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German Pages 1507 Year 2013
Schriften zum Strafrecht Heft 244
Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems Festschrift für Wolfgang Frisch zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von
Georg Freund, Uwe Murmann, René Bloy und Walter Perron
Duncker & Humblot · Berlin
G. FREUND, U. MURMANN, R. BLOY und W. PERRON (Hrsg.)
Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems
Schriften zum Strafrecht Heft 244
Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems Festschrift für Wolfgang Frisch zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von
Georg Freund, Uwe Murmann, René Bloy und Walter Perron
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: AZ Druck und Datentechnik, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-13948-4 (Print) ISBN 978-3-428-53948-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83948-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort der Herausgeber Wolfgang Frisch vollendet am 16. Mai 2013 sein 70. Lebensjahr. Schüler, Kollegen und Freunde möchten durch die Mitwirkung an dieser Festschrift dem zu Ehrenden ihre wissenschaftliche Verbundenheit und Hochachtung für sein bisheriges Werk zum Ausdruck bringen und ihm gutes Gelingen für sein zukünftiges Schaffen wünschen. Geboren wurde Wolfgang Frisch am 16. Mai 1943 in Wernsdorf bei Karlsbad. Nach seiner Schulzeit studierte er von 1962 bis 1966 Rechtswissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg. Im Anschluss an seine mit herausragendem Erfolg abgelegte Erste juristische Staatsprüfung im Jahre 1966 absolvierte er bis 1971 seinen juristischen Vorbereitungsdienst am Oberlandesgericht Nürnberg, den er mit einem ebenfalls brillanten Zweiten juristischen Staatsexamen abschloss. Parallel zum Referendariat war er zunächst wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Strafrechtswissenschaften und von 1968 bis 1973 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Staatstheorie und Rechtsphilosophie der Universität Erlangen-Nürnberg bei Reinhold Zippelius. Für seine von Hans-Jürgen Bruns betreute Dissertation über „Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung“ erhielt er 1970 den Fakultätspreis. Von 1973 bis 1974 als Stipendiat von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, legte er seine Habilitationsschrift über die „Grundlagen des Maßregelrechts“ vor und habilitierte sich für die Fächer „Strafrecht“, „Strafprozessrecht“ und „Rechtstheorie“ an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1974 folgte für den gerade 31-Jährigen eine Berufung als Wissenschaftlicher Rat und Professor an die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Bonn. 1976 folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie der Universität Mannheim. Rufe an die Universitäten Augsburg (1979) und Regensburg (1987) lehnte er ab. Die nicht nur unter Publikationsaspekten ertragreiche „Mannheimer Zeit“, in der er unter anderem Dekan und Mitglied des Großen Senats war, ging erst mit dem Ruf an die Universität Freiburg im Jahre 1992 zu Ende. Ab April 1992 war er dort Inhaber der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie sowie seit 1995 überdies Direktor des Instituts für Strafrecht und Rechtstheorie (später Abt. 1 des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht). 1995 erfolgte auch die Ablehnung eines Rufes an die Universität Bonn. Das Amt des Dekans bekleidete er von 1997 – 1999. Der Universität Freiburg blieb Wolfgang Frisch auch über seine Emeritierung im Jahre 2011 hinaus treu, indem er sich z. B. weiterhin um die Examensvorbereitung der Studierenden kümmerte. Bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft war Wolfgang Frisch von 1992 – 2000 Fachgutachter sowie von 1996 – 2000 zugleich stellvertretender Vorsitzender des Gutachterausschusses für das Fach „Rechtswissenschaften“. 1995 wurde er in das Kuratorium und den Fachbeirat des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internatio-
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Vorwort der Herausgeber
nales Strafrecht in Freiburg berufen und 2005 auswärtiges wissenschaftliches Mitglied dieses Instituts. Im Dezember 2005 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gewählt. Von seinen intensiven wissenschaftlichen Kontakten ins Ausland zeugt etwa seine Tätigkeit als Visiting Researcher an der Kansai-Universität Osaka im Herbst 1996 und seit 2012 sein Honorary Membership of The Criminal Law Society of Japan. Wie bereits eine Durchsicht seines Schriftenverzeichnisses ergibt, ist Wolfgang Frischs strafrechtswissenschaftliches Werk weit gespannt: Angefangen von den rechtsphilosophischen und strafrechtsdogmatischen Grundlagen über zahlreiche Detailfragen des Allgemeinen und des Besonderen Teils des Strafrechts bis hin zu den prozessualen und schließlich den rechtsvergleichenden Facetten der Thematik deckt es erstaunlich viele Bereiche ab. Dennoch sind sämtliche Beiträge durch eine kaum zu übertreffende Gründlichkeit gekennzeichnet. Neue Einsichten werden nicht einfach punktuell verfochten, sondern stets sorgfältig abgesichert und eingebettet in bewahrenswert-bewährte Konzepte. Dabei wird das angestrebte stimmige Gesamtsystem niemals aus den Augen verloren. Das darf man mit Fug und Recht gesamte Strafrechtswissenschaft par excellence nennen, der eine wegweisende systematische, dogmatische und theoretisch-philosophische Kraft zukommt. Auch als akademischer Lehrer verdient Wolfgang Frisch den größten Respekt. Seine Vorlesungen, Seminare und Repetitorien beeindrucken vor allem durch die profunde Sachkenntnis sowie die Klarheit und Überzeugungskraft der Gedankenführung. In besonderem Maße ist gerade für die Studierenden – ganz im Sinne des Gedankens der „Einheit von Forschung und Lehre“ – nur das Beste gut genug. Beispielhaft seien insofern nur seine ausgezeichneten Examenskurse genannt, die er regelmäßig und durchweg mit wissenschaftlichem Tiefgang abgehalten hat. Die Diskussionsfreude von Wolfgang Frisch kennt keine Grenzen. Auch über die Fachgrenzen hinweg kann man mit ihm in lebhafter und überaus erfrischender Weise ausdauernd über komplexe Problemlagen und deren mögliche Auflösung mit allergrößtem Ertrag diskutieren. So wird Erkenntnisgewinn zum spannenden geistigen Abenteuer und wahre Wissenschaft erfolgreich praktiziert. Bei aller Hartnäckigkeit in der tiefgründigen Bearbeitung fachspezifischer Probleme ist Wolfgang Frisch in seinem Auftreten als Lehrer und Kollege stets offen und verständnisvoll, begleitet von ausgeprägter Hilfsbereitschaft und freundlich-warmherzigem Umgang. Dass er sich nicht nur der Wissenschaft verschrieben hat, war unter anderem in den Räumen des Mannheimer Schlosses zu vernehmen, in denen er im Rahmen des Salon-Orchesters seine Geige als Meister auch dieses Fachs erklingen ließ. Dem Jubilar Wolfgang Frisch wünschen die Herausgeber und die Autoren dieser Festschrift eine weiterhin ungebrochene Schaffenskraft und bleibende Freude beim Mitgestalten eines angemessenen gesamten strafrechtswissenschaftlichen Systems – im Interesse von Wissenschaft und Praxis gleichermaßen. Im Mai 2013
Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
I. Grundlagen des Rechts (einschließlich Kriminalpolitik) Thomas Weigend Wohin bewegt sich das Strafrecht? Probleme und Entwicklungstendenzen im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Thomas Fischer 15 Jahre Sechstes Strafrechtsreformgesetz – Blick zurück nach vorn . . . . . . . .
31
Nils Jareborg Legal Dogmatics and the Concept of Science . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
René Bloy Symbolik im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Günther Jakobs Recht und Gut – Versuch einer strafrechtlichen Begriffsbildung . . . . . . . . . . . .
81
Rolf Dietrich Herzberg Ist unser Schuldstrafrecht noch zeitgemäß? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
Ricardo Robles Planas Zur Dogmatik der Kriminalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
Winfried Hassemer Schmähvideos im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Vincenzo Militello Die mafiaartige organisierte Kriminalität und das italienische Strafrechtssystem
145
Carl-Friedrich Stuckenberg Der juristische Gutachtenstil als cartesische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
Rolf Stürner Der Liberalismus und der Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187
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Inhaltsverzeichnis
II. Strafrecht – Allgemeiner Teil Gerhard Seher Bestimmung und Zurechnung von Handlungen und Erfolgen . . . . . . . . . . . . . .
207
Andreas Hoyer „Umräumen von Möbeln“ auf offener Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
Kurt Schmoller Das „tatbestandsmäßige Verhalten“ im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
237
Andrzej Zoll Die objektive Zurechnung des Erfolgs in der polnischen Strafrechtslehre . . . .
259
Dan Frände Objektive Zurechnung – nichts für Finnland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Sheng-wei Tsai Die vorsätzlich-vollendete Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
Enrique Gimbernat Ordeig Der Pockenarztfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291
Jesús-María Silva Sánchez Abbruch eines fremden rettenden Kausalverlaufs im eigenen Organisationsbereich: ein Rechtfertigungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
Marco Mansdörfer Die Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung bei geheimen Abstimmungen. Zur Zurechnung auf der Grundlage von Leitungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
315
Héctor Hernández Basualto Die Betriebsbezogenheit der Garantenstellung von Leitungspersonen im Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
Christos Mylonopoulos Vorsatz als Dispositionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349
Lorenzo Picotti „Dolo specifico“ und Absichtsdelikte. Der sog. Handlungszweck zwischen gesetzlicher Formulierungstechnik und dogmatischen Begriffen . . . . . . . . . . . .
363
Volker Erb Zur Unterscheidung der aberratio ictus vom error in persona . . . . . . . . . . . . . .
389
Inhaltsverzeichnis
9
Hans-Ullrich Paeffgen Zur Unbilligkeit des vorgeblich „Billigen“ – oder: Höllen-Engel und das Gottsei-bei-uns-Dogma. (Noch einmal) einige Gedanken zum Erlaubnis-Tatbestandsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
Karl Heinz Gössel Die Verknüpfung sorgfaltswidrigen Verhaltens mit der Rechtsgutsbeeinträchtigung in der Fahrlässigkeitstat – keine Frage der objektiven Zurechnung, sondern der Beurteilung nach dem Satz vom Grunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
423
Ingeborg Puppe Zu einem Zusammenstoß gehören zwei. Überlegungen zum Zusammentreffen mehrerer Sorgfaltspflichtverletzungen bei Unfällen im Straßenverkehr . . . . . .
447
Roland Hefendehl Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen? Begründbarkeit und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
465
Friedrich Dencker Über Gegenwärtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
477
Urs Kindhäuser Zur Genese der Formel „das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“
493
Keiichi Yamanaka Zur Entwicklung der Notwehrlehre in der japanischen Judikatur. Der Streit um den Fall der selbst herbeigeführten Notwehrlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
511
Helmut Frister Überlegungen zu einem agnostischen Begriff der Schuldfähigkeit . . . . . . . . . .
533
Bernardo Feijoo Sánchez Strafrechtliche Schuld im demokratischen Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
555
Manuel Cancio Meliá Psychopathie und Strafrecht: einige Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
575
Harro Otto Vorverschulden und Rechtsmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
589
Claus Roxin Der im Vorbereitungsstadium ausscheidende Mittäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
613
Jorge de Figueiredo Dias Täterschaftliche Anstiftung. Zur Vereinbarkeit des Konzepts mit der Lehre von der Tatherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
III. Strafrecht – Besonderer Teil Tatjana Hörnle Zur Relevanz von Beweggründen für die Bewertung von Tötungsdelikten – am Beispiel sog. „Ehrenmorde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
653
Georg Freund Die besonders leichtfertige Tötung. Zugleich ein Beitrag zur „spezifischen Gefahrverwirklichung“ bei der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB)
677
Michael Pawlik Einseitige Therapiebegrenzung und Autonomiegedanke. Über die Kehrseite einer Emanzipationsformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
697
Michael Kahlo Sterbehilfe und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
711
Franz Streng Straflose „aktive Sterbehilfe“ und die Reichweite des § 216 StGB. Zugleich ein Beitrag zum System der Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
739
Karl-Ludwig Kunz AIDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
757
Raimo Lahti Die Knabenbeschneidung als Problem der multikulturellen Gesellschaft . . . . .
771
Kristian Kühl Zur Legitimität der Strafvorschrift „Unterlassene Hilfeleistung“ . . . . . . . . . . .
785
Heinz Müller-Dietz Geschwisterinzest in literarischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
797
Jaan Sootak und Priit Pikamäe Betrug ohne Vermögensschaden? Die historische Bürde und heutige Gerichtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
813
Rikizo Kuzuhara Sachenbetrug ohne Vermögensschaden? Strafbarkeitserweiterung des Betrugs in japanischer Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
825
Bernd Schünemann Der Straftatbestand der Untreue als zentrales Wirtschaftsdelikt der entwickelten Industriegesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
837
Inhaltsverzeichnis
11
Walter Perron Keine Unmittelbarkeit des Vermögensschadens, ausbleibender Gewinn als Nachteil – liegt der Untreue ein anderer Begriff des Vermögensschadens zugrunde als dem Betrug? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
857
Chenchel Ryu Die Vermögensgefährdung bei der Untreue im koreanischen Strafrecht . . . . . .
873
Michael Köhler Humes Dilemma – oder: Was ist Geld? „Geldschöpfung“ der Banken als Vermögensrechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
887
Luis E. Rojas Dogmengeschichte der Urkundenfälschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
925
Lothar Kuhlen Ausdehnung und Einschränkung der Bestechungstatbestände: Das Beispiel der Schulfotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
949
Werner Beulke Verwaltungssponsoring als legitime Form der Vertragsgestaltung oder als Bestechung? Dargestellt am Beispiel der Schulfotografie anhand des Urteils des BGH vom 26. Mai 2011 – 3 StR 492/10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
965
Wilfried Küper Tatbestandsgrenzen des Widerstandsdelikts (§ 113 I StGB) in dogmatischer Analyse. Zugleich ein Beitrag zum sog. unechten Unternehmensdelikt . . . . . .
985
Jörg Kinzig Kriminologische und strafrechtliche Aspekte des Glücksspiels . . . . . . . . . . . . . 1003 Vagn Greve Von betrunkenen Kürassieren bis zu Zeitungskarikaturisten. Blasphemie im dänischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023 Friedrich-Christian Schroeder Genehmigungspflichtverletzungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1039 Hinrich Rüping Zur Krise des Steuerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1047
IV. Sanktionsrecht und Strafzumessung Hans-Jörg Albrecht Kriminalprognosen – Entwicklungen und Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . 1063
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Inhaltsverzeichnis
Patricia Ziffer Begriff der Strafe und Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1077 Thomas Würtenberger Die Privatisierung des Maßregelvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093 Kazushige Asada Probleme strafrechtlicher Sanktionen in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107 Moon-Ho Song Reformtendenzen des Rechtsfolgensystems im koreanischen Strafrecht . . . . . . 1117 Uwe Murmann Strafzumessung und Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 Michael Hettinger Über „Fälle“ als Vergleichsfälle und „Umstände“ als Ausgangswerte oder Bezugspunkte zur Ermittlung der Bewertungsrichtung bei der Strafzumessung. Zugleich zu dem Satz, dass das Fehlen strafmildernder Umstände nicht strafschärfend und das Fehlen strafschärfender Umstände nicht strafmildernd berücksichtigt werden darf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1153 Dieter Dölling Zur Bedeutung des Nachtatverhaltens des Täters für die Strafzumessung . . . . 1181 Masami Okaue Wiederherstellung des Rechts als Grundsatz der Strafzumessung und der Strafandrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1189
V. Strafprozessrecht Klaus Rogall Die Beschuldigtenstellung im Strafverfahren. Objektivismus und Subjektivismus bei der Statusbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1199 Marcelo A. Sancinetti Die einzelne Zeugenaussage und das Zweifelsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1233 Louisa Bartel Tatrichterliche Beurteilungsspielräume im Strafrecht – Zur Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 2 StGB und den Grenzen revisionsgerichtlicher Kontrolle 1255 Edda Weßlau Was bedeutet die „ressourcen-ökonomische Logik“ für die Rechtsprechung der Revisionsgerichte? Die Marginalisierung der Verfahrensrüge – einstimmige Diagnose, vielfältige Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1289
Inhaltsverzeichnis
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Lutz Meyer-Goßner Ausnehmen vom Revisionsangriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1301 Gerhard Fezer Revisionsgerichtliche Freiräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 Wolfgang Wohlers Die unzureichende Begründung von Verfahrensrügen. Zu den Auswirkungen der Entscheidung Czekalla vs. Portugal auf die Rechtsprechung zu § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1325 Andrzej J. Szwarc Sportdisziplinarverantwortlichkeit im polnischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343 VI. Europäisches Strafrecht, Strafrechtsvergleichung Andreas Voßkuhle Zur Koordination des deutschen und europäischen Menschenrechtsschutzes im Lichte des Urteils des BVerfG vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ff.) zur Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1359 Manfred Maiwald Harmonisierung ohne Harmonie? Zur Bedeutung der Strafrechtsdogmatik für Art. 83 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1375 Petter Asp (More Than) Two Decades Later – Does the Principle of Assimilation Still Have a Role to Play Within European Criminal Law? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1389 Adem Sözüer Strafrechtliche Grundsätze für die neue Türkische Verfassung . . . . . . . . . . . . . 1403 Yener Ünver Arbeiten zur Angleichung an das Europarecht im Bereich des Strafrechts in der Türkei und das dritte Justizpaket . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1427 Albin Eser Evaluativ-kompetitive Strafrechtsvergleichung. Zu „wertenden“ Funktionen und Methoden der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1441 Heike Jung Rechtsvergleich oder Kulturvergleich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1467 Arnd Koch Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1483 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1501
I. Grundlagen des Rechts (einschließlich Kriminalpolitik)
Wohin bewegt sich das Strafrecht? Probleme und Entwicklungstendenzen im 21. Jahrhundert Von Thomas Weigend Strafrecht ist ein vergleichsweise statisches Rechtsgebiet. Es bewegt sich normalerweise nicht in großen Sprüngen – aber es bewegt sich doch. Dabei wirken die verschiedensten Vektoren auf die Richtung seiner Bewegung ein. Der verehrte Jubilar, dem diese Zeilen als bescheidener Ausdruck der Hochachtung für sein reiches und bereicherndes, wahrhaft umfassendes wissenschaftliches Werk und gleichzeitig als Zeichen der dankbaren und freundschaftlichen persönlichen Verbundenheit zugedacht sind, ist vor ein paar Jahren den vielfältigen Einflüssen sozialer Bedingungen und Einstellungen auf die Entwicklung des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts nachgegangen. Er stellte fest, dass sich mit dem Wandel der Gesellschaft auch das Strafrecht wandle oder doch zumindest wandeln könne.1 Als wesentliche Faktoren, die Veränderungen des Rechts bewirken können, identifizierte Wolfgang Frisch „Änderungen in den straffundierenden Einstellungen der Gesellschaft und Änderungen der Kriminalität selbst“.2 Es ist nicht meine Absicht, der meisterhaften Analyse, mit der der Jubilar die Wirkkräfte auf die Strafrechtsentwicklung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dargelegt hat, einen zweiten, schwächeren Aufguss hinzuzufügen. Statt dessen möchte ich im Folgenden den – notgedrungen: spekulativen – Blick noch ein Stück weiter in die Zukunft richten und darüber nachdenken, in welche Richtung sich das Strafrecht in der überschaubaren Zukunft – also etwa bis 2040 – entwickeln könnte. Dabei verlasse ich mich auf die These, dass das Strafrecht ein breiter langsamer Fluss ist – sie erlaubt es, aus bestimmten Tendenzen der Gegenwart vorsichtige Voraussagen für die Zukunft abzuleiten.3
I. Die Rolle der Strafrechtsdogmatik Blicken wir um etwa fünfzig Jahre zurück auf die Mitte des 20. Jahrhunderts, so sehen wir in manchen europäischen Staaten ein von der sozialistischen Ideologie geprägtes Strafrecht, das uns heute jedenfalls in seinem Vokabular, aber auch in einigen 1
Frisch, FS Jung, 2007, S. 189. Frisch, FS Jung, 2007, S. 210. 3 Ähnlich der Ansatz von Kuhlen, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, 2000, S. 109, 111. 2
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Thomas Weigend
seiner Inhalte sehr fremd erscheint. Aber auch in Rechtsordnungen, in denen seither keine dramatischen politischen Veränderungen stattgefunden haben, hat sich der Fokus der strafrechtlichen Gesetzgebung und – damit zusammenhängend – der wissenschaftlichen Diskussion verschoben. Die 1950er und 1960er Jahre waren einerseits von – zum Teil stark philosophisch unterfütterten4 – Auseinandersetzungen über die Systematik und die Begrifflichkeit des Verbrechensaufbaus geprägt, andererseits von Debatten über die Zwecke der Strafe. Auf dem Gebiet der Strafrechtsdogmatik, d. h. der systematischen Erforschung der Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit und ihres Verhältnisses zueinander, hat Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert eine weltweit anerkannte Spitzenposition erlangt;5 deshalb wurden nicht nur führende deutsche Lehrwerke in viele Sprachen übersetzt, sondern auch einzelne Konzepte der deutschen Dogmatik wurden zu erfolgreichen Exportartikeln, und die deutschen Debatten wurden im Ausland aufmerksam verfolgt und weitergeführt.6 Auch engagierte Diskussionen über die Zwecke der Strafe gab es selbstverständlich nicht nur in Deutschland. Charakteristisch gerade für die deutsche Debatte waren und sind auf diesem Gebiet jedoch die starken Einflüsse unterschiedlicher strafphilosophischer Positionen des 19. Jahrhunderts – von Immanuel Kant bis Franz von Liszt – wie auch der Bezug zu Erkenntnissen der empirischen kriminologischen Forschung. So war es seit den 1960er und 1970er Jahren bekanntlich heftig umstritten, ob die Ergebnisse der Behandlungsforschung die Idee der Spezialprävention durch Strafe zu stützen vermögen7 und welche Rolle das Ziel der Abschreckung des Täters und der Allgemeinheit von (weiteren) Straftaten in einem Sanktionensystem spielen darf. Zu dieser Debatte hat Wolfgang Frisch in der Folgezeit zahlreiche wesentliche Beiträge geleistet,8 und er hat sich darin stets klar zum Vorrang des Schuldgedankens gegenüber präventiven Gesichtspunkten bei der Strafzumessung bekannt.9
4 Frisch, GA 2007, 250, 255 f., sowie ders., in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, S. 169, 178 ff., hat mit Recht auf die lange Tradition „dogmatischer“ Fragestellungen seit den Diskussionen von Zurechnungs-(Imputations-)Fragen bei den Naturrechtslehrern des 17. Jahrhunderts hingewiesen. Zu Fragen der Zurechnung von Erfolgen hat der Jubilar selbst eines der maßgeblichen Werke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988; siehe auch ders., FS Roxin, 2001, S. 213. 5 Zu zahlreichen Beispielen „geglückter“ Strafrechtsdogmatik speziell aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Frisch, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 159, 165 ff. 6 Siehe hierzu Schünemann, FS Roxin, 2001, S. 1; Hirsch, ZStW 116 (2004), 835. 7 Speziell zur Frage der Möglichkeit und Verlässlichkeit individueller Prognosen schon Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983, S. 22 ff. 8 Frisch, ZStW 99 (1987), 349, 361 ff.; ders., in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000, S. 269; ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 237; ders., in: Frisch/von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, 2003, S. 3; ders., GA 2009, 385. 9 Siehe zuletzt Frisch, GA 2009, 385, 390 f.
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Wagen wir nun einen Blick in die Zukunft, so wird man gewiss auch in 30 oder 40 Jahren in Deutschland noch über die Strafzwecke und über den „richtigen“ Deliktsaufbau schreiben und streiten. Aber diese Fragen werden nicht mehr so stark im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Debatte stehen wie im vergangenen Jahrhundert, und ich möchte auch bezweifeln, dass auf diesem Gebiet noch fundamental neue Entdeckungen gemacht werden.10 Was die Strafzweck-Debatte betrifft, so haben sich jedenfalls in Deutschland die Gegensätze eingeebnet.11 Rein behandlungsorientierte Ansätze staatlicher Sanktionierung haben kaum noch Anhänger. „Absolute“ Straftheorien im Sinne der idealistischen Philosophie werden dagegen durchaus vertreten,12 und vor allem der Gedanke der Tatproportionalität als maßgebliches Kriterium der Strafbemessung gewinnt wieder an Boden.13 Aber ganz überwiegend erhält der Gedanke des Ausgleichs von Schuld durch Strafe eine „soziale“ Komponente, indem die gerechte Sanktion als Mittel zur (Re-)Stabilisierung der sozialen Kohärenz trotz des Normbruchs interpretiert wird.14 In einer umfassenden kritischen und abwägenden Analyse hat sich auch der Jubilar zu einer solchen „kombinierten“ Theorie bekannt, wobei er freilich deren Fundierung in der Gerechtigkeitstheorie betont: Es geht ihm in erster Linie um die „Gewährleistung des Rechtszustands“, die „Behebung des Geltungswiderspruchs durch das symbolische Mittel der Strafe“; Strafe wird also letztlich „um der Freiheit willen“ eingesetzt.15 Jedenfalls diesem letzten Satz dürften heute fast alle deutschen Strafrechtswissenschaftler zustimmen können. Ungelöst bleibt damit freilich die mühsame – und durch jüngere Gesetzgebung (§§ 46a, 46b StGB) nicht leichter gewordene – Aufgabe, die großen Theorien in die kleine Münze von Strafzumessungserwägungen und deren relativer Bedeutung umzusetzen. Selbst grundsätzlich bedeutsame Fragen wie diejenige nach der Relevanz des Rückfalls in einem SchuldStrafrecht sind bisher weitgehend ungeklärt. Der Jubilar hat sich schon vor Jahren der Aufgabe unterzogen, einen „Besonderen Teil“ des Sanktionenrechts zu skizzieren;16 er hat damit aber in der Wissenschaft nur wenige Nachfolger gefunden.17 10 Kritisch gegenüber dem Ertrag der deutschen Strafrechtsdogmatik Burkhardt, in: Eser/ Hassemer/Burkhardt, Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 111, 129 ff. Zuversichtlicher bezüglich der Zukunftsperspektiven der Strafrechtsdogmatik aber z. B. Roxin, ebda S. 369 f., 378 ff.; Gimbernat Ordeig, ZStW 82 (1970), 379. 11 Siehe dazu zuletzt den Überblick von Hörnle, Straftheorien, 2011. 12 Siehe etwa Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 37 ff.; neuestens Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 90 ff. 13 Siehe dazu Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, 1999; Frisch/von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, 2003. 14 Siehe Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, S. 6 ff.; „Vereinigungstheorie“ mit starkem Akzent auf dem präventiven Zweck der Strafe auch bei Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 37 ff. 15 Frisch, in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg, Positive Generalprävention, 1998, S. 125, 143. 16 Frisch, ZStW 99 (1987), 751. Siehe auch die groß angelegte Untersuchung zum Maßregelrecht Frisch, ZStW 102 (1990), 343.
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Die hohe Reputation der Strafrechtsdogmatik, speziell ihrer deutschen Spielart, hängt nicht nur mit dem Scharfsinn ihrer Protagonisten zusammen, sondern ist auch eine Folge ihrer Bedeutung als Rechtsquelle vor der Schaffung umfassender Strafgesetzbücher im Laufe des 19. Jahrhunderts sowie ihres maßgeblichen Beitrags zur Ausgestaltung dieser Kodifikationen. Wenn man immer noch der Auffassung begegnet, dass etwa die Strafbarkeit eines schuldunfähig volltrunkenen Täters (entgegen § 20 StGB) auf eine „Rechtsfigur“ namens actio libera in causa gestützt werden könne,18 so klingt darin die Vorstellung von der Strafrechtswissenschaft als eines übergeordneten Ersatz-Strafgesetzgebers nach. Tatsächlich führt jedoch die Strafrechtsdogmatik – als am Gesetz orientierte praktische Philosophie19 – heute kein selbstbestimmtes Eigenleben mehr, sondern kann sich nur darum bemühen, die Windungen der Gesetzgebung nachzuvollziehen und ihre etwaigen Widersprüche zu glätten.20 Wenn sich dagegen die Lehre auf eine strikt kritische Position gegenüber einer vermeintlich „systemwidrigen“ Gesetzgebung oder Rechtsprechung zurückzieht, behält sie zwar ihre Reinheit, verurteilt sich aber zur Attitüde der Nostalgie und/oder eines sterilen Protests.21 Auch das Verhältnis der an den Universitäten betriebenen Strafrechtsdogmatik zur Rechtsprechung ist nicht frei von Spannungen. Anders als in anderen Staaten nehmen die Obergerichte in Deutschland die großen Kommentierungen sowie manche Lehrbücher und Aufsätze wissenschaftlicher Autoritäten immerhin zur Kenntnis, und es hat sich mit dem Karlsruher Strafrechtsdialog auch ein Forum zum gegenseitigen Gedankenaustausch etabliert.22 Man kann es den Gerichten allerdings kaum verdenken, dass sie sich in ihren Urteilsbegründungen nicht mit dem gesamten Spektrum der wissenschaftlichen Meinungen zu relevanten Rechtsfragen auseinandersetzen,23 sondern sich auf diejenigen Autoren konzentrieren, die die Auffassung des Ge17
Siehe jedoch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, S. 261 ff. Siehe etwa Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 42. Aufl. 2012, Rn. 415. 19 Hierzu Frisch, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, S. 169, 176. 20 Das räumt auch Roxin (Fn. 10), S. 384 – 387, ein, der sonst den hohen Stellenwert der Rechtsdogmatik betont. Demgegenüber spricht Schünemann, FS Herzberg, 2008, S. 39, 45, von der Strafrechtsdogmatik als „vierter Gewalt“, freilich nur im Verhältnis zur Rechtsprechung, die sie ausschließlich kontrolliere, ohne selbst Herrschaft auszuüben. Dazu auch Radtke, ZStW 119 (2007), 69, 73 f.; wie im Text auch schon die Analyse bei Frisch (Fn. 19), S. 185. 21 Auch hierzu in der Kritik übereinstimmend Frisch (Fn. 19), S. 187. 22 Die Materialien sind veröffentlicht in: Jahn/Nack (Hrsg.), Strafprozessrechtspraxis und Rechtswissenschaft – Getrennte Welten?, 2008; dies., Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?, 2010; dies., Gegenwartsfragen des europäischen und deutschen Strafrechts, 2011. 23 Für eine verfassungsrechtliche (!) Pflicht der Gerichte, „die Konzepte der Strafrechtsdogmatik zu berücksichtigen und sich mit ihnen bei der Gesetzesauslegung ausdrücklich auseinanderzusetzen“, jedoch Schünemann, FS Herzberg, 2008, S. 45. Hierzu mit Recht kritisch Radtke, ZStW 119 (2007), 69, 70. 18
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richts unterstützen.24 Außerdem scheint die Rechtsprechung solche Theorien zu bevorzugen, die sie nicht durch feste Regeln auf eine bestimmte Entscheidung von Sachverhaltskonstellationen festlegen, sondern ihr Spielräume für die fallbezogene Lösung nach Billigkeit lassen: Dies mag etwa das Festhalten der Rechtsprechung an einer „Gesamtbewertung“ im Rahmen der „subjektiven“ Theorie bei der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme25 wie auch die Bevorzugung von (je nach Einzelfall flexibel einsetzbaren) „Willenstheorien“ bei der Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit26 erklären. So kann auch eine noch so perfekt konstruierte Theorie vom Verbrechen und seiner Bestrafung nicht unbedingt darauf hoffen, allein aufgrund ihrer Stringenz in der Strafrechtspraxis wirksam zu werden. Die Annahme, dass strafrechtsdogmatische „Großtheorien“ in der Zukunft eher in den Hintergrund treten werden, bedeutet nicht, dass die Strafrechtswissenschaft ganz auf Theoriebildung verzichten wird oder kann – konsistente und systematische Argumentation wird immer das Markenzeichen guter Jurisprudenz bleiben.27 Es ist aber vielleicht doch kein Zufall, dass eigenständige umfassende Theorie-Entwürfe, wie etwa von Hans Welzel, Claus Roxin, Günther Jakobs, Eberhard Schmidhäuser oder Michael Köhler und ihren jeweiligen Schülern, in der jüngeren Generation der deutschen Strafrechtler kaum Nachfolger zu finden scheinen.28 Auch zeigt sich bei einer vergleichenden Betrachtung, dass andere Rechtssysteme – wie etwa das englische und das französische – auch ohne eine ausgefeilte Dogmatik im deutschen Sinne zu (über)leben vermögen. Ja, sie sind aufgrund ihrer mehr bodenständigen, unmittelbar auf Billigkeit und „Vernünftigkeit“ zurückgreifenden Argumentation und ihrer damit verbundenen Anpassungsfähigkeit vielleicht für Rechtsreformer in Drittländern sogar attraktiver als das starr und unzugänglich erscheinende deutsche Denksystem. Wenn es um Rechtsvereinheitlichung oder Harmonisierung im Rahmen der EU geht, hat daher die deutsche Denktradition – selbst wenn sie sich auf einen internationalen Dialog einließe – weniger gute Karten als manche ihrer Vertreter annehmen.29
24 Siehe hierzu Schünemann, GA 2011, 445, 451 ff.; am Beispiel von BGHSt 40, 218 (mittelbare Täterschaft bei voll verantwortlichem „Werkzeug“) auch Radtke, ZStW 119 (2007), 69, 78 ff. 25 Siehe etwa BGHSt 8, 393, 396; 37, 289, 291; 48, 52, 56. 26 Siehe etwa BGHSt 7, 363, 368 f.; 36, 1, 9; BGH StV 1988, 328. 27 Siehe zur Bedeutung von Theoriebildung Schünemann, GA 2011, 445, 447; Pawlik (Fn. 12), S. 3 ff. 28 Siehe allerdings neuestens Pawlik (Fn. 12), der ein Strafrechtssystem „aus einem Guss“ entwirft. 29 Siehe Vogel, JZ 2012, 25, 27 f.; Wahl, JZ 2012, 861, 866 f.
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II. Expansionstendenzen 1. Während also die systematische Durchdringung des Strafrechts anhand theoretischer Konzepte eher zurückgehen wird, sehe ich für den Besonderen Teil eine (weitere) Expansion voraus. Dabei geht es nicht nur (und nicht einmal in erster Linie) um die Anpassung der Verbotsnormen an die Veränderungen unserer Lebensbedingungen, insbesondere der (Informations-)Technologie.30 Es bedeutet keinen revolutionären Umbruch, wenn etwa die Verfälschung oder Vernichtung handschriftlicher Urkunden (§§ 267 I, 274 I Nr. 1 StGB) durch neue Tatbestände wie die Manipulation oder Löschung elektronisch gespeicherter Daten (§§ 274 I Nr. 2, 303a, 303b StGB) in den Hintergrund gedrängt wird. Selbst die Anpassung traditioneller Strafvorschriften an das „zweite Leben“ vieler Menschen im Internet, speziell in sozialen Netzwerken, stellt keine wirkliche qualitative Veränderung des Strafrechts dar: Wenn Beleidigungen und Verleumdungen heute nicht mehr auf dem realen Marktplatz, sondern über Facebook verbreitet werden, so bleiben die vorhandenen Strafvorschriften doch auch auf ehrabschneidende Angriffe im Internet anwendbar. Das Strafrecht ändert seinen Charakter und seinen Schutzbereich auch dann nicht wesentlich, wenn neue schutzbedürftige „Rechtsgüter“ definiert werden: Wenn die Menschen in ihrer Freizeit nicht mehr Schiffsmodelle basteln, sondern ihre Fantasy-Figuren in Online-Spielen in zeitaufwendiger Kleinarbeit aufrüsten, so mag man darüber nachdenken, spezielle Strafnormen der virtuellen Sachbeschädigung oder des Diebstahls einer virtuellen Identität zu schaffen.31 Auch hierin läge aber nicht viel mehr als eine Anpassung des Strafrechts an die Notwendigkeit, neue sensible Bereiche zu schützen, die vielen (realen) Menschen wichtig sind und in die sie Zeit, Mühe und manchmal auch Geld investiert haben. 2. Eine nicht nur quantitative Veränderung sehe ich dagegen in der bereits zu beobachtenden und vermutlich noch zunehmenden Expansion des Strafrechts im Bereich der Wirtschaft und der Finanzen. Die Tendenz geht hier zu einem flächendeckenden Einsatz des Strafrechts als Rückendeckung für Regeln vernünftigen und rücksichtsvollen wirtschaftlichen Verhaltens. Die Strafbarkeit von – vorsätzlicher wie leichtfertiger – Geldwäsche (§ 261 I, II, V StGB), die Ausdehnung des Tatbestandes der Untreue (§ 266 StGB) auf riskante Geschäftspraktiken,32 die Schaffung neuer Tatbestände betreffend die mögliche Manipulation von Börsenkursen (§ 38 WpHG),33 die Inkriminierung des (auch fahrlässigen) Betreibens bestimmter Finanzgeschäfte
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Siehe dazu Frisch, FS Jung, 2005, S. 190 ff. Siehe dazu van Kokswijk, International Journal of Human and Social Sciences 2008, 207; M. Gercke, Understanding Cybercrime, 2. Aufl. 2011, S. 86 ff. 32 BGHSt 47, 148; 51, 100, 111 ff.; 53, 199; grundsätzlich bestätigt in BVerfGE 126, 170. Siehe dazu (auch rechtsvergleichend) Rönnau, ZStW 122 (2010), 299; Schünemann, StraFo 2010, 1, 477. 33 Hierzu Schmitz, ZStW 115 (2003), 501; Kudlich, JR 2004, 191. 31
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ohne wirksame Erlaubnis der Bankenaufsicht (§ 54 KWG)34 sowie die strafrechtliche Bewehrung des Verbots des Inverkehrbringens von Dopingmitteln (§ 95 I Nr. 2a iVm § 6a AMG) sind nur wenige Beispiele für das Bestreben des Gesetzgebers, jegliche Gefährdung auch nur des Vertrauens des Publikums in die regelgerechte Gestaltung des Wirtschaftslebens mit Kriminalstrafe zu bedrohen.35 Es muss sich erst noch zeigen, welche Auswirkungen diese überwiegend noch relativ neuen Regelungen auf das Wirtschaftsleben haben, insbesondere ob sie die wirtschaftliche Tätigkeit eher lähmen oder ob sie tatsächlich zu einem mehr an ethischen Maßstäben als an individueller Gewinnsucht orientierten Handeln der betroffenen Personen führen. Was man aber heute bereits feststellen kann, ist die Aufweichung bestimmter traditioneller Grundsätze der Strafgesetzgebung im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts: „Rechtsgüter“ werden fließend und hoch abstrakt, und sie hören damit auf, eine kritische strafrechtsbegrenzende Funktion wahrzunehmen;36 die Tatbestände beschreiben häufig bloß abstrakt-gefährliches Handeln;37 das Erfordernis des Vorsatzes der Schädigung oder Gefährdung anderer wird aufgegeben, fahrlässiges Handeln genügt zur Strafbarkeit;38 juristische Personen gelangen als Träger des Wirtschaftslebens in den Fokus auch strafrechtlicher Verantwortlichkeit.39 Vor allem aber verändert sich die Funktion der Androhung und Vollstreckung von Kriminalstrafen: Sie dienen nicht mehr (nur) der Ahndung individueller schuldhafter Verletzung von Grundregeln des sozialen Zusammenlebens, sondern werden zur Absicherung und Verstärkung von Verhaltensregeln eingesetzt, die ihrerseits unterschiedlichen Interessen, insgesamt aber der jeweils als zielführend angesehenen Ordnung des Wirtschaftslebens dienen sollen. Das Strafrecht reiht sich damit ein in ein Arsenal rechtlicher Instrumente – vom Steuerrecht über das Wirtschaftsverwaltungsrecht und das Ordnungswidrigkeitenrecht bis zum Recht der unerlaubten Handlungen –, die insgesamt die Normkonformität des Verhaltens der Bürger garantieren sollen. Dadurch geht allerdings das Spezifikum des Strafrechts verloren. Es 34 Zum zweifelhaften Schutzgut dieser Strafnorm siehe MK-StGB/Janssen, Bd. 6/1, 2010, § 54 KWG Rn. 8 – 10. 35 Siehe dazu Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816; Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009; Guggenberger, Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in der Marktwirtschaft, 2012. 36 Hierzu allgemein NK-StGB/Hassemer/Neumann, 3. Aufl. 2010, vor § 1 Rn. 122 ff.; speziell zu den „Rechtsgütern“ des Wirtschaftsstrafrechts (kritisch) Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2011, S. 11 f.; (affirmativ) Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht. Einführung und Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2010, Rn. 45 f. Mansdörfer, Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011, S. 32 ff., versteht das „Rechtsgut“ der Wirtschaftsdelikte einheitlich dahin, dass es „die Handlungsbedingungen des Einzelnen zur Verfolgung seiner individuellen Erwerbsinteressen in der Gesellschaft vor Eingriffen Dritter durch Sanktionen sichern und dadurch individuelles Wirtschaften erleichtern“ soll (aaO Rn. 52). 37 Siehe hierzu Mansdörfer (Fn. 36), S. 80 ff. 38 Siehe etwa § 261 V StGB, § 38 IV WpHG, § 34 VII AWG. 39 Kritischer Überblick bei LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, vor § 25 Rn. 20 ff.; eingehend zur Verantwortungsverteilung in Unternehmen Mansdörfer (Fn. 36), S. 315 ff.
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wird zu einem Rechtsgebiet unter vielen, und seine Sanktionen heben sich von anderen Rechtsfolgen nicht mehr durch das mit ihnen verbundene „ethische Unwerturteil“ ab, sondern allenfalls noch durch die Höhe oder Schärfe der Freiheits- und Vermögenseinbuße. Wie jede Inflation führt auch diejenige des Strafrechts zu einem Verlust seines Wertes – und dies unabhängig davon, wie streng oder milde die Sanktionierungspraxis im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ausfällt. Ich glaube allerdings nicht, dass solche Erwägungen der weiteren Expansion dieses Rechtsgebiets entgegenstehen werden – zu bequem ist die Inkriminierung ordnungsverletzender Verhaltensweisen als Mittel der besseren Kontrolle, und gewiss wird die Europäische Union die Tendenz zur Ausdehnung des Wirtschafts- und Finanzstrafrechts eher verstärken als aufhalten. 3. Ein zweites Gebiet, auf dem sich strafrechtliche Regelungen vermutlich ausdehnen werden, ist der Bereich der „Moralverstöße“, also der Handlungsweisen, die keinen materiellen individuellen Schaden anrichten, die aber Erwartungen an anständiges, rücksichtsvolles und „ziviles“ Verhalten verletzen.40 Zu diesen Verstößen zählen etwa Tatbestände wie die Störung der Religionsausübung und der Totenruhe (§§ 167 – 168 StGB), die Verherrlichung des Nationalsozialismus und die Leugnung seiner Verbrechen (§ 130 III und IV StGB), die Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalttaten (§ 131 StGB) oder die Tierquälerei (§ 17 TierschutzG). Auch manche Verstöße gegen die Unberührtheit der Umwelt (z. B. §§ 324, 329 StGB) kann man zu diesen Straftaten ohne unmittelbare schädliche (Gesundheits-)Folgen, aber unter Verletzung von sozialen Verhaltenserwartungen rechnen.41 Schließlich gehören in den Zusammenhang der „Moralverstöße“ auch Verhaltensweisen, die aus paternalistischen Erwägungen42 verboten werden, um den Bürger vor Selbstschädigung zu schützen, wie etwa der Genuss mancher Drogen oder mangelnde Sicherheitsvorkehrungen zum Selbstschutz im Straßenverkehr. Diese strafrechtlichen Verbote können in dem Sinne als „symbolisch“43 angesehen werden, als sie nicht darauf angelegt sind, dass jeder Verstoß mit aller Strenge verfolgt und sanktioniert werden soll; die Aufstellung des Verbots soll vielmehr die moralische Ablehnung der jeweiligenVerhaltensweisen durch die Gesellschaft (bzw. deren politische Meinungsführer) plakativ zum Ausdruck bringen. Die Inkriminierung ist der strafrechtliche Arm jener political correctness, die jedenfalls die offizielle Sprache durchdringt und von der man sich langfristig eine Veränderung auch der inneren Einstellung der Bürger erhofft. Die Bürger sollen sich an die Verhaltensre40
Siehe hierzu die umfassende Untersuchung von Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, sowie von Hirsch/Simester (Hrsg.), Incivilities, 2006. 41 Siehe jedoch Schünemann, GA 1995, 201, 208, der meint, dass die „Verschleuderung der Ressourcen künftiger Generationen“ den „Urbegriff des Verbrechens“ erfülle; siehe auch ders., in: Scholler (Hrsg.), Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht, 2011, S. 47, 49. 42 Siehe hierzu von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010; Schünemann, in: Scholler (Fn. 41), S. 50 ff. 43 Siehe hierzu Hassemer, FS Roxin, 2001, S. 1001; Díez Ripollés, ZStW 113 (2001), 516.
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geln halten, nicht weil deren Verletzung einem anderen Menschen Schaden zufügen würde, sondern weil es – wie der Gesetzgeber zu wissen glaubt – gut für die Bürger ist.44 Die Tendenz zur Inkriminierung „anstößiger“ Verhaltensweisen bricht mit einer Jahrhunderte alten europäischen Tradition, die Wolfgang Frisch mit Recht in der Philosophie der Aufklärung begründet sieht.45 Sie widerspricht auch dem „harm principle“,46 das einer Bestrafung bloß moralwidrigen Verhaltens eigentlich entgegensteht. Aber worin genau „harm“ liegt oder liegen kann – die Antwort auf diese Frage erweist sich doch als recht biegsam.47 Irgendein Interesse lässt sich immer finden: der Schutz der anderen vor einer Verletzung ihrer Gefühle, der Schutz des staatlichen Gesundheitssystems vor Überlastung durch vermeidbare Verletzungen und Krankheiten oder notfalls der ubiquitär schutzwürdige „öffentliche Friede“.48 Aber die wahre Antriebskraft hinter der Pönalisierung der genannten Verhaltensweisen ist nicht der Schutz konkreter Interessen, sondern der Wunsch zu erziehen und Konformität zu fördern.49 Es ist vermutlich kein Zufall, dass die Tendenz zu einer Re-Moralisierung (auch) des Strafrechts mit einer Stärkung des Einflusses von Frauen auf die öffentliche Meinung sowie auf Gesetzgebung und Rechtsprechung einhergeht. Frauen sind europaweit deutlich stärker in Gesetzgebungsorganen, Gerichten und Staatsanwaltschaften, aber auch in den Medien vertreten als vor einigen Jahrzehnten, und es spricht nichts dafür, dass dieser Trend abbricht. Eine der denkbaren Folgen dieser Entwicklung liegt in dem deutlich wachsenden Interesse an der Position von Verbrechensopfern sowohl im materiellen Strafrecht als auch im Strafverfahren50 – Frauen sind häufiger Opfer als Täter, und sie identifizieren sich leichter mit dem Opfer. Wir beobachten aber auch die Schaffung oder Ausdehnung von Straftatbeständen, deren Opfer überwiegend oder typischerweise Frauen sind.51 Man denke an neue Tatbestände wie Zwangsheirat (§ 237 StGB), Nachstellung (§ 238 StGB), Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (§ 232 StGB) sowie die Anfertigung heimlicher Bildaufnahmen (§ 201a StGB). Bemerkenswert ist auch die Veränderung 44 Vgl. Schünemann, in: Scholler (Hrsg.), Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht, 2011, S. 47, 50 – 53. 45 Frisch, GA 2007, 250, 253. 46 Siehe dazu von Hirsch, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 13. 47 Siehe dazu z. B. Amelung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 155; Hörnle (Fn. 40), S. 22 ff. 48 Zu diesem Hörnle (Fn. 40), S. 90 ff. 49 Siehe Prittwitz, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, 2000, S. 131, 136. 50 Siehe zu aktuellen Entwicklungen und einer „Zwischenbilanz nach einem Vierteljahrhundert opferorientierter Strafrechtspolitik in Deutschland“ (so der Untertitel) den Sammelband von Barton/Kölbel (Hrsg.), Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012. 51 Erster Überblick über feministische Positionen zum Strafrecht bei Lembke, in: Foljanty/ Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 235.
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des Fokus im Bereich der Prostitution: Während die „freie“ Ausübung der Prostitution durch das Prostitutionsgesetz legalisiert wurde, ist andererseits nicht nur die (meist von Männern begangene) Zuhälterei (§§ 180a, 181a StGB), sondern neuerdings auch die Entgegennahme der Dienste nicht-erwachsener Prostituierter unter Strafe gestellt (§ 182 II StGB).52 Schließlich ist auch der Ausbau des strafrechtlichen Schutzes von Kindern und Jugendlichen, etwa im Bereich des Schutzes vor sexuellen Handlungen einschließlich der Benutzung für pornographische Produkte (§§ 180, 184c StGB), ein Anliegen, das man eher mit weiblichem Engagement assoziiert, während auf der Täterseite ganz überwiegend Männer stehen. Andererseits mag das libertäre Ideal des 19. Jahrhunderts, die abstrakte Handlungsfreiheit als höchster Wert, eine typisch männliche Wertordnung repräsentieren – und sich eher in der Rezession befinden. Das Credo der Freiheit etwa von John Stuart Mill, wonach niemandes Freiheit beschnitten werden darf, solange er nicht die Interessen anderer verletzt,53 mag nicht mehr die Wertvorstellungen des 21. Jahrhunderts treffen. Wir bewegen uns von den (typisch männlichen?) Idealen der Selbstbehauptung, des Individualismus, der Freiheit und der Selbstverwirklichung zu einer stärkeren Betonung von Sozialität, Empathie sowie Rücksichtnahme auf die Wünsche, Erwartungen, Bedürfnisse und Empfindlichkeiten der Mitmenschen – was sich auch auf die Art und Weise auswirkt, in der man seine Meinungen und Wünsche äußern darf. Natürlich ist nichts gegen solche kommunitaristisch gefärbte Werte einzuwenden. Wer sie hochhält, der ist allerdings möglicherweise geneigt, die Freiheit des Einzelnen stärker einzuschränken, um die Einhaltung der Regeln richtigen sozialen Verhaltens zu gewährleisten – und dies eben auch mit den Mitteln des Strafrechts. 4. Über die Gründe für die Expansion „moralisierenden“ Strafrechts kann man verschiedene Vermutungen anstellen. Eine plausible Überlegung geht dahin, dass die Mitglieder der „Risikogesellschaft“ bereit sind, Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheiten in Kauf zu nehmen, um im Gegenzug Stabilität und Schutz gegenüber den vielfältigen Unsicherheiten und Gefährdungen ihres Lebens zu erhalten.54 Viele der festen Anker, die es noch vor 50 Jahren gab, sind verloren gegangen: Die natürliche Umwelt ist in ihrem Bestand gefährdet; selbst die genetischen Strukturen von Pflanzen, Tieren und Menschen sind Manipulationen – mit letztlich unbekannten Konsequenzen – ausgesetzt; die Kohärenz der Nation ist durch Migration und vielfältige andere Einflüsse von außen gelockert; Institutionen wie Familie, Kirche und 52
Zur Ratio von § 182 II StGB siehe LK-StGB/Hörnle, 12. Aufl. 2010, § 182 Rn. 4, 5 (die erwähnt, dass hier „moralisch-paternalistische Erwägungen“ einfließen). 53 Mill, On Liberty, 2. Aufl. 1859, S. 135: „As soon as any part of a person’s conduct affects prejudicially the interests of others, society has jurisdiction over it […]. But there is no room for entertaining any such question when a person’s conduct affects the interests of no person besides himself, or needs not affect them unless they like. In all such cases there should be perfect freedom, legal and social, to do the action and stand the consequences.“ 54 Siehe aus der reichen Literatur zu diesem Thema Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993; ders. (Fn. 49), S. 138; Hassemer, FS Roxin, 2001, S. 1001; Silva Sánchez, Die Expansion des Strafrechts, 2003, S. 7 ff.; Frisch, FS Jung, 2005, S. 189, 194 ff.
