, die sich keinem Stromliefervertrag zuordnen lässt, weder direkt noch analog Anwendung, so fragt sich, welche anderen Regelungen für die Stromentnahme und die Bezahlung dafür heranzuziehen sind. Zunächst ist nach anwendbaren vertraglichen Vereinbarungen zu fragen, bevor gesetzliche Regelungen in Betracht kommen. Für den Stromverbraucher kommen dabei verschiedene mögliche Vertragspartner in Betracht. Dabei kann es sich zum einen um Stromlieferanten handeln, die eine an23
de Wyl/Eder/Hartmann (Fn. 6), § 1 StromGVV/GasGVV Rn. 5. LG Stuttgart, Urt. v. 2. 12. 2011 – 24 O 523/10, BeckRS 2012, 18892; Busche (Fn. 2), § 38 Rn. 2; Eder, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 94. EL 2017, § 38 Rn. 9; Hellermann (Fn. 13), § 38 Rn. 8; Hempel (Fn. 14), § 36 Rn. 64; Schulz-Jander/Twele, in: Schöne (Hrsg.), Vertragshandbuch Stromwirtschaft, Praxisgerechte Gestaltung und rechtssichere Anwendung, 2014, 4. A Rn. 215. 24
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dere vertragliche Beziehung zum Stromverbraucher haben als einen normalen Liefervertrag. Zum anderen kommt als Vertragspartner der ÜNB in Betracht, soweit dies mit den Entflechtungsregeln vereinbar ist. 1. Verträge mit Stromlieferanten Zwischen einem Stromkunden und einem Stromlieferanten lassen sich verschiedene Vertragsstörungen denken, die dazu führen können, dass eine Stromentnahme keine Grundlage in einem wirksamen Stromliefervertrag hat. a) Insolvenz des Lieferanten So kann beispielsweise während des laufenden Liefervertrags das Insolvenzverfahren des Stromlieferanten eröffnet werden. In diesem Fall kann der Insolvenzverwalter nach § 103 InsO die weitere Stromlieferung ablehnen, da es sich bei dem Stromliefervertrag um einen gegenseitigen Vertrag handelt, der zum Zeitpunkt der Insolvenz noch nicht vollständig erfüllt ist.25 Handelt es sich dabei um einen „Allinclusive-Vertrag“, der neben den Vereinbarungen zur Stromlieferung auch die Netznutzung und die Nutzung des Bilanzkreises des Stromlieferanten mit umfasst, so kommt es auf die Vertragsgestaltung im konkreten Fall an. Es ist jedoch theoretisch möglich, beispielsweise bei einem für den Lieferanten ungünstigen Strompreis im Liefervertrag, dass der Insolvenzverwalter bereit ist, trotz Beendigung des Lieferverhältnisses die Netznutzung und die Nutzung des Bilanzkreises des insolventen Stromlieferanten fortzusetzen, möglicherweise gegen ein neu zu vereinbarendes Entgelt, jedenfalls für eine Zwischenzeit bis der Kunde ein neues Lieferverhältnis vereinbart hat. Der Netznutzungsvertrag hat nach § 24 StromNZV26 und der förmlichen Festlegung der BNetzA den Gegenstand und die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Vertragspartner im Zusammenhang mit der Netznutzung festzulegen.27 Dabei sind die Hauptgegenstände die Voraussetzungen der Netznutzung, die Leistungsmessung für konventionelle Messeinrichtungen und das Lastprofilverfahren, die Zuordnung der Entnahmestellen zu Bilanzkreisen, Abrechnung, Datenverarbeitung und die Haftungsbestimmungen. All dies begründet aber keine Lieferansprüche. Die Stromlieferung ist nicht Bestandteil des Netznutzungsvertrags. Daher kann er nicht als Grundlage für die Stromentnahme und deren Abrechnung dienen. Hat jedoch der Bilanzkreisvertrag Bestand bzw. wird das dazu bestehende Vertragsverhältnis von dem Insolvenzverwalter fortgesetzt, könnte die vom Letztver25
BGH, Urt. v. 15. 11. 2012 @ IX ZR 169/11 Rn. 14. Stromnetzzugangsverordnung vom 25. 7. 2005 (BGBl. I S. 2243), zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 19. 12. 2017 (BGBl. I S. 3988). 27 Siehe der Mustervertrag der BNetzA, der durch förmliche Festlegung vorgegeben wurde (Az. BK6 – 13 – 042, Beschl. v. 16. 4. 2015). 26
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braucher entnommene Strommenge über den Bilanzkreis abgerechnet werden. Dies kommt in Betracht, wenn der Insolvenzverwalter zwar mitgeteilt hat, dass der „Allinclusive-Vertrag“ nicht fortgesetzt wird, das von ihm verwaltete, insolvente Unternehmen aber noch eine Zeit lang die Nominierungen des Endverbrauchers entgegengenommen und in seinen Bilanzkreis einbezogen hat. Der Bilanzkreisausgleich findet zwischen dem ÜNB als Bilanzkreiskoordinator und dem Bilanzkreisverantwortlichen statt.28 Grundlage ist der zwischen ihnen geschlossene standardisierte Bilanzkreisvertrag, § 26 StromNZV.29 Der Bilanzkreisverantwortliche muss gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 StromNZV dafür Sorge tragen, dass in jeder Viertelstunde innerhalb seines Bilanzkreises eine ausgeglichene Bilanz zwischen Einspeisung und Entnahme von Energie zustande kommt. Für Abweichungen muss der Bilanzkreisverantwortliche gegenüber dem ÜNB wirtschaftlich einstehen.30 Um das Funktionieren des Bilanzkreisausgleichs sicherzustellen, muss jede Einspeise- und Entnahmestelle einem Bilanzkreis zugeordnet sein, § 4 Abs. 3 Satz 1 StromNZV.31 Dabei kann jede Einspeise- oder Entnahmestelle selbst ein Bilanzkreis sein, § 4 Abs. 1 Satz 2 StromNZV. Jeder Bilanzkreis muss dem ÜNB gegenüber einen Bilanzkreisverantwortlichen benennen, § 4 Abs. 3 Satz 2 StromNZV. Der Bilanzkreisverantwortliche benötigt einen Energy Identification Code („EIC“),32 der in Deutschland vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. als Local Issuing Office für ENTSO-E vergeben wird.33 Er ist also offiziell als verantwortlich registriert. Darüber hinaus schließt der Bilanzkreisverantwortliche mit dem ÜNB den standardisierten Bilanzkreisvertrag, der Grundlage für die Abrechnung der Ausgleichsenergie ist. In Ausnahmefällen wäre es insofern denkbar, dass der Kunde mit der weiteren Nutzung des Bilanzausgleichs des insolventen Lieferanten theoretisch die Möglichkeit hätte, seinen Stromverbrauch bis zum Abschluss eines neuen Vertrags über den Bilanzkreis des insolventen Lieferanten zu nominieren. Für den insolventen Lieferanten würde die weitere Nutzung seines Bilanzkreises allerdings einen fortgesetzten Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus dem Bilanzkreisvertrag bedeuten. Ein ihm für diese Dienstleistung gezahltes Entgelt würde dieses Risiko wohl kaum abdecken. 28 de Wyl/Thole/Bartsch, in: Schneider/Theobald (Hrsg.), Recht der Energiewirtschaft, 2013, § 16 Rn. 410. 29 BNetzA, Az. BK6 – 14 – 044, Bilanzkreisvertrag über die Führung von Bilanzkreisen zwischen Bilanzkreisverantwortlichem und Übertragungsnetzbetreiber. 30 Bartsch/Pohlmann, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, 2010, § 24 Anh. A, § 4 StromNZV Rn. 17; Britz/Herzmann, in: Britz/Hellermann/Hermes (Hrsg.), EnWG, 2015, § 20 Rn. 57. 31 Bartsch/Pohlmann (Fn. 30), § 24 Anh. A, § 4 StromNZV Rn. 17. 32 § 2.1 Bilanzkreisvertrag über die Führung von Bilanzkreisen zwischen Bilanzkreisverantwortlichem und Übertragungsnetzbetreiber entsprechend Festlegung durch die Bundesnetzagentur (Az. BK6 – 14 – 044, Beschluss vom 29. 6. 2011). 33 https://bdew-codes.de/Codenumbers/EnergyIdentificationCode, zuletzt eingesehen am 6. 12. 2017.
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Der ÜNB könnte aber über eine solche Abrechnung über den Bilanzkreis des insolventen Lieferanten jedenfalls für Differenzen in der Stromentnahme einen Anspruch auf Zahlung von Ausgleichsenergie nach § 8 Abs. 2 StromNZV geltend machen, wenn der betreffende Bilanzkreis nicht ausgeglichen ist. Ein freiwilliger Abschluss einer solchen Vereinbarung über die weitere Nutzung des Bilanzkreises trotz Unwirksamkeit der Liefervereinbarung erscheint aus diesen Gründen jedenfalls unwahrscheinlich. Ist es jedoch zu einer so zu verstehenden Sachlage gekommen, möglicherweise bevor die Parteien dies selbst realisiert haben, hat der ÜNB auf diesem Weg einen Erstattungsanspruch für seine Kosten für die eingesetzte Regelenergie. b) Unwirksamkeit des Liefervertrags Ebenso erscheint es nicht ausgeschlossen, dass der Liefervertrag unwirksam ist, sei es, dass er erst gar nicht wirksam zustande kam oder dass die Unwirksamkeit erst nachträglich eintritt. Bestehen hier getrennte Vereinbarungen über die Netznutzung oder über die Nutzung des Bilanzkreises des Lieferanten durch den Kunden, so muss die Unwirksamkeit nicht unbedingt auch diese Vereinbarungen erfassen. Ansonsten wird es häufig eine Frage der Vertragsauslegung sein, ob die Unwirksamkeit des Liefervertrags auch zur Unwirksamkeit der Vereinbarung zur Nutzung des Bilanzkreises führt, wovon jedoch in der Regel auszugehen sein wird. Folge des Bestehens eines „All-inclusive-Liefervertrags“ zwischen dem Stromlieferanten und dem Letztverbraucher ist, dass der ÜNB über den Bilanzkreis mit dem Stromlieferanten abrechnen kann. Voraussetzung dafür ist, dass der Lieferant den Letztverbraucher in seinen Bilanzkreis aufgenommen hat. In der Literatur wird vertreten, dass bei einem Vertrag zwischen Stromlieferanten und Letztverbraucher der Lieferant den Letztverbraucher regelmäßig in seinen Bilanzkreis aufnimmt,34 unabhängig davon, ob es sich um einen integrierten (All-inclusive) oder um einen desintegrierten Stromliefervertrag handelt.35 Noch weitergehend gibt es in der Literatur die Ansicht, dass der Lieferant den Letztverbraucher auch dann in seinen Bilanzkreis aufnimmt, wenn der zwischen ihnen geschlossene Liefervertrag unwirksam ist.36 Die Belieferung mit Energie werde dann gegebenenfalls über ein gesetzliches Schuldverhältnis, beispielsweise das der Geschäftsführung ohne Auftrag, abgewickelt.37 Dies erscheint jedoch nur in einem Ersatzversorgungsverhältnis oder im Verhältnis mit dem Netzbetreiber eine gangbare Lösung.38 Wurde nichts Anderweitiges zwischen Lieferant und Kunde vereinbart, dürfte der Wille der Parteien in einem normalen Lieferverhältnis in der Regel dafür sprechen, 34
Bartsch/Pohlmann (Fn. 30), § 24 Anh. A, § 24 StromNZV Rn. 18. de Wyl/Thole/Bartsch (Fn. 28), § 16 Rn. 337. 36 Siehe auch de Wyl/Soetebeer, in: Schneider/Theobald (Hrsg.), Recht der Energiewirtschaft, 2013, § 11 Rn. 94. 37 Siehe auch de Wyl/Soetebeer (Fn. 36), § 11 Rn. 94. 38 Siehe dazu Abschnitte I. und III. 2. a) (bb). 35
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dass der Lieferant den Letztverbraucher im Rahmen eines All-inclusive-Vertrags in seinen Bilanzkreis einbezieht. Zum einen hat der Letztverbraucher normalerweise kein Interesse daran, einen eigenen Bilanzkreis zu haben und kann ohne Bilanzkreisvertrag und Zertifizierung kein Bilanzkreisverantwortlicher sein. Darüber hinaus ist es für den Stromlieferanten häufig sinnvoll, als Bilanzkreisverantwortlicher für einen Bilanzkreis zu agieren,39 oder jedenfalls die Lieferung auch mit in seinen Bilanzkreis einzubeziehen. Schließlich bezieht der Lieferant normalerweise ja auch sein Gegengeschäft der Beschaffung mit in seinen ansonsten genutzten Bilanzkreis ein. Über die Meldepflichten des Bilanzkreisverantwortlichen für Abnahmestellen wird sich die Frage der Einbeziehung eines Kunden in den Bilanzkreis aber in aller Regel sowieso sehr schnell klären. Ist jedenfalls von einer wirksamen Einbeziehung des Kunden in den Bilanzkreis der anderen Vertragspartei des (unwirksamen) Liefervertrags auszugehen, so ergibt sich für den ÜNB wiederum, wie oben erörtert,40 die Möglichkeit der Abrechnung von Fehlmengen über das Bilanzkreisverhältnis. Inwieweit eine Unwirksamkeit des Liefervertrags auch die Vereinbarung zur Nutzung des Bilanzkreises des Lieferanten miterfasst, was die Regel sein dürfte, wird aber im Einzelfall festzustellen sein. 2. Vertragsschluss mit dem Grundversorger Besteht mit dem bisherigen Lieferanten oder mit dem Lieferanten, mit dem ein Liefervertrag abgeschlossen werden sollte, keinerlei vertragliche Beziehung mehr, also auch keine Vereinbarung über die Zuordnung des Kunden zu dem Bilanzkreis mehr, über den die Lieferungen für den jeweils nächsten Tag an den ÜNB nominiert werden könnten, so fragt sich, ob stattdessen nicht doch eine Belieferung des Kunden durch den für das Gebiet des Stromanschlusses örtlich zuständigen Grundversorger in Betracht kommt. Bereits oben hatten wir erörtert, dass im Hoch- und Höchstspannungsnetz weder eine direkte noch eine analoge Anwendung der §§ 36 und 38 EnWG in Betracht kommt. Das gesetzliche Schuldverhältnis der Ersatzversorgung kommt hier also nicht in Betracht. Je nach Umständen kann es aber sein, dass durch die Stromentnahme des Kunden auch in höheren Spannungsebenen als dem Niederspannungsnetz ein Stromliefervertrag zu den Bedingungen der Ersatzlieferung zustande kommt. In Rechtsprechung41 und Literatur42 ist anerkannt, dass im Wege der ,Realofferte‘ ein Stromliefervertrag zustande kommt, wenn der Letztverbraucher Strom aus dem Netz entnimmt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass ein Angebot des Stromver39
Britz/Herzmann (Fn. 30), § 20 Rn. 114. Siehe Abschnitt vor I. 41 LG Stuttgart, Urt. v. 2. 12. 2011 – 24 O 523/10, BeckRS 2012, 18892. 42 Hempel (Fn. 14), § 36 Rn. 65; Schöne, in: ders. (Hrsg.), Vertragshandbuch Stromwirtschaft, Praxisgerechte Gestaltung und rechtssichere Anwendung, 2014, 4.C Rn. 31. 40
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sorgers vorliegt, die sogenannte Realofferte,43 die der Kunde durch seine in der Stromentnahme liegende reale Handlung als konkludente Willenserklärung annimmt. Für den Bereich der Niederspannung halten die Grundversorger ein solches Angebot mit Allgemeinen Bedingungen und allgemeinen Preisen bereits nach § 36 Abs. 1 EnWG vor. Die Grundversorger sind für höhere Spannungsebenen nicht dazu verpflichtet, die Belieferung mit Strom allgemein für Stromentnahmen anzubieten, wenn kein anderer Liefervertrag vorliegt. Trotzdem bieten viele Grundversorger jedenfalls für die Mittelspannungsebene eine solche Belieferung an. So hat beispielsweise auch das Landgericht Stuttgart im Jahre 2011 entschieden,44 dass ein Stromliefervertrag zwischen dem Gebietsversorger und einem Gewerbekunden im Mittelspannungsnetz konkludent durch die Bereitstellung und Entnahme von Strom zustande kommen kann, §§ 145 ff. BGB. Wie die Entscheidung des LG Stuttgart unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Realofferte45 ausführlich darlegt, gibt der Lieferant durch die Zurverfügungstellung von Energie ein Angebot i.S.d. § 145 BGB in Form einer Realofferte zum Abschluss eines Kaufvertrags ab. Dabei gelten die allgemeinen Bedingungen, die der Lieferant freiwillig für die Ersatzbelieferung in der Mittelspannung aufgestellt und veröffentlicht hat. Dem verbindlichen Angebot steht nicht entgegen, dass im Zeitpunkt der Abgabe des Angebots noch nicht feststeht, wer den Antrag annehmen werde, da für das Energieversorgungsunternehmen aus Sicht eines objektiven Empfängers der Vertragspartner unbedeutend sei. Nach dem objektiven Empfängerhorizont gibt auch der Letztverbraucher eine Willenserklärung auf Abschluss eines Kaufvertrags ab. Zwar lasse sich dem entnommenen Strom nicht ansehen, von welchem Lieferanten der Strom geliefert worden sei. Aus Sicht eines objektiven Empfängers geht der Letztverbraucher in den Fällen, in denen er keinen ausdrücklichen Stromliefervertrag abgeschlossen hat, davon aus, dass der Strom vom Gebietsversorger kommt. Hinsichtlich der Preise muss der Letztverbraucher davon ausgehen, dass die veröffentlichten Preise der allgemeinen Versorgung gelten. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass das Urteil des Landgerichts Stuttgart sich auf die Stromentnahme im Übertragungsnetz übertragen lässt, wenn der Grundversorger ein entsprechendes Angebot abgegeben hat, das nicht nur für die Niederspannung gilt, sondern auch für höhere Spannungsebenen. Allerdings ist die Vertragspraxis hier nicht einheitlich. Teilweise wird das Angebot nur für Kunden in
43 Vgl. BGH, NJW 2011, 3509 Rn. 16; NJW-RR 2005, 639 juris-Rn. 14; NJW 1992, 171; OLG Saarbrücken, NJW-RR 1994, 436; Busche (Fn. 2), § 38 Rn. 21 unter Verweis auf RegBegr. BT-Drs. 15/3917, S. 66; Armbrüster, in: Erman (Hrsg.), BGB, 2011, Vorb. § 145 Rn. 42; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2004, § 30 Rn. 26. 44 Siehe Fn. 41. 45 Siehe Fn. 43.
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der Mittelspannungsebene gemacht, teilweise aber auch generell für alle höheren Spannungsebenen: - So bestimmen beispielsweise die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Vattenfall Europe Sales GmbH für die Strombelieferung von Gewerbekunden: „Diese Allgemeinen Geschäftsbedingungen regeln die Strombelieferung von Gewerbekunden in Nieder- oder Mittelspannung […].“46 Mit einem solchen Angebot wäre zwar, wie im Fall des LG Stuttgart, eine Belieferung in der Mittelspannung abgedeckt, nicht aber im Hoch- oder Höchstspannungsnetz. - Demgegenüber bietet die E.ON Energie Deutschland GmbH über die E.ON Ersatzversorgung / Ersatzbelieferung Strom auch für die höheren Spannungsebenen an: „[…] beliefern wir zusätzlich [in Gebieten, in denen E.ON Energie Deutschland GmbH gem. § 36 Abs. 2 EnWG Grundversorger ist, Zusatz durch den Autor] Nicht-Haushaltskunden mit registrierender Leistungsmessung in höheren Spannungsebenen …“47 - Eine interessante andere Konstellation findet sich bei der Stromnetz Weiden i.d. OPf GmbH & Co. KG.48 Diese hat eine Ergänzungsvereinbarung zum Netznutzungsvertrag Strom, in der sie mit einem Stromlieferanten extra vereinbart, dass dieser auch außerhalb der Niederspannung die Ersatzbelieferung anbietet. Kann die Entnahmestelle eines Anschlussnutzers keinem Bilanzkreis zugeordnet werden, weil keine gültige Netzanmeldung eines Lieferanten vorliegt, „so wird der Anschlussnutzer im Wege der Ersatzbelieferung dem Bilanzkreis des Ersatzlieferanten analog § 38 Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) und den nachfolgend getroffenen Vereinbarungen zugeordnet.“ Die unterschiedliche Vertragspraxis der Grund- oder Ersatzversorger lässt sich vor dem Hintergrund verstehen, dass ein Risiko besteht, unerwartet in der Hochund Höchstspannungsebene Strom in größeren Mengen an Abnehmer liefern zu müssen. Angesichts hoher Ausgleichsenergiekosten bei der Entnahme von nicht angemeldeten Strommengen durch den Kunden trägt der Ersatzversorger dann das Risiko der Uneinbringlichkeit der Kosten. Unabhängig von der Spannungsebene gibt der Letztverbraucher durch die Entnahme von Strom konkludent eine Willenserklärung auf Abschluss eines Stromliefervertrags ab. Von welchem Energieversorgungsunternehmen der Strom bereitgestellt wird, ist in einem liberalisierten Strommarkt schwer zu bestimmen, da der Strom an sich nicht einem Lieferanten zugeordnet werden kann. Letztlich kommt es für den Verbraucher aber auch nicht darauf an, wenn er die Realofferte des Grund46 Gewerbe XL Ersatzbelieferung-Tarif, § 1 Abs. 2, Stand Januar 2016 (https://www.vatten fall.de/de/file/ Asset%20Manager%20Documentation/AGB_und_Preisregelung_Gewerbe_XL_ Strom_2016.pdf, zuletzt eingesehen am 5. 1. 2018). 47 Siehe https://www.eon.de/de/gk/service/veroeffentlichungen/ersatzversorgung-strom/er satzversorgung-ersatzbelieferung-strom-rlm-eavv.html (zuletzt eingesehen am 8. 12. 2017). 48 Siehe https://www.stromnetz-weiden.de/Resources/Persistent/d3dd7027e8ce8c1a0293b3f b5e6b296393b1b3fc/Weiden_Vereinbarung_GVV.pdf (zuletzt eingesehen am 18. 1. 2018).
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versorgers annimmt. Eine Grenze wird man hier jedoch im Interesse des Schutzes auch großer Kunden da ziehen müssen, wo das Angebot eines Lieferanten aufgrund eines überhöhten Preises oder ansonsten unfairer Lieferbedingungen missbräuchlich wäre, weil nach § 138 BGB sittenwidrig oder nach § 242 BGB gegen Treu und Glauben verstoßend. Entscheidend für das Zustandekommen eines solchen Liefervertrags zwischen Endverbraucher und Grundversorger ist also das Vorliegen einer Realofferte zum Abschluss eines Vertrags durch den Stromlieferanten. Es kommt also darauf an, ob für den Ort, in dem der Anschluss des Kunden an das Übertragungsnetz liegt, der Grundversorger allgemeine Geschäftsbedingungen für die Versorgung in höheren Spannungsebenen veröffentlicht hat, die der Kunde auch für die Belieferung auf Hochund Höchstspannungsebene annehmen kann. In diesem Fall kommt mit der Entnahme automatisch der Liefervertrag zustande und der Kunde wird dem Bilanzkreis des Stromlieferanten zugeordnet. In der Praxis dürfte sich dabei aber aufgrund der Verpflichtung des Bilanzkreisverantwortlichen, täglich einen ausgeglichenen Bilanzkreis anzumelden und der Rückmeldung des ÜNB, wenn der Bilanzkreis nicht ausgeglichen ist, zwischen Lieferanten und Kunden sehr schnell eine ausdrückliche Regelung einstellen. Hat der für den Ort des Anschlusses des Kunden an das Übertragungsnetz zuständige Grundversorger aber kein Angebot auch für die höheren Spannungsebenen herausgelegt, kann mit der Entnahme des Kunden auch kein Vertrag mit ihm zustande kommen. Es fehlt dann an einem annahmefähigen Angebot. 3. Vertragliche Beziehungen mit dem Übertragungsnetzbetreiber Besteht für einen Letztverbraucher, der aus dem Hoch- oder Höchstspannungsnetz Strom entnimmt, kein Liefervertrag und auch keine Vereinbarung über eine Bilanzkreisnutzung bei einem Lieferanten und kommt mangels eines Angebots für die höheren Spannungsebenen auch kein Liefervertrag mit dem örtlich zuständigen Grundversorger zustande, so besteht möglicherweise die einzige Rechtsbeziehung des Letztverbrauchers zu dem ÜNB, aus dessen Netz der Verbraucher den Strom entnimmt. Hierbei ist wiederum zunächst an vertragliche Beziehungen zu denken. Als solche kommen zunächst grundsätzlich der Netzanschluss- und der Netznutzungsvertrag in Betracht sowie, soweit bestehend, ein Anschlussnutzungs- oder ein Bilanzkreisvertrag. a) Netzanschlussvertrag Ist der Letztverbraucher mit seinem Stromanschluss an das Hoch- oder Höchstspannungsnetz eines ÜNB angeschlossen, so bedarf dies für den Netzanschluss einer Sondervereinbarung zwischen Netzbetreiber und Netzkunde. Dieses ist der
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von jedem der vier ÜNB jeweils für seine Netzkunden standardisiert angebotene Netzanschlussvertrag.49 Der Netzanschlussvertrag regelt normalerweise – in der Niederspannung nach den gesetzlichen Vorgaben der Niederspannungsanschlussverordnung – die Bedingungen des Anschlusses an das Netz, darunter die Anschlussstelle, die Spannungsebene, die Grundstücksbenutzung (Zutrittsrecht) und die Netzanschlusskapazität.50 Diese Regelungsgegenstände enthalten keine Bestimmungen für eine Stromentnahme und deren Abrechnung. Der Netzanschlussvertrag ist jedoch häufig, wenn der Stromlieferant und sein Kunde einen „All-inclusive-Vertrag“ abgeschlossen haben, der mit dem Strombezug auch gleich die Netznutzung einschließt, der einzige Vertrag zwischen dem an das Hoch- oder Höchstspannungsnetz angeschlossenen Verbraucher und dem ÜNB. Daher könnte man sich fragen, ob sich dem Netzanschlussvertrag nicht im Wege der Auslegung eine Regelung der Stromentnahme und ihrer Vergütung als vertragliche Nebenpflicht entnehmen lässt. Auch wenn die Auslegung nach § 133 BGB nicht nur an dem Wortlaut zu haften braucht, so findet sie ihre Grenze doch an dem wirklichen Willen der Parteien bei Vertragsabschluss. Bei der Stromlieferung und deren Vergütung handelt es sich jedoch um die Hauptleistungspflichten eines Stromliefervertrags. Insbesondere wirtschaftlich erfahrene Vertragsparteien, von denen bei ÜNB und an das Hoch- oder Höchstspannungsnetz angeschlossenen Großverbrauchern auszugehen ist, wissen, dass der Stromanschluss für die Belieferung nicht ausreicht, sondern für die Versorgung zusätzlich ein Stromliefervertrag erforderlich ist. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Stromlieferung und deren Vergütung vom Willen der Parteien bei Abschluss des Netzanschlussvertrags mit umfasst ist. Führt die einfache Vertragsauslegung nicht zu einer Grundlage für die Stromentnahme und deren Vergütung, so könnte man noch an eine ergänzende Vertragsauslegung nach § 157 BGB denken. Allerdings würde dies voraussetzen, dass die Stromlieferung und deren Vergütung im Rahmen des Vertragszwecks eine Lücke, d. h. eine „planwidrige Unvollständigkeit“ darstellen.51 Dies wird sich bei dem Netzanschlussvertrag hinsichtlich der Stromlieferung und deren Vergütung ebenfalls nicht sagen lassen, da nicht davon auszugehen ist, dass diese nach der Absicht der Parteien mit dem Vertrag geregelt werden sollte und nur „planwidrig“ übersehen wurde. Außerdem stehen der Annahme einer vertraglichen Nebenpflicht zur Duldung der Stromentnahme und eines dazu korrespondierenden Vergütungsanspruchs des ÜNB die Entflechtungsregeln der §§ 6 ff. EnWG entgegen, die dem ÜNB vertragliche 49 Vgl. z. B. Netzanschlussvertrag von 50hertz, https://www.50hertz.com/Portals/3/Content/ Dokumente/Anschluss-Zugang/Netzanschluss/Mustervertrag/130125_mustervertrag_netzan schluss.pdf, zuletzt eingesehen am 12. 1. 2018. 50 Vgl. Hartmann, in: Danner/Theobald (Hrsg.), EnWG, 64. EL 2009, § 17 Rn. 81 ff. 51 BGHZ 127, 138, 142 und Ellenberger, in: Palandt (Hrsg.), BGB, 2018, § 157 Rn. 3 m.w.N. für die ständige Rechtsprechung.
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Übernahme von Stromlieferungen verbieten.52 Daher kann sich dem Netzanschlussvertrag auch nicht im Wege der Auslegung eine vertragliche Nebenpflicht zur Duldung der Stromentnahme und deren Vergütung entnehmen lassen. b) Netznutzungsvertrag Generell benötigt der Letztverbraucher als Netznutzer noch einen Netznutzungsvertrag mit dem Netzbetreiber, um das Netz für die Stromentnahme nutzen zu können. Wie bereits oben in Abschnitt II.1.a) (aa) erörtert, kann der Netznutzungsvertrag entweder direkt vom Letztverbraucher mit dem ÜNB abgeschlossen werden oder mittelbar über den Lieferanten im Wege eines „All-inclusive-Vertrags“. Dort hatten wir bereits erörtert, dass der Netznutzungsvertrag die technischen Parameter der Netznutzung zum Gegenstand hat, nicht jedoch die Stromlieferung und deren Vergütung umfasst.53 Die Bundesnetzagentur hat in ihrer Festlegung zum Mustervertrag vom 16. April 201554 auch angeordnet, dass alle Betreiber von Elektrizitätsversorgungsnetzen, also auch die ÜNB, mit Letztverbrauchern ausschließlich solche Netznutzungsverträge abschließen dürfen, wie sie in dem Beschluss mit seinen Anlagen vorgegeben sind. Daher kann auch nicht von abweichenden individuellen Vereinbarungen in Netznutzungsverträgen ausgegangen werden. Inwieweit Ergänzungsvereinbarungen, wie die oben erwähnte55 des Stromnetz Weiden, als Abänderung des Netznutzungsvertrags oder als selbstständige Vereinbarung anzusehen ist, muss im Einzelfall geprüft werden. Schließlich sind auch die vorstehend unter (aa) angestellten Überlegungen zur direkten und ergänzenden Vertragsauslegung des Netzanschlussvertrags entsprechend auf den Netzanschlussvertrag anwendbar. Daher ist davon auszugehen, dass auch ein direkt zwischen dem Letztverbraucher als Netznutzer und dem ÜNB abgeschlossener Netznutzungsvertrag keine vertragliche Grundlage für eine Stromentnahme aus dem Netz ohne einen Liefervertrag und deren Abrechnung direkt durch den ÜNB bietet. c) Anschlussnutzungsvertrag Neben den Verträgen zum Netzanschluss und zur Netznutzung kommt weiter noch ein Anschlussnutzungsvertrag in Betracht. Das „Anschlussnutzungsverhältnis“ ist in § 3 NAV56 für die Niederspannung normiert. Es regelt das Rechtsverhältnis zwi52
Vgl. dazu näher vor Abschnitt I. Siehe Abschnitt II. 1. a). 54 Az. BK6 – 13 – 042, siehe Fn. 27. 55 Siehe bei Fn. 48. 56 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für den Netzanschluss und dessen Nutzung für die Elektrizitätsversorgung in Niederspannung vom 1. 11. 2006 (BGBl. I S. 2477), zuletzt 53
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schen dem Anschlussnutzer und dem Netzbetreiber in Bezug auf die Nutzung des Netzanschlusses zur Entnahme von Elektrizität.57 Während ein Anschlussnutzungsverhältnis in der Niederspannung nach § 3 Abs. 2, 16 ff. NAV als gesetzliches Schuldverhältnis durch Stromentnahme rechtlich geregelt zustande kommt, entsteht ein Anschlussnutzungsvertrag auf höheren Spannungsebenen nur durch Abschluss eines Vertrags zwischen dem Netznutzer und dem Netzbetreiber. Das Anschlussnutzungsverhältnis erfährt deshalb rechtliche Beachtung, weil der Stromabnehmer und damit der eigentliche Netznutzer ansonsten in manchen Konstellationen in keiner direkten, rechtlich geregelten Beziehung zu dem Netzbetreiber stünde, an dessen Netz sein Anschluss angeschlossen ist. Dies wird am Beispiel eines Wohnungsmieters deutlich.58 Dieser hat in der Regel einen „All-inclusive-Vertrag“ mit seinem Stromlieferanten, so dass der Netznutzungsvertrag des Netzbetreibers mit dem Lieferanten besteht. Den Netzanschlussvertrag schließt aber in der Regel der Hauseigentümer und damit der Vermieter mit dem Netzbetreiber ab. Eine rechtlich entsprechende Struktur kann bei modernen Konzernstrukturen mit Besitzgesellschaften und bei Industrieparks auch bei Anschlüssen an Kundenanlagen von industriellen Großverbrauchern, die an das Hoch- oder Höchstspannungsnetz angeschlossen sind,59 leicht entstehen. Ohne ein Anschlussnutzungsverhältnis in der Niederspannung oder einen Anschlussnutzungsvertrag in höheren Spannungsebenen gibt es dann keine direkte rechtliche Beziehung zwischen Netzbetreiber und demjenigen, der tatsächlich die Elektrizität aus dem Netz entnimmt. Eine vertragliche Regelung gibt den Parteien die Möglichkeit, Fragen wie technische Parameter und Grenzen der Anschlussnutzung, Folgen fehlender Bilanzkreiszuordnung, Mitteilungen über die Anschlussnutzung, höhere Gewalt und Haftungsbeschränkungen bei Störungen direkt zu regeln. § 3 Abs. 1 Satz 2 NAV sieht für die Niederspannung ausdrücklich vor, dass das Anschlussnutzungsverhältnis nicht die Belieferung des Anschlussnutzers mit Elektrizität zum Gegenstand hat. Dies entspricht gerade auch dem Sinn der Entflechtung der Netzbetreiber nach den §§ 6 ff. EnWG, wonach der Netzbetreiber gerade nicht in dem Wettbewerbsbereich der Stromlieferung tätig ist.60 Außerdem sehen § 16 NAV die Verpflichtung des Netzbetreibers vor, dem Netznutzer die Anschlussnutzung zu gewähren, soweit die technischen Voraussetzungen vorliegen und keine höhere Gegeändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 29. 8. 2016 (BGBl. I S. 2034) (Niederspannungsanschlussverordnung – NAV). 57 Vgl. auch den Vertragsgegenstand in § 1 Abs. 1 des Musters für einen Anschlussnutzungsvertrag der Amprion GmbH (https://www.amprion.net/Dokumente/Strommarkt/Netzkun den/Netzanschlussregeln/Muster-ANV-WV-mit-Anlagen_1508_v3.0.pdf, zuletzt eingesehen 9. 1. 2018). 58 Hartig, in: Stuhlmacher/Stappert/Schoon/Jansen (Hrsg.), Grundriss zum Energierecht – Der rechtliche Rahmen für die Energiewirtschaft, 2015, S. 87. 59 Siehe oben Abschnitt I. 60 Säcker/Schönborn, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, 2014, § 6 Rn. 2.
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walt oder Unzumutbarkeit vorliegt, § 17 NAV die Möglichkeit der Unterbrechung der Anschlussnutzung und § 18 NAV trifft Haftungsregelungen. Allerdings ist zu beachten, dass dies alles nur für die Niederspannung gilt. Für höhere Spannungsebenen bedarf es einer vertraglichen Regelung, wenn das Anschlussnutzungsverhältnis geregelt werden soll. Der Inhalt des Netznutzungsvertrags bezieht sich im Wesentlichen auf die rechtliche Zulässigkeit der Nutzung des jeweiligen Anschlusses zum Zwecke der Energieentnahme.61 Dabei wird teilweise vertreten, dass die Regelungen für Niederspannung auch für höhere Spannungsebenen einen Leitbildcharakter haben.62 Angesichts der unterschiedlichen Kundenbeziehungen im Übertragungs- und Verteilernetzbereich und der ausdrücklich auf den Niederspannungsbereich beschränkten Verbraucherschutzbestimmungen kann dies vielleicht für die Benennung der zu regelnden Themen gelten, es lassen sich aber bestimmt nicht einfach die Regelungen aus der Niederspannung übertragen. Im Vertrag zu regelnde Themen schließen u. a. technische Regeln für die Anschlussnutzung, Notstromentnahme, Zutrittsrechte des Netzbetreibers und Haftungsbeschränkung ein. Wie oben in Abschnitt II.2 behandelt, bedarf es für eine Ersatzversorgung durch den örtlich zuständigen Grundversorger besonderer Vorkehrungen.63 Da es keinen von der BNetzA festgesetzten Standardvertrag für die Anschlussnutzung gibt, haben Netzbetreiber und Anschlussnutzer einen Gestaltungsspielraum. Dies gibt den Parteien die Möglichkeit zur vertraglichen Regelung der auf den höheren Spannungsebenen fehlenden Bestimmungen für die Ersatzversorgung. In der Anlage zur GPKE hat die BNetzA vorgesehen, dass die festgesetzten Prozesse für die Ersatzversorgung auch für den Fall einer vertraglich vereinbarten Ersatzbelieferung gelten.64 Eine vertraglich vereinbarte Ersatzbelieferung besteht, sofern der Letztverbraucher dem Netzbetreiber vorab, beispielsweise in dem Anschlussnutzungsvertrag, einen Ersatzlieferanten benannt hat.65 Dies gilt ausdrücklich auch für Letztverbraucher im Höchstspannungsnetz, die an das Netz des Übertragungsnetzbetreibers angeschlossen sind.66 61 Vgl. das Vertragsmuster für einen Anschlussnutzungsvertrag für Mittelspannung/Hochspannung bei Mussaeus/Rausch/Moraing/Schwind, Verträge der Energiewirtschaft, 2015, Kapitel 2E, S. 163 ff. 62 Ebenda, Rn. 2. 63 Insoweit nicht ganz vollständig das Vertragsmuster bei Mussaeus/Rausch/Moraing/ Schwind, Kapitel 2E in Ziffer 3 mit den Erläuterungen dazu auf S. 170, Rn. 14 ff. 64 BK6 – 16 – 200 Anlage 1, Anlage zum Beschluss BK6 – 06 – 009, Darstellung der Geschäftsprozesse zur Anbahnung und Abwicklung der Netznutzung bei der Belieferung von Kunden mit Elektrizität, S. 38. 65 BK6 – 16 – 200 Anlage 1, Anlage zum Beschluss BK6 – 06 – 009, Darstellung der Geschäftsprozesse zur Anbahnung und Abwicklung der Netznutzung bei der Belieferung von Kunden mit Elektrizität, S. 38. 66 BK6 – 16 – 200 Anlage 1, Anlage zum Beschluss BK6 – 06 – 009, Darstellung der Geschäftsprozesse zur Anbahnung und Abwicklung der Netznutzung bei der Belieferung von Kunden mit Elektrizität, S. 38.
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Allerdings kann nicht damit gerechnet werden, dass alle Letztverbraucher dem Netznutzer gegenüber für den Fall des Ausfalls ihres Stromlieferanten einen Ersatzlieferanten benennen. Schließlich ist der Ausfall des Erstlieferanten unwahrscheinlich und die Suche nach einem Ersatzlieferanten, der sich ja zur Lieferung verpflichten muss, ist mit Aufwand und Kosten verbunden. Um für Ausfälle von Stromlieferanten abgesichert zu sein, kann es für den Netzbetreiber attraktiv sein, in dem Anschlussnutzungsvertrag Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass eine Stromentnahme erfolgt, ohne dass diese einem Lieferverhältnis zugeordnet werden kann. Hierbei wäre vorzusehen, dass der Netzbetreiber die Energieentnahme als sogenannte „Notstromentnahme“ duldet.67 Soweit Netzbetreiber Anschlussnutzungsverträge anbieten, findet sich zur Notstromentnahme darin häufig ein Verweis auf folgende oder eine ähnliche Klausel:68 „9. Geduldete Notstromentnahme durch den Anschlussnutzer 9.1. Sofern der Anschlussnutzer über das Netz des Netzbetreibers Elektrizität entnimmt, ohne dass dieser Bezug einem bestimmten Liefervertrag oder einem Bilanzkreis zugeordnet werden kann, ist der Netzbetreiber berechtigt, die Unterbrechung der Anschlussnutzung vorzunehmen und, soweit dazu erforderlich, die elektrische Anlage vom Netz trennen. Nimmt der Netzbetreiber zunächst keine Unterbrechung vor, obwohl er hierzu nach Satz 1 berechtigt wäre, und duldet er die weitere Entnahme von Elektrizität, ist der Anschlussnutzer gleichwohl verpflichtet, sich umgehend um einen Lieferanten bzw. eine Bilanzkreiszuordnung zu bemühen. Eine geduldete Entnahme von Elektrizität gilt als entgeltliche Notstromentnahme durch den Anschlussnutzer ohne Anerkennung einer Rechtspflicht des Netzbetreibers. Der Netzbetreiber weist den Anschlussnutzer auf die Notstromentnahme unverzüglich hin, nachdem er hiervon Kenntnis erlangt hat. Die Notstromentnahme kann jederzeit ohne Angabe von Gründen unterbunden werden. 9.2. Das Entgelt für die Notstromentnahme bestimmt sich nach billigem Ermessen unter angemessener Berücksichtigung der Marktsituation für die Energiebeschaffung und – sofern der Netzzugang dem Anschlussnutzer nicht ohnehin gesondert in Rechnung gestellt wird – der aktuellen Entgelte des Netzbetreibers sowie der gegebenenfalls anfallenden Steuern 67 Vgl. de Wyl/Thole/Bartsch (Fn. 28), § 15 Rn. 149; Hartmann, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 55. EL 2007, § 3 StromGVV Rn. 13; Hartmann (Fn. 50), § 17 EnWG Rn. 117; Hartmann, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, 70. EL 2011, § 1 StromGVV Rn. 32. 68 Hier ein Beispiel aus den AGB der Stadtwerke Saarbrücken AG (Allgemeine Geschäftsbedingungen für den Netzanschluss und die Anschlussnutzung [Strom] außerhalb des Anwendungsbereichs der NAV; https://www.saarbruecker-stadtwerke.de/media/download534d2f9526386, zuletzt eingesehen am 9. 1. 2018), auf die in deren Anschlussnutzungsvertrag (https://www.saarbruecker-stadtwerke.de/media/download-534d312ae658 f, zuletzt eingesehen am 9. 1. 2018) verwiesen wird. Siehe dazu beispielsweise auch die Regelungen in den Anschlussnutzungsverträgen der Schleswiger Stadtwerke GmbH (Allgemeine Geschäftsbedingungen für den Netzanschluss und die Anschlussnutzung [Strom] ab Mittelspannung; Anlage 1), https://www.schleswiger-stadtwerke.de/downloads/netzzugang/netzanschluss/AGB_Netz _und_Anschluss_Mittel.pdf?m=1502781039, zuletzt eingesehen am 12. 1. 2018, vgl. auch die etwas abweichende Vertragsgestaltung der Pfalzwerke unter https://www.pfalzwerke-netz.de/ documents/PWN_Logo_Anschlussnutzungsvertrag_NetzAG_2013_01_17.pdf, zuletzt eingesehen am 18. 1. 2018.
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(insbesondere Umsatz- und Stromsteuer). Etwaige Zahlungen des Anschlussnutzers an den Lieferanten haben gegenüber dem Netzbetreiber keine befreiende Wirkung.“
Im Bereich der ÜNB findet sich im Anschlussnutzungsvertrag der Amprion GmbH auch eine Regelung, die bei der fehlenden Bilanzkreiszuordnung des Kunden anknüpft: „3. Bilanzkreiszuordnung, Netznutzung … (2) Sofern der Kunde trotz fehlender Bilanzkreiszuordnung den Netzanschluss weiterhin nutzen sollte, stellt dies einen Vertragsverstoß dar. Amprion hat in diesem Fall unbeschadet ihres Rechts gemäß Abs. (3) gegenüber dem Kunden neben den Ansprüchen auf Zahlung der EEG-Umlage nach § 60 Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) einen Anspruch auf Zahlung einer Pönale gemäß ,Preisblatt Anschlussnutzung‘. Weitergehende Schadensersatzansprüche bleiben unberührt. Die Pönale wird auf derartige Schadensersatzansprüche angerechnet. (3) Amprion ist befugt, die Anschlussnutzung bei fehlender Bilanzkreiszuordnung des Kunden jederzeit zu unterbrechen. …“69
Die Pönale für eine fehlende Bilanzkreiszuordnung bemisst sich gemäß dem Preisblatt Anschlussnutzung nach der Höhe des doppelten für die jeweilige Stunde gültigen Preises für Stundenkontrakte am EEX-Spotmarkt zum Zeitpunkt der jeweiligen vertragswidrigen Anschlussnutzung, mindestens jedoch 60,00 E/MWh. Diese Pönale sollte ausreichen, die dem Netzbetreiber durch die Notstromentnahme entstehenden Kosten abzudecken. Soweit ersichtlich, ist dies jedoch der einzige Anschlussnutzungsvertrag, der bisher auf der Ebene der ÜNB als Standardvertrag angeboten wird. Der von Amprion verfolgte Ansatz scheint sich auf den ersten Blick sehr von dem Ansatz der Notstromentnahme der Verteilnetzbetreiber zu unterscheiden. Betrachtet man jedoch die wesentlichen wirtschaftlichen Folgen, wie die Möglichkeit der Duldung einer vertragslosen Stromentnahme, die vertraglich abgesicherte Möglichkeit, die Anschlussnutzung zu unterbrechen und eine vertragliche Grundlage für die Entschädigung für den entnommenen Strom, so sind die Ergebnisse ähnlich. Die Anknüpfung an die fehlende Bilanzkreiszuordnung erscheint sachgerecht, da die ihr zugrunde liegende Vereinbarung aus Netzbetreibersicht die wichtigsten Grundlagen für eine vorübergehende Stromentnahme sicherstellt. In der Regel wird es sich bei den Klauseln um Allgemeine Geschäftsbedingungen handeln, die insoweit einer Überprüfung nach den §§ 305 ff. BGB zu unterziehen wären. Besonders in Situationen, in denen zwischen dem Netzbetreiber und dem Anschlussnutzer keine sonstigen direkten oder indirekten Vertragsbeziehungen bestehen, können Anschlussnutzungsverträge nützlich sein. Dies ist beispielsweise denkbar, wenn der Netznutzungsvertrag als Teile eines „All-inclusive-Vertrags“ zusam69 Ziffer 3 des Anschlussnutzungsvertrag IND 08.2015 der Amprion GmbH (https://www. amprion.net/Dokumente/Strommarkt/Netzkunden/Netzanschlussregeln/Muster-ANV-IND-mitAnlagen_1508_v03.pdf, zuletzt eingesehen am 9. 1. 2018).
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men mit der Lieferbeziehung entfallen ist, der Anschlussnutzer von dem Anschlussnehmer verschieden ist und er keinen direkten eigenen Bilanzkreisvertrag mit dem Netzbetreiber hat. Wie erwähnt, ist dies z. B. bei Störungen im Lieferverhältnis von an Kundenanlagen angeschlossenen Verbrauchern leicht denkbar. Vor dem Hintergrund der Regelungen zur Entflechtung der Netzbetreiber70 erscheint die in den Anschlussnutzungsverträgen vorgesehene Notstromentnahme allerdings nur für einen kurzen Übergangszeitraum zulässig, der für den Netznutzer vernünftigerweise erforderlich ist, um sich einen neuen Lieferanten zu suchen.71 d) Bilanzkreisvertrag Nicht immer werden aber diese Netzanschluss- und Anschlussnutzungs- und Netznutzungsverträge abgeschlossen. Daher ist als weitere Möglichkeit das Vorliegen eines unmittelbar zwischen Netznutzer und ÜNB abgeschlossenen Bilanzkreisvertrags zu betrachten. Große Unternehmen, die beispielsweise auch ein eigenes Industriekraftwerk und selbst Energiehandel betreiben, können auch selbst als Bilanzkreisverantwortliche einen Bilanzkreisvertrag mit dem ÜNB abschließen. Wie oben unter II.1.a) erwähnt, hat der Bilanzkreis zwar eigentlich nicht den Zweck, darüber Stromlieferungen oder -entnahmen abzurechnen. Erfolgt aber eine Stromentnahme aus dem Netz, die nicht durch eine Lieferung entsprechend im Bilanzkreis ausgeglichen ist, und besteht ein Bilanzkreisvertrag, so kann der ÜNB das in dem Bilanzkreis entstehende Defizit als Ausgleichsenergie abrechnen. Die Abrechnung erfolgt nach dem Bilanzkreisvertrag, der mittels förmlicher Festlegung durch die BNetzA (Az. BK6 – 06 – 013, Beschluss vom 29. Juni 2011) vorgegeben wurde und nach den Marktregeln für die Durchführung der Bilanzkreisabrechnung Strom (MaBiS).72 Die nach Ziffer 11 des Bilanzkreisvertrags ermittelten Abweichungen werden dann gegenüber dem Bilanzkreisverantwortlichen zum regelzonenübergreifenden einheitlichen Bilanzausgleichsenergiepreis nach Ziffer 10 des Bilanzkreisvertrags abgerechnet. Anders liegt die Sache, wenn der Letztverbraucher nicht Bilanzkreisverantwortlicher mit eigenem Bilanzkreis ist. Eine einfache Zurechnung der Entnahmen des Netznutzers zu dem eigenen Bilanzkreis des ÜNB erscheint problematisch. Die Regelungen für den Bilanzkreisausgleich bieten ohne Vorliegen einer Vereinbarung keine Grundlage für die Geltendmachung von Ansprüchen des ÜNB gegen Letztver70
de Wyl/Thole/Bartsch (Fn. 28), § 15 Rn. 150. Vgl. dazu auch unter Abschnitt vor I. unten. 72 https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Service-Funktionen/Beschlusskammern/1BK-Ge schaeftszeichen-Datenbank/BK6-GZ/2006/2006_0001bis0999/2006_001bis099/BK6 - 06 - 013/ BK6 - 06 - 013_Beschluss_2011_06_29.pdf?__blob=publicationFile&v=5, https://www.bundes netzagentur.de/DE/Service-Funktionen/Beschlusskammern/Beschlusskammer6/BK6_31_ GPKE_und_GeLiGas/Mitteilung_Nr_31/Anlagen/Konsolidierte_Lesefassung_MaBiS.pdf?__ blob=publicationFile&v=2, beide zuletzt eingesehen am 12. 1. 2018. 71
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braucher. Dies ergibt sich aus dem in § 20 EnWG, der StromNZV und den Festlegungen der BNetzA vorgegebenen Bilanzkreissystem. Könnte der ÜNB den ohne Liefervertrag entnommenen Strom einfach in seinen eigenen Bilanzkreis aufnehmen und dann gegenüber dem Netznutzer abrechnen, würde durch die bloße Entnahme von Strom aus dem Netz eine Bindung des Kunden an einen Bilanzkreisvertrag konstruiert, für die es weder eine Willenserklärung des Kunden noch eine solche des ÜNB gibt. Auch der Gedanke der Realofferte lässt sich in dieser Situation nicht auf den Abschluss eines Bilanzkreisvertrags übertragen. Ohne eine vertragliche Grundlage kann der an das Netz angeschlossene Kunde nicht in den Bilanzkreis einbezogen werden, da zum einen keine der beiden Seiten entsprechende Willenserklärungen abgegeben hat und zum anderen auch praktisch zwischen dem Netznutzer einerseits und dem Netzbetreiber oder dem Bilanzkreisverantwortlichen andererseits vielfältige Interaktionen erforderlich sind und die Stellung mit vielfältigen Mitwirkungs- und anderen Pflichten verbunden ist. Hat der an das Hoch- oder Höchstspannungsnetz angeschlossene Letztverbraucher einen eigenen Bilanzkreis bei dem ÜNB, so kann der ÜNB bei einer Entnahme des Kunden ohne Liefervertrag die Nominierung des Kunden als Ausgleichsenergie abrechnen. Dies setzt jedoch voraus, dass zwischen Netzkunde und ÜNB ein eigener Bilanzkreisvertrag abgeschlossen wurde. III. Gesetzliche Verhältnisse: Notstromentnahme oder Unterbrechung der Versorgung Lässt sich eine Stromentnahme im Hoch- oder Höchstspannungsnetz keinem Stromliefervertrag zuordnen und gibt es auch keinen Lieferanten und auch keine andere vertragliche Beziehung zu dem ÜNB, die die Entnahme erlaubt, so steht der ÜNB vor der schwierigen Entscheidung, ob er die Stromentnahme durch den Netznutzer dulden kann oder sogar muss oder ob die Stromentnahme zu unterbrechen ist. 1. Grundlagen der Notstromentnahme Bereits bei der Erörterung des Anschlussnutzungsvertrags fand das Konzept der Notstromentnahme Erwähnung. Danach liefert der Netzbetreiber zwar keinen Strom an den Anschlussnutzer, was er ja aufgrund der Entflechtung nicht darf, aber er duldet die Entnahme und berechnet die Kosten dafür gegenüber dem Anschlussnutzer.73 Grundsätzlich wird dies in der Literatur für zulässig gehalten.74
73
Siehe oben in Abschnitt II. 3. c). Vgl. de Wyl/Thole/Bartsch (Fn. 28), § 15 Rn. 149; Hartmann (Fn. 67), § 3 StromGVV Rn. 13; ders. (Fn. 50), § 17 EnWG Rn. 117; ders. (Fn. 67), § 1 StromGVV Rn. 32. 74
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a) Rechtsgrundlage Die Stromversorgung von Kunden gehört nicht zu den Aufgaben des Netzbetreibers, der ja nach § 11 Abs. 1 EnWG ein sicheres, zuverlässiges und leistungsfähiges Energieversorgungsnetz im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren diskriminierungsfrei betreiben, optimieren und ausbauen soll. Davon ist die Energieversorgung von Kunden aufgrund der Entflechtung gemäß den §§ 6 ff. EnWG streng getrennt. Allerdings muss auch der Netzbetreiber als Teil seiner genuinen Aufgaben für die Aufrechterhaltung der Netzstabilität Regelenergie entsprechend § 22 EnWG i.V.m. der StromNZVund den Festlegungen der BNetzA75 beschaffen und diese Kunden nach § 8 StromNZV als Ausgleichsenergie zur Verfügung stellen. Im Unterschied zur Belieferung von Kunden mit Strom stellt der Netzbetreiber den Netznutzern die Ausgleichsenergie aber nicht als Stromlieferung aufgrund eines Stromliefervertrags zur Verfügung, sondern er duldet nur eine übermäßige Stromentnahme aus dem Netz. Er stellt die Regelleistung und die Regelenergie auch nicht einem einzelnen, bestimmten Netznutzer zur Verfügung, sondern stellt die von ihm vorgehaltene Leistung zunächst einmal generell dem Netz zur Aufrechterhaltung einer stabilen Netzfrequenz zur Verfügung. Dabei kommt es zunächst nicht darauf an, welcher Netzkunde die Unterversorgung des Netzes verursacht hat. Erst im Nachhinein bei der Abrechnung der Bilanzkreise und der Inrechnungstellung der Ausgleichsenergie76 ordnet der Netzbetreiber die Fehlmenge und deren Kosten einem bestimmten Netzkunden zu. Dies ist keine mit einer Stromlieferung vergleichbare Situation. Es fällt auf, dass diese Situation der Zurverfügungstellung von Regelenergie an Netznutzer große Ähnlichkeiten mit der hier behandelten Sachlage einer Ersatzversorgungssituation im Hoch- oder Höchstspannungsnetz hat. In beiden Fällen wird dem Netz Strom entnommen, der vom Netznutzer in der tatsächlich entnommenen Menge weder kontrahiert noch nominiert worden ist. Unterschiede bestehen zum einen insofern, als im Normalfall der Netznutzer einem Bilanzkreis zugeordnet ist, über den der Netzbetreiber die Ausgleichsenergie abrechnen kann. Zum anderen ist davon auszugehen, dass jedenfalls wenn die Notstromentnahmesituation bereits eine Zeit lang andauert, der Netzbetreiber in der Regel die Situation und die irreguläre Stromentnahme des Netznutzers bereits kennen wird und sich entscheiden kann und muss, wie er mit der Situation umgehen will: ob er die Notstromentnahme weiter duldet oder welche Maßnahmen er ergreift, um die Situation zu lösen. 75 Vgl. die Festlegungen der BNetzA zu Primär- und Sekundärregelenergie und Minutenreserve auf https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/ElektrizitaetundGas/Unter nehmen_Institutionen/Versorgungssicherheit/Engpassmanagement/Regelenergie/regelener gie-node.html;jsessionid=AE08CFB40D5EA6474B90D21DAC543CA0#doc266958body Text2, zuletzt eingesehen am 14. 1. 2018). 76 Entsprechend den §§ 9 ff. des Bilanzkreisvertrags, der Festlegung der Bundesnetzagentur (BNetzA) zur Weiterentwicklung des Ausgleichsenergiepreis-Abrechnungssystems (BK6 – 12 – 024) vom 25. 10. 2012 nach § 27 Abs. 1 Nr. 21a StromNZV.
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Als Maßnahmen zur Abstellung der Notversorgungssituation – und somit als Alternative zur Duldung der Notstromentnahme – werden für den Netzbetreiber in der Regel in Betracht kommen, dass er den vertragslosen Netznutzer entweder auffordert, die vertragslose Situation unverzüglich innerhalb einer angemessenen Frist zu beenden und die Notstromentnahme bis dahin zu dulden oder dass der Netzbetreiber die weitere Stromversorgung des Kunden unterbricht. Doch bevor wir auf die Kriterien für eine diesbezügliche Entscheidung des Netzbetreibers, die Mitwirkungspflichten des Kunden und die Abrechnung durch den Netzbetreiber eingehen, wollen wir zunächst die Vereinbarkeit dieser Notstromentnahme mit den Entflechtungsregeln der §§ 6 ff. EnWG untersuchen. b) Vereinbarkeit mit den Entflechtungsregeln Auch in der Literatur, die die Notstromentnahme im Prinzip für zulässig hält, wird die Praxis, in der Situation der Notstromentnahme die Regeln der Ersatzversorgung auch in höheren Spannungsebenen entsprechend anzuwenden, als gegen die Regeln der Entflechtung nach den §§ 6 ff. EnWG verstoßend abgelehnt.77 Dies entspricht dem Ergebnis unserer Erörterungen oben in Teil 1, dass in den Netzebenen oberhalb der Niederspannungen das gesetzliche Schuldverhältnis der Ersatzversorgung weder direkt noch indirekt Anwendung finden. Allerdings adressiert diese Feststellung nicht die Zulässigkeit der Notstromentnahme. Da die Ersatzversorgung ja gerade ein gesetzlich zustande kommendes Lieferverhältnis mit einem Stromlieferanten ist, während es sich bei der Notstromentnahme nur um eine Duldung der Entnahme des Stroms gerade ohne ein vertragliches Lieferverhältnis handelt, wird der Netzbetreiber durch diese Duldung nicht zum Stromlieferanten. Diese Unterscheidung zwischen Stromlieferung, egal ob vertraglich oder gesetzlich zustande gekommen, und der Duldung der Entnahme ist für die Rechtmäßigkeit der Notstromentnahme entscheidend. Die Entflechtungsregeln haben den Zweck, das natürliche Monopol des Netzbetriebs von dem Wettbewerbsbereich der Belieferung von Kunden mit Strom abzugrenzen.78 Mit der Duldung der Stromentnahme begibt sich der Netzbetreiber aber gerade nicht in ein Lieferverhältnis mit dem Netznutzer. Zum einen fehlt es dazu bereits sowohl an der vertraglichen Vereinbarung als auch an einer gesetzlichen Anordnung. Zum anderen hängt das Zustandekommen der Notstromentnahme ja auch nicht von dem Willen des Netzbetreibers ab, sondern er ist hier typischerweise jedenfalls zunächst in einer passiven Rolle, wo er die Stromentnahme aus seinem Netz unabhängig von seinem Willen sozusagen „erdulden“ muss. Schließlich bringt die Notstromentnahme den Netzbetreiber nach wirtschaftlichen Maßstäben auch nicht in eine Wettbewerbssituation mit Stromversorgern, die dem Letztverbraucher eine Stromversorgung anbieten, da die Notstromentnahme für 77 Hartmann (Fn. 67), § 1 StromGVV Rn. 32; de Wyl, in: Schneider/Theobald (Hrsg.), Recht der Energiewirtschaft, 2008, § 14 Rn. 149. 78 Vgl. Pritzsche/Vacha, Energierecht – Einführung und Grundlagen, S. 191 ff. m.w.N.
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den Netznutzer, wie gleich noch zu zeigen sein wird,79 wesentlich teurer sein wird als eine normale Versorgung. Daher wird kein normaler Verbraucher die Notstromentnahme länger als unbedingt nötig in Anspruch nehmen, sondern wird sich lieber einen Stromlieferanten suchen. Auch sachlich gehört die Notstromentnahme notwendigerweise zu dem Geschäftsbereich des Netzbetreibers und nicht der „anderen Tätigkeitsbereiche der Energieversorgung“, wie § 6 Abs. 1 EnWG die Unterscheidung trifft. Der Grund findet sich darin, dass der vertragslos entnehmende Letztverbraucher während der Dauer der Notstromversorgung gar nicht an dem Strommarkt teilnimmt, sondern ausschließlich eine auf seine Stromentnahme beschränkte Beziehung zu dem Netzbetreiber hat. Daher ist die Notstromentnahme von dem Wettbewerbsbereich der Belieferung mit Strom zu unterscheiden und sie ist daher nicht nach den Regeln der Entflechtung unzulässig. c) Grenzen der Notstromentnahme und Mitwirkungspflichten des Kunden Allerdings zeigen die Überlegungen zu den Entflechtungsregeln auch Grenzen der Zulässigkeit der Notstromentnahme auf. Sobald die Stromentnahme eine vertragliche Grundlage erhält, die sie zu einem Lieferverhältnis werden lässt, wird sie für den Netzbetreiber aufgrund der Entflechtungsregeln unzulässig. Wo genau diese Grenze der Zulässigkeit von Vereinbarungen zwischen dem Netzbetreiber und dem vertragslos entnehmenden Netznutzer liegt, bedarf jedoch genauer Analyse. So hatten wir oben bereits erörtert, dass eine Regelung der Situation der Notstromentnahme im Rahmen eines Anschlussnutzungsvertrags durchaus üblich und zulässig ist. Die Begründung liegt darin, dass der Anschlussnutzungsvertrag sich typischerweise darauf beschränkt, die Notstromentnahme mit einigen ausdrücklichen Regeln zu versehen und das Recht des Netzbetreibers festschreibt, die Entnahme zu unterbinden. Der Anschlussnutzungsvertrag sieht aber gerade kein Recht des Kunden auf Stromentnahme und eine bestimmte Vergütung vor, was typischerweise den Hauptleistungspflichten eines Liefervertrags entsprechen würde. Allerdings wäre nach diesen Regeln beispielsweise eine Vereinbarung unzulässig, wonach der Netzbetreiber und der vertragslos entnehmende Netznutzer vereinbaren, dass der Netznutzer für eine Zeit, z. B. bis er einen neuen Stromlieferanten gefunden hat, bis zu einer bestimmten Menge zur Stromentnahme berechtigt ist und dafür einen bestimmten Preis entrichtet, z. B. den für eine Ersatzversorgung zu entrichtenden Preis oder den Preis für Ausgleichsenergie. In diesem Fall würde vertraglich ein Recht des Kunden auf Stromentnahme etabliert und die den Hauptleistungspflichten eines Liefervertrags entsprechenden Vertragsgegenstände, Sachleistung und Vergütung, würden vertraglich festgelegt. 79
Siehe Abschnitt III. 2. b).
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Andererseits gibt es bestimmte Regelungen, die auch bei der Notstromentnahme im Interesse eines sicheren und geregelten Netzbetriebs erforderlich sind. So ist es beispielsweise erforderlich, dass der Netznutzer auch bei der Notstromentnahme die für den sicheren Netzbetrieb erforderlichen technischen Parameter einhält. Anderenfalls kann der Netzbetreiber unter Umständen schon aus Gründen der Sicherung des Netzbetriebs die Notstromentnahme nicht weiter dulden. Auch ist es gerade bei den größeren Entnahmemengen, die beim Anschluss im Hoch- oder Höchstspannungsnetz entnommen werden können, aus Gründen der Wirtschaftlichkeit für alle Netznutzer zweckmäßig, dass der Netznutzer seine Entnahmemengen jeweils im Rahmen eines Bilanzkreises nominiert. Andernfalls muss der Netzbetreiber bei seiner Beschaffung von Regelleistung zu hohe Sicherheitsmargen einkalkulieren. Daher wird man derartige, sich auf Nebenpflichten eines Netznutzers beziehende Vereinbarungen wohl für mit den Entflechtungsregeln vereinbar halten müssen. Allerdings ist diese Unterscheidung zwischen den Hauptpflichten eines Liefervertrags und den Nebenpflichten einer Notstromentnahme in der Praxis nicht immer einfach. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn man überlegt, wie eine Vereinbarung zwischen dem vertragslosen Netznutzer und dem Netzbetreiber zu beurteilen ist, die eine Höchstmenge der Entnahme bis zu dem Zeitpunkt festschreibt, zu dem der Verbraucher einen neuen Lieferanten gefunden hat. Die Höhe der für den entnommenen Strom zu zahlenden Vergütung könnte sich aus den allgemeinen Regeln80 und der bisherigen Praxis des Netzbetreibers ableiten. Eine solche Vereinbarung könnte durchaus so verstanden werden, dass der Netznutzer in diesem Umfang und für diese Zeit – vorbehaltlich anderer Störungen – dann auch berechtigt ist, Strom aus dem Netz zu entnehmen. Damit könnte sich dann hinter der scheinbaren Vereinbarung einer der Netzsicherheit dienenden Regelung eine Vereinbarung zu den „essentialia negotii“ eines Liefervertrags verbergen. Dieses Beispiel zeigt, dass die Grenzen der Notstromversorgung und Vereinbarungen dazu in Zweifelsfällen einer genauen Überprüfung bedürfen. 2. Vergütung für die Notstromentnahme Eine zentrale Frage bei der Notstromentnahme ist natürlich, welchen Preis der Netzbetreiber für die Notstromentnahme verlangen darf. Dabei geht es zum einen um die Rechtsgrundlage für den Zahlungsanspruch des Netzbetreibers und die korrespondierende Zahlungspflicht des Anschlussnutzers und zum anderen um die Höhe des Zahlungsanspruchs. Einigkeit besteht, dass der Netzbetreiber für die Stromentnahme während des Übergangszeitraums ein Entgelt verlangen kann.81
80
Siehe Abschnitt III. 2. Busche (Fn. 2), § 38 Rn. 22; de Wyl/Thole/Bartsch (Fn. 28), § 15 Rn. 150; Hartmann (Fn. 67), § 1 StromGVV Rn. 32; Hartmann (Fn. 50), § 17 EnWG Rn. 117. 81
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a) Rechtsgrundlage Grundsätzlich kann man als Rechtsgrundlage für einen Zahlungsanspruch an verschiedene rechtliche Grundlagen denken. Es kommen im Prinzip vertragliche und gesetzliche Ansprüche in Betracht. aa) Vertragliche Ansprüche Bei der Frage nach der Rechtsgrundlage für einen Zahlungsanspruch des Netzbetreibers für den entnommenen Strom ist wiederum zunächst an einen vertraglichen Anspruch zu denken. Dem steht jedoch entgegen, dass es sich bei der Notstromentnahme typischerweise gerade um eine Situation handelt, in der der Anschlussnehmer keine vertraglichen Vereinbarungen hat, die die Stromentnahme erlauben. Aufgrund der Bereitstellung von Regelenergie durch den ÜNB als Grundlage für die Notstromentnahme könnte man an eine Abrechnung nach den Bilanzkreisregeln denken. Allerdings besteht in der Situation der Notstromentnahme ja gerade weder unmittelbar noch mittelbar eine Bilanzkreisvereinbarung zwischen dem ÜNB und dem Netzanschlussnutzer. Wie oben bereits erörtert, kann auch kein konkludenter Abschluss angenommen werden.82 Auch die nachträgliche Vereinbarung eines Preises für die im Wege der Notstromentnahme entnommene Arbeit oder noch mehr der zur Verfügung gestellten Leistung nach Beginn der Notstromentnahme erscheint problematisch. Aus der Vereinbarung eines Preises könnte möglicherweise, wenn nicht weitere gegenteilige Vereinbarungen vorliegen, auch das Recht zur Stromentnahme abgeleitet werden. Damit würde die Vereinbarung aber gegen die Entflechtungsregeln verstoßen, da sie die Hauptleistungspflichten eines Liefervertrags, Lieferanspruch und Preis, beinhalten würde. Deshalb ist bei der vertraglichen Vereinbarung eines Preises für die Notstromentnahme sehr genau darauf zu achten, dass aus der Vereinbarung kein Lieferanspruch des Anschlussnutzers abgeleitet werden kann. Eine solche Ableitung eines Lieferanspruchs des Netznutzers müsste zur Vermeidung eines Konflikts mit den Entflechtungsregelungen auch als vertragliche Nebenpflicht, als „venire contra factum proprium“ des Netzbetreibers und aus Treu und Glauben nach § 242 BGB ausgeschlossen sein. bb) Geschäftsführung ohne Auftrag Liegt danach keine vertragliche Vereinbarung eines Preises vor, so sind gesetzliche Ansprüche zu betrachten. Dabei kommt zunächst ein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) nach den §§ 677 ff. BGB in Betracht.
82
Siehe Abschnitt III. 1. a).
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Der BGH hat in einem Urteil aus dem Jahre 200583 zu der alten Rechtslage, wonach die Netzbetreiber noch Grundversorger waren (§ 10 EnWG 1998), entschieden, dass auch ein konkludenter Vertragsschluss mit dem Netzbetreiber ausgeschlossen ist, wenn der Letztverbraucher irrtümlich davon ausgeht, es bestehe ein Liefervertrag mit einem dritten Energieversorgungsunternehmen.84 Der Letztverbraucher will schließlich nicht doppelte Belieferung. Die Ausgangslage in dem Fall entsprach also der vorliegend erörterten insoweit, als kein vertragliches Lieferverhältnis vorlag und auch ein Rückgriff auf ein Grundversorgerverhältnis ausschied. Der BGH kam danach zu dem Ergebnis, dass in dieser Situation mit der Stromentnahme ein gesetzliches Schuldverhältnis nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag zustande kommt. Dem stimmt die Literatur85 zu. Der BGH ging in seinem Urteil aus dem Jahr 2005 davon aus, dass der Grundversorger – in der uns vorliegenden Konstellation der ÜNB – durch die Stromlieferung bzw. die Duldung der Stromentnahme ein objektiv auch-fremdes Geschäft führt und daher einen Vergütungsanspruch nach §§ 677, 683 Satz 1, 670 BGB hat. Das Geschäft war im Fall des BGH auch-fremd, da der Grundversorger nach der Regelung des § 10 EnWG 1998 als Grundversorger zur Stromlieferung verpflichtet war. Die Energielieferung entsprach aber auch dem objektiven Interesse sowie dem mutmaßlichen Willen des Letztverbrauchers, dessen Sache es war, sich nach Kündigung des alten Liefervertrags um einen anderen Lieferanten zu kümmern. Dies entspricht auch der Situation der Notstromentnahme, in der zwar die Bereitstellung von Regelenergie eine eigene Aufgabe des ÜNB ist, wo er aber die Stromentnahme durch den vertragslosen Anschlussnutzer duldet. Der BGH führte ausdrücklich aus86: „Indem die Klägerin [hier der ÜNB, Zusatz durch den Autor] davon abgesehen hat, die Stromzufuhr … zu unterbrechen, und die Beklagte fortgesetzt mit Energie bedient hat, hat sie deshalb objektiv … jedenfalls auch … das Versorgungsinteresse der Beklagten wahrgenommen …. Ein entsprechender Fremdgeschäftsführungswille ist daher zu vermuten.“
In der Situation der Notstromentnahme fehlt es ebenfalls an einem Auftrag oder an einer sonstigen Berechtigung des ÜNB, das Geschäft für den Anschlussnutzer wahrzunehmen. Die Übernahme der Geschäftsführung durch den ÜNB entspricht typischerweise auch dem Interesse und mutmaßlichen Willen des Anschlussnutzers, was sich darin zeigt, dass er weiter den Strom aus dem Netz zieht.87 Das Urteil des BGH lässt sich trotz geänderter Rechtslage auch heute noch auf die Situation der Notversorgung anwenden und auf die Ebene des Übertragungsnetzes 83 BGH, Urt. v. 26. 1. 2005 – VIII ZR 66/04, Bundesgerichtshof.de (https://juris.bundesge richtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=31720&pos= 0&anz=1, zuletzt eingesehen am 14. 1. 2018). 84 Siehe auch de Wyl/Soetebeer (Fn. 36), § 11 Rn. 98. 85 Busche (Fn. 2), § 38 Rn. 22; Hellermann (Fn. 13), § 38 Rn. 8; Schöne (Fn. 42), 4.C Rn. 31. 86 Siehe Fn. 83, S. 14, m.w.N. 87 Ebenda, S. 16.
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übertragen. Dass keine dem § 10 EnWG 1998 entsprechende Pflicht zur Grundversorgung auf der Ebene des Übertragungsnetzes besteht, legt umso näher, dass ohne Auftrag zwischen dem ÜNB und dem Letztverbraucher ein gesetzliches Schuldverhältnis nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag begründet wird.88 Entscheidend ist, ob der ÜNB den Willen hat, das Geschäft, also die Zurverfügungstellung von Strom an den Letztverbraucher, im Übertragungsnetz durchzuführen. Rechtsfolge der GoA ist der Anspruch des ÜNB nach §§ 677, 683 Satz 1, 670 BGB gegen den Letztverbraucher auf den Ersatz seiner Aufwendungen.89 cc) Weitere gesetzliche Vergütungsansprüche Für den entnommenen Strom könnte dem Netzbetreiber, sofern keine vertragliche Regelung über eine sogenannte Notstromentnahme vorgesehen ist, auch ein bereicherungsrechtlicher Anspruch nach §§ 812 ff. BGB zustehen.90 Dieser richtet sich gegen den Anschlussnutzer, der in der Situation einer Notstromentnahme den Strom von dem ÜNB ohne Rechtsgrundlage und auf Kosten des ÜNB erlangt hat. Unter Umständen kann sich der Anspruch des ÜNB auch gegen den weggefallenen Stromlieferanten richten, abhängig von der individuellen Situation, die vor dem Wegfall des Versorgungsvertrags bestanden hat und den Umständen, die zum Wegfall geführt haben (entweder bereicherungsrechtliche Rückabwicklung „über Eck“ oder Direktkondition). Darüber hinaus könnte bei einem deliktischen oder sogar strafrechtlich-relevanten Verhalten des Letztverbrauchers („Stromdiebstahl“)91 ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 823 Abs. 2 i.V.m. §§ 248c StGB des ÜNB für den entnommenen Strom bestehen, sofern ihm diesbezüglich ein Schaden entstanden ist (d. h. kein Ausgleich durch einen anderen Marktteilnehmer wie dem Bilanzkreisverantwortlichen erfolgt). Für den Stromdiebstahl dürfte es in der Situation der Notstromentnahme typischerweise sowohl an einer Entnahme „… mittels eines Leiters …, der zur ordnungsmäßigen Entnahme von Energie aus der Anlage oder Einrichtung nicht bestimmt ist“, als auch an der Absicht, sich die elektrische Energie rechtswidrig zuzueignen, fehlen.
88
Vgl. auch bzgl. des Grundversorgers Hellermann (Fn. 13), § 38 Rn. 8. Zu der Höhe des Aufwendungsersatzes nachfolgend unter Abschnitt III. 3. b). 90 Vgl. ohne nähere Erläuterungen Busche (Fn. 2), § 38 Rn. 22; Hartmann, in: Danner/ Theobald (Hrsg.), EnWG, 94. EL 2017, § 20 Rn. 145. 91 § 248c Entziehung elektrischer Energie (1) Wer einer elektrischen Anlage oder Einrichtung fremde elektrische Energie mittels eines Leiters entzieht, der zur ordnungsmäßigen Entnahme von Energie aus der Anlage oder Einrichtung nicht bestimmt ist, wird, wenn er die Handlung in der Absicht begeht, die elektrische Energie sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 89
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b) Höhe der Vergütung Schließlich stellt sich die Frage, in welcher Höhe der Netzbetreiber für die von ihm geduldete Notstromentnahme Vergütung oder Ersatz verlangen kann. Hierfür bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, die auch bereits im Laufe der obigen Erörterungen angesprochen worden sind. Sie sind wesentlich von der Grundlage für den Anspruch abhängig. aa) Vertragliche Vergütung Liegt ein wirksamer Anschlussnutzungsvertrag vor, der die Notstromentnahme regelt,92 so richtet sich die Höhe der zu erstattenden Kosten nach den vertraglich vorgesehenen Regelungen. Dabei ist allerdings entsprechend den Erörterungen in den vorstehenden Abschnitten zu beachten, dass es sich bei der Regelung aus Entflechtungsgründen nicht um ein vertraglich vereinbartes Entgelt handeln darf, aus dem sich ein Lieferanspruch des Kunden ableiten lässt. So ist im Anschlussnutzungsvertrag von Amprion eine Pönale in Höhe des doppelten Preises für Stundenkontrakte am EEX-Spotmarkt vorgesehen.93 Ist in dem Anschlussnutzungsvertrag keine Höhe des Entgelts vorgesehen oder eine Bestimmung des Entgelts für die Notstromentnahme nach billigem Ermessen,94 so werden in der Literatur verschiedene Modelle zur Bestimmung der Vergütungshöhe angeboten. So wird in Betracht gezogen, die Höhe des Entgelts könne sich an dem Entgelt für die Ersatzversorgung orientieren.95Alternativ könne der Netzbetreiber die Höhe des Entgelts nach billigem Ermessen unter angemessener Berücksichtigung der Marktsituation für die Energiebeschaffung nach § 315 BGB bestimmen.96 Hinzu kämen, falls der Netzzugang dem Letztverbraucher nicht ohnehin schon über einen Netznutzungsvertrag in Rechnung gestellt wird, die aktuellen Entgelte für die Netznutzung97 und eventuelle steuerliche Aufwendungen. Teilweise wird auch vertreten, dass der Netzbetreiber dem Letztverbraucher mit erhöhten Regelenergiepreisen seine eigenen Kosten für die kurzfristige Beschaffung entsprechend in Rechnung stellen kann.98 Soweit ersichtlich, gibt es keine direkte gesetzliche Regelung für die Bestimmung der Vergütung oder Entschädigung für die Notstromentnahme. Ein Anhaltspunkt für die angemessene Preishöhe kann sich aus der Natur der Notstromentnahme und den 92
Siehe oben Abschnitt II. 3. c). Ebenda bei Fn. 65. 94 Vgl. die AGB vieler Verteilnetzbetreiber, wovon sich ein Muster in Abschnitt II. 3. c) bei Fn. 64 findet. 95 de Wyl/Thole/Bartsch (Fn. 28), § 15 Rn. 150; Hartmann (Fn. 50), § 17 EnWG Rn. 118. 96 de Wyl/Thole/Bartsch (Fn. 28), § 15 Rn. 150; Hartmann (Fn. 67), § 3 StromGVV Rn. 13, Hartmann (Fn. 50), § 17 EnWG Rn. 118. 97 de Wyl/Thole/Bartsch (Fn. 28), § 15 Rn. 150. 98 Hartmann (Fn. 67), § 1 StromGVV Rn. 32. 93
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sich daraus für den Netzbetreiber ergebenden Kosten ergeben. Wie oben erörtert,99 liegt der Notstromentnahme die Bereitstellung des Netzbetreibers von Regelleistung und -energie für das Netz zugrunde. Die dem Netzbetreiber für deren Beschaffung anfallenden Kosten und die den Netznutzern für Ausgleichsenergie in Rechnung gestellten Preise sind daher für die Zurverfügungstellung von Strom im Wege der Notstromentnahme der mindestens in Rechnung zu stellende Preis. Keinen Einwendungen dürfte darüber hinaus die Inrechnungstellung zusätzlicher bei dem Netzbetreiber durch die Notstromentnahme im konkreten Fall oder generell anfallender Kosten begegnen. Die Bestimmungsmöglichkeit des Entgelts oder der Entschädigung dürfte ihre Grenze aber dort finden, wo der von dem Netzbetreiber verlangte Preis als missbräuchlich anzusehen wäre. Dies sollte aber im Fall von an den Kosten des Netzbetreibers orientierten Preisen nicht in Betracht kommen, denn der Anschlussnutzer müsste solche Kosten ja auch akzeptieren, wenn er den Strom ohne einen Liefervertrag auf der Grundlage eines Bilanzkreisvertrags entnehmen würde. Die Vermutung eines Missbrauchs könnte der Anschlussnutzer nach den §§ 31 ff. EnWG von der Regulierungsbehörde überprüfen lassen. Je nach Art und Gestaltung der Preisfestlegung käme auch eine Überprüfung nach § 315 BGB vor den ordentlichen Zivilgerichten in Betracht. bb) Aufwendungsersatz nach GoA Rechtsfolge der GoA entsprechend dem mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn, wie er vom BGH in seiner Entscheidung 2005 angenommen wurde,100 ist der Anspruch des ÜNB auf den Ersatz von Aufwendungen nach § 683 BGB. Insoweit finden die Regeln des Ersatzes von Aufwendungen für den Beauftragten nach den §§ 670 ff. BGB Anwendung.101 Auch bei der Abrechnung der Notstromentnahme auf der Grundlage der Regeln der GoA handelt es sich wiederum um Aufwendungen des Netzbetreibers für die Zurverfügungstellung von Regelenergie. Daher dürfte auch hier wieder, wie schon bei den nicht festgelegten vertraglichen Ansprüchen oben unter (aa), eine Orientierung an den für Ausgleichsenergie in Rechnung gestellten Preisen plus den gerade für die Notstromentnahme anfallenden Kosten angemessen sein. Hinzu kommt gegebenenfalls der Ersatz von bei dem Netzbetreiber durch die Notstromentnahme verursachten Schäden.102
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Siehe Abschnitt III. 1. a). Siehe Fn. 79. 101 Sprau, in: Palandt (Hrsg.), BGB, 2018, § 683 Rn. 8 m.w.N. 102 Ebenda Fn. 9.
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cc) Bereicherungsrechtlicher Herausgabeanspruch Bereicherungsrechtliche Ansprüche des Netzbetreibers scheiden neben vertraglichen Ansprüchen oder solchen nach GoA aus.103 Sollten diese doch einmal in Betracht kommen, so würden sich hier die von dem Netzbetreiber heraus zu verlangenden Beträge nach den bereicherungsrechtlichen Regeln der §§ 812, 818 BGB richten, also primär auf Wertersatz, wobei der Netzbetreiber Entreicherungen des Netznutzers gegen sich gelten lassen müsste. Eine Vertiefung verschiedener hier möglicher Konstellationen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 3. Unterbrechung der Versorgung Steht der Netzbetreiber vor einer Situation, in der der Kunde auf einer Netzebene oberhalb der Niederspannung ohne einen Lieferanten Strom aus dem Netz entnimmt, so stellt sich dem Netzbetreiber die Frage, wie er sich verhalten soll. Duldet er die Notstromentnahme oder unterbricht er die Entnahme? a) Das Recht zur Unterbrechung der Versorgung In der Literatur besteht Einigkeit, dass der Netzbetreiber bei der Notstromentnahme grundsätzlich berechtigt ist, die Versorgung des Letztverbrauchers zu unterbrechen, wenn dieser ohne Stromliefervertrag und ohne eigenen Netznutzungsvertrag oder Bilanzkreisvertrag Strom aus dem Netz des ÜNB entnimmt.104 Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Versorgung über das Netz ist normalerweise das Bestehen eines Netznutzungsvertrags. Dieser erfordert, dass der Letztverbraucher einem Bilanzkreis zugeordnet ist, § 24 Abs. 2 Nr. 4 StromNZV. Konkretisiert wird dieses Erfordernis durch das von der BNetzA festgelegte Standardformular für Netznutzungsverträge.105 Nach § 3 Abs. 2 des von der BNetzA festgelegten Netznutzungsvertrags ist eine Voraussetzung für dessen Abschluss, dass der Netznutzer dem Netzbetreiber den Bilanzkreis mitteilt. Ist der Netznutzer von Beginn an keinem Bilanzkreis zugeordnet oder fällt die Zuordnung zu einem Bilanzkreis dadurch weg, dass der Lieferant wegfällt, zu dessen Bilanzkreis der Letztverbraucher regelmäßig zugeordnet ist,106 ist der Netzbetreiber nach § 10 Abs. 3 lit. d) des Netznutzungsvertrags der BNetzA berechtigt, die Netznutzung zu beenden und den Anschluss vom Netz zu trennen. Die Unterbrechung der Versorgung ist ebenfalls vorgesehen in der Anlage zum Beschluss der BNetzA über die Festlegung einheitlicher Geschäftsprozesse und Datenformate zur Abwicklung der Belieferung von Kunden mit Elektrizität
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Ebenda, Einführung vor § 677 Rn. 10. de Wyl (Fn. 14), § 14 Rn. 3 und 128; de Wyl/Eder/Hartmann (Fn. 6), Teil 2 G Rn. 97; Eder (Fn. 24), § 38 Rn. 20 – 25; Hartmann (Fn. 67), § 3 StromGVV Rn. 13. 105 Netznutzungsvertrag zwischen Netzbetreiber und Netznutzer, BK6 – 13 – 042. 106 Bartsch/Pohlmann (Fn. 30), § 24 Anh. A, § 24 StromNZV Rn. 18. 104
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(„GPKE“).107 Meldet ein Lieferant eine Entnahmestelle bei dem Netzbetreiber ab, beendet der Netzbetreiber die Zuordnung der Entnahmestelle zu einem Lieferanten, wenn die Entnahmestelle nicht einem anderen Lieferanten oder der Grund- bzw. Ersatzversorgung zugeordnet werden kann.108 In der Folge ist der Netzbetreiber ausdrücklich berechtigt, den Netzanschluss zu unterbrechen.109 b) Die Entscheidung zwischen Notstromentnahme und Unterbrechung der Versorgung Wie festgestellt, ist der Netzbetreiber sowohl berechtigt, die Notstromentnahme zu dulden, als auch die Entnahme zu beenden. Bei der Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten wird der Netzbetreiber von seinen Aufgaben entsprechend den §§ 11 ff. EnWG ausgehen. Da diese Aufgaben für die Situation der Notstromentnahme keine klaren Regelungen enthalten, wird die Entscheidung des Netzbetreibers in der Regel von einer Güterabwägung abhängen. Dabei werden Aspekte eine Rolle spielen wie - die Aufgabe, diskriminierungsfrei für einen sicheren Netzbetrieb zu sorgen, - die Folgen der Versorgungsunterbrechung für den Anschlussnutzer, - die Wahrscheinlichkeit, die Vergütung für die Stromentnahme zu erhalten, - die voraussichtliche Dauer der Notstromentnahme, - die Mitwirkungsbereitschaft des Anschlussnehmers, insbesondere seine Bereitschaft, den voraussichtlichen Stromverbrauch zu nominieren, - etc. Da die ÜNB und viele andere Netzbetreiber in Deutschland nicht staatlich, sondern privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen sind, besteht in dieser Frage im Rahmen der gesetzlich mit der Sozialbindung des Eigentums und den Aufgaben der Netzbetreiber vorgegebenen Grenzen unternehmerisches Entscheidungsermessen („Business Judgement Rule“).110 Die Grenze der Entscheidungsfreiheit des Netzbetreibers wäre wiederum erst da zu sehen, wo ihm gem. §§ 31 ff. EnWG ein Miss107 BK6 – 16 – 200 Anlage 1, Anlage zum Beschluss BK6 – 06 – 009, Darstellung der Geschäftsprozesse zur Anbahnung und Abwicklung der Netznutzung bei der Belieferung von Kunden mit Elektrizität. 108 BK6 – 16 – 200 Anlage 1, Anlage zum Beschluss BK6 – 06 – 009, Darstellung der Geschäftsprozesse zur Anbahnung und Abwicklung der Netznutzung bei der Belieferung von Kunden mit Elektrizität, S. 31, 43. 109 BK6 – 16 – 200 Anlage 1, Anlage zum Beschluss BK6 – 06 – 009, Darstellung der Geschäftsprozesse zur Anbahnung und Abwicklung der Netznutzung bei der Belieferung von Kunden mit Elektrizität, S. 31. 110 Vgl. zu diesem Grundsatz § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sowie die Kommentierungen dazu; grundlegend dazu BGH, Urt. v. 21. 4. 1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 (ARAG/Garmenbeck), sowie neuer BGH, Urt. v. 12. 10. 2016 – 5 StR 134/15, NJW 2017, 578 (m. Anm. Brand) (HSH Nordbank AG).
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brauch seiner besonderen Stellung als Netzbetreiber, der dem Anschlussnutzer als Einziger Zugang zum Stromnetz vermittelt, vorgeworfen werden könnte. Relativ klar dürfte sein, dass von dem Recht des Netzbetreibers, die Stromentnahme zu unterbrechen, in den Fällen eine Ausnahme zu machen sein wird, in denen übergeordnete Rechtsgüter, wie Leib, Leben oder öffentliche Sicherheit und Ordnung, durch die Unterbrechung gefährdet würden. Es ließe sich auch argumentieren, dass in diesen Fällen das Ergebnis der Güterabwägung von vorneherein klar ist. Dies könnte beispielsweise in Fällen vorliegen, in denen durch die Unterbindung der Notstromentnahme ein Krankenhaus oder ein Altenheim im Winter keine Stromversorgung mehr hätte. In solchen Fällen müsste der Stromversorger dem Anschlussnutzer wohl jedenfalls eine angemessene Frist setzen, sich einen Stromlieferanten zu besorgen, bevor er die Stromentnahme unterbricht. IV. Zusammenfassung 1. Die Regeln über die Grund- und Ersatzversorgung sind auf die Situation im Hoch- und Höchstspannungsnetz weder direkt noch analog anwendbar. 2. Fällt der Stromlieferant eines an das Hoch- und Höchstspannungsnetz angeschlossenen Kunden aus oder tritt ansonsten eine Unwirksamkeit des Liefervertrags ein, so ist zunächst zu prüfen, ob dadurch ein Liefervertrag mit einem anderen Lieferanten entsteht. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn der für das Anschlussgebiet des Kunden zuständige Grundversorger in seinen AGB das Angebot der Grundversorgung über das Niederspannungsnetz hinaus auch für höhere Spannungsebenen eröffnet hat. Kommt kein anderes vertragliches Lieferverhältnis zustande, so ist in Netzebenen oberhalb der Niederspannung auch keine Grundlage für ein gesetzliches Schuldverhältnis mit einem Lieferanten ersichtlich, das zu einem Recht auf oder einer Verpflichtung zur Belieferung führt. 3. Hat der Anschlussnutzer keinen Liefervertrag, wäre zu schauen, ob sich aus vertraglichen Beziehungen zwischen ihm und dem Netzbetreiber für das Hoch- und Höchstspannungsnetz (ÜNB) eine vertragliche Beziehung als Grundlage für die Stromentnahme und deren Abrechnung ableiten lässt. Hierfür kommen im Prinzip ein Netzanschlussvertrag, ein Netznutzungsvertrag, ein Bilanzkreisvertrag oder ein Anschlussnutzungsvertrag in Betracht. Netzanschlussvertrag und Netznutzungsvertrag beinhalten jedoch weder Regelungen einer Berechtigung zur Stromentnahme noch für einen Vergütungsanspruch des Netzbetreibers. In der Regel haben die Letztverbraucher auch keine eigenen Bilanzkreisverträge direkt mit dem ÜNB. Anschlussnutzungsverträge werden von den ÜNB noch nicht generell mit Anschlussnutzern abgeschlossen. 4. Hat ein Anschlussnutzer keinerlei vertragliche Beziehungen, weder zu einem Lieferanten noch zu dem ÜNB, an dessen Netz er angeschlossen ist, und entnimmt er trotzdem Strom aus dem Netz, so liegt eine sogenannte „Notstromentnahme“ vor. Sie entsteht aus der Situation, dass der Netzbetreiber für die von dem Kunden ohne No-
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minierung in einem Bilanzkreis oder jedenfalls ohne ein Lieferverhältnis entnommene Strommenge Regelenergie in das Netz einspeist, aus der sich der Anschlussnutzer bedient. 5. Der ÜNB ist in der Situation einer Notstromentnahme sowohl berechtigt, die Notstromentnahme zu dulden, als auch diese zu unterbrechen. Ob er die Notstromentnahme duldet oder die Entnahme unterbricht, wird er mangels klarer gesetzlicher Regeln im Wege des unternehmerischen Ermessens im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgaben als Netzbetreiber im Wege einer Güterabwägung entscheiden. Die Entscheidungsfreiheit findet ihre Grenze da, wo die Entscheidung als Missbrauch seiner besonderen Stellung als Netzbetreiber anzusehen wäre. 6. Um die Unsicherheit vertragsloser Situationen der Notstromentnahme zu vermeiden, in denen zwischen dem Netzbetreiber und dem Anschlussnutzer keine sonstigen direkten oder indirekten Vertragsbeziehungen bestehen, schließen die Netzbetreiber teilweise mit dem Anschlussnutzer, mit dem sie sonst keine Vertragsbeziehung haben, einen Anschlussnutzungsvertrag ab. Dieser Vertragstypus ist bisher aber im Hoch- und Höchstspannungsnetz nicht weit verbreitet. Anschlussnutzungsverträge regeln meistens insbesondere auch die Situation der Notstromentnahme. 7. Der Zahlungsanspruch des ÜNB für die Stromentnahme des Netzanschlussnutzers ergibt sich dann entweder aus den vertraglichen Bestimmungen oder aus gesetzlichen Regeln über die Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) oder nach dem Bereicherungsrecht. Im Fall der GoA besteht ein Vergütungsanspruch nach §§ 677, 683 Satz 1, 670 BGB. 8. Der für die Entnahme von dem Kunden an den ÜNB zu bezahlende Betrag ergibt sich aus dem der Lieferung zugrundeliegenden vertraglichen oder gesetzlichen Rechtsverhältnis. Er muss mindestens die Kosten des ÜNB für die zur Verfügung gestellte Regelenergie nebst besonders für die Notstromentnahme anfallender Kosten abdecken.