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Gemeinde sind zerfallen oder haben ihre Relevanz für das Leben der Menschen eingebüßt, was wiederum die informelle Sozialkontrolle deutlich gelockert hat. Schließlich treffen in multikulturellen Gesellschaften sehr unterschiedliche Vorstellungen über richtiges oder jedenfalls tolerables Sozialverhalten oft unversöhnlich aufeinander. Das allgemeine Gefühl der Unsicherheit und der Instabilität, das viele Menschen befällt, führt zu Angst vor Übergriffen auf den eigenen Bereich, speziell zu einer oft übersteigerten Verbrechensfurcht. Weithin diskutierte und in den Medien aufbereitete Phänomene wie der Terrorismus, mit seinen gesichtslosen Akteuren und für viele unverständlichen Motiven, sind starke Symbole einer ständigen, unberechenbaren und daher kaum vermeidbaren Bedrohung der persönlichen Sicherheit. In einem solchen Klima der gefühlten Bedrohung und Anomie in einer schwer zu begreifenden, strukturlosen Welt sind viele Menschen bereit, auf Teile ihrer eigenen Handlungsfreiheit zu verzichten, wenn die Beschränkungen mit dem Versprechen (oder jedenfalls der Aussicht darauf) verbunden sind, dass die verloren geglaubte persönliche Sicherheit des Individuums wiederhergestellt wird. In diesem Zusammenhang spielt das Strafrecht mit seinen klaren Regeln und seinem strikten Durchsetzungsmechanismus eine wichtige symbolische Rolle55: Es erscheint vielen als das Rettungsboot in einem aufgewühlten Meer von Unsicherheiten, und es verheißt die physische Beseitigung (durch Wegsperren) der Menschen, die als ganz fremd und unverständlich in ihren Ansichten, Motiven und Handlungsweisen und damit als höchst bedrohlich angesehen werden.56 Die öffentliche und die veröffentlichte Meinung erhöht den Druck auf Gesetzgeber und Gerichte, „etwas zu tun“, um das perzipierte (und oft nur irrtümlich angenommene) Ansteigen der Bedrohung durch Straftaten tatkräftig – d. h. durch Schaffung neuer Straftatbestände und Erhöhung der Strafdrohungen – zu bekämpfen.57 Die Menschen sehen das freundliche, Sicherheit schaffende Gesicht des Leviathan und ignorieren dabei die Gefahr seiner Tyrannei. Die damit verbundene Tendenz, individuelle Handlungs-, Rede- und Gedankenfreiheit um erhöhter Sicherheit willen preiszugeben, trifft sich mit ungebrochenen Traditionen fernöstlicher Gesellschaften, in denen die Gruppenorientierung der Moral niemals aufgehört hat, die Spielräume der individuellen Entfaltung und der Autonomie des Individuums klein zu halten. Für Experten ist es keine Überraschung, dass die Expansion des Strafrechts die ersehnte Sicherheit und die Freiheit von Angst nicht wirklich schaffen kann und dass sie noch weniger in der Lage ist, die Probleme sozialer Inkohärenz und wirtschaftlichen Ungleichgewichts zu lösen. Dennoch ist die Schaffung oder Ausdehnung von Strafvorschriften für die Politik attraktiv: Sie demonstriert, dass man das jeweilige Problem (etwa: Beeinträchtigungen der Umwelt durch Raubbau an 55
Siehe Kuhlen (Fn. 3), S. 113. Siehe für einen solchen Ansatz gegenüber „Terroristen“ Depenheuer, Die Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl. 2008; Pawlik, Der Terrorist und sein Recht, 2008. Zur Terrorismus-Strafgesetzgebung in diesem Zusammenhang mit Recht kritisch Cancio Meliá, GA 2012, 1, 4 f.; siehe auch Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009. 57 Vgl. hierzu Kunz, FS Schöch, 2010, S. 353, 362. 56
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den natürlichen Ressourcen, Verletzungen der Privatsphäre durch neue technische Möglichkeiten) erkannt hat, es ernst nimmt und etwas dagegen tut – und dies mit relativ geringem finanziellem Aufwand. Dadurch schafft sich die Politik Entlastung von der Aufgabe, die tatsächlichen Ursachen des Problems anzugehen – was mühsamer, wahrscheinlich teurer und damit für den Wähler weniger attraktiv wäre. Deshalb ist damit zu rechnen, dass sich der Bereich des Strafbaren auch in den kommenden Jahrzehnten weiter ausdehnen wird. Es ist jedoch gefährlich, so zu tun, als könnte das Strafrecht wirklich soziale Probleme lösen und gefährliche, unmoralische oder gemeinschädliche Verhaltensweisen verhüten. Wer dies im öffentlichen Raum behauptet, weckt unrealistische Erwartungen, die letztlich nur enttäuscht werden können. Gleichzeitig wird dadurch die Gefahr geschaffen, dass Strafrecht nicht nur inflationär eingesetzt wird, sondern auch seine Begrenzungen verliert. Wo das Spezifikum des Strafrechts, die (berechtigte) moralische Reprobation des inkriminierten Verhaltens, aufgegeben wird, dort verliert es sein rechtsstaatliches Profil,58 und es vermengt sich mit dem Polizeirecht und dem Recht der Geheimdienste zu einem konturlosen Ensemble eines „homeland security law“, das nach dem Motto „more of the same“ beliebig weiter ausgedehnt und verschärft werden kann, wenn sich die realitätsfern erwarteten Erfolge bei der Rückkehr in das goldene Zeitalter von Sicherheit und sozialem Frieden nicht einstellen.59 5. Ein Sicherheits- und Moralstrafrecht , das ostentativ das Ziel einer umfassenden und effizienten Bekämpfung von gemeinschaftswidrigem Verhalten verfolgt, wird sich konsequenterweise nicht mehr verpflichtet fühlen, an althergebrachten Grundsätzen festzuhalten, sofern diese das angestrebte Ziel zu vereiteln drohen, einen umfassenden Schutz vor Bedrohungen zu gewährleisten. Daran ändert es auch nichts, dass diese Prinzipien in lateinischer Sprache ausgedrückt zu werden pflegen und eine lange Tradition aufweisen können. Wenig plausibel muss einem Verfechter eines modernen, allumfassenden Schutz verheißenden Strafrechts zunächst der Gedanke eines „fragmentarischen“ Charakters des Strafrechts erscheinen. Schon Karl Binding, auf den diese Denkfigur zurückgeht, sah darin keinen Vorzug, sondern einen Mangel. Warum, so fragte er, sollten „die Zufälligkeiten des täglichen Lebens bestimmen, was der Gesetzgeber für strafbar erklärt“?60 Erst später setzte sich der Gedanke durch, dass es gut ist, wenn nicht alles, was Tadel verdient, auch mit Kriminalstrafe bedroht wird.61 Dieser Gedanke geht jedoch von einem latenten Konflikt zwischen der Freiheit des Bürgers und der potentiell oppressiven Macht des strafenden Staates aus. Wenn Strafrecht (nur noch) als Schutzinstrument für „uns alle“ verstanden wird, verliert die Fragmentarietät des Strafrechts ihre Logik. In einem solchen System muss Strafrecht idealiter 58
Prittwitz (Fn. 49), S. 138. Siehe hierzu die klarsichtige Analyse von Hassemer, HRRS 2006, 130. 60 Binding, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, BT 1, 2. Aufl. 1902, S. 20. 61 Siehe dazu Naucke, Strafrecht, 10. Aufl. 2002, S. 64 f.
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alle Sachverhalte erfassen, in denen ein Verstoß gegen legitime Verhaltenserwartungen der Allgemeinheit liegt; Lücken im Gesetz schaffen nur gleichheitswidrige und damit illegitime Vorteile für besonders schlaue Sozialschädlinge. Selbst Grundsätze wie nullum crimen sine lege, nulla poena sine culpa sowie das Rückwirkungsverbot geraten in einem „modernen“ Strafrechtssystem ins Wanken. Diese Prinzipien wurden seit dem 17. Jahrhundert entwickelt, um den freien Bürger vor der potentiell grenzenlosen Machtausübung staatlicher Organe im Namen des Strafrechts zu schützen.62 Sie setzen der Effektivität und Funktionalität der Strafgewalt des Staates Grenzen, und der Liberalismus der Aufklärung hat diese Selbstbeschränkung staatlicher Gewalt stets als einen Vorzug betrachtet: Der Staat stellt seiner Macht um der Freiheit des Individuums willen mit der Selbstbindung an den Wortlaut der Strafgesetze und dem Verbot der Rückwirkung bewusst Hindernisse in den Weg. Wie aber, wenn der staatliche Strafgesetzgeber nicht mehr ein egoistischer, unkontrollierbarer absoluter Monarch ist, sondern wenn „wir“ es sind, die Schutz und Sicherheit suchenden Bürger? Ist die beabsichtigte (partielle) Dysfunktionalität des Strafrechts aufgrund des Gesetzlichkeitsprinzips dann noch eine Tugend, oder ist sie nicht vielmehr eine beklagenswerte „Strafbarkeitslücke“? Warum sollten die strafrechtlichen Verbote nicht auch durch Analogie auf ähnliche, vom Gesetzgeber nicht vorhergesehene Sachverhalte ausgedehnt werden können, wenn doch ein solches Verschließen von Schlupflöchern das erstrebte Sicherheitsgefühl der Zivilgesellschaft, und das heißt: von „uns allen“, erhöhen kann? Ich nehme durchaus an, dass auch Jura-Studenten und Richter des Jahres 2050 noch den Grundsatz nullum crimen sine lege kennen und zitieren werden. Es ist aber gut möglich, dass sie ihn als Fremdkörper und als Hindernis gegenüber einer sozial erwünschten Strafgerechtigkeit empfinden und deshalb deutlich enger auslegen werden als wir es heute tun.
III. Schlussbemerkung Wenn meine Voraussage richtig ist, haben wir eine quantitative Ausdehnung des Strafrechts in verschiedenen Bereichen zu erwarten, die nicht notwendig von einer gleichläufigen qualitativen Verbesserung und systematischen Durchdringung der Regelungen begleitet wird. Auch die traditionellen Barrieren zum Schutz des Bürgers vor der Strafgewalt des Staates geraten möglicherweise unter Beschuss. Der Umstand, dass Strafrechtspolitik in erheblichem Maße nicht mehr national, sondern übernational, speziell aus der Europäischen Union, gesteuert werden wird – worauf hier aus Platzgründen nicht mehr näher eingegangen werden kann – spricht nach
62 Siehe bereits Hobbes, Leviathan, (hrsg. von Mayer-Tasch, übers. von Tiedow, 1965), S. 228: „Ein nachträglich geschaffenes Gesetz kann eine Tat niemals zum Verbrechen stempeln. […] Ein positives Gesetz aber kann nicht erkannt werden, bevor es geschaffen ist, und kann dann auch nicht bindend sein.“
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allen bisherigen Erfahrungen mit dem EU-Strafrecht eher für als gegen diese pessimistische Prognose.63 Möglicherweise bewegen wir uns auf eine Welt zu, in der Harmonie statt Freiheit der bestimmende Leitwert ist. Das Strafrecht sichert darin die störungsfreie, von gegenseitigem Respekt der Individuen getragene Harmonie durch eine Vielzahl von strafbewehrten Verhaltensregeln für eine wohlgeordnete Wirtschaft und eine innerlich und äußerlich gesunde Gesellschaft ab. Wie jede Brave new world hat auch diese das Potenzial sowohl zur friedlichen Utopie als auch zur verstörenden Dystopie einer erstickenden Gesinnungstyrannei. In jedem Fall wird das Strafrecht seine Gestalt verändern: Es wird nicht mehr – wie ein strenger Vater – Freiheit zur Lebensgestaltung lassen, aber einzelne schwere Verstöße massiv ahnden, sondern eher – wie eine fürsorgliche Mutter – ständiger mahnender Begleiter der Menschen sein.
63 Siehe zum strafrechtsexpansiven Einfluss der Europäischen Union Schünemann, StV 2003, 116; Silva Sánchez (Fn. 54), S. 44; Frisch, GA 2009, 385, 401 ff.; beispielhaft dargelegt von Geiger, Auswirkungen europäischer Strafrechtsharmonisierung auf nationaler Ebene, 2012. Betonung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der ultima ratio dagegen im „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“ einiger europäischer Strafrechtslehrer; abgedruckt in ZIS 2009, 697.
15 Jahre Sechstes Strafrechtsreformgesetz – Blick zurück nach vorn Von Thomas Fischer
I. Einleitung Am 1. April 1998 ist das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts (6. StrRG) vom 26. 01. 1998 (BGBl I 164) in Kraft getreten. Es hat über 130 Vorschriften des StGB geändert, neu gefasst oder eingefügt und zahlreiche Paragraphen anderer Gesetze geändert; es stellte daher die quantitativ umfangreichste Änderung des Strafgesetzbuchs seit dessen Neufassung 1975 dar; hinzugezählt werden muss überdies das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. 01. 1998 (BGBl I 160), das weitere 10 Vorschriften des StGB änderte. Das Gesetzeswerk, das am Ende der 13. Legislaturperiode unter hohem Zeitdruck beraten und verabschiedet wurde1, sollte nach den Vorstellungen der damaligen Bundesregierung und der Entwurfsverfasser weitreichende Ziele erreichen: Es sollten der Strafrechtsschutz verbessert, entbehrliche Normen aufgehoben und die Rechtsanwendung insgesamt erleichtert werden.2 Nachdem das Gesamtwerk3 in der Beratung erhebliche Änderungen erfahren hatte, die auch Grundkonzeptionen wie z. B. die zunächst geplante exorbitante Ausweitung der Regelbeispielstechnik oder die gesamte Systematik der Brandstiftungsdelikte betrafen4, und erhebliche Teile der schließlich verabschiedeten Fassung auf der Grundlage einer buchstäblich „über Nacht“ geschaffenen „Formulierungshilfe“ des Bundesministeriums der Justiz beruhten, war das Echo in der Wissenschaft fast durchweg schlecht.5 1 Die Opposition sprach damals anschaulich vom „Schweinsgalopp“ der Beratungen. Eine angemessene Beteiligung der Praxis entfiel wegen der absurden Kürze der Stellungnahmefristen fast gänzlich; eine Diskussion in der Wissenschaft blieb auf einige wenige Stellungnahmen beschränkt; vgl. insb. Freund, ZStW 109 (1997), 455. 2 RegE, BT-Drs. 13/8587, S. 18. 3 Das, dem Vernehmen nach, eher der Aufwallung eines einzelnen Mitarbeiters des BMJ als einer konzeptionellen Planung, gewiss aber nicht dem dringlichen Bedürfnis der Zeit entsprang. 4 Vgl. Stellungnahme des Rechtsausschusses, BT-Drs. 13/9064; sowie Freund, ZStW 109 (1997), 455; Radtke, ZStW 110 (1998), 848. 5 Vgl. etwa Calliess, NJW 1998, 929; Dietmeier, ZStW 110 (1998), 393; Duttge, JZ 1998, 559; Erb, NStZ 1998, 537; Geißler, JR 1998, 186; Gössel, FS Hirsch, 1999, S. 183; Hörnle, Jura 1998, 547; Kreß, NJW 1998, 633; Kudlich, JR 1998, 357; Küper, ZStW 111 (1999), 30;
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Der folgende kleine Beitrag will nicht die Spuren des Gesetzeswerks im Einzelnen zurückzuverfolgen, die namentlich mit ihren Wurzeln im E 1962 ein eher überraschendes, ihrerseits rückwärtsgewandtes Erbe antraten. Es soll gefragt werden, was aus dem Material „geworden“ ist, das der Justiz, der Wissenschaft und den Bürgern damals eilig vor die Füße geworfen wurde. Die Idee dazu knüpft an einigen der Fragen an, die Wolfgang Frisch im Jahr 2007 in seiner Untersuchung „Gesellschaftlicher Wandel als formende Kraft und Herausforderung des Strafrechts“ in der Festschrift für Heike Jung6 formuliert hat.
II. Zur Verantwortung des Gesetzgebers Das Schimpfen auf den Gesetzgeber ist so alt wie die Geschichte der modernen Gesetzgebung. Beschränkt auf die Geschichte des StGB überwiegen, sieht man von der Phase der Euphorie der 30er Jahre ab7, bei weitem die kritischen Stimmen. Die beinahe stereotyp wiederholten Attribute, mit welchen die Werke des Strafgesetzgebers bedacht werden, lassen sich zusammenfassen: Zu ungenau gezielt (dann aber auch wieder zu speziell); zu unpräzise formuliert (dann aber auch wieder: von Genauigkeitswahn getrieben); zu unsystematisch; zu weit gehend (zugleich: zu kurz springend); planlos; populistisch; kampagnengesteuert; gesetzestechnisch unzureichend. Die Wiederkehr der Klage spricht nicht zwingend dafür, dass sie zutrifft, weist aber darauf hin, dass Verständnisdifferenzen bestehen zwischen dem, was die Instanzen der Gesetzgebung unter „Reform“ verstehen, und dem, was das Publikum – Wissenschaft, Rechtsanwaltschaft, Justiz und interessierte Öffentlichkeit – erwartet oder wünscht. 1. Reformbegriff Die sechs Gesetze zur Reform des Strafrechts stammen aus den Jahren 1969, 1970, 1973, 1974 und 1998.8 Sie weisen, von den beiden ersten abgesehen, keine geLesch, JA 1998, 474; Murmann, NStZ 1999, 15; Rönnau, JR 1998, 441; Schroeder, GA 1998, 571; Stächelin, StV 1998, 98; Wolters, JZ 1998, 397; weiterhin Dencker/Struensee/Nelles/ Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz, 1998, S. 1 ff.; Schlüchter (Hrsg.), Bochumer Erläuterungen zum 6. StrRG, 1998, S. 1 ff.; Lackner/Kühl, StGB, Nachtrag zur 22. Aufl., 1998; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999, Einl. Rn. 11. Tendenziell anders etwa Radtke, ZStW 110 (1998), 848 ff. 6 Frisch, FS Jung, 2007, S. 189 ff. 7 Vgl. beispielhaft etwa Wolf, Krisis und Neubau der Strafrechtsreform, 1933 (Recht und Staat, Heft 103); Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, 1934 (Der deutsche Staat der Gegenwart Heft 3), S. 35: „Der Sieg des Nationalsozialismus bedeutet für das Werk der Strafrechtsreform […] Neuschöpfung aller strafrechtlichen Grundbegriffe.“ 8 Erstes StrRG vom 25. 06. 1969 BGBl I 645); Zweites StrRG vom 04. 07. 1969 (BGBl I 717); Drittes StrRG vom 20. 05. 1970 (BGBl I 505); Viertes StrRG vom 23. 11. 1973 (BGBl I 1725); Fünftes StrRG vom 18. 06. 1974 (BGBl I 1297); Sechstes StrRG vom 26. 01. 1998 (BGBl I 164).
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meinsamen Merkmale und Zielsetzungen auf; der auf eine „Gesamtreform“ abzielende Impetus der Großen Strafrechtskommission war mit den Entwürfen 1960 und 1962 und der mit dem AE eingeleiteten Wende weithin verbraucht. Der Begriff der „Reform“ hat insofern schon deshalb eine merkwürdig unklare Bedeutung, als sein allgemeines Verständnis auf eine inhaltlich-programmatische Modernisierung hinweist, seine strafrechtspolitische Verwendung aber an jede beliebige Gesetzesänderung geheftet wird: Als „Reform“ galt die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ebenso wie die Aufhebung des § 217 a.F.; die Einbeziehung der Steuerhinterziehung in den Vortatenkatalog der Geldwäsche ebenso wie die Verdopplung des Strafrahmens der gefährlichen Körperverletzung. Der Begriff hat keine materielle Orientierungskraft (mehr); daher vermag er auch als Maßstab der Kritik nichts zu leisten. Galt seit Ende der 60er Jahre längere Zeit als „Reform“, was als „Liberalisierung“ bezeichnet werden konnte, kehrte sich dies ab Anfang der 80er Jahre eher um: Weitreichende Wandlungen der Gesellschaft führten zu einem eklatanten Stimmungswechsel in der Strafrechtspolitik und zu einer Richtungsänderung des Trends von „Freiheit vom Strafrecht“ hin zu „Sicherheit durch Strafrecht“.9 2. Gesetzgeber Der „Gesetzgeber“ des demokratischen Rechtsstaats ist ein Wesen, an dem die Versuche der Verantwortungs-Zuschreibung allzu leicht abgleiten. Wer ist das: Der Deutsche Bundestag (Art. 70 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 1, 77 I S. 1 GG)? Sein Rechtsausschuss (§§ 54 ff. GeschO; derzeit 37 Mitglieder)? Die Bundesregierung (Bundesministerium der Justiz)? Für jede dieser Möglichkeiten sprechen Gründe. Formell richtig ist die erste; aber jeder weiß, dass sie purer Euphemismus ist: Was weiß ein Abgeordneter des Deutschen Bundestags von einem Artikel-Gesetz (zur StGB-Änderung), dem er – nach Maßgabe des Abstimmungsplans der Fraktion – zustimmt oder nicht? Die Belastung der Abgeordneten ist derart angewachsen, dass die ehrliche Antwort nur lauten kann: (Fast) nichts, wenn nicht zufällig das Gesetzesvorhaben in sein vor-politisches Berufsleben fällt oder in eine Zuständigkeit, die ihm von der Fraktion zugewiesen wurde oder in die er sich einarbeiten will zur Beförderung seines weiteren Wegs. Zum Rechtsausschuss: Im Grundsatz kann davon ausgegangen werden, dass die Fraktionen des Parlaments Abgeordnete entsenden, die über Sach-Kenntnis und Sach-Erfahrung verfügen. Eine Garantie dafür gibt es nicht.10 Die Lage ist insgesamt unübersichtlich: Ob der Ausschuss eine Stätte der Sachkenntnis ist oder eine solche der (Partei-)Politik, bleibt immer ambivalent und soll auch so sein: Gefragt ist nicht 9
Frisch, FS Jung, 2007, S. 189, 195 ff. Der Verfasser war einige Jahre lang Referatsleiter im Justizministerium eines Bundeslandes und hatte gelegentlich dem Rechts- und Verfassungsausschuss sowie dem Petitionsausschuss des Landesparlaments Auskunft zu erteilen. Einer nicht ganz unerheblichen Anzahl von Mitgliedern dieser Ausschüsse waren Grundbegriffe des Straf- und Strafprozessrechts fremd. 10
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nach Wahrheit, sondern nach Legitimität. Die Mitglieder des Ausschusses sagen so oder sagen so. Sie haben ihre Gründe; wir haben sie gewählt und könnten es im Zweifel nicht besser. Sie sind in einem auf Dauer schwer erträglichen Maß überlastet, überschüttet von der Flut der Drucksachen. Sie nicken ab oder verdammen, was ihnen Mitarbeiter aufschreiben oder die Fraktionsführung vorgibt oder das politische Gespür empfiehlt, das sie hierher gebracht hat. Sie interessieren sich für Sportpolitik oder Kindschaftsrecht oder Wertpapiere; sie waren früher einmal (oder sind noch) Rechtsanwälte in Cuxhaven oder Villingen, Zwickau oder Wolfratshausen; Strafrechtsdogmatik ist meist nicht das Gebiet ihrer Kunst. Wenn es um bedeutendere11 Fragen geht, werden öffentliche Anhörungen von Sachverständigen und/oder Verbänden veranstaltet. Jede Fraktion benennt – nach parteilichem Proporz –, eine Anzahl von Sachverständigen. Diese werden, sofern ihre Ansichten nicht schon bekannt oder sie nicht Mitglieder der sie benennenden Partei sind, vor der Benennung befragt, ob und inwieweit sie die Position der jeweiligen Partei teilen; verneinen sie dies, findet sich ein anderer. Das ist nicht verwerflich; es zeigt nur, dass es um Rechts-Politik geht und Sachverstand nur eine unter mehreren Voraussetzungen hierfür ist.12 Nach der Anhörung entscheidet der Ausschuss in der Regel mehrheitlich, dass die Sachverständigen, die von den Mehrheitsfraktionen geladen wurden, aus sachlichen Gründen die überzeugenderen waren; die Minderheit findet die von ihr geladenen Sachverständigen überzeugender. Das größte Maß von Kontinuität, Sachverstand und Nachhaltigkeit wird vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) eingebracht.13 Freilich können größere Gesetzesvorhaben oft nicht kontinuierlich und anhand eines einheitlichen Konzepts entwickelt werden, namentlich wenn sie sich über die Grenze einer Legislaturperiode erstrecken. Ressortbeteiligungen, Änderungen rechtspolitischer Prioritäten, auch personelle Veränderungen können erhebliche Wirkungen entfalten. Überdies ist – das 6. StrRG ist ein besonders gutes Beispiel dafür14 – die Einfluss- und Korrekturmöglichkeit sehr beschränkt, wenn ein Entwurf erst einmal auf das freie Feld der politischen Diskussion hinausgetreten ist. Die Veränderungen zwischen dem Regierungsentwurf des 6. StrRG15 – identisch mit dem Entwurf CDU/CSU und FDP16 – und der 11 Nach welchen Kriterien diese Bedeutung gemessen wird, bleibt offen, obgleich es abstrakt leicht zu bestimmen ist: Sachverständigen-trächtig sind Themen, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden oder die Themen betreffen, deren Vertrautheit den Abgeordneten nicht ohne Weiteres unterstellt wird. Dabei ist freilich die eigentlich interessante Frage nicht beantwortet, ob sich die Legitimationswirkung der Anhörungen eher nach innen oder eher nach außen richtet. 12 So erklärt sich, dass es Sachverständige gibt, die zu beinahe allen Themen eines Sachgebiets befragt werden. 13 Der oft eher abschätzig verwendete Begriff der „Ministerialbürokratie“ schwankt zwischen einer soziologischen Bedeutung im Sinne Max Webers und einer politischen Bedeutung, also einer positiven Konnotation als Inbegriff rationaler Herrschafts-Verwaltung und einer negativen Konnotation als willfähriger Apparat politischen Willens. 14 Vgl. auch oben Fn. 3. 15 BT-DRs. 13/8587.
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vom Rechtsausschuss empfohlenen Fassung17 waren bedeutend; am Ende sollte eine „Formulierungshilfe“ aus dem BMJ, in adrenalindurchdrungener Nachtschicht erstellt, alle verlorenen Fäden wieder zusammenführen. Aus den genannten Gründen ist die Genauigkeit, mit welcher sich ein verantwortlicher „Gesetzgeber“ finden lässt, von vornherein beschränkt. Umgekehrt ist auch das Maß der empfundenen Verantwortung stark eingeschränkt: Sie löst sich im bürokratischen Ablauf und in der außerordentlichen Vielzahl einander überschneidender Vorhaben in Nichts auf. Das Ergebnis sind – oft beklagt, schwierig zu ändern – Gesetze, für deren Entstehen und Inhalt niemand wirklich zuständig ist, die schon mit ihrem Inkrafttreten in die Leere einer „praktischen Bewährung“ ohne Urheber fallen und mit deren Geltungs-Wirklichkeit bereits nach kurzer Zeit niemand mehr etwas zu tun haben will. Das 6. StrRG ist ein Musterbeispiel hierfür, begünstigt namentlich durch den Regierungswechsel wenige Monate nach seinem Inkrafttreten.18 3. Fehler des Gesetzes Das 6. StrRG enthielt nicht allein im Entwurf19, sondern auch in der schließlich in Kraft getretenen Fassung eine ganze Reihe handwerklicher Fehler; darüber hinaus viele offene Fragen, systematische Ungereimtheiten und Lücken. Einige davon sind schon im Gesetzgebungsverfahren gesehen, aber wegen des Zeitdrucks20 hingenommen worden. Die meisten beruhen ersichtlich auf dem großen zeitlichen Druck, unter dem das Vorhaben durchgeführt wurde. Sie belasten die Strafrechtspraxis in Deutschland seit 15 Jahren. Einige Beispiele: a) Zur Gruppe offenkundiger Redaktionsmängel gehört die vollständig missglückte Vorschrift des § 297 StGB (Gefährdung von Schiffen, Kraft- und Luftfahrzeugen durch Bannware). Die tatbestandliche Handlung besteht im Verbringen von Bannware an Bord eines deutschen Schiffes. Der Täterkreis ist wie folgt beschrieben: - Abs. 1 S. 1, Variante 1: „Wer ohne Wissen des Reeders oder des Schiffsführers […]“ - Abs. 1 S. 1, Variante 2: „Wer […] als Schiffsführer ohne Wissen des Reeders […]“ - Abs. 2: „[…] wer als Reeder ohne Wissen des Schiffsführers […]“
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BT-Drs. 13/7164. BT-Drs. 13/8991. 18 Gewiss träumt – der Verf. weiß, wovon er spricht – fast jeder Referatsleiter von Enno Becker und vom ganz großen Wurf. Die Maschinerie wird ihn eines Besseren belehren. 19 Dazu die Hinweise von Freund, ZStW 109 (1997), 455. 20 Für den es keinen sinnvollen Grund gab außer dem Herannahen des Endes der Legislaturperiode mit ungewisser Perspektive der letzten Regierung Kohl. Gleichwohl wäre Zeit gewesen für die Organisation einer sachgerechten Einholung sachverständigen Rats. 17
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Als Taterfolg aller drei Fälle ist die Gefahr einer Bestrafung des Reeders oder des Schiffsführers vorausgesetzt (Abs. 1 Nr. 2; Abs. 2). Damit ist exakt derselbe Inhalt nicht weniger als dreimal hintereinander geregelt: Sowohl „der Reeder ohne Wissen des Schiffsführers“ (Abs. 2) als auch „der Schiffsführer ohne Wissen des Reeders“ (Abs. 1 S. 1 Var. 2) sind offenkundig bereits in Abs. 1 S. 1, Var. 1 enthalten. Dieser unbeholfen und laienhaft wirkende redaktionelle Fehler beruht auf einer Änderung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung durch den Rechtsausschuss des Bundestags, der die Konsequenzen der Änderung offensichtlich nicht verstanden hatte. Sie wurde im weiteren Fortgang redaktionell nicht sorgfältig geprüft.21 Das führte zu der absurden dreifachen Wiederholung desselben Tatbestands, die freilich durch die verschachtelte Form der Gesetzesformulierung so unübersichtlich ist, dass sie selbst geübten Gesetzeslesern zunächst gar nicht auffällt. Da der Leser inzwischen Tatbestandfassungen gewohnt ist, die endlos mäandernd noch die kleinste „Lücke“ abzudecken versuchen, überliest er den blanken Unsinn des § 297 in der Annahme, es mit einer „modern“ perfektionierten Tatbestandsfassung zu tun zu haben.22 Das führt, falls der Tatbestand ausnahmsweise einmal angewandt werden soll, zu Verwirrung und Fehlanwendung der Vorschrift, weil der Rechtsanwender nicht damit rechnet, gänzlich überflüssige Gesetzes-„Alternativen“ vorzufinden, und Anwendungs-Differenzierungen zu entwickeln versucht, die gar nicht existieren. Das Sensationelle der Neufassung wurde, kaum sichtbar, in Abs. 4 der Vorschrift verborgen: „Schiff“ im Sinne von § 297 ist auch der Lastkraftwagen (ebenso Flugzeug und Eisenbahn), „Reeder“ ist auch der Kfz-Halter, „Kapitän“ auch der Truckfahrer.23 Bannware sind alle Sachen, deren Einfuhr verboten oder einer strafbewehrten Zollpflicht unterworfen ist.24 Seit 1998 ist daher nach § 297 strafbar, wer z. B. Betäubungsmittel an Bord eines LKW oder sonstigen Kfz bringt. Dies dürfte Hunderttausenden BtM-Einführern ebenso wie den meisten Strafverfolgungsbehörden verborgen geblieben sein, denn § 297 hat nach 1998 ein ebenso beschauliches, durch Anwendung nicht gestörtes Leben gefristet wie zuvor. Der Bundesgerichtshof hat zu der Vorschrift – die nach der Erweiterung eigentlich das Zeug zum Massendelikt hat – nach der Neufassung ebenso viele Entscheidungen getroffen wie vorher: keine einzige. Sollte es – eher versehentlich – doch einmal zur Strafverfolgung eines Schiffsführers am Steuer eines Sattelschleppers kommen, wird dieser sich wundern, dass er „wegen Gefährdung von Schiffen und Luftfahrzeugen“ verurteilt wird. Denn die gesetzliche Überschrift führt alle Gegenstände auf und verbindet sie mit „und“ statt zutreffend mit „oder“. b) Beispielhaft für viele kleine Nachlässigkeiten ist die redaktionelle Fehlerhaftigkeit von § 309 Abs. 1 StGB. Es heißt dort: „Wer in der Absicht, die Gesundheit eines anderen Menschen zu schädigen, es unternimmt, ihn einer ionisierenden Strah21
Vgl. dazu Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 297 Rn. 4a. Siehe dazu auch Krack, wistra 2002, 81. 23 Zu dieser Erweiterung vgl. schon Schroeder, ZRP 1978, 12. 24 Zu Einzelheiten vgl. Janovsky, NStZ 1998, 117. 22
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lung auszusetzen, die dessen Gesundheit zu schädigen geeignet ist […]“. Das Wort „dessen“ soll „einen anderen Menschen“ verweisen. Das ist grammatisch falsch, weil der Relativsatz an das Pronomen „ihn“ anknüpft und das Wort „dessen“ daher keinen sinnvollen Bezug hat. Richtig wäre hier das Wort „seine“. Das ist ein kleiner, die Gesetzesanwendung nicht behindernder Fehler. Ärgerlich ist er dennoch, denn er zeugt von redaktioneller Schlampigkeit. c) In den Auswirkungen ärgerlicher ist z. B. die gesetzliche Überschrift des § 306d StGB: „Fahrlässige Brandstiftung“. Die Vorschrift regelt in Abs. 1 Vorsatz-/Fahrlässigkeits-Kombinationen, für die § 11 Abs. 2 StGB gilt: Danach handelt es sich in beiden Varianten des § 306d Abs. 1 um Vorsatztaten. Dies ist bei der Formulierung der Überschrift, die seit dem 6. StrRG Teil des Gesetzestextes ist, nicht beachtet worden. Nach allgemeinen Regeln ist, wenn eine Tat sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig begangen werden kann (z. B. §§ 223/229 oder § 315c Abs. I/ Abs. III Nr. 2 StGB), die Begehungsform im Urteilstenor auszusprechen. Es wäre freilich offenkundig unsinnig, wegen „vorsätzlicher fahrlässiger Brandstiftung“ zu verurteilen. Selbst wenn man auf diese Absurdität verzichtet, ist die gesetzliche Überschrift unzutreffend und irreführend. Nicht vermeidbar ist die grob fehlerhaft wirkende Tenorierung im Übrigen bei Teilnahme-Taten: Da zu Vorsatztaten nach § 306d Abs. 1 sowohl Anstiftung als auch Beihilfe möglich sind (§§ 26, 27 StGB), sind Teilnehmer „wegen Anstiftung zur fahrlässigen Brandstiftung“ bzw. „wegen Beihilfe zur fahrlässigen Brandstiftung“ zu verurteilen. Es zählt aber zu den selbstverständlichen Grundsätzen des Allgemeinen Teils des StGB, dass Anstiftung und Beihilfe nur zu vorsätzlichen Taten möglich sind. Da die gesetzliche Überschrift des § 306d StGB fehlerhaft § 11 Abs. 2 nicht beachtet, wirken die genannten zwingenden Urteilsformeln grob falsch, obgleich sie in der Sache das Richtige meinen. Ähnlich ist es bei § 152a StGB: Die gesetzliche Überschrift lautet: „Fälschung von Zahlungskarten, Schecks und Wechseln“. Wenn die Tenorierung nach Maßgabe der gesetzlichen Überschrift erfolgt, führt dies zu Unklarheiten und Missverständlichkeiten, denn wer (nur) einen Scheck gefälscht hat, sollte nicht „wegen Fälschung von Zahlungskarten und Wechseln“ verurteilt werden. Man könnte das leicht korrigieren, indem man die gesetzliche Überschrift dem Gesetzestext des Abs. 1 anpasst, der zutreffend von „oder“ spricht. Ein letztes Beispiel für Schwierigkeiten durch unsorgfältige Redaktion: § 201 Abs. 3 StGB bedroht den mit Strafe, der „eine befugt hergestellte Bildaufnahme von einer anderen Person, die sich in einer Wohnung […] befindet, wissentlich unbefugt einem Dritten zugänglich macht […]“ Gemeint ist, dass die Bildaufnahme bereits früher hergestellt wurde und die aufgenommene Person sich damals in einer Wohnung befand. Es kommt also, entgegen dem Wortlaut, nicht darauf an, wo sich die Person zum Tatzeitpunkt „befindet“. Das erschließt sich bei gutem Willen aus dem Sinnzusammenhang der Vorschrift; gleichwohl ist die ungenaue Formulierung unschön; und wer ein paar Jahre Justizpraxis hinter sich hat, weiß, dass es keine
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Garantie dafür gibt, dass eine Beratung sich nicht eines schönen Tages bis zur Erbitterung mit der Frage befasst, warum „der Gesetzgeber“, dem Kenntnis der sprachlichen Formen von Vor- und Gleichzeitigkeit zwingend zu unterstellen sei, eine Person in einer Wohnung davor schützen möchte, dass gleichzeitig irgendwo auf der Welt der Täter ein beliebiges Foto des Opfers an eine dritte Person übergibt …25 d) Gewichtiger als offenkundige redaktionelle Fehler sind systematische Fehlverständnisse. Der folgenreichste Fehler des 6. StrRG betraf ein solches: In die §§ 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a wurden Tatbestandsvarianten eingefügt, die das (bloße) Mitsichführen eines „gefährlichen Werkzeugs“ – neben dem Mitführen einer „Waffe“ – zum Qualifikationsmerkmal des Diebstahls bzw. des Raubs erheben. In § 250 Abs. 2 Nr. 1 wurde in Anknüpfung hieran das „Verwenden“ solcher Gegenstände unter Strafe gestellt; in § 250 Abs. 2 Nr. 2 das Mitführen (nur) einer Waffe beim Bandenraub. All dies wäre gut, wenn man wüsste, was ein „gefährliches Werkzeug“ ist und wodurch es sich von der „Waffe“ einerseits, von einem nicht gefährlichen, nämlich „sonst einem“ Werkzeug oder Gegenstand andererseits, dessen Mitführen Diebstahl, Raub, räuberischen Diebstahl und Räuberische Erpressung nur dann qualifiziert, wenn ein Einsetzen beabsichtigt ist (§§ 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b). Das hat der „Gesetzgeber“ gesehen, seine Überlegungen dann jedoch mit dem unglückselig kurzschlüssigen Satz abgebrochen, zur Definition des „gefährlichen Werkzeugs“ könne ohne weiteres auf die Auslegung des § 223a a.F., § 224 n. F. zurückgegriffen werden.26 Der oder die Urheber dieser Erläuterung waren Laien oder übermüdet oder zu allem entschlossen, denn sie haben Offenkundiges übersehen: Dass die „Gefährlichkeit“ des bei einer gefährlichen Körperverletzung eingesetzten Werkzeugs sich nach 100jähriger Rechtsprechung und allgemeiner Ansicht aus dem Zusammenhang der konkreten Verwendung mit dem Erfolg des Grunddelikts ergibt.27 Dies lässt sich auf eine allein abstrakte Gefährlichkeit des nicht verwendeten und auch nicht zur Verwendung bestimmten, sondern nur mitgeführten Gegenstands (§§ 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, 250 Abs. I Nr. 1 Buchst. a, Abs. 2 Nr. 2) schlechterdings nicht übertragen. Unerklärlich ist, dass dieser Fehler bei der Schlussredaktion nicht mehr auffiel. Er führte in den Jahren ab 1998 zu einer Vielzahl widersprüchlicher Entscheidungen 25 Im Revisionssenat ist dies der Moment des Kompromisses: Vielleicht lässt sich irgendwo in dem 100seitigen Urteil des Landgerichts eine Andeutung finden, dass das Tatopfer auch damals, zum Zeitpunkt der Aufnahme, schon „in der Wohnung“ war? Sie zu finden, ist nicht wirklich schwer: Im Zweifel entnehmen wir es daraus, dass der Tatrichter das Gegenteil nicht festgestellt hat. Ist man hierher gelangt, ist der Rest leicht: der sozialkompetente Senatsvorsitzende wird vorschlagen, die Frage „offen zu lassen“. Dies bewirkt, dass der lange Beratungstag doch noch zu Ende geht und dass demnächst in Kommentaren zu lesen ist, es sei „streitig“, ob abgebildete Menschen sich in Wohnungen befinden oder befanden müssen. Von da an ist alles möglich. 26 BT-Drs. 13/9064, S. 18. 27 Ständ. Rspr.; vgl. BGHSt 3, 109; 14, 152, 154; 30, 375, 377; BGH NStZ 2002, 86, 2007, 95; BGH NStZ-RR 2010, 205 f.
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und Veröffentlichungen28 und schließlich – auf Vorlage – zu einer Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen, die in ihrer angstvollen Umgehung der zu lösenden Rechtsfrage und ihrer dogmatischen Fehlerhaftigkeit ihrerseits zu den bemerkenswertesten Ausrutschern des Gerichts zählt29: „In Bezug auf die geladene Schreckschusspistole hält der Große Senat am Begriff der Waffe nicht fest.“30 Mit diesem skurrilen Rechtssatz wurde der Einzelfall erledigt, aber keine einzige Frage gelöst; vielmehr zahlreiche neue Fragen begründet.31 Der systematische Fehler des 6. StrRG hat zu einer – bis heute anhaltenden – desaströsen Wirrnis in einem Kernbereich des StGB geführt.32 e) Weniger spektakulär, dafür vertrackter sind die systematischen Probleme des § 306d StGB („fahrlässige Brandstiftung“). In Abs. 1, Halbsatz 2 ist eine in sich widersprüchliche Beziehung zu Taten nach § 306 und § 306a StGB geregelt: Nach § 306d Abs. 1 Halbsatz 2 wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, wer „in den Fällen des § 306a Abs. 2“ die Gefahr (einer Gesundheitsschädigung) fahrlässig verursacht. Bei der Anwendung der (selbst für Fachleute schwer verständlichen) §§ 306a, § 306d kann nach zutreffender Ansicht des BGH33 und der hM in der Literatur ein absurder Wertungswiderspruch nur dann vermieden werden, wenn die Formulierung „eine in § 306 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 bezeichnete Sache“ dahin ausgelegt wird, dass § 306a Abs. 2 nicht – wie § 306 Abs. 1 – fremde Sachen meint, sondern tätereigene und herrenlose Sachen.34 Das führt in § 306d dazu, dass das vorsätzliche Anzünden eigener Sachen, wenn es zur Gesundheitsgefährdung einer dritten Person führt, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht ist (§ 306d Abs. 1, 2. HS). Das fahrlässige Anzünden eigener Sachen ist, wenn es zu derselben Gesundheitsgefährdung einer dritten Person führt, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht (§ 306d Abs. 2). Dieses Ergebnis ist aus Sicht des Rechtsguts unverständlich, 28
Nachweise für beides bei Fischer (Fn. 21), StGB, § 244 Rn. 8 ff.; § 250 Rn. 6 ff. Vgl. dazu Fischer, NStZ 2003, 569. 30 BGHSt 48, 197, 201. 31 Selbstverständlich kann man nicht „den Begriff der Waffe“, also einen systematischen Gattungsbegriff, für einen Einzelfall aufgeben. Wenn man ein Werkzeug (zur Verletzung nicht seiner Art nach bestimmt, aber objektiv geeignet) „Waffe“ nennt und „für diesen Fall“ am Begriff der Waffe im technischen Sinn (seiner Art nach zur Verletzung bestimmter Gegenstand) nicht festhält, ist die systematische Unterscheidung insgesamt in Luft aufgelöst: Wenn man entscheidet, dass man „für Schäferhunde am Begriff der Katze nicht festhält“ oder für lila Kühe nicht am Begriff des Flugzeugs, hat man in Wahrheit alles aufgegeben. 32 Typisch für solche Abläufe ist: Schon etwa sechs bis zehn Jahre später – die Spanne einer durchschnittlichen Juristenausbildung – weiß niemand außer ein paar in Ehren ergrauten Kämpen mehr, „wie das alles eigentlich gekommen ist“. Ihre Wortmeldungen auf Tagungen werden, mit Glück, geduldig angehört und freundlich beklatscht. Sie haben verloren. Die Karawane nagt an der nächsten Palme. Das ist ungerecht. Trägt man diesen Hergang in einer Vorlesung vor, halbiert sich die Hörerschar bis zur folgenden Woche, da die Praxisrelevanz fehlte. 33 BGH NStZ-RR 2000, 209. 34 Vgl. dazu im einzelnen Fischer (Fn. 21), StGB, § 306a Rn. 10 ff. mwN.; anders zunächst Fischer, NStZ 1999, 13. 29
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denn das Anzünden eigener Sachen ohne Gesundheitsgefährdung ist stets straflos. Die Differenzierung des Strafmaßes um zwei Jahre je nach dem subjektiven Tatbestand der Beschädigung einer eigenen Sache des Täters hat keine sachliche (Unrechts-)Grundlage. f) § 307 Abs. 3 StGB enthält Erfolgsqualifikationen der Taten nach Abs. 1 (Nr. 1) und Abs. 2 (Nr. 2). Danach ist nach Abs. 3 Nr. 2 die Strafe mindestens fünf Jahre, wenn „der Täter […] in den Fällen des Absatzes 2 […] wenigstens leichtfertig den Tod eines anderen Menschen verursacht.“ Somit ist auch die vorsätzliche Todesverursachung einbezogen. Die „Fälle des Absatzes 2“ setzen voraus, dass der Täter vorsätzlich erfolgreich eine Kernexplosion herbeiführt. Dagegen reicht es für Abs. 1 aus, wenn der Täter dies versucht (Unternehmensdelikt). Das führt im Ergebnis dazu, dass die vorsätzliche Tötung eines Menschen beim Versuch einer (vorsätzlichen) Kernexplosion mit mindestens 10 Jahren, bei Vollendung der (vorsätzlichen) Kernexplosion aber nur mit fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist. Dieses Ergebnis ist offenkundig widersinnig. Auflösen könnte man den Widerspruch nur, wenn man entgegen dem eindeutigen Wortlaut die Einbeziehung des Vorsatzes allein auf den Fall des Abs. 3 Nr. 1 bezieht und Abs. 3 Nr. 2 auf leichtfertige Todesverursachung beschränkt.35 Ähnlich fehlerhaft ist § 315 Abs. 3 Nr. 2, Variante 1 StGB: Dort ist eine ErfolgsQualifikation für den Fall vorgesehen, dass der Täter „durch die Tat eine schwere Gesundheitsschädigung eines anderen Menschen […] verursacht.“ Hierfür gilt § 18 StGB; hinsichtlich der schweren Folge reicht daher einfache Fahrlässigkeit aus. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung36 war von der Regelung von Erfolgsqualifikationen ganz abgesehen worden; der Bundesrat schlug abgestufte Regelungen für leichtfertige schwere Gesundheitsschädigung und leichtfertige Todesverursachung vor37. Nach Überprüfung durch die Bundesregierung wurde (nur) Abs. 3 Nr. 2 (fahrlässige schwere Gesundheitsschädigung) aufgenommen; eine Regelung für die Verursachung des Todes eines Menschen unterblieb.38 Das führt dazu, dass bei fahrlässiger Todesverursachung durch eine Tat nach § 315 Abs. 1 nur der Grundtatbestand des § 315 Abs. 1 in Tateinheit mit § 222 anzuwenden ist (Vergehen), während bei fahrlässiger schwerer Gesundheitsschädigung die Tat ein Verbrechen im Sinne von Abs. 3 Nr. 2 ist und höher bestraft wird.39 35
Vgl. dazu Fischer (Fn. 21), StGB, § 307 Rn. 7. BT-Drs. 13/8587, S. 21 f., 79. 37 Ebd., S. 79. 38 Vgl. dazu auch LK-StGB/König, 12. Aufl. 2008, § 315 Rn. 122. 39 Dieses widersinnige Ergebnis ließe sich vermeiden, wenn man die schwere Gesundheitsschädigung (Abs. 3 Nr. 2) als „Durchgangsstadium“ des Todes und die (einfach fahrlässige) Todesverursachung daher als in Abs. 3 Nr. 2 mitgeregelt ansähe. Dem stehen allerdings gewichtige Auslegungs-Grundsätze entgegen: Zum einen ist eine Regelung der Todesverursachung im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich erörtert und gestrichen worden (vgl. oben); zum anderen sind entsprechende Qualifikationen in §§ 306b Abs. 1, 306c, § 308 Abs. 2 und 3, § 309 Abs. 3 und 4, § 312 Abs. 3 und 4, also im unmittelbaren systematischen Zusammenhang 36
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g) Die Aufzählung ist keineswegs vollständig.40 Nicht aufgeführt sind Neufassungen, die man nicht eigentlich als „fehlerhaft“ bezeichnen kann, die aber als inhaltlich problematisch oder unklar gelten müssen: § 221 StGB; § 246 StGB. Bemerkenswert für ein Gesetzeswerk, das „die Reform des Besonderen Teils zu einem Abschluss bringen“ wollte, ist der Umstand, dass eine – seit langem als notwendig angesehene – Neufassung der Tötungsdelikte ebenso ausblieb wie eine Befassung mit beinahe allen rechtspolitisch „schwierigen“ Themen, etwa der Sterbehilfe, der eigenmächtigen Heilbehandlung, der Abgeordnetenbestechung41; auch der Gesamtbereich des „Risiko“-Strafrechts wurde im Grundsatz unverändert gelassen.42 Alte Fehler wurden – obgleich bekannt – unverändert weitergetragen.43 mit § 315 Abs. 3, ausdrücklich vorgesehen; sie alle regeln die (leichtfertige) Todesverursachung neben der Verursachung einer schweren Gesundheitsbeschädigung. Eine „korrigierende“ Auslegung gegen diese Systematik ist vielleicht möglich, wirkt aber gezwungen und setzt (fehleranfällige) komplizierte Erwägungen des Rechtsanwenders voraus. Das ließe sich durch eine ausdrückliche Regelung (entsprechend § 312 Abs. 4 oder § 309 Abs. 4) leicht vermeiden. 40 Vgl. auch Schroeder, GA 1998, 571 ff. 41 15 Jahre später steht ein – praktisch kaum bedeutsames – Gesetz gegen gewerbliche Sterbehilfe vor der Vollendung; über die beiden wichtigen anderen Themen wird unvermindert ohne Ergebnis weiter nachgedacht. 42 Zu verweisen ist insb. auf das geradezu lächerlich ineffektive Umweltstrafrecht, das als Appendix verwaltungsrechtlicher Genehmigungslabyrinthe ein verborgenes Dasein im 29. Abschnitt des BT führt. Zu strafrechtlichen Erfordernissen der „Risikogesellschaft“ vgl. Frisch, FS Jung, S. 189, 194 ff. 43 Auch hierfür ein Beispiel: die Regelungen der §§ 239a, 239b StGB i. d. F. des StÄG vom 09. 06. 1989 (BGBl I 1057). Damals wurden die Vorschriften von dem bis dahin geltenden „Dreipersonen-Verhältnis“ auf „Zweipersonen-Verhältnisse“ ausgedehnt: Auch die entführte Person (oder die Person, derer sich der Täter bemächtigt hat) kann Opfer der (beabsichtigten) Erpressung (§ 239a) oder Nötigung (§ 239b) sein. Die Erweiterung beabsichtigte die Einbeziehung von Fällen politisch motivierter „Geiselnahmen“, bei denen die entführte Person selbst (Unternehmer; Politiker) zu irgendwelchen Leistungen oder Zugeständnissen gezwungen werden soll. In der Praxis spielt dieser Fall aber gar keine Rolle und wäre im Übrigen auch anders angemessen zu lösen. Unbeabsichtigt hat die Änderung der Grundstruktur der Delikte (Opfer der Nötigung ist die „Geisel“ selbst) zahllose Fälle in den Anwendungsbereich des Wortlauts einbezogen, die offenkundig den Tatbeständen nicht unterfallen (sollen): So ist z. B. eine Vergewaltigung ohne „Sich-Bemächtigen“ der Person schwer vorstellbar. Der BGH hat sich schon seit 1992 mit dem Problem befasst (vgl. BGHSt 39, 36; 39, 330; BGH NStZ 1994, 430) und mit der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen (BGHSt 40, 350) eine halbwegs praktikable Abgrenzung gefunden. Sie „funktioniert“ in der Praxis freilich nur, weil die Tatgerichte das Problem meist gar nicht erkennen und §§ 239a, 239b StGB nicht beachten, die Staatsanwaltschaften die Nichtanwendung nicht rügen. Das Grundproblem ist dadurch nicht beseitigt. Weiterhin kommt es in einer Vielzahl von Fällen zu problematischen, fehleranfälligen und sehr schwer vorhersehbaren Einzelfalls-Entscheidungen über die Frage, wann bei Entführungen und Gewaltverhältnissen „eine gewisse Stabilisierung der Lage“ eingetreten und daher § 239a oder § 239b anzuwenden ist. Die „stabile Lage“ ist eine vom Großen Senat erfundene Anforderung, die im Wortlaut des Gesetzes keinerlei Ausdruck gefunden hat, vom Gesetzgeber nicht gewollt war und bei „Dreiecksverhältnissen“ auch gar nicht angewandt wird. Eine solche Anwendungsunsicherheit ist bei Strafnormen mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren nicht hinnehmbar. Die Probleme ließen sich gesetzlich leicht lösen.