Anlagengenehmigung und Umweltschädigung im internationalen Zivilrechtsfall – § 14 BImSchG und das Internationale Privatrecht Von Oliver Remien, Würzburg* Auch wenn das Regulierungsrecht, das Matthias Schmidt-Preuß so intensiv pflegt und das ihm am Herzen liegt, in weiten Teilen dem Öffentlichen Recht zuzurechnen sein mag,1 kann es doch in vielfältigem Maße mindestens privatrechtliche Auswirkungen haben. Ist das Regulierungsrecht im engeren Sinne durch Netzbezogenheit und natürliches Monopol gekennzeichnet2 und betrifft es im weiteren Sinne „fundamentale Sektoren des Finanzbereichs“3, so anerkennt der Jubilar doch auch eine dritte Dimension des Begriffs als „Regulierung im universellen Sinne“4. Die rechtlichen Regelungen über gefährliche Anlagen, deren Genehmigung und die Belange des Umweltschutzes5 wird man mindestens in diesem dritten Sinne zum Regulierungsrecht rechnen dürfen. Dort stellt sich bekanntlich neben vielem anderem auch die Frage, ob und welche Auswirkungen öffentlich-rechtliche Anlagengenehmigungen auf Privatrechtsverhältnisse, insbesondere privatrechtliche Abwehr- oder Schadensersatzansprüche wegen Umweltbeeinträchtigung, haben. Seit langem ist dazu § 14 BImSchG die den deutschen Juristen allgemein vertraute Norm. Auf sie wird in § 11 LuftVG und § 7 VI AtG verwiesen. Ähnliches findet sich in § 23 GenTG und für Planfeststellungsverfahren in § 75 II VwVfG, § 3 II SpurVerkErprG sowie für „gehobene Erlaubnisse“ in § 16 I WHG. Für die unanfechtbare Bewilligung sieht § 16 II 1 WHG sogar „einen prinzipiellen Ausschluss“ aller privaten Ansprüche * Für hilfreiche Unterstützung bei der Materialsammlung zur Rechtsgeschichte bzw. zum Internationalen Privatrecht danke ich meinen Mitarbeitern Selina Schätzlein und Volker Arndt. 1 „So ist die dogmatische Zuordnung des Regulierungsrechts zum Privatrecht und/oder zum öffentlichen Recht im Kern umstritten.“ sagen Säcker/Schmidt-Preuß im Vorwort S. 5 des ersten Bandes der von ihnen herausgegebenen „Schriften der Wissenschaftlichen Vereinigung für das gesamte Regulierungsrecht“, nämlich Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015. 2 Schmidt-Preuß, Das Regulierungsrecht als interdisziplinäre Disziplin – am Beispiel des Energierechts, in: FS Kühne, 2009, S. 329 (330). Dazu auch ders., Das Recht der Regulierung – Idee und Verwirklichung, in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, S. 68 ff. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Überblick zum Recht der genehmigungsbedürftigen Anlagen bei Jarass, JuS 2009, 608 (610 ff.).
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vor6, soweit angeordnete Inhalts- oder Nebenbestimmungen erfüllt werden (Satz 2). Hingegen bleiben private Rechte durch die einfache Erlaubnis unberührt.7 Aber wie steht es mit alldem im internationalen Zivilrechtsfall? Diese Frage wird in den Kreisen des Internationalen Privatrechts seit einigen Jahrzehnten diskutiert8 und ist in einigen Gerichtsverfahren zur Sprache gekommen, vor allem seit den 80er Jahren des 20. Jahrhundert; man wird aber kaum behaupten können, dass sie zur Gänze klar gelöst sei. Zudem sagt der den Umweltbeeinträchtigungen speziell gewidmete Art. 7 der Rom II-VO – der Verordnung über das auf grenzüberschreitende außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht9 – dazu jedenfalls nicht ausdrücklich etwas. Vielleicht ist es daher kein zu verwegenes Unterfangen, dem Jubilar hier in aktueller akademischer wie traditioneller persönlicher Verbundenheit10 einige internationalrechtliche Überlegungen vorzulegen – unter Einbeziehung auch allgemeiner und geschichtlicher Ausführungen zum Verhältnis von Öffentlichem Recht und Privatrecht. I. Anlagengenehmigung und Privatrecht – die Entwicklung in einer Skizze 1. Umwelt und Industrialisierung Am Anfang gab es das Problem – nicht. Umweltbeeinträchtigungen mögen zwar eine alte Sache sein, die Anlagengenehmigungen indes eine neuere.11 Gegen Um6 Kotulla, WHG, 2. Aufl. 2011, § 1 Rn. 17; Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechts, 1989, S. 74, 191 f.; s. etwa BGH NVwZ 2002, 24, 247 zu § 11 WHG a.F. Vielzitiert ist die Bezeichnung von § 11 WHG a.F., jetzt § 16 WHG, als „Zerreißwolf“ durch Salzwedel, Bürgerlich-rechtliche Unterlassungsansprüche gegen Gewässerbenutzer – Rechtsgrundlagen und Umfang, in: Das Recht der Wasserwirtschaft, Veröffentlichungen des Instituts für das Recht der Wasserwirtschaft der Universität Bonn, Heft 18, 1973, S. 93 (107). 7 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 13 Rn. 94; eingehend BGHZ 88, 34 = NJW 1984, 975; BGH NVwZ 1996, 821. 8 Siehe etwa Rossbach, Die internationalprivatrechtliche Anknüpfung des privaten Rechtsschutzes bei grenzüberschreitender Gewässerverunreinigung, 1979; Nassr-Esfahani, Grenzüberschreitender Bestandsschutz für unanfechtbar genehmigte Anlagen, 1991; Wolf, Deliktsstatut und internationales Umweltrecht, 1995; Rüppell, Die Berücksichtigungsfähigkeit ausländischer Anlagengenehmigungen, 2012. 9 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“) v. 11. 7. 2007, ABl. EU L 199/40. 10 Die Mutter des Jubilars und die Schwester meiner Mutter waren Klassenkameradinnen und gemeinsam Abiturientinnen an der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule, Lyzeum – Oberlyzeum – Studienanstalt in Stettin und haben bis ins hohe Alter an den alljährlichen Klassentreffen teilgenommen. Auch meine Mutter hat das KAV besucht. 11 Instruktiv Kloepfer/Franzius/Reinert, Zur Geschichte des deutschen Umweltrechts, 1994, S. 32 ff., zu § 26 Nr. 1 PrGewO siehe S. 42. Auch Kloepfer (Fn. 7), § 2 Rn. 12 ff.; kurz Wolf (Fn. 8), S. 22 f.
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weltbeeinträchtigungen wehrten sich Nachbarn schon früh, vor allem mit der Eigentumsfreiheitsklage des römischen Rechts, der actio negatoria – die heute mit § 1004 BGB und dem später entwickelten öffentlich-rechtlichen Beseitigungsanspruch Privatrechtler wie Öffentlichrechtler verbindet. Schnell stößt man auf einen schönen Fall:12 D. 8. 5. 8. 5 zur Immission des Rauchs aus einer Käserei: der Rauch einer benachbarten Käserei braucht nur geduldet zu werden, wenn eine entsprechende Servitut, also Dienstbarkeit, besteht13. Aber über eine Anlagengenehmigung für die Käserei aus den Zeiten von Rom oder Byzanz ist natürlich nichts überliefert… Offensichtlich handelt es sich um ein neueres Problem, das mit der Industrialisierung, deren Immissionen und Gefährdungen, aber auch der Behinderung von Betrieben durch privatrechtliche Ansprüche, entstand und zu lösen versucht wurde.14 Die actio negatoria wurde gleichzeitig von prozessualen Beschränkungen15 befreit und damit eine schärfere Waffe. Für gewerbliche Anlagen wurden Aufsichtsbefugnisse, Genehmigungserfordernisse und entsprechende Verfahren eingeführt. An der Spitze dieser Entwicklung standen Frankreich, das ein Genehmigungserfordernis für „installations classées“ einführte16 und dann die den französischen und preußischen Vorläufern folgende preußische Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845, die in den §§ 26 ff. Genehmigungserfordernisse und Genehmigungsverfahren vorsah17. Dem kann hier zwar nicht in der Tiefe nachgegangen werden, doch ein Blick in die Geschichte des § 14 BImSchG ist aufschlussreich.
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Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 21. Aufl. 2017, § 27 Rn. 23. Siehe auch Ogorek, in: Coing/Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, 1979, S. 40 ff. 13 Dazu etwa Koch, Die Entwicklung des deutschen privaten Immissionsschutzrechts seit Beginn der Industrialisierung, 2004, S. 19 f.; Palmer, Die Entwicklung des deutschen privatrechtlichen Immissionsrechts im 19. Jahrhundert verglichen mit dem französischen Recht, zugleich ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des § 906 BGB, 1979, S. 24 f.; Übersetzung der Stelle von Elmar Bund, bei: Behrends/Knütel/Kupisch/Seiler (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis, Text und Übersetzung, II, Digesten 1 – 10, S. 1995; siehe auch bei Koch a.a.O. 14 Siehe auch Ogorek (Fn. 12), S. 40 f.; ferner Gerlach (Fn. 6), S. 24 ff.; Thier, in: Gordley (Hrsg.), The development of liability between neighbours, 2010, S. 87 ff. 15 Vgl. Ogorek (Fn. 12), S. 44 ff. zur Fortbildung zur Eigentumsklage und Aufgabe der engeren Konzeption als Servitutenklage; sie findet dies „erstaunlich“, S. 47, und beklagt Ausblendung des sozialen Hintergrunds, S. 48; zur Entwicklung zur allgemeinen Eigentumsklage auch Koch (Fn. 13), S. 43 ff. 16 Décret impérial du 15 octobre 1810 relatif aux Manufactures et Ateliers qui répandent une odeur insalubre ou incommode, zur Entwicklung Prieur, Droit de l’environnement, 7. Aufl. 2016, Rn. 778, auch schon 1. Aufl. 1984, Rn. 532; kurz auch Palmer (Fn. 13), S. 186 ff. 17 Kloepfer (Fn. 7), § 2 Rz. 17 ff., Kloepfer/Franzius/Reinert (Fn. 11), S. 42; Dietlein, in: Landmann/Rohmer (Hrsg.), Umweltrecht, Vorbem zu den §§ 4 bis 21 BImSchG Rn. 1 und 2.
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2. Vorläufer Der Vorläufer von § 14 BImSchG von 1974 war § 26 GewO von 1871.18 Dieser wiederum übernahm § 26 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 21. Juni 1869, die am 1. Oktober 1869 in Kraft getreten war. Der ursprüngliche Entwurf zu dieser19 enthielt wie die preußische Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845, an der er sich orientierte, noch keine Bestimmung zur Privatrechtswirkung von Genehmigungen.20 In den Beratungen des Reichtags des Norddeutschen Bundes brachte der Abgeordnete Dr. Baehr einen Antrag zu einer Bestimmung zwischen § 25 und § 26 des Entwurfs ein; sie sollte durch ihren Abs. 1 im lübischen Recht anzutreffende Erfordernisse der nachbarlichen Zustimmung zur Errichtung gewisser Gewerbebetriebe ausschalten, und durch ihren Abs. 2 Klagen gegen Gewerbebetriebe darauf beschränken, dass Einrichtungen zur Beseitigung der Einwirkungen geschaffen werden oder Schadensersatz geleistet werde21. Die actio negatoria und der Rauch-Fall des Gemeinen Rechts22 sowie damals aktuelle Fälle von Klagen gegen Fabrikbetriebe23 wurden ausdrücklich genannt.24 Stilllegungen der Betriebe durch solche Klagen sollten im Interesse der industriellen Entwicklung verhindert werden. Der Abgeordnete Dr. Waigel verwies auf § 30 der Sächsischen GewO vom 15. Oktober 186125 sowie 18 Baur, JZ 1974, 657 (658) sagt, diese „ist – sinngemäß – in § 14 BImSchG aufrechterhalten worden“; ferner Peine, NJW 1990, 2442 (2443); Storost, in: Ule/Laubinger/Repkewitz, Bundesimmissionsschutzgesetz (Hrsg.), Kommentar, Loseblatt, § 14 Rn. A 1. 19 Reichstag des Norddeutschen Bundes, 1. Legislatur-Periode, Sitzungs-Periode 1869, No. 13 vom 4. 3. 1869. Allgemein zu den parlamentarischen Beratungen des Entwurfs Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867 – 1870, 1985, S. 475 – 480. 20 Siehe auch Ogorek (Fn. 12), S. 61; Palmer (Fn. 13), S. 61. 21 „Privatklagen, welche zur Hinderung des benachbarten Betriebes gewisser Gewerbe kraft Gesetzes gegeben sind, finden ferner nicht statt. Soweit die bestehenden Rechte zur Abwehr benachtheiligender Einwirkungen, welche von einem Grundstücke aus auf ein benachbartes Grundstück geübt werden, dem Eigenthümer oder Besitzer des letzteren eine Privatklage gewähren, kann diese Klage einer mit obrigkeitlicher Genehmigung errichteten gewerblichen Anlage gegenüber niemals auf Einstellung des Gewerbebetriebes, sondern nur auf Herstellung von Einrichtungen, welche die benachtheiligende Einwirkung ausschließen, oder, wo solche Einrichtungen unthunlich oder mit einem gehörigen Betriebe des Gewerbes unvereinbar sind, auf Schadloshaltung gerichtet werden.“ Siehe Reichstag des Norddeutschen Bundes, 1. Legislatur-Periode, Sitzungs-Periode 1869, No. 75, Abänderungs-Anträge zum Entwurfe der Gewerbe-Ordnung, Titel I. und II. (Nr. 13 der Drucksachen), dort S. 3 unter Nr. 10. Dazu etwa Palmer (Fn. 13), S. 61 ff. 22 D. 8. 5. 8. 5, siehe oben. 23 Der Abgeordnete Dr. Baehr nennt den Fall der Beschädigung von Bäumen durch eine Glasfabrik in Kurhessen mit vielen Hunderten von Arbeitern, Ogorek (Fn. 12), S. 1 spricht von einer „dramatischen Schilderung“; der Abgeordnete Dr. Waigel nennt sodann den Fall der Beeinträchtigung eines „Werthobjekts von 10 Thalern“ durch „ein ganzes Fabriketablissement, welches Tausende von Arbeitern beschäftigt“. 24 Siehe Abgeordneter Dr. Baehr, 15. Sitzung am 9. 4. 1869, S. 280 f. 25 Richtig müsste es wohl Gewerbegesetz heißen. „Ist eine Anlage nach Beobachtung dieses Verfahrens von der zuständigen Verwaltungsbehörde genehmigt und unter Beobachtung der dabei gestellten Bedingungen ausgeführt
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entsprechende Bestimmungen in den Gewerbeordnungen von Coburg-Gotha26 und Sachsen-Weimar27 und brachte als „Unteramendement“ ein, § 30 SächsGewO zu übernehmen;28 gleichzeitig betonte er, dass nur nach einem Genehmigungsverfahren („Edikt-Verfahren“) errichtete Anlagen erfasst werden sollen.29 Dieser Antrag wurde in der 2. Lesung angenommen und damit zugleich der Antrag Dr. Baehr erledigt.30 In der 3. Lesung wurde jedoch Dr. Baehrs Antrag erneut eingebracht, geteilt, sein erster durch das lübische Recht31 veranlasster Teil abgelehnt32 ; sein zweiter Teil, der nun vorrangig vor der Entschädigung nach der SächsGewO die Herstellung von Einrichtungen vorsah, die Einwirkungen ausschließen, wurde jedoch angenommen.33 Damit
worden, so kann von den Gerichten später wegen Belästigung oder Beeinträchtigung der Nutzbarkeit fremden Eigenthums nicht mehr aus Aenderung oder Beseitigung der Anlage, sondern nur noch auf Entschädigung erkannt werden.“ Siehe zu dieser Bestimmung etwa Königsheim, Das Königlich-Sächsische Gewerbegesetz nebst den dazu gehörigen Ausführungs-Gesetzen und Verordnungen vom 15. 10. 1861, Nach den Quellen entwickelt und erläutert und zum Handgebrauch für die Verwaltungspraxis und den Gewerbestand, 1861, S. 131 ff. zu § 30; auch Palmer (Fn. 13), S. 60 f.; Koch (Fn. 13), S. 62 f. Die Bedeutung des Gesetzes betont auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, 1992, S. 310 mit Nachw. in Fn. 214. 26 Gewerbeordnung für das Herzogtum Gotha vom 21. 3. 1863, „§ 32. Folgen der ertheilten Genehmigung für spätere Einwendungen Ist eine Anlage nach Beobachtung dieses Verfahrens von der zuständigen Verwaltungsbehörde genehmigt und unter Beachtung der dabei gestellten Bedingungen ausgeführt worden, so kann von den Gerichten später wegen gesetzwidriger Belästigung oder beeinträchtigter Nutzbarkeit fremden Eigenthums nicht mehr auf Aenderung oder Beseitigung der Anlage, sondern nur auf Entschädigung erkannt werden. Durch die vorstehende Bestimmung wird die Gerichtliche Geltendmachung der auf Vertrag, Testament, Verjährung oder richterlicher Entscheidung beruhenden Ansprüche auf Aenderung oder Beseitigung der Anlage nicht beschränkt.“ 27 Gewerbeordnung für das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach vom 30. 4. 1862 ist mit der Vorgenannten wortgleich unter Weglassung des zweiten Absatzes. 28 Abgeordneter Dr. Waigel ebd. S. 281 f. 29 Ebd. S. 282. Ebenso zu seinem Abs. 2 auch Dr. Baehr, ebd. S. 282. 30 Ebd. S. 282. 31 – das in Lübeck selbst wohl schon geändert war, Bevollmächtigter zum Bundesrath, Minister-Resident Dr. Krüger am 25. 5. 1869, S. 1075, aber vielleicht noch in Holstein, Teilen Schleswigs und anderen Staaten Norddeutschlands galt, Abg. Dr. Baehr ebd. S. 1075. Hinweise zum lübischen Recht bei Kloepfer/Franzius/Reinert, (Fn. 11), S. 2; Palmer, (Fn. 13), S. 13 f. 32 Ebd. S. 1075. 33 Ebd. S. 1075: „Soweit die bestehenden Rechte zur Abwehr benachtheiligender Einwirkungen, welche von einem Grundstücke aus auf ein benachbartes Grundstück geübt werden, dem Eigenthümer oder Besitzer des letzteren eine Privatklage gewähren, kann diese Klage einer mit obrigkeitlicher Genehmigung errichteten gewerblichen Anlage gegenüber niemals auf Einstellung des Gewerbebetriebes, sondern nur auf Herstellung von Einrichtungen, welche die benachtheiligende Einwirkung ausschließen, oder, wo solche Einrichtungen unthunlich
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stand auch der Wortlaut des § 26 der späteren GewO des Reichs fest. Die Interessen der Industrie wurden damit geschützt.34 Die Gewerbefreiheit wurde dem Eigentumsschutz übergeordnet – und damit wohl auch die Wirtschaftstätigkeit dem Umweltschutz. Das Jahr 1869 ist daher als „Wendepunkt“ in diesem Konflikt bezeichnet worden.35 „Die Bedeutung des § 26 ist eine zivilrechtliche“, wurde später kommentiert;36 doch ging es vor allem um die Zurückdrängung des Zivilrechts. Die Einführung des BGB hat seine Geltung nicht berührt.37 Die Vorschriften der GewO wurden durch das BImSchG von 1974 abgelöst, dessen § 14 „lehnt sich an § 26 GewO an“.38 Diese Bestimmungen knüpfen an Genehmigung und Genehmigungsverfahren an und damit an die im 19. Jahrhundert mit der stürmischen Industrialisierung voranschreitende neue rechtliche Entwicklung. Dies wird auch sehr klar in der Begründung zu § 30 SächsGewG zum Ausdruck gebracht:39 In Anknüpfung an das preußische und französische Recht führte man eine „präventive Kontrolle“ durch Genehmigungsverfahren ein, doch regelte man im SächsGewG innovativ40 nun auch die Privatrechtswirkung der Genehmigung. Dem folgten, wie gesehen, andere Staaten, der Norddeutsche Bund, das Reich, der Bund. Der Genehmigung kommt somit privatrechtsgestaltende Wirkung zu,41 man kann von einem privatrechtsgestaltenden Verwaltungsakt sprechen.42 Die heute im Vordergrund stehende verwaltungsrechtliche oder mit einem gehörigen Betriebe des Gewerbes unvereinbar sind, auf Schadloshaltung gerichtet werden.“ 34 Vgl. etwa Palmer (Fn. 13) S. 63; Gerlach (Fn. 6), S. 25. Das RG baute dies dann noch weiter aus, Thier (Fn. 14), S. 87 (95 f.). 35 Hager, NJW 1986, 1961. Vgl. auch Thier (Fn. 14), S. 87 (94 f.); Mieck, Technikgeschichte 34 (1967), 36, 39 f. („Markstein“). 36 Landmann/Rohmer, Kommentar zur Gewerbeordnung, 7. Aufl. 1917, S. 27, § 26 Anm. 1. 37 Ebd. S. 277. 38 BT-Drucks. VI/2686, S. 36, zu § 14; vgl. auch Landmann/Rohmer(-Rehbinder), Umweltrecht, § 14 BImSchG Rn. 3, siehe auch schon oben bei Fn. 18. 39 „Man hat in Uebereinstimmung mit der französischen und preußischen und auch der neuesten österreichischen Gesetzgebung rücksichtlich gewisser Categorien von Gewerbsanlagen ein der Eröffnung des Betriebes vorhergehendes, also präventives, Verfahren vorgeschrieben, durch welches einerseits den Interessen der Umgebung die Geltendmachung ermöglicht, andererseits aber den Unternehmern selbst spätere Störungen möglichst erspart werden sollen. … Es gibt keinen andern, als den von dem Entwurfe eingeschlagenen und durch einen entsprechenden Vorbehalt im Civilgesetzbuche möglich gemachten Weg der Beschränkung der Wirkung des privatrechtlichen Satzes in Bezug auf gehörig geprüfte, industrielle Anlagen.“ Abgedruckt bei Königsheim (Fn. 25), § 30 GewG Fn. 77. 40 „Erstmals“ sagt Koch (Fn. 13), S. 62, auch S. 63. 41 Allgemein Peine, NJW 1990, 2442 (2442 f.); zu § 14 BImSchG Roßnagel/Hentschel, in: GK-BImSchG § 14 Rn. 2; Giesberts, in: Giesberts/Reinhardt (Hrsg.), BeckOK Umweltrecht, 44. Ed. 2017, § 14 Rn. 1, 3; Storost (Fn. 18), § 14 Rn. B 1; zu § 1 WHG Kotulla (Fn. 6), § 1 Rn. 2; Czychowski/Reinhardt, WHG, 10. Aufl. 2010, § 1 Rn. 2. Zur Rechtfertigungswirkung Wagner, Öffentlich-rechtliche Genehmigung und zivilrechtliche Rechtswidrigkeit, 1989. 42 Zum Wasserrecht Czychowski/Reinhardt ebd.
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Beteiligung der Nachbarn war schon vorgesehen, doch die verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Genehmigung folgte erst viel später.43 Bei den betroffenen Privatrechtsfragen wurde damals vor allem an die actio negatoria des Nachbarn des Gewerbegrundstücks gedacht. Die Problematik betrifft jedoch zugleich den weiteren Komplex der Umweltschädigung allgemein. Umweltschädigungen können heute aber zudem ein internationales Problem sein. II. Internationalrechtliches Umfeld 1. Völkerrecht und Europarecht Während § 14 BImSchG wohl zum gesicherten Bestand des deutschen Rechtssystems zählt und jedenfalls bisher Novellierungs- oder Abschaffungsversuchen widerstanden hat44, scheint die Lage in internationaler Sicht viel weniger klar. Europäischvölkerrechtlich werden Genehmigungsverfahren, genauer der Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung und der Zugang zu Gerichten, durch die Übereinkommen von Espoo45 und Aarhus46 sowie das europäische Sekundärrecht zur Umweltverträglichkeitsprüfung geregelt. Diese sagen offenbar aber nichts ausdrücklich zu den Privatrechtsfolgen, geschweige denn zu den grenzüberschreitenden. Ausdrückliche völkerrechtliche Regelungen sind selten, wären aber nicht beispiellos. Hinsichtlich des auf österreichischem Gebiet gelegenen Flughafens Salzburg immerhin ordnet § 2 des deutschen Zustimmungsgesetzes i.V.m. Art. 4 III S. 2 Staatsvertrag die sinngemäße Anwendung von § 11 LuftVG, § 14 BImSchG an. Vor dem BVerfG hat dies trotz Bedenken des BGH standgehalten.47 Für den schweizerischen Flughafen Zürich-Kloten hingegen fehlt es an einem solchen Staatsvertrag, aber nicht am Streit.48 Mehr Klärung grenzüberschreitender Fälle durch Staatsvertrag
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Vgl. Kloepfer (Fn. 7), § 2 Rn. 31 f. Dazu Roßnagel/Hentschel (Fn. 41), § 14 Rn. 23 f. 45 Übereinkommen über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen, Espoo 25. 2. 1991, BGBl. 2002 II S. 1406 ff. mit späteren Änderungen. 46 Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, Aarhus 25. 6. 1998, BGBl. 2006 II S. 1251 ff. 47 BVerfG NJW 1986, 2188. Zusammenfassend Weitbrecht, NVwZ 1986, 897 (897 f.); s.a. Nassr-Esfahani (Fn. 8), S. 36 ff., 109 ff., 145 sowie LG Traunstein, IPRspr. 1976 Nr. 29a) sowie OLG München, IPRspr. 1976 Nr. 29 b), BGH DVBl. 1979, 226 m.Anm. Küppers und dann BGH NJW 1987, 1142. 48 EuG 9. 9. 2010 – Rs. T-319/05 (Schweizerische Eidgenossenschaft ./. Kommission), Slg. 2010 II-4265 und Rechtsmittelentscheidung EuGH 7. 3. 2013 – Rs. C-547/10P, ECLI:EU:C:2013:139, zunächst erhoben beim EuGH Rs. C-70/04, doch Transfer laut Beschluss vom 14. 7. 2005, ECLI:EU:C:2005:468, sodann EuG 7. 7. 2006 – RS. T-319/05, Slg. 2006 II-2073; zivilrechtlich LG Waldshut-Tiengen 11. 2. 1982, UPR 1983,14; ferner 27. 8. 1992, BeckRS 2013, 09343. 44
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wäre wohl wünschenswert.49 Sie ist offenbar aber schwierig. EU-Richtlinien schreiben heute zum Teil Genehmigungserfordernisse vor;50 aber folgt daraus etwas für das Privatrecht, und das noch grenzüberschreitend? Diese Frage scheint bisher kaum gestellt. 2. Rechtsvergleichung Auch die Rechtsvergleichung scheint der Frage der Privatrechtswirkung von Anlagengenehmigungen bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Spezielle internationalprivatrechtliche Untersuchungen enthalten zuweilen einige nützliche Hinweise.51 In Österreich enthält das ABGB in § 364a eine dem § 14 BImSchG ähnliche, aber hinsichtlich der Rechtsfolge abweichende Regelung, die allein Schadensersatz gewährt.52 Sie ist im Jahre 1916 durch die 3. Teil-Novelle des ABGB eingeführt worden und gilt seit dem 1. Januar 1917.53 In Frankreich wird das Problem bei Unterlassungsanträgen offenbar durch Anerkennung des Vorrangs des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit gelöst,54 allerdings Schadensersatz ohne weiteres gewährt,55 soweit nicht der Vorbestand geschützt wird.56 Dies soll auch bei nur anzeigepflichtigen Betrieben gelten.57 49 Hoffnungsvoll einst Weitbrecht (Fn. 47), S. 897, 898. Für zwischenstaatliche Regelung gegenseitiger Anerkennung Bothe, Diskussionsbeitrag in BerDGesVR 32 (1992), S. 379; auch Lummert, in: Bothe/Prieur/Ress (Hrsg.), Rechtsfragen grenzüberschreitender Umweltbelastungen, 1984, S. 183 (190). S. a. schon Boisserée, Anm. zu OLG Saarbrücken, NJW 1958, 752 in NJW 1958, 1239, 1240 a.E. 50 Insbesondere Art. 4 der IndustrieemissionenRL 2010/75, s. etwa Schmidt-Kötters, in: Giesberts/Reinhardt (Hrsg.), BeckOK Umweltrecht, § 4 BImSchG Rn. 17. Zu Umsetzungsproblemen in einigen Mitgliedstaaten Vollmer, EnWZ 2013, 199. 51 Kreuzer, BerDGesVR 32 (1992) 245 (267 f.); Pfeiffer, UTR 2000, 263 (266 ff.); Buschbaum, Privatrechtsgestaltende Anspruchspräklusion im internationalen Privatrecht, 2008, S. 104 ff.; Wolf (Fn. 8), S. 74 ff., 92 ff.; auch schon Rossbach (Fn. 8), S. 223. Auch einige Länderberichte in: Gordley (Hrsg.), The development of liability between neighbours, 2010, enthalten gewisse Hinweise. 52 § 364a ABGB. 53 Kaiserliche Verordnung vom 19. 3. 1916, öRGBl. Nr. 69, Art. II Abs. 1. Klang, in: Klang, ABGB, 2. Aufl. 1950, § 364a Anm. 1 a) a) mit Fn. 4 nennt § 26 GewO als Vorbild. 54 Buschbaum (Fn. 51), S. 107 ff.; Wolf (Fn. 8), S. 76 ff.; Rossbach (Fn. 8), S. 34 f., 223; Gaertner, Verschuldensprinzip und objektive Haftung bei nachbarlichen Störungen (troubles de voisinage) nach französischem Recht verglichen mit dem deutschen Recht, 1972, S. 49 ff.; Nassr-Esfahani/Wenckstern, RabelsZ 49 (1985), 741 (763, 773 f.); historisch Palmer (Fn. 13), S. 187 ff.; zu Polen s. Krzymuski, Umweltprivatrecht in Deutschland und Polen unter europarechtlichem Einfluss, 2011, S. 261 ff., zu Ungarn s. Fuglzinsky, in: Gössl (Hrsg.), Politik und Internationales Privatrecht, 2017, S. 111 (124 f.). Nach Lahusen, IPRG, 2001, 75, „im Regelfall“ anders in der Schweiz. 55 Vgl. auch die Schadensersatzfälle OLG Saarbrücken, NJW 1958, 752 (Rebhof) und OLG Karlsruhe, RIW/AWD 1977, 718 (Chemiewerk und Milchvieh). Sehr klar OLG Saarbrücken 5. 3. 1963, IPRspr. 1962/1963 Nr. 38 (Rossel). Siehe auch zum Rheinversalzungsfall Nassr-Esfahani/Wenckstern, RabelsZ 49 (1985), 740 (763, 774, 777, 786); Wenckstern, RabelsZ 53 (1989), 699 (699 – 704).
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3. Internationales Zivilverfahrensrecht Ist damit die internationale Lage schon undurchsichtig genug, kommen im internationalen Zivilrechtsfall zudem noch Gegebenheiten hinzu, die dem Öffentlichen Recht wenig vertraut sind. Ein Gleichlauf von gerichtlicher internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht ist im Zivilprozess in der Regel nicht garantiert. Es kann also zur Anwendung einer – aus der Sicht des Gerichts – fremden Privatrechtsregel kommen58 – aber gilt dies auch hinsichtlich der Anlagengenehmigung bzw. deren Privatrechtswirkung? In der Europäischen Union bestimmt sich die gerichtliche Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen bei Wohnsitz des Beklagten in einem Mitgliedstaat heute nach der EuGVVO.59 Bei Immissionsabwehrklagen greift nicht der ausschließliche dingliche Gerichtsstand,60 sondern neben dem allgemeinen Beklagtengerichtsstand (actor sequitur forum rei) vor allem der Deliktsgerichtsstand des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO. Der EuGH hat schon früh im Rheinversalzungsfall61 entschieden, dass danach die gerichtliche Zuständigkeit am Handlungs- wie am Erfolgsort begründet ist – in dem Fall war damit grundsätzlich die Zuständigkeit der französischen Gerichte gegeben, weil die Elsässischen Kaliminen in Frankreich den Rhein durch Kali verunreinigt hatten, wie auch die der niederländischen Gerichte, in deren Gebiet die Schäden angeblich eingetreten waren. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO gilt nicht nur für Schadensersatzklagen, sondern auch für Unterlassungsklagen.62 4. Internationales Privatrecht Die Frage des anwendbaren Rechts wird heute in der EU einheitlich durch die Rom II-VO geregelt63. In dieser enthält Art. 7 eine besondere Norm über Umweltschädigung. Sie verweist zum einen auf die allgemeine deliktsrechtliche Kollisionsnorm des Art. 4 Abs. 1, die das Erfolgsortsrecht für anwendbar erklärt, und gibt darüber hinaus dem Geschädigten ein Optionsrecht für das Recht des Handlungsorts – 56
Näher Wolf (Fn. 8), S. 74 ff. Wolf (Fn. 8), S. 77 m. Nachw. 58 Vgl. dazu § 293 ZPO und etwa Remien, ZVglRWiss 115 (2016) 570; vergleichend Nishitani (Hrsg.), Treatment of Foreign Law – Dynamics towards Convergence?, 2017. 59 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 12. 12. 2012, ABl. EU L 351/1; ursprünglich EuGVÜ von 1968, in Kraft getreten 1973. 60 EuGH 18. 5. 2006 – Rs. C-343/04 (Land Oberösterreich ./. CEZ), Slg. 2006, I-4557 Rn. 31 ff.; s. etwa Münch.Komm. ZPO(-Gottwald), 5. Aufl. 2017, Art 24 VO (EU) 1215/2012 Rn. 11; Prütting/Gehrlein(-Pfeiffer), ZPO, 8. Aufl. 2016, Art. 24 Brüssel Ia-VO Rn. 4. 61 EuGH 30. 11. 1976 – Rs. 21/76 (Bier ./. Mines de Potasse d’Alsace), Slg. 1976, 1735 – zum damaligen Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ. Ausführlich zu dem Fall Nassr-Esfahani/Wenckstern, RabelsZ 49 (1985), 740 (763 ff.) und dann Wenckstern, RabelsZ 53 (1989), 699 ff. 62 Münch.Komm. ZPO (-Gottwald), 5. Aufl. 2017, Art. 7 VO 1215/2012 Rn. 48 und 51; Prütting/Gehrlein (-Pfeiffer), ZPO, 8. Aufl. 2016, Art. 7 Brüssel Ia-VO Rn. 10. 63 Oben Fn. 9. 57
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für „das Recht des Staates …, in dem das schadensbegründende Ereignis eingetreten ist“, sagt die Vorschrift. Aber über Genehmigungen wird nichts ausdrücklich gesagt, obwohl dies vielleicht „die wichtigste Frage“ ist.64 III. Anlagengenehmigung und IPR-Konstellationen 1. Tatsächliche Konstellationen Bei der grenzüberschreitenden Umweltschädigung hat der Kläger zivilrechtlich also sowohl bei der internationalen Zuständigkeit – nach der EuGVVO – wie beim anwendbaren Recht – nach der Rom II-VO – die Wahl zwischen Erfolgsort und Handlungsort. Er kann die Wahl unterschiedlich oder gleichlaufend ausüben. Die Anlagengenehmigung wird regelmäßig aus dem Staat des Handlungsorts stammen und nach dessen Verwaltungsrecht erteilt sein. Als Gerichtsort oder anwendbares Recht kommt aber wie gesehen auch der Erfolgsort in Betracht. Solche verzwickten Lagen erfreuen das Herz des Kollisionsrechtlers. Für den internationalen Zivilrechtsfall kann man realistisch daher verschiedene Konstellationen unterscheiden,65 die unterschiedlich kompliziert sind. Im Kern geht es – ausgehend von Art. 7 Rom II-VO wie auch Art. 7 Nr. 2 EuGVVO – um vier Grundkonstellationen. Aus deutscher Sicht vor dem deutschen Gericht66 kann man sie folgendermaßen einteilen, doch ist dies direkt übertragbar auf jeden anderen Mitgliedstaat: (i) einheitliche Geltung deutschen Rechts und deutscher Anlagengenehmigung, (ii) die Geltung jedoch ausländischen Umwelthaftungsrechts bei deutscher Anlagengenehmigung, (iii) die Geltung ausländischen Umwelthaftungsrechts wie auch ausländischer Anlagengenehmigung und schließlich (iv) deutschen Umwelthaftungsrechts bei ausländischer Anlagengenehmigung. Zudem stellt sich ergänzend die Frage, ob zwischen Mitgliedstaaten der EU und Drittstaaten zu unterscheiden ist.67 Bei den Konstellationen (i) und (iii) gehören Haftungsrecht und Anlagengenehmigung einheitlich einer Rechtsordnung an, bei (ii) und (iv) verschiedenen. Um ausländische Kläger handelt es sich bei Konstellation (i) und (ii), um inländische bei (iii) und (iv). In der Praxis eher unwahrscheinlich, aber theoretisch denkbar ist der Fall, dass vom Beklagtengerichtsstand Gebrauch gemacht wird und dieser sich weder im Staat von Handlungs- noch Erfolgsort befindet. Dies ist 64
Mankowski, IPRax 2010, 389 (390). Andere Gruppierung und Bezeichnung, aber entsprechende Fallgruppenbildung bei Junker, FS Salje, 2013, S. 243 (255 ff.); Rüppell (Fn. 8), S. 104 ff., 243; dort S. 250 auch zur weiteren Konstellation der Rechtswahl; ähnlich wie hier, aber nur drei Konstellationen aufführend juris-PK-BGB(-Wurmnest), 8. Aufl. 2017, Art. 7 Rom II-VO Rn. 65 ff.; auch Martiny, FS Peine, 2016, S. 181, (190 ff.). 66 So auch Junker (Fn. 65), S. 243 (255 ff.). 67 Aus der Sicht des Gerichts eines Mitgliedstaats der EU. Bei Gerichten von Nicht-Mitgliedstaaten finden weder EuGVVO noch Rom II-VO Anwendung, sondern die einschlägigen dortigen Regeln. 65
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in zwei Varianten möglich, nämlich mit Identität von Handlungsrecht und Genehmigungsrecht wie bei (i) und (iii) oder Divergenz wie bei (ii) und (iv). Besonderheit ist dann nur, dass die lex fori ganz unbeteiligt ist. Gehören, wie bei den Konstellationen (i) und (iii), anwendbares Haftungsrecht und vorhandene Anlagengenehmigung einheitlich einer Rechtsordnung an, so entfallen doch noch nicht wie selbstverständlich alle Probleme. Das Haftungsrecht wird nämlich nach den Kollisionsnormen der Rom II-VO bestimmt. Diese gilt nach ihrem Art. 1 Abs. 1 S. 1 für außervertragliche Schuldverhältnisse, nach ihrem S. 2 aber nicht für „verwaltungsrechtliche Angelegenheiten“. Die Genehmigung ist jedoch eine solche „verwaltungsrechtliche Angelegenheit“. Allenfalls die Frage ihrer anspruchspräkludierenden Wirkung kann vielleicht der Kollisionsnorm der Rom II-VO unterliegen. Einige Autoren scheinen zwar davon auszugehen, dass auch Genehmigungen der lex causae, also des anwendbaren Haftungsrechts, automatisch wirken.68 Dabei wird aber wenig die Qualifikation – also Einordnung in den Tatbestand der Rechtsanwendungsnormen – der Anlagengenehmigung und der Präklusionsnorm erörtert. Damit bleiben neben den anderen auch diese Konstellationen nicht ganz unproblematisch. 2. Genehmigung und Präklusionsnorm Bei genauer Analyse lassen sich Genehmigung und privatrechtsbezogene Genehmigungswirkung – nämlich Anspruchsausschluss (Präklusion) – unterscheiden.69 Man kann daran denken, beides potentiell einheitlich dem Recht des Genehmigungsstaats zu unterstellen, welches Haftungsrecht auch immer anwendbar sein mag; man könnte theoretisch aber auch der ausländischen Genehmigung Wirkung im Rahmen der Anspruchsausschlussnorm des Erfolgsortsrechts zuerkennen.70 Bei ersterem wird in Anlehnung an internationalzivilprozessuale Begrifflichkeit zum Teil von Wirkungserstreckung gesprochen – nämlich dem Anspruchsausschluss nach Öffentlichem Recht des Genehmigungsstaats auch im Erfolgsortsstaat Wirkung zugesprochen –71; bei letzterem gehe es um Wirkungsverleihung – d. h. Einbeziehung der ausländischen Genehmigung in den Tatbestand der – privat- oder verwaltungsrechtli68 Etwa Wolf, in: Wolfrum/Langenfeld (Hrsg.), Umweltschutz durch internationales Haftungsrecht, 1999, S. 353 ff., 392; Staudinger(-Stoll), BGB: Internationales Sachenrecht, 13. Bearb. 1996, IntSachenR Rn. 237; Staudinger(-v. Hoffmann), BGB: Art. 38 – 42 EGBGB, Neubearbeitung 2001, Art. 40 EGBGB Rn. 164; s.a. unten III 4 a) bei Fn. 109 und III 4 c) bei Fn. 120. 69 Wandt, SZIER 1997, 147 (161) = VersR 1998, 529 (533); Buschbaum (Fn. 51), S. 109, auch S. 137, 240 f. weist darauf hin, dass sich im deutschen, österreichischen und französischen Recht „die privatrechtsgestaltende Wirkung nicht unmittelbar aus der behördlichen Anlagegenehmigung […], sondern aus einem abstrakt-generellen Rechtssatz“ ergibt. 70 Dazu eingängig Rüppell (Fn. 8), S. 244. Ähnlich wohl Jayme, in: Nicklisch (Hrsg.), Prävention im Umweltecht, 1988, S. 205 (216 f.), der „local data“ annehmen will. 71 Dazu Rüppell (Fn. 8), S. 244 f.; schon Nassr-Esfahanai (Fn.8), S. 141 ff. Im Ansatz Kreuzer, BerDGesVR 32 (1992), 245 (294).
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chen – Anspruchsausschlussnorm des Erfolgsortsstaates.72 Das hieße, § 14 BImSchG unter Umständen bei Vorliegen ausländischer Genehmigungen anzuwenden. Auch bei solchem Vorgehen soll die Wirkung der Genehmigung allerdings nicht über die Wirkung nach dem Recht des Genehmigungsstaats hinausgehen.73 Wegen unterschiedlicher Rechtsfolgen können dennoch Probleme bestehen. So besteht ein Anspruch auf Schutzvorkehrungen nach § 14 BImSchG, aber auf Schadensersatz nach § 364a ABGB.74 Unter Umständen fehlt auch eine einschlägige inländische Präklusionsnorm.75 Man kann bei dieser zweiten Lösung auch von einer Substitution der im Tatbestand der inländischen Ausschlussnorm (etwa § 14 BImSchG) vorausgesetzten inländischen Genehmigung durch die ausländische Genehmigung sprechen.76 Die Einbeziehung der ausländischen Anlagengenehmigung in den Tatbestand der inländischen Anspruchsausschlussnorm wird insbesondere in Österreich zu § 364a ABGB erörtert.77 Dazu mag beitragen, dass sich die Präklusionsnorm dort im ABGB als Zivilrechtskodifikation findet. Sie ist auch eher allgemeingefasst, obgleich sie nicht für alle Genehmigungen gilt.78 Hingegen scheint in Deutschland die Frage, ob die etwaigen Präklusionsnormen des Erfolgsorts – z. B. § 14 BImSchG – zur Inkorporation der ausländischen Genehmigung geeignet sind, wenig beachtet.79 72
Dazu Rüppell (Fn. 8), S. 245; krit. Nassr-Esfahani (Fn. 8), S. 141 ff. So naheliegenderweise Rüppell (Fn. 8), S. 244. 74 Vgl. Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 (305 f.) mit Hinweis auf Schutzvorkehrungen nach § 14 BImSchG, aber Schadensersatz nach § 364a ABGB. Zu großen Unterschieden im Wasserrecht schon Rossbach (Fn. 8), S. 58. 75 Siehe Nassr-Esfahani (Fn. 8), S. 142 zu OGH ÖJZ 1981, 380 ff. und Fehlen einer Norm wie § 11 WHG a.F., nun § 16 WHG, in Österreich. 76 So Kreuzer, BerDGesVR 32 (1992), 245 (291), auch S. 389 in der Diskussion; wohl auch PWW/Schaub, BGB, 14. Aufl. 2018, IPR-Anh 2/ROM II Art. 7 Rn. 4; auch Schwimann/ Kodek (-Oberhammer), ABGB, 3. Aufl. 2000, § 364a ABGB Rn. 6 spricht von „substituieren“. Gegen diese Lösung Pfeiffer, UTR 2000, 263 (276 ff., insb. 279 f.). 77 Schwimann/Kodek(-Oberhammer) (Fn. 76), § 364a ABGB Rn. 6 ff.; Rummel/Lukas (-Winner), ABGB, 3. Aufl. 2000, § 364a ABGB Rn. 6; Koziol/Bydlinski/Bollenberger (-Escher), ABGB, 3. Aufl. 2010, § 364a ABGB Rn. 3 und 1. Derart als Frage ganz klar formuliert, doch aus prozessualen Gründen offengelassen, in OGH 19. 2. 2012 – 3 Ob 134/12 w: „Frage, ob und allenfalls unter welchen Voraussetzungen eine ausländische Betriebsanlage als behördlich genehmigte Anlage nach § 364a ABGB anzusehen ist und einem Unterlassungsanspruch des beeinträchtigten Nachbarn entgegensteht, ist im vorliegenden Fall nicht zu beantworten.“ Zur Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf eindeutig bejahend OLG Linz, JBl. 1987, 577, 579 („Warum diese Tatbestandwirkung nicht auch für ausländische Genehmigungsakte gelten sollte, ist nicht einzusehen.“), doch in OGH JBl. 1989, 239 m.Anm. Wilhelm, nicht aufgegriffen, da gegen die Bauausführung (noch) kein Untersagungsrecht wie gegen Emissionen bestehe, vgl. a. Wilhelm ebd. S. 240, 241, der ansonsten dem OLG Linz zustimmt. 78 Siehe schon oben II. 2. 79 Rehbinder (Fn. 38) etwa meint, § 14 BImSchG entziehe nur Ansprüche, die eine inländische Anlage betreffen; wohl auch Staudinger(-Stoll) (Fn. 68), Rn. 238. Dass bei einer französischen genehmigten Anlage § 14 BImSchG nicht eingreifen könne, hält Küppers, ZRP 1976, 20 (21), offenbar für selbstverständlich. Andere schweigen. Anders aber Kreuzer, BerDGesVR 32 (1992), 245, (291 ff.); dazu in der Diskussion auch Stoll, S. 372 f. 73
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Eher intuitiv wird offenbar in Österreich die Präklusionsnorm – § 364a ABGB – zivilrechtlich, in Deutschland § 14 BImSchG eher als verwaltungsrechtlich qualifiziert,80 d. h., in die Tatbestände der Kollisionsnormen eingeordnet. Da die Normen zivilrechtliche Wirkungen verwaltungsrechtlicher Genehmigungen anordnen, liegt weder das eine, noch das andere Vorgehen ganz fern. Die zivilrechtliche Qualifikation führt zur Frage der Substitution der Genehmigung durch die ausländische,81 die verwaltungsrechtliche zu der der Sonderanknüpfung von ausländischer Präklusionsnorm sowie Genehmigung. Auch wenn sich über beide Wege interpretatorisch angemessene Resultate erzielen lassen, so scheint doch, dass die Verwaltungsrechtsordnungen so unterschiedlich sind, dass statt der Substitution eher eine Sonderanknüpfung realisierbar ist. Welche privatrechtsgestaltende Wirkung ein Verwaltungsakt hat, hängt ja von der einschlägigen speziellen Regelung ab. Sehr deutlich veranschaulichen dies die Unterschiede bei der wasserrechtlichen Erlaubnis, gehobenen Erlaubnis und Bewilligung nach WHG.82 Bei der französischen Lösung aufgrund der Gewaltenteilung83 fehlt sogar eine ausformulierte Präklusionsvorschrift. Hinzu kommt, dass bei Anwendbarkeit ausländischen Rechts, aber Vorliegen einer deutschen Genehmigung, konsequenterweise gefragt werden müsste, ob die im Tatbestand der ausländischen Präklusionsnorm genannten Genehmigung aus deren Sicht durch die deutsche Genehmigung substituiert werden kann.84 Wenn man dann aber im Fall der Ablehnung der Substitution auf die Wirkung der deutschen Genehmigung verzichtet,85 so ist dies mit den Anliegen des deutschen Verwaltungsrechts nicht vereinbar.86 Insoweit ist das weitgehende Schweigen zu § 14 BImSchG und ausländischen Genehmigungen geradezu konsequent. 3. Instrumentarien Somit ist das kollisionsrechtliche Instrumentarium zu betrachten. Sind schon die unterschiedlichen tatsächlichen Konstellationen sowie begrifflich Genehmigung und Präklusionsnorm zu unterscheiden, so wird die Problemlösung noch dadurch weiter kompliziert, dass unterschiedliche rechtliche Instrumentarien zur Bewältigung der Frage vorgeschlagen werden. Dass gewisse Genehmigungen nur die verwaltungs-
80 Gerlach, (Fn. 6), S. 33, 191 ff. spricht von einer „öffentlichrechtlichen Duldungspflicht“; Küppers, ZRP 1976, 260 (262) sieht eine „privatrechtsgestaltende Norm des öffentlichen Rechts“; Storost (Fn. 18), § 14 Rn. B 3, E 1 ordnet § 14 BImSchG allerdings als „Vorschrift des privaten Nachbarrechts“ ein. 81 Anders Wandt, SZIER 1997, 147 (163 f.) = VersR 1998, 534, der zivilrechtlich qualifiziert, aber das Genehmigungsrecht als „Präklusionsstatut“ ansieht. 82 Siehe schon oben im Text vor Fn. 6. 83 Oben II. 2. bei und mit Fn. 54 ff. 84 Treffend Pfeiffer, UTR 2000, 263 (279 f., 282). 85 So offenbar Kreuzer, BerDGesVR 32 (1992) 245 (294). 86 Vgl. auch Pfeiffer ebd.