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4. Fehlerkorrektur Fehler können passieren, bei großen Werken allzumal. Schwer verständlich ist, dass sie nicht korrigiert werden, auch wenn sie erkannt sind. Das gilt nicht allein in Fällen, in denen ganze Vorschriften (z. B. § 43a StGB) oder Teile von Vorschriften (z. B. § 64 Abs. 2 a.F. StGB) für verfassungswidrig und nichtig erklärt worden sind.44 Es gilt auch und gerade bei offenkundigen redaktionellen (vgl. oben zu § 297) und systematischen (vgl. oben zu § 250) Fehlern. Erklärlich ist das nur, wenn man die oben I skizzierte Struktur der „Gesetzgeber“-Verantwortlichkeit vor dem Hintergrund der hohen „Schlagzahl“ der rechtspolitischen Diskussion und der Beschränkungen durch die kurze Dauer der Legislaturperioden bedenkt. Hinzu kommt ein erstaunlich tiefes Vertrauen – mit fließenden Übergängen zur Chuzpe – in die Leistungen von Rechtsprechung und Wissenschaft.
III. Zur Verantwortung der Kritik Die strafrechtswissenschaftliche Kritik hat ein ambivalentes, zwiespältiges Verhältnis zum „Gesetzgeber“. Mehr noch als „der BGH“ oder „die Rechtsprechung“ lädt die Abstraktheit der gesetzgeberischen Existenz ein zu Schmähungen, die man einem leibhaftigen Gegenüber in solcher Schärfe nicht zumuten würde. Sie lassen nach, wenn eine Einladung zur Sachverständigenanhörung (vgl. oben) erfolgt, können sich danach aber wiederum steigern, falls dem Gutachten nicht gefolgt wurde. Überdies muss man konstatieren, dass eine allgemeine Klage über die ständig sich verschlechternde Qualität der Gesetzgebung seit vielen Jahrzehnten zum guten Ton gehört und namentlich sowohl das Erstarken45 als auch das Ermatten der eigenen Kräfte zu begleiten scheint.46 Nun ist es weder die einzige noch die Hauptaufgabe von Strafrechtswissenschaftlern, das Gesetz auszulegen und „anzuwenden“. Vielfach geht es zunächst eher um 44
10 Jahre bzw. 53 (!) Änderungsgesetze nach der Entscheidung des BVerfG zu § 43a StGB vom 20. 03. 2002 (BGBl I 1340) stehen diese Vorschrift sowie zahlreiche Verweisungen auf sie weiterhin im Gesetz. Die verfassungswidrige Fassung des § 64 Abs. 2 a.F. blieb von 1994 (BVerGE 91, 1) bis 2007 (Gesetz vom 16. 07. 2007, BGBl I 1327) im Gesetz stehen und veranlasste in dieser Zeit viele hundert Fehlurteile, die (nur), wenn sie zum BGH gelangten, aufgehoben wurden – eine eklatante Verschwendung von Geld und Ressourcen. 45 Die gnadenlosesten Verrisse gesetzgeberischer Arbeit finden sich erfahrungsgemäß in Dissertationen. Es gibt kaum eine Vorschrift, die der Prüfung durch Doktoranden standhält. Namentlich der Bestimmtheitsgrundsatz (§ 1 StGB) hält blutige Ernte. Das beruht auf einem verbreiteten Missverständnis der Perspektive: Es geht nicht darum, ob sich irgendeine Auslegung finden lässt, die verfassungswidrig ist, sondern darum, eine finden, die der Verfassung genügt. 46 Man lese z. B. die „letzten“ Vorworte ausgeschiedener StGB-Kommentatoren: Seit 50 Jahren sind sie ein Ort der „tiefen Sorge“ und des Zorns über die „ständig zunehmenden“ Fehlleistungen des „Gesetzgebers“. (Ach, dass es doch wie damals wär!).
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eine Überprüfung des Gesetzes vor der Folie eigener Theorie.47 Freilich verlangen die heutige Literatur-Landschaft sowie die Aufgaben der Lehre auch von den meisten Hochschullehrern eine Arbeit „am Gesetz“, eine Systematisierung auch des Sperrigen, Unverständlichen, Unausgereiften. Die Strafrechtswissenschaft hat sich auf manche Teile – auf andere erstaunlicherweise viel weniger – des 6. StrRG mit großer Energie gestürzt, die Lehrbücher und Kommentar binnen zwei Jahren um- oder neugeschrieben und zahllose Probleme so aufbereitet, dass sie für den Zugriff der „Praxis“ handhabbar wurden. Die Aufregungen dabei waren, aufs Ganze gesehen, nicht groß: Am ehesten noch die Differenzierungen der „objektiven“, der „subjektiven“ und der „mittleren“ Meinungen zum „gefährlichen Werkzeug“ hatten ein gewisses aufwühlendes Potential.48 Die Streitfragen, ob man sich durch bloße Erklärung nun die ganze Welt zueignen könne (§ 246 StGB) oder ob die hilflose Lage schon vor dem oder erst durch das Im-Stich-Lassen eintreten müsse (§ 221 StGB), blieben dagegen vergleichsweise matt. Eine Durchsicht der Inhaltsverzeichnisse der ZStW ergibt 1999 (Bd. 111): fünf Abhandlungen zu spezifischen Fragen des 6. StrRG49 sowie Tagungsbericht der Strafrechtslehrertagung 1999 in Halle; 2000 (Bd. 112): zwei Abhandlungen50. Danach kehrt Ruhe ein. Ähnliches gilt für Goltdammer’s Archiv für Strafrecht: 1999 vier Beiträge51; 2000 zwei Beiträge52; 2001 zwei Beiträge53; 2002 ein Beitrag54. Das ist selbstverständlich nur ein Ausschnitt wissenschaftlicher Befassung55. Aber schon die Diskussionen auf der Berliner Tagung von 1999: „Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende“56 sowie die dazu veröffentlichen Beiträge57 wandten sich dem Gesetzeswerk allenfalls noch im resignativen Rückblick zu58 ; der weitestgehende Ausfall jeglichen Einflusses der wissenschaftli47 Vgl. dazu auch Hassemer, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 21, 42 ff. 48 Der Grund war vielleicht weniger die offenkundige Unlösbarkeit der Gesetzes-Wirrnis als die Möglichkeit, Fallbeispiele endlich einmal wieder frei aus der Lebenswirklichkeit zu entwerfen: Vom Golfschläger über den treuen Jagdhund bis zur Zigarre und zum Leibgurt des Forschers reichten die Fantasien der Gewalt; auch der befußte Schuh erlangte neue Zuwendung. 49 Arzt, S. 757; Küpper, S. 785; Küper, S. 30; Mitsch, S. 65; Rengier, S. 1. 50 Fischer, S. 75; Hilgendorf, S. 811. 51 Bussmann, S. 21; Freund, S. 509; Hecker, S. 332; Lesch, S. 365. 52 Kleczewski, S. 257; Rönnau, S. 410. 53 Maatsch, S. 75; Streng, S. 359. 54 Wolters, S. 303. 55 Insbesondere auch zahlreiche Dissertationen aus den Jahren 1999 ff. befassten sich mit Einzelfragen. Hinzuweisen ist auch auf die Habilitationsschrift von Radtke zum (neuen) System der Brandstiftungsdelikte (1998; vgl. dazu Fischer, GA 2001, 499). 56 Eser/Hassemer/Burkhard (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende. Rückbesinnung und Ausblick, 2000. 57 Vgl. insb. Schünemann, GA 2001, 205. 58 Vgl. etwa Kuhlen, in: Eser/Hassemer/Burkhard (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende. Rückbesinnung und Ausblick, 2000: „Die entschiedene
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chen Dogmatik auf den „Abschluss der Reform des BT“ wird als „Zeichen der Zeit“ zur Kenntnis genommen. Insgesamt wird man die „Stimmung“ umschreiben können als: Geringes Interesse am „verpassten“ Gesamtwerk; Unverständnis und harsche Kritik in Einzelheiten; Abwarten „praktischer Erfahrungen“. Mit den Ansprüchen des 6. StrRG auf umfassende systematische Neuordnung hat die Wissenschaft sich kaum weiter beschäftigt; das Gesetz gilt der wohl h.M. als handwerklich misslungen, kriminalpolitisch zweifelhaft und dogmatisch uninteressant; es unterscheidet sich insoweit kaum von der Mehrzahl der davor und danach erlassenen Änderungsgesetze. Die Wissenschaft hat sich alsbald wieder der Dogmatik des Allgemeinen Teils zugewandt.
IV. Zur Verantwortung der Rechtsprechung Welches die „Aufgaben“ der Rechtsprechung im Hinblick auf die Geltung des Strafgesetzes sind, ist normativ klar (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG), kriminalwissenschaftlich unübersichtlich, praktisch kompliziert. Sie hat jedenfalls das Gesetz – vorbehaltlich Art. 100 Abs. 1 GG und in den Grenzen des § 2 StGB – „anzuwenden“. Das 6. StrRG ist von der Justizpraxis binnen kürzester Zeit absorbiert worden. Die größten Schwierigkeiten der Umstellungszeit dürften für viele Gerichte und Staatsanwaltschaften die Beschaffung neuer Gesetzestexte und Kommentierungen und die Gewöhnung an die Neu-Nummerierung zahlreicher liebgewordener Vorschriften (§ 224 statt § 223a, usw.) gewesen sein. Bemerkenswert – und bislang m. W. systematisch nicht untersucht – ist der Umgang der Praxis mit den vielfachen Strafrahmenerhöhungen durch das Gesetz. Sie sind nach meinem Eindruck ohne Weiteres akzeptiert und übernommen worden. Das mag da nahe liegend gewesen sein, wo bestimmte Strafrahmen schon zuvor als systematisch oder kriminalpolitisch verfehlt galten; etwa in § 213 oder in § 250 Abs. 3 StGB. Es war aber eher erstaunlich in Bereichen, in denen die Strafrahmenerhöhung aufgrund einer allgemeinen rechtspolitischen „Theorie“ erfolgte, der zufolge der strafrechtliche Schutz für Vermögensgüter gegenüber dem personaler Rechtsgüter relativ zu hoch sei.59 Das 6. StrRG setzte dies bekanntlich dahin um, dass die Strafrahmen für die letztere Gruppe von Taten massiv angehoben, die übrigen beibehalten oder ihrerseits angehoben wurden.60 Die denkbar schwerste gefährliche Körperverletzung war bis zum 31. März 1998 mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht (§ 223a a.F.). Ab 1. April 1998 betrug die Höchststrafe zehn Jahre. Seither haben sich die verhängten Strafen zwar nicht verdoppelt; sie sind jedoch, nach nicht verifizierbarem „Eindruck“ des Verf., binnen kürzester Zeit gewiss um Kritik am modernen Strafrecht ist ins Abseits geraten. Durch Aufklärung der Rechtspolitik und der Bevölkerung wird sich das nicht ändern lassen“; und Burkhardt, ebenda, S. 111, 129 f. Auch der Kommentar von Frisch (ebenda, S. 159 ff.) streift den Besonderen Teil nur (S. 182). 59 Vgl. dazu Frisch, FS Jung, S. 189, 201. 60 Dazu zutr. Stächelin, StV 1998, 98; zur erreichten Strafrahmenspreizung insgesamt kritisch Hettinger, FS Küper, 2007, S. 95 ff.
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ein Drittel bis um die Hälfte angestiegen.61 Das gilt gleichermaßen etwa für das Sexualstrafrecht. Das zeigt zweierlei: Die Justiz folgt den Signalen des Gesetzgebers aufs Wort; und die Gesamtverschärfung des Strafrechts durch das 6. StrRG entsprach einer verbreiteten „Stimmung“ auch innerhalb der Justiz. Beides ist nicht sehr verwunderlich. Der Umgang der Justiz mit „harten“ systematischen Problemen und Fehlern eines Gesetzes lässt sich oft wie folgt beschreiben: Die Annäherung an Probleme erfolgt mit bestürzender Verzögerung, unter Vermeidung systematischer Durchdringung und in winzigen Schritten; dies führt zu einem meist jahrelang anhaltenden Schlingerkurs mit Abstechern ins Niemandsland. Die Kehrtwende – oder: das Ende der Krise – wird dadurch signalisiert, dass – aus von außen oft kaum verständlichen Gründen – in höchstrichterlichen Urteilen die Behauptung auftaucht, es existiere nun eine „inzwischen gefestigte“ Rechtsprechung. So tastet die Rechtsprechung sich oft „auf Sicht“ durch Nebel des Gesetzes, postuliert „Fallgruppen“, wo keine sind, formt Leitsätze, deren Eigenleben neue Problembereiche eröffnet. Am Ende steht gelegentlich eine Rechtslage, die niemand gewollt hat. Dieses Bild findet sich auch in der Umsetzung des 6. StrRG. Eine solche eher ernüchternde Beschreibung erscheint desto mehr als wahr, je weiter man von der Szene zurücktritt. Die Gründe für den Ablauf liegen in der Natur der Justiz: Entschieden wird der Einzelfall; Verantwortung für die nächste Abweichung sollen andere übernehmen. Daher wird – beispielsweise – seit BGHSt 48, 197 entschieden, dass „Waffen“ und „gefährliche Werkzeuge“ in § 250 Abs. 2 Nr. 1 dasselbe sind, wenn das Werkzeug nur genauso gefährlich ist wie eine Waffe.62 Dass in § 250 Abs. 2 Nr. 2 das genaue Gegenteil vorausgesetzt ist, spielt keine Rolle, und wer darauf hinweist, macht sich der Miesmacherei verdächtig. Ein Fall des Abs. 2 Nr. 2, zu dessen Lösung es darauf ankäme, findet sich dann frappierenderweise in mehr als einem Jahrzehnt nicht63, obgleich gewiss täglich eine Vielzahl von Bandenräubern Gegenstände bei sich führen, die konkret genauso gefährlich sind wie eine geladene Schreckschusspistole. Das Beispiel kann übertragen werden: auf das Drama um die Anwendung von § 177 Abs. 1 Nr. 364 ; auf § 306 b Abs. 2 Nr. 265; auf § 316a66. Dass § 265 Abs. 1 StGB i. d. F. des 6. StrRG drei Jahre Freiheitsstrafe für das – folgenlose – Beschädigen oder Verschenken einer eigenen Sache androht, wenn es mit bösem (aber später gar nicht ausgeführten) Willen geschieht, und Abs. 2 61 Selbstverständlich ist dadurch kein Rückgang der Zahl gefährlicher Körperverletzungen bewirkt worden. Hier wie in vielen anderen Bereichen des klassischen Unterschichtenstrafrechts funktioniert Rechtsgüterschutz durch Androhungsprävention nicht nach dem schlichten Prinzip, auf welches das Strafrecht rechtspolitisch reduziert wird. 62 BGHSt 48, 197 (Großer Senat). 63 Vgl. etwa die Rspr-Datenbank BGH-Nack, zu § 250 Abs. 2 Nr. 2: Hinweis „Waffe beisichführen siehe Merkmale von Abs. 1 und Abs. 2“; keine Entscheidung. 64 Vgl. BGHSt 45, 253; 50, 359; dazu Fischer (Fn. 21), StGB, § 177 Rn. 33 ff. 65 BGHSt 45, 211. 66 BGHSt 49, 8; 50, 169; dazu Sowada, FS Otto, 2007, S. 799, 801 f.
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selbst noch den (untauglichen) Versuch einer solchen bösen Tat mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren und drei Monaten bedroht, um Seit an Seit mit der Versicherungswirtschaft den mutwilligen Glasbruch zu bekämpfen, stört die Rechtsprechung unter dem Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkt überhaupt nicht, denn entsprechende Fälle werden entweder nicht gefunden oder, falls sich dies nicht vermeiden lässt, nach §§ 153 f. StPO behandelt. Dahinter stecken nicht, wie die wissenschaftliche Kritik vielfach meint, bloßes Unverständnis oder Unwilligkeit. Zwei von mehreren Gesichtspunkten können angeführt werden: Dies ist zum einen die den Beruf prägende Erfahrung, dass für das „Obsiegen“ immer nur die Entscheidung zählt, nicht die Überlegenheit einer Konzeption, und dass für den nächsten Einzelfall jemand anderes zuständig ist. Für Erfolg, Fortkommen, Ansehen von Richtern ist es gänzlich unerheblich, welcher Zurechnungstheorie sie anhängen oder worin sie den Strafgrund des Versuchs erblicken. Zum anderen ist es ein bisweilen bis zur Ängstlichkeit gesteigertes Bemühen, es Gesetz, Staat und System „Recht“ zu machen: Selbst der Bundesgerichtshof, dessen vordringlichste Aufgabe dies wahrlich nicht sein sollte, hält es (inzwischen) ersichtlich für einen besonders schlimmen, unbedingt zu vermeidenden Fehler, einen vermutlich Schuldigen durch allzu enge Auslegung von Tatbestandsmerkmalen davonkommen zu lassen. Das führt dazu, dass die Strafsenate viel öfter über Grenzerweiterungen als über Grenzziehungen der Tatbestände nachdenken. Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG kommen in der Praxis nicht vor, obgleich die wissenschaftliche Literatur voll ist von Aufsätzen zur (angeblichen) Verfassungswidrigkeit von Strafrechtsnormen; sie gelten, falls sie im Einzelfall einmal vorkommen – anders als etwa im Steuer- oder Verwaltungsrecht – geradezu als Beleg für die Verschrobenheit oder (noch schlimmer) „Schwierigkeit“ eines Richters.67 Beides führt dazu, dass eine Korrektur gesetzlicher Fehlleistungen im Laufe der Zeit immer schwieriger wird: Die Rechtsprechung nimmt sich – notgedrungen, aber mit liebevoller Akribie – bei der Rechtsanwendung auch solcher Normen an, die offenkundige systematische Fehler oder Unklarheiten aufweisen.68 Um des Einzelfalls willen werde Auslegungs-„Kunststücke“ vollbracht oder Teil-Fragen entschieden, ohne dass deren Folgen hinreichend geprüft werden. In den Kanälen und der Vorstellungswelt des „Gesetzgebers“ findet sich dies sodann in Gestalt der Feststellung in Referenten- oder Gesetzentwürfen wieder, die Praxis habe „eine hinreichende An67 Landgericht Lübeck, Beschluss vom 19. 12. 1991 – 2 Ns (Kl 167/90); dazu BVerfGE 90, 145 – Cannabisbeschluss. Der Vorlagebeschluss vertrat rechtspolitische Ansichten zur BtMProhibition, die heute nicht allein von vielen Fachleuten in der ganzen Welt, sondern auch von Regierungen selbst für „harte“ Drogen als einzige Möglichkeit angesehen werden. Der Vorlagebeschluss wurde öffentlich diskutiert, als drohe der Untergang des Abendlandes. Der damalige Kammervorsitzende wurde noch bis nach seiner Wahl zum Bundesrichter mit großer Skepsis behandelt und galt als „Gefahr“ für die Festigkeit des Strafrechts. 68 Bis hin zur ausdrücklichen Entscheidung, eine „widerspruchsfreie“ (d. h. eigentlich: verfassungsgemäße) Lösung sei gar nicht möglich: BGHSt 52, 257, 263; BGH NStZ 1999, 301, 301; BGH 3 Ars 5/02; alle zu § 250.
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wendungssicherheit“ erreichen können. Das ist ein von Unverständnis geprägter Euphemismus, der die Tatsache überdeckt, dass immer wieder mit einer außerordentlichen Verschwendung von Ressourcen schlechte Ergebnisse erzielt werden.69
V. Blick nach vorn – zurück? Das Jahrzehntwerk der 90er Jahre ist also in jeder Hinsicht „angekommen“ in der Wirklichkeit des Strafrechtssystems. 15 Jahre nach seinem Inkrafttreten hören Studenten davon wie von den fernen Schlachten der Handlungstheorien; die jungen Beisitzer in den Strafkammern wissen mit Nummer 223a gar nichts mehr anzufangen. Die Karawane ist weitergezogen zum Völkerstrafrecht, zum Unternehmensstrafrecht, zum Internetstrafrecht. Dem sog. Abschluss der Reform des Besonderen Teils folgten bis heute mehr als 50 Änderungsgesetze. Die „Ergebnisse“ können nur sehr allgemein beschrieben werden: Das 6. StrRG hat das Zeug zum Jahrhundertgesetz gewiss nicht gehabt. Die handwerklichen Fehler, die es aufwies, waren symptomatisch und sollten eine bleibende Warnung sein. Dass selbst die offenkundigsten Fehler nach 15 Jahren noch immer nicht berichtigt wurden, ist eine Schande für die Gesetzgebungskunst und ein bitteres Omen für das Gesamtsystem des Strafrechts, weil es durch praktische Evidenz auf das Versagen der Kontrollen und Balancen hinweist, die für eine geglückte Gesetzgebung unabdingbar sind. Das wichtigste praktische Ergebnis des 6. StrRG ist gewiss die Anhebung des allgemeinen Strafniveaus auf der Grundlage einer rechtspolitischen Stimmungslage, die die liberale Konnotation des Begriffs „Reform“ für eine Spinnerei ergrauter Achtundsechziger hält und das ewige Wegsperren derer, die nicht hören wollen, für ein Instrument der Freiheit. Systematisch hat das Gesetz wenig bewirkt: Den „Schutz“ für höchstpersönliche Rechtsgüter hat es aufgeblasen, zugleich aber jede Art von Großgefahren in unverantwortlichem Maß missachtet. Die tatsächlich ernsthaften Bedrohungen der deutschen Gesellschaft nach 1998 sind nicht von Schlägern auf U-Bahnhöfen oder von Kinderschändern ausgegangen, sondern von Erscheinungen der so genannten Globalisierung, Finanzkrisen, Korruption, Kriegen und Umweltzerstörungen. Zur Lösung dieser Probleme hat das 6. StrRG – wohl unstreitig – nichts beitragen können. Man kann aus dieser Erfahrung dreierlei lernen: Erstens, dass es einer Struktur bedürfte, die die Gesetzgebungsarbeit mehr als bislang von (partei-)politischen 69 Auch hier soll wieder nur das Beispiel des § 250 StGB genannt werden. Was in den letzten 50 Jahren hier an gedanklichen und wirtschaftlichen Aufwendungen vergeudet worden ist zwischen „Scheinwaffen“, Labellostiften, minder schweren Fällen und gefährlichen Werkzeugen, ist dem nichtjuristischen Bürger (= Rechtsunterworfenen) überhaupt nicht verständlich zu machen. Nicht vergessen werden sollte, wie viel Leiden und Ungerechtigkeit damit verursacht wurden.
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Zyklen, Schwankungen und Notwendigkeiten unabhängig macht. Zweitens, dass es eine verfehlte, kleingeistige und mutlose Haltung von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft ist, auf der Basis von kleinstmöglicher Eigenverantwortung eine Entwicklung zu exekutieren, die nur bei sehr gutem Willen als „planvoll“ bezeichnet werden kann. Drittens, dass die jeweiligen Aufgaben in diesem System ernster genommen und verantwortungsvoller ausgeführt werden sollten. Die „Aufgaben der Zukunft“70 sind gewiss gewaltig. Man würde ihnen froher entgegensehen, wenn die zwei überflüssigen Luftschiffkapitäne aus dem StGB gestrichen würden.
70 Vgl. Roxin, in: Eser/Hassemer/Burkhard (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende. Rückbesinnung und Ausblick, 2000, S. 369 ff.
Legal Dogmatics and the Concept of Science Von Nils Jareborg The real achievement of a Copernicus or a Darwin was not the discovery of a true theory but of a fertile new point of view. Ludwig Wittgenstein
1. The English term “legal dogmatics” is rarely used, partly because legal writings and legal scholarship are not regarded as having a “scientific” character. The term “science” is mainly reserved for systematic study of the nature and behaviour of the material and physical universe, and sometimes also for “social sciences”. Accordingly, for example the humanities and history are not classified as “sciences”. The German and Nordic terminology is different. Sciences can be both “natural” (Naturwissenschaften) and “cultural” (Kulturwissenschaften), the latter including legal sciences (Rechtswissenschaften). In this article, I will use “science” in this wider sense. Legal dogmatics (Rechtsdogmatik) is the principal legal science. The other legal sciences – history of law, sociology of law, psychology of law, criminology, and so on – are essentially subspecies of other types of sciences. So, what is legal dogmatics? A short, uncontroversial definition is rational reconstruction of legal systems. In Neil MacCormick’s words: “the production of clear and systematic statements of legal doctrine, accounting for statute law and case law in terms of organizing principles, relating actual and hypothetical decisions both to their factual bases and to governing norms elaborated out of the authoritative materials.”1 For the moment, this is all I want to say about legal dogmatics, except that the word “reconstruction” of course does not refer to recreation of something lost, but to rebuilding, and sometimes even constructing, (a part of) a legal system. My main concern in this article is to argue that it is quite proper to call legal dogmatics a science. 2. Let us begin with the concept of research. Research is not the same as scientific inquiry. Still, “research” is a favourite word among university leaders and bureau1 Neil MacCormick, “Reconstruction after Deconstruction: A Response to CLS.”, Oxford Journal of Legal Studies, vol. 10, 1990, pp. 539 – 558, at p. 556.
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crats. Another pet term is “new knowledge”, of course produced through research aided by more or less sophisticated methods. I think this is quite misleading: small-scale standard research in the natural sciences has been chosen as the paradigm of scientific inquiry. It is of course correct that research and knowledge go together. Research consists in searching for what is the case within some sort of reality. Research is a systematic investigation aiming at establishing facts or collecting information on a subject. The questions answered can be “What?”, “When?”, “Who?”, “How?”, “Why?” – “Why?” primarily as a question about causality. Most research is conducted outside universities and scientific institutes. Most journalists consider themselves to be researchers, and some of them are. Books, films and TV-programmes can rarely be produced without a measure of research. School children sometimes perform research jobs. Maybe, research is not even an exclusively human activity. It could be argued that a cat or a dog is able to do research. In consequence, we must distinguish between scientific research and other research. Research can be scientific in two ways. It can be carried out with scientific methods and it can be carried out with scientific purposes. I will return to this distinction. 3. Science or scientific inquiry does not simply consist in scientific research. Einstein defined science as an attempt to reconstruct existence into a system, as coherent as possible, with the aid of concept formation. Scientific inquiry always includes research but the aims of science are not the same as the aims of research. If research aims at knowledge, scientific inquiry aims at insight and understanding. The important question is “Why?” in the sense of “Why do you believe that …?”. Primarily, you ask for reasons, not for causes. If research is not enough, what more is needed? First of all, creative reworking. The results of research – knowledge, information, data – must be structured, synthesized, systematized and summarized into some form of (re)construction of (a tiny bit of) some sort of reality. Science aims at representative reduction. Secondly, whatever you do in a scientific inquiry must be available for and to a reasonable extent be subjected to critical analysis. Thirdly, a scientist must speak or write. A report of scientific inquiry is a kind of tale or narrative. The word “narrative” should be taken seriously. Partly because science without communication with other people is of little value. Partly because you cannot tell a story without implicitly making evaluations. All tales presuppose neverceasing context-dependent choices between what is relevant and irrelevant, important and unimportant, central and peripheral, to the point and misleading, consistent and inconsistent, and so on. Descriptions, descriptive narratives, are often considered as less meritorious than analyses and systematizations. In general, they may involve less intellectual work, but good concise descriptions certainly take good judgement and hard work.
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The complexity of scientific inquiry, and the fundamentally unstructured mess that the world provides, makes science a collective enterprise, both diachronically and synchronically. It is also a competitive enterprise. It is a matter of doing a better job, providing better explanations, arguments, theories and world views, sometimes in fierce opposition. Finally, the complexity of scientific inquiry often leads to a distribution of scientific roles. Different scientists have different skills. There are extremely learned scholars who lack analytical and constructive talent. There are critical analysts who are not very learned or constructive. And there are constructive geniuses who leave the hard work of research and critical analysis to others. It is beyond the scope of this article to say more than a few words about assessing scientific quality. All the aspects of science mentioned above – research, systematization, critical analysis, presentation, and so on – must be evaluated. Scientific work is a combination of craft and creation. It is possible to formulate rules concerning craftsmanship, but it is not possible to regulate creativity. Scientific excellence depends on the work’s value as a contribution to science. This means that the aspect of creativity is in principle primary, and the aspect of craftsmanship secondary. But at the same time, good craftsmanship is needed for convincing others that something of value has been discovered or invented. Sometimes short-term utility is used as a criterion in assessing scientific quality. This is not justified. For example, in legal dogmatics future legislators and future academics may be more important addressees than the contemporary ones. 4. A successful research report has the form of “This is how it is!” A successful scientific investigation has the form of “This is how it should be!”, that is, there are good reasons to think about (an aspect of) the world in this way, there are good reasons to use this model of reality, this theory, this set of concepts, and so on, given the purposes of the present scientific area. Sometimes we dare say “This is how it must be!” because otherwise we cannot make sense of the world. Homo sapiens is a nosy, inquisitive animal that cannot refrain from speculating about how things work and hang together, about what has happened and will happen, what is the best solution of a problem, and so on – in short: mankind craves for sense, it longs for meaning. The point of Western science is to make such speculations as good, as fruitful as possible. Scientific inquiry is a human activity that is justified only if it is in the end linked to human survival, well-being and flourishing. (This is close to a definition of rationality.) Of course, this does not prevent that physics is used for making bombs or that legal dogmatics is used for oppressing people. One reason for regarding the natural sciences as paradigms of science is, of course, that they have been so successful. But success is relative to purposes and goals. Within the natural sciences you are normally expected to provide research results, scientific reconstructions and models that can contribute to increased possibilities of prediction and control, and in the end maybe contribute to technological revolutions. But the natural sciences are certainly not better than others to reveal Truth with a capital T. It has even been argued that all theories in the natural sciences have been falsified,
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and in no other field of science is the turnover of small-scale theories and models so rapid. So why are the natural sciences so successful? Of course, they receive more money than other sciences. But it could also be that they profit from a (in relevant aspects) better moral climate: considerable and global openness, relatively high intellectual honesty, patience, and argumentation instead of pressure. In the natural sciences we also witness a certain toleration of ideas that seem bizarre or incredible – because the history of science has shown that such ideas can lead to scientific revolutions. Scientifically, we now live in an Einsteinian universe which has nothing to do with so-called common sense. 5. It has been said that the history of Western philosophy consists of footnotes to Plato. There is some truth in this. Plato’s dichotomy between apparent and genuine reality has tyrannized European thinking, and it has been combined with other basic dichotomies: body and soul, objective and subjective, facts and values, description and evaluation, and so on. If we quickly move to the second quarter of the twentieth century we meet the so-called logical positivism, a family of philosophical “salvation movements”, united under the motto of “Abolish metaphysics!”. For logical positivism, only that which can be verified or falsified can be meaningful or scientific; science deals with facts; values are not facts, so science is value-free; evaluative assertions are expressions of emotions or other feelings, so they cannot be true or false; and all scientific inquiry must be conducted with the method of the natural sciences, which is supposed to be a hypothetical-deductive model of reasoning. The simplicity of the logical-positivistic message is seductive. Mankind prefers simple concepts and simple explanations. There is some truth in the view that a philosophy cannot be refuted – if it dies it is due to old age. In philosophy and theory of science, logical positivism is dead. It is no longer considered to be fertile. Its recipes for doing science simply do not work. And it did not live up to its own criteria for something being scientific, since its basic assumptions cannot be verified or falsified. There are several roads leading away from logical positivism. One is inspired by Hegel and Nietzsche. The one I prefer has grown out of ideas elucidated by the later Wittgenstein and Quine. Some of its main characteristics are the following. Dichotomies have been replaced by context-dependent distinctions. There is no value-free science. There is no basic ontology; what one regards as real depends on to what extent it is practically fertile to regard it as real. There is no basic epistemology; how one reaches knowledge, insight and understanding depends on what kind of reality one is handling. Description is only one of many kinds of speech acts; and descriptions are not true because they mirror the “real” structure of reality. Our relation to the surrounding physical world is purely causal; it has no conceptual or semantic content apart from that which we create ourselves. Truth is a normative concept. All truth, or rather everything that is taken to be true, is produced as a response to the world in which we find ourselves living. In adapting to the world we
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create conceptual and other tools for survival and understanding. There is no clear border between discovery and invention. In learning to use a language we also indirectly learn the evaluations that lie underneath the distinctions, customs and institutions that are embodied in the conceptual web of the language. Terminology, concepts and theories are tools for fulfilling human goals, including scientific purposes. As mentioned above, the natural sciences primarily aim at prediction and control. So do some of the social sciences. But, for example, historical sciences normally have other aims. You have all heard Santayana’s famous words: those who do not learn from history will have to live through it again. (Others have commented that the only thing you learn from history is that people do not learn from history.) The major importance of historical sciences is, however, that they are needed in counteracting the emergence of myths, superstition, bias, selective or deceitful glorification or debasement. Human beings will always try to give themselves a place in society and in history. The temptations to simplify, deviate from the truth or engage in wishful thinking – consciously or unconsciously – are very great. What I have just said has some implications. One is that there are no fertile general doctrines under the headings of ontology and epistemology. The questions of these philosophical subjects have been taken over by specialized sciences. Another implication is that the history of philosophy is just history, that the philosophers of previous epochs have little to say that is of help today. Their problems were not our problems, even if some of their questions still remain or seem to remain with us. To a large extent our understanding of them, especially the ancient Greeks, is probably anachronistic. (Wittgenstein found reading the Socratic dialogues a frightful waste of time.) It is easy to forget that up to 1900 almost all Western philosophy was written in a severe climate of religious monopoly in matters of knowledge and morality, and that we today would regard also educated people as shockingly superstitious. 6. Let us return to legal dogmatics. The word “dogmatics” is sometimes regarded with suspicion. It leads our thoughts to theology, and so to prejudice or a lack of objectivity. I do not see this as a problem. Legal dogmatics primarily concerns reconstruction of valid law, that is, reconstruction of actual legal systems. This means that it is in principle bound by authoritative decisions by legislators and courts. But it does not mean that scientific argumentation is limited to such decisions or that a legal dogmatist cannot widen her perspective beyond that of valid law. It is legitimate to search for ideal law. The point of scientific endeavours is to find better solutions. Sometimes you have to ask new questions. Still, a connection to some form of political power must be kept, because otherwise we cannot talk about a legal system. A collection of rules is not in itself a system; there must be something that makes it possible to identify the rules as parts of a system. In this sense, legal dogmatics is a system-internal science, in contrast to other legal sciences which look at law from an external perspective.
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Further, all argumentation must be based on some assumptions. A science without assumptions is impossible. Everything can be questioned, but everything cannot be questioned at the same time. Doubt presupposes that you believe something. Disagreement presupposes that you agree on something. And the fact that everything can be challenged does not mean that everything must or should be called into question. There is no safe ground for knowledge and understanding – there are no skyhooks – but to survive we have to take many things for granted. To live is to take risks, and that is true of the scientific life as well. The legislator legislates, the judge adjudicates and the legal dogmatist (re)constructs a normative system that makes sense of the laws and the court decisions. Legal dogmatics serves as a bridge between legislation and adjudication. The legal dogmatist may not be a necessary actor in the same way as the legislator and the judge. But it is easy to imagine how primitive a legal order would be if legal dogmatics had never been invented. Legislation is (normally) the starting-point of legal dogmatics, but its product – (a part of) the legal system – is infinitely more detailed than legislation and it presupposes an ambition to create a logically consistent valuecoherent systematization. Neil MacCormick concludes: “the maintenance of doctrinal integrity through the good practice of legal dogmatics is what makes possible intelligent legislation and well-grounded judicial decision-making.”2 The work of legal dogmatics is not mere transcription of laws and decisions; “it calls for the exercise of creative intelligence and disciplined imagination to master the large and always changing bodies of material involved, to grasp them all together, and to reconstruct them altogether into systematized and coherent wholes articulated out of complex and internally articulated parts.”3 This raises the question: Where do we find the beginnings of legal dogmatics? When law was mainly local customs and decisions by military dictators or other self-sufficing rulers, there was no proper place for legal dogmatics. I know too little about Roman, Chinese and Arabic law to dare say whether something written before the twelfth century deserves to be called legal dogmatics. As far as I have understood, the first work in legal dogmatics is Concordantia discordantium canonum (1140), written privately by Gratianus, a monk with a connection to the Bologna school of law. Its title means approximately “Harmonization of inconsistent rules”, the rules being the laws of the Roman Catholic Church (canon law). This text, acclaimed as an intellectual masterpiece, became official Church law in 1234, when it was published, together with a collection of papal letters, in the so-called Liber Extra. As in most sciences, the modern era of legal dogmatics began in the nineteenth century. On the European continent and in the Nordic countries, German legal dogmatics has played and still plays the dominating role.
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Neil MacCormick (Fn. 1), p. 558. Neil MacCormick (Fn. 1), p. 557.
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Above, I said a little about the philosophical creed of logical positivism. It implied that legal dogmatics is not a science. Legal dogmatics deals with normative systems, that is, something that does not “really” exist, except as thought contents of individual persons. It deals with evaluations, that is, expressions of feelings that cannot claim to be true or false or even to be rational. No wonder that some legal theoreticians lost self-confidence and limited their research in law to studies of what people labelled decision-makers do. Substantive legal argumentation had no longer a proper place within scientific legal dogmatics. As I said, the strictures of logical positivism are since long abandoned in the theory of science. But the ghosts of logical positivism are still haunting some law faculties, and they are repeatedly evoked in some so-called educated circles. For many, it is “common sense” that science and assertions of fact must be kept free from contamination by values and evaluation. And valid law is, of course, only a matter of power. Remaining doubts as to whether legal dogmatics is a science focus on three things: scientific method, subject matter and the role of values and evaluation. One could ask: Does it matter whether legal dogmatics is classified as a proper science or not? Of course not; “science” is a word and those who want to use this word in a specific way are free to do so. In itself, there is nothing inappropriate in saying, for example, that legal dogmatics and the humanities are not sciences, as long as you want to draw attention to differences without suppressing the similarities. What is inappropriate is to deny the similarities and defend the limited usage of the word “science” with arguments that are based on prejudice and refuted or misleading philosophical views. 7. I have noticed that natural scientists are fond to remark that academic lawyers do not use scientific methods. There is an expectation that scientific inquiry must be carried out with the aid of sophisticated scientific methods or instruments. Using the so-called traditional legal method, the researcher proceeds from authoritative legal material, such as laws and court decisions, and from previous works of legal dogmatics. For a natural scientist this is too trivial to be called a scientific method, and I am inclined to agree. What does a legal dogmatist do? She searches for material, she reads, she thinks, she reasons, she writes. That is all. Like many other sciences, legal dogmatics is a science of argumentation. I mentioned above that research can be scientific in two ways. You can do research with scientific methods, methods that in themselves are results of scientific inquiry. There are even specific scientific areas that are designed to develop scientific methods; statistics is maybe the best example. But you can also do research with scientific purposes, and this is what a dogmatist does. And, of course, the purpose to reconstruct a fragment of a particular legal system is all-important for what material to use in the research. There is nothing wrong with the so-called traditional legal meth-
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od, but since it mainly consists in guidelines for collecting relevant arguments and material it is rather pointless to call it a scientific method. Nothing becomes automatically scientific because one uses a particular scientific method. Whether a scientific method is fertile or not depends on the nature of the scientific inquiry. There is no general scientific method, unless you mean no more than – as one philosopher of science had it – “doing your damnedest with your brain”. There is, however, a general scientific attitude: not stopping asking “Why?” until you are satisfied (for the moment) or have no time to continue. 8. The second alleged weak spot of legal dogmatics concerns the very matter or object of scientific inquiry. Legal systems are ideological entities, they are non-physical systems. In comparison to the object of biology, for example, the object of legal dogmatics is fictional, imagined. Its reality is created through the use of concepts. This is, however, nothing unique for legal dogmatics. What is unique is the essential normativity of the system. Only normative ethics could have a similar status, but normative ethics has only a past; at present it cannot claim to be a science. It may have a future: we have witnessed the establishment of human rights, and there is a wide and growing concern for justice between generations, between different parts of the world and between different types of living creatures. Within theory of law we have got accustomed to the concept of institutional facts, that is, “artificial” facts created through application of conceptual rules. That someone is prime minister or owns a bottle is as much a fact as that someone is bald or that a thing is made of glass. And, as I have already indicated, it is justified to talk about normative systems as existing merely because it is very practical to do so. If all abstractions were to be regarded as unreal, referring to something non-existent, thousands of years of intellectual development would be eradicated. If you deny that legal systems and other normative systems exist, then you also deny that linguistic rules exist, which implies that meaningful communication is unreal and so “really” impossible. This is self-contradictory in that it presupposes what is denied. The object of physics, sociology, history, and so on, is a reality that exists or has existed. I have met the view that in legal dogmatics it is the other way around. The legal system is guiding; so reality comes second. Reality has to adjust itself to the map, not the map to the reality. This is of course confused. The reality of legal dogmatics is the legal system as a normative system. The relevant reality is not the social reality in which the system results, when the system is applied by authorities and individuals. That reality is the object of study in, for example, sociology of law. Of course, this does not mean that it is of no interest for legal dogmatics how authorities and individuals apply rules. Quite the opposite. Legal dogmatics would make little sense if it ignores the social reality in which it operates. But it is not that reality that is reconstructed in legal dogmatics. That reality is the reconstructed normative system itself.
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9. Finally, once again: What about the role of values and evaluation in legal dogmatics? Of course, here I cannot do more than draw your attention to a few simple things. As already mentioned, every description, every formation of a concept and every use of a concept is impregnated by evaluations. You can even say that every communicative act is based on a personal or standardized evaluation, namely that there are reasons to say something. Nothing can be identified before we start speaking (in a wide sense) about it. (Communication, knowledge and insight presuppose that we can come to agree about what we think and believe, and that we do it voluntarily. This means that communication presupposes some agreement in evaluation.) There is a class of assertions that can be called value assertions (or value judgements). One example of such assertions is “This theory (or this solution of the problem, or this answer to the question) is better than that one.” Within the natural sciences it is trivially proper to say such things. What is the point of arguing that it is improper to do it in legal dogmatics? Of course, the goodness criteria (which can also be called quality criteria) are not the same – because different types of scientific inquiries have different purposes and aim at satisfying different values. And if the basis for the complaint is that the purposes of natural sciences are regarded to be more important than others, then the argument is based on a disputable evaluation. The purposes and values of legal dogmatics are in fact akin to those of the sciences of medicine. In some respects, there is also a similarity to the aims of prediction and control in the natural sciences. The contributions of legal dogmatics to a legal order are in practise necessary both for a reasonable foreseeability of legal decisions (legal certainty for individuals) and for an efficient control of authorities (including Government and Parliament). Leaving aside simple cases of paradigmatic value judgements, those who insist on a clear separation between fact and value, description and evaluation, have never been able to do what they insist should be done. You simply cannot describe something without implying evaluations, and you cannot evaluate something without implying descriptions. In the world that we experience, seeing the reality with all its subtle differences and making reality-related evaluations are not separate abilities. If we raise the question of objectivity of beliefs, it is certainly among evaluations that mankind can reach the widest scope of intersubjectivity. This is because what is most common or universal among people is the experience of discomfort, pain, distress or suffering – not only your own suffering but also the suffering of others, including suffering caused by you. Nothing is for us more rational than to (at least in the long run) counteract human suffering. If legal dogmatics still is not regarded as a “genuine” science, this may depend on its connection with politics and with morality. Of course, political decisions affect the existence and contents of legal systems. But this does not mean that argumentation in legal dogmatics is comparable to argumentation in (party) politics. Political argu-
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mentation is rarely impartial in the way legal argumentation must be – the discussion normally takes place among persons or groups representing different interests. And of course, argumentation in legal dogmatics and moral argumentation coincide to a large extent. But in that case, moral arguments should not depend on an understanding of morality as a private matter or as social custom or convention. The relevant kind of moral reasoning is open argumentation based on fundamental human values – morality understood as critical social morality. Take this away and we confront a monster: an arbitrary power machine.
Symbolik im Strafrecht Von René Bloy
I. Die Aufgabe des Strafrechts Das Strafrecht hat nach klassischer Formulierung die Aufgabe, Rechtsgüter zu schützen1. Der Gedanke des Rechtsgüterschutzes impliziert, dass es gelingen soll und auch kann, den Normadressaten zu rechtskonformem Verhalten zu motivieren und dadurch gesellschaftliche Wirklichkeit mitzugestalten. Auf Letzteres setzen übrigens auch die neueren, teils rechtsgutsskeptischen Konzepte2, die sich im sog. modernen Risikostrafrecht der Vorstellung der Verhaltenssteuerung durch Strafrecht sogar besonders verschrieben haben, denn es sollen danach auch kollektive gesellschaftliche Prozesse mit Hilfe eines Strafrechts der Großsteuerung3 in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht bedeutet dies, dass das Strafrecht als Instrument sozialer Kontrolle zur Erreichung bestimmter für das Zusammenleben der Menschen als bedeutsam erachteter Ziele dienen und dazu in seiner Wirkung optimiert werden soll. Dabei ist das Strafrecht selbstredend nur eines der Regulationssysteme, durch welche die Sozialordnung gestaltet wird. Auf der anderen Seite gewinnt es infolge des schwindenden informellen Wertekonsenses in der pluralisierten Gesellschaft als Verbindlichkeitsmaßstab an Gewicht. Doch sind dem Bemühen, den Verlust anerkannter gesellschaftlicher Regeln durch Strafgesetze zu kompensieren, enge Grenzen gesetzt4.
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s. statt vieler Jescheck/Weigend, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 1996, S. 7 m.w.N. Repräsentativ Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 1/14 f., 2/22 ff.; Stratenwerth, ZStW 105 (1993), 679 ff.; ders., FS Lenckner, 1998, S. 377 ff.; zwar nicht rechtsgutsskeptisch, aber für ein effizientes „modernes“ Strafrecht eintretend z. B. Schünemann, GA 1995, 206 ff.; auch Frisch, GA 2009, 385 ff., der zutreffend eine gegenläufige Entwicklung des schuldorientierten und des gefährlichkeitsorientierten Strafrechts konstatiert, spricht ganz selbstverständlich von der Schutzaufgabe beider Arten des Strafrechts, die lediglich auf unterschiedlichem Wege erfüllt werde. 3 Formulierung bei Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 242 ff. 4 Und zwar sowohl faktisch als auch aufgrund der dem Strafrecht gestellten Aufgabe. Im Hinblick auf letztere betont Arthur Kaufmann, JuS 1978, 365 f. (= ders., Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983, S. 179 f.) zu Recht dass das Terrain, das die Ethik verloren hat, nicht ohne weiteres vom Strafrecht besetzt werden darf; zust. Voß, Symbolische Gesetzgebung, 1989, S. 110. 2
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Ob das Strafrecht eine solche Aufgabe überhaupt erfüllen kann, ist allerdings auch immer wieder bezweifelt worden. Das gilt schon für die empirische Nachweisbarkeit der erstrebten Wirkungen von Spezial- und Generalprävention im Allgemeinen5. Gerade die modernen Materien des Strafrechts sind zudem der Kritik ausgesetzt, sie seien ineffektiv und trügen z. B. zum Umweltschutz oder der Bekämpfung des Betäubungsmittelmissbrauchs nichts Wesentliches bei. Sie dienten in Wirklichkeit lediglich der Stärkung des subjektiven Sicherheitsgefühls in der Bevölkerung, ohne die Sicherheitslage tatsächlich zu verbessern. Diese Diagnose wird üblicherweise in die Formulierung gekleidet, das Strafrecht beschränke sich insoweit auf bloße Symbolik.
II. Vorbemerkungen zur Begrifflichkeit Der Begriff „symbolisches Strafrecht“, allgemeiner: symbolisches Recht oder symbolische Gesetzgebung6, ist vieldeutig. Er findet im gegenwärtigen Sprachgebrauch allerdings in erster Linie in kritischer, ja geradezu abwertender Bedeutung Verwendung dergestalt, dass damit Rechtsnormen belegt werden, die als unwirksam charakterisiert werden sollen, obwohl sie – und das ist die entscheidende Prämisse – wirksam sein sollten und eine derartige Zweckrationalität durch einen entsprechenden Aktionismus des Gesetzgebers mit Alibi-Funktion auch vorspiegeln. Symbolische Gesetzgebung in diesem Sinne dient also der Erzeugung eines bloßen Scheins von Gestaltungsmacht und ist zentral charakterisiert durch die Diskrepanz zwischen vorgetäuschter Effizienz und tatsächlicher Wirkungslosigkeit (beruhe diese nun auf fehlender Gestaltungsfähigkeit oder dem fehlenden Willen des Gesetzgebers, etwas zu verändern).