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rechtliche Unbedenklichkeit bescheinigen,87 andere hingegen Unterlassungs-, evtl. auch Schadensersatzansprüche Privater ausschließen,88 hat sich schon gezeigt. Gibt es eine Anspruchspräklusion durch ausdrückliche Norm wie § 14 BlmSchG oder den österreichischen § 364a AGBG89 oder auch durch Anerkennung eines Vorrangs der Verwaltungsgenehmigung90, so entsteht die Frage, inwieweit staatliche Anlagengenehmigungen und Anspruchspräklusion im grenzüberschreitenden Fall zu beachten sind.91 Sie wird in Art. 7 Rom II-VO nicht ausdrücklich angesprochen. Art. 7 ist mit Grundanknüpfung und Optionsrecht auf diese Frage ersichtlich nicht zugeschnitten. Sie wird vielfach als ungeklärt oder kontrovers92 bezeichnet, eine automatische Berücksichtigung würde wohl die Grundanknüpfung an den Erfolgsort entleeren.93 Die dogmatische Einordnung dieser Grenzfrage zwischen IPR und Öffentlichem Recht94 ist auch bei Ablehnung der Substitution durchaus zweifelhaft. Man könnte daran denken sie dem Art. 17 zuzuordnen, der Sicherheits- und Verhaltensvorschriften des Handlungsorts für zu beachten erklärt.95 Darauf zielt auch eine kurze Passage der Begründung der Kommission zum Vorschlag der Rom II-Verordnung.96 Auf typische Distanzdelikte – bei denen Handlungs- und Erfolgsort auseinanderfallen – ist 87
So auch Rüppell (Fn. 8), S. 112 f. zur Erlaubnis nach §§ 8, 10 I, 1. Alt. WHG. S. etwa Kadner-Graziano, YbPIL 9 (2007), 71 (78); Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 (298 f.); Überblick bei Rüppell (Fn. 8), S. 111 ff., auch etwas rechtsvergleichend. 89 Näher zu diesem neben den österreichischen Kommentierungen Wolf (Fn. 8), S. 92 ff. 90 Siehe zu Frankreich Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 (299); Nassr-Esfahani (Fn. 8); S. 20, 88 f.; Wolf (Fn. 8), S. 76 ff.; Buschbaum (Fn. 51), S. 107 ff., 110, 144; Rüppell (Fn. 8), S. 117; Pfeiffer, UTR 2000, 263 (268). 91 Zum Problem schon Kadner-Graziano (Fn. 88), S. 250 ff., 256 f.; vor der Verordnung etwa Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 ff. 92 So Calliess(-v. Hein), Rome Regulations, 2. Aufl. 2015, Art. 7 Rn. 24. 93 So Légier, Le règlement „Rome II“ sur la loi applicable aux obligations non contractuelles, J.C.P. (éd. gen.) 2007 I 207 S. 13, 26 Rn. 70; Plender/Wilderspin, The European Private International Law of Obligations, 4. Aufl. 2015, 21 – 28. 94 „[I]m Schnittpunkt zwischen Umweltverwaltungs- und Umweltprivatrecht“, formuliert Nassr-Esfahani, (Fn. 8), S. 17. Von der „Verwobenheit von Umwelthaftungs- und Umweltverwaltungsrecht“ spricht Kreuzer, BerDGesVR 32 (1992), 245 (298); von „Verzahnung“ Wandt, SZIER 1997, 147, (158 f.) = VersR 1998, 532 (533). 95 juris-PK(-Wurmnest) (Fn. 65), Art. 7 Rn. 71 m.Nachw. in Fn. 172; Arif, ZfRvgl 2011, 258 (264 ff.); Vrellis, The Law Applicable to the Environmental Damage, Some Remarks on Rome II Regulation, in: Entre Bruselas y La Haya, Liber Amicorum Allégriá Borrás, 2013, I 869, 886; wohl Bogdan, in: Nuovi strumenti del diritto internazinale privato, Liber Fausto Pocar, 2009, I 94, 103; so auch Rüppell (Fn. 8), S. 256, allerdings ohne „pauschale(n), undifferenzierten(n) Rückgriff“, S. 92 f.; holzschnittartig Berücksichtigung fordernd hingegen Leible/Lehmann, RIW 2007, 721 (725): „wird man sie zu berücksichtigen haben“. Gegen diesen Ansatz schon Siems, RIW 2004, 662 (666); Buschbaum (Fn. 51), S. 215 ff. Für Berücksichtigung als Faktum schon Kadner-Graziano, Gemeineuropäisches IPR, 2002, S. 257; Staudinger(-Stoll) (Fn. 68), IntSachenR Rn. 240. 96 KOM(2003) 427endg. S. 22. 88
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Art. 17 jedoch keineswegs zugeschnitten.97 Er bezieht sich eher auf lokale Verkehrsregeln als Gebote,98 weniger auf Verbote.99 Hier führt zwar die Genehmigung und nicht das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zum Anspruchsausschluss, dennoch greift dieser in ansonsten bestehende Rechtsverhältnisse ein. Art. 17 als Auffangbecken für ungelöste Probleme einzusetzen, erscheint eher als Ausdruck kollisionsrechtlicher Verzweiflung. Aber Art. 16 Rom II-VO regelt die sog. Eingriffsnormen, „die ohne Rücksicht auf das für das außervertragliche Schuldverhältnis maßgebende Recht den Sachverhalt zwingend regeln“. Es geht wohl auch hier, wie bei Art. 9 I Rom I-VO zum Internationalen Vertragsrecht, um „zwingende Vorschrift(en), deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen wird, dass sie ungeachtet“ des sonst nach IPR anzuwendenden Rechts anzuwenden sind. Hier liegt ein Einfallstor für das Öffentliche Recht. § 14 BImSchG stärkt Eigentums- und Unternehmensfreiheit des Anlagenbetreibers, schränkt aber die Grundrechte des Nachbarn ein.100 Angesichts dessen und der Wirkung als Anspruchsausschluss liegt die Einordnung als Eingriffsnorm nach Art. 16 nahe.101 Allerdings ist Art. 16 Rom II-VO hinsichtlich ausländischer Normen bedauerlicherweise gerade notorisch unzureichend.102 Nahe läge die Entwicklung von Grundregeln des Internationalen Verwaltungsrechts,103 das aber bis heute wenig konkrete Form angenommen hat.104 Bedenkenlos das Genehmigungsrecht als „Präklusionsstatut“ anzuwenden,105 droht die Interessen des Geschädigten und der Umwelt zu opfern. Überlagert wird die Debatte noch durch unterschiedliche Verständnisse des Art. 16 zu ausländischen Eingriffsnormen. Da Art. 16 Rom II-VO diese – anders als im Vertragsrecht Art. 9 III Rom I-VO – nicht ausdrücklich regelt, ist ihre Behandlung im Haftungsrecht sehr umstritten. Hält man ihre Wirkung kollisionsrechtlich 97 Ähnlich Bureau/Muir Watt, Droit international privé, 3. Aufl. 2014, II 552 f. no. 1013 mit Bezugnahme auf Symeonides, FS Jayme, 2004, I 935, 943 f., der darlegt, dass laxere Handlungsortsregeln nicht das Erfolgsortsrecht beeinträchtigen sollten. 98 Matthes, GPR 2011, 146 (151); Mankowski, IPRax 2010, 389 (390). 99 Gegen die Unterscheidung Gebote/Verbote allerdings Calliess(-von Hein) (Fn. 92), Art. 7 Rn. 24. 100 Roßnagel/Hentschel (Fn. 41), § 14 Rn. 25 f. Vgl. a. schon oben I 2. 101 So zu § 14 BImSchG Rehbinder (Fn. 38), § 14 Rn. 21; für Sonderanknüpfung eingehend schon Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 (306 ff.); vgl. a. Buschbaum (Fn. 51), S. 223; Pfeiffer, UTR 2000, 262 (280 ff.); Nassr-Esfahani (Fn. 8), S. 109 ff.; Sympathie bei Martiny, FS Peine, 2016, S. 181 (190). 102 Näher etwa PWW(-Remien), BGB, 14. Aufl. 2018, IPR-Anh 2/ROM II Art. 16 Rn. 3. 103 Vgl. Nassr-Esfahani (Fn. 8), S. 111, 114, 122 f., 186 f.; von der „Anerkennung eines ausländischen Hoheitsakts“ sprechen auch Rossbach (Fn. 8), S. 235 ff.; Rest, UPR 1982, 358 (365 f.). 104 Allgemein dazu Jörg Menzel, Internationales Öffentliches Recht, Verfassungs- und Verwaltungsgrenzrecht in Zeiten offener Staatlichkeit, 2011. 105 So Wandt, SZIER 1997, 147 (166 ff., auch 169 f., 175) = VersR 1998, 529 (535 ff., auch 536 f., 538).
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gänzlich für ausgeschlossen, so liegt der Weg über Art. 17 mit Wirkungsverleihung internationalprivatrechtlich scheinbar nahe,106 wie immer das zum Verwaltungsrecht passen mag. Er überzeugt, wie gesehen, aber nicht. Ungeachtet der dogmatischen Verortung wird, so scheint es, verbreitet versucht, in der Sache angemessene Kriterien für die Beachtung ausländischer Anlagengenehmigungen zu entwickeln. Der Weg über die Eingriffsnormen erscheint jedoch am ehesten als das Instrumentarium der Wahl. 4. Lösungsmöglichkeiten für die Konstellationen Wie ist nun der Diskussionsstand und was bedeutet das Vorstehende für die Lösungsmöglichkeiten für die vier oben geschilderten Konstellationen?107 a) Deutsches Handlungsortsrecht und deutsche Anlagengenehmigung Wird bei Konstellation (i) vom ausländischen Geschädigten am (deutschen) Handlungsort (Anlagenort) geklagt, so kann der Kläger für das Handlungsortsrecht nach Art. 7 Hs. 2 optieren. Die Präklusionswirkung der Anlagengenehmigung108 kann dann vom gewählten Handlungsortsstatut umfasst sein109 – das ist wegen ihres verwaltungsrechtlichen Charakters aber zweifelhaft und eher abzulehnen110 – bzw. sie entstammt dann zudem der lex fori, die entsprechend der Einheit der Rechtsordnung und über den Eingriffsnormen der lex fori betreffenden Art. 16 durchzusetzen ist.111 Über das Ergebnis – Präklusionswirkung und Genehmigung unterliegen deutschem Recht – besteht hier kaum Streit, nur über die dogmatische Herleitung.
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Eher aus Verlegenheit etwa Vrellis, (Fn. 95), S. 869, 886. Bei den Drittstaatenfällen, oben III. 1., gilt mit Modifikationen hinsichtlich einzelner Argumente Entsprechendes. 108 – Davon ausgehend, dass sie auch Ansprüche ausländischer Nachbarn erfasst, dafür Rehbinder (Fn. 38), § 14 Rn. 21; grundsätzlich auch Jarass, BImSchG; 12. Aufl. 2017, § 14 Rn. 6; Giesberts (Fn. 41), § 14 BImSchG Rn. 15, aber nur bei Anspruchsposition nach deutschem Recht. 109 Thorn, in: Kieninger/Remien (Hrsg.), Europäische Kollisionsrechtsvereinheitlichung, 2012, S. 139 (162); Rüppell, (Fn. 8), S. 248; Plender/Wilderspin, (Fn. 93), 21 – 027 Fn. 57; Kadner-Graziano, YbPIL 9 (2007), 71 (78); Matthes, GPR 2011, 146 (152); Pabst, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht EuZPR/EuIPR, Band III, 4. Aufl. 2016, Art. 7 Rn. 45; Wolf (Fn. 8), S. 232 ff., 264, 267. 110 Oben III. 2. a.E. Bei zivilrechtlichen Qualifikation von § 14 BImSchG und internationalrechtlicher Aufspaltung von Genehmigung und Präklusionsnorm gäbe es hier kein Problem. 111 Wohl offen Rehbinder (Fn. 38), § 14 Rn. 21; auch Pfeiffer, UTR 2000, 262 (282); Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 (300). 107
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b) Ausländisches Erfolgsrecht und deutsche Anlagengenehmigung Wenn aber bei Konstellation (ii) beim Gericht des deutschen Handlungsorts geklagt, die Option für das Handlungsortsrechts jedoch nicht ausgeübt wird, so kommt mangels Ausübung der Option das Umwelthaftungsrecht des Erfolgsorts zur Anwendung. Auch gegenüber dem ausländischen Nachbarn wird die deutsche Genehmigung mit der Präklusion nach § 14 BImSchG Geltung beanspruchen,112 obgleich dies gelegentlich verneint wird.113 Dann werden dennoch die Anlagengenehmigung und die Präklusionsnorm der deutschen lex fori – ggf. als Eingriffsnorm gemäß Art. 16114 – vom Gericht durchgesetzt werden. Die deutsche Anlagengenehmigung ist vor deutschen Gerichten zu beachten, auch wenn gemäß Art. 7 Hs. 1 ausländisches Haftungsrecht gilt.115 Dies folgt schon aus der Einheit der Rechtsordnung116 und wird durch die Öffnungsklausel des Art. 16 für Eingriffsnormen abgesichert.117 c) Ausländisches Umwelthaftungsrecht und ausländische Anlagengenehmigung Klagt in Konstellation (iii) aufgrund von Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ähnlich wie im allerdings schadensersatzrechtlichen Rheinversalzungsfall der Niederlande zuhause ein deutscher Geschädigter vor dem deutschen Gericht des Erfolgsorts gegen den ausländischen Schädiger unter Option für das ausländische Handlungsortsrecht nach Art. 7 Hs. 2, so kommt dies zur Anwendung. Bei Vorliegen einer ausländischen Anlagengenehmigung fragt sich dann, wie oben bei Konstellation (i), ob die Anlagengenehmigung und Präklusionsnorm von der Option des Art. 7 Satz 2 umfasst ist.118 Das soll nach einer Ansicht bei öffentlich-rechtlichen Anlagengenehmigungen
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Rehbinder (Fn. 38), § 14 BImSchG Rn. 21, auch zu den Beteiligungsrechten. Vgl. die oben Fn. 108 a.E. Genannten. Wohl auch Wolf (Fn. 68), S. 393. 114 So Rehbinder ebd.; Plender/Wilderspin (Fn. 93), 21 – 028 a.E.; Junker, FS Salje, 2013, S. 243 (258); vgl. a. Buschbaum (Fn. 51), S. 160 ff., 229 f., 237, 24; Martiny, FS Peine, 2016, S. 181, (190 f.); Krzymuski (Fn. 54) S. 48. 115 Münch.Komm.(-Junker), BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 Rn. 29 f.; Pfeiffer, UTR 2000, 263 (282); Rüppell, (Fn. 8), S. 109 f., der S. 249 die Präklusionsnorm der lex causae anwenden und die deutsche Genehmigung nach Art. 17 berücksichtigen will, aber Ausnahmen für möglich hält, S. 249 FN 20 m.Nachw. Insoweit unklar und anders bei ausländischem Gericht, dann aber ordre public anwendend BVerwGE 75, 285, 287 = NJW 1987, 1154; ebenso Dietlein (Fn. 17), § 10 Rn. 198; Jarass (Fn. 108), Rn. 6. 116 Münch.Komm.(-Junker) (Fn. 115), Art. 7 Rn. 29 f.; Junker, FS Salje, 2013, S. 243 (257 f.); juris-PK (-Wurmnest) (Fn. 65), Art. 7 Rn. 65; Martiny, FS Peine, 2016, S. 181 (190 f.); siehe auch schon Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 (300). 117 Münch.Komm.(-Junker) (Fn. 115), Art. 7 Rn. 30; Calliess (-v. Hein) (Fn. 92), Art. 7 Rn. 26; Pfeiffer, UTR 2000, 263 (282). 118 Münch.Komm.(-Junker) (Fn. 115), Art. 7 Rn. 31; Vrellis, (Fn. 95), S. 869, 885 f. 113
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grundsätzlich nicht anzunehmen sein,119 doch will eine verbreitete Ansicht die Anlagengenehmigung als Bestandteil der lex causae120 anwenden oder als Sicherheitsregel nach Art. 17121 – vorbehaltlich ordre public-Kontrolle etwa bei mangelnden Beteiligungsrechten der auswärtigen Betroffenen.122 Wie gezeigt bestehen dagegen Bedenken. Vielmehr kommt die Beachtung als ausländische Eingriffsnorm über Art. 16 hinaus – der die ausländischen Eingriffsnormen nicht ausdrücklich regelt123 – nach dem Vorbild von Art. 9 III Rom I-VO in Betracht und ist vorzuziehen.124 Dies alles wird für EU-Staaten wie für Drittstaaten gelten. Während bei dem – zweifelhaften – lex causae-Ansatz nur der ordre public eine Grenze darstellen kann, können bei Art. 16 und wohl auch Art. 17 positive Voraussetzungen aufgestellt werden. Für den hier bevorzugten Ansatz über Eingriffsnormen wie auch sonst werden diese insbesondere zu der vierten Konstellation erörtert. d) Deutsches Umwelthaftungsrecht und ausländische Anlagengenehmigungen Die Konstellation (iv) der Klage vor dem deutschen Gericht unter Geltung des deutschen Erfolgsortsrechts nach Art. 7 Hs. 1 ohne Ausübung des Optionsrechts mit Vorliegen einer ausländischen Anlagengenehmigung ist am interessantesten und zugleich die problematischste Konstellation.125 Man kann sagen, hier kommt es zum Schwur. Ehrlicherweise wird man bekennen müssen, dass hier sehr viel, vielleicht fast alles, offen ist und nur versucht werden kann, gewisse Leitlinien zu geben. Die in der älteren deutschen Rechtsprechung zu beobachtende, auf das Territoriali-
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Münch.Komm.(-Junker) (Fn. 115), Art. 7 Rn. 31; Junker, FS Salje, 2013, S. 243 (258 f.). 120 So Rüppell (Fn. 8), S. 107, 247 f.; auch Buschbaum (Fn. 51), S. 224 ff.; Staudinger(Stoll) (Fn. 68), IntSachenR Rn. 237; Staudinger(-v. Hoffmann) (Fn. 68), Art. 40 EGBGB Rn. 164; schon Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 (300 f.), aber nur bei Beteiligungsmöglichkeit am Genehmigungsverfahren, ebd. S. 301; ferner schon Kreuzer, BerDGesVR 32, (1992), 245 (290); aus schweizerischer Sicht Lahusen (Fn. 54), S. 74. 121 Calliess(-v. Hein) (Fn. 92), Art. 7 Rn. 24 mit Nachweisen. 122 So etwa Rüppell (Fn. 8), S. 248. 123 Vgl. PWW(-Remien), BGB, 13. Aufl. 2018, Art. 16 Rom II-VO Rn. 3. 124 Münch.Komm.(-Junker) (Fn. 115), Art. 7 Rn. 31 f.; Junker, FS Salje, 2013, S. 243 (259), allerdings auch mit der Einheit der (ausländischen) Rechtsordnung argumentierend und den ordre public als Grenze ansehend. Pfeiffer, UTR 2000, 263 (283 f.) argumentiert mit Doppelnatur der Präklusionsnorm und dem Sinn der Verweisung; für Sonderanknüpfung schon Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 (306 ff.); dagegen juris-PK(-Wurmnest) (Fn. 65), Art. 7 Rn. 7. 125 Ähnlich Rüppell (Fn. 8), S. 107; Calliess(-v. Hein) (Fn. 92), Art. 7 Rn. 27; Junker, FS Salje, 2013, S. 243, 259. Eine „lebhafte Kontroverse“ verzeichnet juris-PK(-Wurmnest) (Fn. 65), Art. 7 Rn. 68; „schwierig zu lösen“, sagt Martiny, FS Peine, 2016, S. 181 (191). „Weitgehend ungeklärt“, sagt Wolf (Fn. 68), S. 393.
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tätsprinzip gestützte grundsätzliche Ablehnung der Beachtung126 kann kaum überzeugen.127 Sie muss nicht mehr „notwendige Folge einer fehlenden supranationalen Planungshoheit“128 sein, wenn grenzüberschreitende Zusammenarbeit möglich ist. Es bietet sich an, zwischen EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten zu unterscheiden. ˇ EZ aa) Intra-EU, Europarecht und EuGH in C Innerhalb der EU ist vor allem der Fall der österreichischen Unterlassungsklage gegen den Betrieb des tschechischen Kernkraftwerks Temelin interessant.129 Im Geˇ EZ130 stellt sich folge der diesbezüglichen EuGH-Entscheidung in der Rechtssache C 131 zwischen EU-Mitgliedstaaten die Frage der Anerkennung. Es ging dort um das grenznahe tschechische Kernkraftwerk Temelin und damit einen Bereich, in dem Euratom-Vertrag und Ril 96/29 jedenfalls „Grundnormen“132 und Kontrollen festsetzen und das Übereinkommen über nukleare Sicherheit eingreift.133 Der EuGH hielt es dort für mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 18 AEUV sowie Euratom-Vertrag nicht vereinbar, wenn ein Unternehmen mit den erforderlichen Genehmigungen für den Betrieb eines Kernkaftwerks in einem anderen Mitgliedstaat auf Unterlassung verklagt werden kann, mitgliedstaatliche Normen des Gerichtsstaats – dort des Erfolgsorts – die Unterlassungsklage bei Vorliegen einer inländischen Anlagengenehmigung jedoch ausschließen.134 Die Entscheidung ist jedoch skurril. Ob sie zu Recht von einer allerdings umstrittenen Auslegung der österreichischen Präklusionsnorm § 364a ABGB ausgeht oder nicht, ist eine Frage des österreichischen Rechts; aber die Entscheidung ignoriert gänzlich, dass auf Grund von § 1 öAtomsperrG 1978 eine Genehmigung eines Kernkraftwerks
126 BGH, Urteil vom 10. 3. 1978 – V ZR 73/76 – DVBl. 1979, 226, 227 m. Anm. Küppers (Vorlageentscheidung Flughafen Salzburg); OLG Saarbrücken, Urteil vom 22. 10. 1957 – 2 U 45/57 – NJW 1958, 752, 754 (Rebhof, aber wohl obiter in einem Schadensersatzprozess); Küppers (Fn. 79), ZRP 1976, 260 (263); Rest, UPR 1982, 358 (366) – allerdings zu Zeiten fehlender Beteiligung ausländischer Nachbarn am Verwaltungsverfahren; vgl. zur Territorialität berichtend etwa juris-PK(-Wurmnest) (Fn. 65), Art. 7 Rn. 69; Calliess(-v. Hein) (Fn. 92), Art. 7 Rn. 29. 127 Krit. auch juris-PK(-Wurmnest) (Fn. 65), Art. 7 Rn. 69; Calliess(-v. Hein) (Fn. 92), Art. 7 Rn. 29; Nassr-Esfahani (Fn. 8), S. 90 ff., 184; s. auch schon Rossbach (Fn. 8), S. 235. 128 So noch Küppers, ZRP 1976, 260 (263). 129 Im Fall der Wideraufarbeitungsanlage Wackersdorf OGH JBl. 1989, 239 m.Anm. Wilhelm und OLG Linz JBl. 1987, 577 sind diese Fragen nicht wirklich ausgetragen worden. 130 EuGH 27. 10. 2009 – Rs. C-115/08 (Land Oberösterreich ./. Cˇ EZ), Slg. 2009 I-16265; insgesamt zu Temelin als „Kernkraftwerk an der Grenze“ Hummer, ZöR 63 (2008), 501 – 557. 131 Kritisch Münch.Komm.(-Junker) (Fn. 115), Art. 7 Rn. 35. 132 EuGH (Fn. 130), Rn. 114 ff. 133 EuGH ebd. Rn. 127 ff. 134 EuGH ebd. Tenor sowie Rn. 135 und 139. Krit. Matthes, GPR 2011, 146 (150). Europarechtliche Erwägungen finden sich auch schon bei Kreuzer, BerDGesVR 92 (1992), 245 (292 f.).
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in Österreich ausgeschlossen ist.135 Eine Diskriminierung lag daher höchstens in einem sehr abstrakten Sinne vor: Ein tschechischer Betreiber mag abstrakt diskriminiert werden, wenn in Österreich tschechische Genehmigungen anders als österreichische wirklich rechtlich wirkungslos wären; ein tschechischer Kernkraftbetreiber wird aber gegenüber niemandem in Österreich diskriminiert, weil das AtomsperrG den Betrieb von Atomanlagen ohnehin verbietet. So wird es in der Literatur als fraglich bezeichnet, ob erforderlich ist, dass ein entsprechender Anlagentypus im Erfolgsortsstaat überhaupt genehmigungsfähig ist.136 Vielleicht betrifft Cˇ EZ in Wahrheit eher einfach die Durchsetzung europäischen Atomrechts. Inwiefern der Ansatz auf andere Bereiche übertragen werden kann,137 ist daher im Einzelnen unsicher, ein Blankoscheck für mitgliedstaatliche Anlagengenehmigunˇ EZ mag allein für das gen ist dem primären Europarecht nicht zu entnehmen.138 C vom Anwendungsbereich der Rom II-VO ausgeschlossene Atomrecht von unmittelbarer Bedeutung sein. Hinsichtlich der IndustrieemissionenRL 2010/75139 kann dies anders liegen; sie ist allerdings nur eine Mindestrichtlinie.140 Immerhin spricht das Diskriminierungsverbot für eine kriterienbezogene Offenheit mindestens innerhalb der EU, die konkrete Tragweite von Art. 18 AEUV wäre noch auszuloten. Daher wird auch über die EU hinaus diese Offenheit schon lange angestrebt. bb) Einfache Binnenmarktfälle und Drittstaatenfälle Jenseits des Europarechts gegenüber Anlagengenehmigungen aus Drittstaaten stellt sich die Frage in voller Breite141 und auch im aufgrund der territorialen Gegebenheiten wahrscheinlicheren Binnenmarktfall142 außerhalb des Atomrechts kann 135
Dazu OGH 4. 4. 2006 – 1 Ob 5/06a (slowakisches Kernkraftwerk). Rummel/Lukas(-Winner) (Fn. 77), § 364a ABGB Rn. 6 m. Nachw.; OGH 19. 2. 2012 – 3 Ob 134/12 w sagt dazu: „Nur obiter ist dazu zu bemerken, dass vieles im Sinne der Ausführungen in der Revisionsbeantwortung dafür spricht, dass der Europäische Gerichtshof in seinem zitierten Urteil (C-115/08) davon ausgeht, dass wegen der „einen lückenlosen und wirksamen Gesundheitsschutz der Bevölkerung gegen die Gefahren durch ionisierende Strahlungen“ sicherstellenden Bestimmungen des EAG-Vertrags (Rn 112) mit der Prüfkompetenz der Kommission (Rn 122) eine ausländische Betriebsanlagengenehmigung eines Kernkraftwerks auch dann anzuerkennen ist, wenn im ausländischen Genehmigungsverfahren keine Parteistellung von Anrainern (Nachbarn) vorgesehen ist, weil der sichergestellte Gesundheitsschutz der gesamten Bevölkerung auch den Individualrechtsschutz erfasst.“ 137 Dafür Calliess(-v. Hein) (Fn. 92), Art. 7 Rn. 24; dagegen Junker, FS Salje, 2013, S. 243 (260 f.); juris-PK(-Wurmnest) (Fn. 65), Art. 7 Rn. 70; eher skeptisch auch Martiny, FS Peine, 2016, S 181 (189). 138 Ablehnend auch Mankowski, IPRax 2010, 389 (393); anders wohl Krzymuski (Fn. 54), S. 220 f. 139 Oben II. 1. Fn. 50. 140 Vgl. Erwägungsgrund 10. 141 Für eine Anerkennung nur gegenüber Mitgliedstaaten der EU offenbar Mankowski, IPRax 2010, 389 (394 f.). 142 Vgl. die Überlegungen bei Rüppell (Fn. 8), S. 250 f. 136
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man im Rahmen des Diskriminierungsverbots auf die seit langem geführte Diskussion zurückgreifen. Das traditionelle Territorialitätsprinzip beschränkt die Wirkung öffentlich-rechtlicher Genehmigungen auf das Territorium des Erlassstaates; es muss aber ohnehin als mehr oder weniger unzureichend angesehen werden,143 mag es auch der herkömmlichen Rechtsprechung entsprechen144 und nach wie vor vertreten werden;145 für die EU ist es ohnedies zu eng. In der Literatur werden – unabhängig von der dogmatischen Einordnung146 – vor allem drei Kriterien für die Beachtung der Genehmigung aufgestellt: (1) völkerrechtliche Zulässigkeit, (2) ähnliche Voraussetzungen wie nach der lex fori, (3) grenzüberschreitende Beteiligungsmöglichkeit im Genehmigungsverfahren147 – plastisch wird von Völker- und Europarechtsvorbehalt, Äquivalenzerfordernis und Partizipationserfordernis gesprochen.148 Das Äquivalenzerfordernis entspricht sonstigen Ansätzen bei Eingriffsnormen sowie europarechtlichen Grundsätzen, liegt im Interesse der Einhaltung eines hohen Umweltschutzniveaus und ist wegen der Auslandswirkung auch gerechtfertigt. Jedenfalls einen Mindestsockel an gleichen Voraussetzungen soll in der EU die IndustrieemmissionenRL 2010/75 schaffen. Das Erfordernis der Beteiligungsmöglichkeit ergibt sich schon aus rechtsstaatlichen Erwägungen.149 Die bereits genannten Abkommen von Aarhus und Espoo150 wirken unter den Vertrags- und Mitgliedstaaten in diese Richtung.151 Den ordre public152 braucht man dann nur zu bemühen, wenn man bei den Voraussetzungen der Beachtung zu großzügig gewesen sein sollte.
143 Laut Mankowski, IPRax 2010, 389 (390): „heute eine jedenfalls überwundene Position“. Krit. schon Lummert, (Fn. 49), S. 183, 187 ff. 144 Münch.Komm.(-Junker) (Fn. 115), Art. 7 Rn. 34. 145 Münch.Komm.(-Junker) (Fn. 115), Art. 7 Rn. 34. Aufgrund der Lenkungsfunktion des Art. 7 gegen eine großzügige Anwendung fremder Genehmigungen Junker, FS Salje, 2013, S. 243 (261 f.). 146 Dazu Überblick oben III. 3. 147 So etwa Kadner-Graziano, YbPIL 9 (2007), 71 (79); Mankowski, IPRax 2010, 389 (391); Matthes, GPR 2011, 146 (151); PWW/Schaub (Fn. 76), Rn. 4; juris-PK(-Wurmnest) (Fn. 65), Art. 7 Rn. 72; ähnlich Buschbaum (Fn. 51), S. 168 ff., 241; Wolf (Fn. 68), S. 394 ff.; etwas anders Staudinger(-v. Hoffmann) (Fn. 68), Art. 40 EGBGB Rn. 167 ff., insbes. Rn. 170; berichtend und krit. Junker, FS Salje, 2013, S. 243 (261). Großzügiger wohl Hager, RabelsZ 53 (1989), 293. Völkerrechtsgemäßheit lässt ausreichen Heß, Staatenimmunität bei Distanzdelikten, 1992, S. 26 ff. 148 So unbeschadet seiner Kritik Junker, FS Salje, 2013, S. 243 (261); Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 16 Rn. 31. 149 Matthes, GPR 2011, 146 (151). 150 Oben II. 1. 151 So auch Fuglzinsky (Fn. 54), S. 121, 128. 152 Ablehnend Hager, RabelsZ 53 (1989), 293 (309).
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IV. Präklusionsfolge: Schutzvorkehrungen und Schadensersatz Die Präklusion führt meist noch zu einer Folgefrage: § 14 BlmSchG schließt zwar privatrechtliche Abwehransprüche aus, wandelt sie aber auch um153 in Ansprüche auf Vorkehrungen oder subsidiär Schadensersatz. Diese treten an die Stelle eines sonst durchsetzbaren Abwehranspruchs.154 Bestand kein Anspruch, sondern waren Einwirkungen hinzunehmen, so besteht auch kein Anspruch nach § 14 BlmSchG.155 Bei § 14 Satz 2 wird von einem bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch gesprochen.156 Die Frage, wie diese Ansprüche internationalrechtlich zu behandeln sind, wird, soweit ersichtlich, kaum erörtert. Sie ist dann von Bedeutung, wenn die Surrogatansprüche nach Anlagengenehmigungsrecht und Haftungsrecht divergieren – wie etwa bei § 14 BImSchG mit primär Anspruch auf Vorrichtungen, aber § 364a ABGB auf Schadensersatz. Die Fälle, in denen für beide Bereiche einheitlich deutsches oder ausländisches Recht Anwendung findet – oben Konstellationen (i) und (iii) – sind unproblematisch. Liegt eine deutsche Genehmigung vor, gilt aber ausländisches Haftungsrecht des Erfolgsorts – oben Konstellation (ii) – würde die Substitutionslösung dem ausländischen Geschädigten den Anspruch auf Vorrichtungen nach § 14 BImSchG nehmen, besser erscheint die einheitliche Sonderanknüpfung von Genehmigung und Präklusion sowie Präklusionsfolge nach § 14 BImSchG über Art. 16 Rom II-VO. Bei ausländischer Genehmigung und deutschem Haftungsrecht des Erfolgsorts würde die Substitutionslösung zu einem deutschen Anspruch auf Vorrichtungen führen, den das ausländische Ortsrecht der Anlage aber nicht kennt.157 Dies könnte durchaus im Sinne des Umweltschutzes sei, gesteht der ausländischen Genehmigung aber nicht ihre volle Wirkung zu. Bei der Sonderanknüpfung kommt man nur zum Schadensersatz, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind; ist das Unterbleiben der Vorrichtungen untragbar, so sind wohl die Voraussetzungen der Sonderanknüpfung zu verneinen und kann der Unterlassungsanspruch bejaht werden, dieser aber durch Vorrichtungen abgewendet werden. Die eine wie die andere Lösung scheint international nicht konfliktfrei.
153 So Rehbinder (Fn. 38), § 14 BImSchG Rn. 35; Roßnagel/Hentschel (Fn. 41), § 14 Rn. 46; Giesberts (Fn. 41), § 14 BImSchG Rn. 12, 20; Storost (Fn. 18), § 14 Rn. B 1, D 1. Anders beim „Zerreißwolf“ des § 16 WHG, oben bei Fn. 6. 154 Rehbinder ebd. Von einem „Surrogat“ sprechen Hager, NJW 1986, 1961 (1963); Storost (Fn. 18), § 14 Rn. B 1. 155 Ders. ebd. § 14 BImSchG Rn. 51 m.w.N. 156 Ders. ebd. § 14 BImSchG Rn. 54. 157 So im Ergebnis offenbar Krzymuski (Fn. 54), S. 61.
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V. Fazit Zivilrechtswirkungen von Anlagengenehmigungen waren, sind und bleiben ein komplexes Thema – zumal bei internationalem Element. In einigen Sätzen kann dazu als Fazit festgehalten werden: 1. Das Thema ist ein Kind der Industrialisierung und somit faszinierender Beleg für die Herausforderung des Rechts durch neue technische Entwicklungen – schon vor mehr als 150 Jahren. Sachsen und der Norddeutsche Bund haben hierzu um die Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkenswerte Grundlagen gelegt. 2. Die Regelung durch eine Norm wie § 14 BImSchG und deren Einzelheiten sind, wie Frankreich und zum Teil auch Österreich zeigen, keineswegs eine Selbstverständlichkeit. 3. Im internationalen Zivilrechtsverkehr führen die internationale Zuständigkeit der Gerichte am Handlungs- wie am Erfolgsort nach Art. 7 Nr. 2 EuGVVO sowie die Anwendbarkeit des Erfolgsortsrechts mit Optionsmöglichkeit für das Handlungsortsrechts nach Art. 7 und 4 Rom II-VO zu mehreren unterschiedlichen komplizierten Konstellationen, die Fragen aufwerfen. Dazu ist das kollisionsrechtliche Instrumentarium zum Teil noch unscharf und umstritten. 4. Genehmigung und Präklusionsnorm wirken zusammen und können internationalrechtlich als Einheit gesehen werden. Als Alternative kommt in Betracht, die Präklusionsnorm als zivilrechtlich zu qualifizieren. Dann stellt sich aber das Problem der Substitution der in der Präklusionsnorm in Bezug genommenen inländischen Genehmigung durch die ausländische. Ferner müssten die unter Umständen unterschiedlichen Präklusionswirkungen und Folgeansprüche angepasst werden. Daher scheint die einheitliche Sonderanknüpfung von Genehmigung und Präklusionswirkung als Eingriffsnorm vorzugswürdig. 5. Auch für die unter den vier wesentlichen Konstellationen schwierigste, nämlich die vierte mit ausländischer Anlagengenehmigung, aber inländischem Haftungsrecht vor dem inländischen Gericht, zeichnen sich bereits Lösungsgrundsätze ab. Diese geˇ EZ – den Geboten des statten es dann auch – jenseits des Atomrechts und des Falles C Diskriminierungsverbots gerecht zu werden. Je mehr es allerdings dem Verwaltungsrecht autonom, europäisch und international gelingen wird, betroffene Interessen zu wahren und Umweltschädigungen vorzubeugen, umso weniger erforderlich wird die grenzüberschreitende private Rechtsdurchsetzung sein.
Regulierung und Privatrecht. Privatrechtliche Instrumentarien und der Beitrag des EEG 2017 Von Peter Salje, Hannover Ausgehend von ersten wissenschaftlichen Überlegungen1 zur Übernahme des USamerikanischen Konzepts einer Regulierung besonders vermachteter Industrien2 Mitte der siebziger und Anfang der achtziger Jahre hat der Terminus Regulierung auf dem Weg über das von den Europäischen Gemeinschaften teilweise übernommene angelsächsische Recht auch Eingang in den deutschen Rechtskreis gefunden.3 Begonnen hat dies mit dem Telekommunikationsgesetz; speziell abgestimmte Regulierungskonzepte mit wirtschaftsaufsichtlichem Einschlag existieren seitdem für die leitungsgebundene Energiewirtschaft,4 das Eisenbahnwesen und die Post, wobei die verwaltungsbehördliche Zuständigkeit bei der Bundesnetzagentur liegt (früher: Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post). Einen Sonderweg hat die 1 Vgl. Masing, AöR 128 (2003), 558 ff.; Horn/Knieps/Müller, Die Regulierungsmaßnahmen in den USA: Schlussfolgerungen für die Bundesrepublik Deutschland, 1988; Phillips, The Regulation of Public Utilities, 3. Aufl. 1993. 2 Unter Einschluss der leitungsgebundenen Energieversorgung: vgl. den Überblick zu den US-amerikanischen Ansätzen bei Lukes, Preisvergleich und Strukturvergleich bei der Missbrauchsaufsicht nach §§ 103, 104 GWB, 1977, S. 132 ff. 3 Aus der zahlreichen Literatur: Aumüller, Regulierung und Wettbewerb auf dem Telekommunikations- und Strommarkt, 2006; Berringer, Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, 2004, S. 94 ff.; Böge/Lange, WuW 2003, 870 ff.; Börner, Versorgungswirtschaft 2006, 149 ff.; Britz, N&R 2006, 6 ff.; Danwitz, DöV 2004, 977 ff.; Eifert, in: Hoffmann-Riem/Schmidt/Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006; Eilmansberger, Medien und Recht 2010, 353 ff.; Ennuschat, Infrastrukturgewährleistung durch Privatisierung und Regulierung, Habilitationsschrift, 2004; Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, §§ 7 und 9; Heise, Das Verhältnis von Regulierung und Kartellrecht im Bereich der Netzwirtschaften, 2008; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016; König/Benz (Hrsg.), Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997; Kühling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwirtschaften, 2004; Ludwigs, WuW 2008, 534 ff.; Lühmann, Die Staatsaufsicht zwischen staatlicher Kontrolle und Regulierung. Aufsichtspraxis, Rechtsquellen, Aufsichtsmodelle, 2015; Mohr, in: Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, S. 119 ff.; Monopolkommission (Hrsg.), Netzwettbewerb durch Regulierung, 14. Hauptgutachten 2000/2001, 2002; Pielow (Hrsg.), Grundsatzfragen der Energiemarktregulierung, 2005; Ruge, AöR 131 (2006), 1 ff.; Säcker, AöR 130 (2005), 180 ff.; Gundel/Lange (Hrsg.), Die Energiewirtschaft im Instrumentenmix, 2014; Ziesak, Regulierung oder Selbstregulierung?, 2002. 4 EnWG 1998, 2003, 2005 und 2011.
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Wirtschaftsaufsicht über die Finanzdienstleistungen eingeschlagen (BaFin mit den einschlägigen Aufsichtsgesetzen); im Übrigen wird der Regulierungsbegriff nicht nur von wirtschaftswissenschaftlichen und unternehmerischer Seite, sondern auch in der Rechtswissenschaft5 gelegentlich inflationär verwendet, was die Gefahr einer Konturenlosigkeit des Forschungsgegenstandes einschließt, der entgegen gearbeitet werden muss.6 Es reicht für Zwecke der rechtswissenschaftlichen Betrachtung nicht aus, den eingeführten Begriff der Wirtschaftsaufsicht einfach in Regulierung umzutaufen; unberücksichtigt bliebe insofern das Erkenntnisobjekt der Selbstregulierung. Zu weit ginge es jedoch, jede nicht-vertragliche Regelung einschließlich des Haftungsrechts als „Regulierung“ zu kennzeichnen;7 allerdings ist die Abgrenzung zwischen den Instrumenten der Selbstregulierung und überkommenen zivilrechtlichen Instrumentarien nicht eben leicht zu ziehen.8 Der Jubilar ist Mitglied im Vorstand der Wissenschaftlichen Vereinigung für das gesamte Regulierungsrecht sowie Mitherausgeber der Schriftenreihe9 und hat zahlreiche einschlägige grundlegende Fragestellungen wie den Festlegungsbegriff des § 29 EnWG bearbeitet. In der letzten Zeit ist aus der Sicht des öffentlichen Rechts überlegt worden, ob regulierungsbehördliche Prozesse durch privatrechtliche Regelungen nicht „gestört“10 würden – was sicherlich als bewusste „Provokation“ gedacht ist, um die Privatrechtswissenschaft stärker in die Diskussion um die Regulierungskonzepte einzubinden. Diese Anregung soll im Folgenden aufgenommen werden, wobei ausgehend von einem (eher engen) Begriff der Regulierung (unten I.) zunächst die möglichen Erscheinungsformen einer Regulierung mit den Mitteln des Privatrechts aufgezeigt werden sollen (unten II.). Abschließend wird es um die Frage gehen müssen, ob sich privatrechtliche und öffentlich-rechtlich dominierte Regulierungsansätze „vertragen“ können, wenn sie identische Bereiche erfassen, z. B. die leitungsgebundene
5 Vgl. die vom Handbuch der Regulierung erfassten Aufsichtsbereiche bei Fehling/Ruffert (Hrsg.) (Fn. 3), §§ 8 – 18. 6 Der Wiss. Arbeitskreis Regulierung (WAR) berät die Bundesnetzagentur in Regulierungsfragen und hat Leitlinien zur Regulierungspolitik entwickelt: https://www.bundesnetz agentur.de/DE/Allgemeines/DieBundesnetzagentur/WAR/wissenschaftlicherarbeitskreisfuerre gulierungsfragen-node.html. 7 In diese Richtung tendenziell die wirtschaftswiss. Autoren, vgl. etwa Leschke, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, § 6. 8 Zur Frage, ob es bereits ein eigenständiges Energiezivilrecht gibt, vgl. Recknagel, in: Gundel/Lange, Energieversorgung in Zeiten der Energiewende. Sechste Bayreuther Energierechtstage 2015, 2015, S. 1 (5). 9 Bisher erschienen: „Grundsatzfragen des Regulierungsrechts“ (2015) sowie „Regulierung und Gemeinwohl“ (2016). 10 Vgl. zur Fehlsteuerung am Beispiel des EEG: Kühling, in: Ehricke (Hrsg.), Hürden und Grenzen der Liberalisierung im Energiesektor, 2013, S. 65 ff.; Haucap/Klein/Kühling, Die Marktintegration der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Eine ökonomische und juristische Analyse, 2013, S. 19 ff. und 53 ff.
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Energiewirtschaft. Insofern soll versucht werden, an die Stelle einer „Divergenzoder Inkompatibilitätsthese“ eine „Harmoniethese“ zu setzen (unten III.). I. Der Begriff der Regulierung Der aus dem US-amerikanischen Recht übernommene Begriff der Regulierung ist kontextabhängig auszulegen; im deutschen Recht kommt er auch in der Zusammensetzung „Regulierungsbehörde“ vor.11 Ein Hauptanwendungsfeld ist das wirtschaftspolitische Instrument der Marktregulierung: Unter „Marktregulierung oder Markteingriff versteht man im Rahmen der Prozesspolitik die direkten staatlichen Eingriffe in die Wirtschaftsprozesse und die staatliche Beeinflussung des Verhaltens von Unter nehmen und Verbrauchern, um bestimmte, im allgemeinen Interesse bestehende Ziele zu verfolgen.“12 Für Zwecke dieser Untersuchung soll der Regulierungsbegriff spezieller gefasst werden; ein sehr weiter Regulierungsbegriff gerade mit dem Ziel der Durchdringung von Regulierungsfunktionen des Privatrechts wird in der von Hellgardt vorgelegten gründlichen Untersuchung zum Themenkreis vertreten.13 1. Staatlicher Eingriff Zunächst muss (nach wohl allen denkbaren Auffassungen und Begriffsvarianten) ein staatlicher Eingriff vorliegen. Dies umfasst jegliche Form staatlicher Gewalt, also Legislative, Exekutive und Judikative, wenn sie sich im Rahmen der gesetzten Ermächtigungsgrundlage hält. Der Gesetzgeber muss also Grundrechte und Staatsziele einschließlich des Rechtsstaatsprinzips beachten, und die Regulierungsbehörde hat sich im durch ihre Ermächtigungsgrundlagen gesetzten Handlungsfeld zu halten. Auch die Judikative vollzieht (nachprüfend) Gesetzesrecht, vermag aber auch (in engen Grenzen) Richterrecht zu setzen. Ob der Regulierungsbehörde ein Regulierungsermessen zusteht,14 hängt von der Auslegung der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage durch die Judikative ab. Die Einbeziehung der Legislative in den Regulierungsbegriff mag zunächst überraschen, weil manche Rechtsanwender den Regulierungsbegriff auf das Handeln von Verwaltungsbehörden beschränken werden. Wie jedoch gerade das ErneuerbareEnergien-Gesetz zeigt, vermag der Gesetzgeber auch ohne nachgeschalteten Verwal-
11 Vgl. §§ 54 ff. EnWG. Im Telekommunikationsrecht (§ 2 Abs. 1 TKG) wird der Begriff der Regulierung vorausgesetzt und Regulierung als „hoheitliche Aufgabe des Bundes“ eingeordnet. Für privatrechtliche Einflüsse ist deshalb im Telekommunikationsrecht wohl kein Platz; zuständig ist die Bundesnetzagentur, nicht eine „Regulierungsbehörde“. 12 https://de.wikipedia.org/wiki/Marktregulierung, Hervorhebung d. Verf. 13 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht. Staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht, 2016, S. 15 (41 ff.). 14 Vgl. dazu nachstehend Abschnitt I.5.