5 Speziell zur positiven Generalprävention Frisch, in: Schünemann/v.Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, S. 134 f. Über die empirische Präventionsforschung informieren zusf. z. B. Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 30 Rn. 41 ff.; Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005, §§ 41, 42; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, Rn. 58 ff.; zur Möglichkeit einer Effektivitätskontrolle von Strafgesetzen allgemein Schreiber, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 178 ff.; s. zu den Schwierigkeiten einer Wirksamkeitsanalyse auch Voß (Fn. 4), S. 163 ff. m.w.N. 6 Obwohl es symbolische Gesetzgebung nicht allein auf dem Gebiet des Strafrechts gibt, steht dieses bei der Behandlung dieser Thematik doch deutlich im Vordergrund, da es im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten offenbar einen besonders hohen Symbolgehalt aufweist. Denn es greift praktisch stets erst nach geschehener Tat ein, kann diese jedenfalls nicht mehr nachträglich aus der Welt schaffen und ist in seinen Präventionsmöglichkeiten – anders als z. B. das Polizeirecht – per definitionem auf vergeistigte Wirkungsmechanismen verwiesen; vgl. dazu auch Seelmann, KritV 75 (1992), 465. Ausgeklammert bleibt dabei allerdings das Maßregelrecht. Ein Beispiel für eine Analyse symbolischer Gesetzgebung außerhalb des Strafrechts bietet die Monographie von Newig, Symbolische Umweltgesetzgebung, 2003. Ein eigenes Thema ist schließlich die symbolische Bedeutung von Verfassungstexten, s. dazu Neves, Symbolische Konstitutionalisierung, 1998.
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Diese Thematik ist vielfach – mit durchaus unterschiedlicher Schärfe der Kritik – behandelt worden7 und wird nicht den Gegenstand der folgenden Überlegungen bilden. Symbolisches (Straf-)Recht gibt es nämlich auch noch in ganz anderen Bedeutungen, von denen weniger die Rede ist. Allerdings nimmt die Aufmerksamkeit insofern in neuerer Zeit erfreulicherweise zu. Vorab sei aber noch auf Folgendes hingewiesen: Symbolik8 hat stets zwei Seiten. Sie entbehrt zunächst eines handfesten, nämlich in den Kategorien von Ursache und Wirkung beschreibbaren Veränderungspotentials im Hinblick auf die reale Welt (im vorliegenden Zusammenhang: im Hinblick auf die Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen). Trotzdem ist sie keineswegs mit der Simulation von Gestaltungsmacht zu verwechseln. Obwohl ihr die instrumentelle Wirksamkeit fehlt, gehört es keineswegs zu ihrem Begriff, dass sie eine solche vortäuscht und in jeder Hinsicht schlicht folgenlos bliebe. Ihre Bedeutung liegt zwar auf einer anderen Ebene als der der direkten Bewirkung von Zustandsveränderungen (also etwa der individuellen bzw. kollektiven Verhaltenssteuerung) und ein Symbol steht auch per definitionem für etwas anderes als es selbst ist. Dies aber nicht im Sinne eines Täuschungspotentials. In positiver Hinsicht verdichtet sich in Symbolik ein komplexer geistiger Bedeutungszusammenhang zu einem äußerlich wahrnehmbaren Zeichen, das als Bedeutungsträger gewissermaßen Unsichtbares sichtbar in Erscheinung treten lässt und es dadurch über das hinaus, was die Chiffre unmittelbar bezeichnet, vergegenwärtigt. Aufgrund dessen kommt Symbolik zumeist eine kommunikative Funktion zu. Kommuniziert wird mittels symbolischer Gesetzgebung in des Wortes positiver Bedeutung eine sozialethische Orientierung. Da Haltungen, Einstellungen und Gesinnungen ohnehin nicht „instrumentell“ auf andere übertragen werden können, bleiben Tatbestände wie die, welche die sog. Propagandadelikte zum Gegenstand haben, von vornherein symbolisch: Eine bestimmte Einstellung, mag sie auch in Staat und Gesellschaft geächtet sein, lässt sich eben nicht effektiv „verbieten“ sondern lediglich ihre Äußerung. Kommunikative Symbolik, in welcher die sozialethische Funktion des Strafrechts Ausdruck findet, meint nichts anderes als positive Generalprävention. Aus diesem Grunde ließe sich insofern auch von kommunikativem Strafrecht9 sprechen. Allerdings ist die legitime symbolische Funktion des Strafrechts 7 s. nur Hassemer, NStZ 1989, 553 ff. (= ders., Strafen im Rechtsstaat, 2000, S. 170 ff.); differenzierter ders., FS Roxin, 2001, S. 1001 ff.; Frehsee u. Steinert, in: Frehsee/Löschper/ Smaus (Hrsg.), Konstruktion der Wirklichkeit durch Kriminalität und Strafe, 1997, S. 19 f., 101 ff.; J. Chr. Müller, KrimJ 25 (1993), 82 ff.; P.-A. Albrecht, KritV 76 (1993), 179 f.; Schmehl, ZRP 1991, 251 ff.; Kindermann, in: Grimm/Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik (JbRSoz 13), 1988, 222 ff.; Kuhlen, StV 1986, 549; Hegenbarth, ZRP 1981, 201 ff.; Amelung, ZStW 92 (1980), 54 ff. 8 Auf eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Symbolischen, die weit über das Recht hinausgreifen müsste, kann sich der vorliegende Beitrag schon wegen der umfangsmäßigen Grenzen, die ihm gesetzt sind, nicht einlassen; dazu instruktiv Neves (Fn. 6), S. 15 ff. 9 Begriff geprägt von Hassemer (Fn. 7), S. 1011 ff.; s. auch Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 38 m. Fn. 49; in einer sehr viel weiter gefassten – kommunikationstheoretischen – Bedeutung dazu bereits Puppe, FS Grünwald, 1999, S. 469 ff.
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nicht einfach mit der generalpräventiv-kommunikativen gleichzusetzen. Die Rolle von Symbolik im Strafrecht ist vielschichtig. Die Begriffe Symbolik (im positiven Sinne des Wortes), Kommunikation und Generalprävention überschneiden sich zwar, sind aber nicht deckungsgleich. Auch davon wird im Folgenden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ein Eindruck vermittelt werden. Da es hier um Erscheinungsformen von Symbolik im (Straf-)Recht geht, bleibt die auf einer ganz anderen Ebene ansetzende These, wonach das Recht aufgrund seiner Zeichenhaftigkeit, in welcher sich sein „Sinn“ konstituiert, insgesamt Symbolcharakter trägt10, von vornherein außer Betracht: Sie ist mindestens zur Differenzierung zwischen symbolischen und nichtsymbolischen (= instrumentellen) Funktionen des Strafrechts im hier gemeinten Sinne offensichtlich ungeeignet11.
III. Erscheinungsformen von Symbolik im Strafrecht 1. Historischer Hintergrund Symbolik hat im Strafrecht zunächst eine erhebliche historische Dimension, und zwar sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materiellrechtlicher Hinsicht. a) Symbolische Kommunikation vor Gericht Verfahrensrechtlich geht es um symbolische Kommunikation in einem ganz anderen Sinne als dem bereits erwähnten. (Mindestens) seit dem Mittelalter hatte sich vor Gericht (nicht nur in Strafsachen) eine Praxis des strengen Formalismus, teils mit religiösem und kirchlichem Bezug entwickelt, in welcher Rechtssymbole und Gerichtsrituale als Verständigungsmittel der Verfahrensbeteiligten im Prozess selbst eine herausragende Rolle spielten12. Es wird diese besondere performative Qualität der Verfahrensausgestaltung häufig sehr plastisch als „Theater“ des Rechts oder gar des Schreckens (letzteres speziell im Hinblick auf das Strafverfahren) bezeichnet13. Der inszenatorische Charakter des Gerichtsverfahrens, der insbesondere für die frühe 10
Dazu monographisch Zielcke, Die symbolische Natur des Rechts, 1980. Krit. zu einem allzu umfassenden und dadurch der Gefahr der Inhaltsleere ausgesetzten Begriff des Symbolischen Neves (Fn.6), S. 27. 12 R. Schulze, in: R. Schulze (Hrsg.), Symbolische Kommunikation vor Gericht in der Frühen Neuzeit, 2006, S. 20. 13 s. schon Jacob Döpler, Theatrum Poenarum Suppliciorum et Executionum Criminalium, 2 Bde., 1693/1697; im übrigen statt vieler van Dülmen, Theater des Schreckens, 4. Aufl. 1995; Spierenburg, The Spectacle of Suffering, 1984; Schild, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozess und Rezeption, 1984, S. 119 ff.; ders., Symbolische Kommunikation (Fn. 12), S. 107 ff.; Martschukat, KrimJ 27 (1995), 186 ff.; weiterhin Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 101 f., 130. 11
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Neuzeit eingehend dargestellt14 und wissenschaftlich analysiert15 worden ist, gelangt in nahezu unerschöpflich vielen Details zum Ausdruck, was an dieser Stelle nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann. Herausgegriffen seien deshalb nur einige wenige markante Punkte, die den Inquisitionsprozess, wie er sich in der Carolina darstellt, betreffen. Um eine angemessene Vorstellung zu vermitteln, darf dabei jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die symbolische Kommunikation vor Gericht in verschiedenen Medien stattfand, wobei insbesondere zwischen verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen zu differenzieren ist. Verbale Formen von Symbolik bieten bestimmte Spruchformeln und festgelegte Sprachsequenzen, wie sie insbesondere den Ablauf des „entlichen rechttags“ (Art. 78 ff. CCC) prägten. So gibt es z. B. wörtliche Vorformulierungen für die Frage des Richters, ob das Gericht „wol besetzt“ sei, sowie die Antwort der Schöffen darauf (Art. 84 CCC)16, Klage- und Antwortformeln (Art. 88 – 90 CCC), nach einer Verurteilung dann einen in Art. 98 CCC geschilderten „Dialog“ zwischen Nachrichter und Richter. Dies wird üblicherweise als ein Residuum der oralen Rechtskultur aus der Zeit vor der Einführung des Inquisitionsprozesses17 betrachtet, die bekanntlich eine Verschriftlichung des Verfahrens brachte (vgl. Art. 181 ff. CCC)18. Ihr symbolischer Kommunikationsgehalt erschließt sich aus dem Kontrast zum begrifflichdiskursiven Kommunikationsstil, wie er durch die Aufklärung schließlich zur Herrschaft gelangte. Die fehlende Verbreitung von Schriftkundigkeit in jener Zeit und das weitgehende Fehlen eines schriftlich fixierten Normensystems begründete ein gesteigertes Bedürfnis, durch verbale Kommunikation Reduktion von Komplexität und Stabilität des Verfahrensablaufs zu gewährleisten. Diese Klarheit war im Rahmen einer oralen Rechtskultur am ehesten durch Formalisierungen der Rede erzielbar. Als Kehrseite dessen konnten bereits geringfügige Formulierungsfehler gravierende nachteilige Folgen nach sich ziehen. Um dem bis zu einem gewissen Grade zu begegnen, gab es ein kompliziertes Korrekturinstitut, die sog. Erholung
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Eine sehr detailreiche und anschauliche Schilderung (die allerdings nur punktuell analytischen Ehrgeiz entwickelt) bietet van Dülmen (Fn. 13). 15 Arbeiten mit stärker analytischem Anspruch finden sich z. B. in zwei Sammelbänden: R. Schulze (Hrsg.), Rechtssymbolik und Wertevermittlung, 2004 u. ders. (Fn.12); s. weiterhin insbes. Zopfs, ZStW 113 (2001), 180 ff. 16 Dies war Bestandteil der sog. Hegung des Gerichts; dazu allg. Chr. Schmidt, Symbolische Kommunikation (Fn. 12), S. 225 ff. (S. 241 f. speziell zu Art. 84 CCC). 17 Über Spruchformeln im mittelalterlichen deutschrechtlichen Verfahren berichtet Arlinghaus, Symbolische Kommunikation (Fn. 12), S. 57 ff.; zum Spruchformel- oder Legisaktionenverfahren im römischen Recht der Antike instruktiv Fögen, in: Caduff/Pfaff-Czarnecka (Hrsg.), Rituale heute, 2. Aufl. 2001, S. 149 ff. m.w.N.; Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 1996, S. 34 ff. 18 Allerdings ist auch die vom Gerichtsschreiber bei der schriftlichen Abfassung zu verwendende Urteilsformel wörtlich vorgeschrieben (Art. 190 ff. CCC), die von ihm dann auf dem endlichen Rechtstag freilich „offentlich verlesen“ wurde.
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und Wand(e)lung19. Die Wirkung des Gesprochenen hing mithin nicht (nur) davon ab, was inhaltlich gesagt wurde, sondern ganz entscheidend davon, wie es gesagt wurde, also in welche Worte es gefasst wurde, insbesondere ob vorgeschriebene Spruchformeln exakt eingehalten worden waren. Dies ist zweifellos ein Stück Wortmagie20, wie sie uns heute noch im Märchen21 und in anderer Dichtung22 begegnet. Eine daran anschließende interessante Frage, der hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann, ist dann übrigens die, inwiefern die Ausbildung einer juristischen Fachterminologie später in „entmythologisierter“ Form die Nachfolge der alten Verbalsymbolik angetreten hat23. Auch für nonverbale Symbolik vor Gericht gibt es reichlich Beispiele. Bereits die Eröffnung des „entlichen rechttags“ erfolgte nach Art. 82 CCC mit einer ganzen Reihe symbolischer Gesten (Glockengeläut, der Richter hält seinen Stab oder ein bloßes Schwert in Händen, Sitzhaltung des Richters24 usw.). Eine symbolische Handlung, die in Art. 96 CCC beschrieben ist, hat sich sogar bis in die Gegenwart redensartlich erhalten: Der Richter zerbricht nach erfolgter Verurteilung seinen Stab und stößt den Verurteilten damit symbolisch aus der Rechtsgemeinschaft aus, so dass er nun dem Scharfrichter schutzlos ausgeliefert ist25. Daher rührt die noch heute gebräuchliche bildliche Redewendung „über jemandem den Stab brechen“ (d. h. ihn moralisch verurteilen). Nun könnte der Eindruck entstehen, dass diese Form der symbolischen Kommunikation ihre Bedeutung im Verlaufe der weiteren historischen Entwicklung verloren habe. Und in der Tat wird die These vertreten, dass mit dem Wandel der Rechtskultur auch die symbolische Kommunikation im Gerichtsverfahren weitgehend verschwunden sei26. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass insofern wohl (neben einem gewissen Rückgang) eher ein Funktionswandel stattgefunden hat27. Speziell für das Straf19
Dazu Oestmann, Symbolische Kommunikation (Fn. 12), S. 29 ff. s. auch E. Kaufmann, Deutsches Recht, 1984, S. 70; Kaser, Das altrömische ius, 1949, S. 308 spricht ebenfalls von Magie und schildert a.a.O. S. 321 ff. eingehend die Symbolik der Rechtsformen jener Zeit; vgl. weiterhin Kaser, Das Römische Privatrecht, I, 2. Aufl. 1971, S. 28, 39 f. u. II, 1975, S. 73. 21 In dem bekannten Märchen „Kalif Storch“ von Wilhelm Hauff geht es um das vergessene Zauberwort „Mutabor“, kraft dessen Menschen in Tiere verwandelt und auch wieder zurückverwandelt werden können. 22 Joseph v. Eichendorff hat für den bleibenden Nachklang einer versunkenen, in magischanimistischem Denken befangenen Menschheitsepoche in dem Gedicht „Wünschelrute“ eine gültige Formulierung gefunden: Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort. 23 s. dazu Arlinghaus, Symbolische Kommunikation (Fn. 12), S. 67 ff. 24 s. dazu Schott, Symbolische Kommunikation (Fn. 12), S. 153 ff. 25 Dazu van Dülmen (Fn. 13), S. 60 f. m.w.N. 26 Dazu Fögen (Fn. 17), S. 159 ff. 27 Dies trifft sogar auf die internationale Gerichtsbarkeit zu, die sich noch in einer Phase des Werdens befindet; s. dazu Garapon, Rechtssymbolik (Fn. 15), S. 201 ff., der sich mit der Globalisierung gerichtlicher Rituale befasst. 20
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verfahren hat Schild zu Recht darauf hingewiesen, dass ihm auch in der Gegenwart eine szenische Dimension keineswegs abgeht28. Dabei geht es allerdings nicht um Generalprävention im geläufigen Sinne, welche sich auf die strafrechtlichen Verbote bezieht, sondern um Bestätigung des Vertrauens in das einwandfreie Funktionieren der Strafjustiz als rechtsstaatliche Institution, was man in den Gedankenkreis einer positiven Generalprävention im weiteren Sinne einbeziehen kann29. b) Straftheoretisch bedeutsame Symbolik im Mittelalter und in der Neuzeit: Zwei Beispiele 1. Die allgemein bekannte Grausamkeit der Strafen und ihrer Vollstreckung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit diente offensichtlich (auch) Abschreckungszwecken, weshalb es konsequent war, dass sie für die Bevölkerung erfahrbare Realität erlangen musste. Darin lag der Sinn von öffentlichen Hinrichtungen, von Brandmarkungen30, mit denen der Delinquent für jedermann sichtbar symbolisch als solcher gekennzeichnet wurde, usw. Auch die Art und Weise, wie die Todesstrafe vollzogen wurde31, war in jeder Hinsicht symbolträchtig32. So galt die Enthauptung mit dem Schwert als „ehrenhaft“, das Erhängen und bestimmte andere Hinrichtungsarten als besonders schimpflich33. Auch zusätzlich noch am bereits Getöteten vollzogene symbolische Handlungen (z. B. Hängenlassen des Leichnams am Galgen)34 sollten (unter anderem) die Abschreckung steigern. 28
Schild, Der Strafrichter in der Hauptverhandlung, 1983, S. 93 ff.; ders. (Fn. 13), S. 125 ff.; vereinzelt existieren sogar noch Spruchformeln, vgl. § 268 I StPO. 29 So Schild (Fn. 28), S. 95; ders. (Fn. 13), S. 125 f.; für eine derartige Erweiterung des Begriffs der positiven Generalprävention auch Hassemer, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 42, 44; ders., Freiheitliches Strafrecht, 2001, S. 111 ff.; ders., FS Lüderssen, 2002, S. 238 f.; Hauschild, Die positive Generalprävention und das Strafverfahren, 2000, S. 153 ff. bezieht den Generalpräventionsgedanken im herkömmlichen Sinne auf das Strafverfahren, wobei er zu wenig beachtet, dass nicht alle Verfahren die „Abwicklung von Normbrüchen“ (S. 164) zum Gegenstand haben und mit einer Verurteilung enden. Das Strafverfahren ist ergebnisoffen, d. h. seine Funktion muss so bestimmt werden, dass auch Freisprüche einbezogen sind. 30 Zugleich eine Körper- und Ehrenstrafe, dazu van Dülmen, Der ehrlose Mensch, 1999, S. 79 f.; Roth, in: HRG I, 2. Aufl. 2008, Sp. 661 f. 31 Zusammengestellt von Eb. Schmidt (Fn. 13), S. 61 f. 32 Martschukat, KrimJ 27 (1995), 189 ff.; zur Symbolik von Vollstreckungsriten allgemein: Sturm, Symbolische Todesstrafen, Diss. Mainz 1961, passim. 33 s. nur van Dülmen (Fn. 30), S. 68; Meurer, in: HRG V, 1998, Sp. 265; Kocher, Zeichen und Symbole des Rechts, 1992, S. 127. 34 Vgl. Lück, in: HRG I, 2. Aufl. 2008, Sp. 1919 f.; Kocher (Fn. 33), S. 126 m. Abb. 219 (S. 135). Das Hängen Hingerichteter und die „symbolische“ Bestrafung von Toten kann bis in biblische Zeiten zurückverfolgt werden: s. dazu Sturm (Fn. 32), S. 101 ff., 148 f.; Gephart, Symbol und Sanktion, 1997, S. 78 f. berichtet von der Bestrafung des Leichnams in Frankreich bis ins 17. Jahrhundert hinein; s. zur Bestrafung Toter, insbes. von Suizidenten, z. B. durch Verweigerung eines (christlichen) Begräbnisses van Dülmen (Fn. 30), S. 68, 83 ff.; weiterhin Heger, GA 2009, 47 ff. – Nach Art. 192 CCC sollen nach dem Vollzug der Todes-
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Die aus der heutigen historischen Distanz nur noch schwer begreifbare emotionale Energie, die als Motor jener Strafjustiz wirkte, ist allein mit der Verfolgung grundsätzlich nachvollziehbarer – wenn auch überzogener – Abschreckungsziele kaum erklärbar35. Deshalb erscheint es plausibel, dahinter noch elementarere Antriebe zu vermuten, die in magischen Vorstellungen begründet gewesen sein dürften36, etwa der das Verbrechen selbst (und nicht etwa nur seine Folgen) durch die Bestrafung des Täters wieder aus der Welt zu schaffen, es also – modern gesprochen „symbolisch“ – auszulöschen37. 2. Es sei nun ein großer historischer Sprung ins 19. Jahrhundert gewagt und an die Lehre vom intellektuellen Verbrechensschaden erinnert, die sich in erster Linie mit dem Namen Carl Theodor Welcker verbindet38. Danach richtet jede Straftat einen intellektuellen Schaden an, der (anders als ein ggf. vorhandener materieller) nicht zivilrechtlich ausgeglichen werden kann. Dieser intellektuelle Schaden setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen39, von denen Welcker die in unserem Zusammenhang relevante als Schwächung der Achtung der Bürger vor dem Recht, verstanden als Ausfluss ihres sittlichen Vermögens und Grundbedingung ihrer Humanität, bezeichnet40. Dieser Schaden müsse durch Strafe „aufgehoben“41 und so Rechtsfrieden und „rechtliche Willensstimmung“ in der Allgemeinheit wiederhergestellt werden42.
strafe durch Vierteilung „… solche viertheyl auff gemeyne vier wegstrassen offentlich gehangen vnnd gesteckt werden.“ 35 Das Strafkonzept jener Zeit war natürlich – wie diejenigen aller Zeiten – komplex (s. dazu nur Eb. Schmidt [Fn. 13], S. 65 ff. – S. 67 speziell zur Abschreckung; vgl. dazu weiterhin Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege I, 1989, S. 107); hier soll daraus nur eine einzelne gedankliche Linie herauspräpariert werden, die am ehesten mit der Erklärung der übermäßigen Härte jenes Strafrechts in Verbindung steht. 36 Hier spielten sicherlich auch – modern gesprochen – abergläubische Motive eine Rolle, etwa der Glaube an die Zauberkraft von mit dem Delinquenten im Bunde befindlichen dämonischen Mächten, die Möglichkeit der Wiederkehr Toter zum Schaden der Lebenden usw.; dazu insbes. Sturm (Fn. 32), passim. 37 So in der Tat van Dülmen (Fn. 13), S. 11, 176 f.; Sturm (Fn. 32), S. 159; Schild, in: Schreiner/Schnitzler (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen, 1992, S. 162 f.; auch die in alter Zeit verbreitete „Reinigungs“-Rhetorik weist in diese Richtung, dazu Birr, in: Hilgendorf/ Weitzel (Hrsg.), Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung, 2007, S. 73 m.w.N. 38 Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813 (Neudruck 1964), S. 249 ff.; dazu monographisch Rückert, Der intellektueller Verbrechensschaden bei Carl Theodor Welcker, 1998, insbes. S. 60 ff. 39 Näher Welcker (Fn. 38), S. 252 ff.; zur Komplexität näher Rückert (Fn. 38), S. 65 ff. 40 Welcker (Fn. 38), S. 253 f., 259 f. 41 Welcker (Fn. 38), S. 257. 42 Welcker (Fn. 38), S. 261 f., 266.
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Welckers Wiederherstellungslehre, die eine Reihe von Vorläufern43 hatte und auch eine gewisse Resonanz fand44, ist damit durchaus zu den bedeutsamen Strömungen im breiten Fluss der Straftheorien, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, zu zählen. Ihre zeitgenössischen Kritiker, u. a. Eduard Henke und Anton Bauer, hielten sie für zu sehr am Ausgleichsgedanken des Zivilrechts orientiert45 und zu wenig präventiv ausgerichtet46. Zudem sei es rein spekulativ, ob eine Erschütterung der Achtung vor dem Recht in concreto überhaupt eingetreten und ggf. wieder beseitigt worden sei47. Dieser letztere Einwand dürfte allerdings darauf beruhen, dass der symbolische Aussagegehalt dieser Lehre48 als empirisch-psychologische Tatsachenbehauptung missverstanden wurde. Dass Bauer die Lehre vom intellektuellen Verbrechensschaden so entschieden ablehnte, mag insofern überraschen, als seine eigene Warnungstheorie49 deutliche Parallelen zu Welckers Konzept aufweist: Beide lassen sich als Vorläufer der Theorie von der positiven Generalprävention begreifen50, indem sie das sittliche Vermögen und das Rechtsbewusstsein des Menschen mit der staatlichen Strafe in einen Zusammenhang gestellt haben. Dass Bauer gleichwohl die offensichtlichen Berührungspunkte kaum wahrnahm51, ist wohl darauf zurückzuführen, dass er lange Zeit hindurch ein überzeugter Anhänger der Lehren Feuerbachs gewesen war52 und den Gedanken einer reinen Androhungsprävention in seiner Warnungstheorie bis zur letzten
43 s. auch die – allerdings fragwürdige (dazu Rückert [Fn. 38], S. 142) – Anknüpfung dieser Lehre an antike Vorbilder durch Welcker selbst (Fn. 38), S. 135 ff., 571, 575, 578, 583; über die Strafzwecke nach römischen Rechtsquellen informiert gründlich Wacke, FS Weber, 2004, S. 155 ff. 44 Näher Müller-Dietz, GA 1983, 485 ff., 490 ff. 45 Henke, Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik I, 1823, S. 95 ff.; zu dessen eigener Position in der Kontroverse um die Straftheorien s. v. Bar, Geschichte des Deutschen Strafrechts, 1882, S. 270 m. Fn. 208. – Zur Abgrenzung von Zivilrecht und Strafrecht bei Welcker s. Rückert (Fn. 38), S. 132 ff. 46 Bauer, Die Warnungstheorie, 1830, S. 309, 315. 47 Henke (Fn. 45), S. 103; vgl. auch Bauer (Fn. 46), S. 311 f., 319. 48 Zum Wiederherstellungsgedanken aus heutiger Sicht z. B. Frisch, FG BGH IV, 2000, S. 278, der von der Behebung der ideellen Folgen der Straftat im Wege einer „gewissen Symbolik“ spricht; s. auch Stratenwerth/Kuhlen, AT, 6. Aufl. 2011, § 1 Rn. 32; Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 264; Seelmann, KritV 75 (1992), 465. Zur (Un-)Erheblichkeit der Feststellung eines Normgeltungsschadens in concreto s. Frisch (Fn. 5), S. 138 einerseits und Neumann andererseits in: Schünemann/v.Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, 151 f. 49 Monographisch Bauer (Fn. 46), insbes. S. 27, 32 ff., 187 ff. 50 Für Welcker s. Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, 1998, S. 23 ff.; Rückert (Fn. 38), S. 70, 149; Müller-Dietz, GA 1983, 496; Jakobs (Fn. 2), 1/11, dort Fn. 13; für Bauer s. Bloy, in: Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 197 ff.; H. Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, 1984, S. 155 ff. 51 s. aber immerhin Bauer (Fn. 46), S. 315. 52 Dazu Bloy (Fn. 50), S. 196.
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Konsequenz trieb53, während die Wiederherstellungslehre Welckers den Präventionsgedanken auf die Anwendung des Strafgesetzes bezog54. Diese Kontroverse ist auch heute noch nicht beigelegt. Während die positive Generalprävention zumeist als eine Lehre begriffen wird, welche die Verhängung und Vollstreckung der Strafe legitimieren soll55, stellt insbesondere Schünemann hier den Gedanken der Androhungsprävention ganz in den Vordergrund56. Damit ist nun bereits die Brücke zum aktuellen Diskussionsstand geschlagen. 2. Symbolische Funktionen des Strafrechts in der Gegenwart a) Positive Generalprävention und „absolute“ Straftheorie Über das rechte Verständnis dessen, was positive Generalprävention sei, herrscht nicht nur in dem genannten Punkt Uneinigkeit. Es haben sich inzwischen derart viele Varianten herausgebildet, dass sich im Grunde nicht mehr von der Theorie der positiven Generalprävention sprechen lässt, es ist vielmehr ein ganzes Bündel von Konzepten, die zwei verschiedenen Grundausrichtungen folgen, denn der Hauptakzent kann entweder auf die instrumentelle Leistungskraft oder auf den symbolischen Gehalt der positiven Generalprävention gelegt werden. Die bei vielen Autoren anzutreffende psychologisierende Redeweise57 legt es immerhin nahe, den empirisch-psychologischen Gehalt in den Mittelpunkt zu rücken und damit dem Problem des Wirk-
53 Dementsprechend anerkennt er keinen eigenen Zweck und Rechtsgrund der Bestrafung, begangener Taten, sie fallen mit dem Zweck und Rechtsgrund der Strafandrohung zusammen; s. Bauer (Fn. 46), S. 69 ff., 81 ff. 54 Bezeichnenderweise führt Bauer (Fn. 46), S. 308 als Argument gegen die Wiederherstellungstheorien das berühmte Argument an, dass danach „der Uebertreter … als blosses Mittel behandelt“ würde. Einen entsprechenden Einwand gegen die positive Generalprävention erhebt z. B. Frisch (Fn. 5), S. 137 f. m.w.N. 55 Repräsentativ Roxin (Fn. 9), § 3 Rn. 26 f.; Jakobs (Fn. 2), 1/15; allerdings finden sich oft auch Formulierungen, die die Androhungsprävention mit einschließen, s. z. B. Stratenwerth/ Kuhlen (Fn. 48), § 1 Rn. 26; Müller-Dietz, FS Jescheck II, 1985, S. 821 f.; Hassemer, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 37; zu den verschiedenen möglichen Akzentuierungen Frisch (Fn. 5), S. 129. 56 Schünemann, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 117 ff.; krit. dazu Frisch (Fn. 5), S. 144 f. 57 Die Rede ist von der Enttäuschung normativer Erwartungen (Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 22, 24), von Einübung in Normvertrauen (Jakobs [Fn. 2], 1/15), dem Vertrauen in die Unerschütterlichkeit des Rechts (BGHSt 24, 46, ähnl. BVerfGE 45, 256), der Stärkung des Rechtsbewusstseins (Jescheck/Weigend [Fn. 1], S. 68 f.; ähnl. BVerfGE 88, 278), realer Bewusstseinsbeeinflussung i. S. einer Stabilisierungsfunktion (Müller-Dietz, GA 1983, 496), der Internalisierung von Normen (Schünemann, GA 1986, 350) usw. Die etwas altväterlich anmutende Kurzformel von der „sittenbildenden Kraft des Strafrechts“ stammt wohl von H. Mayer, Das Strafrecht des Deutschen Volkes, 1936, S. 26; ihren zeitgeschichtlichideologischen Hintergrund beleuchtet Müller-Tuckfeld (Fn. 50), S. 34 ff., 368 ff.
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samkeitsnachweises großes Gewicht zu verleihen58. Dann wäre die positive Generalprävention allerdings nur ein gedankliches Gegen- bzw. Ergänzungsstück der negativen59. Nun ist es allerdings bis heute (mindestens) eine offene Frage geblieben, ob derartige Evaluations-Unternehmungen wirklich Klarheit schaffen können60. Doch tritt dies in den Hintergrund, wenn die positive Generalprävention auf eine Bestätigung durch erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis gar nicht so sehr angewiesen sein sollte61, weil die zu ihrer Erläuterung häufig verwendeten psychologisierenden Begriffe für ein Legitimationsmodell stehen, in dem Strafe als symbolische Kommunikation fungiert. Und genau das ist der Punkt, an dem Übereinstimmung mit der Lehre vom intellektuellen Verbrechensschaden besteht. Gerade positive Generalprävention in diesem Sinne kann auf einen entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang verweisen, der wenig Anlass dazu bietet, diesen etablierten Begriff anderen, empirisch ausgerichteten Theorievarianten zu überlassen62. Dies ist auch keineswegs ein wirklichkeitsfernes Konzept, wie sich daran zeigt, dass die Rechtsprechung es ablehnt, empirische Befunde heranzuziehen, wenn es um die Anwendung des Begriffs der Verteidigung der Rechtsordnung63 geht, der den Gesichtspunkt der Generalprävention in verschiedenen Vorschriften des Strafgesetzbuches zum Tragen bringt. Allerdings muss sich dieses Konzept von positiver Generalprävention noch einer letzten Prüfung stellen. Als eine Präventions-Theorie, die sie definitionsgemäß ist, kann sie nicht zugleich eine absolute Straftheorie sein. Worin besteht aber der Unterschied zu einer absoluten Strafbegründung, wenn sich die positive Generalprävention empirischer Effektivitätskontrolle (weitgehend) entzieht? Bezeichnenderweise ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Konzepten schon häufig thematisiert worden. Zwar scheint es auf den ersten Blick einfach zu erkennen zu sein, ob eine Straftheorie (bestimmte) Präventionsziele vorgibt oder nicht. Im Falle der positiven Generalprävention ist es nun aber so, dass ihre Zielsetzung (die sich an die Allgemeinheit wendet) in der Formel von der Wiederherstellung des Rechts als Recht, mit der 58 s. statt vieler die Beiträge von Baurmann u. Schumann, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 1 ff., 17 ff.; auch schon Giehring, KrimJ 19 (1987), 9. 59 So ganz deutlich schon H. Mayer (Fn. 57), S. 34; s. auch Hassemer, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 40 f. (vgl. aber auch die Abschwächung auf S. 42). 60 Dazu statt vieler Frisch (Fn. 5), S. 134; Bock, ZStW 103 (1991), 654 ff.; Maiwald, GA 1983, 69 ff.; zusf. Müller-Tuckfeld, (Fn. 50), S. 115 ff. 61 Der Einwand einer Immunisierungsstrategie (z. B. Schumann, Positive Generalprävention [Fn. 5], S. 17) verfehlt sein Ziel, soweit der Strafzweck ein symbolischer ist. Zur Kritik eines „unkritischen“ Empirismus treffend Müller-Tuckfeld (Fn. 50), S. 127 ff.; abl. zum Psychologismus in diesem Zusammenhang auch Frisch (Fn. 5), S. 135 ff. m.w.N. Zur Wirkungsweise von Symbolik im Strafrecht s. u. IV. 62 Mit diesem dezidiert normativen Verständnis wird auch die gelegentlich geäußerte Befürchtung gegenstandslos, dass mit dem Abstellen auf die „Rechtstreue“ der Bevölkerung das „gesunde Volksempfinden“ unseligen Angedenkens wieder Einzug in die Strafrechtspflege halten könnte (hierzu Frisch [Fn. 5], S. 137; Maiwald, GA 1983, 65 f.). 63 BayObLG JR 1978, 513 m. Anm. Horn; OLG Celle JR 1980, 256 m. Anm. Naucke; dazu Maiwald, GA 1983, 66 ff.; krit. konsequenterweise Schumann (Fn. 58), S. 17.
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auch die absolute Theorie operiert, aufgeht. Insofern ist der Argwohn, dass es sich hier lediglich um eine aufwendig „maskierte“ absolute Theorie handele64, prima facie nicht von der Hand zu weisen. Der Unterschied zwischen relativen und absoluten Straftheorien besteht jedoch nicht darin, dass die einen empirischer Wirksamkeitskontrolle zugänglich sind und die anderen nicht. Entscheidend ist vielmehr, ob die Strafe (bzw. auch schon deren Androhung) als Kommunikationsmedium begriffen wird oder nicht. Da positive Generalprävention die Strafe als Medium symbolischer Kommunikation deutet, ist sie keine absolute Straftheorie. Für die absolute Straftheorie (gleich in welcher Erscheinungsform) ist die Strafe zwar in höchstem Maße symbolisch65 aber nicht kommunikativ66. Eine unheilvolle Verwirrung ist in diesem Punkte dadurch eingetreten, dass insbesondere seit dem „Schulenstreit“ eine gewisse Degeneration der absoluten Straftheorie in Richtung positiver Generalprävention erfolgt ist67, so dass sich eine unklare Gemengelage ergeben hat. Exemplarisch mag dafür Reinhard v. Frank stehen, der unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Welcker durch Ausgleichung des intellekuellen Schadens68 der Schwächung der Rechtsautorität und der Rechtserschütterung be64
So drastisch Schumann, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 17 f. s. Kant, Brief an Johann Benjamin Erhard v. 21. 12. 1792, in: Briefe, Akademie-Ausg. XI, 2. Aufl. 1922, S. 398 f.: „… daß die poena (…) ob sie zwar der Absicht nach blos medicinalis für den Verbrecher, aber exemplaris für Andere seyn möchte, doch (…) ein Symbol der Strafwürdigkeit sey.“ (Hervorhebung im Original); dazu Schild, FS E. A. Wolff, 1998, S. 429 ff., dem es allerdings darum geht, Kant als einen Vertreter der relativen Straftheorie der Aufklärung zu entdecken; s. aber auch dessen eigene Hinweise auf die enge Verknüpfung zwischen der Übertretung moralischer Gesetze und Strafe im Begriff der Strafwürdigkeit bei Kant (ebd. S. 437); zum Ganzen auch Haas (Fn. 48), S. 182 ff. 66 Hassemer (Fn. 7), S. 1013. Anders jedoch Puppe (Fn. 9), S. 470 auf der Grundlage eines sehr weiten, der Kommunikationstheorie entnommenen Kommunikationsbegriffs. Danach ließe sich sagen, dass durch die absolute Straftheorie die faktische Geltung des Gerechtigkeitsgedankens als Wert an sich bzw. der Unverbrüchlichlichkeit der Norm kommuniziert werde. Auch Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009, argumentiert kommunikationstheoretisch (S. 34 ff.); danach soll eine Strafe ohne Strafzweck allerdings gar nicht vorstellbar sein (S. 79 f.), sodass sich ihm die nicht spezifisch sozialethisch (das hieße mit Bezug auf die Verletzung der äußeren Freiheit anderer; zur Strafe als sozialethischer Missbilligung und zum schillernden Begriff der Sozialethik näher Kühl, JRE 11 [2003], 234 ff., 239 f.), sondern allgemein moralisch fundierte absolute Straftheorie (die Hamel bezeichnenderweise „absolute Strafzwecktheorie“ nennt, S. 16, 79, 140), wonach Strafe zwar einen Sinn aber keinen Zweck hat, nicht erschließt. Zur Unterscheidung zwischen Sinn und Zweck der Strafe schon grdl. Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 4 f.; dazu auch Kühl, FS Eser, 2005, S. 154. 67 Dazu unter der paradoxen Überschrift „Präventiv absolute Lehren“ Hassemer, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 30 ff.; ders., in: Hassemer/Lüderssen/Naucke (Hrsg.), Fortschritte im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften? 1983, S. 48 ff. m.w.N.; ders. (Fn. 7), S. 1013; zu verdeckt-relativen Theorien im absoluten Gewand bzw. der „Relativierung“ absoluter Theorien auch Müller-Tuckfeld (Fn. 50), S. 26 ff.; Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 1987, S. 104 ff.; H. Müller (Fn. 50), S. 17; Naucke, in: Hassemer/Lüderssen/Naucke, Hauptprobleme der Generalprävention, 1979, S. 18 f. 68 v. Frank, FG Heck/Rümelin/A.B.Schmidt, AcP-Beilageheft zu Bd. 133 (N.F. 13), 1931, S. 48 f. 65
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gegnen will69, dann aber überraschend fortfährt: „… nichts ist verkehrter, als wenn man den absoluten Theorien die Zweckorientierung abspricht.“70 Das der positiven Generalprävention und der absoluten Strafbegründung gemeinsame Element der Symbolik ändert jedoch nichts daran, dass eine „absolute“ Präventionstheorie eine contradictio in adiecto darstellt71. Hingegen besteht kein Hindernis, die Präventionstheorien insgesamt als Kommunikationstheorien zu verstehen, wobei die positive Generalprävention dann durch symbolische Kommunikation charakterisiert ist. Mit der Wiederherstellung des Rechts als Recht und verwandten Formulierungen72 ist bei ihr deshalb (anders als bei der absoluten Theorie) nicht einfach der isolierte Gerechtigkeitsgedanke bezeichnet, sondern zugleich die Bedeutung der Gerechtigkeit für die Rechtsgemeinschaft73 thematisiert. Letztere wird zwar unterschiedlich beschrieben, im Kern geht dabei aber um die Schutzaufgabe der Rechtsordnung als Freiheitsordnung und die Achtung des Einzelnen als autonomes Subjekt74. Als Freiheitsordnung gewährleistet die Rechtsordnung die Grundlagen des Zusammenlebens der Menschen als Gleiche in einem Gemeinwesen und die Entfaltungsbedingungen des Einzelnen darin75. Das Strafrecht spielt hier bekanntlich die Rolle der ultima ratio. Das hat zur Voraussetzung, dass die nach Rechtsmaßstäben unbegründete Freiheitserweiterung des einen auf Kosten des anderen durch Wieder-
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v. Frank (Fn. 68), S. 53. v. Frank (Fn. 68), S. 56. 71 Freilich lässt sich durchaus nicht unplausibel mutmaßen, dass der Gedanke der Vergeltungsgerechtigkeit historisch gesehen objektiv (damals aber noch unbewusst) schon früh als „Destillat“ von Ausgleichsbedürfnissen i. S. v. Generalprävention fungiert hat (so MüllerDietz, GA 1983, 482). Dann wäre die Theorie der positiven Generalprävention gewissermaßen die zum Bewusstsein ihrer eigenen „wirklichen“ Aufgabe gekommene absolute Theorie (und damit keine absolute Theorie mehr). Das muss zwar Spekulation bleiben, dürfte aber hinter den „relativierenden“ Interpretationen der absoluten Theorie (wie z. B. der Schilds zur kantischen Theorie [Nachw. wie Fn. 65]) stehen. 72 Frisch, FS Müller-Dietz, 2001, S. 254; ders., FG BGH IV, 2000, S. 278; Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 75, 87, 97; Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 37, 43, 48 f.; Freund, GA 1995, 12; näher zur Herkunft dieser Formulierung Seelmann, JuS 1979, 687 ff. 73 Sofern es ein individuelles Opfer der Tat gibt, ist dieses selbstverständlich Teil der Rechtsgemeinschaft, so dass seinem Anerkennungsbedürfnis mit der Normbestätigung durch Strafe ebenfalls Rechnung getragen wird; zur Rolle des Opfers eingehend Hamel (Fn. 66), S. 176 ff.; Hörnle, JZ 2006, 953 ff.; s. jedoch die Kontroverse zwischen Lüderssen (FS Hirsch, 1999, S. 888) u. K. Günther (FS Lüderssen, 2002, S. 207 ff., insbes. S. 217 f.). Das Opfer ist geradezu der Repräsentant der Rechtsgemeinschaft; zugespitzt: Was der Täter dem Opfer antut, tut er allen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft an (in diesem Sinne auch Seelmann, JZ 1989, 675 f.). 74 E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 826 hat dies auf die Formel gebracht: „Um der Gerechtigkeit willen“ und „um allgemeiner äußerer Selbstbestimmung (äußerer Freiheit) willen“ sind ein und dasselbe. In diesem Sinne auch Pawlik (Fn. 72), S. 56 f. 75 Prägnant Frisch (Fn. 72), S. 279; ders., (Fn. 5), S. 141; ders., in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 146; ders., FS Stree/Wessels, 1993, S. 86 f. 70
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herstellung des Rechtsgleichheitsverhältnisses rückgängig gemacht wird76. Die Normbewährung dient also der Aufrechterhaltung freiheitlicher Lebensverhältnisse für alle durch Güterschutz77. Dabei erlangt die Achtung des Einzelnen als moralische Person in doppelter Hinsicht Bedeutung: Es dürfen weder Täter noch Dritte als Mittel zum Zwecke der Stabilisierung der Rechtsordnung eingesetzt werden78. Das „Instrumentalisierungsverbot“ ist freilich in dem Sinne zu verstehen, dass durch das Strafrecht keinerlei die Eigenverantwortlichkeit ausschließender Zwang ausgeübt werden darf, was übrigens durchaus mit der konventionellen Betrachtung übereinstimmt: Wer keine Straftaten begeht, ist als eine verantwortungsbewusste Person zu achten. Er gibt grundsätzlich79 keinen Anlass, dies nicht ihm sondern der ihn zwingenden Kraft der Strafrechtsordnung gutzuschreiben. Die sog. Strafdrohung ist in diesem Verständnis eher ein Appell80 an potentielle Täter und greift keineswegs in deren Freiheit ein. Auch die Verhängung einer Strafe trägt für sich genommen noch keinen Zwangscharakter81. Die erst mit ihrer Vollstreckung über die symbolische Funktion des Tadels hinausgehende Zwangswirkung der Strafe82 legitimiert sich einmal daraus, dass der Verurteilte dadurch unausweichlich mit seiner Tat konfrontiert wird mit dem Ziel, ihn zu einer eigenverantwortlichen Stellungnahme hierzu zu veranlassen. Auch dies ist also ein Appell an ihn als moralische Person83. Zum anderen wird dadurch das Rechtsgleichheitsverhältnis tätig wieder hergestellt, damit die Rechtsordnung weiterhin als Freiheitsordnung Bestand 76 Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 38 f., der dort zutr. betont, dass dies keineswegs „sinn- und zwecklos“ sei (S. 40). Es entfaltet seine Bedeutung eben bloß – wie man ergänzen kann – auf einer symbolischen (d. h. nicht-instrumentellen) Ebene. – Hierzu eingehend E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 820 ff.; s. auch Haas (Fn. 48), S. 264, 415. 77 Und nicht etwa umgekehrt; so aber Jakobs (Fn. 2), 1/11; gegen dessen Konzept zutr. Lüderssen, ZStW 107 (1995), 882 f.; Neumann, Positive Generalprävention (Fn. 48), S. 147 f. dort Fn. 4; wie hier auch Stein, Straftat und/oder Ordnungswidrigkeit? 2008, S. 154 f.; Díez Ripollés, ZStW 113 (2001), 520 f.; Voß (Fn. 4), S. 38. Letztlich verstärken sich Normbewährung und Gütersicherheit wechselseitig; s. auch Blankenburg, ARSP 63 (1977), 35. 78 Vgl. Frisch (Fn. 72), S. 277; ders. (Fn. 5), S. 137; Hörnle/v.Hirsch, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 90; Köhler (Fn. 76), S. 40 f.; E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 800 ff.; Naucke (Fn. 67), S. 9 ff., 26. 79 Es sei denn dies unterbleibt nur aus lähmender Furcht vor Strafe, was aber allenfalls in Bezug auf einzelne in Erwägung gezogene Taten einmal praktisch Relevanz erlangen dürfte. 80 s. dazu Hörnle/v.Hirsch, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 91. Es geht also um Einsicht und Zustimmung: Hassemer, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 43; sachlich übereinstimmend Baurmann, K. Günther u. Duff, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 8 ff., 172 ff., 183 ff.; H.-J. Otto, Generalprävention und externe Verhaltenskontrolle, 1982, S. 279 ff.; auch schon Noll, FS H. Mayer, 1966, S. 227; anders jedoch Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 399 f. 81 Dazu Hörnle/v.Hirsch, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 98. 82 v. Hirsch, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 102, 104; allerdings nicht für die Allgemeinheit, so aber Greco (Fn. 80), S. 457. 83 v. Hirsch, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 105.
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hat84. Schließlich wird im Falle des Vollzuges einer Freiheitsstrafe dem Verurteilten zusätzlich die Möglichkeit genommen, in dieser Zeit weitere Straftaten zu begehen. Letzteres stellt sich allerdings als eine nur akzidentielle Sicherungsmaßregel dar. Dass all dies in den formelhaften Wendungen, mit denen die positive Generalprävention charakterisiert zu werden pflegt, allenfalls konnotativ zur Sprache kommt, mag zusätzlich zu dem gelegentlichen Missverständnis beitragen, dass es allein um Symbolik und nicht um Kommunikation gehe. Wenn man den zentralen Gedanken der symbolischen Kommunikation jedoch als Leitlinie nimmt, fällt auch auf die historische Entwicklungskontinuität ein schärferes Licht: Die Manifestation des Rechts als gemeinsamer Bezugspunkt von absoluter Straftheorie und der Theorie von der positiven Generalprävention führt in ihrer Ausprägung als Medium symbolischer Kommunikation nicht nur zurück zur Lehre vom intellektuellen Verbrechensschaden. Der Wiederherstellungsgedanke lässt sich darüber hinaus als säkularisierte Form der alten magischen Vorstellung, dass das Verbrechen durch die Strafe ausgelöscht und die Welt davon „gereinigt“ werde85, verstehen. In diesem Sinne könnten darin sogar in befremdlicher Einkleidung Bemühungen um eine normative Integration des Menschen in die (göttliche und staatliche) Weltordnung erkennbar sein86. b) Der Schuldspruch Der Schuldspruch bildet in einem verurteilenden Strafurteil regelmäßig die Grundlage für den Strafausspruch, so dass er als dessen bloße Voraussetzung ohne selbstständige Relevanz erscheint. Erst in den Fällen, in denen ein isolierter Schuldspruch ohne Strafausspruch ergeht, tritt seine Eigenbedeutung hervor, denn dann stellt sich die Frage, worin der Unterschied zu einer verfahrensbeendigenden Entscheidung ohne Schuldspruch (Freispruch, Einstellung) besteht. Praktische Bedeutung erlangt sie durch eine Reihe von Vorschriften im Allgemeinen und Besonderen Teil des Strafgesetzbuches (zu den wichtigsten gehören §§ 23 III, 46 a, 60, 158 I, 306 e I StGB) und durch § 27 JGG. An der Existenz dieser Möglichkeiten zeigt sich zunächst, dass die symbolische Funktion des Tadels kein bloßer Sekundäreffekt der Strafe ist87, denn es ist zwar in jeder Strafe ein Tadel implizit ausgedrückt, aber 84 Sachlich übereinstimmend Neumann, Positive Generalprävention (Fn. 48), S. 150 ff. – Zusätzlich hebt Köhler (Fn. 72), AT, S. 48 f. den Aspekt hervor, dass kein Täter trotz des in seiner Tat liegenden Geltungswiderspruchs dem Recht als solchem seinen Geltungsanspruch bestreitet. Dieser Selbstwiderspruch führte letztlich zu einer Erosion des Rechts, wenn man ihn nicht durch Wiederherstellung des allgemeinen Rechtsgleichheitsverhältnisses auflöste; s. auch J.-C. Wolf, JRE 11 (2003), 206. 85 Nachw. wie Fn. 37; der Gedanke der Vernichtung der Tat durch Bestrafung des Täters erscheint in einer modernisierten Version wieder bei Fauconnet, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Abweichendes Verhalten II, 1975, S. 295 ff. 86 So durchaus bedenkenswert Müller-Tuckfeld (Fn. 50), S. 19 ff.; Schild (Fn. 37), S. 163; Zopfs, ZStW 113 (2001), 188. 87 A. A. Schünemann, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 113.
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nicht jeder strafrechtliche Tadel findet in einer Strafe Ausdruck. Dafür reicht auch schon der Schuldspruch aus. Der Schuldspruch für sich trägt zwar noch keinen Strafcharakter88, aber er stellt immerhin eine formelle strafrechtliche Reaktion dar. Wird der bereits im Schuldspruch liegende Tadel noch durch eine ausdrückliche Verwarnung bekräftigt (§ 59 I StGB, § 14 JGG)89, so liegt darin eine spezialpräventive Maßnahme ohne Strafcharakter (vgl. auch § 13 III JGG), die dem Täter dessen Ernst zunächst noch einmal nachdrücklich vor Augen führen soll. Im Begriff der Ver-Warnung ist darüber hinaus die Ankündigung enthalten, dass der Verwarnte doch noch mit dem Eintritt eines (Sanktions-)Übels zu rechnen habe, falls er sich nicht bewährt. Insofern sind Verwarnung und Bestrafung aufeinander bezogen (ohne miteinander identisch zu sein), was bei § 59 StGB noch ganz offen zutage tritt und bei der Strafaussetzung zur Bewährung sogar direkt § 56 I 1 StGB zu entnehmen ist, während sich die Verwarnung nach § 14 JGG davon insofern entfernt hat, als es sich nur noch um eine Bekräftigung der Missbilligung der Tat handelt, verbunden mit dem Hinweis, dass es im Falle einer weiteren Tat künftig (möglicherweise) nicht mehr so glimpflich abgehen werde90. Allerdings ist im Schuldspruch selbst noch nicht zwingend eine konkludente Verwarnung enthalten. Wenn es sich nämlich – wie in den durch § 60 StGB erfassten Fällen91 – um eine Tat ohne Wiederholungspotential handelt, ergäbe eine Verwarnung keinen Sinn92. Bei anderen Konstellationen kann freilich auch von einer im Schuldspruch zusätzlich zur Missbilligung implizit mitausgesprochenen Verwarnung ausgegangen werden (besonders deutlich bei § 27 JGG). Zusätzlich zu diesem (regelmäßigen) spezialpräventiven Aspekt erlangt der Schuldspruch stets generalpräventive Bedeutung93, da das Urteil gem. § 173 I GVG zwingend öffentlich zu verkünden ist. 88 A. A. Walther, Vom Rechtsbruch zum Realkonflikt, 2000, S. 383, die Missbilligung und Warnung als Strafen im weiteren Sinne begreift (a.a.O., S. 289 ff.); s. auch schon A. Arndt, Gesammelte juristische Schriften, 1976, S. 254: wie hier jedoch Schork, Ausgesprochen schuldig, 2005, S. 131. 89 Dies ist auch in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen (§ 260 IV 4 StPO; dazu Eisenberg, JGG, 15. Aufl. 2012, § 14 Rn. 2 i. V. m. § 54 Rn. 15). 90 s. auch Eisenberg, JGG, § 14 Rn. 2; NK-JGG/Ostendorf, 8. Aufl. 2009, § 14 Rn. 2. – Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang außerdem die Verwarnung gem. § 56 I OWiG. In der Verwarnung als solcher liegt nämlich nicht etwa bereits eine Entscheidung über das Vorliegen einer vorwerfbaren Ordnungswidrigkeit (BVerwGE 42, 208 f.; OLG Hamm VRS 57 [1979], 198 f.). Nun setzt die Verwarnung mit Verwarnungsgeld allerdings das Einverständnis des Betroffenen voraus (§ 56 II 1 OWiG). Im Falle eines solchen Konsensverfahrens im außerstrafrechtlichen Bereich erscheint eine förmliche Entscheidung in der Tat entbehrlich. Hingegen ist die Verwarnung ohne Verwarnungsgeld als präventiv-polizeiliche Maßnahme (i. d. R. der Verkehrserziehung) sogar ohne Einverständnis des Betroffenen zulässig. 91 s. aber auch Schork (Fn. 88), S. 163 ff. 92 Darin erblickt Maiwald, ZStW 83 (1971), 665 zu Recht die eigenständige Funktion des Absehens von Strafe gem. § 60 StGB gegenüber der Strafaussetzung zur Bewährung. 93 Schork (Fn. 88), S. 178 ff. Womit zugleich etwaigen Opferbelangen Rechnung getragen ist (s. o. Fn. 73); vgl. auch Schork, a. a. O., S. 195; Baier, GA 2005, 86 f.
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Gegenstand des Tadels ist das vom Täter zu verantwortende Unrecht der Tat, weshalb dieses im Schuldspruch nach Art und Ausmaß vollständig zum Ausdruck gelangen muss94. Daraus resultiert die sog. Klarstellungsfunktion der Idealkonkurrenz95. Im Übrigen muss im Falle des Absehens von Strafe ein selbstständiges Schuldfeststellungsbedürfnis bestehen. Dass der Gesetzgeber dies nicht für selbstverständlich gehalten hat, ergibt sich aus § 153 b StPO, der die Möglichkeit des Absehens schon von der Anklageerhebung vorsieht, wenn die Voraussetzungen des Absehens von Strafe vorliegen. Es sind allerdings keine Kriterien ersichtlich, anhand derer das Fehlen des Schuldfeststellungsbedürfnisses ermittelt werden könnte96 (abgesehen von den schon nach §§ 153, 153 a StPO zu erledigenden Fällen)97. In Anbetracht der wichtigen symbolischen Funktion des Schuldspruchs drängt sich eher eine ganz andere Frage auf, nämlich die, ob es nicht überhaupt mit dem Schuldspruch sein Bewenden haben sollte98. Anhand der Verwarnung hat sich nun bereits gezeigt, dass eine verbale Bekräftigung des Schuldspruchs als notwendig erachtet werden kann. Aber auch dies mag sich noch als unzureichend erweisen. Wenn das nicht nur in der „sittliche(n) Unterentwickeltheit des einzelnen wie der Gesellschaft“ seinen Grund haben soll99, kann es nur100 im Gebot der Gerechtigkeit begründet sein. Da die Gerechtigkeit nun aber stets in ihrer Bedeutung für die Rechtsgemeinschaft zu betrachten ist, verliert die Strafe zwar ihre Legitimationsbasis, wenn sie – wie im Falle des § 60 StGB – nur noch als „Selbstzweck“ erschiene101 und nicht mehr als Demonstration ernsthaften Durchsetzungswillens der Rechtsordnung überzeugte. Sie bleibt aber notwendig, soweit gerade sie die Verbindlichkeit der Norm als Bestandteil der Freiheitsordnung verbürgt. Und das ist nun in der Tat im Regelfall zu bejahen, und zwar nicht etwa deshalb weil archaische Strafbedürfnisse anders nicht zu bändigen wären, sondern aus der Überlegung heraus, dass die rechtlich garantierte Freiheit auf Gleichheit beruht, mithin der in der Straftat liegenden unrechtlichen Freiheitsanmaßung, die das Rechtsgleichheitsverhältnis zwischen allen Bürgern verletzt, eine faktische Wiederherstellung dieser Gleichheit entgegengesetzt werden muss, um die Rechtsordnung als Freiheitsordnung zu erhalten. Dafür 94 s. z. B. Wagner, GA 1972, 41; näher Schork (Fn. 88), S. 78 ff.; Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 109 ff.; vgl. aus der Rechtsprechung weiterhin BGHSt 39, 107 ff.; 44, 198. 95 Näher Abels, Die „Klarstellungsfunktion“ der Idealkonkurrenz, 1991, insbes. S. 81 ff. 96 Abl. zu § 153 b StPO schon Bloy, GA 1980, 176 f.; Maiwald, ZStW 83 (1971), 693 ff.; a. A. Wagner, GA 1972, 44 ff. 97 Näher LR-StPO/Beulke, 26. Aufl. 2008, § 153 b Rn. 6 ff. (dort auch zum komplizierten Verhältnis des § 153 a zu § 153 b StPO). 98 Dafür in der Tat K. Günther (Fn. 73), S. 219; ders., in: Müller-Doohm (Hrsg.), Das Interesse der Vernunft, 2000, S. 482 ff.; zu Überlegungen anderer Autoren in diese Richtung zusf. Schork (Fn. 88), S. 209 ff. m.N. 99 So aber Wagner, GA 1972, 43. 100 Noch anders aus sprechakttheoretischer Sicht Hamel (Fn. 66), S. 156 ff. 101 Vgl. Maiwald, ZStW 83 (1971), 666.
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ist eine bloße Feststellung, wie der Schuldspruch sie trifft, regelmäßig selbst dann zu schwach, wenn sie durch eine Verwarnung bekräftigt wird, weil die Freiheitsanmaßung durch den Täter auch nicht nur in Form einer verbalen Behauptung sondern tätlich erfolgt ist. Dem kann aber auf derselben Ebene nur dadurch begegnet werden, dass dem Täter seinerseits wieder real Freiheit genommen wird102, was sich keineswegs in einer Freiheitsstrafe niederschlagen muss, denn auch eine Geldstrafe bedeutet in dem hier gemeinten umfassenden Sinne eine Freiheitsbeschränkung. Da die Bestrafung des Täters nun nicht ausschließlich symbolische Bedeutung hat, ihr vielmehr auch eine (unterschiedlich akzentuierte) Steuerungsfunktion zukommt, hat sie durchaus eine instrumentelle Seite, was abschließend auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen den instrumentellen und den symbolischen Funktionen des Strafrechts hinführt.
IV. Zum Verhältnis zwischen instrumentellen und symbolischen Funktionen des Strafrechts Dieses Verhältnis kann alternativ oder kumulativ gedacht werden. Von Alternativität wäre zu sprechen, wenn ein Tatbestand nur als entweder instrumentell-wirksam oder symbolisch-wirkungslos charakterisiert werden könnte. Dieses Beurteilungsschema bildet bei der Kritik symbolischen Strafrechts103 als einer Verfehlung der gesetzgeberischen Aufgabe jedenfalls den Hintergrund, denn legitim soll danach nur „instrumentell“ wirksames Strafrecht sein. Aber auch Autoren, für die der Begriff des symbolischen Strafrechts nicht negativ besetzt ist, legen diese Alternativ-Struktur implizit zugrunde, wenn sie symbolisches Strafrecht als Ergänzung zum instrumentellen akzeptieren104. Und in der Tat mag es einige Beispiele dafür geben, dass Verbotsnormen durch Strafbewehrung nur symbolisch bekräftigt werden. Zu denken ist hier an so unterschiedliche Tatbestände wie Völkermord (§ 6 V StGB)105 oder § 130 III StGB („Auschwitz-Lüge“)106, weil entweder davon auszugehen ist, dass es für sie wohl kaum jemals einen praktischen Anwendungsfall geben wird, oder mit dem Verbot auf ein bestimmtes Gedankengut abgezielt ist, welches sich nun 102
Hierzu näher und sehr überzeugend Pawlik (Fn. 72), S. 69 ff., 91 f.; s. auch Kühl (Fn. 66), S. 159 ff.; Puppe (Fn. 9), S. 478 f.; Schild (Fn. 65), S. 433; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 470 f.; Kindhäuser, in: Lüderssen/Nestler-Tremel/E.Weigend (Hrsg.), Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip, 1990, S. 33. – Aus diesem Grunde ist es auch nicht empfehlenswert von Feststellungs- und Warnstrafen zu sprechen, wie es Walther (Fn. 88), S. 289 ff., 382 ff. propagiert. Ebenso wenig trägt es zur begrifflichen Klarheit bei, wenn der Schuldspruch als Teil des Strafausspruchs bezeichnet wird (so aber Stein [Fn. 77], S. 156). 103 Nachw. wie Fn. 7. 104 Kindermann, in: Voigt (Hrsg.), Symbole der Politik, Politik der Symbole, 1989, S. 258. 105 Prittwitz (Fn. 3), S. 256. 106 Roxin (Fn. 9), § 2 Rn. 41 f.; zur spezifischen Symbolik der strafrechtlichen NS-Propagandaverbote instruktiv v. Dewitz, NS-Gedankengut und Strafrecht, 2006, S. 277 ff.
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aber als solches gar nicht effektiv verbieten lässt, so dass eine instrumentell verstandene Wirksamkeit ausscheidet107. Auf der anderen Seite dürfte es rein instrumentell wirksame Straftatbestände gar nicht geben, denn stets spielen auch symbolisch-kommunikative Wirkungen eine Rolle108. Und es wäre noch nicht einmal wünschenswert, das Strafrecht auf seine instrumentelle Funktion zu reduzieren109. Nimmt man die Redeweise von den instrumentellen Effekten durch Verhaltenssteuerung zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes nämlich ernst, dann gelangt darin zum Ausdruck, dass Fremdverhalten auf diese Weise ohne Rücksicht auf den Anspruch des Subjekts auf Achtung seiner Autonomie konditioniert werden soll. Zweckhafte Fremdsteuerung ist Zielverfolgung mittels „finalen“ Verhaltens durch Beherrschung des Geschehens, beschränkt sich also nicht darauf, Verhaltensorientierung zu bieten. So gesehen, sind eher die instrumentellen Wirkungen als die symbolischen Folgen im Strafrecht problematisch. Gleichwohl wird man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten dürfen. Zwar muss es das vornehmste Ziel sein, Einsicht in die Vernünftigkeit der Grundregeln des Zusammenlebens zu vermitteln. Da es der Rechtsordnung letztlich aber nur darauf ankommen kann, die äußere Bereitschaft zur Befolgung dieser Regeln zu stärken110, erscheint es sekundär (gewissermaßen notgedrungen) auch akzeptabel, wenn der Uneinsichtige dazu „gezwungen“ wird (im Sinne der bekannten Redewendung: „Wer nicht hören will, muss fühlen“). Dies ist in zweierlei Hinsicht denkbar: Einmal durch negative Generalprävention, deren historischer Protagonist Feuerbach zur Abschreckung bekanntlich ganz offen das Mittel des psychologischen Zwanges einsetzen wollte111. Die motivatorische Wirkung sollte also nicht als eine autonom getroffene Entscheidung sondern als heteronom abgenötigt eintreten. Zum anderen können spezialpräventive Interventionen so ausgestaltet sein, dass sie nicht auf die Stärkung der Per107
Darüber hinaus ist bekanntlich eine ganze Reihe von Tatbeständen in der (kritischen) Diskussion. Da an dieser Stelle Einzelanalysen nicht geleistet werden können, seien exemplarisch lediglich noch zwei Tatbestände genannt: § 131 StGB als ein Risikodelikt mit symbolischem Subtext (eingehend analysiert von Rackow, in: Momsen/Bloy/Rackow [Hrsg.], Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 195 ff., insbes. S. 212 ff.) u. § 238 StGB (monographisch Löhr, Zur Notwendigkeit eines spezifischen Anti-Stalking-Straftatbestandes in Deutschland, 2008, insbes. S. 436 ff.). 108 s. statt vieler Roxin (Fn. 9), § 2 Rn. 38; Voß (Fn. 4), S. 68 ff.; Prittwitz (Fn. 3), S. 255 f.; Kindhäuser, in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. I, 1998, S. 278; v. Dewitz (Fn. 106), S. 272; vgl. auch Kindermann (Fn. 104), S. 267; Hegenbarth, ZRP 1981, 201; BVerfGE 39, 57, 59. 109 Ebenso z. B. Schild, FS R. Weimar, 1986, S. 206. 110 s. nur Kuhlen, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 61, der zutreffend darauf hinweist, dass die Befürchtung einer bedenklichen Ethisierung des Strafrechts aus diesem Grunde unberechtigt ist. Die Kehrseite dessen ist dann allerdings die im Text aufgezeigte Konsequenz. 111 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, 1801, §§ 12 ff. (S. 13 ff.); dazu instruktiv Greco (Fn. 80), S. 40 ff., 87 ff., der der herkömmlichen Ansicht widerspricht, Feuerbach sei einer unrealistisch rationalen Psychologie, wie sie für die Aufklärungszeit charakteristisch gewesen sei, erlegen, und dafür auch reiches Material anführt.
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sönlichkeit des einzelnen und sozialen Kompetenzgewinn hinauslaufen112, sondern auf eine Verhaltenskonditionierung. Demgegenüber setzt die positive Generalprävention auf die Achtung des einzelnen als autonomes Subjekt und die (begrenzten) Möglichkeiten symbolischer Kommunikation. Dies bedeutet nun keineswegs Folgenlosigkeit. Es besagt vielmehr, dass die zweckrationale (= instrumentelle) Funktion des Strafrechts durch die wertrationale (= symbolische) ausbalanciert wird113. Da der einzelne nun gerade nicht gezwungen sondern im Sinne eines Appells an seine Eigenverantwortung überzeugt werden soll, wird einerseits sein Anspruch auf eigenverantwortliche Entscheidung respektiert; andererseits bleibt das Bemühen, ihn im Sinne rechtskonformen Verhaltens zu motivieren, vor diesem Hintergrund gleichwohl legitim114. Solange man überhaupt daran festhält, dass menschliches Verhalten durch (Vernunft-)Gründe bestimmt werden kann und es demgemäß eine Motivierbarkeit durch andere gibt, also Beeinflussbarkeit durch externe Faktoren (ohne Anspruch auf Beherrschung von Fremdverhalten), ist von einer mindestens „schwachen“ Wirkungschance solcher externer Faktoren, also etwa auch denen der Strafgesetze, auszugehen115. Dies freilich nur dann, wenn sie der Gerechtigkeit in dem Sinne dienen, dass sie die Rechtsordnung als Freiheitsordnung verkörpern116. Die Wahrnehmung dieser Gestaltungschancen der das „Rechtsgleichheitsverhältnis“ wiederherstellenden Strafe ist nicht nur unentbehrlich; sie stellt sich auch solange als eine legitime Zielsetzung dar, wie man sie vor einer Instrumentalisierung bewahrt117, was keineswegs ausschließt, dass die „gerechte“ Strafe im Bewusstsein118 ihrer immanent positiv-gene112 Zur Strafe als Hilfsangebot an den Täter Pawlik (Fn. 72), S. 95; E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 823 f. (jeweils m.w.N.). 113 Dazu Haffke, FS Roxin, 2001, S. 972 ff. 114 Obwohl es selbstverständlich auch richtig ist, dass jeder für die Verfassung seines Rechtsbewusstseins selbst verantwortlich ist; so Frisch (Fn. 48), S. 277 f.; ders. (Fn. 5), S. 138. Der vom Täter angerichtete Normgeltungsschaden ist zwar über fremde Freiheit vermittelt. Das schliesst aber keineswegs aus, ihn (auch!) seinem Erstverursacher zuzurechnen, weil Enttäuschungsfestigkeit nicht ohne Bestätigung der tatsächlichen Geltung der Norm verlangt werden kann, denn das würde bedeuten, ein Normvertrauen zu fordern, das von der sozialen Wirklichkeit völlig losgelöst ist, was kaum akzeptabel sein dürfte, hier aber nicht vertieft werden kann (dazu eingehend Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, 1993, S. 32 ff., 86 f.; andeutungsweise auch schon Bloy, ZStW 107 [1995], 596). 115 s. auch H. Otto, ZStW 87 (1975), 546; Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung, 1992, S. 100 ff. m.w.N. Zur bloß sekundären Bedeutung der empirischen Aspekte s. auch Köhler (Fn. 76), S. 44 f. 116 Das Symbol muss also mit dem Symbolisierten gleichgesetzt werden und darf nicht bloß als dessen Platzhalter wahrgenommen werden (Niggli, ZStrR 117 [1999], 105). 117 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 323 fasst das in die Worte, dass die Wirkungen „von der Person her konzipiert sein (müssen), an welche sich die Strafrechtsnormen wenden.“ 118 Die Schwierigkeit besteht nicht darin, dass die Wirkungen nur dann eintreten, wenn sie nicht zu Bewusstsein gelangen. Die Rolle der Gerechtigkeit darf sich aber nicht auf einen sozialtechnologischen Mitteleinsatz im Rahmen eines „Final-“Zusammenhanges beschrän-
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ralpräventiven Wirkungen angedroht, verhängt und ggf. auch vollstreckt wird. Ein Strafrecht in dieser Bedeutung erfüllt eine regulative Funktion, wodurch es zwar ein gewisses Sicherheitsniveau gewährleistet119, sich aber nicht etwa als ultimatives Ordnungsmittel versteht.
ken, um die Wirkungen i. S. einer Zweckerreichung zu erzielen (zum sog. Latenz-Problem Bock, ZStW 103 [1991], 650 ff.; Frister [Fn. 114], S. 79 ff.; Hörnle/v.Hirsch, Positive Generalprävention [Fn. 5], S. 89). Andererseits wäre es nicht vertretbar, der Gerechtigkeit um ihrer selbst willen Genüge zu tun, wenn dem keinerlei Bedeutung für die Gestaltung des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen zukäme, wie dies Kant mit seinem berühmten Inselbeispiel illustriert (Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausg. VI, 1914, S. 331, 333). Insofern ist der Normbefolgungseffekt der Strafe durchaus substantiell (anders Köhler [Fn. 76], S. 45), aber es trifft schon zu, dass die gerechte Strafe Grundlage präventiver Handlungszusammenhänge ist (ders., AT, S. 50 f.). 119 s. schon Bloy, in: Fragmentarisches Strafrecht (Fn. 107), S. 13; ebenso v. Hirsch, Positive Generalprävention (Fn. 5), S. 104.
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I. Die Aufgabe Frisch hat sich in dem zum hiesigen Thema einschlägigen Sammelband „Die Rechtsgutstheorie“1 ausführlich zur Leistung des Rechtsgutsbegriffs geäußert.2 Er attestiert dem Begriff des Rechtsguts eine „eher bescheidene Grenzfunktion“3 und hält die Strafrechtswissenschaft nicht für originär kompetent zu entscheiden, was ein Rechtsgut ist und was nicht:4 „Die Rechtsgutsfrage ist im modernen Gemeinwesen in nahezu allen praktisch bedeutsamen Bereichen längst vor dem Strafrecht entschieden“,5 und was da entschieden sei, könne „das Strafrecht nicht einfach ignorieren oder negieren“,6 etwa wenn Vertretern der personalen Rechtsgutslehre Delikte gegen Universalrechtsgüter und Umweltmedien nicht „passen“ sollten.7 Auch gebe es eine Menge von „Anschlussfragen“, deren Beantwortung man sich mit der Benennung eines Rechtsguts nicht einmal genähert habe;8 genannt sei hier nur der „Übergang von der Missbilligung bestimmter Verhaltensweisen zur Zulässigkeit ihrer Pönalisierung“.9 Im Ergebnis will Frisch die Bemühungen um den Rechtsgutsbegriff zwar nicht einer „folgenlosen Dogmatik“ zuschlagen, aber diesen Begriff doch als nur ein
1 Hefendehl u. a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie. Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, 2003. 2 Frisch, Rechtsgut, Recht, Deliktsstruktur und Zurechnung, in: Hefendehl (Fn. 1), S. 215 – 238, S. 216 (dort Fn. 6) mit Hinweisen auf seine weiteren Stellungnahmen. 3 Frisch (Fn. 2), S. 216; Hervorhebung original. 4 Frisch (Fn. 2), S. 219. 5 Frisch (Fn. 2), S. 220; Hervorhebung original. 6 Frisch (Fn. 2), S. 221. – Dazu auch Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, Der Staat 49 (2010), S. 33 ff.; zu Gärditz wiederum Zacyk, Demokratieprinzip und Strafbegründung. Eine Erwiderung auf Klaus Ferdinand Gärditz, Der Staat 50 (2010), S. 331 ff.; Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 18 f. (dort Fn. 15). 7 Frisch (Fn. 2), S. 221 f. 8 Frisch (Fn. 2), S. 225 ff. 9 Frisch (Fn. 2), S. 231; Hervorhebung original.
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Glied in einem „Kanon von Bedingungen“ legitimen Strafens behandelt sehen.10 – Aber auch der Begriff eines in seiner Bedeutung relativierten Legitimationsgrundes, eben der Rechtsgutsbegriff, muss sauber – genauer: rechtlich sauber, noch genauer: strafrechtlich sauber – gebildet werden, und ein Beitrag zu dieser Begriffsbildung wird hier zu leisten versucht. Die dabei leitende Frage lautet nicht, ob es bessere, erklärungsmächtigere Konzepte gibt als das des Rechtsgüterschutzes, sondern wann und wie davon die Rede sein kann, dass das Strafrecht Rechtsgüter schützt und diese damit von Gütern zu Rechtsgütern avancieren; es geht mithin um eine intrasystematisch konsequente Begriffsbildung.
II. Negative und positive Pflichten 1. Strafrechtsexterner Rechtsgüterschutz Begonnen sei mit einer – auch international bekannten – rechtsgutsfreundlichen und darum im hiesigen Zusammenhang, in dem es teils kritisch zugehen wird, unverfänglichen Erläuterung des seit jeher11 und auch heute12 umstrittenen Begriffs; danach sind „Rechtsgüter alle Gegebenheiten oder Zwecksetzungen …, die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind.“13 Roxin, der diese Erläuterung gibt, formuliert sie wohl der größeren Klarheit wegen redundant: Die freie Entfaltung ist die Verwirklichung der Grundrechte und das staatliche System ist notwendige Bedingung für eine freie Entfaltung, aber das soll sich niemand erst zusammenreimen müssen. „Zwecksetzungen“ werden neben „Gegebenheiten“ genannt, um auch vom Staat geschaffene Normbefolgungspflichten (wie sie etwa der staatliche Steueranspruch auslöst) zu erfassen. Wie sind diese Güter und Gegebenheiten als Rechtsgüter möglich? Die Frage scheint nur rhetorischer Natur zu sein und die Antwort auf der Hand zu liegen: Mehr an Rechtsbezug, als bei der Verwirklichung der Grundrechte stattfindet, 10
Frisch, Geglückte und folgenlose Strafrechtsdogmatik, in: Eser u. a. (Hrsg.), Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 159 ff., 194 f. 11 Eingehende Darstellung und Kritik bei Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der „Sozialschädlichkeit“ des Verbrechens, 1972, S. 43 ff., 52 ff., 130 ff., 258 ff. 12 Auflistung einiger Erläuterungen bei Stratenwerth, Zum Begriff des Rechtsguts, in: Eser u. a. (Hrsg.), Festschrift für Theodor Lenckner, 1998, S. 377 ff., 378 f. 13 Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 7. – Von Roxins aktuellen Schriften zum Thema seien zudem genannt: ders., Zur neueren Entwicklung der Rechtsgutsdebatte, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 573 ff.; ders., 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht des Strafrechts, in: Häberle (Hrsg.), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F., Bd. 59 (2011), S. 1 ff.; ders., Zur neueren Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Deutschland, GA 2011, S. 678 ff.
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kann es doch wohl nicht geben! Das soll auch nicht geleugnet werden; allerdings gilt es, erst einmal einen Überblick über die Rechtsgutslage zu gewinnen, und dabei zeigt sich recht bald, dass der gesamte rechtsstaatliche Betrieb dem Schutz sowie der Vermehrung solcher Güter gilt14 und die Qualität des strafrechtliche Beitrags dazu erst noch herausgearbeitet werden muss. Jeder Blick in eine nicht ganz schmale Gesetzessammlung zeigt den immensen Umfang staatlicher und kommunaler verfassungsmäßiger Betätigung, die sich teils als „Gegebenheiten und Zwecksetzungen“ bewahrend, teils als diese schaffend begreifen lässt. Überwiegend bewahrend dürfte die polizeiliche Tätigkeit ausfallen, während die militärische auch schaffend ausgerichtet zu werden pflegt (man denke etwa an den derzeitigen Einsatz von Truppen in Afghanistan); schaffend stellt sich der gesamte Bildungsbereich dar, ebenso überwiegend das öffentliche Bauwesen. Im öffentlichen Gesundheitswesen15 kann wiederum beides der Fall sein: die Heilung bestehender Krankheiten als Schaffung von Gesundheit und die Verhütung von Erkrankungen als Bewahrung der Gesundheit etc. Das alles und vieles mehr sind Unternehmungen zur Erhaltung oder zur Schaffung von Gütern, und die in diesem Zusammenhang in einem demokratischen Rechtsstaat wichtigsten wurden noch nicht genannt: demokratische Wahlen zur Erhaltung der Demokratie mit dem darauf folgenden Parlaments- und Regierungsbetrieb und der Gerichtsbetrieb zur Erhaltung und auch Herstellung verlässlicher, durchgesetzter Rechtlichkeit. Das alles ist einigermaßen trivial und wäre auch nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht mit dem allenthalben zu vernehmenden Slogan, das Strafrecht diene dem Rechtsgüterschutz, suggeriert würde, nur oder doch hauptsächlich das Strafrecht erbringe diese Leistung und allein seine Wissenschaft habe deshalb auch den Begriff des Rechtsguts zu verwalten.16 Es wird noch zu zeigen sein, dass das Strafrecht zum „Rechtsgüterbetrieb“ auf seine eigene Weise beiträgt, und zwar nicht nur zum Schutz der Güter, sondern bereichsweise auch zu deren Hervorbringung. Das spezifisch Rechtliche an dem „Rechtsgüterbetrieb“ ist seine Regelung durch rechtliche Anordnungen, und zwar solche ganz unterschiedlicher Art: Gebotsnormen, Verbotsnormen, Erlaubnisse, Kompetenzen und Ressourcen zusprechende Regelungen etc. Manche rechtliche Regelung ist unmittelbar auf ein Rechtsgut bezogen (etwa die Norm, nach der dem diensthabenden Arzt die Behandlung eines Patienten obliegt), eine andere mittelbar (etwa die Anordnung, die Polizei müsse durch einen tauglichen Dienstplan einsatzfähig gehalten werden), wieder eine andere noch stärker nur vermittelt (etwa die für eine Kommune oder ein Land bestehende rechtliche Notwendigkeit, eine Infrastruktur zu bilden, die fürsorgliche Leistungen ermöglicht, Sicherheit und anderes mehr garantiert). Gewiss muss nicht der gesamte „Rechtsgüterbetrieb“ auch strafrechtlich abgesichert werden, aber soweit er durch Strafvor14 Schon Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens Ansätze zu einer praxisorientierten Rechtsgutslehre, 1973, S. 111 ff., 117 und öfter. 15 Beiläufig, im privaten Gesundheitswesen nicht minder! 16 Treffend Frisch (Fn. 2), S. 215 ff.
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schriften abgesichert werden muss oder kann, muss die spezifische Leistung des Strafrechts herausgearbeitet werden. Allein der Verweis auf „Rechtsgüterschutz“ bezeichnet zwar eine Richtung, ist aber zu wenig, um den Weg zum Ziel einschlagen zu können. 2. Die spezifische Leistung des Strafrechts Was ist in diesem riesigen Rechtsgütererhaltungs- und Rechtsgüterhervorbringungsbetrieb die spezifische Leistung des Strafrechts? Nach dem wohl üblichen Verständnis verbieten Strafrechtsnormen die Verletzung bestehender Güter – diese in dem weiten Sinn von „Gegebenheiten und Zwecksetzungen“17 verstanden –, wobei allerdings mit der Gutsverletzung, wie Frisch dargelegt hat,18 allenfalls ein Element aus dem Kanon der zur Legitimation erforderlichen Elemente dargetan wird. Das wird wohl weniger ausdrücklich in Abrede gestellt, vielmehr tritt es stillschweigend hinter die Konzentration auf das Element „Rechtsgut“ zurück: Wer plädiert schon für die Bestrafung jeder zurechenbaren Rechtsgutsbeeinträchtigung? – Das leitende Urbild einer strafrechtlich aufzuarbeitenden Rechtsgutsverletzung ist dasjenige der Verletzung negativer Pflichten: Ein bestehendes Gut (Leben, Gesundheit, berechtigter Sachbesitz etc.) wird durch eine unerlaubte Organisation eines Täters in seinem Bestand mehr oder weniger stark beeinträchtigt. Zu diesem Urbild gehört auch die Nichtrücknahme einer riskanten Organisation (Ingerenz, Übernahme) des Täters; denn auch durch dieses Unterlassen dehnt der Täter seine Organisation zulasten anderer zu weit aus. Dieses Urbild ist nicht etwa verzeichnet, sondern in dem Ausschnitt, den es zeigt, durchaus korrekt, aber es ist unvollständig, eben nur ein Ausschnitt: Neben die negativen Pflichten treten die positiven,19 ohne die keine auch nur einigermaßen komplexe Gesellschaft Bestand hat. Es handelt sich dabei um Pflichten, einen Schaden von einer anderen Person auch dann abzuwenden, wenn der Schadensgrund nicht in der eigenen Organisation des Pflichtigen festzumachen ist; mehr noch, diese Pflichten können auch zum Inhalt haben, den – an sich nicht gefährdeten – Stand des Begünstigten auf ein höheres Niveau zu heben, etwa eine angeborene Schwäche einer trotzdem durchaus lebensfähigen und auch arbeitsfähigen Person zu beseitigen. – Zwischenergebnis: Neben die allgemeine, jedermann erfassende Institution „Verhaltensfreiheit bedingt Folgenverantwortung“ treten besondere Institutionen, durch die eine unterstützende Zuwendung gefordert wird.
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Siehe den Text zu Fn. 13. Frisch (Fn. 2), S. 231. 19 Zur Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten Sánchez Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung. Zugleich ein Beitrag zur Einheitlichkeit der Zurechnung bei Tun und Unterlassen, 1999, S. 67 ff. und öfter, dort auch zur Entwicklung des Pflichtdelikts, S. 22 ff. mit umfassenden Nachweisen. Grundlegend (wenn auch mittlerweile teils modifiziert) Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1963, S. 352 ff. 18
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Die Lage bei positiven Pflichten soll am Beispiel der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) verdeutlicht werden. Ein „Fall“: Ein Staatsanwalt lässt eine Ermittlungsakte, die seinen Freund betrifft, trotz bestehender Anklagereife unbearbeitet, bis die Tat verjährt ist, oder er verfügt die Einstellung des Verfahrens. Wenn es zu solchen Fällen in der Literatur heißt, der „Rechtsgutscharakter“ der Rechtspflege sei „unbestreitbar“ und der Agierende habe dieses Gut verletzt,20 so dürfte mit „Rechtspflege“ eine ordnungsgemäße Rechtspflege gemeint sein, nicht aber eine – sit venia verbo – Unrechtspflege. Diese ordnungsgemäße Rechtspflege hat aber für den in Rede stehenden Fall nie stattgefunden; es gab sie bis zu dem Fall und es gibt sie nach ihm, aber für ihn ist sie ausgeblieben. Der Staatsanwalt hat also nicht eine bestehende ordnungsgemäße Rechtspflege verletzt, vielmehr hat er eine solche pflichtwidrig nicht hergestellt. „Rechtspflege“ lässt sich nicht als – zumindest für einige Zeit – unabhängig von den Akteuren bestehendes Gut begreifen, vielmehr ist sie eine für jeden „Fall“ neu zu erbringende Leistung, und wenn diese nicht erbracht wird, ist sie insoweit auch nicht vorhanden. – Wer an dieser Darstellung zweifelt, stelle sich vor, ein ganzer Landstrich falle vom Kernland ab und stelle das, was dieses als Rechtspflege anordnet, komplett ein: Das verletzt keine Rechtspflege (sie ist nicht mehr vorhanden), sondern lässt sie ausfallen. Im Kleinen verhält es sich nicht anders. – Weiteres Zwischenergebnis: Der Satz, jede legitime Straftat lasse sich als eine Rechtsgutsverletzung (durch Tun oder Unterlassen) darstellen, ist falsch oder zumindest ungeschickt formuliert: Etwa Rechtsbeugung ist nicht eine Verletzung, sondern ein Nichtherstellen des Gutes (besser: der Institution) „Rechtspflege“. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass dieses Nichtherstellen – wenn auch etwas verkappt – bei der Verletzung aller positiven Pflichten eine Rolle spielt. Die Verkappung kommt dadurch zustande, dass in wohl den meisten Fällen der Verletzung positiver Pflichten das Nichtherstellen nur strafbar ist, wenn es sich in der Verletzung eines Gutes auswirkt. So wäre ja auch bei der zuvor herangezogenen Rechtsbeugung das Nichtherstellen der Institution als Unrecht schwerer zu erkennen, wenn nicht bereits die Rechtsbeugung mit der konkreten Gefahr21 einer Auswirkung „zugunsten oder zum Nachteil einer Partei“ strafbar wäre, sondern wenn sie als Mittel, einen Erfolg (etwa eine Strafvereitelung oder eine Freiheitsberaubung) zu erreichen, genannt würde. Das sei nochmals am Prototyp der positiven Pflichten verdeutlicht, nämlich an der Pflicht der Eltern, für ihre minderjährigen Kinder zu sorgen: Die Eltern sollen eine funktionierende Elternschaft herstellen (oder für Ersatzverhältnisse sorgen); in engen Grenzen führt das zu einem Gefährdungsdelikt, vergleichbar der Rechtsbeugung, nämlich zur „Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht“ (§ 171 StGB). Ansonsten erfüllt die Weigerung, die Institution „Elternschaft“ herzustellen, erst dann einen Straftatbestand, wenn sie sich in der Beschädigung eines der Güter des Kindes (Leben, Gesundheit, Eigentum, ihm zukommende Freiheit) auswirkt, mit anderen Worten, das Nichtherstellen der Institution verkappt sich als not20 21
Roxin, Strafrecht, AT I (Fn. 13), § 2 Rn. 113. BGH 42, S. 343 ff., 351.
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wendiges, aber allein nicht hinreichendes Tatbestandsmerkmal eines Verletzungsdelikts üblicher Art. Statt allgemein von einem Verletzen durch Unterlassen zu reden, wäre es in diesen Fällen präziser, das Besondere anzuführen: Verletzen durch ein Versagen in einer besonderen Institution. Dann würde auch deutlich, dass der schwerste Fall dieses Versagens das tätige Versagen ist, also die tätige Verletzung durch den zum Schutz Verpflichteten.22
III. Güter und Rechtsgüter 1. Grundlagen Nicht jeder Verlust eines Guts ist ein rechtlich relevanter Verlust und damit auch nicht der Verlust eines Rechtsgutes. Beispielhaft, der Tod eines hochbetagten Menschen an – wie der Volksmund formuliert – Altersschwäche ist Verlust eines Gutes; die Angehörigen werden trauern etc.; aber sofern der behandelnde Arzt alles richtig gemacht hat, ist der Tod rechtlich nur insoweit von Belang, als der Erbfall eintritt oder der Rentenbezug endet, was allerdings nicht auf der Eigenschaft des Verstorbenen beruht, ehemals ein Rechtsgut gewesen zu sein. Jede andere Sicht würde zu dem zumindest befremdlichen Ergebnis führen, die Vergangenheit stelle sich einzig als ein riesiger Rechtsgüterfriedhof dar (Ein Güterfriedhof ist sie allerdings!) – oder, bei Sachen, als ein Rechtsgüterschrottplatz.23 Die Rede, das Leben eines Menschen – genauer: einer Person – sei ein Rechtsgut, darf also nicht dahingehend verstanden werden, das Recht bewerte das Gut schlechthin, also in jedem Zusammenhang, positiv. Das Recht kann auch entscheiden, das Gut in manchen Zusammenhängen nicht zu bewerten oder sogar das Gut gegenüber anderen Gütern, die Rechtsgüter sind, zurücktreten zu lassen, so etwa zugunsten der Handlungsfreiheit, wenn riskantes Verhalten rechtlich erlaubt wird, selbst wenn diese Erlaubnis ein Leben „kosten“ mag. Im letzteren Fall wird das Gut „Leben“ insoweit, als es zurücktritt, nicht zum Rechtsgut erhoben, obgleich es in anderen Zusammenhängen als Rechtsgut anerkannt bleibt, etwa im Zusammenhang rechtlich unerlaubten Verhaltens. Zur Seite der Pflichten generell formuliert: Ohne rechtliche Pflicht, das Verhalten auf den Bestand eines Guts auszurichten, ist dieses Gut insoweit kein Rechtsgut. Das heißt insbesondere auch, dass eine Rechtfertigung desjenigen, der in das Gut eines anderen eingreift, den Rechtsgutsstatus des Guts aufhebt.24 – Mit anderen Worten, Vorgänge in der Natur bedeuten nichts und liegen damit per se außerhalb des Rechts, und erlaubtes Verhalten bedeutet nichts gegen das vom Recht für „gut“ Gehaltene. 22 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Aufl. 1991, 21/115 ff.; ders., (Fn. 6), S. 85 f. 23 Ein Güterschrottplatz ist sie allemal; davon leben Archäologen. 24 Freilich nur, soweit eingegriffen werden darf. Hat etwa der verletzte Angreifer ein Recht, im Krankenhaus wegen seiner Verletzung behandelt zu werden, so zeigt sich daran die insoweit bestehende Rechtsgutseigenschaft seiner Gesundheit.
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2. Rechtsgut und Zurechnung Allerdings ist das Recht (soweit es hier interessiert) nicht nur eine Regelung von Pflichtenkreisen, sondern auch von Rechtskreisen, und deshalb kann es einem Gutsinhaber auch gegen nicht (voll) zurechenbares Verhalten Abwehrrechte zusprechen (von der Notwehr und den rechtfertigenden Notständen über die Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe bis hin zur vorbeugenden Unterlassungsklage)25 und dadurch das Gut im jeweiligen Zusammenhang zum Rechtsgut erheben.26 Gehe es um einen Pflichtenumfang oder um ein Abwehrrecht, jedenfalls wird der Bestand eines Rechtsguts von der Zurechnungslage bei einer (drohenden) Gutsverletzung abhängig. Der spezifisch strafrechtliche Beitrag besteht darin, dass es für den Fall der schuldhaften Verletzung einer (unterstellt) Rechtsgüter schützenden Norm einen Nachteil androht, eben Strafe, und diese dann auch durchsetzt. Soweit die Drohung wirkt – sei es begleitet von Einsicht, sei es aus Gewohnheit, aus Angst –, handelt es sich um ein weiteres (in diesem Fall staatlich verwaltetes) Abwehrrecht zum Erhalt der Güter. Soweit die Drohung nicht wirkt, verliert sich der unmittelbare Bezug auf ein Gut: Dieses ist (im Fall des vollendeten Erfolgsdelikts) „hin“! Die nunmehr fällige Strafe richtet sich nicht nach dem Gewicht des verletzten Gutes, sondern vielmehr nach der Schuld des Täters, die freilich vom Gutsgewicht nicht völlig unabhängig ist.27 „Schuld“ ist nur ein anderer Name für fehlende Rechtstreue und diese wiederum nur ein anderer Name für die Missachtung und damit potenzielle Beeinträchtigung der Normgeltung. Das Strafrecht erfasst also die Rechtsgutsverletzung mediatisiert über die zurechenbare Verletzung der sie – eben mittelbar – schützenden Norm, und deshalb ist es kein Wunder, sondern sachangemessen, wenn die Lehre von der Normgeltung im Zentrum steht und die Lehre vom Rechtsgut zur Lehre von einem Normmotiv, einer Zielvorstellung, regrediert.28 Damit in Harmonie 25
Der nicht voll zurechenbar in ein Gut Eingreifende hat – außer im Fall eines Rechtfertigungsgrundes – seinerseits kein Eingriffsrecht, und deshalb mag dem Eingriffsopfer ein Rechtfertigungsgrund zur Seite stehen, insbesondere der defensive Notstand. Aber wenn dieser Rechtfertigungsgrund ausscheidet (beim aggressiven Notstand hat der Eingreifende rechtlich die Stellung eines Jedermann), lässt sich der Konflikt bei einigen Fallkonstellationen (etwa „Leben gegen Leben“) rechtlich nicht lösen. Siehe Jakobs, Rechtszwang und Personalität, 2008, S. 21 f. (dort auch Fn. 46). 26 Dem Bestand einer Gefährdungshaftung kann per se nicht entnommen werden, die in den Haftungsumfang eingeschlossenen Güter seien Rechtsgüter; denn der Gefährdete kann sich gegen das abstrakt gefährliche Verhalten nicht wehren und dieses Verhalten ist nicht rechtswidrig. Wenn allerdings der Inhaber der betreffenden Güter eine Konkretisierung auf seine Güter abwehren darf, ist das deren Anerkennung als Rechtsgüter. Die Gefährdungshaftung per se sichert ein Interesse an finanzieller Absicherung, die man ihrerseits als Rechtsgut begreifen mag. – Ebenso verhält es sich bei einer Schadensversicherung: Diese garantiert einen finanziellen Ausgleich beim Verlust eines Gutes, das allerdings aus anderen Gründen seinerseits Rechtsgut sein mag und in der Regel auch sein wird. 27 Aber man bedenke etwa die gewaltigen Strafmaßdifferenzen zwischen Vorsatztaten und Fahrlässigkeitstaten bei gleicher Gutsverletzung! 28 Vergleichbar wohl Frisch (Fn. 3), S. 216 „eher bescheidene Grenzfunktion“.
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steht die Behandlung der positiven Pflichten: Auch bei ihnen geht es um die Zurechnung einer Pflichtverletzung, und dass die Pflichtbefolgung das Gut erst herstellt, wird strafrechtlich eher zu einer bloßen Äußerlichkeit: Die Herstellung ist Ziel, wird aber – wie bei negativen Pflichten – über die Garantie der Normgeltung vermittelt. Dass sich der gesamte Rechtsbetrieb als ein solcher zur Güteroptimierung darstellen lässt, wurde bereits dargetan, ebenfalls dass deshalb die Strafrechtswissenschaft kein Monopol bei der Behandlung der Legitimität von Güterannahmen besitzt. Nicht nur im Strafrecht, sondern in jedem Teilbereich ist die Güteroptimierung nur ein Normmotiv, eine Zielvorstellung, neben anderen Motiven und Zielvorstellungen. Selbst im Gesundheitsbereich treten neben das Motiv „Gesundheitsschutz“ Annahmen zur „Bezahlbarkeit“ und Weiteres mehr. Was die Qualität der Güter angeht – auch Schutz von Moral, Schutz vor der Erregung unwohler Gefühle, Schutz nur im Hinblick auf Einzelpersonen? –, ist mit dem Ausgeführten für keinen Bereich etwas festgelegt, aber eines steht fest: Der strafrechtliche Beitrag erfolgt durch Normgeltungsschutz. Krass, jedes Kreiskrankenhaus betreibt den Schutz von Leben und Gesundheit weniger mediatisiert als das Strafrecht. Noch nie hat eine Strafe ein verletztes Gut wieder in einen integeren Zustand zurückversetzt, aber Normgeltung lässt sich durch Strafe erhalten.29 Zwei Einwände sind zu erwarten. Der Erste lautet, die zurechnungssituative Relativierung des Rechtsguts ergebe einen geradezu zerklüfteten Begriff. Der Einwand ist richtig, fällt aber sofort in sich zusammen, wenn der Begriff des Rechtsguts vom Gut als „Eigentum eines Destinatärs“, also von den „Gegebenheiten und Zwecksetzungen“30 auf die Normgeltung als Strafrechtsgut verlagert wird: Dann gehen die Prinzipien der Zurechnung, die den traditionellen Gutsbegriff fragmentieren, harmonisch in den Begriff ein: Rechtsgutsverletzung als Gefährdung der Normgeltung. Zweitens wird eingewendet werden, hier würden zwei getrennte Fragen unzulässig ineinander verwoben, nämlich einerseits, was das Recht als Gut anerkennt, und andererseits, wann es Rechte zur Abwehr einer Verletzung zuspricht oder, wenn die Verletzung eingetreten ist, strafend reagiert. Jedoch birgt die zweite Frage nichts anderes als das Kriterium, nach dem bei der ersten das Gut zum Rechtsgut erstarkt. Beispielhaft zum Notstand: Es gibt keine Rechtsgüterabwägung, sondern nur eine Güterabwägung, und nur das „gewinnende“ Gut ist in der gegebenen Lage ein Rechtsgut, das zurücktretende nicht. Dabei soll nicht bezweifelt werden, dass sich die Frage 29
Der dagegen erhobene Einwand, der Normgeltungsschaden habe „keinen empirisch fassbaren Gehalt, sondern … (sei) eine reine Zuschreibung“ (Roxin, GA 2011 [Fn. 13], S. 690) und der „strafrechtlich relevante Schaden“ liege „in der konkreten Beeinträchtigung der Opfer und ihrer tatbestandlich geschützten Rechtsgüter“ (S. 691), passt nicht recht; denn ein kommunikativer Beitrag (wenn auch begleitet von stummer Gewalt) lässt sich sehr wohl als gegeben feststellen, ob „empirisch“, hängt von der Auslegung des Begriffs „Empirie“ ab; zudem ist die konkrete Beeinträchtigung der Opfer etc. durch Strafe ohnehin nicht zu reparieren. – Dazu eingehender Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 26 ff. 30 Siehe den Text zu Fn. 13.
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nach dem möglichen Ziel (Tierschutz, Umweltschutz, Artenschutz?) von den Fragen trennen lässt, wie sich konkurrierende Ziele zueinander verhalten (Lebensschutz versus Schutz der Verhaltensfreiheit, etwa im Straßenverkehr) und wie ein Ziel, so es dominiert, angesteuert werden soll (durch positive Anreize, sogar durch das Verbot abstrakter Gefährdung?); aber die Antworten müssen, um zu geltendem Recht gerinnen zu können, zu einem Regelungsinhalt zusammengeführt werden, dies mit dem Ergebnis, dass etwa der Erhalt des Lebens ein Ziel ist, aber die Ermöglichung von Verhaltensfreiheit nicht minder, und dass je nach dem Zusammenhang nicht beide Ziele nebeneinander rechtlich verwirklicht werden können. – Wie sollte sich auch eine rechtlich erlaubte oder gar gebotene Verletzung eines Rechtsguts im System des Rechts darstellen lassen? Dass der Schutz des Guts Recht ist, seine Zerstörung Unrecht, zugleich aber die Zerstörung rechtlich erlaubt oder geboten, jedenfalls auch Recht, dürfte eine in sich widersprüchliche Aussage sein. Der Widerspruch ließe sich zwar durch die Etablierung einer Metaebene vermeiden, aber das Nebeneinander der kollidierenden Güter fände dann nur auf der nicht entscheidenden, eben der vorläufigen Ebene statt und würde darüber hinwegtäuschen, dass dieses Nebeneinander rechtspraktisch nicht gelingen kann. Es gibt kein omnipotentes Rechtsgut, sondern nur ein solches in einem bestimmten Zusammenhang, in dem es Vorrang genießt. Allenfalls die Freiheitlichkeit garantierende Rechtlichkeit mag man als stets oberstes Rechtsgut bezeichnen, eben als Rechtszweck, aber das ist ein anderes Thema. Damit soll nicht bezweifelt werden, dass vor aller Zurechnung erst einmal die Frage beantwortet werden muss, was Normmotiv, Regelungsziel, werden soll und, hat man das bestimmt, mit welchem Gewicht es gegen die anderen Regelungsziele „antreten“ soll. Die Antwort erfordert teils rechtspolitische Festlegungen, teils aber auch solche rechtswissenschaftlicher Art.31 Wie sie auch ausfallen mag – umgesetzt ins Strafrecht erscheint sie als Normgeltungsschutz!
IV. Vorrang des Einzelnen? Ob es nicht vorzugswürdig ist, statt beim Rechtsgut beim Sozialschaden anzusetzen, wobei in einer freiheitlichen Gesellschaft die Verletzung des Einzelnen sehr wohl einen Sozialschaden ausmachen kann, wurde im Anschluss an Amelungs Ausführungen32 andernorts dargetan33 und soll hier nicht wiederholt werden. Stattdessen soll unter der Hypothese des Personenschutzes dessen Grenze skizziert werden.
31 Jakobs, Strafrecht als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel u. a. (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 103 ff., 127 ff., 133. 32 Amelung (Fn. 11), S. 330 ff. 33 Jakobs, Sozialschaden? – Bemerkungen zu einem strafrechtlichen Fundamentalproblem, in: Böse u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts. Festschrift für Knut Amelung, 2009, S. 37 ff., 44.