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tungsvollzug unmittelbar in Marktprozesse einzugreifen.15 Das Europäische Gericht (3. Kammer) hat dies für den Funktionsmechanismus des EEG 2012 bestätigt:16 „Erstens ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall die ÜNB durch das EEG 2012 mit der Verwaltung des Systems zur Förderung der Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen betraut sind. Wie die Kommission zutreffend festgestellt hat (siehe oben, Rn. 87 und 88), überträgt das EEG 2012 den ÜNB hierzu eindeutig eine Reihe von Pflichten und Rechten bezüglich der Durchführung der sich aus diesem Gesetz ergebenden Mechanismen, so dass die ÜNB die zentrale Stelle in der Funktionsweise des in diesem Gesetz vorgesehenen Systems sind. Die u. a. in den §§ 34 bis 39 EEG 2012 vorgesehenen Aufgaben der Verwaltung dieses Systems sind hinsichtlich ihrer Wirkungen mit einer staatlichen Konzession vergleichbar. Die an der Funktionsweise des EEG 2012 beteiligten Mittel werden nämlich ausschließlich im öffentlichen Interesse und entsprechend den zuvor vom deutschen Gesetzgeber festgelegten Modalitäten verwaltet. Diese in den Mehrkosten, die auf die Letztverbraucher abgewälzt und von den Elektrizitätsversorgungsunternehmen den ÜNB für EEG-Strom gezahlt werden, dessen Preis über dem Marktpreis für Strom liegt, bestehenden Mittel fließen nämlich nicht direkt von den Letztverbrauchern an die Erzeuger von EEGStrom, d. h. zwischen autonomen Wirtschaftsteilnehmern, sondern erfordern das Eingreifen zwischengeschalteter Stellen, die insbesondere mit ihrer Einnahme und Verwaltung betraut sind. Hervorzuheben ist insbesondere, dass diese Mittel nicht in das allgemeine Budget der ÜNB fließen und ihnen nicht zur freien Verfügung stehen; vielmehr werden sie in einer gesonderten Buchführung ausgewiesen und unter Ausschluss anderer Zwecke allein zur Finanzierung der Förder- und Ausgleichsregelung verwendet. Somit weist die Situation der ÜNB in der vorliegenden Rechtssache entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland Gemeinsamkeiten zur Situation der Samenwerkende ElektriciteitsProduktiebedrijven NV in der dem Urteil vom 17. Juli 2008, Essent Netwerk Noord u. a. (C-206/06, EU:C:2008:413), zugrunde liegenden Rechtssache und zur Situation der Abwicklungsstelle für Ökostrom AG in der dem Urteil vom 11. Dezember 2014, Österreich/Kommission (T-251/11, EU:T:2014:1060), zugrunde liegenden Rechtssache auf. Daher ist davon auszugehen, dass die mit der EEG-Umlage erwirtschafteten und von den ÜNB gemeinsam verwalteten Gelder unter dem beherrschenden Einfluss der öffentlichen Hand bleiben, da die für sie geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften es ermöglichen, die ÜNB insgesamt einer eine staatliche Konzession in Anspruch nehmenden Einrichtung gleichzustellen.“ (Hervorhebung d. Verf.)
Mit dem EEG hat der deutsche Gesetzgeber daher ein Fördersystem installiert, das sich auf Grund der gesetzlichen Vorgaben zum einen Teil selbst vollzieht (mit den Übertragungsnetzbetreibern als „Konzessionären“), zum anderen Teil auf Einzelentscheidungen von Verwaltungsbehörden angewiesen ist (Bundesnetzagentur, Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, Umweltbundesamt, vgl. §§ 85 ff. EEG 2017). Für eine Regulierung im hier verstandenen Sinne reicht also ein legislativer Eingriff aus.
15
Vgl. nachstehend Abschnitt II. EuG (3. Kammer) v. 10. 5. 2016, ZNER 2016, 221 Rn. 93 f. = DVBl. 2016, 841 m. Anm. Frenz (847 f.) = EnWZ 2016, 409 = IR 2016, 155 – EEG 2012 als Beihilfe. 16
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2. Marktprozesse als Eingriffsgegenstand Weil Regulierung meist als „Marktregulierung“ verstanden wird, bilden Marktprozesse und Wettbewerbsverhältnisse den Gegenstand des staatlichen Eingriffs. Regulierung liegt immer dann vor, wenn sich die Marktverhältnisse ohne den staatlichen Eingriff abweichend – nämlich rein marktimmanent – entwickelt hätten. Dieser Regulierungsbegriff ist unabhängig von Marktform und Wettbewerbsintensität auf den Märkten, auf die der Eingriff abzielt. Um an dieser Stelle der Beschreibung des Regulierungsbegriffs das Einfließen normativer Komponenten auszuschließen, soll es nicht darauf ankommen, ob der Eingriff gezielt oder zufällig, unmittelbar oder mittelbar, nach Inhalt und Reichweite bestimmt oder eher diffus erfolgt. Vielmehr reicht jede abweichende Entwicklung der Marktverhältnisse aus, die kausal auf den staatlichen Eingriff zurückzuführen ist. Die Abweichung kann mit Hilfe einer hypothetischen Betrachtung nach dem aus der Wettbewerbstheorie bekannten „Before-and-After-Ansatz“17 ermittelt werden. 3. Preise und/oder Angebotsmengen Um unwesentliche bzw. nicht spürbare Abweichungen bei den Marktverhältnissen vom Regulierungsbegriff auszuschließen, muss ein Einfluss auf Preise und/oder Angebotsmengen beobachtet werden können. Sind die Marktprozesse so dominierend, dass der Eingriff effektiv leer läuft, wird man im Hinblick auf Marktverhalten und Marktergebnisse nicht von einer Regulierung sprechen können; vielmehr bleibt es beim Regulierungsversuch. Denn es hieße den Regulierungsbegriff zu überdehnen, wenn man alle intendierten oder rein zufälligen, erfolgreichen oder nicht erfolgreichen staatlichen Eingriffe bereits als Regulierung kennzeichnen würde. Ein staatlicher Eingriff kann auch die Produktqualität betreffen; Auswirkungen bei Preisen und Mengen bilden daher lediglich Hauptanwendungsfälle der Regulierung. Betriebliche Normung und zivilrechtliche Mängelgewährleistung vollziehen sich typischerweise außerhalb staatlicher Regulierung, soweit es an einem staatlichen Eingriff fehlt: Denn den marktbezogenen Vergleichsmaßstab bildet hier privates Verhalten (Vereinbarung von Mindestanforderungen an Produkte und Dienstleistungen, einerseits durch private Normungsverbände, andererseits durch die Vertragsparteien selbst). Die Einführung der Produkthaftung durch Europäisches Recht, umgesetzt im deutschen Produkthaftungsgesetz, bildet einen Grenzfall zum Regulierungsbegriff: Weil der Begriff des Produktfehlers als Orientierungsmaßstab dieser Haftung aus den Verkehrsüblichkeiten (und damit den unbeeinflusst von staatlichen Eingriffen sich entwickelnden Marktverhältnissen) gewonnen wird, liegt insofern kein regulierender Eingriff vor; ein solcher muss jedoch bejaht werden, seit 17 Vgl. Schmidt/Schmidt, Europäische Wettbewerbspolitik und Beihilfekontrolle, 2. Aufl. 2006, S. 84 mit Fn. 87.
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die Haftung des Produzenten/Importeurs gegenüber Dritten (nicht den Produktkäufern) verschuldenslos gestellt wurde und damit in manchen Mitgliedstaaten (z. B. Bundesrepublik Deutschland) das außervertragliche Haftungsniveau deutlich angehoben hat.18 4. Ex ante oder Ex post Ein regulierender staatlicher Eingriff in Markt- und Wettbewerbsverhältnisse wird typischerweise ex ante erfolgen, indem durch die Legislative eine Eingriffsgrundlage neu geschaffen wird. Man wird aber ex post-Eingriffe durch Regulierungsbehörden nicht ausschließen können: Verhängt die Behörde Sanktionen im Hinblick auf Marktverhältnisse der Vergangenheit, liegt selbstverständlich Regulierung selbst dann vor, wenn die abgewickelten Geschäftsvorfälle nicht rückabgewickelt werden. Gleichwohl trägt der Regulierungsbegriff eine Zukunftskomponente in sich, weil auch Eingriffen in frühere Marktverhältnisse das Signal an die Märkte innewohnt, das Marktverhalten ab sofort zu ändern. 5. Existenz von Regulierungsermessen Während der BGH für das Kartell- und Wettbewerbsrecht, gestützt auf den Gesetzeswortlaut, die Existenz von „Aufsichtsermessen“ schon frühzeitig ausgeschlossen hatte,19 ist ein (paralleles) Regulierungsermessen sowohl für den Telekommunikationssektor20 als auch im Energiewirtschaftsrecht21 allgemein anerkannt; ob es sich insofern in Wirklichkeit um einen Beurteilungsspielraum handelt, kann hier dahinstehen. Nach hiesiger Auffassung macht das Regulierungsermessen den entscheidenden Unterschied zur herkömmlichen Wirtschaftsaufsicht aus, die sich allein tatbestandsorientiert vollzieht und die behördliche Einschätzung allenfalls über unbestimmte Rechtsbegriffe in die Entscheidung zu transportieren vermag, was aber von den Gerichten vollständig nachprüfbar ist. Abwägungsentscheidungen der Gerichte („Interessen der Marktbeteiligten unter besonderer Berücksichtigung der Frei18
Zur Haftung als Instrument der Regulierung vgl. Ehricke (Hrsg.), Handlungsfreiheit und Haftungsverantwortung in den regulierten Bereichen des Energiesektors, 2015, insbes. die Beiträge von Wagner/Bsaisou (S. 13 ff.), Berzel/Sötebier/Zerres (S. 53 ff.), Woste (S. 89 ff.), Hansen/Cordes (S. 97 ff.), Engelsing (S. 155 ff.) und Löwer (S. 171 ff.). 19 Beschränkung der kartellbehördlichen Verfügungen auf konkrete Verbote: BGH WuW/E BGH 1345, 1347 ff. – Polyester-Grundstoffe; BGHZ 67, 104, 107 – Vitamin B 12. Seit der 7. GW-Novelle sind auch gebotsbezogene Abstellungsverfügungen zulässig. 20 BVerwG v. 28. 11. 2007, E 130, 39, 49 (Rn. 28 ff.) – Regulierungsermessen; BVerfG v. 8. 12. 2011, DVBl. 2012, 230; OLG Düsseldorf v. 15. 2. 2017, EnWZ 2017, 275 Rn. 40 ff. – Anpassungszeitpunkt für die Erlösobergrenze. Zur Kritik vgl. Gärditz, DVBl. 2016, 399 (400 f.). 21 BGH v. 21. 1. 2014, RdE 2014, 276 – Stadtwerke Konstanz GmbH; BGH v. 22. 7. 2014, RdE 2014, 495, 497 f. – Stromnetz Berlin GmbH (zur Anreizregulierung). Überblick zur Rechtsprechung des BGH bei Grüneberg, RdE 2016, S. 49 ff.
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heit des Wettbewerbs“) kommen ebenfalls als Einfallstore für verdeckte Regulierungs-Ermessensentscheidungen in Betracht. Der Machtzuwachs der Regulierungsbehörde durch Regulierungsermessen wird vom Instrument der Festlegung noch übertroffen. Eingeführt durch § 29 EnWG22 handelt es sich um (grds. voll nachprüfbare) Allgemeinverfügungen, deren spezielle Materie typischerweise Verfahrensfragen reguliert und daher von den Gerichten nur selten verworfen wird.23 Bei der Festlegung handelt es sich um eine „Rechtsverordnung der Regulierungsbehörde“, wobei die Unterschiede zur subdelegierten ministerialen Verordnungsermächtigung kaum noch spürbar sind.24 Schon der Katalog der Festlegungsermächtigungen zu Gunsten der Bundesnetzagentur in § 85 Abs. 2 EEG 2017 lässt Schwindel aufkommen, und er ist nicht abschließend.25 Regulierungsermessen übt der Gesetzgeber dann aus, wenn er (privatrechtliche) Regulierungsinstrumentarien vorgibt, die sich selbst vollziehenden Charakter aufweisen und im Übrigen die Anforderungen an den Regulierungsbegriff erfüllen (gesetzgeberisches Ermessen). Denn die Wahl der Regulierungsform geht über einfaches gesetzgeberisches Ermessen hinaus, wenn der Gesetzgeber an die Stelle von Verwaltungsentscheidungen und Regulierungsverfahren einen Rahmen für das Handeln Privater – z. B. Beliehener – setzt, die sich verpflichtend gesetzeskonform zu verhalten haben und Regulierungsziele erfüllen. Hier wird das Regulierungsermessen in den Gesetzgebungsprozess vorverlagert. Den Übertragungsnetzbetreibern steht das Instrument des Regulierungsermessens nicht zur Verfügung – auch nicht über § 315 Abs. 3 BGB. II. Erscheinungsformen der Regulierung – privatrechtliche Ansätze Ausgehend vom Regulierungsbegriff – staatlicher ex ante oder ex post-Eingriff in solche Preise und Angebotsmengen, die aus Marktprozessen resultieren, wobei ein Regulierungsermessen besteht – sollen im Folgenden Erscheinungsformen von Regulierungsprozessen identifiziert werden.
22 Zu Einzelheiten vgl. Kment/Wahlhäuser, EnWG, 2015, § 29 Rn. 5 ff.; Säcker/SchmidtPreuß, EnWG, Bd. 1 Hbb. 1, 3. Aufl. 2013, § 29 Rn. 8 ff. und 25 ff.; Britz/Hellermann/Hermes/Britz/Herzmann, EnWG, 3. Aufl. 2015, § 29 Rn. 2, 5 ff. 23 Aus der Rspr.: OLG Düsseldorf v. 4. 5. 2016, 423 Rn. 43 ff. – Festlegung Verlustenergie. 24 Beispiele: Umweltbundesamt für Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (§§ 79, 79a, 92 EEG 2017 und §§ 7 ff., 14 Erneuerbare-Energien-Verordnung: Herkunfts- und Regionalnachweisdurchführungsverordnung); Bundesnetzagentur für Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Erneuerbare-Energien-Ausführungsverordnung (§§ 59, 71 EEG 2017 und § 13 Erneuerbare-Energien-Verordnung). 25 Vgl. auch §§ 36c Abs. 2, 3 und 7, § 85a und § 88 Nr. 1c) EEG 2017.
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1. Erzwungene Selbstregulierung Von einer erzwungenen Selbstregulierung kann gesprochen werden, wenn der Gesetzgeber privatrechtliche Regelungen schafft, die im Kern ohne behördliche Wirtschaftsaufsicht dem Ziel verpflichtet sind, quasi marktförmige Prozesse unter den Marktbeteiligten (Wettbewerber und Marktgegenseite) zu installieren, die sich deutlich von denjenigen unterscheiden, die sich ohne einen solchen Eingriff einstellen würden. Als Beispiel sollen hier Instrumente dienen, die im Rahmen der sog. Energiewende eingesetzt werden.26 In Ausfüllung europäischer Vorgaben27 verpflichtet das deutsche Recht alle lokalen und überregionalen Netzbetreiber, Strom aus sog. privilegierten Energieträgern (erneuerbare Energien sowie Kraft-Wärme-Kopplung) vorrangig und unverzüglich in ihr Netz der allgemeinen Versorgung aufzunehmen.28 Über die erzwungene Einspeisung hat der Gesetzgeber dem Grunde nach entschieden; dabei bedient er sich in der Tradition des Stromeinspeisegesetzes stehend eines privatrechtlichen Instruments, das üblicherweise unmittelbarer Kontrahierungszwang genannt wird.29 Dessen Kennzeichen ist das Entstehen der Einspeiseverpflichtung spätestens mit Anbieten des Stroms durch den Anlagenbetreiber; einer (vertragsbezogenen) Annahmehandlung im Sinne des Zustandekommens eines Vertrages bedarf es nicht. Plastisch könnte man vom „einseitigen Vertrag“ sprechen: Es entstehen Austauschpflichten, die quasi marktförmig ablaufen, ohne auf Verhandlung und Vertragsschluss zu beruhen. Der Gesetzgeber setzt Mengen – in der neueren Terminologie: Ausbaupfade (§ 4 EEG 2017) – und Preise durch Gesetz fest, wobei die Legislative von einem weit gezogenen gesetzgeberischen Ermessen Gebrauch macht. Marktprozesse – oder besser: der Rahmen für Marktprozesse – werden hier vorgegeben und müssen von den Beteiligten nur noch nachvollzogen werden. Es handelt sich im besten Sinne um „geplante Marktprozesse“, die Marktbeziehungen entstehen lassen oder substituieren, die sich ohne den gesetzgeberischen Eingriff nicht oder anders einstellen würden. Der hier vorausgesetzte Regulierungsbegriff wird erfüllt: Das eingesetzte Instrumentarium bedient sich privatrechtlicher Mittel und dient allein dem Zweck, die ohne den Eingriff (hypothetisch) sich einstellenden Marktprozesse zu ersetzen; insofern kann man von erzwungener Selbstregulierung sprechen. Der Gesetzgeber nimmt dabei Mengen und Preise zugleich mit dem Ziel in den Griff, die konventionelle Energieerzeugung schrittweise zu verdrängen: Angesichts einer begrenzten 26 Vgl. auch Franke, in: Gundel/Lange (Hrsg.), Neuausrichtung der deutschen Energieversorgung – Zwischenbilanz der Energiewende, 2015, S. 65 ff.; Salje, REE 2012, S. 69 ff. 27 Binnenmarktrichtlinie Elektrizität (2009/72/EG); Richtlinie zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (2009/28/EG). 28 § 3 Abs. 1 KWK-G 2017 und § 11 Abs. 1 EEG 2017. 29 Zur Unterscheidung vgl. Herrmann, Anwendungsprobleme des Stromeinspeisungsgesetzes, 1996, S. 103 f.; Busche, Der Kontrahierungszwang als Institut des allgemeinen Vertragsrechts, 1999, S. 110 ff.
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Stromnachfrage läuft dieser Verdrängungsprozess so lange ab, bis die letzten konventionellen Kraftwerke vom Netz gegangen sind.30 Das Regulierungsermessen im Sinne der oben gewählten Begrifflichkeit ist auf die Ebene des Gesetzgebungsprozesses vorverlegt; eine Verwaltungsbehörde wird nicht benötigt, weil der Anlagenbetreiber einen vor den Zivilgerichten einklagbaren Anspruch auf Anschluss und Einspeisung hat. Vergleicht man das gewählte Regulierungsszenario mit dem konventionellen Instrumentarium, so wird der Unterschied deutlich: Der Anspruch auf Einspeisung von Strom aus konventionellen Energieträgern wird vom EnWG „Netzzugang“ genannt, wobei dessen Verweigerung wahlweise mit Hilfe der Zivilgerichte (§ 20 EnWG) oder aber im Wege des regulierungsbehördlichen Missbrauchsverfahrens (§§ 30, 31 EnWG) durchsetzbar ist. Letzterer Weg hat sich bei den konventionellen Stromerzeugungsanlagen in der Praxis durchgesetzt, indem die Bundesnetzagentur ersucht wird, für einen Anschluss des Netzzugangspetenten zu sorgen.31 Diese Rechtslage hat der Gesetzgeber für EEG-Anlagen umgekehrt, indem der privatrechtliche Anspruch auf Anschluss und Abnahme in den Vordergrund gerückt ist (§§ 8 und 11 EEG 2017) und die EnWG-Regelung einschließlich der Zuständigkeit der Bundesnetzagentur verdrängt. Dies zeigt, dass der Gesetzgeber offenbar ein identisches Ziel – Anschluss von Kraftwerken an Netze der allgemeinen Versorgung – mit ganz unterschiedlichen Instrumenten zu realisieren vermag: Während der allgemeine Netzzugang typischerweise von den Regulierungsbehörden erzwungen wird, steht für Strom aus privilegierten Energieträgern der rein privatrechtliche Netzzugang rechtlich und praktisch im forensischen Fokus (Stromeinspeiseverpflichtung) und verdrängt die sonst anwendbare Missbrauchsaufsicht (§§ 30, 31 EnWG). Den Vorrang des privatrechtlichen Instrumentariums (unmittelbarer Kontrahierungszwang) sichert § 2 Abs. 2 EnWG ab, indem für KWK-G und EEG (2012, 2014 und 2017) die Spezialität jener Sondergesetze und damit der alleinige Einsatz des unmittelbaren Kontrahierungszwangs als Vollzugsinstrument vorgeschrieben wird. Dies bedeutet: Die Regulierungsbehörde ist schon aus Rechtsgründen nicht in der Lage, ein Missbrauchsverfahren mit dem Ziel einzuleiten, die Einspeisung von Strom aus privilegierten Energieträgern durchzusetzen; Entsprechendes gilt für den Anschluss solcher Kraftwerke (§ 17 EnWG vs. § 8 Abs. 1 EEG 2017 bzw. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KWK-G). Zugleich hilft § 2 Abs. 2 EnWG, ein (kollisionsanfälliges) Nebeneinander der Regulierungsinstrumente zu vermeiden; mangels Zuständigkeit kann die Regulierungsbehörde gar nicht tätig werden, um privilegierten Kraftwerksbetreibern die Durch30 Richtiger, aber weniger plastisch: Bis nur noch Schattenkraftwerke existieren, die Versorgungslücken überbrücken helfen. 31 Rechtsprechung betr. Kraftwerke/andere Netzbetreiber: OLG München ZNER 2003, 259 (260) – EnBW/Stadtwerke München; BGH v. 17.11.09, RdE 2010, 223 Rn. 9 ff. – Pumpspeicherkraftwerk als Letztverbraucher; Rechtsprechung betr. Abnehmer einschl. Wechsel der Spannungsebene: BGH v. 23.6.09, RdE 2009, 336 Rn. 13 ff. – Agrarfrost; BGHZ 163, 296, 303 ff. – Mainova/Arealnetz.
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setzung des Netzzugangs zu ermöglichen. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, weil das europäische Recht einen privilegierten oder garantierten Netzzugang für solchen Strom vorschreibt, der aus erneuerbaren Energien erzeugt wird.32 Dieser strikte Netzzugang wird mit Hilfe des auf den ersten Blick schwächeren (privatrechtlichen) Instruments durchgesetzt, während für den allgemeinen Netzzugang die Waffen der Regulierungsbehörde genutzt werden können. Wählt der Gesetzgeber eine derartige Vollzugsvariante, so folgt daraus zumindest ein Gleichwertigkeitspostulat der eingesetzten Instrumente: Weil sich der Netzzugang bei privilegierten Energieträgern quasi „von selbst“ vollzieht und insofern Standardkonstellationen des Netzzugangs vorliegen, bedarf es einer Zwischenschaltung von Behörden der Wirtschaftsaufsicht gerade nicht. Insofern sind noch nicht einmal Bußgelder als Sanktion vorgesehen, vgl. § 86 Abs. 1 EEG 2017. Die weiterreichendere Rechtsfolge – privilegierter statt allgemeiner Netzzugang – wird mit Hilfe eines auf den ersten Blick schwächeren (privatrechtlichen) Instruments durchgesetzt. Dies rechtfertigt die Bezeichnung als „erzwungene Selbstregulierung“: Ohne Zwischenschaltung von Aufsichtsbehörden wird ein Marktumfeld (Elektrizitätsmärkte) angebotsseitig allmählich umgestaltet. Die Marktverhältnisse sind gespalten: Während der angebotene Strom aus konventionellen Energieträgern im Wesentlichen marktförmig, wenigstens überwiegend Wettbewerbsmaßstäben folgend, in die Netze gelangt und vertrieben wird (Börsenpreise und angelehnte Kontrakte),33 wird der Netzzugang für Strom aus privilegierten Energieträgern vom Gesetzgeber erzwungen und künstlichen „Markt“-Verhältnissen unterworfen: Obwohl dieser Strom mehr als 100 % teurer „eingekauft“ werden muss als herkömmlicher Strom, sorgt seine Existenz (gewollt) für eine Verdrängung des günstigeren Stroms.34 Die Märkte für konventionell erzeugten Strom und diejenigen für privilegierten Strom existieren nebeneinander und werden über Börse und (gemeinsamen) Aufschlag (EEG-Umlage) nur lose miteinander verbunden. Fiele der privilegierte Netzzugang weg, bräche die mit jenem Zugang künstlich geschaffene Nachfrage nach solchem Strom vollständig in sich zusammen.35 Offenbar bildet das privatrechtliche Instrument des unmittelbaren Kontrahierungszwangs ein schlagkräftiges Regulierungsinstitut, um einen Gesamtmarkt mit vielen Teilmärkten vollständig umzugestalten.36 32
Vgl. Art. 16 Abs. 2 der RL 2009/28/EG; für KWK-Strom: Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der RL 2009/72/EG. 33 Zur Kritik des Stromeinkaufs durch Stromhändler mit einem Vorlauf von ein bis zu zwei Jahren vgl. Salje, in: Marburger (Hrsg.), Energieversorgung und Umweltschutz, 25. Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht 2009, 2010, S. 47 (64 ff., 68 These 6). 34 Vereinfachung: Eingekauft wird zu Börsenpreisen; die höheren Erzeugungskosten werden durch die EEG-Umlage „gegenfinanziert“, die auf jeglichen an Letztverbraucher gelieferten Strom erhoben wird, so dass der Kostennachteil durch gesetzgeberische Maßnahmen vollständig beseitigt wird. 35 Zur Übertragbarkeit dieses Fördermodells auf andere Märkte vgl. Salje, RdE 2005, 60 ff. 36 Zu weiteren potentiellen Einsatzfeldern des Kontrahierungszwangs vgl. auch Salje, RdE 2005, 60 ff.
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2. Regulierung am Maßstab der Billigkeit Die Preismissbrauchskontrolle ist traditionell den Kartellbehörden überantwortet.37 Für Märkte der leitungsgebundenen Energieversorgung haben sondergesetzliche Vorgaben Tradition;38 heute übernimmt § 29 GWB diese Maßstäbe setzende Aufgabe. Stets hat sich diese Aufsicht des klassischen Instruments der Regulierung durch Verwaltungsakt bedient, wobei Verbotsverfügungen erforderlich waren. Weiterhin existiert eine Vorfeldaufsicht der Kartellbehörde, die sich meist des Vergleichsmarktkonzepts bedient und auch Gasversorger dazu gezwungen hat, ihre Verkaufspreise zu senken;39 zu § 29 GWB steht eine obergerichtliche oder gar höchstrichterliche Entscheidung weiterhin aus. Mit Wegfall der Tarifgenehmigung im Jahre 2005 ist eine konkurrierende (ex ante-)Regulierung beseitigt worden. Seit der Wasserentgelt-Entscheidung des BGH vom 26. November 1975 haben jedoch parallel zur kartellbehördlichen Preismissbrauchsaufsicht die Zivilgerichte die Rolle übernommen, auf die Preisentwicklung bei leitungsgebundener Versorgung mit Strom und Gas über das „billige Ermessen“ dämpfend Einfluss zu nehmen.40 Instrument dieser Kontrolle ist die Begrenzung des Ermessenspielraums des Versorgers, wobei nicht stets auf § 315 Abs. 3 BGB zurückgegriffen wurde. Indem gerade im letzten Jahrzehnt im Zusammenhang mit Preisgleitklauseln in Energielieferverträgen der Ermessensspielraum der Versorger zunehmend begrenzt wurde, haben die Zivilgerichte ein fast eigenständig zu nennendes Kontrollverfahren entwickelt.41 Dieses Verfahren wird mit dem Widerspruch des Kunden gegen eine Rechnung oder Preiserhöhungsankündigung seines Energielieferanten eingeleitet; weil dieser Widerspruch die Fälligkeit des Erhöhungsbetrages beseitigt, muss der Versorger aktiv werden und – außerhalb der Grundversorgung – entweder den Liefervertrag kündigen oder den Erhöhungsbetrag beim örtlich zuständigen Gericht einklagen. Aufgreifkriterium dieser Billigkeitskontrolle durch Zivilgerichte ist jedoch stets das Bestehen einer zumindest monopolähnlichen Stellung des Versorgers gewesen.42 Mit der zunehmenden Liberalisierung der Energiemärkte unter Entflechtung von Netzbetrieb und Lieferverhältnissen (vgl. §§ 6 ff. EnWG) besteht allerdings derzeit allenfalls noch auf Teilmärkten – Heizstrom sowie evtl. Grundversorgung – ein Ab37 Aus der Rechtsprechung: BGH v. 16.12.76, NJW 1977, 675 = WuW/E BGH 1445 (1454) – Valium; speziell Energiemärkte betreffend: BGH v. 28. 6. 2005, WuW/E DE-R 1513 (1516 f.) – Stadtwerke Mainz. 38 §§ 103, 104 GWB a. F. sowie § 103 Abs. 5 GWB a. F., vgl. Salje, in: Bartsch/Röhling/ Salje/Scholz (Hrsg.), Stromwirtschaft, 2. Aufl. 2008, Kap. 64 Rn. 4 ff. 39 Nachweise bei Koleva, Die Preismissbrauchskontrolle nach § 29 GWB, 2013, insbesondere S. 231 ff.; Bechtold/Bosch/Bechtold, GWB, 7. Aufl. 2015, § 29 Rn. 1 und 13 ff. 40 BGH NJW-RR 1992, 183 (184) – Strombezugsgenossenschaft; BGH NJW 1976, 709 (709 f.) – Großabnehmer-Wasserpreis; vgl. auch BGH v. 28.9.82, WuW/E BGH 1195 (1197). 41 Überblick zur Rechtsprechung bei Markert, EnWZ 2016, 195 ff.; Lange, RdE 2015, 105 ff. 42 Vgl. Salje, ET 2005, 278 (280).
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hängigkeitsverhältnis des Kunden von seinem EVU. Dies hat zur „Vorverlagerung“ der Billigkeitskontrolle auf die Kontrolle derjenigen Klauseln in Sonderverträgen geführt, die eine Preisanpassung ermöglichen sollten. Dieses scharfe Schwert hat einzelnen Lieferanten Verluste von bis zu 100 Mio. E binnen mittlerer Vertragslaufzeiten eingebracht und zudem die früher als Leitbild herangezogene Grundregelung dieser Problematik in den früheren Verordnungen zu den Allgemeinen Versorgungsbedingungen zu Fall gebracht. Es entstand die aus Sicht aller Beteiligten wenig wünschenswerte Situation, dass der Verordnungsgeber einer europäischem Recht widersprechenden Preiserhöhungspraxis der Energieversorger43 erst 2014 entgegen getreten ist. Wer sich als Energielieferant an der Verordnung zu den Allgemeinen Versorgungsbedingungen orientierte, die immerhin fast 50 Jahre Bestandteil des geltenden Rechts gewesen war und mehr als 20 Jahre europäischem Recht44 widersprach, und seine jeweiligen Preiserhöhungsverlangen im Einklang mit der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung stets hervorgehobenen Leitbildfunktion der Verordnungsregelung formulierte, hatte Pech gehabt und musste die eintretenden Verluste hinnehmen, die aus der Nichtigkeit darauf gestützter Preiserhöhungen resultierten. Wenn ein Verordnungsgeber, der Regelungen von 1978 einfach unverändert fortschreibt (Übernahme als § 5 Abs. 2 StromGVV a. F.) und nicht auf die Änderungen des europäischen Rechts reagiert, muss dies wohl als wenig verbraucherfreundliches Politikversagen bezeichnet werden, das zugleich ein ordnungsgemäßes Unternehmensverhalten der Versorger verhindert hat.45 Auch wenn die Billigkeitskontrolle von Strompreisen angesichts des zunehmenden Wegfalls ihrer angeblichen Voraussetzungen – Monopolpreischarakter – zunehmend an Bedeutung verloren hat, existiert dieses Instrument weiterhin. Sollte § 29 GWB, der unter ähnlichen Aufgreifkriterien steht, als wenig geeignet erscheinen, könnten die Zivilgerichte die Billigkeitskontrolle unter Hinnahme ihrer schwächeren Kriterien reinstrumentalisieren. Deshalb soll sie als potentielles privatrechtliches Regulierungsinstrument nicht unerwähnt bleiben. Es findet mit der Überprüfung am Maßstab des § 315 Abs. 3 BGB und im Sinne der obigen Definition des Regulierungsbegriffs46 ein staatlicher Eingriff in Märkte statt (Preisregulierung); denn auch die Judikative ist Teil der staatlichen Gewalt. Die43 EuGH v. 21. 3. 2013, ZNER 2013, 147 Rn. 40 ff., 55 – missbräuchliche Preiserhöhungsklausel im Gasversorgungsvertrag. 44 Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen v. 5. 4. 1993 (93/13/ EWG). 45 Die Neuregelung in § 5 Abs. 2 Satz 2 StromGVV lautet in (verspäteter) Umsetzung der Missbräuchliche Klauseln-Richtlinie (1993/13/EWG) nunmehr: „Der Grundversorger ist verpflichtet, zu den beabsichtigten Änderungen zeitgleich mit der öffentlichen Bekanntgabe eine briefliche Mitteilung an den Kunden zu versenden und die Änderungen auf seiner Internetseite zu veröffentlichen; hierbei hat er den Umfang, den Anlass und die Voraussetzungen der Änderung sowie den Hinweis auf die Rechte des Kunden nach Absatz 3 und die Angaben nach § 2 Absatz 3 Satz 1 Nummer 5 und Satz 3 in übersichtlicher Form anzugeben.“ 46 Oben unter I. a. E.
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ser Eingriff erfolgt ex post durch Urteil. Am Bestehen von Regulierungsermessen kann kein Zweifel bestehen: Bereits der vom Gesetzgeber in § 315 Abs. 3 BGB gewählte Maßstab der Billigkeit enthält eine Bandbreite von rechtmäßigen Entscheidungen, die diesem Maßstab genügen dürften. Ohne den Eingriff würden sich die Preisbildungsprozesse auf leitungsgebundenen Energiemärkten anders – vermutlich weniger verbraucherfreundlich – entwickeln. Bereits der Präventionseffekt – mehrjährige Unklarheit über die Billigkeit des geforderten Preises, evtl. massenweise Widersprüche durch Letztverbraucher mit Unterstützung durch Verbände, daraus folgend Wegfall der Fälligkeit der Preisforderung – dürfte Versorger zukünftig davon abhalten, sich allzu weit von einem als billig und angemessen empfundenen Energieentgelt zu entfernen. Es handelt sich in der Tat um ein äußerst scharfes Schwert, dessen Rechtsfolgen den Versorger weit stärker (und früher) zu treffen vermögen als die ex post-Missbrauchskontrolle der Kartellbehörden. Im Sinne des hier verwendeten Regulierungsbegriffs könnte zweifelhaft sein, ob es sich um ein Instrument des Privatrechts handelt. Die gerichtliche Entscheidung durch Urteil ist zweifellos Bestandteil des öffentlichen Rechts; weil es sich jedoch beim Maßstab „Billigkeit“ um einen dem römischen Recht entlehnten klassischen Begriff des Privatrechts handelt, der wie „Treu und Glauben“ dem Denken in subjektiv privaten Rechten verpflichtet ist, kann letztlich kein Zweifel bestehen, dass es sich bei § 315 Abs. 3 BGB um eine Regulierung mit den Mitteln des Privatrechts handelt. Sollten die Zivilgerichte ihre Entscheidungspraxis zu § 315 Abs. 3 BGB unter veränderten Voraussetzungen fortsetzen, indem sie etwa an eine Veränderung der tatsächlichen Marktverhältnisse während des laufenden Vertrages ohne Kündigungsmöglichkeit anknüpfen,47 wird eine potentielle Kollisionslage zur kartellbehördlichen Missbrauchsaufsicht unausweichlich sein. 3. Transparenzkontrolle (§ 307 Abs. 1 BGB) Mit jeder Regulierung ist – unabhängig von der Herkunft des eingesetzten (öffentlich- oder privatrechtlichen) Instrumentariums – regelmäßig ein Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Vertragsfreiheit verbunden; ob dies grundsätzlich beklagenswert ist,48 kann hier dahinstehen. Denn ohne die Situation eines Marktversagens gäbe es kein Eingriffserfordernis und deshalb auch keine Regulierung. Während der oben beschriebene Kontrahierungszwang schon die Vertragsabschlussfreiheit partiell oder sektoral außer Kraft setzt, handelt es sich bei dem dem Verbraucher- und AGB-Recht entlehnten Instrument der Transparenzkontrolle um einen Eingriff in die Vertragsinhaltsfreiheit. Der Transparenzgrundsatz wurde von der Rechtsprechung entwickelt und ausgeformt49 und in § 307 Abs. 2 BGB kodifiziert, als die 47 Beispiel: Vertrag mit Preisgarantie für zwei Jahre, wobei nach Vertragsschluss die Einkaufspreise des Händlers oder die EEG-Umlage sinken. 48 So Recknagel (Fn. 8), S. 1 (2 f.,11). 49 Vgl. BGH v. 1.2.96, NJW 1996, 2374 – Vertragswidrige Verlegerbeilage.
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Richtlinie betreffend missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen50 eine gesetzliche Umsetzung erforderte. Die persönliche und sachliche Beschränkung des Anwendungsbereichs dieses privatrechtlichen Grundsatzes auf Verbraucher und vom Unternehmer gestellte und mehrfach zu verwendende Vertragsbedingungen scheint sich zunehmend zu Gunsten einer breiteren Anwendung aufzulösen. Dies lässt sich am Beispiel des § 7 Abs. 2 EEG 2017 nachweisen. Hier dient das Transparenzgebot allumfassend – auch zum Schutz von Unternehmern und unabhängig von der Differenzierung zwischen Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Individualklauseln – dem Schutz der Betreiber von Anlagen im Sinne des EEG, die mit Netzbetreibern vertragliche Beziehungen eingehen wollen, um ihre Anlagen an das Netz anzuschließen und den Strom einspeisen zu können. Zwar kann der Netzbetreiber weiterhin eine vertragliche Regelung der Anschluss- und Einspeisebedingungen nicht erzwingen (§ 7 Abs. 1 EEG 2017); kommt es jedoch dessen ungeachtet zum Vertragsschluss, sind seit dem 1. Januar 2017 Abweichungen von den einschlägigen gesetzlichen Vorgaben zulässig, wenn sie den Bedingungen des § 7 Abs. 2 EEG 2017 und insbesondere dem Transparenzgebot genügen.51 Ein anderes und viel besprochenes Beispiel bildet die höchstrichterliche Rechtsprechung52 zu den Preisanpassungsklauseln in Energielieferverträgen. Während der BGH versucht hat, mit dem Instrument der ergänzenden Vertragsauslegung die Auslegungs- und Deutungshoheit in Bezug auf Preisänderungen bei Dauerschuldverhältnissen zu wahren, um die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen nicht anwenden zu müssen,53 beharrt der EuGH mit einer jüngeren Entscheidung auf dem Primat des europäischen Verbraucherrechts:54 Werde ein Vertrag von der Klauselrichtlinie erfasst, dann müsse die Nichtigkeit der betreffenden Vertragsklausel konsequent dem Verbraucher alle Vorteile belassen, die diese Rechtsfolge auch in zeitlicher Hinsicht nach sich zieht; nur das europäische Gericht dürfe über zeitliche Beschränkungen des aus nichtigen Klauseln resultierenden Rückforderungsrechts entscheiden.55 In concreto betrifft dies die bekannte „Drei-Jahres-Zeitraum“-Rechtsprechung, mit der sich der BGH um eine Schadensbegrenzung zu Gunsten der Energieversorger bemüht hatte. Nach dieser Rechtsprechung bleiben die Auswirkungen solcher Preiserhöhungen unberücksichtigt und unbeanstandet, die früher als drei Jahre vor dem 50
Art. 6 der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen v. 5. 4. 1993 (93/13/EWG), ABl. Nr. L 95, S. 29. 51 Zu Einzelheiten vgl. Pippke/Weißenborn, REE 2017, 8 (9); Salje, EEG 2017, 8. Aufl. 2017, § 7 Rn. 28 ff. 52 Aus jüngerer Zeit: BGH v. 6. 4. 2016, NJW-RR 2016, 1190 Rn. 19 ff. – Gaspreis in der Grundversorgung; kritisch OLG Bremen v. 19. 5. 2017, ZNER 2017, 280 Rn. 15 ff. – Grundversorgungs-Preiserhöhung (Vorlage zum EuGH). 53 BGH v. 5. 10. 2016, ZIP 2017, 578 LS 2 und 3 – Gaspreisanpassung. 54 EuGH v. 21. 12. 2016, EnWZ 2017, 171 Rn. 61 ff., 70 ff. – keine zeitliche Beschränkung der Rückforderung durch Verbraucher – mit Anm. Markert. 55 EuGH v. 21. 12. 2016, EnWZ 2017, 171 Rn. 70.
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Widerspruch gegen die Preiserhöhung erfolgt waren; diese Rechtsprechung dürfte einigen Versorgern die Weiterexistenz ermöglicht haben. Bei zukünftigen Entscheidungen wird der BGH jedoch die EuGH-Rechtsprechung berücksichtigen müssen, zumal die Vorlage eines vergleichbaren Rechtsstreits beim EuGH durch ein Oberlandesgericht zu erwarten ist. Der tapfere Versuch des BGH, angesichts eines offensichtlichen Versagens des Verordnungsgebers, der eine Anpassung der AVBEltV/GasV bzw. der GVV Strom/Gas an die Klauselrichtlinie versäumt hatte, den entstandenen Schaden zwischen Versorgern und belieferten Letztverbrauchern zu „teilen“, ist an sich anerkennenswert, musste sich jedoch auf ein gerüttelt Maß an richterlicher Gestaltungsfreiheit stützen. Da weder die auf die GVV vertrauenden Lieferanten noch die Letztverbraucher für die Misere mitverantwortlich zu machen sind, wird dieser Versuch einer höchstrichterlichen Schadensbegrenzung sicherlich in die Rechtsgeschichte eingehen. Die Transparenzkontrolle gehört zum typischen privatrechtlichen Instrumentarium der Regulierung: Nicht eine Verwaltungsbehörde, sondern das Amts- oder Landgericht greift hoheitlich und auf Wunsch einer Vertragspartei in die Vertragsinhaltsfreiheit ein. Dabei dienen lediglich „Leitbilder und Grundgedanken“ vergleichbarer gesetzlicher Regelungen als Vorbild und materieller Maßstab zur Bewertung, was dem Gericht einen substanziellen Bewertungsspielraum eröffnet, der an die Stelle des gewohnten verwaltungsbehördlichen Regulierungsermessens tritt. Es handelt sich um (dezentrale) Fremdregulierung, die zwar den Einzelfall in den Vordergrund zu stellen vermag, jedoch die Gefahr einer Zersplitterung der Rechtslage in sich birgt, zumal nur wenige Entscheidungen der unterinstanzlichen Gerichte vom BGH überprüft werden dürften. Hält man sich vor Augen, dass es ohne die Verwirklichung des Transparenzgrundsatzes die bekannte „Bankgebühren“-Rechtsprechung des BGH56 nicht gäbe, dann wird deutlich, dass neben die Durchsetzung des Rechts des unlauteren Wettbewerbs durch Unternehmer- und Verbraucherverbände ein zweiter Bereich getreten ist, wo an die Stelle einer das Recht wahrenden Aufsichtsbehörde eine „Rechtsdurchsetzung durch Verbände“ getreten ist. Ein Effizienzvergleich „Verwaltungsbehörde vs. Verbände“ im Hinblick auf Kosten und flächendeckende Rechtsdurchsetzung steht noch aus; verglichen mit den zahlreichen Schlichtungsstellen für Verbraucherstreitigkeiten spricht aber viel für die Verbändelösung, wenn es gelingt, die Finanzierung der Verbände durch die beklagten (tatsächlichen oder vermeintlichen) Rechtsbrecher im Falle deren Unterliegens zu sichern. Mit dem Transparenzgrundsatz und dessen Ausformung durch die Rechtsprechung57 steht jedenfalls ein geeigneter Bewertungsmaßstab für die Regulierung zur Verfügung.
56 57
Zuletzt: BGH v. 25. 7. 2017, ZIP 2017, 1704 Rn. 20 ff. – SMS-Gebühr für Tannummer. Vgl. die Nachweise bei Salje, EEG 2017, § 7 Rn. 28 ff. Fn. 33 – 45
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4. Extraforensische Regulierungsinstitution Wenn man Entscheidungen der Judikative als Regulierung anerkennt, wird man auch viele Mediationsformen und vergleichbare Arten der Streitentscheidung außerhalb der staatlichen Gerichte als „Regulierung“ anerkennen müssen. Entscheidet ein dazu berufenes staatliches Gericht in einer Regulierungssache – angerufen durch von der Regulierungsverfügung Betroffene –, dann sind diese Entscheidungsergebnisse zweifellos Bestandteil staatlicher Fremdregulierung unabhängig davon, ob die Verfügung der Regulierungsbehörde bestätigt oder aufgehoben wird. Denn auch die Inanspruchnahme von Rechtsschutz gegen Regulierungsentscheidungen ist Teil des Regulierungsprozesses und folgt den gesetzlichen Vorgaben. Dann aber liegt es nahe, alle eine staatliche Regulierung vertretenden oder ersetzenden Streitentscheidungen mit Befriedungsfunktion58 ebenfalls dem Regulierungsbegriff zuzuschlagen. Ist die Bundesnetzagentur bspw. befugt, auf erneuerbare Energien betreffenden Rechtsgebieten Regelungen durch Festlegung zu treffen (vgl. den Kanon des § 85 Abs. 2 EEG 2017), dann sind alle bis zum Ergehen einer solchen Festlegung stattfindenden „settlements“ ebenfalls Bestandteil von Regulierungsprozessen; denn eine (meist staatlich angeregte) Selbstregulierung unterscheidet sich nicht grundsätzlich von jeder Form der Fremdregulierung. Dafür spricht die Entlastung staatlicher Behörden durch Selbstregulierungsprozesse als dem Sachgebiet, das jedenfalls im weitesten Sinne als Regulierung zu charakterisieren ist. Dabei streitet eine Vermutung für Regulierung, wenn eine Zuständigkeit der Bundesnetzagentur in EEG-Sachen besteht (z. B. §§ 85 oder 86 EEG 2017). Soweit eine solche Zuständigkeit nicht besteht, insbesondere dann, wenn die Streitentscheidung a priori durch Zivilgerichte vorgesehen ist (Anschluss, Abnahme und Förderumfang in Bezug auf Strom aus erneuerbaren Energien), ist es der vorstehend beschriebene „Gesetzesvollzug durch Selbstregulierung“, der auf der Basis einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers einer „Regulierung durch Privatrecht“ wie bspw. beim Kontrahierungszwang zuzurechnen ist. Mit der durch § 81 EEG 2017 institutionalisierten Clearingstelle EEG hat sich der Gesetzgeber entschlossen, einer privaten Einrichtung die Befugnis zur Mediation im Bereich der Stromversorgung aus erneuerbaren Energien zu übertragen. Wegen der Reichweite dieser Befugnisse und deren (erfolgreicher) Ausübung durch die Clearingstelle EEG wird auf die einschlägigen Erläuterungen verwiesen.59 Aufgabe dieser Stelle ist es schon ausweislich ihrer Bezeichnung, abstrakte Rechtsfragen und konkrete Streitigkeiten in EEG-Sachen zu klären, soweit ein solcher Klärungswunsch durch Anlagenbetreiber, Netzbetreiber, Direktvermarkter oder Messstellenbetreiber an die Clearingstelle EEG herangetragen wird. Dabei beschränken sich die 58 Allgemein zu den Regulierungsfunktionen des Privatrechts Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, S. 98 ff. (BGB und Sonderprivatrecht). 59 Bauer, Clearingstelle EEG, 2012, insbesondere S. 65 ff. und S. 108 ff.; Frenz/Müggenborg/ Cosack/Ekardt/Tüngler, EEG 2014, 4. Aufl. 2015, § 81 Rn. 18 ff.; Salje, EEG 2017, § 81 Rn. 4 ff.