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Wie steht es also mit der Ausrichtung der Zielvorstellung oder des Normmotivs „Rechtsgut“ auf „die freie Entfaltung des Einzelnen“?34 Dass diese Beziehung wohl kaum begriffsnotwendig gegeben ist, demonstriert zu Beginn der Rechtsgutsdiskussion Birnbaum in seiner Philippika gegen Feuerbachs Theorie (!) der Rechtsverletzung, indem er „eine Summe religiöser und sittlicher Vorstellungen“ ohne Zögern dem „Gemeingut des Volkes“ zuschlägt.35 Was den Gefühlsschutz angeht, so hat Binding kein Problem darin gesehen, die „Freude“ an Singvögeln für das strafbewehrte Verbot hinreichen zu lassen, ihre Nester auszunehmen,36 und zwar ohne den Zusammenhang von „Freude“ und Entfaltung zu erläutern. Beiläufig, der Vater der Perhorreszierung des Schutzes der Moral, Feuerbach, hat seiner eigenen Theorie nicht getraut und ihr Ergebnis – Verbrechen als Verletzung eines subjektiven Rechts – durch die Konstruktion „bedingt-nothwendiger Rechte“ des Staates konterkariert.37 Die damit fällige Frage nach der heute erforderlichen Mindestmoral (Tierschutz, Verbot des Leugnens von Auschwitz. – Warum darf nicht zugegeben werden, dass auch eine freiheitliche Gesellschaft ihre Fundamentalmoral schützen muss?) soll an dieser Stelle zugunsten des Versuchs einer Antwort auf die Frage dahinstehen, wem denn der ganze „Strafrechtsschutzbetrieb“ dient. Sehr differenziert verläuft dazu die Argumentation von Hassemer. Er setzt bei der „am Grundgesetz orientierten sozialen Werterfahrung“ an,38 und mit dieser Werterfahrung sollen sich „Universalrechtsgüter“39 „ohne Funktion zu einzelmenschlichen Interessen (oder, was praktisch auf dasselbe hinauskäme: Strafrechtsnormen ohne die Tendenz, aufweisbaren Individualinteressen zu dienen)“ nicht vereinbaren lassen.40 Aber der Schutz von Individualrechtsgütern müsse seinerseits einen Allge34
Siehe den Text zu Fn. 13. Birnbaum, Ueber das Erfordernis einer Rechtsverletzung zum Begriff des Verbrechens, Archiv des Criminalrechts, N. F., 1834, S. 149 ff., 178. Neudruck bei Vormbaum (Hrsg.), Moderne deutsche Strafrechtsdenker, 2011, S. 148 ff. (mit Angabe der originalen Seitenzahlen). 36 Binding, Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts, Bd. 1, Normen und Strafgesetze, 4. Aufl., 1922 (Nachdruck 1965), S. 347. 37 Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Teil 2, 1800, S. 220 ff., 226 ff. und passim. – Völlig ungeschützt ders., Über die Polizeistrafgesetzgebung überhaupt und den zweiten Teil eines „Entwurfs des Strafgesetzbuchs, München 1822“ in: Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken, veröffentlich von seinem Sohne Ludwig Feuerbach, 2. Aufl., 1853 (hier herangezogen nach: Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 12, 1989, S. 590 ff., 596): „Widernatürliche Wollust, Päderastie, Bestialität, Blutschande etc. etc., wenngleich die Gesetze des äußeren Rechts dadurch nicht verletzt werden“, seien „den Verbrechen gleichzustellen“. 38 Hassemer (Fn. 14), S. 233. 39 Zum Verständnis der Universalrechtsgüter bei Hassemer: ders. (Fn. 14), S. 71 ff. 40 Hassemer (Fn. 14), S. 233. – Schon ders., Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, in: Philipps u. a. (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus. Arthur Kaufmann zum 65. Geburtstag, 1989, S. 85 ff.; ders., Darf es Straftaten geben, die ein strafrechtliches Rechtsgut nicht in Mitleidenschaft ziehen?, in: Hefendehl (Fn. 1), S. 57 ff. 35
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meinbezug aufweisen; denn ansonsten gehe es um den Schutz von bloßen Einzelinteressen, wenn nicht gar von Marotten.41 Die „soziale Werterfahrung“ ist nach Hassemer nicht so unverrückbar, wie es etwa eine Regel der elementaren Logik ist, und deshalb soll es keine „Verankerung an unveränderlichen Anhaltspunkten“ geben.42 Dadurch wird die Ausrichtung auf das Individuum zum Produkt des heute nun einmal bestehenden Grundrechtsverständnisses: Dieses geht in den Begriff des Rechtsguts ein und gibt ihm erst seinen – sit venia verbo – individualistischen Touch. An diesem abgeleiteten, nicht nur behaupteten Personenbezug der Rechtsgutslehre ändert sich überhaupt nichts, wenn das Rechtsgut als Normmotiv oder Zielvorstellung verstanden wird und dem Strafrecht die Aufgabe der Stabilisierung der auf das Ziel bezogenen Norm zugewiesen und damit auf den spezifisch strafrechtlichen, mediatisierten Beitrag zum Güterschutz abgestellt wird. Was der Güterlehre recht ist, dürfte der Normenschutzlehre billig sein: Der Begriff des Rechtsguts ist von Haus aus nicht weniger formal als derjenige der Norm.43 Geht es aber um Güter oder Normen in einer legitimen Ordnung – Hassemer hat deren Gestalt plausibel hergeleitet und selbst Amelung koppelt seine Lehre von der Sozialschädlichkeit an das Verständnis der geltenden Verfassung,44 insbesondere was den Eigenwert der Person angeht45 –, so führt es nicht weiter, an der Feinarbeit zum Begriff „Stabilisierung der Normgeltung“ zu bemängeln, sie werfe nicht permanent erneut die Legitimitätsfrage auf. Das alles ist freilich nur ein Vorgeplänkel. Die Gretchenfrage lautet: Wie steht es – durchaus in einer legitimen und das heißt heute: in einer freiheitlichen Ordnung – um das Verhältnis der Einzelpersonen zu den gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen? Hier stehen die bislang herangezogenen Protagonisten in vergleichbaren Lagern: Die Institutionen haben den Einzelpersonen zu dienen, nicht umgekehrt.46 Aber deckt diese Entgegensetzung – erst die Person, dann die Institution versus erst die Institution, dann die Person – überhaupt das gesamte Spektrum der Möglichkeiten ab? Sie ist nicht einmal plausibel! Nur intakte Institutionen generieren Personen und nur Personen halten Institutionen intakt. Rhetorisch gefragt: Wie soll es zu prägenden Institutionen kommen, wenn niemand sich als geprägt, als Person, begreift, und wie zu Personen, wenn nichts sie prägt? Dabei ist keine Prägung per Zwang gemeint, sondern als Akzeptation einer angebotenen Lebensform. 41
Hassemer (Fn. 14), S. 194 ff., 232. Hassemer (Fn. 14), S. 227 f. 43 Zum möglichen Umfang der Ausfüllung der Form siehe etwa Klee, Das Verbrechen als Rechtsguts- und als Pflichtverletzung. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte des Rechtsgutsbegriffs, DStR 1936, S. 1 ff. (3 ff., 7, 13), 16: Rechtsgutsverletzung als „Verletzung der Lebensbedingungen der Volksgemeinschaft“; dagegen Schaffstein, Der Streit um das Rechtsgutsverletzungsdogma, DStrR 1937, S. 335 ff. 44 Amelung (Fn. 11), S. 388 ff. 45 Amelung (Fn. 11), S. 389 f. 46 Hassemers Rückbezug des Individualschutzes auf das Allgemeine, siehe Text zu Fn. 41, soll nur (aber immerhin!) nicht verallgemeinerungsfähige Besonderheiten aus dem Kreis der Schutzgüter ausscheiden. 42
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Der Satz „Allgemeinheit und Staatsinteresse müssen von der Einzelperson (…) her funktionalisiert werden, nicht umgekehrt“47 setzt den Bestand eines kommunikativen „Feldes“ voraus, in dem der Satz mitgeteilt und verstanden werden kann, und der Schutz dieses „Feldes“, etwa durch den Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit, darf deshalb demjenigen der Einzelpersonen nicht jedenfalls nachgelagert werden. Es geht insoweit nicht um Rangdifferenzen, sondern um Zusammengehörigkeit, wenn man so will: um Gleichursprüngliches. Sich begreifende Personen, Subjekte, werden ja nicht als solche von ihrer Mutter geboren, vielmehr „gebiert“ sie der Prozess der Sozialisation (!), und deshalb lassen sich die Bedingungen dieses Prozesses nicht von den Personen trennen. Zu diesem Prozess gehört insbesondere eine geordnete Bildung, ohne die eine Person bestenfalls eine formelle Erscheinung bleibt: Bildung kann heute als Angebot an jedermann nur vom Staat geleistet werden. Zudem ist mit einer sich ab und an glückhaft ereignenden Subjektivität wenig gewonnen: Erst der Staat leistet die Garantie verlässlicher Formen gegenseitiger Anerkennung, nämlich durch die Garantie des Rechts in einer freiheitlichen Gesellschaft. Auch diese staatlich garantierten Formen lassen sich den Personen nicht nachschalten. Weiteres ließe sich nennen, und man wende nicht ein, das alles habe mit der Garantie von Freiheitlichkeit nichts mehr zu tun; denn auch Freiheit verwirklicht sich nicht allein aus ihrem abstrakten Begriff. Freie Personen sind nicht allein aus sich heraus frei; sie bedürfen einer Sozialisation zur Freiheit in einer freiheitlichen Gesellschaft48 in der die Formen wechselseitiger Anerkennung Wirklichkeit werden; die Sicherung dieser Wirklichkeit, ihre verlässliche Garantie, leistet der Staat. Was die elementaren Bedingungen freiheitlichen Daseins angeht, so gibt es sie – vielleicht abgesehen von glückhaften kurzen Momenten – nur in dieser „Trinität“, oder es gibt sie nicht. Danach fehlt jede Legitimation, den Einzelnen zum Ruhm oder zum Preis von Gesellschaft und Staat zurückzusetzen; die Ranggleichheit der elementaren Bedingungen von Freiheitlichkeit schließt das aus. Aber der Einzelne kann sich auch nicht zum Destinatär des gesamten gesellschaftlichen und rechtlichen Betriebs aufschwingen und dabei die Bedingungen seiner eigenen Personalität und derjenigen anderer verbrauchen. Auch das Allgemeine bedarf gegebenenfalls nicht nach, sondern neben dem Schutz der Einzelperson des Strafrechtsschutzes. Wann das der Fall ist, wird hier nicht mehr ausgeführt; aber dass es der Fall sein kann, ist vielleicht plausibel geworden. 47
Hassemer (Fn.14), S. 233. Der Begriff der Gesellschaft neben dem Begriff des Staates und dem Namen für zusammengewürfelte Einzelne lässt sich an dieser Stelle, auch nicht beschränkt auf strafrechtliche Fragestellungen, entwickeln. Immerhin sei benannt, dass es (1) um eine Kulturgemeinschaft geht, was das hier nicht behandelte Problem „elementare Moral als Rechtsgut“ betrifft, aber auch (2) um eine Funktionsgemeinschaft, wobei etwa an ein gesichertes Münzwesen gedacht werden mag. – Literatur: Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1962, S. 99 f. und immer wieder; Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 38 ff. 48
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V. Zusammenfassung 1. Der gesamte „Rechtsbetrieb“ dient dem Erhalt (bei negativen Pflichten) oder der Schaffung (bei positiven Pflichten) von Rechtsgütern. Der spezifisch strafrechtliche Beitrag ist nur mediatisiert auf solche Güter bezogen: Er gilt der Erhaltung von Normgeltung. 2. Soweit der Verlust eines Gutes rechtlich folgenlos bleibt, handelt es sich nicht um den Verlust eines Rechtsgutes. Insbesondere sind alle nicht zurechenbaren und nicht gerechtfertigt abzuwehrenden Gutsverletzungen keine Rechtsgutsverletzungen. Dass bei dieser Sicht der Rechtsgutsbegriff durch die Regeln der Zurechnung fragmentiert wird, folgt aus der Bestimmung der Normgeltung als Strafrechtsgut. 3. Die Behauptung, jedes Rechtsgut (im traditionellen Verständnis) müsse von den Einzelnen her funktionalisiert werden, geht an der – auch eine freiheitliche Verfassung kennzeichnenden – Gleichursprünglichkeit von (1) Person, (2) zur gegenseitigen Anerkennung sozialisierender Gesellschaft und (3) Rechtlichkeit garantierendem Staat vorbei.
Ist unser Schuldstrafrecht noch zeitgemäß? Von Rolf Dietrich Herzberg
I. „Zur Zukunft des Schuldstrafrechts“ ist der Titel eines Vortrags, den Wolfgang Frisch am 25. April 2008 vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gehalten hat und der inzwischen in spanischer Übersetzung, versehen mit vielen belegenden und weiterführenden Anmerkungen, gedruckt vorliegt. Eine zweite Überschrift („Schuldstrafrecht und Neurowissenschaften“) kündigt an, dass der Autor auch und besonders Angriffe auf das Schuldstrafrecht betrachten wird, die von naturwissenschaftlicher Seite durch Leugnung der „Willensfreiheit“ vorgetragen werden. Denn diese betrachtet Frisch als eine Grundannahme des Schuldstrafrechts; es gehe davon aus, dass ein Straftäter sich auch anders hätte entscheiden, d. h. die Straftat hätte vermeiden können. Zwar sei diese Annahme seit je umstritten. Philosophen und Naturwissenschaftler, Juristen und Kriminalisten hätten immer wieder den deterministischen, die Willensfreiheit verneinenden Standpunkt vertreten und begründet. Aber das Schuldstrafrecht sei davon kaum erschüttert worden, weil sich beide Seiten, mehr oder minder bewusst, auf die Unbeweisbarkeit der einen wie der anderen Position geeinigt hätten. Diesen Konsens hätten in neuester Zeit renommierte Naturwissenschaftler, insbesondere Hirnforscher, aufgekündigt. Sie beriefen sich auf experimentelle Untersuchungen und erklärten die These, der Mensch habe einen freien Willen, für wissenschaftlich widerlegt. Solche Äußerungen seien für das Schuldstrafrecht natürlich viel brisanter als frühere Anzweifelungen. Die Strafrechtswissenschaft müsse sich damit befassen. Sie müsse das neuerdings Vorgebrachte (seine Tragfähigkeit, seine Relevanz) entkräften, wenn sie glaubwürdig am Schuldstrafrecht festhalten wolle. Nach eindringlicher Würdigung der in diesem neuen Streit vorgelegten experimentellen Befunde und ausgetauschten Argumente findet Frisch am Ende, dass keine Rede sein könne von einem geglückten empirischen Beweis der deterministischen Position; unwiderlegt sei nach wie vor die entgegengesetzte Annahme, der Mensch sei frei, sich für oder gegen das Gesollte zu entscheiden.
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II. Worum es geht, mag ein Beispielsfall veranschaulichen: Frau A sitzt einsam und allein in ihrem Haus beim Frühstück. Da betätigt jemand die Haustürklingel. A steht auf, geht zur Tür und öffnet. – Hier ist klar, dass das erste, was sich bei A infolge des Klingelns ereignet, ein körperliches Ereignis ist, nämlich dass sich Bestandteile des Mittel- und des Innenohrs bewegen. Hätte sich dort nichts bewegt, so hätte A nichts gehört und das Klingeln hätte weder eine zerebrale Veränderung noch ein Erkennen noch eine Willensbildung noch den nun gewollten Gang zur Haustür bewirkt. Aber in unmittelbarer Verbindung mit den Schwingungen der kleinen Körperteile im Ohr steht ein erstes Geschehen im Gehirn. Ein menschlicher Körper ohne oder mit totem Gehirn empfindet nichts, mag auch das Mittel- und Innenohr intakt sein und von einem Geräusch stimuliert werden. Dass A, noch gänzlich gedankenlos, infolge des Klingelns einen akustischen Sinnesreiz empfindet, dass sie etwas hört, verdankt ihr Körper dem Zusammenspiel von Vorgängen (= Veränderungen) im Ohr und im Gehirn. Bis hierher sind sich gewiss alle vollkommen einig. Zweifel und Streit setzen erst ein im Hinblick auf die geistig-seelischen Vorgänge, die ein Sinnesreiz im Menschen auslösen kann. So bewirkt das Hören eines Geräusches in A, dass sie erstens etwas denkt, d. h. sich die Ursache des Geräusches erklärt („jemand hat geklingelt“) und zweitens eine Entscheidung trifft („ich geh’ die Tür öffnen“). Werden, wie zweifellos der Sinnesreiz, ebenso der kognitive und der volitive Vorgang von (vorangehenden) Bewegungen des Gehirns erzeugt? Muss A so denken und muss sie sich so entscheiden, weil das äußere Geschehen und die dadurch verursachten Vorgänge im Gehirn es erzwingen? Wolfgang Frisch verharrt, nach Zurückweisung der neurodeterministischen Argumentation, auf dem alten Standpunkt. Man könne nicht wissen, ob der Mensch einen freien Willen habe, auch die deterministische Position sei „empirisch noch immer unbewiesen“. Hier stellt sich zunächst eine Frage, die uns nur Frisch selbst beantworten kann. Im Anschluss an die viel erwähnten Untersuchungen des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet1 nimmt er von den geistig-seelischen Ereignissen immer nur die volitiven Akte, die Entscheidungen, in den Blick. Darum erfahren wir nicht, ob er seine Zweifel auch auf die kognitiven Vorgänge erstreckt, die der Entscheidung vorangehen. Hält er hier wie dort die Freiheit für unwiderlegt? Hält er also für möglich, dass es neben der Freiheit des Sichentscheidens auch noch eine Freiheit des Denkens gibt? Für unser Beispiel würde sich die Frage zuerst stellen im Hinblick auf den Gedanken der A „jemand hat an der Haustür geklingelt“, der der reinen Sinnesempfindung folgt. Dürfen wir es hier für gesichert erachten, dass so zu denken, weil zwangsläufige Folge eines (zweiten) Hirnvorgangs, für A unvermeidbar war? Oder hatte A vielleicht auch die Freiheit, anders zu denken, etwa: „Eine Sinnestäuschung, mein 1 Von den zahlreichen, weitgehend inhaltsgleichen Berichten vgl. nur Libet, in: Geier (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, 2004, S. 268 ff.
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Ohr spielt verrückt.“ Es scheint abwegig, einen solchen Spielraum des Denkens, eine freie Wahl zwischen verschiedenen Erklärungen des Geräusches, für möglich zu halten. Wohl jeder wird hier die Unfreiheit, die kausale Notwendigkeit des der Hirnbewegung entspringenden Gedankens für selbstverständlich halten. Aber mancher wird zögern, dabei zu bleiben, wenn sich A, vom Klingeln angestoßen, noch weitere „Gedanken macht“; etwa Erwägungen anstellt wie: „Wer kann das sein? Etwa die lästige Nachbarin, die sich mal wieder was ausleihen will? Vielleicht sollte ich gar nicht öffnen. Aber es wäre arg unhöflich, und sie erfährt vielleicht später, dass ich zu Hause war.“ Doch lassen wir die Frage der Freiheit des Denkens und Erwägens noch beiseite und beschränken wir uns auf die Freiheit des Wollens und Sichentscheidens! In seinen Ausführungen „zur (mangelnden) Beweiskraft der Experimente“ erwähnt Frisch zuerst die von anderen geäußerten Zweifel, ob die zeitliche Reihenfolge überhaupt richtig erkannt worden sei. Das von den Hirnforschern Wahrgenommene, sagten diese Skeptiker, belege noch nicht einmal, dass in den untersuchten Fällen die bewusste Entscheidung der hirnorganischen Tätigkeit wirklich nachgefolgt sei. Wo es um Millisekunden gehe, könnten genauere Prüfungen auch ergeben, dass die bewusste Entscheidung in Wahrheit kurz vor der hirnorganischen Bewegung erfolge. Frisch scheint diese Zweifel zu teilen, denn er widerspricht ihnen nicht. Mir drängt sich ein Einwand auf: Gegebenen Falles ginge es um eine Entscheidung, die nicht das Gehirn hervorgerufen hätte, die also ohne verursachende Tätigkeit des Gehirns zustande gekommen wäre und die nur nachträglich eine zerebrale Reaktion hervorriefe, vergleichbar den Schritten, die vom Sand nicht erzeugt werden, sondern darin bloß einen Abdruck hinterlassen. Eine solche „hirnlose“ Entscheidung scheint mir vorauszusetzen, dass es eine vom Körper, auch vom Gehirn, getrennte, gleichsam frei schwebende „Seele“ gibt. Ich kann daran nicht glauben. Die libetschen Experimente und die späteren, bestätigenden Untersuchungen hatten in meinen Augen keine zweifelhaften Ergebnisse. Sie haben ans Licht gebracht, was allein zu erwarten war: Die zerebrale Veränderung muss dem Entschluss vorangehen, weil er ihrer als Ursache bedarf.
III. Eben dies freilich bestreitet Frisch. Auch wenn der unbewusste zerebrale Prozess nachgewiesenermaßen vorher stattfinde, sei unbewiesen, dass er die Entscheidung verursache, ihren Inhalt forme und der Mensch nun unfähig sei, zwischen alternativen Möglichkeiten zu wählen. Mit Blick auf unser Beispiel hält Frisch also für möglich, dass es sich wie folgt verhält: Der Erkenntnis „jemand hat geklingelt“ folgt eine (weitere) Hirntätigkeit, die zwar mit der bevorstehenden Entscheidung „zu tun hat“, aber diese nicht festschreibt. Vielmehr gibt sie einen bloßen Anstoß, vergleichbar dem Zuruf eines anderen Menschen, der die A unter Druck setzt, sich zu entscheiden. So von ihrem Gehirn angestoßen, beschließt sie, die Tür zu öffnen, aber sie hätte sich, Hirnvorgang hin oder her, genauso gut fürs Sitzenbleiben entscheiden können.
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Mir scheint, mein Einwand bleibt gültig und verschiebt sich nur. Das Gehirn würde die Entscheidung bloß vorbereiten, sie aber der A nicht vorschreiben. Es überließe die Wahl einer anderen Instanz, einer immateriellen Kraft, als welche wiederum nur „die Seele“ oder „das Ich“ benannt werden könnte. Nun muss ich einräumen, dass der Mensch sich ja auch keineswegs so fühlt, als könne er nur das zu tun beschließen, was ihm ein körperliches Organ diktiert. Sein „Ich“ setzt er mit seinem Körper oder einem Körperteil nicht gleich. Er sieht mehr darin als einen Sinnesreize empfindenden Organismus und sieht sein Ich keinem Körperteil unterworfen. Die Dualismen Leib/Seele, Körper/Geist haben eine lange abendländische, ja menschheitliche Tradition. Benjamin Libet selbst war von den Resultaten seiner Experimente überrascht. Er hatte erwartet, dass das Gehirn erst kurz nach der bewussten Entschlussfassung Wirkung zeige. Noch ehe das Gehirn mit einer Bewegung sich einmische, habe das Ich sein Werk, die Fassung des Entschlusses, schon vollbracht. Aber auch, als er sich darin enttäuscht fand, hat er den Glauben an Geist und Seele, an ein über dem Gehirn waltendes und ihm befehlendes Ich nicht aufgegeben. Er dachte es sich nun als eine Art Kontrollinstanz, dazu befähigt, der ersten, neuronal erzwungenen Neigung oder sogar Entscheidung in Freiheit ein „Veto“ entgegenzusetzen. Es ist klar, wie man sich dieses Veto idealerweise vorzustellen hat: als eine Frucht vernünftiger Besinnung, der Abwägung, des Bedenkens von Gründen und Möglichkeiten. In der literarischen Diskussion ist es ein populärer Gedanke, dem auch Wolfgang Frisch Ausdruck gibt, es sei naheliegend und jedenfalls unwiderlegt, dass der Mensch, wenn er in solcher Weise überlege, Freiheit gewinne, d. h. zu seinen Entscheidungen nicht neuronal gezwungen werde. Bezogen auf unser Beispiel: Unfrei ist die A sowohl beim Empfinden des akustischen Reizes wie bei der Entstehung des Gedankens „es hat geklingelt“ wie auch noch bei der „automatischen“ Entschließung zu öffnen. Gegen die körperliche Empfindung und gegen die beiden ersten geistig-seelischen Vorgänge konnte ihr Ich nichts ausrichten, das Gehirn war schneller, es hat die A insoweit auf ihr Fühlen, Denken und Beschließen festgelegt. Aber zumindest als möglich anzuerkennen ist es, dass As Freiheit beginnt, wenn sie nun zögert, überlegt, wer vor der Tür stehen könnte, die mit dem Öffnen vielleicht verbundenen Nachteile bedenkt, innehält und erst einmal ein zweites Klingeln abzuwarten beschließt.
IV. 1. In meinen Augen ist das eine halbherzige Bejahung möglicher Freiheit, die mich zunächst einen spezifisch strafrechtlichen Aspekt bedenken lässt. Wolfgang Frisch und die h.L. glauben, am Schuldstrafrecht nur so lange festhalten zu dürfen, wie die Willensfreiheit und damit die Fähigkeit, sich gegen das Unrecht zu entscheiden, unwiderlegt sei. Dem entsprechend ist man geneigt, die u. a. von Libet experimentell betrachteten Kurzvorgänge und gedankenlos schnell („spontan“) getroffenen Entscheidungen preiszugeben und seine Freiheitsannahme zu beschränken; nämlich auf Sachverhalte besonnener Prüfung, die ggf. dem Täter auch bewusst macht, dass er etwas zu tun er-
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wägt, was er nicht tun sollte. Aber es liegt auf der Hand, dass nach einer solchen Konzession und Beschränkung die Freiheit, von der noch „ausgegangen“ werden darf, nach der gesetzten Prämisse unser Schuldstrafrecht nicht legitimieren kann. Denn es will seine Schuldvorwürfe ja auch gegen Täter gerichtet sehen, die sich unbesonnen, etwa im Affekt, zur Tat hinreißen lassen oder ihre Tat, ohne sich in irgendeinem Sinne für sie zu „entscheiden“, unbewusst fahrlässig begehen. Der Autofahrer etwa, der ein spielendes Kind schwer verletzt, weil er es unaufmerksamerweise gar nicht bemerkt hat, hat nichts erwogen und sich nicht entschieden, weder für die Verletzung noch für das Unrecht. Trotzdem wird der Richter ihn für schuldig befinden und nach § 229 StGB bestrafen. Kurzum: Wenn unser Schuldstrafrecht die „Willensfreiheit“ des Täters voraussetzt, dann ist mit einer Freiheit, die nur in Phasen des Sichbesinnens und Erkennens gewonnen wird, nicht auszukommen. 2. Ferner wende ich ein, dass die besagte Unterscheidung, wenn man sie näher betrachtet, kaum einleuchten kann. Die Spontanentscheidung „aufmachen!“ soll das Gehirn seiner Trägerin aufgezwungen haben, den wohlerwogenen zweiten Beschluss „bleib’ lieber sitzen!“ hingegen soll das „Ich“, soll die A selbst gefasst und umgekehrt ihrem Gehirn aufgedrückt haben! Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals Gefühle erlebe, dass mir Gedanken kommen, dass ich Entscheidungen treffe, die ihren Ursprung anderswo haben als in meinem Gehirn. Michael Schmidt-Salomon hat in einem tiefgründigen, klar und anschaulich geschriebenen Buch ein Kapitel dem „Abschied von der Willensfreiheit“ gewidmet. „Durchaus plausibel“ nennt er darin die libetsche Behauptung, „dass das ,Ich‘ eine Art ,Vetorecht‘ besitze und somit in der Lage sei, bereits unbewusst initiierte Vorgänge zu unterbinden“; z. B. den „Handlungsimpuls …, ein weiteres Stück Marzipantorte zu verspeisen“. „Allerdings“, meint er, „muss man hier gleich hinterherschicken, dass sowohl das ,Ich‘ als auch die Überlegungen, die das ,Ich‘ dazu bringen, Handlungsimpulsen nicht nachzugeben, selbstverständlich nicht im luftleeren Raum existieren, sondern neuronal kodiert sind“. Darum gilt, dem Autor zufolge, für die Veto-Erwägungen und für die Veto-Entscheidung dasselbe, was er vorher von anderen seelisch-geistigen Vorgängen gesagt hat: „Das, was uns als Personen auszeichnet, was wir denken, wie wir empfinden, was wir lieben und verachten, was uns erfreut und abschreckt“ (ich füge hinzu: was wir wollen und beschließen), „all dies ist bestimmt von neuronalen Prozessen, die unter unserer Schädeldecke ablaufen, ohne dass wir dies (außerhalb eines neurologischen Labors) wahrzunehmen vermögen. Den alten Dualismus zwischen Körper und Geist beziehungsweise Leib und Seele, der die abendländische Geschichte so stark prägte, hat die Hirnforschung bereits jetzt überwunden. Die Belege sprechen eindeutig dafür, dass es keinen über den körperlichen Prozessen schwebenden Geist gibt. Wir müssen uns daher wohl oder übel damit abfinden, dass Gedanken, für die es keine Hirnschaltmuster gibt, nicht gedacht, Emotionen, die neuronal nicht abgedeckt sind, nicht empfunden“2 – 2 Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, 4. Aufl. 2010, S. 110 – 112.
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und Entscheidungen, die nicht vorher das Gehirn festgelegt hat, nicht gefällt werden können. 3. Das größte Gewicht gebe ich aber dem folgenden Einwand: Die Entdeckung der Hirnforscher zum Zeitpunkt der Hirntätigkeit, die – vorne oder hinten, verursachend oder verursacht – mit einer menschlichen Entscheidung zusammenhängt, sind für die Freiheitsfrage vollkommen belanglos. Auch wenn das Gehirn sich noch ganz ruhig verhielte in der Sekunde der Entschlussfassung und erst auf diese reagieren würde, hätte „die Seele“ oder „das Ich“ oder „der Mensch“ (als Herr seines Gehirns) die Entscheidung nicht in Freiheit getroffen. Denn sie wäre auch dann ein Ereignis und als solches, wie jede Veränderung in der diesseitigen Welt, dem Kausalgesetz unterworfen. Dieses besagt nicht nur, dass alles, was geschieht, verursacht worden ist („nihil fit sine causa“), sondern auch, dass alles, was geschieht, mit Notwendigkeit geschieht („quidquid fit necessario fit“). Ein Apfel, der sich vom Zweig löst und auf die Wiese fällt, hat seine Ursache, dies zu tun, und nicht die Wahl, hängen zu bleiben. Ein Hund, der seinem Herrn folgt und nicht dessen Frau, als sie einen anderen Weg einschlägt, hat seinen Grund, ihm zu folgen, und konnte allein dies beschließen, mag er sich auch „hin und her gerissen“ gefühlt und lange gezögert haben. Und es verhält sich nicht anders, wenn in der gleichen Situation die Tochter schwankt und sich für die Mutter entscheidet. Das Kausalgesetz mit seinem Bestandteil der Zwangsläufigkeit allen Geschehens räumt ja nicht deshalb das Feld, weil das Tier, das sich entscheiden muss, ein hominides Herrentier ist! „Wer also glaubt, dass er nach freiem Entschluss des Geistes rede oder schweige oder irgendetwas tue, der träumt mit offenen Augen.“3 „Ein Mensch, der unter eindeutig gegebenen äußeren und inneren Umständen genauso gut so wie anders handeln könnte […], gehört nicht ins Zuchthaus, auch nicht in eine Irrenanstalt, sondern in einen Glaskasten […], auf dass ihn jeder anstaune als die abnormste und unbegreiflichste Bildung, die ein Menschenauge bisher geschaut hat.“4 „Du kannst tun, was du willst, aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nichts Anderes, als dieses Eine.“5 „Aber ich hätte genauso gut den Willen bilden können, mit meinem Vater zu gehen“, mag nach solcher Belehrung die Tochter sagen und zum Beweis schnell zu ihm hinüberlaufen. Sie übersieht, dass der jetzt „gegebene Augenblick“ nicht mehr der ist, in welchem sie sich für die Mutter entschied. Ein neues Motiv ist auf den Plan getreten, nämlich der Wunsch, sich ihre Freiheit zu beweisen. Er konnte die erste Entscheidung nicht verhindern und erst jetzt treibt er sie zum Vater – unwiderstehlich!
3
Spinoza, Ethik; aus dem Lateinischen von Stern, herausgegeben von Seidel, 1975, S. 163 ff. 4 Kohlrausch, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1905, 20. 5 Schopenhauer, Über die Freiheit des menschlichen Willens, 2. Aufl. 1860, unter II (Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, 1977, Band VI, S. 62 f.).
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Sehr schön und deutlich hat Max Planck dargelegt, dass „in der Welt des Geistes das Motiv als Ursache der Handlungen“ die Rolle übernehme, „welche in der Natur die Kraft als Ursache der Bewegungen spielt“; und wie in jedem Augenblick, fährt er fort, „die Bewegungen eines materiellen Körpers mit Notwendigkeit aus dem Zusammenwirken verschieden gerichteter Kräfte hervorgehen, so entspringen die Handlungen des Menschen mit gleicher Notwendigkeit dem Wechselspiel der einander verstärkenden oder widerstreitenden Motive […].“ Auf Spekulationen, es gebe vielleicht auch die unbedingte, unverursachte Entschließung als causa sui, als unbewegter Beweger, antwortet er: „Wenn sich in Wirklichkeit so etwas ereignen könnte, müsste es doch der unablässig daran arbeitenden wissenschaftlichen Forschung endlich einmal in irgendeinem Fall gelungen sein, dies wenigstens als glaubhaft hinzustellen. Aber es hat sich bisher nirgends ein Anhaltspunkt für das Vorhandensein solcher so genannter ,freier Anfänge‘ auffinden lassen. Im Gegenteil; je tiefer die Wissenschaft in die Einzelheiten der Entstehung von Geistesbewegungen einzudringen vermochte, desto deutlicher ist immer die kausale Bedingtheit, die Abhängigkeit von vorangehenden und vorbereitenden Faktoren ans Licht getreten, ja man wird […] geradezu sagen dürfen, dass umgekehrt die wissenschaftliche Forschung in einer kausalen Betrachtungsweise wurzelt, dass die Annahme einer ausnahmslosen Kausalität, eines vollkommenen Determinismus, die Voraussetzung und die Vorbedingung für die wissenschaftliche Erkenntnis bildet.“6
V. Darum kann ich mich auch nicht anfreunden mit der kompromisshaften Sicht, Determinismus und Indeterminismus stünden einander beiderseits „unbewiesen“ und „unwiderlegt“ gegenüber. Einmal erkannte Gesetzmäßigkeiten liefern doch Beweise, wenn auch die Gesetzmäßigkeiten selbst niemals als sakrosankt, als unanzweifelbar betrachtet werden dürfen. Aber bis auf weiteres darf ich es für bewiesen erachten, dass bei einem mir vorliegenden rechtwinkligen Dreieck die Gesamtfläche der Kathetenquadrate die gleiche ist wie die Fläche des Hypothenusenquadrats; oder dass der Bau einer Zeitmaschine, die uns in die Zukunft oder in die Vergangenheit befördern könnte, ein aussichtsloses Unterfangen wäre; oder dass die vom Schiedsrichter in die Luft geworfene Münze der Schwerkraft unterworfen ist und zurück zur Erde streben wird. Wie kommt es, dass so viele Menschen nicht bereit sind, auch dem Kausalgesetz Beweiskraft einzuräumen, sobald man für menschliche Entscheidungen kausale Notwendigkeit behauptet? Auch Tiere schwanken oft zwischen Verhaltensalternativen und entscheiden sich für eine davon aus Gründen, die ihr Verstand sie erkennen lässt. Z.B. das Springpferd, das nach schlechtem Anlauf den Sprung über den Oxer vorsichtshalber verweigert; niemand zweifelt daran, dass es determi6 Planck, in: ders. (Hrsg.), Vom Wesen der Willensfreiheit und andere Vorträge, 1990, S. 81, 106, 107 f.
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niert war, sich so zu entscheiden. Warum sollte für den Stabhochspringer nicht Gleiches gelten? Vielleicht verbieten wir uns die Gleichsetzung aus Gattungsstolz. Der Mensch nicht anders als ein Edelweiß, Floh, Lachs, Spatz, Biber oder Schimpanse? Auch bei ihm soll alles in einer Ursachenkette streng verknüpft sein und zwangsläufig geschehen, jede Bewegung, jede Entscheidung, jede Handlung? Das kränkt. Schwerer wiegen mag aber ein anderer Grund, auf den sich auch Frisch beruft: dass die Annahme strenger Determiniertheit „vielfacher Selbsterfahrung“ widerspreche, ein Argument, welches ja geradezu die Empirie für die Willensfreiheit in Anspruch nimmt. Die Frau am Frühstückstisch z. B. könnte, so verstehe ich das Argument konkret, ihre Freiheit wieder einmal „erfahren“, indem sie sich bewusst macht, frei wählen zu können zwischen Öffnen und Sitzenbleiben. Auch Schmidt-Salomon, der diese freie Wahl ohne Vorbehalt verneint, gibt dem empirischen Argument Gewicht, wenn auch nur im Negativen: Die Unfreiheit des Willens sei nicht „sinnlich erfahrbar […]. Während wir die Zwänge, die unsere Handlungsfreiheit beschneiden, sehr deutlich spüren, verfügen wir über keinerlei Sensorium, um eine Beschränkung der bloß fiktiven Willensfreiheit zu erspüren. Keiner von uns wird sich in seiner Freiheit dadurch gestört sehen, dass er aufgrund der unzähligen Determinanten seiner Lebensgeschichte ausgerechnet das will, was er will, beziehungsweise das ablehnt, was er nicht will.“7 Mich überzeugt weder die positive noch die negative Behauptung. Nehmen wir an, Frau A eilt nach dem Klingeln zur Tür in freudiger Erwartung einer bei Ebay ersteigerten Handtasche, öffnet die Tür und nimmt das Paket entgegen. Würde nun jemand sie fragen, ob sie „Wahlfreiheit“ hatte, d. h. nach dem Klingeln auch fähig war, einfach sitzen zu bleiben und nicht zu öffnen, so könnte sie ein Fähigkeitsgefühl doch allenfalls mit den Worten bekunden: „Ja, wenn ich das wirklich gewollt hätte, dann hätte ich es auch gekonnt.“ Aber sie selbst würde bei einigem Nachdenken erkennen, dass sie damit ein Gefühl des Auch-anders-Könnens gar nicht ausdrückt. Denn sie behauptet dieses Können unter einer Bedingung. Sie müsste sich also schon die Fähigkeit zuschreiben, nach dem Klingeln erst einmal die Bedingung eines anderen Wollens zu erfüllen; also die Fähigkeit, das Sitzenbleiben zu beschließen, statt das Öffnen der Tür zu beschließen. Wie sollte sie das wohl gekonnt haben oder auch nur glauben, es gekonnt zu haben, wo sie doch kein Motiv hatte, sich für das Verharren am Tisch zu entscheiden? Hätte sich unter diesen Umständen, also ohne Motiv, in ihr dennoch der Wille gebildet, am Tisch zu bleiben, so hätten wir eine Wirkung ohne Ursache vor uns, und die ist im strengen Sinne undenkbar. Wie steht es aber mit der „Selbsterfahrung“ in Lebenslagen, wo man das eine wie das andere Verhalten gleichermaßen in Betracht zieht und anfangs nicht weiß, wie man sich am Ende entscheiden wird? So erging es im Beispiel Frau A, als sie vermutete, die lästige Nachbarin habe geklingelt, und zwischen Öffnen und Sitzenbleiben schwankte. So ergeht es einem aber auch alltäglich bei mehr oder minder gleich7
Schmidt-Salomon (Fn. 2), S. 122.
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gültigen Entscheidungen. Soll man eine zweite Tasse Kaffee trinken? Durch den Wald oder übers Feld spazieren? Den „Tatort“ oder das Fußballspiel sehen? Die Zweitstimme den Grünen oder der SPD geben? Ja, dies sind Verhaltensalternativen, vor denen stehend der Mensch geneigt ist, sich die Freiheit der Entscheidung zuzuschreiben und an eine „Selbsterfahrung“ dieser Freiheit zu glauben. Aber auch in solchen Fällen ergibt sich ja aus dem Hin und Her der Geneigtheit, aus allen Gedanken und Erwägungen, die einem „durch den Kopf gehen“, am Ende ein Motiv, das die anders gerichteten Motive überwiegt, sie verdrängt und das den Ausschlag gibt. Gewiss, es wird oft nur so knapp überwiegen, dass sich das Gefühl eines unfreien, eines gezwungenen Willens nicht einstellt. Doch dieses Gefühl kann uns kein Anzeichen dafür sein, dass der Mensch in dem Augenblick, da er seine Entscheidung trifft, auch eine andere hätte treffen können. Wenn Herr W, nach langem Schwanken, den Stimmzettel vor Augen motiviert ist, seine Stimme den Grünen zu geben, dann ist er zugleich nicht motiviert, sie der SPD (oder einer anderen Partei) zu geben. Also wäre es unter den jetzt gegebenen und sich nicht verändernden Umständen eine Wirkung ohne Ursache, wenn sich in ihm der SPD-Wahl-Wille bilden würde, nicht anders als bei Frau A der Wille, sitzen zu bleiben, wo doch ihr einziges Begehren war, dem DHL-Boten die Tür zu öffnen und die Handtasche entgegenzunehmen. Selbstverständlich kann sich bis zur letzten Sekunde die Motivation verändern. „Du wählst ja sowieso wieder die Grünen“, sagt am Tisch der Stimmabgabe eine Freundin spöttisch zu W, woraufhin dieser zum Spaß sich umentschließt, sein Kreuz bei der SPD macht und der Freundin den Stimmzettel unter die Nase hält. Aber damit hat er sich keine Willensfreiheit bewiesen. Die Umstände hatten sich verändert, und sie erzwangen eine neue Motivbildung und andere Entscheidung. Recht anschaulich schildert Arthur Schopenhauer, was es unter dem Aspekt unserer Frage mit der spezifisch menschlichen Abwägungsfähigkeit auf sich hat. Sie ergebe nichts anderes „als den sehr oft peinlichen Konflikt der Motive, dem die Unentschlossenheit vorsitzt, und dessen Kampfplatz nun das ganze Gemüth und Bewußtseyn des Menschen ist. Er läßt nämlich wiederholt ihre Kraft gegen einander an seinem Willen versuchen, wodurch dieser in die selbe Lage geräth, in der ein Körper ist, auf welchen verschiedene Kräfte in entgegengesetzten Richtungen wirken, – bis zuletzt das entschieden stärkste Motiv die anderen aus dem Felde schlägt und den Willen bestimmt; welcher Ausgang Entschluß heißt und als Resultat des Kampfes mit völliger Nothwendigkeit eintritt“.8 Aber der Mensch spürt diese „Nothwendigkeit“ nicht („keinerlei Sensorium“) und es stört ihn nicht, dass er gezwungenermaßen „das will, was er will, beziehungsweise das ablehnt, was er nicht will“? Diese These Schmidt-Salomons scheint mir nur dort zutreffend, wo der Mensch bei seinem Wollen „mit sich im Reinen ist“, wie Frau A auf dem Weg zur Haustür oder Herr W bei seinem Spaß mit der Freundin. Aber es kann auch ganz anders liegen. Ein Vater müsste sich mit seinem Sohn dringlich aussprechen und ärgert sich bei jedem Zusammentreffen, dass er dem wieder 8
Schopenhauer (Fn. 5), unter III (S. 75).
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einmal ausweicht. – Eine Frau fürchtet Brustkrebs zu haben, weiß, dass sie zum Arzt gehen sollte, und entscheidet sich doch Tag für Tag, es noch zu lassen. – Ein Alkoholiker ringt um Abstinenz und leidet schrecklich, wenn er immer wieder zur Flasche greift. – Das als richtig erkannte, ja ersehnte Verhalten ist hier die Aussprache, der mutige Gang zum Arzt, der Verzicht auf den Alkohol, das konkret beschlossene und somit gewollte aber die Unterlassung bzw. das Trinken. In solchen Fällen erlebt und „erfühlt“ der Mensch durchaus und besonders deutlich die Unfreiheit seiner Willensbildung. Aber er kann sich ihrer auch dann schon bewusst werden, wenn er etwas schlicht ungern tut oder unterlässt. Man wird zu Bekannten eingeladen, die einen mit Urlaubsfilmen zu langweilen drohen. Die Höflichkeit erzwingt aber die Entscheidung, sich dem zu unterziehen. – Nach einem fürchterlichen Streit mit seiner misstrauischen Frau unterlässt der Mann die „Geschäftsreise“, die er mit seiner Sekretärin geplant hatte. – Und selbst wo ich gerne tue, was mir bevorsteht, mache ich für mein Teil keineswegs die „Selbsterfahrung“ der Willensfreiheit. So fühle ich mich angesichts des näherkommenden Nachbarn nicht frei, zwischen Grüßen und Nichtgrüßen zu wählen, sondern sehe mich, ohne darunter zu leiden, zum Grüßen gezwungen. Ich bin schlechterdings unfähig, die Unterlassung zu wollen. Schmidt-Salomons Beispiel für jemanden, der seine Unfreiheit erkennt und darunter leidet, ist ein seelisch gestörter Freund. Dieser wäre „liebend gern“ in Gesellschaft, bringt es aber nicht über sich, „unter Menschen zu gehen“, etwa ins Kino oder in ein Konzert. – Wegen seiner Ausgangsthese („keinerlei Sensorium“) nennt nun der Autor den Mangel, den sein Freund selbst schmerzlich fühlt, nicht den der Willensfreiheit, sondern den der „inneren Handlungsfreiheit“. Aber diese Bezeichnung könnte man der Willensfreiheit generell geben. Wer nur das eine wollen kann, ist der „inneren Handlung“, einen anderen Entschluss zu fassen, nicht fähig. Eine Willensbildung, eine Entscheidung kann man als innere Handlung betrachten. Z.B. die Entscheidung, sein Kreuz bei den Grünen zu machen. Herr W konnte den Akt, diese Entscheidung zu treffen, nicht mehr vollbringen, nachdem seine Freundin die neue Motivation verursacht hatte. Schmidt-Salomon benennt die Willensfreiheit in „innere Handlungsfreiheit“ um, sobald der Betroffene spürt, dass er sie nicht hat.
VI. Ein zentraler Gedanke, den Frisch im Hinblick auf „Die Zukunft des Schuldstrafrechts“ äußert und – m. E. überzeugend – begründet, ist „Die Irrelevanz des Determinismus für die Existenz von Strafrecht überhaupt“ (so die Überschrift IV 1). Klar und schön formuliert ist hier die Essenz eines wichtigen Vortragsteiles: „Aus rechtswissenschaftlicher Sicht gilt es dabei zuallererst eines festzustellen: Das Strafrecht im Sinne von Sanktionen nach begangener Tat würde – entgegen den ersten Äußerungen einiger Hirnforscher – selbst dann nicht hinfällig, wenn die These von der Determiniertheit des menschlichen Handelns stimmte. Kein Staat der Welt kann es sich leisten und hat es sich über längere Zeit hinweg geleistet, auf begangene Güter-
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und Freiheitsbeeinträchtigungen gravierenden Ausmaßes überhaupt nicht zu reagieren. In Wahrheit führt die Zugrundelegung einer deterministischen Sicht des menschlichen Entscheidens und Handelns nur zu einem in die Determination menschlichen Handelns integrierten Strafrechtsmodell: Die Strafe wird dann – wie die auf psychologischen oder sonstigen Zwang aufbauenden Strafrechtsmodelle Feuerbachs und Franz von Liszts gezeigt haben – zu einem selbst auf die Determination menschlichen Handelns gerichteten Faktor.“ Jedenfalls im Ergebnis deckt sich das mit meinem Standpunkt, dass sich die Beibehaltung und Anwendung der Vorschriften unseres Strafrechtes vollkommen vereinbare mit einer lückenlos deterministischen, auch menschliches Beschließen und Handeln einbeziehenden Weltsicht.9 Aber eben diese uns beiden gemeinsame Annahme, dass der Determinismusstreit für die Subsumtion von Taten unter Strafrechtsnormen letztlich unerheblich sei, hat Christian Fahl in einem langen Aufsatz bestritten.10 Er teilt Eduard Drehers Überzeugung „dass sich diejenigen, welche das Freiheitsproblem als irrelevant für das Strafrecht erklären wollen, […] (wegen) der Konsequenzen eines deterministischen Strafrechts […] in einem fundamentalen Irrtum befinden“11 (S. 103). Wie die meisten Diskutanten macht er zum Ausgangspunkt die These, dass Strafe Schuld und Schuld Willensfreiheit voraussetze; darum müsse man diese dem Strafrecht zugrunde legen, einerlei, ob man an sie glaube oder sie bezweifle. Fahl selbst zweifelt. Vielleicht werde sich einmal herausstellen, meint er im Schlussteil, „dass der Lebensweg des Menschen bis in alle Einzelheiten vorprogrammiert ist“; dann freilich bleibe für das Schuldprinzip „kein Anwendungsbereich mehr übrig“. Aber so weit seien wir noch nicht. Gegenwärtig müssten wir „von der Hypothese des Indeterminismus ausgehen“ (S. 119). Diese verbreitete und unauffällige Forderung hat nun bei Fahl eine fundamentale praktische Relevanz und ein viel größeres Gewicht als bei anderen. 1. Wer als Determinist, so sieht es Fahl, an die Unfreiheit des Willens glaube oder sie sogar für erwiesen halte, stehe dem geltenden Strafrecht hilflos gegenüber. Zum Beispiel „Freiwilligkeit“, wie § 24 StGB sie für die Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch voraussetzt: „Im Determinismus kann es so etwas gar nicht geben […]. Für den Deterministen-Richter wäre die Frage, ob der Täter bei seiner Entscheidung, die Straftat zu begehen […] oder sie zu lassen […], selbstbestimmt (autonom) oder – durch Anlagen oder Umwelt – fremdbestimmt (heteronom) war, schon lange beantwortet“ (S. 96, 97). Aber diese Konsequenz bestreite ich. Der deterministisch überzeugte Richter weiß ja, dass das Merkmal „freiwillig“ in § 24 StGB so nicht gemeint ist. Er weiß, dass ihn der Gesetzgeber, ganz unabhängig vom Determinismusstreit, zu dif9
Vgl. Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010; ders., ZStW 124 (2012), 12 ff. 10 Fahl, ZRph 2012, 93 – 121. Zitate aus diesem Beitrag verbinde ich schon im Text mit der Angabe der Seitenzahl. 11 Dreher, Die Willensfreiheit, 1987, S. 34.