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Zuständigkeiten der Clearingstelle EEG wohlweislich auf Rechtsfragen, die außerhalb der Zuständigkeit der Bundesnetzagentur auftreten können; eine „Konkurrenzlage“ besteht deshalb im Verhältnis zu den Zivilgerichten und (privaten) Schiedsgerichten, nicht jedoch zur Bundesnetzagentur und der durch OLG Düsseldorf und BGH ausgeübten Kontrollfunktion. Mit herkömmlichen Formen der Mediation teilt die Clearingstelle EEG den Klärungsanlass (Parteiersuchen, vgl. § 5 Abs. 2 der VerfahrensO der Clearingstelle EEG) und manche Form der Verfahrensdurchführung.60 Der Unterschied zur herkömmlichen Mediation iwS besteht aber darin, dass auch Hinweise zu abstrakten Rechtsfragen erteilt werden.61 Dass eine solche Institution im Regelfall besser in der Lage sein wird, gesetzgeberische Entscheidungen zu Ende zu denken als ein erstinstanzliches Gericht, folgt bereits aus der extremen Spezialisierung und der guten Ausstattung durch das zuständige Ministerium.62 Vergleicht man die Rechtsauffassung des BGH zum Anlagenbegriff des EEG in Sachen „Solarkraftwerk“63 mit derjenigen der Clearingstelle EEG64, so bedurfte es sogar einer gesetzgeberischen Entscheidung in § 3 Nr. 1 EEG 2017, um die (offenbar EEG-systemwidrige) Entscheidung des BGH beiseite zu räumen. Bei allen guten Gründen, die für einen „natürlichen“ und in Bezug auf Biogas- und PV-Anlagen einheitlichen Anlagenbegriff sprechen mögen (BGH), so zeigt die Entscheidung doch, dass ein weniger spezialisiertes hohes Gericht nicht stets in der Lage sein kann, den systematischen Zusammenhängen eines Subventionsgesetzes in dessen ständiger Weiterentwicklung mit einer Verlässlichkeit nachzuspüren, die den Gesetzgeber zu überzeugen vermag. Kerngeschäft der Clearingstelle EEG ist die Begutachtung umstrittener Begriffe des EEG mit den Argumentationsformen des Privatrechts. Weil der Gesetzgeber wie in Steuersachen bemüht ist, das Gesetz ständig weiter zu entwickeln und Fehler früherer Fassungen zu beseitigen, teilt die Entscheidungspraxis der Clearingstelle EEG das Schicksal der Gerichte, über Rechtsfragen aus Gesetzesfassungen entscheiden zu müssen, die den aktuellen Gesetzesstand nicht stets widerspiegeln. Zudem zeigen die Sachverhalte betr. die Kapazitätszusammenfassung bei PV-Anlagen, das die Vielfalt des Anlagenbaus notwendig zu einer sehr differenzierten Entscheidungspraxis führen muss (vgl. § 24 EEG 2017). Ob (personeller und sachlicher) Aufwand einer die Gerichte entlastenden Institution gerechtfertigt ist, was vermutlich nicht zu Einsparungen bei den Haushalten der Justizministerien der Länder und des Bundes führt und deshalb zusätzlich anfällt, 60
Vgl. etwa die Schlichtungsstelle Energie: § 111b EnWG. Vgl. § 23 Abs. 2 VerfO Clearingstelle EEG. 62 Jahreszuschussbedarf von bis zu 1,7 Mio. E jährlich bis 2017, vgl. Bundeshaushaltsplan 2013 Position 546 21 – 629: bis zu 8,5 Mio. E als Verpflichtungsermächtigung für die Clearingstelle EEG (Jahre 2013 – 2017). 63 BGH v. 4. 11. 2015, RdE 2016, 121 Rn. 20 ff. – Solarkraftwerk. 64 Vgl. Clearingstelle EEG, Hinweis 21/2012 v. 31. 1. 2013 Rn. 11 – Versetzen von Solarmodulen. 61
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wird man nicht leicht beantworten können. Eine „potentielle Dopplung“ von Entscheidungsträgern ist aber im Rechtsleben nicht ungewöhnlich: So steht im EnWG und auch im GWB der Zivilrechtsweg häufig alternativ neben der möglichen Missbrauchsentscheidung der Regulierungsbehörde (§§ 30, 31 EnWG), und private Schiedsgerichte substituieren im Gesellschaftsrecht und im kaufmännischen Rechtsverkehr die Zivilgerichte. Ebenso wie die Clearingstelle EEG gut begründete und überzeugende Entscheidungen des BGH in der Art von Leitplanken benötigt, so wird die Zivilgerichtsbarkeit durch eine Institution unterstützt, die alle Informationen zum EEG sammelt, zugänglich macht, aufbereitet und auf Ersuchen auch im Einzelfall anwendet. Viele Parteien werden auf einen Rechtsstreit verzichten, wenn die „Rechtsauskunft“ der Clearingstelle EEG sie zu überzeugen vermag. Man könnte von „sanfter Selbstregulierung“ sprechen. III. Zur Begründung einer Methodenpluralität der Regulierung Schon immer hat es in wirtschaftsbezogenen Rechtsanwendungsfeldern konkurrierende rechtliche „Fesselungen“ gegeben, die sich einerseits öffentlich-rechtlicher, andererseits privatrechtlicher Instrumente bedient haben.65 Bereits das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957 hatte eine solche Methodenpluralität quasi zum Prinzip erhoben, indem es neben die Aufsicht der Kartellbehörden zahlreiche privatrechtliche Instrumente offenbar mit dem Ziel stellte, eine ansonsten möglicherweise überforderte „klassische“ Wirtschaftsaufsicht sinnvoll zu ergänzen. Zu nennen sind insbesondere (Beseitigungs- und) Unterlassungs- sowie Schadensersatzansprüche, darüber hinaus die Instrumentalisierung von § 134 BGB (Vertragsnichtigkeit bei Verstoß gegen gesetzliche Verbote).66 Später traten dann „Mischinstrumente“ wie die Vorteilsabschöpfung hinzu. Gerade der Vergleich mit dem UWG zeigt, dass eine klassische Regulierung mit den Mitteln des öffentlichen Rechts durchaus rein privatrechtlich konzipiert funktionieren kann, wenn man Verbänden diese Aufgabe überträgt. Man könnte insofern von „substituierender Selbstregulierung“ sprechen, während das GWB durch eine additive Selbstregulierung mitgeprägt wird. Konkurrierende Aufsichtsformen können auch innerhalb ein- und desselben Rechtsbereichs auftreten, indem etwa unterschiedliche Behörden identische Sachverhalte zu beurteilen haben. Für den Bereich der Energiewirtschaft ist über viele Jahre über die Konkurrenz von Strompreisaufsicht einerseits und kartellbehördlicher Preisaufsicht andererseits bei Haushaltskunden diskutiert worden,67 seit mit der sog. Stromtarifentscheidung des BGH68 die Möglichkeit aufgezeigt wurde, dass von der 65
Vgl. Lukes, BB 1980, 1593 ff. Damals bejaht für das Kartellverbot, aber verneint für vertragliche Konstellationen, die der Missbrauchsaufsicht unterlagen; erst der Gesetzgeber der 5. GWB-Novelle ordnete den Verbotscharakter im Hinblick auf Tatbestände der Missbrauchsaufsicht explizit an. 67 Vgl. etwa Lukes, in: Merz/Schluep (Hrsg.), Festgabe Max Kummer, 1980, S. 401 ff.; Lukes, BB 1980, 1593 ff. Aus neuerer Zeit: Salje, ET 2005, 278 ff. 68 BGHZ 59, 42, 49 ff. 66
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Energieaufsicht genehmigte Tarife von der Kartellbehörde als missbräuchlich beurteilt werden konnten. Das geltende Recht versucht nach ähnlichen Maßstäben und über § 111 EnWG, für Netzentgelte die Regelungskonkurrenz zu Gunsten des Europäischen Wettbewerbsrechts aufzulösen, so dass regulierte Netzentgelte durchaus weiter überprüfbar sind.69 Die Motive des Gesetzgebers, einerseits konkurrierende Formen der Regulierung in einem identischen Aufsichtsbereich miteinander zu kombinieren (EnWG), andererseits ähnliche Regulierungsfelder (UWG vs. GWB) mit unterschiedlichen Kontrollinstrumentarien auszustatten, sind nicht einfach zu enträtseln. Beim GWB mag es im Jahre 1956 die Sorge gewesen sein, dass eine Bundesbehörde trotz Unterstützung durch die Länderbehörden schon von deren personeller Ausstattung her nicht in der Lage sein würde, das gesamte Wirtschaftsleben auf Kartellverstöße und missbräuchliches Handeln hin flächendeckend zu kontrollieren. Zudem unterschied man (theoretisch klar) zwischen dem Schutz der „Institution Wettbewerb“ und den dem Individualschutz der Marktteilnehmer dienenden Verfahrensvorschriften; insbesondere zwecks Regulierung des öffentlichen Guts „freier Wettbewerb“ waren die Kartellbehörden berufen.70 Demgegenüber „startete“ des EEG 2000 samt seinem Vorläufer, dem Stromeinspeisungsgesetz, rein privatrechtlich; dies mag den EuGH im Jahre 2001 veranlasst haben, das Vorliegen eines staatlichen Eingriffs in den freien Warenverkehr sowie in die Freiheit des Wettbewerbs (Beihilfeverbot) zu verneinen.71 Mit der Begründung von Aufsichtsbefugnissen des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (2003: Entlastung stromintensiver Unternehmen) sowie der Bundesnetzagentur (2006: Kontrolle des Doppelvermarktungsverbots und des Belastungsausgleichs) hat der Gesetzgeber einen Paradigmenwechsel vollzogen, indem er aus der „Unschuld des Selbstvollzugs“ in die „Verstrickung von Aufsichtsbehörden“ wechselte. Dies ist in Luxemburg nicht unbemerkt geblieben.72 Auch die Selbststeuerung des Netzausbaus durch die Netzbetreiber hat der Bundesgesetzgeber mit den Reformgesetzen von 2011 – 2013 aufgegeben. Ursprünglich hatte jeder Anlagenbetreiber im Sinne von § 3 Nr. 1 EEG 2017 einen (zivilrechtlichen) Anspruch auf Netzausbau „im Gleichschritt“ mit der Anlagenerrichtung, um evtl. Netzengpässe bei der Aufnahme von Strom aus erneuerbaren Energien zu beseitigen oder gar nicht erst auftreten zu lassen. Dies galt unabhängig vom eingesetzten Primärenergieträger. Weil diese Selbststeuerung nicht nur im Hinblick auf 69 Vgl. BGH v. 15. 5. 2012, NJW 2012, 3092 Rn. 20 ff. – Überprüfung des nach § 23a EnWG genehmigten Stromnetzentgelts. 70 Vgl. die allgemeine Begründung zum ersten Entwurfs zum GWB v. 22. 1. 1955: BT-DrS II/1158, S. 26 und 29. Zu den GWB-Zwecken vgl. auch Lettl, Kartellrecht, 3. Aufl. 2013, § 7 Rn. 5 (S. 220). 71 EuGH v. 13. 3. 2001, RdE 2001, 137 Rn. 54 ff. und Rn. 68 ff. – PreußenElektra. 72 EuG (3. Kammer) v. 10. 5. 2016, ZNER 2016, 221 = DVBl. 2016, 841 m. Anm. Frenz (847 f.) = EnWZ 2016, 409 = IR 2016, 155 – EEG 2012 als Beihilfe.
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die Nutzung der Offshore-Windenergie als unzureichend empfunden wurde, wurde sie durch eine zentral gesteuerte Planung mit der Bundesnetzagentur als Schaltstelle ersetzt, wobei aber weiterhin die Übertragungsnetzbetreiber in die Pflicht zur Grobund späteren Feinplanung genommen werden; ob deren Ausbauvorschläge (§§ 12a, 12b und §§ 17a ff. EnWG) trotz gesetzlicher Manifestation (EnLAG und BBedarfsPlanG) sowie Planbestätigung durch die Bundesnetzagentur (§ 12c Abs. 4 Satz 1 EnWG) später und vor Ort – bei den Anliegern der Leitungen und Kabel, den Gemeinden, den Planfeststellungsbehörden und schließlich beim Bundesverwaltungsgericht – durchgesetzt werden können, müssen die vielfältig zu sammelnden Erfahrungen des nächsten Jahrzehnts noch erweisen. Zu Recht machen Wagner und Bsaisou73 auf eine Besonderheit des Systems positiver und negativer Anreize für Übertragungsnetzbetreiber im Bereich der Anbindung von Windenergieanlagen auf See aufmerksam: Der Selbstbehalt von 10 % bei Vermögensschäden aus verzögerter Netzanbindung solcher Anlagen – 90 % solcher Schäden werden über die OffshoreUmlage mit den Netzentgelten auf alle Stromverbraucher überwälzt – darf von den Übertragungsnetzbetreibern versichert und nach § 17 h EnWG ebenfalls auf die Letztverbraucher überwälzt werden, so dass die Anreizwirkung des Haftungsselbstbehalts (Zweck: pünktliche Verwirklichung der Anbindung) letztlich ins Leere läuft. Das Beispiel zeigt, dass alle auf ein identisches Verhalten gerichteten Regulierungsinstrumente – hier Haftung und klassische Regulierung – in ihrem Zusammenwirken kritisch beobachtet werden müssen, um deren Effizienz zu gewährleisten. Ganz allgemein kann man wohl drei gesetzgeberische Motive identifizieren, die quasi naturgegeben zu einem steten Anwachsen staatlicher Regulierung – unter Zurückdrängung von privatrechtsgesteuerter Selbstregulierung – führen: Erstens ist sich der Gesetzgeber seiner Unvollkommenheit bewusst und weiß aus langer und von den Parlamentariern verinnerlichter Erfahrung, dass Gesetzeslücken unvermeidbar sind. Besonders Subventions- und Steuergesetze unterliegen ständigen Nachbesserungen. Weil Behörden schneller als die Gerichte in der Lage sind, Fehlentwicklungen entgegen zu steuern, ist die Erweiterung von Ermächtigungsgrundlagen für regulierende staatliche Eingriffe – z. B. durch Festlegung und Verordnungsermächtigung – naheliegend. Die Ergänzung eines bis dahin rein privatrechtlich ausgerichteten Gesetzes ist im Jahre 2006 für das EEG wie folgt begründet worden:74 „Das EEG wird grundsätzlich nicht von staatlichen Stellen vollzogen, sondern regelt zivilrechtlich die Rechtsbeziehung von Privatpersonen. Die Erfahrungen mit der Praxis in den vergangenen fünf Jahren haben gezeigt, dass aufgrund der unterschiedlichen Stellung der 73 Wagner/Bsaisou, in: Ehricke (Hrsg.), Handlungsfreiheit und Haftungsverantwortung in den regulierten Bereichen des Energiesektors, VEnergR Bd. 186, 2015, S. 13 (31 ff., 50). Gegenteiliger Ansicht der Beitrag von Hansen/Cordes, in: Ehricke (Hrsg.), Handlungsfreiheit, aaO S. 97 (109). 74 BT-DrS 16/2455, S. 7 (Allgemeine Begründung zur Neueinführung der §§ 19a und 19b EEG a. F., die Aufgaben der Bundesnetzagentur sowie die Möglichkeit regelten, Bußgeldbescheide zu erlassen).
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am EEG beteiligten privaten Akteure im System der Energiewirtschaft nicht auszuschließen ist, dass es bei der Umsetzung des EEG insbesondere im Hinblick auf die Weitergabe der entstehenden Kosten an die Letztverbraucher zu Rechtsverstößen kommt, denen nicht ausreichend mit den zur Verfügung stehenden zivilgerichtlichen Möglichkeiten begegnet werden kann. Dies kann sich indirekt nachteilig auf die Ziele des EEG auswirken. Vor diesem Hintergrund ist im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Interessen der Letztverbraucher eine punktuelle staatliche Überwachung erforderlich. Die Bundesnetzagentur soll die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben überwachen und hierdurch u. a. insbesondere Zivilklagen im Voraus abwenden. Dieses Vorgehen trägt somit den Informationsbedürfnissen der Öffentlichkeit und der Gewährleistung von Transparenz insbesondere im Rahmen des bundesweiten Ausgleichs der Strom- und Vergütungsmengen gleichermaßen Rechnung.“
Die mit der zitierten Gesetzesbegründung weiter angeführten Gründe für den Paradigmenwechsel im EEG vermögen weniger zu überzeugen. Auch Zivilgerichte sind bei Beachtung der Verfahrensvorgaben der Zivilprozessordnung durchaus in der Lage, die Grundrechte der Parteien einschließlich der Grundrechte Dritter – hier die der von der EEG-Umlage betroffenen Letztverbraucher – zu wahren. Ob sich Zivilklagen abwenden lassen, wenn die Regulierungsbehörde rechtzeitig eingreift, ist mehr als zweifelhaft. Zudem sind Letztverbraucher im Hinblick auf die Abrechnung des Belastungsausgleichs als solche materiell und prozessual rechtlos gestellt; über § 77 EEG 2017 erfolgt lediglich eine schnelle und transparente Information der Öffentlichkeit, und § 82 EEG 2017 (Verbraucherschutz) schließt die einschlägigen Vorschriften der §§ 59 ff. EEG 2017 vom Anwendungsbereich jener Vorschrift aus. Lediglich die Verbandsklage nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 Unterlassungsklagengesetz bietet Verbraucherverbänden die Möglichkeit, mit der Verbandsklage ein gegen § 59 bzw. § 60 Abs. 1 EEG 2017 verstoßendes Verhalten verbieten zu lassen. Im Zuge der Novellen 2014 und 2017 wurde allerdings versäumt, diese Verbandsklagemöglichkeit auf die Kontrolle der EEG-Umlage bei Eigenversorgung zu erstrecken (§ 61 Abs. 1 EEG 2017). Ein weiteres Motiv für eine Kombination von Selbstregulierung und Fremdregulierung durch Verwaltungsbehörden kann darin bestehen, bei Fehlsteuerungen schnell eingreifen zu können. Als Beispiel mag die Rechtsprechung des BGH zum sog. weiten Anlagenbegriff dienen,75 wo der BGH seine Rechtsprechung zu Biogasanlagen76 auf PV-Anlagen erstreckte und der Gesetzgeber dies mit § 3 Nr. 1 EEG 2017 korrigieren musste (ein Modul = eine Anlage). Eine solche Eingriffsmöglichkeit setzt jedoch streng genommen parallele Zuständigkeiten von Verwaltungsbehörde und Gerichten voraus, wobei das „overruling“ einer BGH-Entscheidung selbstverständlich nicht in Betracht käme (materielle und formelle Rechtskraft). Allenfalls könnte eine Regulierungsbehörde versuchen, unter Abstützung auf eine Ermächtigung zur Festlegung (§ 29 EnWG) die „Fehlinterpretation“ des Gesetzes für die Zukunft zu korrigieren (vgl. den Zuständigkeitskatalog gemäß § 85 Abs. 2 EEG 2017). 75 Zuletzt BGH v. 4. 11. 2015, RdE 2016, 121 Rn. 20 ff. = ZNER 2015, 526 – Solarkraftwerk als Anlage. 76 BGH v. 23. 10. 2013, RdE 2014, 69 Rn. 22 ff. – weiter Anlagenbegriff.
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Allerdings wäre ein Aufschrei der interessierten Verkehrskreise zu befürchten: Verwaltungsbehörde korrigiert den BGH! Im Ringen der Gewalten um die Deutungshoheit von Gesetzen wird man der Legislative den ersten Zugriff einräumen müssen. Fehlsteuerungen durch Fremdregulierung zu beseitigen bietet sich nur in seltenen Fällen und insbesondere dann an, wenn durch Verordnung oder Festlegung eine (mögliche und zweckinadäquate) Gesetzesauslegung zu vermeiden unternommen wird, wobei eine durch die Gerichte präferierte Auslegung noch nicht allzu weit auf dem Instanzenweg vorangekommen sein sollte. Ein weiteres Motiv des Gesetzgebers in Bezug auf die Einführung/Erweiterung einer Fremdregulierung könnte darin begründet sein, eine sich abzeichnende Rechtsprechung vorab an bestimmte, als wirtschaftspolitisch sachgerecht beurteilte Grundsätze zu binden und insbesondere eine bundeseinheitliche Anwendung solcher Grundsätze zu gewährleisten. Denn die Entscheidungen der Bundesnetzagentur finden naturgemäß bundesweit Beachtung, während die Rechtsprechung im Instanzenzug zunächst Gestaltungs- und Feststellungswirkungen im jeweiligen Landgerichtsoder Oberlandesgerichtsbezirk entfalten wird. Weil die großen Bundesländer meist drei OLG-Bezirke aufweisen, besteht potentiell die Gefahr einer erheblichen Rechtszersplitterung in Bezug auf kontrovers diskutierte Rechtsfragen; nur weil nicht alle diese Gerichte zugleich entscheiden werden, halten sich die Auswirkungen in erträglichen Grenzen. Jedoch ist schon in der Vergangenheit versucht worden, über Verwaltungshandeln mit zweifelhafter oder fehlender Ermächtigungsgrundlage, z. B. eine sog. „ministerielle Auslegungshilfe“, Entscheidungen der Gerichte vorzustrukturieren.77 Jene Auslegungshilfe ist seiner Zeit wohl weitgehend unbeachtet geblieben. Es gibt allerdings auch aus neuerer Zeit Beispiele, die dadurch gekennzeichnet sind, dass eine Verwaltungsbehörde trotz offensichtlicher Unzuständigkeit auf einem Sachgebiet in vergleichbarer Weise tätig wird. Als Beispiel für eine solche „Lückenschließung“ gegen die gesetzlichen Verfahrensvorgaben mag der Leitfaden Eigenversorgung der Bundesnetzagentur dienen:78 Obwohl die Zivilgerichte über Anlass und Höhe der EEG-Umlage einschließlich derjenigen auf die Eigenversorgung entscheiden,79 interpretiert die Bundesnetzagentur die Reichweite des Eigenversorgungsbegriffs mit einem offensichtlich besonders engherzigen Ansatz.80 Obwohl sich die Regulie77
Vgl. Salje, in: Kluth/Müller-Peilert (Hrsg.), Wirtschaft – Verwaltung – Recht, FS für Stober, 2008, S. 207 ff. 78 Bundesnetzagentur, Leitfaden Eigenversorgung: Stand Juli 2016, abrufbar: https://www. bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Downloads/DE/Sachgebiete/Energie/Unternehmen_Institu tionen/ErneuerbareEnergien/Eigenversorgung/Finaler_Leitfaden.pdf?__blob=publicationFi le&v=2. 79 Vgl. §§ 60, 61 EEG 2017. 80 Zur Kritik vgl. König, N&R 2015, 130 ff.; Salje, EEG 2017, § 61 Rn. 20 ff. Das OLG Düsseldorf hat mit Entscheidung v. 18. 1. 2017 (EnWZ 2017, 178 Rn. 72 ff.) die Unverbindlichkeit von Leitfäden der Bundesnetzagentur hervorgehoben (fehlende Konkretisierungswirkung).
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rungsbehörde mit Rücksicht auf § 85 Abs. 2 EEG 201781 ihrer diesbezüglichen Unzuständigkeit82 vollkommen bewusst ist, wird ein quasi-amtliches Instrument offenbar mit Billigung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie genutzt, um den Zivilgerichten ein wohlfeiles Argumentationsmuster zur Verfügung zu stellen, das von den weniger kritischen Instanzen sicherlich auch gern genutzt werden wird. Die Zersplitterung von Bundesrecht durch dezentral entscheidende Zivilgerichte mag zu Recht beklagt werden; würden jedoch der Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz und die Landesjustizministerien mit Hilfe von Ministerialerlassen oder auch unverbindlichen Argumentationshilfen zu materiellen Rechtsfragen versuchen, die Rechtsprechung der Instanzgerichte oder gar des BGH in irgendeiner Art „vorzuformen“, läge darin ein Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung, was zu Recht einen Aufschrei der Richterschaft zur Folge hätte. Die doppeldeutige Bezeichnung eines Papiers als „Leitfaden“ zusammen mit der Nennung der Behördenbezeichnung trägt hoffentlich nicht dazu bei, dass die Zivilgerichte andere (ebenso unverbindliche) Rechtsmeinungen ignorieren werden. Wohlgemerkt: Eine gut gemeinte „Bekämpfung“ des Ausweichens von Unternehmen, die die EEG-Umlage einsparen wollen, in durchaus dubiose Formen der Eigenversorgung ist ebenso billigenswert wie der zentrale Ansatz, der regionalen judiziellen Besonderheiten entgegen zu steuern vermag; dann aber reicht es aus, ein solches Papier deutlich als unverbindliche Äußerung einer Rechtsmeinung der Bundesnetzagentur zu kennzeichnen und zur Diskussion dieser Rechtsmeinung einzuladen. IV. Die Auswirkungen einer möglichen Abschaffung des Vorrangprinzips Das Vorrangprinzip besagt, dass Anlagen, die Strom aus erneuerbaren Energien oder aus Kraft-Wärme-Kopplung produzieren, (sachlich und zeitlich) prioritär an das Netz der allgemeinen Versorgung anzuschließen sind und die Netzbetreiber diesen Strom bevorzugt zu übertragen und zu verteilen haben, wenn das nationale Recht dies so vorsieht (vgl. §§ 8 Abs. 1 und 11 Abs. 1 EEG 2017). Zunächst das EEG 2000 (§ 3 Abs. 1 Satz 1)83 und dann die Erneuerbare-Energien-Richtlinie 2001/77/ EG in Art. 7 Abs. 1 Satz 1 hatten das Vorrangprinzip eingeführt.84
81 Eine Festlegung in Bezug auf die Eigenversorgung ist nicht vorgesehen; die spezielle Ausnahme in Bezug auf die Umlagebelastung für Speicherstrom (§ 85 Abs. 2 Nr. 5 EEG 2017) ist nicht einschlägig. 82 OLG Düsseldorf v. 18. 1. 2017, EnWZ 2017, 178 Rn. 72 – Verweigerung einer individuellen Netzentgeltvereinbarung: „Den Äußerungen der Regulierungsbehörde in Leitfäden kommt eine rechtlich verbindliche Konkretisierungswirkung nicht zu.“ 83 Beschränkt auf die Abnahmepflicht. 84 Vgl. auch Art. 16 Abs. 2 Erneuerbare-Energien-Richtlinie 2009/28/EG, wo mit Erwägungsgrund 60 dieser Richtlinie der Unterschied zwischen vorrangigem und garantiertem Netzzugang erläutert wird.
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Im Gefolge der Einführung des vorrangigen Netzzugangs – in Deutschland: vorrangige physikalische Abnahmeverpflichtung, § 11 Abs. 1 Satz 1 EEG 2017 – ist der Anteil der Einspeisung von Strom aus konventionellen Primärenergieträgern fortlaufend zurück gegangen, zuletzt auf ca. 65 % am jährlichen Bruttostromverbrauch im Jahre 2016. Über diesen Mengeneffekt hinaus besteht ein Preiseffekt: Weil nach dem Merit Order-Prinzip85 die am teuersten produzierenden Kraftwerke bei der Laststeuerung unberücksichtigt bleiben, führt die Verdrängung solcher Kraftwerke bei zunehmendem Stromangebot aus erneuerbaren Energien zu sinkenden Börsenpreisen, wobei der tatsächliche Strompreis für die privilegierten Kraftwerke (Marktprämie = Börsenpreis plus Förderbetrag) unberücksichtigt bleibt.86 Ein möglicher Streit zur Frage, ob das oben87 erläuterte Regulierungsinstrument des unmittelbaren Kontrahierungszwangs bereits allein oder aber erst mittels des Vorrangprinzips die oben beschriebenen Preis- und Mengeneffekte bewirkt, ist müßig. Vielmehr hat es den Anschein, als ob die das EEG 2000 konzipierenden Gesetzesautoren sich sowohl beim europäischen Recht88 als auch beim (auslaufenden) Stromeinspeisungsgesetz89 formulierungsmäßig bedient haben. Wird ein unmittelbarer gesetzlicher Kontrahierungszwang für die Aufnahme von Strom aus erneuerbaren Energien in das Netz der allgemeinen Versorgung angeordnet, greift dieses Instrument sofort in die Laststeuerung ein und verdrängt anderweitig bezogene Elektrizität, auch im Verhältnis zu vorliegenden Verträgen (§ 275 Abs. 1 mit § 326 Abs. 1 BGB). Dies zeigt, dass der unmittelbare Kontrahierungszwang das Vorrangprinzip einschließt; semantisch hat der Gesetzgeber seit dem EEG 2000 die sog. Abnahmepflicht jeweils doppelt verankert, indem Kontrahierungszwang und Vorrang der Einspeisung zugleich aufgeführt werden. Mit der für 2020 vorgesehenen Neufassung der europäischen Vorgaben für den Binnenmarkt für die leitungsgebundenen Energieträger Strom und Gas90 beabsichtigt die Kommission, das Vorrangprinzip sowohl aus der RL 2009/72/EG als auch aus der 85 Bestimmung der Einsatzreihenfolge von Kraftwerken nach der Höhe der Grenzkosten in aufsteigender Reihenfolge, vgl. e.wikipedia.org/wiki/Merit-Order. Die Grenzkosten bilden die langfristige Preisuntergrenze für Gebote auf den Börsenpreis. 86 Zu diesen Effekten vgl. Sensfuß, Analysen zum Merit-Order-Effekt erneuerbarer Energien, Fraunhofer ISI, 2013, S. 7 f., abzurufen unter http://www.impres-projekt.de/impreswAssets/docs/Merit-Order-2012_final.pdf. Im Jahr 2012 hat die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien den sog. market clearing price (Preis des je Viertelstunde zuletzt zugeschalteten Kraftwerks, der für alle Stromanbieter Gültigkeit hat: Phelix Base) um durchschnittlich 0,891 Cent/kWh gesenkt. 87 Abschnitt II. 1. 88 Entwurf der RL 2001/77/EG (Art. 7 Abs. 1). 89 § 2 Abs. 1 Satz 1 StrEinspG idF von 1998: Abnahmepflicht „ohne Vorrangprinzip“, aber gleichbedeutend, da zwingende Verpflichtung. 90 Sog. Winterpaket, umfassend acht Vorschläge für die Neufassung von Richtlinien einschl. einer EU-Verordnung für den Strombinnenmarkt. Zum geltenden europäischen Recht vgl. Kröger, Die Förderung erneuerbarer Energien im Europäischen Elektrizitätsbinnenmarkt, 2015.
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RL 2009/28/EG zu streichen; nur für Anlagen bis 500 kW (ab 2026: 250 kW) sowie für Bestands- und Demonstrationsanlagen soll dieser Grundsatz erhalten bleiben.91 Dies wird mit dem Erfordernis einer zunehmenden Integration der privilegiert erzeugten Elektrizität in den europaweiten Strommarkt begründet; die Kommission hat erkannt, dass das Vorrangprinzip zusammen mit Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 der RL 2009/28/EG dazu genutzt werden kann, nationale Industriepolitik zu betreiben und beihilfegleiche Zuwendungen an einheimische Stromerzeuger im Verhältnis zu den Art. 107, 108 AEUV zu immunisieren. Weil Art. 194 AEUV die Gesetzgebungskompetenz im Hinblick auf die Förderung von Strom aus erneuerbaren Energien zwischen europäischer und nationaler Zuständigkeit mit Hilfe eines Formelkompromisses aufteilt, muss aus der Sicht der Kommission jedenfalls die „Freigabe“ nationaler Förderregeln für Strom aus privilegierten Primärenergieträgern (Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 RL 2009/28/EG)92 abgeschafft werden, um das Beihilfeinstrumentarium der Kommission nicht leerlaufen zu lassen. Ob sich die Kommission durchsetzen wird, die schon seit Jahren (erfolglos) versucht, die erneuerbaren Energien marktbasiert in den Strommarkt zu integrieren, erscheint als äußerst zweifelhaft; die Mitgliedstaaten haben das Vorrangprinzip als Betätigungsfeld für nationale Maßnahmen lieb gewonnen und werden es behalten wollen. Auch eine Harmonisierung der zwischen den Mitgliedstaaten abgeschotteten Förderpolitik für Strom aus erneuerbaren Energien ist nicht zu erwarten. Sollte sich die Kommission wider Erwarten durchsetzen, ist zu fragen, ob oberhalb der vorgesehenen Kapazitätsgrenzen von 500 bzw. 250 kW Vorrangprinzip und unmittelbarer Kontrahierungszwang beibehalten werden dürfen, obwohl das EU-Recht dieses nicht mehr vorsieht. Dabei ist danach zu unterscheiden, ob die Herabzonung des Vorrangprinzips durch Verordnung (wie vorgesehen) oder aber (wie gewohnt) durch Richtlinie erfolgen wird. Im Entwurf der Kommission ist das neue Recht als Art. 11 und 12 einer EU-Verordnung für den Strombinnenmarkt enthalten.93 Diese Verordnung würde unmittelbar geltendes Recht in den Mitgliedstaaten werden, vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV. Die Mitgliedstaaten einschließlich der Bundesrepublik Deutschland müssten Kontrahierungszwang und Vorrangprinzip auf die im Verordnungsentwurf vorgesehenen Kapazitätslimitierungen zurücknehmen. Die Lastwarten würden nur noch den Strom aus kleineren Anlagen bei der Laststeuerung vorrangig berücksichtigen und im Übrigen marktbasiert entscheiden: Der Einspeiser müsste seinen Abnehmer vertraglich nachweisen, und jeder Letztverbraucher-Versorger wäre oberhalb der Kapazitätsgrenzen frei, den (z. B. in der Letztverbraucher- und Grundversorgung) fehlenden Strom beim günstigsten Anbieter zu beziehen. Der Netzbetreiber dürfte ihn nicht 91
Vgl. Frenz, RdE 2017, 109 (111); Mai, RdE 2017, 335 (336 f.); Schulz/Losch, EnWZ 2017, 107 ff. 92 Vgl. EuGH v. 1. 7. 2014, RdE 2014, 380 Rn. 76 ff. = ZNER 2014, 372 – Alands Vindkraft. 93 Neufassung der Verordnung Nr. 714/2009.
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mehr mit dem Argument hindern, das Netz sei mit Strom aus erneuerbaren Energien voll ausgelastet. Weil vermutlich bis zu 90 % des jetzt zwingend abzunehmenden Angebots betr. Strom aus erneuerbaren Energien langfristig94 nicht mehr verpflichtend zu übertragen und zu verteilen sein würde, dürfte die Einspeisung von Strom aus nicht-erneuerbaren Energien ansteigen, so dass auch relativ teuer produzierende GuD-Kraftwerke wieder berücksichtigt würden. Damit stiege der Strompreis an den Strombörsen tendenziell wieder an;95 weil jedoch vom Vorrangprinzip noch begünstigte Bestandsanlagen weiter berücksichtigt werden müssten, würde dieser Preisanstieg sehr langsam und erst mit zunehmendem Ausscheiden jener Anlagen aus dem „Fördermarkt“ wirksam werden. Vermutlich werden die Mitgliedstaaten versuchen, unter Hinweis auf Art. 194 AEUV ihre nationale Förderpolitik für Strom aus erneuerbaren Energien bzw. Kraft-Wärme-Kopplung zu erhalten. Eine Fortführung der bisherigen Rechtslage würde erleichtert, wenn weiterhin (bloße) Richtlinien die Grundvorgaben für den Binnenmarkt für Strom regeln würden. Denn im Rahmen der Umsetzungsakte nach Art. 288 Abs. 3 AEUV wären die Mitgliedstaaten berechtigt, das EU-Ziel des bestmöglichen Umweltschutzes höher zu gewichten und im Rahmen von Art. 193 AEUV solche Maßnahmen und Regeln fortzuführen, die den Umweltschutz in ihrem Mitgliedstaat zu verbessern geeignet wären. Dazu zählen sicherlich alle auf vorrangige Einspeisung und Verteilung/Übertragung sowie Förderung von Strom aus erneuerbaren Energien bzw. Kraft-Wärme-Kopplung gerichteten Maßnahmen, die das Umweltschutzziel mit verhältnismäßigen Mitteln zu erreichen versuchen. Eine daraus resultierende nationale Steigerung bei der Vermeidung von CO2 wird sich auch mit einer strikten Beihilfekontrolle der Kommission nicht stören lassen, wenn Vorrangprinzip und Förderinstrumentarium eng und angemessen fördernd miteinander verzahnt würden. Die Abschaffung des Regulierungsinstruments „Kontrahierungszwang“ steht daher keinesfalls unmittelbar bevor.
V. Zusammenfassung 1. Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, dass auch bei zweckadäquat enger Fassung des Regulierungsbegriffs nicht nur auf das Instrumentarium des öffentlichen Rechts gestützte Eingriffe, sondern auch solche mit den Mitteln des Privatrechts geeignet sind, aus wirtschaftspolitischer Sicht erwünschte Änderungen der Marktverhältnisse zu erzeugen. Als Beispiel für solche privatrechtlichen Regulierungsmaßnahmen wird insbesondere das Recht der erneuerbaren Energien herangezogen. 2. Unter Regulierung werden hier alle staatlichen Maßnahmen verstanden, die ex post oder ex ante auf eine Veränderung vorgefundener Marktergebnisse, insbesonde94
Wegen des Schutzes der Bestandsanlagen durch das Vorrangprinzip wird sich die Gesetzesänderung erst in später als fünf Jahre nach der Einführung (vorgesehen für 2020) auswirken. 95 Preisbasis: Vergütung des letzten zugeschalteten Kraftwerks.
Regulierung und Privatrecht
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re in Bezug auf Angebotsmenge, Angebotspreis und Angebotsqualität, gerichtet sind, wobei ein eingeräumtes Regulierungsermessen auch gesetzgeberisches Ermessen umfasst. 3. Privatrechtliche Regulierungsmaßnahmen verzichten auf steuernde Maßnahmen der Exekutive (Verwaltungsakte einschl. Festlegungen, Verordnungen) und vertrauen auf den Selbstvollzug des eingesetzten privatrechtlichen Instrumentariums. Akteure sind Unternehmen und private Haushalte. An die Stelle einer Fremdregulierung tritt eine (erzwungene) Selbstregulierung der beteiligten Verkehrskreise. 4. Beim unmittelbaren Kontrahierungszwang wird ein Unternehmen verpflichtet, Angebote eines anderen Unternehmens oder eines Haushalts auch ohne Vertragsschluss zu akzeptieren und in bestimmter Weise zu behandeln (z. B. Weitertransport an Energieabnehmer). Wird dieses Instrument mit einem Mindestpreis kombiniert, findet ein Zwangskauf statt, den das EEG 2017 „kaufmännische Abnahme“ nennt (§ 11 Abs. 1 Satz 2). Trotz solcher Eingriffe unmittelbar durch den Gesetzgeber bleibt es bei der privatrechtlichen Handlungsform und ihrer Nachprüfung durch die ordentlichen Gerichte. 5. § 315 Abs. 3 BGB stellt den Zivilgerichten das Instrument der Billigkeitskontrolle zur Verfügung. Im Rahmen der leitungsgebundenen Energieversorgung haben Verbraucher häufig die Gerichte angerufen, um Preisänderungen auf Angemessenheit kontrollieren zu lassen. Die Regulierung erfolgt durch die Judikative, dezentral und damit eher zufällig als systematisch, verglichen mit der Tätigkeit einer Bundesregulierungsbehörde. Lag eine monopolähnliche Stellung vor (Rechtslage bis 1998), trat die Billigkeitskontrolle neben die Preismissbrauchskontrolle durch die Kartellbehörden. Im Hinblick auf die Höhe der Netzentgelte ist eine ex ante-Kontrolle durch die Regulierungsbehörden an die Stelle der früheren ex post-Kontrolle durch Zivilgerichte und Kartellbehörden getreten. 6. Die aus dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen geläufige Transparenzkontrolle (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) wurde von § 7 Abs. 2 Nr. 1 EEG 2017 als privatrechtliches Instrument übernommen. Regulierungsanlass sind hier Verträge zwischen den Gebietsmonopolisten der Netzbetreiber und den Betreibern von Anlagen, die Strom aus erneuerbaren Energien erzeugen (Einspeiseverträge, Messstellenbetriebsverträge, Kostenverteilung bei Anschluss von Anlagen an das Netz der allgemeinen Versorgung). Kontrollgegenstand der Zivilgerichte sind vertragliche Festlegungen, die unabhängig von ihrer (individuellen oder allgemeinen) Einbringung in den Vertrag am Maßstab der einschlägigen Regelungen des EEG gemessen werden, denen auf diese Weise Leitbildfunktion zukommt. 7. Institutionalisiert der Gesetzgeber eine optional anzurufende Schlichtungsstelle mit besonderer Sachkompetenz, indem die sonst zuständigen Zivilgerichte als Streitentscheider gedoppelt werden, kann jedenfalls dann von privatrechtlich basierter (ex post-) Regulierung gesprochen werden, wenn zivilgerichtliche Verfahrensarten und Prozessgrundsätze angewendet werden. Die Clearingstelle EEG stellt ihren Sachverstand (gegen Entgelt) zur Verfügung, so dass einzelne Rechtsfragen (abstrakt) oder
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auf Wunsch der sie anrufenden Parteien (konkrete) Streitverhältnisse mit EEGBezug unverbindlich oder verbindlich geklärt werden können. Eine bundesweite „Zuständigkeit“ und hohe Sachkompetenz tragen – allerdings in Konkurrenz zur ordentlichen Gerichtsbarkeit – dazu bei, solche Rechtsfragen tendenziell schneller und verlässlicher zu klären als dies im Instanzenzug geschähe. 8. Schon immer hat sich Regulierung auf ein gemischtes Instrumentarium gestützt und neben klassischem Verwaltungsrecht auf die Kontroll- und Befriedungsmechanismen des Zivilrechts vertraut. Schon das GWB hat seit 1958 die Klärung im Zivilprozessrechtsverhältnis neben die auf dasselbe Klageziel gerichteten Befugnisse der Kartellbehörden gesetzt, und das EnWG ist diesem Ansatz gefolgt. Das zunächst rein privatrechtlich funktionierende EEG nimmt zunehmend aufsichtsbehördliche Regularien auf, so dass auch hier eine gemischte Regulierung entstanden ist. 9. Diese Methodenpluralität bei der Regulierung hat den Vorteil, dass Schutzlücken vermieden werden, die bei Fokussierung auf ein Instrument der Regulierung auftreten könnten. Überschneidungsbereiche und Doppelungen haben bisher keine Unverträglichkeiten hervorgerufen; das EEG hat jeweilige „Sonderzuständigkeiten“ für das Verhältnis Anlagenbetreiber-Netzbetreiber, für die Kontrolle der EEG-Umlage (Belastungsausgleich) und für die Ermäßigung der EEG-Umlage geschaffen. Mit dem EEG 2017 ist das (privatrechtliche, aber von der Bundesnetzagentur durchgeführte) Ausschreibungsverfahren hinzugetreten.96 Bei verbleibender gemischter Regulierung derselben Rechtsproblematik gilt: Lehnt die Aufsichtsbehörde ein Einschreiten ab, verbleibt dem Marktteilnehmer immer noch die Klärung des Rechtsverhältnisses durch die Zivilgerichte. 10. Die EU-Kommission plant, für mittlere und große Anlagen zur Produktion von Strom aus erneuerbaren Energien das Vorrangprinzip abzuschaffen (ab 250 bzw. 500 Kilowatt Anlagenleistung). Wird dies im (EU-)Verordnungswege erfolgen, dürfte die Fortführung des unmittelbaren Kontrahierungszwangs durch die Mitgliedstaaten trotz der mitgliedstaatsfreundlichen Fassung des Kompetenzartikels (Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV) Schwierigkeiten bereiten. Stimmen Rat und Parlament darin überein, wie gewohnt die Richtlinie zu wählen und den Mitgliedstaaten die Umsetzung zu überlassen, werden viele Staaten das Vorrangprinzip erhalten wollen, um den nationalen Fördermechanismus – gemessen an verhältnismäßigen Mitteln im Lichte von Warenverkehrsfreiheit und Wettbewerbseingriff – möglichst unverändert fortführen zu können.
96 Faasch, VersorgungsW 2017, 105 ff.; Frenz, RdE 2016, 433 ff.; Heinze/Maier, ET 3/ 2017, 50 ff.; Leuchtweis, REE 2017, 24 ff.
Die Bedeutung des Grundsatzes der Belastungsgleichheit für Umlagen Von Hartmut Weyer, Clausthal-Zellerfeld Im Strom- wie im Gassektor werden auf privatrechtlicher Basis Umlagen zur Finanzierung einer Reihe unterschiedlicher Aufgaben erhoben. Die Ausgestaltung dieser Umlagen wird in erheblichem Umfang hoheitlich vorgeprägt. Dies wirft Fragen nach den verfassungsrechtlichen Grenzen für derartige Vorgaben für Umlagen auf. In der Folge soll der Frage nachgegangen werden, ob hoheitliche Vorgaben für Umlagen von Verfassungs wegen an dem Grundsatz der Belastungsgleichheit zu messen sind. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass diese Fragestellung an der Schnittstelle von Energie- und Verfassungsrecht und mit privatrechtlichen Bezügen auf das Interesse des Jubilars trifft. I. Der Grundsatz der Belastungsgleichheit bei Steuern und Abgaben 1. Anwendbarkeit des Grundsatzes der Belastungsgleichheit Der Grundsatz der Belastungsgleichheit gilt im gesamten Steuer- und Abgabenrecht. Nach der Rechtsprechung des BVerfG wird der Einzelne regelmäßig über seine Steuerpflicht zur Finanzierung der die Gemeinschaft treffenden Lasten herangezogen. Hierbei findet der Grundsatz der Belastungsgleichheit Anwendung.1 Neben dieser steuerlichen Inanspruchnahme bedürfen nichtsteuerliche Abgaben, die den Einzelnen zu einer weiteren Finanzleistung heranziehen, zur Wahrung der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen (Art. 3 Abs. 1 GG) einer über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgehenden besonderen sachlichen Rechtfertigung.2 Dies betrifft zum einen die sogenannten Vorzugslasten, die einen Sondervorteil ausgleichen sollen, wie insbesondere Gebühren und Beiträge.3 Zum anderen findet der Grundsatz der Belastungsgleichheit aber auch auf die sog. Sonderabgaben Anwendung, bei denen es an einer Gegenleistung fehlt. Dies gilt insbesondere für Sonder1 BVerfG v. 31. 10. 2016, 1 BvR 871/13, NVwZ 2017, 617 Rn. 40 (Zweitwohnungsteuer); BVerfGE 84, 239 (268 ff.) (Steuererhebung für Einkünfte aus Kapitalvermögen). 2 BVerfGE 137, 1 Rn. 49 (Straßenausbaubeiträge); BVerfGE 135, 155 Rn. 121 (Filmabgabe); Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 2 Rn. 104. 3 BVerfGE 137, 1 Rn. 46 ff. (zu Straßenausbaubeiträgen); BVerfG v. 17. 1. 2017, 2 BvL 2/ 14, NVwZ 2017, 696 Rn. 62 ff. (zu Rückmeldegebühren).