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ferenzierenden Entscheidungen auffordert. Ob die Täterin des Diebstahlsversuchs bei dem sie das Fläschchen Nagellack, das sie in der Hand hält und einstecken will, aus Scham zurückstellt oder weil sie sich beobachtet sieht, das macht bei Prüfung des § 24 StGB auch für den Deterministen einen ausschlaggebenden Unterschied. Zwar ist er überzeugt, dass der Frau so oder so die Freiheit fehlt, sich gegen den Rücktritt und für die Diebstahlsvollendung zu entscheiden. Er hat erkannt, dass sie in beiden Fällen mit Notwendigkeit so handelt, wie sie handelt; quidquid fit necessario fit. Aber das Recht unterscheidet sehr wohl, ob das zwingende Motiv – mit Fahl zu reden – „autonom“ oder „heteronom“ zustande kommt. Als Determinist setze ich also Fahl entgegen: Alles Geschehen im Diesseits, auch was im Menschen vorgeht und von ihm ausgeht, unterliegt dem Gesetz der Kausalität. Darum ist der Mensch determiniert, er muss sich so entscheiden und verhalten, wie seine Motivierung es verursacht. Entscheidungsfreiheit ist nur denkbar als Entlassung aus der Herrschaft des Kausalgesetzes und damit wiederum undenkbar. Aber diese allgemeine, philosophisch begründete Unfreiheit schließt weder den Schuldvorwurf aus noch verbietet sie Lob und Anerkennung. Gerade Letzteres ist im Alltagserleben der Menschen über jeden Zweifel erhaben. Rettet jemand bei eigener Lebensgefahr ein Kind aus dem brennenden Haus, würden ihm die Eltern auch als überzeugte Deterministen den Dank niemals verweigern. Und daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn der Retter sich selbst die Entscheidungsfreiheit abspricht und beteuert, die Angst um das Kind habe ihn unerbittlich zur Tat gezwungen, er habe „keine Wahl“ gehabt und gar nicht anders gekonnt. Natürlich gilt das Gleiche für moralische Erlebnisse wie Schuldgefühl, Reue, Empörung sowie – nach eigenem guten Tun – für Freude und Genugtuung. Stolz und Scham, Zorn und Dankbarkeit, Lob, Tadel und Vorwurf, kein Mensch macht angesichts eigener und fremder Taten solche Empfindungen und Reaktionen davon abhängig, ob er an die Willensfreiheit glaubt. Wer die Prämisse setzt, dass in einer Welt ohne Willensfreiheit moralische Bewertungen ausgeschlossen seien, mag die Menschen und ihr natürliches Empfinden als inkonsequent schelten, aber klüger, lebensnäher und vor allem rationaler wäre es, statt auf die Konsequenz zu pochen, die Prämisse aufzugeben, woraus sie folgt. Dies betone ich auch mit Blick auf die von ihrer Prämisse her äußerst konsequente Lehre Schmidt-Salomons. Sie fordert den Leser auf, sich den Stolz ebenso zu verbieten wie den Selbstvorwurf. In meinem Beispiel soll sich der mutige Retter des Kindes „gefühlsmäßig“ nicht mehr erlauben als jeder passive Zuschauer: zufrieden zu sein, dass das Kind überlebt hat. Auf eine eigene Leistung auch noch stolz sein sei ein unberechtigtes Gefühl, das man sich abtrainieren solle, „weil Stolz auf einer falschen Interpretation der Wirklichkeit beruht“12, eben auf dem Irrglauben an die Willensfreiheit. Aber dafür dürfe man sich auch entlasten, wenn man, statt Gutes zu tun, einem anderen vorsätzlich Leid zufügt. Denn wie dem Stolz liege auch dem schlechten Gewissen und dem „Schuldgefühl“ eine „fehlerhafte Zuschreibung“ zugrunde: „Wir meinen fälschlicherweise, dass wir uns in der Situation auch anders hätten verhalten 12 Schmidt-Salomon/Salomon, Leibniz war kein Butterkeks – Den großen und kleinen Fragen der Philosophie auf der Spur, 3. Aufl. 2012, S. 145.
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können, als wir uns verhielten. Erst diese fehlerhafte Zuschreibung löst die moralische Selbstverurteilung aus.“13 Die Wahrheit sei aber, dass der Mensch „sich in der Vergangenheit nur in der Weise verhalten konnte, wie er sich unter den gegebenen Umständen verhalten musste“14, weshalb es „sinnlos“ sei, sich „Selbstvorwürfe“ zu machen. „Schuldgefühle“ stünden der „persönliche(n) Weiterentwicklung […] im Wege, denn sie sind eine Kriegserklärung an das eigene Selbst“15. Zwar hat der Autor nichts gegen die Reue; sie habe als Antrieb, bestimmte Taten künftig zu vermeiden, ihren guten Sinn. Aber indem er aus der Reue das Schuldgefühl herausnimmt, fühlt sich nun die Reue des Totschlägers, soweit sie berechtigt ist, nicht anders an als der Verdruss und gute Vorsatz eines Mannes, der einem Betrüger aufgesessen ist oder etwas Wichtiges zum eigenen Schaden verbummelt hat. Mir scheint diese Philosophie der menschlichen Natur zu widersprechen. Schon das Kind, wenn empathiefähig, kennt Scham und Schuldgefühl, manchmal sogar verbunden mit dem Bedürfnis, Sühne zu leisten.16 Es will gelobt werden und empfindet Stolz, wenn es Gutes geleistet hat. Diese Gefühle schon in ihrer Entwicklung erzieherisch zu unterdrücken oder sie später dem Kind ausreden zu wollen („du brauchst dich niemals zu schämen und schuldig zu fühlen, aber du darfst auch auf keine Leistung stolz sein“), wäre Unfug. All die Empfindungen und Reaktionen, die SchmidtSalomon unberechtigt findet, scheinen mir evolutionär zweckvoll und wichtig für das mitmenschliche Zusammenleben. Man denke auch an die schönen Reaktionen, die sich mit guten und bösen Taten oft verbinden: Lob und Dank, Vergebung und Versöhnung. Sie erzeugen auf beiden Seiten Freude und Wohlgefühl. Die fragliche Philosophie bekämpft dieses kleine Menschenglück in seinen Ursprüngen, wohl ohne es sich recht klarzumachen. In meinen Augen liegen die Dinge genau umgekehrt. Lob, Dankbarkeit und Stolz, Vorwurf, Tadel, Scham und Schuldgefühl sind in unserer Welt, wie sie nun einmal beschaffen ist, d. h. in einer Welt der Zwangsläufigkeit und Willensunfreiheit, durch und durch sinnvoll. Sie wären nur dann sinnlos, wenn es die Notwendigkeit allen Sichentscheidens und Handelns nicht gäbe (s.u. 5). 2. Fahl geht vom strafbefreienden zum strafbegründenden Verhalten über und sieht hier den Deterministen als Gesetzesinterpreten erst recht auf verlorenem Posten, weil er das überall vorausgesetzte Anderskönnen generell verneinen müsste: „Normgemäßes Verhalten ist […] dem Delinquenten in der Sicht des Determinismus unmöglich.“ Z.B. setze ein Nichteingreifen in den Fällen der §§ 13, 323c StGB die 13
Schmidt-Salomon/Salomon (Fn. 12), S. 168. Schmidt-Salomon (Fn. 2), S. 203 f. 15 Schmidt-Salomon/Salomon (Fn. 12), S. 169. 16 Mir kommt da eine Stelle aus Thomas Manns Erzählung „Unordnung und frühes Leid“ in den Sinn. Das Bilderbuch auf den Knien, belehrt Lorchen, Prof. Cornelius’ vierjährige Tochter, ihren noch jüngeren Bruder über vielerlei. „Auch medizinisch unterweist sie ihn, lehrt ihn Krankheiten, wie Brustentzündung, Blutentzündung und Luftentzündung. Wenn er nicht achtgibt und es nicht nachsprechen kann, stellt sie ihn in die Ecke. Einmal hat sie ihm noch dazu eine Ohrfeige gegeben, aber darüber hat sie sich so geschämt, dass sie sich selber auf längere Zeit in die Ecke gestellt hat.“ 14
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„physisch-reale Handlungsmöglichkeit“ voraus, die aber „für den Deterministen niemals besteht“ (S. 98). Das ist wiederum ein Missverständnis. Wenn etwa A ein Kind nicht rettet, das vor seinen Augen im Schwimmbecken ertrinkt, dann ist das für den Deterministen zwar in jedem Fall ein zwangsläufiges Geschehen. Aber daraus folgt nicht, dass er alle Fälle gleichzubehandeln hätte. Er weiß, dass die strafrechtlichen Vorschriften von ihm verschiedene Entscheidungen fordern, je nachdem, aus welchem Grund A das Kind nicht retten konnte und nicht gerettet hat. War etwa die Querschnittslähmung des A der Grund, dann ist schon das Unterlassungsmerkmal in § 323c StGB bzw. § 13 StGB nicht erfüllt und der Tatbestand des Delikts zu verneinen. War A „wegen einer krankhaften seelischen Störung“ (§ 20 StGB) gehindert, dann hat er die Unterlassungstat rechtswidrig begangen, aber es entfällt seine Schuld. Hat schließlich ein „niedriger Beweggrund“, etwa Habgier, das zwangsläufige Geschehen verursacht, dann ist auch die Schuld zu bejahen, und A muss bestraft werden. 3. Fahl wendet ferner ein: „Auch für den entschuldigenden Verbotsirrtum“ (gemeint: für den nicht entschuldigenden Verbotsirrtum) bliebe dem Deterministen „kein Raum mehr: Nach § 17 StGB handelt der Täter ohne Schuld, wenn ihm bei der Begehung der Tat die Einsicht fehlte, Unrecht zu tun, und er ,diesen Irrtum nicht vermeiden konnte‘“; ein Vermeidenkönnen desjenigen, der nicht vermieden hat, sei für den Deterministen, „wie gesehen, nicht denkbar“ (S. 97). Gerade § 17 StGB offenbart aber die Überlegenheit, die dem Determinismus auch bei der Gesetzeserklärung zukommt und die sich seltsamerweise die wenigsten klar machen. Angenommen, die Pastorin P züchtigt ihren Siebenjährigen, wenn er „ungezogen“ war, mit schmerzhaften Schlägen aufs Gesäß und hält das, in Unkenntnis des § 1631 Abs. 2 BGB, für eine erlaubte Maßnahme im Rahmen christlicher Verantwortung und elterlicher Kindeserziehung. Von Fahls Standpunkt aus wäre nun ernstlich zu fragen, ob P fähig war, aus ihrem Irrtum („ich darf das“) gleichsam herauszuspringen und sich die rechte Erkenntnis („ich darf das nicht“) zu verschaffen. Nur wer in diesem wörtlichen Sinn die Vermeidefähigkeit bejaht, dürfte einen „vermeidbaren“ Verbotsirrtum annehmen, und weil damit das Schuldurteil verbunden wäre, müsste man, Fahl folgend, von der Mutter tatsächlich sagen, sie habe sich in Freiheit für das Unrecht entschieden. Aber sie hat sich doch für ein Handeln entschieden, das sie für erlaubt hielt! Das Ganze ist geradezu widersinnig. Dass P ihren Verbotsirrtum vermeiden konnte, ist nur in einem einzigen Fall feststellbar, nämlich dann, wenn sie ihn tatsächlich vermieden hat, etwa wenn sie sich hat rechtlich belehren lassen und nun in Kenntnis des Verbots prügelt. Aber diesen Fall erfasst § 17 StGB gar nicht, die Vorschrift regelt ausschließlich Fälle, in denen dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, fehlt. In dieser Situation kann man die indeterministische Behauptung „aber du hättest die Einsicht haben können, der Irrtum war für dich vermeidbar“, nur aus der Luft greifen. Dem Täter die Fähigkeit nachzuweisen, was doch zum Beweis seiner Schuld nötig wäre, ist schlechterdings unmöglich. Im Grunde weiß das auch jeder, der im konkreten Fall einen Verbotsirrtum auf seine „Vermeidbarkeit“ hin prüft. Er versteht das nicht wörtlich im Sinne einer tatsächlichen Fähigkeit des Täters, seinen Irrtum zu verhindern oder ihn in Unrechts-
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einsicht zu verwandeln, also nicht im Sinne faktischen Anderskönnens. Vielmehr fragt er normativ, ob der Irrtum nach den Umständen des Falls und der Persönlichkeit des Täters „unverzeihlich“ war. Zu den Umständen des Falles gehört auch, wenn gegeben, der Streit um das Verbot. Einen solchen gab es 2012 hinsichtlich der rituellen Beschneidung männlicher Kinder. In der strafrechtlichen Diskussion bestritten manche, dass diese Körperverletzung rechtswidrig sei. Dies war dem LG Köln hinreichender Grund, einem muslimischen Arzt, der wegen einer solchen Körperverletzung angeklagt war, nach entschiedener Missbilligung der Tat – sie sei sehr wohl rechtswidrig – doch zuzugestehen, dass er im Verbotsirrtum gehandelt habe und dieser „unvermeidbar“ gewesen sei.17 Hier wird deutlich, dass nichts anderes als „verzeihlich“ gemeint ist. Denn das Gericht lässt es als unerheblich beiseite, dass „sich der Angeklagte nicht nach der Rechtslage erkundigt“, sich also um die „Vermeidung“ gar nicht bemüht habe. Dieses Bemühen, könnte man sagen, habe für ihn als Arzt, der immer wieder durch Beschneidung das kindliche Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 GG) missachtete, ganz nahegelegen und hätte ihn das Unrecht seines Tuns erkennen lassen. Nein, sagt zwischen den Zeilen die Strafkammer, darauf kommt es nicht an. Wenn sogar manchen Juristen in dieser Frage die Unrechtseinsicht fehlt, dann muss man auch dem Angeklagten seinen Verbotsirrtum nachsehen und auf den Schuldvorwurf verzichten. Angesichts der klaren gesetzlichen Aussage in § 1631 Abs. 2 BGB entfällt dieser Aspekt in unserem Beispiel der prügelnden Pastorin. Bewertet man ihren Verbotsirrtum, was sich aufdrängt, als „vermeidbar“, sprich: als unverzeihlich, dann heißt das ihre Schuld bejahen. Aber dieser Schuldspruch ist unvereinbar mit Fahls indeterministischem Schuldmodell einer in Freiheit gegen besseres Wissen getroffenen Entscheidung für das falsche Verhalten. Wer sein Handeln für erlaubt hält, entscheidet sich nicht für das Unrecht, und geradezu Unsinn wäre es zu sagen, die P habe sich frei entschieden, in ihrem Verbotsirrtum zu verharren. 4. Fahl sieht den Deterministen auch scheitern, was „zuletzt die Strafzwecke“ betrifft (S. 98 ff.). Was er vorbringt, ist hauptsächlich wieder die Konsequenz seiner Prämisse, dass menschliche Schuld indeterministische Entscheidungsfreiheit voraussetze: Soweit man Strafe – zumindest auch – als sühnende Schuldvergeltung erkläre, könne sie „nur von einer indeterministischen Schulddeutung aus erklärt werden“ (S. 99). Aber diese Prämisse, so selbstverständlich sie den meisten auch erscheint, ist zu bestreiten. Es verhält sich genau umgekehrt, nämlich so, dass gerade die Unfreiheit des Willens Voraussetzung ist für die Möglichkeit menschlicher Schuld (s.u. 5.). Diese provokante Erwiderung ist nicht leicht zu begründen. Aber ganz leicht dünkt es mich, zusammen mit Wolfgang Frisch der Fahlschen These entgegenzutre17
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LG Köln, Urt. v. 7. 5. 2012, vorzüglich besprochen von Putzke, MedR 2012, 680 bzw.
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ten, dass „alle Formen der ,Prävention‘ (Verhinderung von Kriminalität) […] für ein deterministisch überzeugtes Strafrecht“ ausscheiden: „Durch Strafandrohung ließe sich nichts verändern, weder positiv noch negativ, weder beim Täter noch bei anderen“ (S. 98). Fahl übersieht, dass es unter vielem anderen auch Motive in den Köpfen der Menschen sind, die Veränderungen in der Welt bewirken oder verhindern, und Motive in beträchtlichem Maß auch „durch Strafandrohung“, erzeugt werden. Gewiss, der Determinist sieht es als zwangsläufig an, dass Menschen seinerzeit Drohungen geschaffen haben, die z. B. Ladendieben Strafe bzw. Hausverbot in Aussicht stellen; dahin ist es nach seiner Überzeugung mit Notwendigkeit gekommen. Aber dieser Befund spielt doch für die Frage der präventiven Zweckmäßigkeit einer Androhung übler Folgen nicht die geringste Rolle. Angenommen, ein Philosophieprofessor erfährt, dass seine Tochter in arger Weise eine Mitschülerin mobbt; er denkt lange und sorgfältig nach, was er tun soll und entscheidet sich schließlich, ihr ernste Vorhaltungen zu machen und ihr die Entziehung ihres Computers anzudrohen; tatsächlich bewirkt er, dass die Tochter aus Furcht vor der Strafe das andere Mädchen in Ruhe lässt. Hier hat die Strafandrohung über eine Motivbildung etwas verändert, negativ wie positiv: Die Mobberin leistet Verzicht, die Gemobbte fühlt sich wohler. Wenn sich nun der Professor auf seine deterministische Überzeugung besinnt, soll er sich dann sagen müssen, der Kausalverlauf, wie er ihm klar vor Augen liege, sei mit der Vorherbestimmtheit allen Geschehens unvereinbar und seine Strafandrohung habe keinen Sinn gehabt? Nein, er wird eben nur mit Genugtuung registrieren, dass in einem Geschehen, das in seinem Kopf wie in dem seiner Tochter mit Notwendigkeit sich so entwickelt hat, seine wohlerwogene innere Entscheidung sowie die verbale Ermahnung und Strafandrohung über die Motivierung der Tochter Gutes bewirkt haben. 5. Wie so viele will Fahl der deterministischen Weltanschauung missliche Konsequenzen für das alltägliche Denken und Handeln anlasten, die vor allem den Strafrechtler in Bedrängnis bringen. Aber die Konsequenzen bestreite ich. Für ein Strafrecht auf der Grundlage des Determinismus bleiben Schuldvorwürfe berechtigt, bleibt Abschreckung sinnvoll und verändert sich in keiner Weise der Spielraum bei der Deutung gesetzlicher Voraussetzungen, etwa Freiwilligkeit, Unterlassen, Vermeidenkönnen. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Relevant für das Strafrecht ist „das Freiheitsproblem“ insofern, als dem Menschen seine Entscheidungen und Handlungen zum Guten und Schlechten nur dann zugerechnet werden können, wenn sie mit strenger Notwendigkeit aus Motiven hervorgehen. Denn Motive bilden sich so, wie sie sich nach den gegebenen Umständen (wozu auch der Charakter des Menschen gehört) zwangsläufig bilden. Darum aber auch sind die so verursachten Entscheidungen des Menschen, mögen sie nun spontan-unüberlegt oder wohlerwogen zustande kommen, und seine (stets aus Entscheidungen hervorgehenden) Handlungen das Werk seiner Person, das ihm zuzurechnen ist. Wohingegen ein aus der Zwangsherrschaft des Kausalgesetzes entlassenes, nicht von Motiven erzwungenes Wollen und Handeln – von seiner Undenkbarkeit einmal abgesehen – auch nicht aus dem inneren Wesen des Menschen hervorginge; vom Kausalgesetz entbunden, wäre es zwar absolut frei, aber in seiner Nichtbedingtheit und Nichtnotwendigkeit ein Werk des Zu-
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falls. So verbietet die Unfreiheit des Willens nicht etwa den Schuldvorwurf, sondern sie ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass er erhoben werden darf. 6. Für das Strafrecht unerheblich scheint mir darum der Einwand, dass „auch unser (gegenwärtiges) Universum keineswegs lückenlos kausal determiniert“ sei (S. 114). Fahl beruft sich auf die bekannten und umstrittenen Beobachtungen in der Mikrophysik („Unschärferelation“), die Heisenberg 1927 zu C.F. von Weizsäcker haben sagen lassen: „Ich glaube, ich hab das Kausalgesetz widerlegt“. Wer den Glauben an die Widerlegung teilt und daraus ableitet, auch im Organischen fänden Bewegungen statt, für die das Kausalgesetz nicht gelte, der muss das auf pflanzliche, tierische und menschliche Zellen gleichermaßen erstrecken. Es ist unerfindlich, wie sich daraus ein Argument speziell für die Willensfreiheit des Menschen ergeben soll. Man könnte doch allenfalls sagen, dass auch in Gehirnen, welchen Lebewesens auch immer, Dinge vorgehen, die, obwohl wir es uns nicht vorstellen können, es gar nicht denken können, „in einem Widerspruch zur Gesetzlichkeit von Ursache und Wirkung“ (Fahl) stehen. Wenn nun auch einmal eine menschliche Entscheidung in diesem Sinne „ungesetzlich“, sprich: unverursacht, sich ereignen würde, so wäre sie in ihrer Ungebundenheit und Freiheit als ein Spiel des Zufalls dem Menschen, in dem sie sich ereignet hätte, gerade nicht zurechenbar. In unserem Problemzusammenhang ist oft davon die Rede, dass man von diesem und jenem „auszugehen“ habe. Wenn irgendwo einmal, dann dürfte man es hier: einfach davon ausgehen, dass das nicht sein kann, dass wir uns vielmehr auf das Kausalgesetz verlassen können und dass uns insoweit keine Unsicherheit einen Strich durch die Rechnung macht, wenn wir nicht blindem Zufall, sondern dem Menschen das als sein Werk zurechnen, was er beschließt und tut. Denn dies geht allemal hervor aus einem Motiv, das sich seinem Charakter gemäß und als Glied einer unendlichen Kausalkette in ihm gebildet hat (s. o. IV.). Ein Entschluss, der plötzlich da wäre, ohne von einem ursächlichen Motiv mit Notwendigkeit hervorgebracht worden zu sein, wäre einem Hund vergleichbar, den niemand erzeugt hat und der aus dem Nichts heraus auf einmal im Zimmer steht und bellt. 7. Ganz zuletzt wendet sich das Blatt. Fahl hat sich auf S. 114 – 116, ausgehend von mikrophysikalischen Beobachtungen, stark gemacht gegen die umfassende Geltung des Kausalgesetzes und für Indeterminismus und Willensfreiheit. Auf S. 116 – 121 zeigt er sich dagegen geneigt, im philosophischen Streit der „Annahme einer ausnahmslosen Kausalität, eines vollkommenen Determinismus“ (Planck) recht zu geben. Allerdings ist seine Herleitung eine andere. Auch gegen mich gerichtet fragt er (S. 117): „Aber was, wenn alles schon in unseren Genen festgelegt ist – wenn völlig unabhängig von Erziehung, Erfahrung, sonstigen Umweltbedingungen, bereits bei unserer Geburt feststeht, ob wir uns für das Gute oder Schlechte entscheiden, ob wir eine Straftat begehen werden oder nicht?“ Ich sehe wie Fahl die Zwangsläufigkeit jeden Tuns, aber mit einer „genetischen Veranlagung“, die jedes Verhalten unerbittlich festlegt, scheint sie mir falsch begründet. Angenommen, A und B, eineiige Zwillinge, kommen an einem kurzfristig unbewachten Imbissstand vorbei, wo
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A mit raschem Zugriff ein Fischbrötchen stiehlt. Wenn sich dem B die Gelegenheit genauso bietet, steht dann wegen der identischen genetischen Ausstattung fest, dass er das Gleiche tun wird? So konkret befragt, wird Fahl das gewiss verneinen. Schon die „Umweltbedingung“ eines gut gefüllten Magens kann den Ausschlag geben, dass B achtlos am Imbissstand vorübergeht. Aber auch die „Erfahrung“, dass die Fischbrötchen nicht schmecken, kann ihn vom Diebstahl abhalten. Und ebenso ist denkbar, dass B als Kind in einer anderen Familie gelebt und dank einer besseren „Erziehung“ stärkere Hemmungen entwickelt hat. Ich kann nicht glauben, dass Fahl mir da widersprechen wird. Dann muss er aber die Hypothese preisgeben, auf die er seinen eigenwilligen Determinismus stützt. Zwar stand schon bei der Zwillingsgeburt fest, dass an diesem Ort zu dieser Zeit A ein Fischbrötchen stehlen und B keines stehlen werde. Aber es scheint mir nicht richtig, zu sagen, dies habe „völlig unabhängig von Erziehung, Erfahrung, sonstigen Umweltbedingungen“ festgestanden. „Die Gene“ haben nicht die monokausale Bedeutung, die Fahl – mit dem Vorbehalt weiterer wissenschaftlicher Klärung – ihnen zuschreibt. Auch die situativen, aktuell entstehenden Motive verursachen unser Tun, und sie bilden sich auf einer breiteren Grundlage als der genetischen Ausstattung: auf der Grundlage des individuellen Charakters, wie er sich mit seinen ererbten Anlagen und von Umweltfaktoren beeinflusst im Lauf des Lebens ausprägt und in Grenzen verändert. Auch von einem so korrigierten Determinismus wird Fahl freilich sagen, dass er „das ganze strafrechtliche Modell zum Einsturz“ bringe (S. 116). Aber eben das bestreite ich. Der Determinismus ist vielmehr das Fundament, worauf das Modell allein bestehen kann, weil freie, d. h. von bestimmenden Motiven gelöste, vom Zwang des Kausalgesetzes befreite Entscheidungen und Handlungen – wenn es sie gäbe! – dem Menschen nicht zurechenbar wären. Nur der Determinist kann am Schuldstrafrecht mit gutem Gewissen festhalten.
VII. Dies zuletzt Gesagte zu bestätigen, ist der Jubilar gewiss noch nicht bereit. Aber dafür bestätige ich ihm mit voller Überzeugung seine Kernaussage, dass eben dieses Schuldstrafrecht „gegenüber einem Präventionsstrafrecht deterministischer Prägung, wie es Franz von Liszt, später den Anhängern der Défense sociale und heute manchen Hirnforschern vorschwebt, deutliche Vorzüge aufweist“. Das sagen bekanntlich die meisten Strafrechtsprofessoren. Aber ich kenne niemanden, der es so eindringlich und einleuchtend begründet, wie dies jetzt Wolfgang Frisch tut. Hier kann ich die Begründung nur mit den Stichworten andeuten, die sich bei Frisch in den Zwischenüberschriften finden. In einzelnen Abschnitten vergleicht er immer wieder das Schuldstrafrecht mit dem von der Schuldidee „befreiten“ Präventionsstrafrecht und legt sorgfältig dar, dass das Schuldstrafrecht viel stärker bestrebt sei, die Freiheiten des Täters zu schonen, dass es, entgegen verbreiteter Behauptung, das mildere Recht sei; dass es ferner „generalpräventiv effizienter“ sei; und schließlich, dass es den „in der Gesellschaft herrschenden Vorstellungen“ viel
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besser entspreche und dass auch die „sonstigen Vorgaben des Rechts“ entschieden für seine Beibehaltung sprächen. Das alles begründet Wolfgang Frisch rundum überzeugend. Es ist also vorzugswürdig, nach rechtswidrigen Taten die strafrechtlichen Sanktionen mit einem Schuldvorwurf zu verbinden und sie von seiner Berechtigung abhängig zu machen. Es ist also die rechte gesetzliche Weichenstellung, Schuldvoraussetzungen aufzustellen und Schuldausschließungsgründe zu benennen, sodass auch gefährliche Unrechtstäter oft unbestraft bleiben. Und es ist eine gute Regelung in § 46 StGB, dass für „die Zumessung der Strafe“ nicht die Gefährlichkeit, sondern wiederum „die Schuld des Täters […] die Grundlage“ ist. Aber nach all diesen wohlbegründeten Feststellungen drängt sich mir eine Frage auf: Würde Frisch die Überlegenheit und Vorzugswürdigkeit des Schuldstrafrechts nicht mehr erkennen und anerkennen, wenn er einmal probehalber davon ausginge, dass der Mensch keine „Willensfreiheit im Sinne der Freiheit zum rechtlich Gesollten“ habe? Dies ist, wie dargelegt, meine Sicht der Dinge, und Wolfgang Frisch hält es immerhin für möglich, dass sie zutrifft. „Wir haben es“, sagt er, „auf empirischer Ebene mit einer Situation des non liquet zu tun“. Angenommen nun, die Verneiner der Willensfreiheit haben nicht nur nach ihrer Überzeugung, sondern auch objektiv die Wahrheit auf ihrer Seite: Ist es dann etwa nicht gut, dass wir mit dem StGB von Anfang an ein Schuldstrafrecht zugrunde gelegt und praktiziert haben? All die starken Sachgründe, die Frisch anführt, sind sie dann null und nichtig? Nein, auch – und m. E. gerade! – der Determinist tut gut daran, die Strafe an die Schuld zu binden und z. B. für Kinder und in manchen Notstandsfällen die Schuld zu verneinen. Wer das einräumt – und es scheint mir kaum bestreitbar –, der sagt dann aber auch: Wolfgang Frischs grandioses Plädoyer zugunsten des Schuldstrafrechts beweist uns, dass die Schuldidee und das Schuldstrafrecht keine Willensfreiheit voraussetzen. Mit dieser Hervorhebung setze ich einen Schlusspunkt und widme meinen Beitrag dem Jubilar in herzlicher Verbundenheit. Ich wünsche ihm noch viele Jahre der Schaffenskraft. Seine Werke zu studieren war mir immer eine Freude, ein intellektueller Genuss und großer Gewinn. Ich habe mich seinen Gedanken und seinem ganz persönlichen Stil immer besonders nahe gefühlt. Möge ihm in dieser Art noch Vieles gelingen!
Zur Dogmatik der Kriminalpolitik Von Ricardo Robles Planas* In Europa wurde das Nachdenken über das Strafrecht von einem systematischen Blickpunkt aus zuerst und entscheidend durch die spanische Spätscholastik vorangetrieben1. Später übernahmen deutsche Autoren den Staffelstab und entwickelten das, was heute als Strafrechtsdogmatik definiert wird. Es waren unter anderen Feuerbach, Binding und von Liszt, die die Institutionen der Straftatlehre sowie der modernen Kriminalpolitik genauer formten, die sich später in die Rechtskultur kontinentaler Prägung ausgebreitet haben. Dies zeigt, dass die Großartigkeit der Strafrechtswissenschaft darin liegt, dass sie weder Grenzen noch Gesetzgeber, sondern vielmehr tiefgreifende rationelle Überlegungen über die Gerechtigkeit, die Verantwortung und den Sinn der Bestrafung kennt. Und es zeigt auch, dass die im 16. Jahrhundert in Spanien begonnene wissenschaftliche Diskussion im Laufe der Zeit durch die Beiträge großer Dogmatiker zu den oben genannten und anderen Grundfragen stetig bereichert worden ist. Ohne Zweifel gehört mein deutscher Lehrer, Wolfgang Frisch, zu dieser Kategorie: Er hat eine Vielzahl an wertvollen und unersetzbaren Beiträgen zu der Strafrechtsdogmatik geleistet. Mit den bescheidenen Überlegungen der vorliegenden Arbeit bringe ich meine Ehrerbietung dar, und ich wünsche Prof. Frisch, dass er die Strafrechtsdogmatik noch viele Jahre weiter kultivieren möge.
I. Der materielle Straftatbegriff und die Dogmatik der Kriminalpolitik Die Diskussion über den materiellen Straftatbegriff ist so alt wie das Strafrecht selbst. Dabei geht es im Kern darum, abstrakte allgemeine – übergesetzliche – Kriterien dafür zu formulieren, was die Straftat singularisiert. Solche Kriterien sollen die Einnahme eines kritischen Blickpunktes gegenüber dem ermöglichen, was der Gesetzgeber als strafrechtlich relevant im Strafgesetz vorsieht. In diesem Sinne wäre vor allem der materielle Straftatbegriff tauglich, um der Strafgewalt des Staates Grenzen zu setzen. Zwar ist das Ergebnis dieser Diskussionen – wie fast alles in der Strafrechtswissenschaft – sehr uneinheitlich gewesen, und es ist nicht möglich zu behaup*
Ins Deutsche übersetzt von Dr. Nuria Pastor, Barcelona – überarbeitet von Andreas Dornseifer. 1 Vgl. nur Maihold, Strafe für fremde Schuld. Die Systematisierung des Strafbegriffs in der Spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre, 2005, passim.
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ten, es gäbe einen deutlichen, endgültigen Konsens in der Frage, worin der materielle Straftatbegriff bestehen soll. De facto leugnen einige heutzutage jede Relevanz dieses kritischen vorpositiven Blickpunkts2. Jedoch ist besonderes Alleinstellungsmerkmal rechtswissenschaftlicher Arbeit die Aufgabe, zu analysieren, ob die gesetzgeberischen Entscheidungen den Kriterien materieller Legitimität entsprechen, die im Lauf der Zeit von einer bestimmten rechtlichen Kultur entwickelt worden sind, oder ob hingegen solche gesetzgeberischen Entscheidungen blobe Machtausübung darstellen3. Dieses auf rationale Erwägungen beruhende Urteil gilt gemeinhin als unverzichtbar4. Trotz der unstrittig vorliegenden Schwierigkeit sowohl in der Bearbeitung dieses Urteils als auch in der Systematisierung der von der Literatur formulierten Kriterien und Vorschläge ist in dem Rahmen der nachfolgenden Ausführungen beabsichtigt, zu der Entwicklung der Dogmatik des materiellen Straftatbegriffs sowie – allgemeiner formuliert – zu der Entwicklung der Dogmatik der Kriminalpolitik (bescheiden) beizutragen. Der Ausdruck „Dogmatik der Kriminalpolitik“ könnte verwundern. Wird die Dogmatik in einem begrenzten Sinne also als eine ausschließlich auf die Auslegung und Systematisierung des positivierten Rechts bezogene Dogmatik verstanden, ist ihre Unterordnung unter die kriminalpolitische Tätigkeit des Gesetzgebers – wenigstens rein zeitlich gesehen – deutlich. Jedoch wird die dogmatische Tätigkeit hier nicht in diesem Sinne verstanden. Denn diese Diziplin, die Dogmatik, ist einerseits stets in der Lage gewesen, ehrgeiziger zu wirken. Andererseits ist es nicht möglich, auf eine Methode und eine Form des Nachdenkens über den Gegenstand zu verzichten, die gerade die Behandlung und Kritik dieses Gegenstandes von weitgehend akzeptierten bzw. akzeptablen Rationalitätsparametern ausgehend ermöglicht, wenn die Kriminalpolitik authentischen Parametern wissenschaftlicher Rationalität unterzogen werden soll5. In dieser Hinsicht ist der Beitrag der Dogmatik zu der Strafrechtswissenschaft (die die Kriminalpolitik umfasst) unverzichtbar. Denn die Dogmatik thematisiert, systematisiert und legitimiert bzw. de2 Skeptisch z. B. Kuhlen, in: Wolter/Freund, Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 86 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 5. Aufl., 2004, 2/4 ff. 3 Cfr. Silva Sánchez, in: Wolter/Freund, El sistema integral del Derecho penal, 2003, S. 29; derselbe, InDret 3/2008, 1; Robles Planas, ZIS 5/2010, 358. Roxin, der zu Beginn seines Lehrbuchs fast sechzig Seiten der Frage des materiellen Straftatbegriffs widmet, führt aus: „(d)er materielle Verbrechensbegriff ist also dem Strafgesetzbuch vorgelagert und liefert dem Gesetzgeber einen kriminalpolitischen Maßtab dafür, was er bestrafen darf und was er straflos lassen soll“ (Strafrecht, AT I, 4. Aufl., 2006, S. 13 f.). 4 So Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, S. 13. s. auch Frisch, in: Wolter/Freund (Fn. 2), S. 141 f. El sistema integral del Derecho penal, 2003, S. 206 ff. In Spanien appelliert klar Díez Ripollés, La racionalidad de las leyes penales, 2003, S. 15 an Rationalitätskriterien. Mit Recht erklärt Sánchez-Ostiz Gutiérrez („Política criminal sobre la base de principios“, Revista Peruana de Ciencias Penales, N. 20, 2008, S. 394): „soweit das Gesetz nicht als reines Erzeugnis des Willens begriffen wird – ganz gleich wie legitim die das Gesetz erlassende Instanz ist – sondern auch als Erzeugnis der Vernunft, entwickeln die Prinzipien eine unersetzbare kritische Kraft“. 5 Vgl. Binding (Fn. 4), S. 13.
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legitimiert von einem überlegenen, abstrakteren sowie auf tiefe politisch-philosophische Zusammenhänge hin orientierten begrifflichen Schema ausgehend den Gegenstand der gesetzgeberischen Tätigkeit6. Ein begriffliches Schema, das in der Lage ist, in der Tätigkeit des Gesetzgebers entweder etwas rein Kontingentes, Konjunkturelles bzw. sogar Verachtenswertes oder eine authentische Erscheinung des „Zeitgeistes“ – um die Hegelsche Terminologie zu verwenden – zu erkennen. Dies heibt nicht, dass es in einem modernen Rechtsstaat möglich ist, die Kriminalpolitik durch die Dogmatik bzw. den Gesetzgeber durch den Dogmatiker zu ersetzen. Jedoch heibt dies, dass die Dogmatik tatsächlich der Ort der Meta-Kriminalpolitik ist, so dass sie in diesem Maße am besten in der Lage ist, die Meta-Kriminalpolitik von einem legitimierenden Diskurs ausgehend zu analysieren, sowie viel standhaftere und sicherere Schlussfolgerungen zu erreichen als solche, zu denen das Spiel der politischen Mehrheiten und der ideologischen Vereinbarungen führt. Von diesem Blickpunkt aus erweist sich der berühmte, von Roxin seit den siebziger Jahren7 gezeichnete Horizont, d. h. die Einbeziehung kriminalpolitischer Betrachtungen in die Dogmatik, wenigstens als unvollständig: Denn es geht auch um die Einbeziehung dogmatischer Betrachtungen in die Kriminalpolitik.
II. Die Dimensionen der Autonomie 1. Der Begriff der Autonomie stellt die robusteste aller Konstruktionen dar, die als Ausgangspunkt jeder Überlegung über den Sinn der normativen Verbote und Gebote gewählt werden kann8 : Ein Verhalten stellt materiell eine Straftat dar, wenn es die Reduktion des rechtlich anerkannten Handlungspotenzials einer anderen Person mit sich bringt. In diesem Maße lässt sich die Autonomie mit der Summe der den Personen rechtlich gewährleisteten Handlungspotenziale oder in einer herkömmlicheren Weise ausgedrückt mit dem Ensemble der rechtlich gewährleisteten individuellen Rechte gleichsetzen. Jedoch ist der Autonomiebegriff nicht mit dem bloßen formellen Innehaben solcher Rechte gleichzusetzen. Zwar ist die grundsätzlichere Erscheinung der individuellen Autonomie das als Ausschlussrecht verstandene Freiheitsrecht (im Folgenden Freiheit oder Autonomie als Ausschlussgarantie). Jedoch ist die Anerkennung von Handlungspotenzialen in dem Maße sinnvoll, in dem diese der Entwicklung der Individuen dienen, d. h. in dem Maße, dass sie von ihren Inhabern frei genutzt werden dürfen. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet, liegt die Autonomie nicht darin, „Ausschlussrechte zu sammeln“, sondern darin, solche Rechte so nutzen zu können, wie der Einzelne es für sich entscheidet. Es ist also 6 Kurz ausgedrückt: Es geht um ein System. Vgl. insbesondere Pawlik, FS Jakobs, 2007, S. 469 ff. sowie Zaczyk, ZStW 123 (2011), 695 ff. Siehe auch Robles Planas, ZIS 5/2010, 357 ff. m.w.N. 7 s. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970, passim. 8 Vgl. statt vieler Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 124 ff., 177 ff., 264 ff. und passim.
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selbstverständlich, dass das Eigentum an einer Sache absurd wird, wenn die Bedingungen seiner Nutzung nicht gewährleistet sind. Deshalb werde ich diese Dimension der individuellen Autonomie Freiheit oder Autonomie als Nutzbarkeit nennen. Aus diesem Grund kann auch gewissermaßen von den Anderen Achtung gegenüber der in dem eigenen Organisationskreis stattfindenden konkreten persönlichen Entwicklung verlangt werden. Nun aber erfordert das Ideal der Autonomie eine weitere Nuancierung. In der Tat setzt die wirkliche Autonomie der Bürger einen institutionellen Kontext voraus. Es wäre etwas blauäugig, dabei an dem vorstaatlichen Charakter der individuellen Autonomie festzuhalten. Denn selbst wenn ihr ein solcher Charakter zugeschrieben würde, scheint es außer Diskussion zu stehen, dass der Ort, in dem sich die individuelle Autonomie verifiziert, die staatliche Gemeinschaft ist. Es geht in Pawlikscher Terminologie darum, „in einer Ordnung wirklicher Freiheit zu leben“, eine Ordnung, die die Wahrheit der individuellen Autonomie möglich macht, was notwendigerweise mit sich bringt, die Kosten der Aufrechterhaltung einer solchen Ordnung zu übernehmen9. Hier erweist sich der auf der Verletzung von Rechtsgütern stützende Gedanke als besonders störend: Die institutionelle Verpflichtung zur Herstellung und Aufrechterhaltung der individuellen Autonomie wird nicht durch die Güterverletzung, sondern nur durch die Verletzung von Normen verletzt, die die Herstellung und Aufrechterhaltung der Autonomie gewährleisten10.
III. Die Prinzipien der Rechtfertigung Wenn es in den kriminalpolitischen Überlegungen in letzter Instanz um die Legitimation (bzw. Delegitimation) des strafrechtlichen Eingriffs geht, und im Rahmen dieser Überlegungen festgestellt wird, dass der strafrechtliche Eingriff das Verbot der allgemeinen Handlungsfreiheit sowie zusätzlich die Sanktion der Verbotsverstöße mit Strafe bedeutet, dann deutet alles darauf hin, dass eine „Theorie der Rechtfertigung“ des Verbots sowie der Strafe notwendig ist. Soweit ich es zu beurteilen vermag, kann die in der Straftattheorie entwickelte Theorie der Rechtfertigung ein dogmatisches Instrument erster Ordnung darstellen, um mutatis mutandis die Fragen der Legitimierung des strafrechtlichen Eingriffs anzugehen. Insbesondere bin ich der
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Pawlik, Person, Subjekt, Bürger. Zur Legitimation von Strafe, 2004, S. 82: „kennzeichnend für die Rolle des Bürgers ist es, Mitverantwortung für den Bestand der soeben angesprochenen Realbedigungen seiner eigenen Freiheit zu übernehmen“. 10 Der hier skizzierte Autonomiebegriff bedeutet, neben der Freiheit auch die Dimensionen der Sicherheit sowie Wohlbefinden in Betracht zu ziehen (dies wird von Jakobs, FS Amelung, 2009, S. 48, Fn. 68 ohne weitere Entwicklung vorgemerkt). s. auch insbesondere Pawlik (Fn. 9), passim, der den Versuch unternimmt, mehrere Institutionen der Theorie der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortung sowie die Legitimation der Strafe selbst aus der Perspektive der Differenzierung zwischen Person, Subjekt und Bürger zu erklären.
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Meinung, dass die grundsätzlichen Leitprinzipien, die den Rechtfertigungsgründen zugrunde liegen, durchaus auf das Problem der Rechtfertigung des Verbots und der Strafe übertragbar sind: das Prinzip der Verantwortlichkeit und das Prinzip der Solidarität. Bekanntlich folgte aus der Zusammenlegung dieser beiden Prinzipien die Differenzierung von drei möglichen Situationen nämlich der Notwehr, dem defensiven Notstand sowie dem aggressiven Notstand11.
IV. Der Bereich des Verbots: die drei Paradigmen der Legitimation 1. Werden die Dimensionen der Autonomie, die rechtlichen Schutz verdienen, mit den Rechtfertigungsprinzipien in Verbindung gebracht, lassen sich operative Kriterien der Legitimation der normativen Verbote erzielen. In der Tat wäre es möglich, die Logik der Notwehr auf die Angriffe gegen die Autonomie als Ausschlussgarantie – deren Paradigma das Paradigma Verletzung-Angriff ist – anzuwenden. Auf die Angriffe gegen die Autonomie als Nutzbarkeit – deren Paradigma die Unsicherheit für Güter ist: die abstrakte Gefahr – könnte die Logik des defensiven Notstands angewendet werden. Schließlich wäre es möglich, auf die institutionelle Dimension der Autonomie – deren Paradigma die Solidaritätspflichten sind – die Logik des aggressiven Notstands anzuwenden. Soweit die Person zunächst an dem Schutz ihrer Autonomie Interesse hat, können Normen für diejenigen Verhaltensweisen begründet werden, die die drastische Verletzung der Freiheitsrechte der Person mit sich bringen, d. h. für diejenige Verhaltensweisen, die eine Ingerenz in die rechtlich anerkannten Individualsphären darstellen, die in der Beeinträchtigung bzw. dem Versuch einer Beeinträchtigung der Substanz der Rechte besteht. Dem von dem Verbot Betroffenen gegenüber kann angeführt werden, das Verbot sei auf der vollständigen Verantworlichkeit des Betroffenen für den Angriff begründet (Struktur der Notwehr). Ebenfalls ist es klar, dass das Vorliegen von Normen gerechtfertigt ist, wenn sie Bezug auf Verhaltensweisen nehmen, die die Herbeiführung von Gefahren mit sich bringen, die wiederum dem Opfer bzw. den potenziellen Opfern die Benutzung ihrer Rechte ungewiss oder unsicher ma-
11 Methodologisch bringt dies Folgendes mit sich: Auf dem Gebiet der Rechtfertigung besteht ein beeindruckender begrifflicher Apparat, der im Laufe von Jahrzehnten entwickelt worden ist, um die Auferlegung von Duldungspflichten bzgl. Subjekte zu legitimieren, die von tatbestandsmäßigen aber gerechtfertigten Handlungen betroffen worden sind. Daher ist der wesentliche Aspekt, auf dem die Theorie der Rechtfertigung aufbaut, die rationale Akzeptanz der Selbsteingrenzung seiner Freiheit durch jeden Bürger als autonomes und verantwortliches Subjekt (vgl. insbesondere die brillante Formulierung von Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 237). Daher stammt die strukturelle Analogie zu dem Problem der Rechtfertigung der Verbote und strafrechtlichen Sanktionen. Im Übrigen bestimmen die Prinzipien der Rechtfertigung die Konkretisierung des allgemeinen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und tragen insoweit zu seiner operativen Entwicklung in deontologischer Hinsicht bei.
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chen12. Diese Rechtfertigung stüzt sich auf die – auch wenn nicht vollständige – Verantwortung wegen der Herbeiführung der Gefahr in dem eigenen Organisationsbereich, ebenso wie dies bei dem defensiven Notstand der Fall ist. Schließlich: Soweit die instutionellen Bedingungen der Herstellung und Aufrechterhaltung der Freiheit legitimer Gegenstand rechtlichen Schutzes sind, sind auch diejenigen Normen legitim, die sich auf Verhaltensweisen beziehen, die gegenüber solchen Institutionen deutlich illoyal sind. In diesem Fall ebenso wie in der Grundstruktur des aggressiven Notstandes obliegt dem von der Norm Betroffenen eine Mitwirkungs-, Förderungsoder Solidaritätspflicht – n. b.: eine positive Pflicht, ein Gebot –. 2. Bezüglich der Tragweite und Grenzen, die die Normen in den genannten Schädlichkeitsdimensionen erreichen können, wird die Frage erheblich komplizierter. Jedoch muss sich ein mit dem Gesagten konsequenter Versuch der Systematisierung solcher Grenzen auf die den genannten Rechtfertigungsstrukturen eigenen Grenzen stützen. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass es von dem hier vertretenen Standpunkt aus jedenfalls um deontologische Grenzen zu der Etablierung von Verhaltensnormen geht. a) In dem Bereich der die Freiheitsrechte verletzenden Verhaltensweisen, die in der Beeinträchtigung bzw. dem Versuch einer Beeinträchtigung der Bezugsobjekte solcher Rechte (Freiheit als Ausschlussgarantie) bestehen, müssen die Grenzen zur Etablierung von Verhaltensnormen notwendigerweise sehr niedrig sein. In der Tat: Angesichts der Fakten, dass wir uns im Rahmen des Schädlichkeitsparadigmas13, d. h. im Rahmen von auf die Beeinträchtigung rechtlich gewährleisteter Güter und Freiheiten gerichteten Verhaltensweisen befinden, sollten kaum Bedenken gegen ihr Verbot bestehen, so wie es auch im Rahmen der Notwehr der Fall ist. Hier spielt die niedrigere Relevanz des angegriffenen Gutes keine maßgebliche Rolle für die Einschränkung der Verbote von Verhaltensweisen, die sich als „aktueller“14 Angriff gegen rechtlich garantierte Rechte erweisen. Der Täter verletzt seine negative Pflicht und der dadurch Betroffene kann darauf in Notwehr antworten. Aus denselben Gründen darf der Staat solche Verhaltensweisen – legitimerweise – verbieten. Würde er dies unterlassen, hieße dies, vollständig auf den Schutz des Rechts zu verzichten, was den Verlust der rechtlichen Garantie des Rechts bedeutete. Trotzdem können in einigen Bereichen Einschränkungen der Möglichkeit der Legitimierung von Verbotsnormen begründet werden: Einerseits in den Fällen der Insignifikanz des Gutes bzw. des betreffenden Angriffs; andererseits in Bereichen der „Sozialadäquanz“. In dem ersten Fall geht es um Bereiche, in denen der Betroffene nicht einmal die Erwartung 12 Zutreffend sagt Pawlik (Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 310) in Bezug auf den defensiven Notstand, dass „(d)er Eingriffsadressat gegen seine Pflicht verstoßen hat, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Sicherheit anderer Personen zu gewährleisten“. 13 Und, so weit ich sehe, auch in dem Paradigma der konkreten Gefahr wegen der strukturellen Identität der Letzteren mit dem Verletzungsversuch. 14 Stellt das Verhalten keine aktuelle Anmaßung dar, dann ist es nicht möglich, auf dieses Paradigma der Legitimierung des Verbots zurückzugreifen, sondern auf das Paradigma des defensiven Notstandes, so wie es in den sog. Vorbereitungshandlungen geschieht.
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normativen Schutzes hat, so dass er die an ihn gerichteten schädlichen Verhaltensweisen akzeptiert und wenn nicht, den Schutz vor solchen Verhaltensweisen selbst übernimmt. In dem zweiten Fall lässt sich in ähnlicher Weise vertreten, dass selbst die Inhaber des Rechts bzw. der Freiheit nicht das Bedürfnis empfinden, sich vor solcher Art von Verhaltensweisen zu schützen; in der Regel werden solche Verhaltensweisen nicht vermieden. Selbstverständlich sind beide Einschränkungen der Möglichkeit des Verbietens von Verhaltensweisen sehr begrenzt. Analog dazu, was in den sog. „sozial-ethischen Einschränkungen der Notwehr“ geschieht, wird mit der Behauptung der genannten Einschränkungen der Verbotsmöglichkeit letzlich an ein unverzichtbares Solidaritätsminimum derjenigen appelliert, die den Angriff gegen ihr Recht erleiden. Und dies ist in dieser Legitimationsstruktur nur ausnahmsweise möglich zu begründen. b) Auch in dem Bereich der Autonomie als Garantie der Verfügbarkeit über die Rechte und Freiheiten ist es möglich, eine große Anzahl von Verbotsnormen zu begründen. Hier hat die Festsetzung von Normen ebenso wie in den Grundsitutationen der Struktur des „defensiven Notstands“ das Ziel zu vermeiden, dass es aus den Bürgern Gefahren entstehen, die den Genuss der Rechte der anderen Bürger unsicher machen. Soweit solche Gefahren aus der Organisationssphäre des von dem Verbot Betroffenen entstehen, ist ein solches Verbot durch das Verantwortlichkeitsprinzip umfassend legitimiert. Dies geschieht in vielen Fällen „abstrakter Gefährdung“15. Selbstverständlich liegt die Besonderheit dieser Legitimationsstruktur darin, dass sie im Unterschied zu der vorherigen Struktur (dem „Recht auf Sicherheit“) eine weniger feste Basis für den Aufbau von Verhaltensnormen darstellt: Es geht nicht darum, dass ein Bürger die Sicherheit der Anderen gewährleisten muss, sondern darum, einen bestimmten bereits vorliegenden status quo zu respektieren. Gerade aus diesem Grund wird hier von negativen Pflichten gesprochen. Daher ist das Verbot dort legitim, wo von den Bürgern verlangt werden darf, dass sie bestimmte Bedingungen nicht ändern, die die Wirklichkeit der Rechte und Freiheit im Prinzip gewährleisten. Somit sind die Grenzen zur Festsetzung von Verhaltensnormen in dieser Legitimierungsstruktur schärfer. Zunächst dürfen nur Ingerenzen verboten werden, die in denjenigen Bereichen stattfinden, die einen wesentlichen Teil der Bedingungen zur Nutzung des Freiheitsrechts der Anderen darstellen16. Zweitens muss die Art von Verhaltensweisen eine Gefahr in dem Sinne darstellen, dass ihre Ausführung die Ausübung des Freiheitsrechts ungewiss macht17. Schließlich überschreitet das Verbot die Legitimitätsschwelle dort, wo die von dem Verbot Begüngstigten mit dem von 15 In der Tat hat Binding, Die Normen und ihre Übertretung, B. I, 1922, 4. Aufl., S. 397 ff. die Fälle abtrakter Gefährdung abseits der Fälle von Verletzung und konkreter Gefährdung (genauso wie in dem vorliegenden Text) gerade in dem Bereich des von Binding sogenannten „reinen Ungehorsams“ neben anderen Fällen von Verboten eingeordnet, in denen es durchaus unmöglich ist, von Gefahr zu sprechen (anders als in dem hiesigen Beitrag). 16 Deshalb können Verhaltensweisen wie die Prostitution nicht legitim verboten werden. 17 Das ist die operative Grenze z. B. bei den sog. Vorbereitungshandlungen.