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abgaben mit Finanzierungsfunktion (Finanzierungssonderabgaben),4 mit Modifikationen aber auch für Sonderabgaben mit Lenkungsfunktion.5 Das BVerfG leitet den Grundsatz der Belastungsgleichheit insbesondere aus Art. 3 Abs. 1 GG her und spricht insoweit von einer abgabenrechtlichen Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes.6 Teilweise wird der Grundsatz der Belastungsgleichheit auch im Rahmen der Freiheitsgrundrechte, insbesondere der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG, geprüft.7 2. Inhalt des Grundsatzes der Belastungsgleichheit Der Grundsatz der Belastungsgleichheit kann je nach Abgabenart und Sachverhaltskonstellation unterschiedlichen Inhalt haben. Wesentlicher Vergleichsmaßstab im Bereich der Steuern, insbesondere der Einkommensteuer, ist das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.8 Eine besondere Verantwortungsbeziehung des Steuerpflichtigen zu der zu finanzierenden Aufgabe entfällt in der Regel bereits deshalb, weil die Steuereinnahmen grundsätzlich nicht zweckgebunden sind. Im Fall sog. Zwecksteuern, d. h. bei gesetzlicher Verwendungsbindung des Steueraufkommens, wird hingegen teilweise angenommen, Durchbrechungen des Grundsatzes der Gesamtdeckung seien in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig und erforderten in jedem Fall eine sachliche Verbindung zwischen der betroffenen Abgabenart und dem gesetzlich verknüpften Finanzierungszweck.9 Die Auferlegung nichtsteuerlicher Abgaben wird nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich durch das Erfordernis eines besonderen sachlichen Rechtfertigungsgrundes begrenzt, der einerseits eine deutliche Unterscheidung gegenüber der Steuer ermöglicht und andererseits auch im Hinblick auf die zusätzliche Belastung 4 Vgl. etwa BVerfG v. 24. 11. 2015, 2 BvR 355/12, NVwZ 2016, 606 Rn. 36 ff. (FinDAGUmlage); BVerfGE 113, 128 (150) (Solidarfonds Abfallrückführung); BVerfGE 110, 370 (384, 387) (Klärschlamm-Entschädigungsfonds). 5 Vgl. etwa BVerfG v. 5. 3. 2009, 2 BvR 1824/05, NVwZ 2009, 837 (838) Rn. 22 (Stellplatz-Ausgleichsbeträge); BVerfGE 57, 139 (167 ff., 169 f.) (Schwerbehindertenabgabe); Kloepfer (Fn. 2), § 2 Rn. 46 f. Gegen einschränkende Anforderungen etwa Tappe/Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2015, Rn. 302. 6 BVerfG v. 19. 7. 2016, 2 BvR 470/08, NVwZ 2016, 1553 Rn. 39 (Kommunalabgaben); BVerfGE 137, 1 Rn. 48 f. (Straßenausbaubeiträge); BVerfGE 135, 155 Rn. 121 (Filmabgabe). Für eine Herleitung aus Art. 3 GG auch v. Stockhausen, Gesetzliche Preisintervention zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben, 2007, S. 543, 574 ff. 7 Vgl. BVerfG v. 24. 11. 2015, 2 BvR 355/12, NVwZ 2016, 606 Rn. 35 ff., 47 (FinDAGUmlage); in diesem Sinne auch BVerfGE 109, 64 (85 ff.) (Mutterschaftsgeld); BVerfGE 122, 316 (332 f.) (Absatzfonds). 8 BVerfG v. 29. 3. 2017, 2 BvL 6/11, NZG 2017, 828 Rn. 99 (Verlustabzug im Körperschaftssteuerrecht); Hey, in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 3 Rn. 121; Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, 20. Aufl. 2017, Rn. 174 ff. 9 Kube, in Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Stand Juni 2017, Art. 110 Rn. 145; Musil, DVBl. 2007, 1526 (1531).
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neben den Steuern geeignet ist, der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen Rechnung zu tragen.10 Im Falle nichtsteuerlicher Abgaben in Form von Vorzugslasten sind als sachliche Gründe, die die Bemessung einer Gebühr oder eines Beitrags rechtfertigen können, die Zwecke der Kostendeckung, des Vorteilsausgleichs, der Verhaltenslenkung sowie soziale Zwecke anerkannt.11 Demgegenüber liegt eine Sonderabgabe vor, wenn der Gesetzgeber Kompetenzen außerhalb der Finanzverfassung in Anspruch nimmt, obwohl weder ein Gegenleistungsverhältnis noch ähnlich unterscheidungskräftige besondere Belastungsgründe ein Konkurrenzverhältnis der Abgabe zur Steuer ausschließen.12 Sonderabgaben sind daher lediglich als seltene Ausnahme zulässig.13 Dies gilt insbesondere für Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion, die wie die Steuern der gegenleistungsunabhängigen Mittelbeschaffung dienen.14 Das BVerfG hat eine umfangreiche Rechtsprechung zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer solchen Finanzierungssonderabgabe entwickelt, um drei Problemkreisen Rechnung zu tragen:15 - Gefährdung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung durch Regelung außerhalb des Finanzverfassungsrechts, - Gefährdung der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen durch Erhebung neben den Steuern und außerhalb der Grundsätze steuergerechter Verteilung der Gemeinlasten, - Gefährdung des parlamentarischen Budgetrechts infolge organisatorischer Ausgliederung des Abgabenaufkommens und seiner Verwendung aus dem Kreislauf staatlicher Einnahmen und Ausgaben. Sonderabgaben werden insoweit auch als doppelt rechtfertigungsbedürftig bezeichnet, weil sie in Konkurrenz zur Steuer stehen und weil ihr Aufkommen nicht in den allgemeinen Haushalt fließt, sondern der Finanzierung besonderer Aufgaben dient.16 Soweit für den Grundsatz der Belastungsgleichheit relevant, setzt die Zuläs-
10 BVerfG v. 24. 11. 2015, 2 BvR 355/12, NVwZ 2016, 606 Rn. 38 (FinDAG-Umlage); BVerfGE 124, 235 (243). 11 BVerfGE 50, 217 (230 f.); BVerfGE 132, 334 Rn. 49 (Rückmeldegebühr); BVerfGE 137, 1 Rn. 49; BVerfG v. 17. 1. 2017, 2 BvL 2/14, NVwZ 2017, 696 Rn. 64; Kloepfer (Fn. 2), § 2 Rn. 27 ff., 33. 12 BVerfGE 108, 186 (217) (Altenpflegeausbildungsumlage); BVerfGE 123, 132 (141) (Forstabsatzfonds). 13 BVerfGE 123, 132 (141 f.) (Forstabsatzfonds); BVerfGE 135, 155 Rn. 122 (Filmabgabe). 14 BVerfG v. 24. 11. 2015, 2 BvR 355/12, NVwZ 2016, 606 Rn. 39 (FinDAG-Umlage); BVerfGE 124, 235 (244). 15 BVerfGE 123, 132 (141 f.) (Forstabsatzfonds). Vgl. auch Tappe/Wernsmann (Fn. 5), Rn. 296 ff.; Kloepfer (Fn. 2), § 2 Rn. 40. 16 BVerfG v. 13. 4. 2017, 2 BvL 6/13, NVwZ 2017, 1037 Rn. 102; Pieroth, in: Jarass/ders. (Hrsg.), GG, 14. Aufl. 2016, Art. 105 Rn. 10.
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sigkeit einer Finanzierungssonderabgabe nach der Rechtsprechung des BVerfG kumulativ voraus:17 - Verfolgung eines Sachzwecks: Die Sonderabgabe muss der Verfolgung eines Sachzwecks dienen, der über die bloße Mittelbeschaffung hinausgeht. - Gruppenhomogenität: Belastet wird eine vorgefundene, homogene Gruppe, die durch eine gemeinsame Interessenlage oder andere Gegebenheiten von der Allgemeinheit abgrenzbar ist. Die Gemeinsamkeiten müssen geeignet sein, einen rechtfertigenden Zusammenhang mit einer spezifischen Finanzierungsverantwortung der Abgabepflichtigen für die Wahrnehmung der Aufgabe herzustellen. - Finanzierungsverantwortung: Die Gruppe muss zu dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck in einer Beziehung spezifischer Sachnähe stehen, aufgrund deren ihr eine besondere Finanzierungsverantwortung zugerechnet werden kann. Die spezifische Sachnähe liegt vor, wenn die belastete Gruppe dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck näher steht als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler. - Gruppennützige Verwendung: Das Abgabenaufkommen muss gruppennützig verwendet werden. Liegen die Sachnähe der Gruppe zum Zweck der Abgabe und die Finanzierungsverantwortung der Gruppe vor, so wirkt die zweckentsprechende Verwendung des Abgabenaufkommens zugleich gruppennützig, weil die Gruppe von einer ihrem Verantwortungsbereich zuzurechnenden Aufgabe entlastet wird.
II. Der Grundsatz der Belastungsgleichheit außerhalb öffentlicher Abgaben 1. Relevanz des Grundsatzes der Belastungsgleichheit Hoheitliche Vorgaben können Leistungspflichten Privater auch außerhalb öffentlicher Abgaben regeln, sowohl in Form finanzieller Leistungspflichten als auch in Form von Naturalleistungspflichten. Der Grundsatz der Belastungsgleichheit gilt zwar zunächst für öffentliche Abgaben (oben I.). Ihm liegt jedoch, wie das BVerfG ausgeführt hat, der Gedanke zugrunde, dass die die Gemeinschaft treffenden Lasten auch tatsächlich aus den von allen gemeinsam aufgebrachten Steuermitteln getragen werden müssen, um die relativ gleiche Teilnahme aller Staatsbürger sicherzustellen. Denn in dem Maße, in dem der Staat bestimmte öffentliche Aufgaben nicht aus Steuermitteln finanziere, sondern einzelnen Bürgern oder Gruppen neben ihrer Steuerlast und ohne Rücksicht auf diese aufbürde, hebe er der Sache nach die Lastengleichheit wieder auf. Ausnahmen von der Steuerfinanzierung öffentlicher Aufgaben sind daher rechtfertigungsbedürftig.18 Diese Überlegung trifft grundsätzlich auch auf die hoheit17
Vgl. etwa BVerfGE 135, 155 Rn. 121 ff. (Filmabgabe). Grundlegend BVerfGE 55, 274 (303 f.) (Berufsausbildungsabgabe), hierbei Friauf, in: FS Jahrreiß, 1974, S. 45, 48, folgend; so auch v. Stockhausen (Fn. 6), 2007, S. 578 f. 18
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liche Regelung von (insbesondere finanziellen) Leistungspflichten Privater außerhalb des Abgabenrechts zu, mit denen der Gesetzgeber die Finanzierung öffentlicher Aufgaben sicherstellt.19 Das BVerfG hat in verschiedenen Entscheidungen außerhalb des Bereichs öffentlicher Abgaben den Grundsatz der Belastungsgleichheit zwar nicht ausdrücklich herangezogen, aber eine Verantwortungsbeziehung des belasteten Privaten zu der verfolgten öffentlichen Aufgabe im Rahmen des Art. 12 GG geprüft. Eine solche Verantwortungsbeziehung bejahte das BVerfG etwa hinsichtlich der Pflicht des Arbeitgebers zur Zahlung eines Zuschusses zum Mutterschaftsgeld, da es um den Schutz der Arbeitnehmerin und ihres Kindes vor besonderen Gesundheitsgefahren gehe, die in Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen. Der Arbeitgeber sei für eine etwaige Gefährdung durch eine Arbeit vor oder nach der Geburt verantwortlich und damit besonders betroffen.20 Hinsichtlich der Pflicht des Arbeitgebers, Arbeitnehmer für die Tätigkeit in der Jugendarbeit unter Fortzahlung des Arbeitsentgeltes freizustellen, erkannte das BVerfG das Vorliegen einer Verantwortungsbeziehung an, sah diese aber nicht als hinreichend eng an, um dem einzelnen Arbeitgeber die vollen Lohnkosten aufzubürden.21 In einer anderen Entscheidung bejahte das BVerfG eine Verantwortungsbeziehung der Arbeitgeber, die ihre Belastung mit Freistellungs- und Entgeltfortzahlungspflichten für Bildungsurlaub der Arbeitnehmer rechtfertigte. Dagegen verneinte es eine solche Verantwortungsbeziehung, soweit die Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers für Zusatzurlaub von Mitarbeitern in Rede stand, den diese als pädagogische Mitarbeiter an Bildungsveranstaltungen in Anspruch nehmen konnten; die insoweit zusätzlich anfallenden Kosten der Entgeltfortzahlung seien Teil des Gesamtaufwandes, der sich nicht einzelnen Arbeitsverhältnissen zuordnen lasse.22 In der Literatur wird die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Belastungsgleichheit insbesondere in Fällen der Indienstnahme Privater für öffentliche Aufgaben verschiedentlich befürwortet.23 Der BGH wandte den Grundsatz der Belastungsgleichheit im Rahmen der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG insbesondere auf die Abnahmeund Vergütungspflichten nach dem Stromeinspeisungsgesetz bzw. dem EEG an und 19 So auch zur EEG-Umlage v. Stockhausen (Fn. 6), S. 544, 578 ff., 727 ff.; Steffens, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar, Sonderband EEG 2014, 3. Aufl. 2015, Einl. Rn. 106; zur KWKG-Umlage Burgi, DVBl. 2008, 1205 (1212 f.); zur Offshore-Netzanbindungspflicht und Haftungsregelung Burgi, GewArch Beil. WiVerw Nr. 1/2014, 76 (81 ff., 86 ff.); allgemein auch Reiter, Zwischen Verantwortungszuschreibung und Ungleichbehandlung, 2017, S. 344 ff. 20 BVerfGE 109, 64 (88 f.). 21 BVerfGE 85, 226 (235 ff.). 22 BVerfGE 77, 308 (332 ff., 337). 23 Vgl. Gallwas, BayVBl. 1971, 245 (247 ff.); Friauf (Fn. 18), S. 45, 48 ff., 62 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Abs. 1 Rn. 83; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3, Rn. 90; Reiter (Fn. 19), S. 344 ff. Einen Verantwortungskonnex fordert z. B. auch Kube, Die Verwaltung 2008, 1 (14 ff.).
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somit auf Zahlungspflichten zwischen privaten Wirtschaftsteilnehmern (Energieversorgungsunternehmen und Erzeugern von Strom aus erneuerbaren Energien). Als erforderlich sah der BGH, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG, einen besonderen Zurechnungsgrund an, wie er in einer besonderen Verantwortungsbeziehung zwischen dem Belasteten und der zu erfüllenden Aufgabe liegen könne. Im Ergebnis bejahte er eine besondere Verantwortung der Netzbetreiber als wesentlicher Teil der Stromwirtschaft für eine ressourcenschonende und umweltgerechte Stromerzeugung, die die Belastungen durch die Verpflichtung zur Abnahme und Vergütung des Stroms aus erneuerbaren Energien zumutbar macht.24 Der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Verantwortungsbeziehung kommen allerdings dann nicht zur Anwendung, wenn eine hoheitliche Regelung nicht der Finanzierung öffentlicher Aufgaben dient. Denn der Grundsatz der Belastungsgleichheit zielt von vornherein nur auf die gleichheitssatzkonforme Verteilung der Kosten für die Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Dies hat zur weiteren Konsequenz, dass der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Verantwortungsbeziehung keine Anwendung auf hoheitliche Vorgaben finden, die im Wesentlichen der angemessenen Ausgestaltung von Leistung und Gegenleistung zwischen Privaten dienen. In derartigen Fällen fehlt es bereits an der Finanzierung einer öffentlichen Aufgabe als maßgeblichem Ziel der Regelung. Der damit einhergehende Verzicht auf die zusätzliche Prüfung einer Verantwortungsbeziehung entspricht zudem der – auch für öffentliche Abgaben anerkannten – Feststellung, dass bereits das Vorliegen eines Gegenleistungsverhältnisses einen tragfähigen besonderen Belastungsgrund darstellt.25 Für Beiträge etwa stellt das BVerfG fest, der Gedanke der Gegenleistung, also des Ausgleichs von Vorteilen und Lasten, sei der den Beitrag im abgabenrechtlichen Sinn legitimierende Gesichtspunkt.26 Damit muss, wenn die hoheitliche Regelung der Leistungspflicht dem Gegenleistungsverhältnis zwischen Privaten zuzuordnen ist, nicht zusätzlich eine besondere Finanzierungsverantwortung festgestellt werden. Dienen hoheitliche Regelungen hingegen der Finanzierung öffentlicher Aufgaben außerhalb des Abgabenrechts, so erscheint eine Rechtfertigung für die Inanspruchnahme der betroffenen Privaten erforderlich. Denn der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG findet unzweifelhaft auch bei fehlender Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand auf die hoheitliche Regelung finanzieller Leistungspflichten oder Naturalleistungspflichten Anwendung und verlangt eine Begründung für die Auswahl des belasteten Personenkreises. Ebenso wie im Falle öffentlicher Abgaben kann diese Prüfung auch im Rahmen der Freiheitsgrundrechte, 24
BGHZ 134, 1 (21); BGHZ 155, 141 (149, 156). Vgl. in Abgrenzung zu den Sonderabgaben BVerfGE 108, 186 (217); BVerfGE 123, 132 (141); BVerfG v. 16. 7. 2012, 1 BvR 2983/10, NVwZ 2012, 1535 (1537) Rn. 24. 26 BVerfGE 9, 291 (298) (Feuerwehrabgabe); BVerfGE 137, 1 Rn. 43 (Straßenausbaubeiträge); ähnlich BVerfG v. 17. 1. 2017, 2 BvL 2/14, NVwZ 2017, 696 Rn. 64 (zu Rückmeldegebühren); P. Kirchhof, in: Isensee/ders. (Hrsg.), HStR Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 119 Rn. 64 f. 25
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insbesondere der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG, erfolgen.27 Dementsprechend haben BVerfG und BGH, wie dargestellt, das Kriterium der Verantwortungsbeziehung außerhalb öffentlicher Abgaben angewendet. 2. Keine Anwendbarkeit der Anforderungen an Finanzierungssonderabgaben Die Maßstäbe für die Auferlegung nichtsteuerlicher Abgaben, insbesondere Finanzierungssonderabgaben (oben I.2.), finden nach der Rechtsprechung des BVerfG keine Anwendung auf staatliche Preisregelungen wie Mindestvergütungen oder Zwangsrabatte.28 Eine Definition solcher staatlicher Preisregelungen hat das BVerfG nicht vorgenommen. Diese sind aber jedenfalls dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur im Bereich privatautonom vereinbarter Leistungsbeziehungen auswirken.29 Hieraus ergibt sich umgekehrt, dass eine Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand bei Preisregelungen nicht eintritt. Der Schutzzweck der Rechtsprechung zu den Sonderabgaben greift nach der Rechtsprechung des BVerfG daher nicht ein. Es genügt nach der Rechtsprechung des BVerfG, wenn die Preisinterventionen den übrigen formellen und materiellen Voraussetzungen des Grundgesetzes entsprechen. Der Bürger sei hinreichend durch die Grundrechte aus Art. 14, Art. 12 und ggf. Art. 2 GG geschützt.30 Die Rechtsprechung des BVerfG zeigt, dass dies unabhängig davon gilt, ob die Preisregelung mittelbar weiteren (öffentlichen) Zwecken dient wie z. B. der Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen.31 Dem folgt auch der BGH.32 Dieser sah als derartige Preisregelung in Form einer festgelegten Mindestvergütung insbesondere auch die Einspeisevergütung an, die Energieversorgungsunternehmen nach dem Stromeinspeisungsgesetz bzw. dem EEG 2000 für die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien zu zahlen hatten. Die Anforderungen an Finanzierungssonderabgaben fanden daher keine Anwen-
27 Dazu auch Burgi, DVBl. 2008, 1205 (1210 ff.). Für eine Prüfung der „absoluten Höhe der Umlagepflicht“ im Rahmen der Freiheitsgrundrechte auch Kahl/Bews, Ökostromförderung und Verfassung, 2015, S. 144 ff., 149 ff. 28 BVerfGE 114, 196 (249 f.); BVerfG v. 9. 1. 1996, 2 BvL 12/95, NJW 1997, 573 (573 f.); zustimmend etwa Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, 2012, S. 231. So auch im Ergebnis BVerfG v. 9. 9. 2010, 1 BvR 2005/10, NZS 2011, 500 Rn. 9 ff.; vorgehend BSG v. 20. 4. 2010, B 1 KR 19/09 R, Rn. 31 ff. 29 BVerfGE 114, 196 (250). Vgl. auch BGH v. 12. 11. 2015, I ZR 167/14, WRP 2016, 985 Rn. 103 (Abschlagspflicht II); Rheker, Die rechtliche Einordnung der EEG-Umlage als Sonderabgabe oder als Preisregelung, 2016, S. 95 ff. 30 BVerfGE 114, 196 (249 f.); auch BVerfGE 77, 308 (339). Vgl. auch BVerfGE 134, 204 Rn. 68 ff. (Urheberrechtsvergütung). 31 BVerfGE 114, 196 (244 ff.). 32 Vgl. etwa BGH v. 12. 11. 2015, I ZR 167/14, WRP 2016, 985 Rn. 100 (Abschlagspflicht II).
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dung.33 Dies gilt ungeachtet dessen, dass die Vergütungsregelung des § 3 StrEG über den Schutz des wirtschaftlich Schwächeren hinausging und zusätzlich – als rein quantitative Mehrbelastung – einen Förderbeitrag zugunsten der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien enthielt.34 Auch eine entsprechende Anwendung der für Finanzierungssonderabgaben geltenden Anforderungen scheidet nach der Rechtsprechung des BGH aus.35 Inzwischen hat der BGH nicht nur die gesetzlichen Vorgaben zur Höhe der für die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien gezahlten Vergütungen, sondern auch zur Höhe der auf den jeweiligen Stufen des Abwälzungsmechanismus gezahlten Kostenerstattungen als (mehrstufige) gesetzliche Preisregelungen für Rechtsbeziehungen zwischen Privaten eingeordnet. Dies betrifft insbesondere die EEG-Umlage, mit der die Kosten der EEG-Förderung von den Übertragungsnetzbetreibern an die Energieversorgungsunternehmen, die Strom an Letztverbraucher liefern, oder an die Stromverbraucher selbst weitergegeben werden. Auch auf die Regelung der EEG-Umlage finden die Anforderungen für Finanzierungssonderabgaben daher keine direkte oder entsprechende Anwendung.36 Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Die Anforderungen an die Auferlegung nichtsteuerlicher Abgaben, insbesondere Finanzierungssonderabgaben, haben nicht nur den Zweck, der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen Rechnung zu tragen, sondern sollen darüber hinaus eine deutliche Unterscheidung gegenüber der Steuer ermöglichen.37 Der letztgenannte Zweck passt schon im Ansatz nicht auf Preisregelungen, da diese mangels Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand in keinem vergleichbaren Konkurrenzverhältnis zu den Steuern stehen. Im Ergebnis sind der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Finanzierungsverantwortung in ihrer Ausgestaltung für Finanzierungssonderabgaben daher auf Preisregelungen nicht anwendbar. Liegt ein hinreichender Grund für die Unanwendbarkeit der Anforderungen an Finanzierungssonderabgaben, wie dargestellt, bereits in der fehlenden Notwendigkeit einer Abgrenzung zur Steuer, so sind diese Anforderungen allgemein auf hoheitliche Regelungen, die Privaten finanzielle Leistungspflichten oder Naturalleistungs33
BGHZ 134, 1 (27 ff.); BGHZ 155, 141 (153 f., 157). Das BVerfG sah eine abweichende Richtervorlage mangels hinreichender Begründung als unzulässig an, vgl. BVerfG v. 9. 1. 1996, 2 BvL 12/95, NJW 1997, 573 (573 f.). 34 BGHZ 134, 1 (22). 35 BGHZ 134, 1 (27 ff.); BGHZ 155, 141 (153 f., 157). In diesem Sinne auch BVerfGE 114, 196 (249 f.); vgl. bereits BVerfG v. 9. 1. 1996, 2 BvL 12/95, NJW 1997, 573 (573 f.). 36 BGHZ 201, 355 Rn. 20 ff.; vgl. auch BGH v. 10. 1. 2017, VIII ZR 14/16, REE 2017, 69 Rn. 5; OLG Hamburg v. 5. 7. 2016, 9 U 156/15, REE 2016, 149 (161 f.) (jeweils zur EEGUmlage nach § 37 Abs. 2 EEG 2012); OLG Hamm v. 7. 6. 2017, 14 U 5/16, Rn. 111 (juris) (zu § 60 EEG 2014); Hess. VGH v. 13. 9. 2016, REE 2016, 241 (242) (zum EEG 2009). Das BVerfG hat die gegen BGH v. 25. 6. 2014, VIII ZR 169/13, gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, vgl. BVerfG v. 6. 10. 2014, 2 BvR 2015/14 (unveröffentlicht). 37 Vgl. BVerfG v. 24. 11. 2015, 2 BvR 355/12, NVwZ 2016, 606 Rn. 38 (FinDAG-Umlage); BVerfGE 124, 235 (243).
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pflichten ohne Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand auferlegen, nicht anwendbar. Die (zusätzliche) Einordnung einer Regelung als „Preisregelung“, die etwa im Fall der EEG-Umlage hoch umstritten ist (unten III. 4. a)), stellt daher keine notwendige Voraussetzung für die Nichtanwendbarkeit der für Finanzierungssonderabgaben geltenden Anforderungen dar. Entscheidend ist allein die fehlende Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand. Aus der Nichtanwendbarkeit der Anforderungen an Finanzierungssonderabgaben kann jedoch nicht gefolgert werden, dass der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Verantwortungsbeziehung auch nicht mit einem an die Besonderheiten der jeweiligen hoheitlichen Regelung angepassten Inhalt zur Anwendung kommen könnten.38 Lediglich für Preisregelungen in einem engen Sinn, die im Wesentlichen der angemessenen Ausgestaltung von Leistung und Gegenleistung dienen, sind der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Verantwortungsbeziehung auch in abgewandelter Form nicht anwendbar.39 Auf sonstige hoheitliche Regelungen finanzieller Leistungspflichten oder Naturalleistungspflichten Privater ohne Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand sind der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Verantwortungsbeziehung hingegen grundsätzlich anwendbar (oben II. 1.). Nur für diese Abgrenzung kommt der Einordnung einer Regelung als „Preisregelung“ Bedeutung zu, wobei der Begriff „Preisregelung“ im Hinblick auf dieses Erkenntnisziel zu konkretisieren ist. Der damit aufgeworfenen Frage nach Anwendbarkeit und Inhalt des Grundsatzes der Belastungsgleichheit und des Kriteriums der Verantwortungsbeziehung soll in der Folge speziell für Umlagen nachgegangen werden. III. Der Grundsatz der Belastungsgleichheit im Falle von Umlagen 1. Umlagen Der Begriff der Umlage ist weder gesetzlich definiert noch gerichtlich geklärt. Im vorliegenden Zusammenhang wird folgendes Verständnis zugrunde gelegt:40 Umlagen sind vertraglich vereinbarte Geldleistungen zwischen Privaten, die ein Unternehmen von seinen Vertragspartnern vereinnahmt, um bestimmte hoheitlich begründete Belastungen – Ausgaben bzw. Mindereinnahmen – zu finanzieren. Umlagen sind damit Bestandteil eines zwei- oder mehrstufigen Regelungskontextes, der neben der Umlagepflicht auch finanzielle Belastungen des Umlageempfängers umfasst. Die Zahlungsflüsse begründen keine Aufkommenswirkung zugunsten der öffentli38
A.A. offenbar Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 253 f. Im Ergebnis ähnlich Rheker (Fn. 29), S. 97. 40 Ähnlich bereits Agora Energiewende, Neue Preismodelle für Energie, April 2017, S. 54, abrufbar unter www.agora-energiewende.de. Vgl. auch Böwing, in: Weyer (Hrsg.), Energienetze, EEG und Energiewende, 2014, S. 79, 80 ff., der zwischen direkten und verdeckten Umlagen unterscheidet. 39
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chen Hand. Die Höhe der Umlage ist so bemessen, dass die Gesamteinnahmen aus der Umlage im Wesentlichen der Höhe der zu finanzierenden Ausgaben bzw. Mindereinnahmen entsprechen. Anders als ein Entgelt ist die Umlage daher nicht an dem Wert einer vom Umlagepflichtigen empfangenen Leistung ausgerichtet.41 Umlagen haben im Energierecht zunehmend Verbreitung gefunden. Dem hier verwendeten Umlagebegriff unterfallen im Strombereich insbesondere die EEG-Umlage (§§ 60 ff. EEG 2017), die KWKG-Umlage (§§ 26 ff. KWKG), die Offshore-Haftungsumlage (§ 17f EnWG), die § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage (§ 19 Abs. 2 S. 13 – 16 StromNEV) sowie die AbLaV-Umlage (§ 18 AbLaV). Im Gasbereich sind insbesondere die Biogasumlage (§ 20b GasNEV), die Bilanzierungsumlagen (§ 20 Abs. 1b EnWG i.V.m. § 8 Abs. 6 GasNZV und § 16 Anlage 4 Kooperationsvereinbarung Gas42), die Marktraumumstellungsumlage (§ 19a Abs. 1 EnWG i.V.m. § 8 Abs. 6 GasNZV und §§ 9 f. der Kooperationsvereinbarung Gas) sowie die Konvertierungsumlage (§ 20 Abs. 1b EnWG i.V.m. § 8 Abs. 6 GasNZV und §§ 19 ff. Anlage 4 Kooperationsvereinbarung Gas) zu nennen. Ein wichtiger Grund für die Attraktivität solcher Umlagesysteme dürfte darin liegen, dass ihre Wirkung als Kostenverteilungsmechanismus in der Regel weniger deutlich wahrgenommen wird als im Falle öffentlicher Abgaben und sie daher auf geringeren Widerstand stoßen.43 2. Meinungsstand In der Literatur wird teilweise die Einordnung der EEG-Umlage als Finanzierungssonderabgabe oder zumindest die entsprechende Anwendung der hierfür geltenden Anforderungen befürwortet.44 Eine nähere Auseinandersetzung mit diesen Auffassungen wie auch mit der Entscheidungspraxis von Kommission und Europäischem Gericht zum Beihilfencharakter der EEG-Förderung45 kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Vielmehr wird in der Folge davon ausgegangen, dass eine Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand im Falle der EEG-Umlage und ähnlich ausgestalteter Umlagesysteme nicht gegeben ist, da das Umlageaufkommen nicht in einen öffentlichen Fonds fließt oder sonst der Verfügungsgewalt der öffent-
41
Dies schließt nicht aus, dass eine Umlage im konkreten Fall als Teil eines Entgelts einzuordnen sein kann, vgl. zur § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage unten III. 4. b). 42 Kooperationsvereinbarung zwischen den Betreibern von in Deutschland gelegenen Gasversorgungsnetzen, Änderungsfassung v. 27. 10. 2017, abrufbar unter www.bdew.de. 43 Vgl. auch Böwing (Fn. 40), S. 79, 88 ff., der auf die „Visibilität“ von Umlagen abstellt und weiter zwischen expliziten und impliziten Umlagen unterscheidet. 44 Vgl. etwa Manssen, GewArch Beilage WiVerw 4/2012, 170 (186); Rheker (Fn. 29), S. 147 ff.; jedenfalls in Bezug auf die EEG-Umlagepflicht bei Eigenversorgung auch Brahms/ Maslaton, NVwZ 2014, 760 (763). Kritisch auch Kube/Palm/Seiler, NJW 2003, 927 (929 f.); Büdenbender, DÖV 2016, 712 (722). 45 Kommission v. 25. 11. 2014, Staatliche Beihilfe SA.33995 (2013/C) (ex 2013/NN); Bestätigung durch EuG v. 10. 5. 2016, Rs. T-47/15 (Deutschland/Kommission).
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lichen Hand unterliegt.46 Bei den o.g. Umlagen finden der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Finanzierungsverantwortung in ihrer Ausgestaltung für Finanzierungssonderabgaben daher keine Anwendung. Ob der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Verantwortungsbeziehung als Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes mit eigenständigem Inhalt anwendbar sind, haben BGH und BVerfG bislang nicht, jedenfalls nicht explizit, beantwortet. Vielmehr ordnete der BGH die gesetzlichen Vorgaben zur Höhe der auf den jeweiligen Stufen des Abwälzungsmechanismus gezahlten Vergütungen bzw. Kostenerstattungen als (mehrstufige) gesetzliche Preisregelungen für Rechtsbeziehungen zwischen Privaten ein und erfasste damit insbesondere auch die Vorgaben zur EEG-Umlage. Eine direkte oder analoge Anwendung der Anforderungen an Finanzierungssonderabgaben sei ausgeschlossen. Solche Preisregelungen müssten lediglich den übrigen formellen und materiellen Voraussetzungen des Grundgesetzes und insbesondere den Grundrechten entsprechen, wobei der BGH keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG oder andere Grundrechte sah.47 Das BVerfG hat die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.48 Die Anwendung des Grundsatzes der Belastungsgleichheit und des Kriteriums der Verantwortungsbeziehung wird allerdings teilweise auch außerhalb öffentlicher Abgaben ausdrücklich befürwortet. Dies gilt sowohl für die EEG-Umlage49 als auch für die KWKG-Umlage.50 Zudem halten auch die Autoren, die die – direkte oder entsprechende – Anwendung der Rechtsprechung zu Finanzierungssonderabgaben auf die EEG-Umlage befürworten, eine Verantwortungsbeziehung ersichtlich für erforderlich. Eine nähere Prüfung des Inhalts von Belastungsgleichheit und Verantwortungsbeziehung, insbesondere im Hinblick auf mögliche Abweichungen von den Anforderungen an Finanzierungssonderabgaben, ist bislang allerdings kaum erfolgt. 3. Grundsätzliche Anwendbarkeit des Grundsatzes der Belastungsgleichheit für Umlagen Im Ergebnis spricht viel für die grundsätzliche Anwendbarkeit des Grundsatzes der Belastungsgleichheit auf hoheitliche Vorgaben für Umlagen. Wie ausgeführt verlangt der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG eine Begründung für die Auswahl des durch hoheitlich geregelte finanzielle Leistungspflichten oder Naturalleistungspflichten belasteten Personenkreises, wobei die Begründung ggf. auch im 46
So etwa auch Begründung RegE zum EEG 2014, BR-Drs. 157/14, S. 152 f.; Kahl/Bews (Fn. 27), S. 63 ff.; Gawel, DVBl. 2013, 409 (410 ff.). 47 BGHZ 201, 355 Rn. 20 ff.; vgl. auch BGH v. 10. 1. 2017, VIII ZR 14/16, REE 2017, 69 Rn. 5 (jeweils zur EEG-Umlage nach § 37 Abs. 2 EEG 2012). 48 BVerfG v. 6. 10. 2014, 2 BvR 2015/14 (unveröffentlicht). 49 v. Stockhausen (Fn. 6), S. 578 ff., 727 ff. 50 Burgi, DVBl. 2008, 1205 (1212 f.).
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Rahmen der Freiheitsgrundrechte geprüft werden kann. Keine Anwendung findet der Grundsatz der Belastungsgleichheit allerdings, wenn die hoheitlichen Regelungen der jeweiligen Umlage im Wesentlichen auf die angemessene Ausgestaltung von Leistung und Gegenleistung zwischen Privaten zielen, also nicht maßgeblich der Finanzierung öffentlicher Aufgaben dienen (oben II. 1.). Dies gilt in besonderem Maße, wenn Gruppen Privater durch Umlagen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden, die andernfalls durch Steuern oder sonstige öffentliche Abgaben zu finanzieren gewesen wären. Zwar schließt das Finanzverfassungsrecht weder die Begründung finanzieller Leistungspflichten Privater durch öffentliche Abgaben außerhalb der Art. 105 ff. GG aus51 noch (erst recht) außerhalb des öffentlichen Abgabenrechts insgesamt.52 Doch bedarf es jedenfalls auch hier einer Rechtfertigung für die Heranziehung des belasteten Personenkreises. Diese erscheint umso dringlicher, je höher das Umlagevolumen ist.53 Besonders ins Gewicht fällt die EEG-Umlage. Ihr Volumen betrug für das Jahr 2017 ca. 24 Mrd. Euro,54 gegenüber einem Volumen der Stromsteuer (mit einem ähnlichen Kreis der Belasteten) von (nur) ca. 6,6 Mrd. Euro55 und einem Gesamthaushaltsvolumen des Bundes von ca. 329 Mrd. Euro56. Für einen durchschnittlichen Haushalt mit einem jährlichen Stromverbrauch von 3.500 kWh ergab sich eine Belastung durch die EEG-Umlage in Höhe von ca. 241 Euro pro Jahr, entsprechend 23,5 % der Gesamtstromkosten des Haushaltes, gegenüber ca. 72 Euro pro Jahr für die Stromsteuer, entsprechend 7,0 % der Gesamtstromkosten.57 Die Höhe der Belastung ist hierbei, ebenso wie im Falle der Stromsteuer, grundsätzlich unabhängig von der 51 BVerfG v. 16. 7. 2012, 1 BvR 2983/10, NVwZ 2012, 1535 (1537) Rn. 24; BVerfGE 108, 1 (15). 52 BVerfG v. 9. 1. 1996, 2 BvL 12/95, NJW 1997, 573 (573 f.); BVerfGE 114, 196 (249 f.); BGH v. 12. 11. 2015, I ZR 167/14, WRP 2016, 985 Rn. 100 (Abschlagspflicht II). 53 In diese Richtung auch (zur Anwendbarkeit der Sonderabgaben-Rechtsprechung auf die EEG-Umlage) Haucap/Klein/Kühling, Die Marktintegration der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, 2013, S. 45. 54 Vgl. ÜNB, Prognose der EEG-Umlage 2017 nach AusglMechV v. 14. 10. 2016, S. 15, abrufbar unter https://www.netztransparenz.de/portals/1/Content/EEG-Umlage/EEG-Umlage% 202017/20161014_Veroeffentlichung_EEG-Umlage_2017.pdf. Nach einer Kurzstudie des IW könnten die Differenzkosten im Jahr 2025 auf ca. 25 bis 33 Mrd. E steigen, vgl. IW, EEG 2017: Eine Kostenabschätzung, Oktober 2016, S. 10 ff., abrufbar unter https://www.iwkoeln. de/_storage/asset/306251/storage/master/file/10727830/download/Kurzgutachten_EEG_2017. pdf. Gemäß der Mittelfristprognose der ÜNB erreicht die Gesamthöhe der Umlagezahlungen bis 2022 ca. 26 Mrd. Euro, vgl. ÜNB, Mittelfristprognose 2018 bis 2022 v. 16. 10. 2017, abrufbar unter https://www.netztransparenz.de/EEG/Mittelfristprognosen/Mittelfristprognose2018 – 2022. 55 Vgl. Arbeitskreis „Steuerschätzungen“, Mai 2017, S. 6, abrufbar unter https://www.bun desfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/Steuerschaetzungen_ und_Steuereinnahmen/Steuerschaetzung/2017 - 05 - 12-ergebnisse-151-sitzung-steuerschaet zung-dl.pdf?__blob=publicationFile&v=2. 56 Vgl. § 1 Abs. 1 Haushaltsgesetz 2017. 57 Vgl. BDEW, Strompreisanalyse Mai 2017, S. 15 ff., abrufbar unter www.bdew.de.
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wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Umlagepflichtigen, während diese insbesondere im Einkommensteuerrecht maßgeblich für die Belastungsgleichheit ist. Soweit eine Prüfung erforderlich ist, ob die Belastung des ausgewählten Personenkreises gerechtfertigt ist, liegt ein Rückgriff auf das Kriterium der Verantwortungsbeziehung nahe. Wie ausgeführt, hat das BVerfG dieses bereits in anderen Fällen bei finanziellen Leistungspflichten wie auch Naturalleistungspflichten außerhalb der öffentlichen Abgaben herangezogen (oben II. 1.). Ähnlich stellt das BVerfG für Sozialversicherungsbeiträge unter Hinweis auf die besondere Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zwar fest, dass die spezifischen Anforderungen an Sonderabgaben keine Anwendung finden.58 Doch bedürften weitere, auf Ausgleich und Umverteilung angelegte Abgabebelastungen im Hinblick auf die Belastungsgleichheit der Bürger einer besonderen Rechtfertigung. Eine solche Rechtfertigung könne sich aus spezifischen Solidaritäts- oder Verantwortlichkeitsbeziehungen zwischen Zahlungsverpflichteten und Versicherten ergeben, die in den Lebensverhältnissen, wie sie sich geschichtlich entwickelt haben und weiter entwickeln, angelegt sind. Solche Beziehungen, die von einer besonderen Verantwortlichkeit geprägt sind, könnten z. B. aus auf Dauer ausgerichteten, integrierten Arbeitszusammenhängen oder aus einem kulturgeschichtlich gewachsenen besonderen Verhältnis gleichsam symbiotischer Art entstehen.59 Erst recht findet das Kriterium der Verantwortungsbeziehung in seiner dortigen besonderen verfassungsgerichtlichen Ausprägung Anwendung, wenn Umlagen in Form von Finanzierungssonderabgaben erhoben werden.60 4. Beispiele a) EEG-Umlage Mittels der EEG-Umlage werden die Kosten gedeckt, die den Netzbetreibern für die Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien durch Marktprämie (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 EEG 2017), Einspeisevergütung (§ 19 Abs. 1 Nr. 2 EEG 2017), Mieterstromzuschlag (§ 19 Abs. 1 Nr. 3 EEG 2017) und Flexibilitätszahlungen (§ 50 EEG 2017) entstehen. Sie dient damit den Zwecken des EEG, insbesondere im Interesse des Klima- und Umweltschutzes eine nachhaltige Entwicklung der Energieversorgung zu ermöglichen, die volkswirtschaftlichen Kosten der Energieversorgung auch durch die Einbeziehung langfristiger externer Effekte zu verringern, fossile Energieressourcen zu schonen und die Weiterentwicklung von Technologien zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien zu fördern (§ 1 Abs. 1 EEG
58
BVerfGE 75, 108 (147 f.). BVerfGE 75, 108 (158 f.). 60 BVerfGE 109, 64 (88 f.) (Mutterschaftsgeld); BVerfGE 113, 128 (150) (Solidarfonds Abfallrückführung); BVerfG v. 24. 11. 2015, 2 BvR 355/12, NVwZ 2016, 606 Rn. 36 ff. (FinDAG-Umlage). 59
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2017). Damit trägt sie zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben vor allem im Bereich des Klima- und Umweltschutzes bei.61 Zugleich dienen die gesetzlichen Vorgaben für die EEG-Umlage nicht im Wesentlichen der angemessenen Ausgestaltung eines Gegenleistungsverhältnisses, so dass hierin kein tragfähiger Belastungsgrund gesehen werden kann. Zwar wirkt sich die EEG-Umlage im Bereich privatautonom vereinbarter Leistungsbeziehungen aus, so dass es an einer Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand fehlt (dazu oben II. 2., III. 2.). Die EEG-Umlage kann aber nicht als Gegenleistung für den bezogenen Strom angesehen werden. Die Energieversorgungsunternehmen, die Strom an Letztverbraucher liefern, erhalten vom Übertragungsnetzbetreiber im Rahmen der finanziellen Wälzung keine Stromlieferung (mehr).62 Auch als Gegenleistung für die Übernahme der Vermarktung durch die ÜNB kann die EEG-Umlage nicht angesehen werden, da sie nach ihrem Grundkonzept an den Finanzierungsbedarf der EEG-Förderung anknüpft und nicht (nur) an die Vermarktungskosten.63 Zudem übernehmen die ÜNB im Regelfall (d. h. Direktvermarktung) nicht mehr die Vermarktung der EEG-Strommengen. Auch wenn anstelle des Energieversorgungsunternehmens auf den Letztverbraucher abgestellt wird, für dessen Belieferung das Energieversorgungsunternehmen EEG-Umlage zu entrichten hat und an den es die Belastung in aller Regel weitergibt, fehlt es an einer Gegenleistung. Ein Gegenleistungsverhältnis erscheint bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Zahlungspflicht weder physikalisch noch kaufmännisch an die Herkunft des Stroms aus erneuerbaren Energien anknüpft, sondern an den Finanzierungsbedarf der EEG-Förderung. Darüber hinaus scheidet eine Gegenleistung für bezogenen Strom jedenfalls bei Eigenversorgern aus, soweit diese nach § 61 Abs. 1 Nr. 1 EEG 2017 die EEG-Umlage auch für den Verbrauch von eigenerzeugtem, also nicht von Dritten bezogenem Strom zu leisten haben.64 Energieversorgungsunternehmen, die Strom an Letztverbraucher liefern, erhalten allerdings im Gegenzug das Recht, den gelieferten Strom nach § 78 Abs. 1 EEG 2017 anteilig als „Erneuerbare Energien, finanziert aus der EEG-Umlage“ zu kennzeichnen. Auch das Verständnis der EEG-Umlage als Gegenleistung für die Einräumung des Kennzeichnungsrechts nach § 78 EEG 2017 ist jedoch problematisch.65 Bei dem Kennzeichnungsrecht handelt es sich weder um eine Leistung des Übertragungsnetzbetreibers noch eines vorgelagerten Netzbetreibers oder Anlagenbetreibers, sondern um ein gesetzlich eingeräumtes Recht, so dass ein Gegenleistungsverhältnis bereits 61
Kahl/Bews (Fn. 27), S. 53 ff.; in diesem Sinne auch BGHZ 201, 355 Rn. 18, 25. Waldhoff/Roßbach, GewArch Beilage WiVerw Nr. 1/2014, 1 (6); Salje, EEG, 8. Aufl. 2017, § 60 Rn. 2; Rheker (Fn. 29), S. 102 f. 63 A.A. Begr. RegE, BR-Drs. 157/14, S. 245 (zu § 74 EEG 2014). 64 Vgl. auch Riedel/Weiss, EnWZ 2013, 402 (407); Panknin, EnWZ 2014, 13 (18). 65 Rheker (Fn. 29), S. 103 f.; vgl. auch Kommission, Beschl. (EU) 2015/1585 v. 25. 11. 2014, ABl. EU Nr. L 250 v. 25. 9. 2015, S. 122 Rn. 232. A.A. aber etwa Begründung RegE, BR-Drs. 157/14, S. 245 (zu § 74 EEG 2014); Posser/Altenschmidt, in: Frenz/Müggenborg/ Cosack/Hennig/Schomerus (Hrsg.), EEG, 5. Aufl. 2018, § 78 Rn. 1. 62
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aus diesem Grunde zweifelhaft erscheint. Zudem liegt in der EEG-Umlage jedenfalls deshalb keine Gegenleistung für die Einräumung des Kennzeichnungsrechts, weil die Höhe der Umlage nicht am Wert des Kennzeichnungsrechts (das gemäß § 78 Abs. 2 S. 2 EEG 2017 zudem nicht getrennt weiter vermarktet werden kann) ausgerichtet ist, sondern an dem Finanzierungsbedarf der EEG-Förderung. Wird anstelle des Energieversorgungsunternehmens auf den Letztverbraucher abgestellt, für dessen Belieferung das Energieversorgungsunternehmen EEG-Umlage zu entrichten hat und an den es die Belastung in aller Regel weitergibt, so erhält dieser ohnehin kein Kennzeichnungsrecht. Im Falle von Eigenversorgern schließlich, die nach § 61 EEG 2017 die volle oder anteilige EEG-Umlage zahlen müssen, ist ihr eigenerzeugter Strom nach § 78 Abs. 6 EEG 2017 anteilig als „Strom aus erneuerbaren Energien, finanziert aus der EEG-Umlage“ anzusehen. Wiederum aber erscheint bereits eine Leistung des Übertragungsnetzbetreibers oder eines vorgelagerten Wirtschaftsteilnehmers zweifelhaft und fehlt es jedenfalls an dem Gegenleistungscharakter der EEG-Umlage, da diese am Finanzierungsbedarf der EEG-Förderung und nicht am Wert des Kennzeichnungsrechts ausgerichtet ist. Im Ergebnis handelt es sich bei den Vorgaben zur EEG-Umlage daher um eine hoheitliche Regelung, die finanzielle Leistungspflichten Privater zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben festlegt, nicht aber der angemessenen Ausgestaltung eines Gegenleistungsverhältnisses dient. Aus den o.g. Gründen sollten daher der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Verantwortungsbeziehung Anwendung finden. Hierbei können allerdings nicht einfach die Anforderungen an öffentliche Abgaben, insbesondere Finanzierungssonderabgaben, übertragen werden. b) § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage Mittels der § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage werden die Kosten gedeckt, die den Netzbetreibern durch entgangene Erlöse aufgrund individueller Netzentgelte nach § 19 Abs. 2 S. 1 und 2 StromNEVentstehen, vgl. § 19 Abs. 2 S. 15 StromNEV. Hierbei regelt § 19 Abs. 2 S. 1 StromNEV ein reduziertes Netzentgelt im Falle sog. atypischer Netznutzung, d. h. nur außerhalb der Zeiten der höchsten Netzauslastung. § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV regelt ein reduziertes Netzentgelt für stromintensive Verbraucher mit einer Benutzungsstundenzahl von mindestens 7.000 Stunden und einem Stromverbrauch an der betreffenden Abnahmestelle von mehr als 10 GWh pro Kalenderjahr. Durch die individuellen Netzentgelte nach § 19 Abs. 2 S. 1 und 2 StromNEV soll eine verursachungsgerechte Belastung der betroffenen Netznutzer mit Netzentgelten erzielt werden.66 Allerdings lässt sich insbesondere für § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV eine weitergehende wirtschafts- und umweltpolitische Motivation nicht ausschließen, da die Regelung der Abwanderung stromintensiver Unternehmen 66 Winkler, in: Kment (Hrsg.), EnWG, 2015, § 24 Rn. 11; zu § 9 Abs. 2 S. 2 StromNEV z. B. auch Wirtschaftsausschuss des Bundestages, BT-Drs. 16/12898, S. 21; Bundesregierung, BR-Drs. 447/13, S. 15 f.; BNetzA und LRegB, Gemeinsames Positionspapier zur Betriebskostenkalkulation im physikalischen Pfad nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV, 2016, S. 4.
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und der zugehörigen Wertschöpfung und Arbeitsplätze, noch dazu möglicherweise in Länder mit weniger strengen Klima- und Umweltschutzregelungen, entgegenwirkt.67 Die § 19 StromNEV-Umlage fördert aus diesem Blickwinkel (auch) den Erhalt von Wirtschaftsleistung und Arbeitsplätzen sowie den Klima- und Umweltschutz als öffentliche Aufgaben. Anders als die EEG-Umlage steht die § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage in engem Zusammenhang mit der Netznutzung und daher mit einer Leistung des Netzbetreibers. Zwar lässt sich die § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage keiner gesonderten Leistung zuordnen, sondern ist an dem Finanzierungsbedarf zur Deckung der Erlösausfälle aufgrund individueller Netzentgelte nach § 19 Abs. 2 S. 1 und 2 StromNEVausgerichtet.68 Es handelt sich jedoch um eine Folgeregelung zu der – primär auf eine verursachungsgerechte Bepreisung der Netznutzung durch die entlasteten Netznutzer gerichteten – Einräumung individueller Netzentgelte. Die § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage zielt daher – gemeinsam mit den Netzentgelten nach § 17 Abs. 1 StromNEV (Netzentgelte i. e.S.) und weiteren netzentgeltbezogenen Umlagen wie der AbLaV-Umlage – auf eine angemessene Verteilung der Netzkosten auf die verschiedenen Netznutzer. Im wirtschaftlichen Ergebnis wird die Belastung der einzelnen Netznutzer mit Netzkosten in einem zweistufigen Prozess bestimmt: Ermittlung der Netzentgelte nach § 17 Abs. 1 StromNEV und Umverteilung der Netzentgeltausfälle aufgrund der Sonderregelung des § 19 Abs. 2 StromNEV. Ein solches Verständnis kommt auch in der Argumentation zur früheren vollständigen Netzentgeltbefreiung bei gleichzeitiger Umlagepflicht nach § 19 Abs. 2 StromNEV zum Ausdruck, derzufolge aufgrund der Umlagepflicht keine Totalbefreiung von den Netzentgelten vorlag.69 Dem Verständnis der § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage als einer Regelung, die im Wesentlichen der angemessenen Ausgestaltung eines Gegenleistungsverhältnisses dient, steht nicht entgegen, dass bei der Verteilung der Netzkosten unter den verschiedenen Netznutzern auch wirtschafts- und umweltpolitische Zielsetzungen Berücksichtigung finden. Derartige Erwägungen können bei der angemessenen Ausgestaltung eines Gegenleistungsverhältnisses berücksichtigt werden, ohne dass damit das Gegenleistungsverhältnis seine Tragfähigkeit als Belastungsgrund verlöre.70 Im Fall der § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage ist die Prüfung einer besonderen Verantwortungsbeziehung zur Begründung der Umlagepflicht daher nicht erforderlich.
67
(56). 68
Beste/Kuck, EnWZ 2013, 195 (200); sehr weitgehend Ernst/Koenig, EnWZ 2012, 51
Vgl. auch Ernst/Koenig, EnWZ 2012, 51 (56). Vgl. dazu auch Böwing (Fn. 40), S. 79, 85, 90 f. 70 Vgl. auch BVerfGE 114, 196 (244 ff.) zur Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen durch Zwangsrabatte im Pharmasektor. 69
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5. Inhalt des Grundsatzes der Belastungsgleichheit in Bezug auf Umlagen Näherer Ausgestaltung bedürfen die Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Belastungsgleichheit im Falle von Umlagen zwischen Privaten zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben ergeben. Wie ausgeführt gelten die Anforderungen an Finanzierungssonderabgaben weder direkt noch entsprechend, weil ein Konkurrenzverhältnis zur Steuer nicht in gleicher Weise besteht. Daher ist auch eine Gefährdung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung und des parlamentarischen Budgetrechts nicht in gleicher Weise zu befürchten, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass die Wahl einer Regelung außerhalb des Finanzverfassungsrechts Bedeutung für die zur Verfügung stehenden Gesetzgebungskompetenzen und die (Nicht-)Aufnahme in den Haushaltsplan hat. Zu der damit erforderlichen eigenständigen Ausgestaltung der Anforderungen an Umlagen können vorliegend nur erste Überlegungen angestellt werden. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur EEG-Umlage wendet den Grundsatz der Belastungsgleichheit primär auf öffentliche Abgaben an, so dass sich ihr nur wenige Hinweise auf seinen möglichen Inhalt bei Umlagen zwischen Privaten entnehmen lassen. Die Rechtsprechung des BVerfG zu finanziellen Leistungspflichten außerhalb öffentlicher Abgaben (insbesondere Zuschusspflicht zum Mutterschaftsgeld sowie Freistellungs- und Entgeltfortzahlungspflicht bei Tätigkeit in der Jugendarbeit, oben II. 1.) legt aber jedenfalls nahe, dass das Kriterium der Verantwortungsbeziehung weit zu verstehen ist. Demgegenüber lehnen sich Aussagen in der Literatur stark an die – strengeren – Anforderungen an Finanzierungssonderabgaben (oben I. 2.) an.71 So wird dem Grundsatz der Belastungsgleichheit für die EEG-Umlage teilweise entnommen, dass eine Verantwortungsbeziehung sich insbesondere aus der Verursachung des Aufwands durch die belastete Personengruppe oder aus einem besonderen Nutzen der Aufgabenerfüllung für diese Gruppe ergeben kann.72 Dies steht dem Verständnis der Finanzierungsverantwortung im Falle von Finanzierungssonderabgaben nahe. Ebenso wird auch das Kriterium der Gruppenhomogenität teilweise für erforderlich gehalten.73 Nach hiesigem Verständnis verlangt die Rechtfertigung im Hinblick auf den Grundsatz der Belastungsgleichheit zunächst einen Sachgrund der Umlage in Form der Finanzierung einer bestimmten öffentlichen Aufgabe, nicht also nur des allgemeinen Ziels der Entlastung der öffentlichen Haushalte durch Heranziehung Privater. Die Umlagepflichtigen müssen außerdem in einer hinreichenden Verant71
v. Stockhausen (Fn. 6), S. 578 ff., 727 ff.; vgl. auch zur KWKG-Umlage Burgi, DVBl. 2008, 1205 (1212 f.). 72 v. Stockhausen (Fn. 6), S. 727 ff., 746 ff. 73 v. Stockhausen (Fn. 6), S. 589, 736 f.; ähnlich zur KWKG-Umlage Burgi, DVBl. 2008, 1205 (1213).
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wortungsbeziehung zu der zu finanzierenden öffentlichen Aufgabe stehen (oben III. 3.). Im Falle von Finanzierungssonderabgaben verlangt das BVerfG, dass es sich bei dem belasteten Personenkreis um eine vorgefundene homogene Gruppe in dem Sinne handeln muss, dass die Abgabepflichtigen hinsichtlich gemeinsamer oder annähernd gemeinsamer, durch Rechtsordnung und gesellschaftliche Wirklichkeit geprägter Interessen und Gegebenheiten von der Allgemeinheit und anderen Gruppen abgrenzbar sind.74 Damit ist es dem Gesetzgeber verwehrt, für eine beabsichtigte Abgabenerhebung beliebig Gruppen nach Gesichtspunkten, die nicht in der Rechts- und Sozialordnung materiell vorgegeben sind, normativ zu bilden.75 Die homogenitätsstiftende Gemeinsamkeit muss vielmehr eine vorgegebene sein und darf nicht erst durch die Abgabenregelung selbst begründet werden.76 Diese Anforderung ergibt sich nicht bereits aus dem Gleichheitssatz nach Art. 3 GG, sondern stellt eine zusätzliche Einschränkung dar. Sie soll verhindern, dass der Gesetzgeber die finanzverfassungsrechtlichen Grundentscheidungen des Grundgesetzes unterläuft.77 Im Falle von Umlagen zwischen Privaten ist eine solche, über den Gleichheitssatz hinausgehende Einschränkung mangels vergleichbarem Konkurrenzverhältnis zur Steuer nicht begründbar.78 Daher kann die belastete Personengruppe auch durch die Umlageregelung selbst gebildet werden, sofern für (annähernd) alle Gruppenmitglieder eine Verantwortungsbeziehung zu der zu finanzierenden öffentlichen Aufgabe besteht. Nicht ausgeschlossen erscheint daher insbesondere die Belastung aller Stromverbraucher mit der EEG-Umlage, da sie das Stromversorgungssystem als Ganzes, d. h. einschließlich der konventionellen Stromerzeugung, in Anspruch nehmen. Dies gilt auch für Eigenversorger, die das Stromversorgungssystem zumindest zur Absicherung in Anspruch nehmen. Aus den vorstehenden Gründen steht dem auch nicht entgegen, dass das BVerfG die Stromverbraucher in der sog. Kohlepfennig-Entscheidung im Falle einer Finanzierungssonderabgabe nicht als homogene Gruppe anerkannt hatte.79 Nicht erforderlich erscheint schließlich auch die für Finanzierungssonderabgaben geltende Anforderung, dass das Zahlungsaufkommen gruppennützig verwendet werden muss. Wenn die Auswahl der Umlagepflichtigen durch eine Verantwortungsbeziehung getragen wird, so ist keine Grundlage für weitergehende Anforderungen hinsichtlich eines Nutzens für diesen Personenkreis ersichtlich. Zudem hat das BVerfG auch im Falle von Finanzierungssonderabgaben eine gruppennützige Verwendung bereits dann anerkannt, wenn die Gruppe von einer ihrem Verantwortungsbereich zu74
BVerfGE 135, 155 Rn. 123 (Filmabgabe). BVerfGE 55, 274 (306) (Berufsausbildungsabgabe). 76 BVerfGE 135, 155 Rn. 123 (Filmabgabe); vgl. auch BVerfG v. 24. 11. 2015, 2 BvR 355/ 12, NVwZ 2016, 606 Rn. 23 (FinDAG-Umlage). 77 BVerfGE 55, 274 (307) (Berufsausbildungsabgabe). 78 A.A. v. Stockhausen (Fn. 6), S. 628 ff., 631 f., 831 f. 79 BVerfGE 91, 186 (205 f.) (Kohlepfennig). 75
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zurechnenden Aufgabe entlastet wird (oben I. 2.). Daher ist die eigenständige Bedeutung dieses Kriteriums ohnehin zweifelhaft.80 IV. Ergebnisse 1. Der Grundsatz der Belastungsgleichheit findet im gesamten Bereich öffentlicher Abgaben Anwendung. Die daraus resultierenden Anforderungen sind je nach Abgabenart und ggf. Sachverhaltskonstellation unterschiedlich. Er kann eine Verantwortungsbeziehung des Belasteten zu der zu finanzierenden öffentlichen Aufgabe erfordern. Dies gilt insbesondere im Falle von Finanzierungssonderabgaben. 2. Der Grundsatz der Belastungsgleichheit als Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes kann auch außerhalb öffentlicher Abgaben Anwendung finden. Voraussetzung ist, dass die hoheitlichen Vorgaben zu finanziellen Leistungspflichten Privater maßgeblich der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe dienen. In diesem Fall ist eine Verantwortungsbeziehung des Belasteten zu der zu finanzierenden öffentlichen Aufgabe erforderlich. Nicht erforderlich ist dies hingegen, wenn die hoheitlichen Vorgaben im Wesentlichen der angemessenen Ausgestaltung eines Gegenleistungsverhältnisses dienen. 3. Auf hoheitliche Vorgaben zu finanziellen Leistungspflichten Privater außerhalb öffentlicher Abgaben finden die Anforderungen an Finanzierungssonderabgaben weder direkt noch entsprechend Anwendung. Vielmehr sind die Anforderungen zur Gewährleistung der Belastungsgleichheit eigenständig zu bestimmen. Dies gilt insbesondere auch für hoheitliche Vorgaben für Umlagen. 4. Beispielhaft dient die EEG-Umlage maßgeblich der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe (insbesondere Klima- und Umweltschutz), so dass der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Verantwortungsbeziehung Anwendung finden. Demgegenüber dient die § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlage im Wesentlichen der angemessenen Ausgestaltung eines Gegenleistungsverhältnisses (Bemessung des Netzentgelts), so dass der Grundsatz der Belastungsgleichheit und das Kriterium der Verantwortungsbeziehung nicht anwendbar sind. 5. Das Kriterium der Verantwortungsbeziehung ist im Falle von Umlagen, die der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe dienen, weit zu verstehen. Nicht erforderlich ist, dass eine vorgefundene homogene Gruppe belastet wird. Nicht erforderlich erscheint auch die gruppennützige Verwendung des Umlageaufkommens.
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Vgl. auch Burgi, DVBl. 2008, 1205 (1213).
Schriftenverzeichnis von Matthias Schmidt-Preuß (Stand: 24. 05. 2018) I. Monographien Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht. Das subjektive öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis („Schriften zum Öffentlichen Recht“, Band 627), Duncker & Humblot, Berlin, 2. Aufl., 2005 Substanzerhaltung und Eigentum. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Bestimmung von Netznutzungsentgelten im Stromsektor (Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität zu Köln, Band 109), Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2003 Selbstregulierung und Privatisierung in der Abfallpolitik. Zum Getrennthaltungsgebot beim Recycling gebrauchter Verkaufsverpackungen (Schriften zum deutschen und europäischen Umweltrecht, Band 25), Carl Heymanns Verlag, Köln / Berlin / Bonn / München, 2001 Rechtsfragen des Ausstiegs aus der Kernenergie. Gemeinschafts-, völker- und verfassungsrechtliche Probleme einer Novellierung des Atomgesetzes, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2000 Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht. Das subjektive öffentliche Recht im multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnis („Schriften zum Öffentlichen Recht“, Band 627), Duncker & Humblot, Berlin, 1992 Grenzen internationaler Unternehmensakquisition. Grundlagen und Fallstudien zur fusionskontrollrechtlichen „Auflösung“ von Auslandszusammenschlüssen (Schriftenreihe „Der Betrieb“), Verlagsgruppe Handelsblatt, Düsseldorf / Frankfurt, 1983 Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen (Wirtschaftsrecht und Wirtschaftspolitik, Band 51), Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 1977
II. Kommentierungen Europarechtliche Grundlagen der Energiepolitik, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 4. Auflage, 2018, Einleitung B Verfassungsrechtliche Grundlagen der Energiepolitik, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 4. Auflage, 2018, Einleitung C Verfahren zur Festlegung und Genehmigung, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 4. Auflage, 2018, § 29 Allgemeine Zuständigkeit, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 4. Auflage, 2018, § 54
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Bundesnetzagentur, Landesregulierungsbehörde und nach Landesrecht zuständige Behörde, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 4. Auflage, 2018, § 55 Organisation, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 4. Auflage, 2018, § 59 Aufgaben des Beirates, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 4. Auflage, 2018, § 60 Europarechtliche Grundlagen der Energiepolitik, in: Säcker; Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band I/1. Halbband, 3. Auflage, 2014, Einleitung B, S. 35 – 75 Verfassungsrechtliche Grundlagen der Energiepolitik, in: Säcker; Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band I/1. Halbband, 3. Auflage, 2014, Einleitung C, S. 76 – 120 Verfahren zur Festlegung und Genehmigung, in: Säcker; Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band I/1. Halbband, 3. Auflage, 2014, § 29, S. 1959 – 1981 Allgemeine Zuständigkeit, in: Säcker; Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band I/2. Halbband, 3. Auflage, 2014, § 54, S. 2645 – 2654 Bundesnetzagentur, Landesregulierungsbehörde und nach Landesrecht zuständige Behörde, in: Säcker; Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band I/2. Halbband, 3. Auflage, 2014, § 55, S. 2660 – 2662 Organisation, in: Säcker; Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band I/ 2. Halbband, 3. Auflage, 2014, § 59, S 2740 – 2745 Aufgaben des Beirates, in: Säcker; Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band I/2. Halbband, 3. Auflage, 2014, § 60, S. 2746 – 2747 Europarechtliche Grundlagen der Energiepolitik, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 2. Auflage, 2010, Einleitung B, S. 34 – 67 Verfassungsrechtliche Grundlagen der Energiepolitik, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 2. Auflage, 2010, Einleitung C, S. 68 – 104 Verfahren zur Festlegung und Genehmigung, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 1, 2. Auflage, 2010, § 29, S. 2143 – 2165 Allgemeine Zuständigkeit, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 2, 2. Auflage, 2010, § 54, S. 2877 – 2885 Bundesnetzagentur, Landesregulierungsbehörde und nach Landesrecht zuständige Behörde, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 2, 2. Auflage, 2010, § 55, S. 2887 – 2889 Organisation, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 2, 2. Auflage, 2010, § 59, S 3037 – 3043 Aufgaben des Beirates, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Energierecht, Band 2, 2. Auflage, 2010, § 60, S. 3042 – 3043
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III. Herausgeberschaften Klausurenkurs Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, Duncker & Humblot, 2016 (zusammen mit: Ludwigs, Markus) Regulierung und Gemeinwohl, Nomos Verlagsgesellschaft, 2016 (zusammen mit: Körber, Torsten) Regulierung in der Energiewirtschaft. Ein Praxishandbuch („Kölner Handbücher zum Energiewirtschaftsrecht“), 2. Auflage, Carl Heymanns Verlag, 2016 (zusammen mit: Baur, Jürgen / Salje, Peter) Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, Nomos Verlagsgesellschaft, 2015 (zusammen mit: Säcker, Franz Jürgen) Mitherausgeber der Schriftenreihe „Kartell und Regulierungsrecht“, Nomos Verlagsgesellschaft Regulierung in der Energiewirtschaft. Ein Praxishandbuch („Kölner Handbücher zum Energiewirtschaftsrecht“), Carl Heymanns Verlag, 2011 (zusammen mit: Baur, Jürgen / Salje, Peter) Mitherausgeber der Zeitschrift Recht der Energiewirtschaft (RdE), Carl Heymanns Verlag Deutscher Atomrechtstag 2008, Nomos Verlagsgesellschaft, 2009
IV. Aufsätze in Zeitschriften sowie Beiträge in Festschriften, Sammelbänden etc. Energie und Eigentum, in: Shirvani, Foroud (Hrsg.), Eigentum in der Energiewirtschaft, 2018 (im Erscheinen) Unternehmen, Staat und Grundrechte, in: Rosin, Peter/Uhle, Arnd (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Büdenbender, 2018 (im Erscheinen) Energierecht heute, RdE Sonderheft Oktober 2017, S. 3 – 9 , in: (Hrsg.), , (Nanjing), 2017 Übersetzung von: Die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, in: Festschrift für Franz Jürgen Säcker, 2011, S. 969 – 984 Fall 10: Ålands Vindkraft, in: Ludwigs, Markus / Schmidt-Preuß, Matthias (Hrsg.), Klausurenkurs Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, Berlin 2016, S. 241 – 262 Fall 16: Olivier Bernard, in: Ludwigs, Markus / Schmidt-Preuß, Matthias (Hrsg.), Klausurenkurs Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, Berlin 2016, S. 363 – 378 Das EuG-Urteil zum EEG 2012: Kein Hemmnis für die Energiewende, EurUP 2016, S. 251 – 256 Entschädigungspflicht für den Verlust von Anteilseigentum in der Insolvenz, NJW 2016, S. 1175 – 1180 (Vorfassung unter dem Titel „Eigentum und Insolvenz“ in: Brinkmann, Moritz/Shirvani, Foroud (Hrsg.), Privatrecht und Eigentumsgrundrecht, 2016, S.171 – 186)
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Einwirkungen des EU-Energierechts auf den nationalen Bereich, in: Baur, Jürgen / Salje, Peter / Schmidt-Preuß, Matthias: Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Auflage, Kap. 10, 2016, S. 115 – 137 Die Richtlinie 2005/89/EG über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitionen, in: Baur, Jürgen / Salje, Peter / SchmidtPreuß, Matthias: Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Auflage, Kap. 14, 2016, S. 182 – 190 Die Kontrolle des Verkaufs bzw. des Erwerbs von Netzen, in: Baur, Jürgen / Salje, Peter / Schmidt-Preuß, Matthias: Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Auflage Kap. 96, 2016, S. 1365 – 1399 Planung und Durchsetzung von Investitionen, in: Baur, Jürgen / Salje, Peter / Schmidt-Preuß, Matthias: Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Auflage, Kap. 106, 2016, S. 1615 – 1627 Das Stilllegungsverbot gem. §13a EnWG, in: Baur, Jürgen / Salje, Peter / Schmidt-Preuß, Matthias: Regulierung in der Energiewirtschaft, 2. Auflage, Kap. 107, 2016, S. 1628 – 1646 Das Europäische Energierecht, in: Festschrift für Hans D. Jarass, 2015, S. 115 – 131 Verfahren und materielle Anforderungsprofile – Zur Konvergenz-These am Beispiel des Energierechts –, in: Festschrift für Friedhelm Hufen, 2015, S. 539 – 552 Das Recht der Regulierung – Idee und Verwirklichung, in: Säcker, Franz Jürgen / SchmidtPreuß, Matthias (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, S. 69 – 93 Das Europäische Regulierungsrecht der Netzindustrien als inter- und intradisziplinäre Disziplin, in: Bien, Florian / Ludwigs, Markus (Hrsg.), Das europäische Kartell- und Regulierungsrecht der Netzindustrien, 2015, S. 11 – 38 U_[c_a oaYUYhVb[Yf ^Qd[, `a_eVbb_a (Phase-Out from Nuclear Energy in the Federal Republic of Germany), N^VaTVcYhVb[_V `aQS_ No. 1 – 2015 (Energy Law No. 1 – 2015), Moscow, S. 10 – 14 Energie und Umwelt – Aktuelle Entwicklungstendenzen im Zeichen von Europäisierung und Energiewende, in: Brinktrine, Ralf / Ludwigs, Markus / Seidel, Wolfgang (Hrsg.), Energieumweltrecht in Zeiten von Europäisierung und Energiewende, 2014, S. 9 – 28 Das Erneuerbare-Energien-Gesetz: Aktuelle rechtliche Fragen und Probleme, in: Festschrift für Peter Salje, 2013, S. 397 – 418 Energierecht – eine innovative wissenschaftliche Disziplin, in: Stefan Storr (Hrsg), Neue Impulse für die Energiewirtschaft – Reform des Energierechts, 2012, S. 1 – 23 Schriftliche Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestages am 11. 6. 2012, in: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestages, 17. Wahlperiode, Ausschussdrucksache 17(9) 845, S. 1 – 6 Die Konfliktschlichtungsformel – Zur Neubegründung des subjektiven öffentlichen Rechts, in: Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 1168 – 1185 Die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, in: Festschrift für Franz Jürgen Säcker, 2011, S. 969 – 984
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Einwirkungen des EU-Energierechts auf den nationalen Bereich, in: Baur, Jürgen / Salje, Peter / Schmidt-Preuß, Matthias: Regulierung in der Energiewirtschaft, 2011, Kap. 10, S. 132 – 147 Die Richtlinie 2005/89/EG über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitionen, in: Baur, Jürgen / Salje, Peter / SchmidtPreuß, Matthias: Regulierung in der Energiewirtschaft, 2011, Kap. 14, S. 196 – 206 Die Kontrolle des Verkaufs bzw. des Erwerbs von Netzen, in: Baur, Jürgen / Salje, Peter / Schmidt-Preuß, Matthias: Regulierung in der Energiewirtschaft, 2011 Kap. 89, S. 1402 – 1436 Europäische und internationale Ansätze zum Schutz kritischer IT- und Energie-Infrastrukturen, in: Kloepfer, Michael (Hrsg.): Schutz kritischer Infrastrukturen („Schriften zum Katastrophenrecht“, Bd. 3), 2010, S. 67 – 83 Deutsches Atomrecht, in: Säcker (Hrsg.): Handbuch zum deutsch-russischen Energierecht, 2010, Kap. 8, S. 763 – 793 Unbundling und Mathematik – Zum Aufsichtsorgan beim Independent Transmission Operator (ITO), et 12/2009, Heft 12, S. 74 – 75 OU – ISO – ITO: Die Unbundling-Optionen des 3. EU-Liberalisierungspakets, et 9/2009, S. 82 – 89 Das Regulierungsrecht als interdisziplinäre Disziplin – am Beispiel des Energierechts, in: Festschrift für Gunther Kühne, 2009, S. 329 – 342 Der rechtliche Rahmen für Kernkraftwerke in Deutschland, RdE 2008, S. 153 – 159 Energieversorgung als Aufgabe der Außenpolitik? – Rechtliche Aspekte, RdE 2007, S. 281 – 287 Multipolarität und subjektives öffentliches Recht, in: Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 597 – 611 Europäische Energiepolitik. Aktuelle Entwicklungen und rechtliche Aspekte, in: Festschrift für Rupert Scholz, 2007, S. 903 – 921 Regulierung – Reflexionen aus Anlass der Liberalisierung im Strom- und Gassektor, in: Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 547 – 559 Der Wandel der Energiewirtschaft vor dem Hintergrund der europäischen Eigentumsordnung, EuR 2006, S. 463 – 488 Energieversorgung, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (C.F. Müller Verlag), 3. Aufl., Bd. IV, 2006, § 93 „Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit, Grundrechte“ sowie „Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen des Unbundling“, in: Baur, Jürgen F. / Pritzsche, Kai Uwe / Simon, Stefan (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft, 2006, Kapitel 1 Rn. 59 – 80 und Kapitel 2 Brennpunkte des neuen Energiewirtschaftsgesetzes, in: Festschrift für Richard Bartlsperger, 2006, S. 573 – 586 Schwerpunktstreik und Abwehraussperrung, in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Kollektives Arbeitsrecht, case by case (UTB 2794), 2006, S. 117 – 124 Gegenwart und Zukunft des Verfahrensrechts, NVwZ 2005, S. 489 – 496
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Kalkulation und Investition in der Entgeltregulierung. Die so genannte pauschale Saldierung des § 6 Abs. 5 des Referentenentwurfs einer Stromnetzentgeltverordnung als regulatorisches und verfassungsrechtliches Problem, N&R 2005, S. 51 – 56 Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Entschädigung für Leistungen der Telekommunikations-Überwachung und der Auskunftserteilung, in: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit des Deutschen Bundestages, 15. Wahlperiode, Ausschussdrucksache 15(9)1900 (9.5. 2005), S. 92 – 101 Rechtliche Rahmenbedingungen selbstregulativer Gemeinwohlverwirklichung, in: Kirchhof, Paul (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, 2005, S. 19 – 43 Netz, Preis und Regulierung im Energiesektor – die aktuellen Entwürfe für das Energiewirtschaftsgesetz 2004 und die Netzentgelt-Verordnung Strom, N&R 2004, S. 90 – 93 Regulierung im neuen „Energiepaket“: „Philosophie“ und Netznutzungsentgelte, IR 2004, S. 146 – 148 Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien (Europarechtsanpassungsgesetz Bau – EAG Bau) aus Anlaß der öffentlichen Anhörung vor dem Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen des Deutschen Bundestages am Montag, den 8. März 2004, in: Ausschussdrucksache 15. WP, Nr. 15(14)608, S. 2 – 12 Der verfassungsrechtliche Schutz der Unternehmenssubstanz. Kernfragen der staatlichen Festsetzung von Netznutzungsentgelten im Stromsektor, et 2003, S. 758 – 764 Europäisches Gemeinschaftsrecht und deutsches Atom- und Strahlenschutzrecht, in: Rengeling, Hans-Werner (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Band II, 1. Teilband, 2. Aufl., 2003, S. 478 – 543 Menschenwürde und „Menschenbild“ des Grundgesetzes, in: Festschrift für Christoph Link, 2003, S. 921 – 942 Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts in politisch brisanten Bereichen, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 455 – 484 Perspektiven des Atomrechts – Kontinuität und Wandel, in: Pelzer, Norbert (Hrsg.), Brennpunkte des Atomrechts, 2003, S. 215 – 238 Selbstregulative Verantwortung oder staatliche Steuerung – Zur Verrechtlichung der Verbändevereinbarung –, ZNER 2002, S. 262 – 266 auch abgedruckt in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Reform des Energierechts, 2003, S. 45 – 56 Gemeinschaftskompetenz oder nationale Gestaltungsautonomie – Strukturfragen im Kontext der Energiepolitik –, in: Festschrift für Jürgen F. Baur, 2002, S. 309 – 326 Technikermöglichung durch Recht, in: Kloepfer, Michael (Hrsg.), Kommunikation – Technik – Recht, „Schriften zum Technikrecht“, Band 6, 2002, S. 175 – 202 Europarechtliche und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Energiepolitik, in: Hendler, Reinhard u. a. (Hrsg.), Energierecht zwischen Umweltschutz und Wettbewerb, Umweltund Technikrecht (UTR) Band 61, 2002, S. 27 – 69 Zur Zulässigkeit sog. Selbstentsorgergemeinschaften als Alternative zum Dualen System – Individuelle Pflichtenposition oder kollektive Selbstregulierung –, Der Betrieb 2002, S. 775 – 780
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Möglichkeiten und Grenzen der Technikumsteuerung am Beispiel des Ausstiegs aus der Kernenergie, in: Kloepfer, Michael (Hrsg.), Technikumsteuerung als Rechtsproblem – Rechtsfragen der Einführung der Gentechnik und des Ausstiegs aus der Atomenergie, „Schriften zum Technikrecht“, Band 5, 2002, S. 119 – 137 Stellungnahme zum „Entwurf eines Gesetzes zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität (Bundestags-Drucksache 14/6890)“, in: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Deutschen Bundestages, 14. Wahlperiode (Öffentliche Anhörung am 5. 11. 2001), Ausschußdrucksache 14/626, Teil 5, S. 10 – 20 Die Transformation der DDR-Wirtschaft und die offenen Vermögensfragen, in: Festschrift „Fünfzig Jahre Bundesverfassungsgericht“, 2001, S. 131 – 157 Flexible Instrumente des Umweltschutzes, in: Umweltrecht im Wandel (herausgegeben von Klaus-Peter Dolde im Auftrag des Vorstands der Gesellschaft für Umweltrecht), 2001, S. 309 – 331 Funktionsbedingungen selbstregulativer Gemeinwohlverwirklichung – Zur Recyclingzuständigkeit eines dualen Systems – , DVBl. 2001, S. 1095 – 1102 Das Allgemeine des Verwaltungsrechts, in: Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 777 – 801 Regierungskonferenz 2000 – Zur Fortentwicklung des europäischen Vertragswerks – in: Festschrift für Hartmut Schiedermair, 2001, S. 705 – 735 Stellungnahme zum „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der UVP-Änderungsrichtlinie, der IVU-Richtlinie und weiterer EG-Richtlinien zum Umweltschutz (Bundestags-Drucksache 14/4599)“, in: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Deutschen Bundestages (Öffentliche Anhörung am 24. 1. 2001), 14. Wahlperiode, A.-Drs. 14/458, Teil 2, S. 2 – 23 Steuerung durch Organisation, DÖV 2001, S. 45 – 55 Selbstregulierung im Bauordnungsrecht – das Modell Sachsen, in: Bauer, Hartmut / Breuer, Rüdiger / Degenhart, Christoph / Oldiges, Martin (Hrsg.), 100 Jahre Allgemeines Baugesetz Sachsen, 2000, S. 585 – 601 Fachplanung und subjektiv-rechtliche Konfliktschlichtung, in: Festschrift für Werner Hoppe, 2000, S. 1071 – 1098 Das Atomrecht als Referenzgebiet des Verwaltungsrechts, DVBl. 2000, S.767 – 778 Die Entwicklung des deutschen Umweltrechts als verfassungsgeleitete Umsetzung der Maßgaben supra- und internationaler Umweltpolitik, JZ 2000, S. 581 – 591 in aktualisierter Fassung auch abgedruckt in: Pitschas, Rainer / Kisa, Shigeo (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, „Schriftenreihe der Hochschule Speyer“, Band 153, 2002, S. 397 – 421 Atomausstieg und Eigentum, NJW 2000, S. 1524 – 1529 Integrative Anforderungen an das Verfahren der Vorhabenzulassung – Anwendung und Umsetzung der IVU-Richtlinie, NVwZ 2000, S. 252 – 260 in ergänzter Fassung ebenfalls abgedruckt in: Gesellschaft für Umweltrecht, Die Vorhabenzulassung nach der UVP-Änderungsund der IVU-Richtlinie (Dokumentation zur Sondertagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V.), 2000, S. 94 – 128
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Die Befristung von atomrechtlichen Genehmigungen und das Grundrecht auf Eigentum, in: Koch, Hans-Joachim / Roßnagel, Alexander (Hrsg.), 10. Deutsches Atomrechtssymposium, 2000, S. 153 – 166 Gestaltungskräfte im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Walter Leisner, 1999, S. 467 – 484 Duale Entsorgungssysteme als Spiegelbild dualer Verantwortung: Von der Verpackungsverordnung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz, in: Schuppert, Gunnar Folke (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat. Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, 1999, S. 195 – 219 Urteilsanmerkung (zu BVerwG, U.v. 24. 9. 1998 – 4 CN 2.98, E 107, 215: Antragsbefugnis bei Normenkontrolle) DVBl. 1999, S. 103 – 106 Kernenergiepolitik und Atomrecht – Brennpunkte und Entwicklungslinien, et 1998, S. 750 – 757 ebenfalls abgedruckt in: Pelzer, Norbert (Hrsg.), Die Zweckbestimmungen des Atomrechts, 1999, S. 49 – 65 Veränderungen grundlegender Strukturen des deutschen (Umwelt-)Rechts durch das „Umweltgesetzbuch I“, DVBl. 1998, S. 857 – 868 in ergänzter Fassung ebenfalls abgedruckt in: Rengeling, Hans-Werner (Hrsg.), Auf dem Weg zum Umweltgesetzbuch I, Schriften zum deutschen und europäischen Umweltrecht, Band 16, 1998, S. 119 – 150 Das neue Atomrecht, NVwZ 1998, S. 553 – 563 Private technische Regelwerke – Rechtliche und politische Fragen, in: Kloepfer, Michael (Hrsg.), Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich, 1998, S. 89 – 101 Treuhand-Verwaltung, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX, 1997, § 216 (S. 857 – 925) Normierung und Selbstnormierung aus der Sicht des Öffentlichen Rechts, ZLR 1997, S. 249 – 267 Umweltschutz ohne Zwang – das Beispiel des Öko-Audit, in: Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 1157 – 1180 Verpackungsverordnung und Kartellrecht, in: Festschrift für Otfried Lieberknecht, 1997, S. 549 – 570 Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 160 – 234 Verfassungskonflikt um die Durchleitung? – Zum Streitstand nach dem VNG-Beschluß des BGH, RdE 1996, S. 1 – 9 ebenfalls abgedruckt in: Baur, Jürgen F. (Hrsg.), Energierecht und Energiepolitik heute, 1996, S. 47 – 66 Die Gewährleistung des Privateigentums durch Art. 14 GG im Lichte aktueller Probleme. Der Mieter als Eigentümer der Wohnung? Der Arbeitnehmer als Eigentümer des Arbeitsplatzes? Erzwingung der Mitbenutzung von Transport- und Lagerkapazität gegen den Willen des Eigentümers?, Die Aktiengesellschaft 1996, S. 1 – 11 Die Umweltverträglichkeitsprüfung im deutschen Recht und in der Rechtspraxis, in: Vollkommer, Max (Hrsg.), Die Erhaltung der Umwelt als Herausforderung und Chance, Atzelsberger Gespräche 1994 (Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften, Band 72), 1995, S. 39 – 60
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Der verfahrensrechtliche Charakter der Umweltverträglichkeitsprüfung, DVBl. 1995, S. 485 – 495 Konsens und Dissens in der Energiepolitik – rechtliche Aspekte, NJW 1995, S. 985 – 992 Nachbarschutz des „Mieter-Eigentümers“?, NJW 1995, S. 27 – 29 Stellungnahme für den Finanz- und den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages zu den Änderungsanträgen der Koalititonsfraktionen zum Entwurf eines Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG), in: Stenographisches Protokoll zur Öffentlichen Anhörung am 2. 2. 1994, Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Protokoll Nr. 68 (7. Ausschuß) und Nr. 111 (6. Ausschuß), S. 351 – 369 ebenfalls abgedruckt in: Fieberg, Gerhard / Reichenbach, Harald (Hrsg.), Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (RWS-Dokumentation 16), Band II, 1995, S. 603 – 612 Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, NJW 1994, S. 3249 – 3256 Urteilsanmerkung (zu BVerwG, U.v. 16. 9. 1993 – 4 C 28.91, 94, 151: Drittschutz von § 34 BauGB), DVBl. 1994, S. 288 – 292 Beschleunigung gewerblicher Bauvorhaben nach dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz vom 22. 4. 1993, unter besonderer Berücksichtigung der neuen Bundesländer, Die Verwaltung 26 (1993), S. 489 – 513 Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz vor dem Hintergrund des Staatsvertrages zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, DVBl. 1993, S. 236 – 247 Verminderte Erwerbsfähigkeit und verschlossener Arbeitsmarkt – Zur rentenrechtlichen Problematik bei vollschichtiger Tätigkeit, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1992, S. 431 – 438 Die Treuhandanstalt und ihr gesetzlicher Auftrag, Die Verwaltung 25 (1992), S. 327 – 369 Möglichkeiten und Grenzen reduzierter Regelungsgehalte von Parallelgenehmigungen. Bemerkungen aus Anlaß des Ahaus-Urteils des BVerwG vom 11. Mai 1989, DVBl. 1991, S. 229 – 242 Das Bundeskabinett – Ein Bericht aus der Praxis, Die Verwaltung 21 (1988), S. 199 – 219 Aktuelle Streitfragen des neuen § 116 AFG, DB 1986, S. 2488 – 2495 Abschied von der Aussperrungsarithmetik – Zum Urteil des BAG vom 12. 3. 1985, BB 1986, S. 1093 – 1102 Schwellenerwerb einer 25,0 %-Beteiligung – Zum VEW-Gelsenwasser-Beschluß des BGH, DB 1983, S. 2505 – 2511 Fusionskontrolle beim Erwerb einer Sperrminorität an einer Aktiengesellschaft, DB-Beilage Nr. 12/82 (15 S.) Lohnstopp durch Zivilurteil? – BGH, NJW 1978, 2031, JuS 1979, S. 551 – 554 Plan-Programm und Verfassung – Bemerkungen zu § 1 Stabilitätsgesetz, DVBl. 1970, S. 535 – 539
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V. Buchbesprechungen und -anzeigen Schneider, Jens-Peter: Liberalisierung der Stromwirtschaft durch regulative Marktorganisation, 1999, Die Verwaltung 35 (2002), S. 575 – 578 Große-Suchsdorf, Ulrich / Lindorf, Dietger / Schmaltz, Hans Karsten / Wiechert, Reinald: Niedersächsische Bauordnung, 6. Aufl., 1996 DVBl. 1997, S. 732 – 734 Mampel: Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht – Materielles Recht, NVwZ 1996, S. 987 Wolff, Hans J. / Bachof, Otto / Stober, Rolf: Verwaltungsrecht I, 10. Aufl., 1994, NVwZ 1996, S. 465 Hoppe, Werner (Hrsg.), Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfungs (UVPG), DVBl. 1995, S. 1311 – 1313 Rengeling, Hans-Werner: Rechtsfragen zur Langzeitsicherheit von Endlagern für radioaktive Abfälle, DVBl. 1995, S. 813 – 815 Horn, Norbert: Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet, Die Verwaltung 28 (1995), S. 559 – 560 Huber, Peter Michael: Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 27 (1994), S. 414 – 417 Kämper, Norbert: Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, AöR 116 (1991), S. 167 – 168 Geist-Schell, Franz: Verfahrensfehler und Schutznormtheorie, Die Verwaltung 23 (1990), S. 123 – 126 Jung, Willi: Praxis des Unternehmenskaufs, WuW 1984, S. 720 Schmid, Hans Dieter: Arbeitskampf und Notstand aus der Sicht des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG, AöR 99 (1974), S. 353 – 354 Haller, Walter: Supreme Court und Politik in den USA. Fragen der Justiziabilität und der höchstrichterlichen Rechtsprechung, DÖV 1974, S. 142 – 143 Fiedler, Wilfried: Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, JZ 1973, S. 678 Ammermüller, Martin G.: Verbände im Rechtsetzungsverfahren, AöR 98 (1973), S. 144 – 145 Huber, Hans – Tuchtfeldt, Egon: Wirtschaftspolitische Ziele in der Verfassung? AöR 97 (1972), S. 341 – 342
VI. Beiträge in Fachperiodika/Zeitungen u. a. EnWG 2005 – Das Neue Energierecht, emw 2005, S. 70 – 71 Sektorspezifische Regulierung bei Strom und Gas – was bleibt dem BKartA? WuW 2004, S. 1113 Energiepolitik – jetzt in Brüsseler Hand?, et 2003, S. 776 Die Energiemärkte werden in den Dirigismus gestoßen. Die Reglementierungspläne der Europäischen Kommission, F.A.Z. Nr. 73 vom 27. 3. 2002, S. 14
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Liberalisierung – nur im Rahmen des Rechts. Eine kritische Analyse der jüngsten RichtlinienVorschläge der Energie-Kommissarin Loyola de Palacio, ZfK Juni/2001, S. 32 Kernenergiepolitik 1999 – in rechtlicher Perspektive, atw 1999, S. 66 – 68
VII. Sonstiges Geleitwort in: Franz Jürgen Säcker, Freiheit durch Recht, 2016, S. 5 – 7 Wolfgang Kartte als akademischer Lehrer an der Universität Bonn, In: Zum Gedenken an Wolfgang Kartte, 2003, S. 28 – 35
Verzeichnis der Autoren Prof. Dr. Richard Bartlsperger, em. Professor an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Battis, Of Counsel bei GSK Stockmann (Berlin), em. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Florian Bien, Maître en Droit (Aix-Marseille III), Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Prof. Dr. Ulrich Büdenbender, Of Counsel bei White & Case (Düsseldorf), em. Professor an der Technischen Universität Dresden Prof. Dr. Martin Burgi, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Dr. Wolfgang Durner, LL.M., Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Peter Franke, Vizepräsident der Bundesnetzagentur (BNetzA), Bonn Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Richter am OVG Münster im Nebenamt Prof. Dr. Max-Emanuel Geis, Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Hubertus Gersdorf, Professor an der Universität Leipzig Dr. Annegret Groebel, Abteilungsleiterin Internationales / Regulierung Post der Bundesnetzagentur (BNetzA), Bonn Prof. Dr. Jörg Gundel, Professor an der Universität Bayreuth Dr. Felix Hardach, Referent im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU), Berlin Dr. Iris Henseler-Unger, Direktorin und Geschäftsführerin der WIK GmbH und Geschäftsführerin der WIK-Consult GmbH, Bad Honnef Prof. Dr. DDr. h.c. Matthias Herdegen, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Christian Hillgruber, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur (BNetzA), Bonn Prof. Dr. Peter M. Huber, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Richter des Bundesverfassungsgerichts, Minister a.D. Prof. Dr. Friedhelm Hufen, em. Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. Dres. h.c. Josef Isensee, em. Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Hans D. Jarass, LL.M., Of Counsel bei Redeker Sellner Dahs (Bonn), em. Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Wolfgang Kahl, Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Michael Kloepfer, em. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Martin Kment, LL.M., Professor an der Universität Augsburg Prof. Dr. Jens Koch, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Torsten Körber, LL.M. (Berkeley), Professor an der Universität zu Köln Prof. Dr. Jürgen Kühling, LL.M., Professor an der Universität Regensburg, Mitglied der Monopolkommission Prof. Dr. Gunther Kühne, LL.M. (Columbia), em. Professor an der Technischen Universität Clausthal, Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Wolfgang Löwer, em. Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Markus Ludwigs, Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dr. Gösta Christian Makowski, LL.M., Rechtsanwalt und Partner, GSK Stockmann, Frankfurt am Main Prof. Dr. Hartmut Maurer, em. Professor an der Universität Konstanz Dr. Sebastian Merk, Präsidialrichter / Richter am Landgericht Siegen Prof. Dr. Christoph Moench, Of Counsel bei SammlerUsinger (Berlin), Honorarprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Jochen Mohr, Professor an der Universität Leipzig, Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf (3. Kartellsenat) Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes, Bonn Prof. Dr. Karsten Otte, Abteilungsleiter Eisenbahnregulierung der Bundesnetzagentur (BNetz-A), Bonn, apl. Professor an der Universität Mannheim Dr. Hans-Christoph Pape, Referatsleiter im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) Prof. Dr. Dr. h. c. Ingolf Pernice, em. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Kai Uwe Pritzsche, LL.M. (Berkeley), Rechtsanwalt und Partner, Linklaters LLP, Berlin Prof. Dr. Oliver Remien, Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Prof. Dr. Wulf-Henning Roth, LL.M. (Harvard), em. Professor an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Matthias Ruffert, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Dr. Dres. h. c. Franz Jürgen Säcker, Akademischer Direktor des Instituts für Energieund Regulierungsrecht Berlin, em. Professor an der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Dr. Peter Salje, em. Professor an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Verzeichnis der Autoren
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Prof. Dr. Ralf P. Schenke, Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Schenke, em. Professor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Reiner Schmidt, em. Professor an der Universität Augsburg Prof. Dr. Rupert Scholz, Of Counsel bei Gleiss Lutz (Berlin), em. Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Bundesminister a.D. Prof. Dr. Achim Schunder, Niederlassungsleiter Frankfurt a.M., Verlag C. H. Beck oHG, Honorarprofessor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Foroud Shirvani, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Udo Steiner, em. Professor an der Universität Regensburg, Bundesverfassungsrichter a.D. Prof. Dr. Rudolf Streinz, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Winfried Wegmann, Rechtsanwalt (Syndikusrechtsanwalt), Abteilungsleiter Legal Services, Deutsche Telekom AG, Bonn Prof. Dr. Hartmut Weyer, Professor an der Technischen Universität Clausthal