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dem Verbot Betroffenen solidarisch sein müssen, d. h., wo Erstere die Ausführung von Verhaltensweisen durch den Letzteren dulden müssen, die ihre Rechte beeinträchtigen, weil das geschützte Freiheitsrecht vor der Preisgabe nachgibt, die die konkrete Einschränkung der Handlungsfreiheit solcher Art von Handlungen – die durch den von dem Verbot Betroffenen ausgeführt werden – mit sich bringt. Diese Solidaritätsforderung ist nicht zu intensiv, da die Gefahr aus dem Verantwortlichkeitsbereich des von dem entsprechenden Verbot Betroffenen entsteht. Jedoch ist wie bei dem Maßstab des defensiven Notstands das Verbot dort nicht legitim, wo die verbotene Freiheit ein deutlich höheres Gewicht als die (in dem Sinne der Möglichkeiten der Ausübung des fraglichen Rechts) gewonnene Freiheit hat18. c) In dem Bereich der institutionellen Bedingungen der Freiheit sind die Kriterien der Legitimierung von Normen verschwommener und in der theoretischen Diskussion besonders unterentwickelt. In der Tat geht es zunächst strukturell um positive Pflichten, die sich in tatsächliche Gebote übergehen19. Solche Gebote haben den Sinn, institutionelle Bedingungen wegen ihrer Relevanz für die soziale Organisation der Autonomie zu fördern. Das Verhalten des von der Norm Betroffenen bedeutet allerdings keine Schaffung von Gefahren für fremde Rechte. Daraus folgt die Identität mit den dem aggressiven Notstand eigenen Situationen: Es wird von dem bzgl. der Gefahrsituation fremden Bürger eine positive Leistung zur Aufrechterhaltung der Freiheit (des Bedürftigten) verlangt. So weit ich es sehe, ist die Frage gänzlich unbehandelt geblieben, welche Art von „Gefahren“ für die soziale Organisation der Freiheit diejenigen sind, die in eine Etablierung von Pflichten für die Bürger münden dürfen. Selbstverständlich ist hier die weitere Entwicklung dieser Frage nicht möglich; vorerst lässt sich vorläufig feststellen, dass es sich um Gefahren handeln muss, die mit sich bringen, dass der Staat das Funktionieren der vorhandenen institutionellen Bedingungen in einer nicht irrelevanten Weise ändern muss, um solche Gefahren in der Zukunft zu vermeiden. In diesem Sinne scheint es keine Hindernisse gegen die Einbeziehung des Gedankens der Kumulation in die Gestaltung derjenigen Gefahren zu geben, die einen die Freiheit einschränkenden normativen Eingriff gerade in Bezug auf Verhaltensweisen rechtfertigen, die nur kumulativ, d. h. in Verbindung mit anderen Verhaltensweisen, eine Gefahr für ein kollektives Gut darstellen können. Hier wird von den Bürgern nicht so sehr die Unterlassung des Verhaltens wegen der (in der Wirklichkeit nicht 18 Ein gutes Beispiel sind die sog. (Betäubungsmittel-, Pronographie- oder Waffen-)Besitzhandlungen, deren Verbot der oben erwähnten Spannung zwischen der verlorenen Freiheit und der gewonnenen Freiheit unterzogen ist. So wird hier die Nichtbestrafung der einer Lizenz unterworfenen Jagd mit Waffen akzeptiert, nicht aber die Nichtbestrafung der privaten Anhäufung von Sprengstoffen, um sich gegen zuküftige Feinde zu verteidigen. Zu den Besitzdelikten s. Pastor Muñoz, GA 2006, 793 ff. 19 Zur der materiell-dogmatischen Unterscheidung zwischen Verboten und Geboten (die ihrerseits wieder wie Handlungspflichten – Gebote im gesetzlichen Sinne – und Unterlassungspflichten – Verbote im gesetzlichen Sinne – positiviert erscheinen können) siehe vor allem Sánchez-Vera Gómez Trelles, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 89 ff.
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vorhandenen) mit dem Verhalten verbundenen Gefahr für das Gut verlangt, als vielmehr eine Art Solidarität bezüglich des Gutes wegen seiner institutionellen Bedeutung20. Natürlich müssen für die Legitimation des Verbots die verbleibenden Bedingungen erfüllt sein, worauf im Folgenden hingewiesen wird. Jedoch ist es selbstverständlich, dass die Garantie institutioneller Ordnung zunächst dem Staat zukommt. Aus diesem Primat entsteht eine wichtige Grenze zu der Einschränkung der Freiheit der Bürger durch Normen, die positive Leistungen verlangen. Der Staat ist also derjenige, der die Verfahren zur Vermeidung von Verletzungen der institutionellen Bedingungen der Freiheit organisieren muss. So geht allgemein unser Freiheitsverzicht nicht über das Notwendige hinaus, damit der Staat institutionelle Verfahren mit dem Ziel organisiert, die Autonomie der Bürger zu gewährleisten. Hingegen akzeptieren wir nicht, jederzeit verfügbar zu sein, um diese Garantie individuell (als Privatpersonen) herzustellen. Dieser erste grundsätzliche Blickpunkt schränkt die Möglichkeiten der Legitimation von diesem Paradigma eigenen Verhaltensnormen beträchtlich ein, und er kann in dem Begriff der „okklusiven Wirkung“ der institutionalisierten Verfahren zusammengefasst werden. In diesem Punkt werden die Amtsträger sowie die an sie gerichteten Pflichten relevant. Die Auferlegung eines Pflichtenbündels wirkt als eine echte Verschlussklausel des Systems des (institutionellen) Schutzes der Freiheit. Nun ist es aber notwendig, die Effektivität der von ihnen erteilten legitimen Befehle zu gewährleisten, so dass die „Gehorsampflichten“ der Bürger auch als (in einem gewissen Sinne zu den Pflichten der Amtsträger symmetrische) Verschlussklauseln des Systems wirken. Beide Arten von Normen sind durchaus legitimierbar und gewinnen aus diesem Paradigma der Legitimation der Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit heraus an Sinn. Jedoch gilt eine solche „okklusive Wirkung“ nicht ohne Grenzen. Letztere werden ohne Zweifel in den Fällen erreicht, in denen die Artikulierung eines institutionell organisierten Verfahrens unmöglich oder nur in Verbindung mit inakzeptablen Kosten möglich ist. Dann können die Normen die Bürger dazu verpflichten, an der Herstellung von Garantien teilzunehmen. Denn eine solche Freiheitseinschränkung verstößt nicht gegen das anfängliche Programm der Verteilung von Zuständigkeiten, in dessen Rahmen der Staat den Auftrag hat, sich um die Gewährleistung der wirklichen Autonomie der Bürger zu kümmern. Vielmehr lässt sich vertreten, dass die genannte Einschränkung die Entwicklung bzw. notwendige Ergänzung dieses Programms darstellt. Dabei würde der Staat seine Zuständigkeit nicht vernachlässigen, sondern um Hilfe bei der Erfüllung dieser Zuständigkeit bitten, vorausgesetzt, dass es keine praktikable Alternative dazu geben würde, auf den Eingriff der Privatpersonen zurückzu-
20 Dazu s. insbesondere Alcácer Guirao, RECPC 04 – 08 (2002), 1 ff. Frisch, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 236 akzeptiert eine Bestrafung auch in den Fällen von Kumulation mit dem Rückgriff auf Betrachtungen, die dem – soweit ich sehe, aggressiven – Notstand eigen sind.
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greifen. In solchen Fällen ist also die Legitimierung von die Freiheit einschränkenden Normen möglich21. Im Übrigen definiert die Leitidee der Autonomie selbst eine absolute Grenze zu den Möglichkeiten einer Begründung positiver Pflichten: Die Autonomie ist in ihrer Substanz aufrechtzuerhalten, so dass nur die irrelevanten Einschränkungen der Freiheit d. h. die Ingerenzen zuzulassen sind, die geringe Störungen in der Lebensweise der Bürger mit sich bringen22. Es wäre absurd, wenn der Staat, um die Freiheit institutionell zu gewährleisten, gleichzeitig die Adressaten seiner Normen in Notsituationen stellen würde, die die Verletzung solcher Normen rechtfertigen würden. Denn die Situationen, in denen die Einschränkung der Freiheit möglich ist, um ihre institutionelle Organisation zu gewährleisten, sind allgemein durch den dem aggressiven Notstand eigenen Maßstab begrenzt: Die Legitimation ist nur möglich, wenn die Freiheitseinschränkung eine geringe Bedeutung im Vergleich zu dem hohen Verlust für die Garantie ihrer institutionellen Organisation hat.
V. Der Bereich des Strafgesetzes und die Auswahl des strafrechtlich relevanten Unrechts 1. Ist das Verbot legitimiert worden, muss ein zweiter, ausschlaggebender Schritt auf dem Weg zu dem materiellen Straftatbegriff getan werden. Es geht um die Auswahl derjenigen Normen, die strafrechtlich gewährleistet werden müssen. Das ist der dem „Strafgesetz“ eigene Bereich. Binding hat diese Frage an verschiedenen Stellen summarisch entwickelt23. Jederzeit hat er deutlich gemacht, dass wenn die Verletzung einer Norm (und damit ein „Delikt“) festgestellt worden ist, die Frage nach ihrer Sanktion mit Strafe (womit gegebenenfalls die „Verbrechen“ entstehen) nicht gelöst ist. Denn es sei selbstverständlich, dass es „Delikte ohne Strafe“ gibt. Die grundsätzliche Frage, die sich Binding gestellt hat, war gerade, aus welchem Grund der Staat darauf (auf sein Recht) verzichtet, bestimmte Normverstöße mit Strafe zu sanktionieren, auch wenn er es darf (in dem Sinne, dass er „das Recht hat, es zu tun“), also aus welchem Grund der Staat das „Recht zur Bestrafung“ in keine „Pflicht zur Bestrafung“ verwandelt. Die Antwort: „(d)ie Strafe ist der Ausdruck und das Maß des Interesses, welches der Staat an der Befolgung der einzelnen Gesetze nimmt. Soweit seiner Ansicht nach die ruhige Hinnahme des Unrechts mit der Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit des Gesetzes in Widerspruch stehen, oder so21 Auf diese Weise ist die Festsetzung von sog. „Mitwirkungspflichten“ möglich, wenn auch nicht unbegrenzt. Dazu s. teilweise kritisch Silva Sánchez, in: Silva Sánchez (Dir.), ¿Libertad económica o fraudes punibles?, 2003, S. 318 ff. 22 Vgl. ähnlich Pawlik (Fn. 12), S. 257. 23 Binding, Grundriss des deutschen Strafrechts, 7. Aufl., 1907, S. 232 ff.; derselbe, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, 1915, S. 82 ff.; derselbe (Fn. 15), S. 426 ff.
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weit dauernde Straflosigkeit die Autorität eines Gesetzes mehr abschwächen würde, als dieses ertragen kann, – so weit ist für ihn die Strafpflicht begründet“24. Es ist möglich, von dem Strafbegriff auszugehen, und in diesem Begriff seine faktische und normative Dimension zu identifizieren. Von einem faktischen Blickpunkt aus betrachtet ist die Strafe ohne Zweifel ein Übel und im Grunde genommen ein besonders qualifiziertes Übel: Es geht nicht lediglich um eine rechtliche Einschränkung von Rechten (dies geschieht auch z. B. bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung oder bei den Verwaltungssanktionen), sondern auch um einen sozial-ethischen Vorwurf25. Deshalb ist die Strafe aus der Perspektive der individuellen Autonomie eine besonders schwerwiegende Ingerenz. Die Auferlegung eines solchen qualifizierten Übels wäre jedoch gerechtfertigt, da sie von dem normativen Blickpunkt aus betrachtet in Wahrheit ein Gut wäre. Die Strafe stellt die normative Störung wieder her, die das Delikt mit sich bringt, und sie beweist die Geltung der Rechtsordnung gegenüber der Gefahr von durch das Delikt ausgelösten unerwünschten psycho-sozialen Folgen26. Nun ist aber nicht alles in der Strafe als Gut zu kennzeichnen. Wenn Binding den Übelcharakter der Strafe bestätigt hat, tat er dies nicht nur in Bezug auf den Bestraften sondern auch in Bezug auf den Staat und die Gemeinschaft: „nötigt sie [die Strafe] ihn [den Staat] zur Einsetzung von Gerichten und Strafrichtern, von Organen der Strafklage und der Verteidigung; sie nötigt ihn ferner, Menschen zu vernichten oder einzusperren, deren Leben und Freiheit nicht nur für ihre Träger und deren Familien, sondern auch für die Rechtsgemeinschaft von Wert sind (…)“27. In der Tat weist Binding mit diesen Worten einerseits auf die Übeldimension hin, die die Strafe von einem strikt faktischen Blickpunkt für den Staat hat: Die Strafe ruft Kosten und institutionellen Aufwand hervor; aber vor allem – deswegen der obere Kursivdruck – erzeugt die Strafe aus einer supraindividuellen Perspektive ein normatives Übel: Mit der Strafe werden für die Gemeinschaft wichtige Güter und Werte zugleich verneint. Es ist nicht gewagt zu behaupten, dass diese Beobachtung keinen hinreichend relevanten Platz in den Überlegungen über den Strafbegriff der letzten Jahre gehabt hat. Jedoch scheint diese Beobachtung einer ex24
Binding (Fn. 23), S. 233 f., wo sich in einer Fußnote eine Bemerkung findet, die heutzutage sehr vertraut ist, aber bereits von Binding formuliert wurde: „(die) rechtliche Autorität der Norm bleibt trotz ihrer Übertretung unverändert, die faktische aber nicht. Dieser faktischen Erschütterung gilt die Gegenwirkung der Strafe“. 25 s. z. B. Frisch, in: Eser/Kaiser/E. Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, 1992, S. 222; Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 2009, 10/1; Mir Puig, Derecho penal, Parte General, 9. Aufl., 2011, 7/59. 26 Im Übrigen wurde die positiv-generalpräventive Dimension der Strafe bereits von Binding angemessen betont (Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft, in: Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, 1915, S. 85): „Vielmehr soll die Strafe die Vorstellung von der Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit der mit ihr ausgestatteten Pflichten erhalten und verstärken und so darauf hinwirken, dass sich die größtmögliche Anzahl von Menschen aus eigener besserer Einsicht dazu bestimme, jene Pflichten konform zu leben, somit statt verbrecherische Pläne zu fassen sich vielmehr der Autorität der Gesetze zu beugen“. 27 Binding (Fn. 26), S. 82 – 83 (ohne Kursivdruck im Original).
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trem soliden Intuition zu entsprechen, nämlich der Intuition, dass das Leiden von einem der Mitglieder der Gemeinschaft etwas für sich genommen Negatives, die Anerkennung eines Misserfolgs, tatsächlich „eine bittere Notwendigkeit“ ist28, unabhängig davon, dass ein solches Leiden wegen seiner Notwendigkeit der Gemeinschaft unverzichtbare Vorteile einbringt. 2. Wird die Strafe von alledem charakterisiert, was soeben dargestellt worden ist, dann muss der Schaden – das Delikt, der normative Verstoß –, auf den mit einer Strafe geantwortet werden darf, im Zusammenhang einer (wenigstens ungefährer) Entsprechung zu der Strafe stehen29. In Bezug auf den faktischen Schaden des normativen Verstoßes ist die Lage teilweise sonderlich: Zuweilen ist der faktische Schaden nahezu oder schlicht nicht vorhanden (z. B. bei dem Versuch oder bei den Gefährdungsdelikten). Jedoch ist dieser Schaden in anderen Fällen die Grundlage des Eingriffs des Rechts der Strafe (z. B. bei der Fahrlässigkeit). Dieser Punkt wird an anderer Stelle wieder aufgegriffen; von Interesse ist nun, sich auf die normative Dimension zu konzentrieren. In der Tat: damit der normative Verstoß eine Strafe „erfordert“, muss er einerseits eine normative Störung beinhalten, die bedarf, ausdrücklich widersprochen zu werden. Andererseits muss der normative Verstoß geeignet sein, psycho-soziale Folgen hervorzurufen, die einer Äußerung über die Sinnhaftigkeit der Aufrechterhaltung der Norm als Richtlinie der sozialen Orientierung bedürfen. Jedoch ist es angesichts der Besonderheiten des Übels, das die Strafe bereits auf einem faktischen Niveau bedeutet, – nämlich nicht nur den Entzug von Rechten sondern auch den sozial-ethischen Vorwurf – sowie angesichts des teilweise üblen Charakters der Strafe auf einem normativen Niveau selbstverständlich, dass weder jeder normative Verstoß noch jedes Bedürfnis der Absicherung der Normtreue in der Allgemeinheit ausreicht. Mit anderen Worten: Die Besonderheiten der Strafe als Reaktion auf das Delikt machen aus ihr einen Mechanismus, der aus Prinzip dazu berufen ist, mit extremer Mäßigung genutzt zu werden. Daher kann sie nicht bloß als ein dem Gesetzgeber zur Verfügung stehendes „zusätzliches Mittel“ für die Gewährleistung der Autorität seiner Normen gesehen werden. 3. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Staat die Bereiche allmählich ausgewählt hat, in denen er beansprucht, die Autorität der Verhaltensnormen sogar gegenüber der isoliertesten, gegen diese Normen gerichteten Verletzung zu gewährleisten. Diese Fortdauer hat selbst das rechtliche Gewissen der Bürger gestaltet, die die 28 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, 1969, S. 29 (ohne Kursivdruck im Original). Dies betonend schon Gimbernat Ordeig, Estudios de Derecho penal, 3. Aufl., 1990, S. 149 (deutsche Fassung 1970) sowie Silva Sánchez, Aproximación al Derecho penal contemporáneo, 1992, S. 26. Ich danke meinem Lehrer, Prof. Silva Sánchez, dafür, dass er mich auf den Zusammenhang zwischen dem, was in dem vorliegenden Text vertreten wird, und dem bekannten Ausdruck des Alternativ-Entwurfs eines StGB aufmerksam gemacht hat. 29 Diese Vorgehensweise ist insbesondere von Frisch, FS Stree und Wessels, 1993, S. 85 ff.; derselbe, in: Wolter/Freund (Fn. 2), S. 147 ff. entwickelt worden. Schon früher ähnlich Naucke, Die Wechselwirkungen zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff, S. 37.
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Schwelle der strafrechtlichen Schwere gerade um die Verletzung solcher Normen herum anordnen, deren schuldhafte Verletzung von dem Staat unter keinen Umständen erlaubt wird. Die Reaktion „Strafe“ wird dann mit einem offenbaren, absoluten und dauerhaften Interesse an der Befolgung bestimmter Verhaltensnormen identifiziert. Merkwürdigerweise sind die Strafe und das Strafrecht durch die Beschränkung auf einen mehr oder weniger reduzierten Kern von Verhaltensnormen gekennzeichnet. Erstreckte sich das Strafrecht auf jeden normativen Verstoß, würde es seinen normativen Sinn durchaus verlieren: Dies würde bedeuten, dass der Staat dasselbe Interesse an der Erfüllung aller Normen hätte. Stattdessen sind im Laufe der Zeit Normen ausgewählt worden, deren Autorität bzw. Unantastbarkeit unbedingt aufrechterhalten werden soll. Dies heißt jedoch nicht, dass andere Normen keine rechtliche Unterstützung erfahren müssen, sondern nur, dass wenn die Strafe zur Gewährleistung eben dieser anderen Normen angewendet würde, dies die erst genannten Normen diskreditierte, bei denen das Gewährleistungsbedürfnis außer Diskussion steht – und es ist unverzichtbar, dass es so bleibt. 4. Die bisherigen Ausführungen werden wie folgt in den Legitimationsparadigmen konkretisiert: a) Zunächst führt ein tiefer Blick in diejenigen Bereiche, in denen die Unbestreitbarkeit der Aufrechterhaltung der Autorität von Verhaltensnormen mit Rückgriff auf alle dem Staat verfügbaren Mittel – also einschließlich dem Strafrecht – immer akzeptiert worden ist, zu einer ersten Schlussfolgerung, nämlich dass es um Normen geht, die negative Pflichten und auch in viel geringeren Maße positive Pflichten etablieren. Wie gesagt hängen beide Arten von Pflichten mit dem Gedanken der individuellen Autonomie – auch wenn in verschiedener Art und Weise – zusammen. Es ist einfach, einen Konsens darin zu erzielen, dass dieser Gedanke dem Kern jeden Strafrechts in einem Rechtsstaat zugrunde liegt. Die Frage verlangt dann nach der Bestimmung des Grads an strafrechtlichem Schutz der individuellen Autonomie, den der Staat bzgl. der einen wie der anderen Art von Pflichten darbringen muss. In diesem Sinne wird auch schnell ein Konsens erreicht, wenn an das Ensemble von Freiheitsrechten als Ausschluss appelliert wird, die sich in Gütern materialisieren, die dem Inhaber das entsprechende Handlungspotenzial einräumen. Die Verletzung oder konkrete Gefährdung solcher Güter ist materiell ein Delikt und auch in dem Fall, dass der Gesetzgeber ein solches Delikt noch nicht vertypt hat. Denn die Verletzung bzw. konkrete Gefährdung solcher Güter vernichtet das entsprechende Recht in drastischer Weise: Der Gegenstand, in dem sich das Recht verkörpert, verschwindet oder wird gefährdet. Aus diesem Grund müssen und können die Normen, die diese Rechte und Güter schützen, mit der höchsten Autorität bedacht werden, die die Rechtsordnung erlaubt30. 30
Hier und im Folgenden werden weitere Überlegungen über die Insignifikanz (geringe Relevanz des Guts bzw. des Angriffs usw.) sowie über die Sozialadäquanz im Allgemeinen beiseitegelassen, auch wenn sie eventuell eine einschränkende Rolle bei der Kriminalisierung spielen könnten. Auch werden hier die mit dem Gedanken des „Selbstschutzes“ verbundenen Fragen absichtlich nicht behandelt – solche Fragen könnten meines Erachtens gegebenenfalls
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b) Auch in dem Bereich der anderen schuldhaften Unrechte, die die Freiheit als Nutzbarkeit verletzen, wird im Prinzip das entsprechende Recht – durch die Verletzung einer negativen Pflicht – in dem Maße verletzt, dass der Sinn seines individuellen Innehabens frustriert wird. Allgemein gesprochen stellen die Tatbestände der Nötigung, Drohung oder Täuschung die klassische Typologie von Delikten dar, die par excellence die Freiheit als Nutzbarkeit angreifen. Es geht um strafrechtlich anerkannte Formen des Angriffs gegen die fremde Autonomie. Aus diesem Grund fordern viele Strafgesetze – insbesondere in dem Wirtschaftsstrafrecht – das Vorliegen eines dieser Begehungsmittel (rectius: sie müssen es fordern!), um dem normativen Verstoß materielle strafrechtliche Relevanz zuzusprechen31. Nur wenn der Angriff gegen die Freiheit als Nutzbarkeit eine dieser Formen des Angriffs gegen die Sicherheit der Personen und ihrer Güter einnimmt, wird in den Bereich des wirklich – d. h. systematisch32 – Kriminellen eingetreten. Ein wenn auch umstrittenes Beispiel hierfür sind die Urkundenfälschungsdelikte. So weit festgestellt ist, dass das Merkmal der Täuschung bei ihnen überwiegt, so dass die Ausübung des Rechts des Informationsempfängers unsicher wird33, verschwinden die Bedenken, seine Kriminalisierung zu vertreten. Denn es geht um anerkannte Formen des Angriffs gegen die fremde Autonomie. Die Verhaltensweisen der „Belästigung“ stehen als Erscheinungen des allgemeinen Gedankens der Nötigung oder Drohung in ihrem deliktischen Charakter außer Zweifel. Aus denselben Gründen stellen großteils die abstrakten Gefährdungsdelikte materiell ein Delikt dar, da sie „Drohungsdelikte“ sind. Viele von ihnen sind dem tauglichen Versuch, andere dem untauglichen Versuch strukturell ähnlich – übrigens kann die Strafbarkeit des Letzteren, zumindest aus der Bindingschen Perspektive auf dem Gedanken der Drohung begründet werden. Aus diesem Grund geht es hier auch um den Bereich der Normen, die auf dem höchsten Niveau verteidigt werden müssen34. Problematischer sind dagegen die Verstöße gegen Normen, die auf „Vorverlagerungs“formen bezogen sind, sowie die bloß ärgerlichen bzw. asozialen Verhaltensweisen. Ebenfalls sind die sog. „Verhaltensdelikte“ Gegenstand ausführlicher Diskussionen in der Literatur, ohne dass der Gesetzgeber sich an einem Rückgriff auf strafrechtliche Sanktionen gehindert gesehen hätte. Es ist bekanntlich schwierig, von der Logik der Rechtsgutlehre ausgehend eine Verankerung nur von begrenzter Relevanz sein (dazu s. insbesondere die Arbeiten von Schünemann/Hörnle, in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, 2006, S. 18 ff., 36 ff. 31 Wie es in dem „Kapitalanlagebetrug“ (Art. 282 spanischen StGB) und in anderen Manipulationen des Marktes wie die in Art. 284 spanischen StGB erwähnten Manipulation der Fall ist. 32 In dem Sinne der Fußnote 5. Deshalb ist die Kritik von Binding an den fragmentarischen Charakter der Strafgesetze etwas übertrieben: Der Strafgesetzgeber agiert systematisch und nicht fragmentarisch, wenn er nur in einigen Verhaltensweisen, die gegen Normen verstoßen, die Eigenschaften des entsprechenden anerkannten Legitimierungsparadigmas identifiziert (Vgl. auch Zaczyk [Fn. 5], S. 708). 33 Siehe die erhellende Rekonstruktion von Jakobs, Falsedad documental. Revisión de un delito de engaño, 2011, S. 47 ff. 34 Zu denken ist beispielsweise an die Trunkenheit im Verkehr.
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für solche Figuren zu finden. Nun ist es jedoch von Interesse, ihre Revision anhand der Frage vorzunehmen, ob es sich um Normen handelt, die wegen ihrer Bedeutung für die Freiheit als Nutzbarkeit wert sind, dass die Rechtsordnung ihnen die höchste – bzw. eine mit der Autorität der vorherigen Fällen vergleichbare – Autorität zuschreibt. Ganz kurz gesagt: In den Fällen der Vorverlagerung, die auf die Logik der Drohung zurückgeführt werden können, liegt materiell ein Delikt vor. Die ärgerlichen oder störenden Verhaltensweisen sind nur dann materiell ein Delikt, wenn sie etwas der Nötigung Ähnliches darstellen. Hingegen fehlt es den „Verhaltensdelikten“ an jeder Analogie zu den anerkannten Formen des Angriffs gegen die Bedingungen der Ausübung der Rechte35. c) Im Wesentlichen unerforscht sind die Kriterien und Grenzen der Kriminalisierung der Verletzung „institutioneller“ Pflichten. Hier geht es um einen besonders heiklen Bereich. Denn es ist wie gesagt möglich, in diesen Fällen eine wichtige und verschiedenartige Gruppe von Normen, die „Loyalitäts“pflichten gegenüber dem Staat als Garant und Hersteller von Freiheiten zu etablieren. In diesem Maße besteht die Versuchung – insbesondere für den Gesetzgeber –, jede weitere Betrachtung über die strafrechtliche Sanktionabilität solcher Pflichtverletzungen außer Betracht zu lassen, und sich ausschließlich ohne weiteres auf ihre positive Referenz für das Funktionieren der Gesellschaft zu stützen36. Jedoch zeigt die Wirklichkeit einer auf solche Pflichtverletzungen bezogenen Strafgesetzgebung auch gewisse Konstanten und insbesondere die Konstante, dass nicht jede „Illoyalität“ gegenüber dem Funktionieren der elementarsten Institutionen strafrechtlich sanktioniert wird. Gleichwohl ist es nicht weniger wahr, dass es zunehmend deliktische Tatbestände gibt, die auf diese Kategorie zurückgeführt werden. Unter ihnen finden sich insbesondere die sog. „Kumulationsdelikte“ sowie die „Ungehorsamkeits“delikte. Die weitgehende Diskussion über beide Deliktskategorien kann hier nicht dargestellt werden37. In der Tat muss die Notwendigkeit betont werden, die Frage zu untersuchen, bis zu welchem Punkt die strafrechtliche Sanktion von Verhaltensweisen möglich ist, deren einzelnes schädliches Potenzial nur durch die im Laufe der Zeit wiederholte Kumulation seitens vieler Bürger entsteht bzw. deren Schädlichkeit lediglich in dem Nichtmitwirken mit dem Staat bei der Untersuchung von rechtswidrigen oder sogar ein35 An dieser Stelle ist eine ausführliche Analyse nicht möglich. Natürlich soll es in die Bedingungen vertieft werden, unter denen ein Fall von Vorverlagerung eine echte Drohung darstellt; es muss darüber nachgedacht werden, welche konkreten Erscheinungen von asozialen oder ärgerlichern Verhaltensweisen dem allgemeinen Gedanken der Nötigung entsprechen, sowie darüber, ob es möglich ist, „Verhaltensdelikte“ zu erschließen, die der Nötigung bzw. Drohung sehr nahe gelegen sind, so dass ihre Bestrafung mit Strafe legitimiert wäre. 36 Siehe kritisch Silva Sánchez (Fn. 21), S. 307 ff., 323; Lascuraín Sánchez, in: Homenaje al Profesor Dr. Gonzalo Rodríguez Mourullo, 2005, S. 587 ff.; Feijóo Sánchez, in: Derecho y Justicia penal en el Siglo XXI, 2006, S. 155 ff. 37 Siehe Feijóo Sánchez, „¿Sobre la ,administrativización‘ del Derecho penal en la ,sociedad del riesgo‘?“, in: Derecho y Justicia penal en el Siglo XXI, 2006, S. 155 ff., m.w.N.
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fach unregelmäßigen Situationen besteht. Allgemeiner: Es müssen Kriterien zur Begrenzung der Sanktion mit Strafe von Verhaltensweisen ergründet werden, die sich zunächst nur als „untreu“ erweisen. In diesem Sinne ist es wiederum möglich, gewisse solide Ausgangspunkte festzustellen, die die Lösung steuern. In der Tat sind seit langem deliktische Tatbestände bekannt, die die Verletzung von Solitaritätspflichten unter Strafe stellen. Solche Pflichten können aus einem intersubjektiven Blickpunkt definiert aber auch als „quasi-institutionelle“ Pflichten in dem Maße verstanden werden, dass sie als von dem Staat an die Bürger delegierte Pflichten beschrieben werden, die darin bestehen, dass die Büger den Anderen Schutz in dem Fall gewähren müssen, dass der Staat dies aus faktischen Gründen nicht kann, auch wenn dieser danach strebt. Ebenfalls lassen sich seit jeher in den Strafgesetzbüchern Amtsträgerdelikte finden, in denen Verletzungen von auf die Amtsausübung bezogenen Pflichten strafrechtlich sanktioniert werden. Über die eigene institutionelle Struktur hinaus, die die Auferlegung der Pflicht begründet, ist beiden Deliktstypen gemeinsam, dass eine bzgl. der Verletzung der institutionellen Pflicht zusätzliche Äußerung in ihnen stattfindet: Es ist möglich, in diesen Deliktstypen einen authentischen Rechtsmissbrauch bzw. Missbrauch von Sonderrechten zu sehen. Daher lässt sich vertreten, dass das, was strafrechtlich sanktioniert wird, nicht die bloße Illoyalität sondern das Vorliegen eines zu der Illoyalität selbst zusätzlichen Unwerts ist, der diese Illoyalität singularisiert. In der Tat ist es meines Erachtens nicht möglich, dass in einem Staat der Freiheiten – auch wenn dieser als derjenige verstanden wird, der zu seinen fundamentalen Aufgaben die Herstellung und Aufrechterhaltung der institutionellen Strukturen der Freiheit zählt – die Normverletzungen ohne weiteres und unmittelbar strafrechtlich bestraft werden können, wenn die einzige Grundlage der verletzten Normen in dem Verlangen von Loyalität gegenüber den Institutionen besteht. Weit entfernt davon verlangt die vorliegend formulierte Rekonstruktion, dass entweder der Verstoß als eine Freiheitshandlung gesehen werden kann, deren einziger Sinn bzw. Zweck ist, Schäden zuzufügen38, oder dass Freiheitshandlungen vorliegen, die die Selbstbindung – so schwach sie sei – an diejenige Institution voraussetzen, die Sonderbefugnisse und -rechte erteilt. So lässt sich bzgl. des Tatbestandes der unterlassenen Hilfeleistung angesichts der internen Tatbestandsstruktur sagen, dass das Recht Interesse daran hat, die Autorität derjenigen Normen durchzusetzen, die einen aktiven Schutz im Fall der Krise eines existentiellen Interesses verordnen, wenn kein eigenes bzw. fremdes Risiko vorliegt, d. h. ohne dass die Preisgabe der personalen Freiheit des Helfenden bzw. von Dritten für sich genommen bedeutsam ist. Daher lässt sich ferner sagen, dass derjenige, der die Norm verletzt, in der Wirklichkeit das Freiheitsrecht missbraucht, das anfangs unter der Bedingung eingeräumt worden ist, in dem Fall existentieller Not bei fehlendem eigenen oder fremden Risiko Hilfe zu leisten. Dasselbe gilt sogar deutlicher für die untreuen Verhaltenswei-
38 Siehe die Begriffsbestimmung des Rechtsmissbrauchs in Art. 7 Abs. 2 spanischen BGB sowie in § 226 BGB.
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sen von Amtsträgern: Solche Delikte – wie von Binding bereits dargestellt39 – haben die Struktur des Missbrauchs der vom Staat zugeschriebenen Zuständigkeit, um den Staat selbst bzw. die anderen Bürger zu verletzen. Von diesem Blickpunkt aus sind die Verletzungen von institutionellen Pflichten, die als echter Rechtsmissbrauch bzw. Missbrauch von Sonderrechten definiert werden können, mit anderen schon vorhandenen Verletzungen materiell vergleichbar und insoweit analog zu ihnen. Sie beinhalten dann die Eigenschaften auf Grund deren, ihre Einordnung in den materiellen Straftatbegriff systematisch angemessen ist. Schließlich geht es darum, diejenigen Eigenschaften zu identifizieren, die die bereits anerkannten vorhandenen Verhaltensweisen singularisieren, die in dem Rechtmissbrauch bzw. dem Missbrauch von Sonderrechten und – befugnissen bestehen. Was das Erste angeht, ist deutlich, dass das Strafrecht nicht jede Erscheinung des Missbrauchs des Freiheitsrechts strafrechtlich saktioniert. Nur wenn Güter von höchster Bedeutung im Spiel sind, und die verlangte Preisgabe – wie bei der unterlassenen Hilfeleistung – beträchtlich gering ist, lässt sich das Vorliegen eines Missbrauchs des (Freiheits)rechts feststellen, der den Gedanken der individuellen Autonomie in einer den anderen Legitimationsstrukturen des strafrechtlichen Eingriffs ideell vergleichbaren Weise – mittelbar – erodiert. In dem Bereich der Sonderrechte ist die Lage komplexer. Denn es ist ebenfalls selbstverständlich, dass eine verallgemeinerte strafrechtliche Sanktion der Nichterfüllung der großen Zahl der hier legitimierbaren Pflichten nicht möglich ist. Vielmehr stellt das Eintreten in die Position einer Sonderpflicht, aus der Verpflichtungen gegenüber der Institution entstehen, eine Gefahr für den Autonomiebegriff selbst nur dar, wenn die betroffene Institution Relevanz für die Autonomie aufweist. Darüber hinaus müssen die Art der von der Institution erlittenen Verletzung sowie die institutionellen Kontroll- und Schutzmöglichkeiten betrachtet werden. Dabei ist deutlich, dass gewisse institutionell definierte Bereiche – wie z. B. die Umwelt, der Fiskus, die öffentliche Verwaltung oder die Justizverwaltung – wegen ihrer Bedeutung der Auferlegung von positiven Rechten bzgl. der Bürger – und nicht nur bzgl. der Amtsträger im strikten Sinne – bedürfen. Kraft dieser Pflichten begründen die Bürger eine „quasi-beamtliche“ Beziehung mit der Institution40. Die Bedeutung der Institution ist nicht das einzige Element, das für die Entscheidung über die strafrechtliche Sanktion solcher Pflichten in Betracht 39 Binding, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, B. 2, II, 1905, S. 413. 40 Die wichtigere Frage ist hier, wo der Übergang von einem allgemeinen Status in einen besonderen quasi-institutionellen Status liegt. Denn die Verletzung der Institution kann in dem zweiten Fall als authentischer Rechtmissbrauch betrachtet werden. Vorbehaltlich einer weiteren Entwicklung kann im Moment darauf hingewiesen werden, dass eine Handlung der Selbstbindung – so schwach sie auch sein mag – an die Institution immer unentbehrlich sein wird, wodurch die Herstellung einer Sonderbeziehung möglich wird. So muss z. B. bei der Steuerhinterziehung immer das Verheimlichen des Steuertatbestandes verlangt werden, so wie bei den Delikten gegen die Justizverwaltung die Instrumentalisierung der Letzteren.
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zu ziehen ist. Es ist ebenfalls fundamental, das Vorliegen von Schutz- und Kontrollmöglichkeiten zu berücksichtigen. Liegen solche Möglichkeiten vor, so ist es sinnlos, die Bürger strafrechtlich zu sanktionieren. Dies ist z. B. nicht der Fall in den Situationen, in denen die Verwaltung der Kollaboration der Bürger bei der Beschaffung von Informationen bedarf, die für die Artikulierung einer richtigen Koordination des Schutzes eines Bereichs notwendig sind. Die Verweigerung solcher Beschaffung von Informationen kann die effektiven Kontroll- und Schutzmöglichkeiten verletzen, die der Verwaltung zustehen. Auf dieser Weise kann der Schaden entstehen. In diesem Sinne können gewisse Verletzungen von Mitwirkungspflichten materiell ein Delikt darstellen: Sowohl die Verweigerung, sich dem Alkoholtest in dem Straßenverkehr zu unterwerfen, als auch allgemeiner formuliert der Ungehorsam entsprechen dieser Struktur. Ebenfalls zeigen die Kumulationsdelikte unter bestimmten Bedingungen Parallelitäten zu dem Rechtsmissbrauch. Ein Verhalten, das eine Norm in Kontexten verletzt, in denen kumulierte Verletzungen solcher Normen zu einem Schaden eines viel höreren Ausmaßes als dem Schaden führen, der durch eine individuelle Normverletzung hervorgerufen wird, stellt einen Missbrauch des Freiheitsrechts dar. Denn der Genuss des Gutes bzw. des betreffenden Kontexts hat als Korrelat den Respekt vor diesem Gut bzw. Kontext bis zu dem Punkt, dass das zukünftige Verhalten der Anderen bei der Bestimmung des eigenen Freiheitsraums in Betracht gezogen werden soll. Wird bei der Nutzung eines Gutes, worauf ein Anspruch vorliegt, ihm der erwähnte Respekt verneint, liegt ein Rechtsmissbrauch vor.
VI. Bilanz Das in der vorliegenden Arbeit Gesagte erfordert eine weitere Entwicklung sowie Konkretisierung. Jedoch ist eines der Hauptziele gewesen, zum Ausdruck zu bringen, dass den so häufig geforderten ethischen Prinzipien, denen eine in einem demokratischen Rechtsstaat legitime Kriminalpolitik unterworfen werden soll, schon dogmatische Überlegungen zugrunde liegen, die nicht beiseite gelassen werden können. Solche Überlegungen müssen berücksichtigt werden, nicht nur weil sie stabil und permanent sind, sondern vor allem weil sie in der Lage sind, solche Prinzipien zu entwickeln bzw. ihnen eine konkrete operative Dimension zu verleihen, so dass solche Prinzipien geeignet sind, die politische Tätigkeit in einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu begrenzen und begründen. Dies ist möglich, weil die beeindruckende analytische, systematische sowie begriffliche Perfektionierung der Dogmatik im Laufe so vieler Jahrzehnte im Wesentlichen dadurch gelungen ist, dass sie die Begriffe der Gerechtigkeit und Legitimität des Zwangseingriffs des Staats gegen die Bürger in Betracht gezogen hat.
Schmähvideos im Recht Von Winfried Hassemer
I. Rechtskulturen Der Zeitpunkt, zu dem die Herausgeber die Beiträge zur Festschrift für Wolfgang Frisch eingefordert hatten, weil sie sonst nicht mehr rechtzeitig zum 16. Mai 2013 dem Jubilar hätte überreicht werden können, war gekennzeichnet durch tiefe Konflikte und dringende Fragestellungen, die nicht nur die deutsche und internationale Öffentlichkeit in ihrer ganzen Breite, sondern auch die Juristen und unter ihnen die Strafrechtler beschäftigt und aufgeregt haben. Drei Konstellationen sind es vor allem gewesen, die uns – oder doch die meisten von uns – Ende September 2012 in Atem gehalten und nicht nur das bürgerliche Interesse an öffentlichen Diskursen, sondern auch die professionellen Möglichkeiten eingefordert haben, die mithilfe des juristischen Sachverstands Lösungen oder doch wenigstens Klärungen der Konflikte hätten zur Verfügung stellen können: *
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die akute Finanzkrise in Europa mit der verfassungsrechtlichen Frage, wie viel Transfer an Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnissen in andere Rechtssphären das deutsche Recht, insbesondere das Grundgesetz, erlaubt1; die Entscheidung des LG Köln zur Strafbarkeit einer Beschneidung kleiner Jungen2 und die weltweite Empörung über die Verbreitung des Videos „Die Unschuld der Muslime“3.
Das Letztere soll uns hier beschäftigen; es steht mit den beiden anderen Konstellationen im Kontext. Dieser Kontext kann seinem Verständnis und seiner Einordnung behilflich sein: Alle drei Konstellationen haben es in ihrem Kern mit dem Phänomen der Kulturen, vor allem der Rechtskulturen4, zu tun; differente Kulturen, die sich immer auch rechtlich formulieren, konfrontieren uns mit alten Fragen aus Rechtsphilosophie, 1
Urteil des Zweiten Senats des BVerfG v. 12. September 2012, 2 BvR 1390/12. LG Köln NStZ 2012, 449. 3 Scharfe Kommentierung von Bommarius, FR v. 21. 09. 2012. 4 Dazu schon frühzeitig, aus philosophischer Perspektive, Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Ein philosophischer Versuch, 1999. 2
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Rechtssoziologie, Verfassungsrecht und Strafrecht, und sie tun das mit neuer Schärfe, ja Erbitterung. Der Finanzkrise liegen als treibendes Moment Differenzen im Umgang mit fremdem Geld und der Toleranz fremder Kontrolle im eigenen Land zugrunde, Differenzen, die sozialmoralisch aufgeladen und als kulturelle Unterschiede in Europa zwischen Nord und Süd eingekleidet werden; die Beschneidung führt uns ins Gestrüpp fundamental unterschiedlicher Zugänge zur normativen Reichweite religiösen Brauchtums in einer Gesellschaft, die sich die Trennung von Staat und Kirche verfassungsrechtlich verordnet hat5 ; die Schmähvideos zwingen uns zu einer Antwort auf die Frage, was und wie viel uns die freiheitlichen Errungenschaften unserer Rechtskultur angesichts fremden und gewalttätigen Unverständnisses bedeuten. Betrachtet man Tiefe und Breite des Streits, der sich um die drei Konstellationen alsbald entzündet hat, so darf man erwarten, dass uns vergleichbare Auseinandersetzungen in Zukunft erneut bedrängen werden. Und man muss befürchten, dass gerade die kulturellen Differenzen und ihre Folgen unsere Auseinandersetzungen um die richtige Politik und das richtige Recht schwer belasten werden. Die in unserer nicht endenden Debatte um Freiheit und Sicherheit immer wieder – und zu Recht – vorgetragene Mahnung, in Zeiten der panischen Angst vor dem Verbrechen lasse sich keine gute Kriminalpolitik machen, verblasst in ihrer Nachdrücklichkeit angesichts der tiefen Differenzen in der Betrachtung der Welt und der Vorstellungen vom guten Leben, wie sie in den genannten drei Konstellationen in Erscheinung treten und unsere gesellschafts- und rechtspolitischen Diskurse mit Wut, Angst, Unverständnis, Drohung und Gewalt begleiten und verderben – selbst, wenn auch äußerlich eher zivilisiert, im scheinbar „sachlichen“ Konflikt um das Geldausgeben in Europa: Auch hier waren und sind die Untertöne unüberhörbar, die verbreitete Überzeugungen kultureller Differenzen zum Klingen bringen.
II. Zeit für Wissenschaft Keine gute Zeit für Wissenschaft also? Zuerst einmal sicherlich nicht – sieht man von denjenigen empirischen Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft ab, deren Geschäft gerade die Beobachtung derjenigen Erscheinungen ist, welche die rechtspolitischen Diskurse derzeit belasten6 ; hier ist alsbaldige wissenschaftliche Aufklärung dringend vonnöten und erwünscht. Dass hingegen die normativen Wissenschaften mit ihren Erklärungen und Empfehlungen nicht gut in eine solche aufgeregte Landschaft passen, zeigt sich auch am begrenzten Interesse der Öffentlichkeit gegenüber möglichen rechtswissenschaftlichen Expertisen, solange die Konflikte heiß sind; und das ist ja auch gut nachvollziehbar.
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Art. 140 GG. Oben unter I.
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Deshalb habe ich mir lange überlegt, ob ein zugespitzter Text wie dieser zu einer der Ende September/Anfang Oktober 2012 heiß umstrittenen Konstellationen in eine Festschrift, wie sie bei uns üblich ist, überhaupt passt – zeitlich und sachlich. Die Gefahr von Schnellschüssen liegt auf der Hand, und der zeitliche Abstand zwischen dem Verfassen und dem Erscheinen eines Beitrags in einem Sammelband – ein Abstand, dessen Länge den Ewigkeitscharakter wissenschaftlicher Äußerungen geradezu beglaubigt – lässt befürchten, dass Überlegungen und Erkenntnisse, die Monate zuvor noch gepasst haben, nunmehr Schnee von gestern sind. Zwei Gründe haben mich ermutigt, den Versuch einer Darstellung und Veröffentlichung gleichwohl zu machen: einer ad rem, einer ad personam. Ad rem: Auch wenn wissenschaftliche Reflexion und Beratung in solchen Konstellationen offensichtlich auf die bekannten Schwierigkeiten stoßen und Verzerrungen nahe liegen, sollten gerade Strafrechtswissenschaftler, Rechtsphilosophen und Rechtssoziologen zu keiner Zeit darauf verzichten, die Politik, die zu den Gegenständen ihrer Wissenschaft gehört, auch als Wissenschaftler wahrzunehmen und ihre Sicht der Dinge öffentlich vorzutragen. In einer offenen, demokratisch verfassten Gesellschaft gibt es keine kontrollfreie Phase, die sich gegen wissenschaftliche Aufklärung mit Gründen wehren könnte. Viele Strafrechtler haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder Versuche unternommen, einen gesicherten Zugang zu aktuellen kriminalpolitischen Informationen und Fragestellungen zu finden und ihre Antworten anzubieten; dass das in unterschiedlichen Stadien immer wieder misslingt und zu Frustrationen führt, ändert nichts an der Gewissheit, dass auch die Strafrechtspolitik zum „Gesamten Strafrecht7“ gehört und wissenschaftliche Bearbeitung braucht. Und dass überdies die Anschauung der Politik auch der Wissenschaft aufhelfen und sie bereichern kann. Auch auf Rechtssoziologen und Rechtsphilosophen warten dringende Fragen: *
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welche Faktoren und Entwicklungen heute und hier zu gewaltförmigen Konfrontationen führen, deren Akteure sich auf kulturelle Differenzen berufen, wie und wie weit in solchen Konstellationen Konflikte in Diskurse überführt werden können, wie es sich mit der Universalisierbarkeit von Menschenrechten und deren Überführung in politische Praxis verhält, welches die Pfeiler unseres normativen Selbstverständnisses sind und wo die Grenzen verlaufen, jenseits derer normative Kompromisse nicht mehr gemacht werden sollen.
7 Zu dieser Tradition und ihren Konsequenzen für Wissenschaft und Politik des Strafrechts mein Aufsatz „Konturen einer Gesamten Strafrechtswissenschaft heute“, in: FS Eser, 2005, S. 115 ff.
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Dass, wie diese kleine Liste zeigt, die strafrechtswissenschaftlichen mit den grundlagentheoretischen Fragen eng zusammenhängen und dass sie alle am Ende auch auf verfassungsrechtliche Ergänzung und Fundierung angewiesen sind, versteht sich. Dieser Zusammenhang bestätigt im Übrigen die Kompetenz der Rechtswissenschaft hinsichtlich einer tragfähigen Konzeption von Politik (und außerdem den kohärenten Zustand der derzeitigen Rechtswissenschaft als einer entwickelten und differenzierten normativen Wissenschaft, die auch die Praxis wissenschaftlich einbezieht).
III. Widmung Was den Aspekt der Person angeht, so sind mir nicht viele Wissenschaftler bekannt, denen man in ihrer Festschrift mehr an Aktualität, kriminalpolitischer Orientierung und Grundlagenbezug zumuten könnte als Wolfgang Frisch. Er hat schon früh – vor allem in seinen opera magna über das empirische Wissen und dessen Grenzen im Strafrecht8 sowie über Grundstrukturen der Zurechnung9 – die Türen der Strafrechtsdogmatik geöffnet für grundsätzliche Betrachtungen des wissenschaftlichen, praktischen und politischen Umfelds des Strafrechts. Vor allem aber in seinen Vorträgen und kurzen Beiträgen hat er über die Jahre hinweg – nach meinem Empfinden: mit wachsender Entschiedenheit – Fragen aufgenommen und Maßstäbe zur Diskussion gestellt, die an vielen Stellen eine Berührung haben mit den zugespitzten Thesen meines Beitrags zu seiner Festschrift: Strafgesetzgebung; Grenzen des Strafrechts; theokratisches und säkulares Strafrecht; Toleranz; Selbstbestimmung; gesellschaftlicher Wandel waren die Schwerpunkte, denen er sich bislang publizistisch zugewendet hat. So hege ich die Hoffnung, dass meine Überlegungen aus dem frühen Herbst 2012 im frühen Sommer 2013 noch nicht gänzlich obsolet geworden sind und dass sie beim Jubilar wohlwollendes Interesse finden.
IV. Ereignisse, Strukturen Man mag es kaum glauben. Da stellt, nach dem Stand der Erkenntnisse im Herbst 2012, ein Mann namens Nakoula Basseley Nakoula, ein betrügerischer Drogendealer aus den USA, der in meiner Zeitung dick vermummt auftritt, ein Video ins Netz, das nach Meinung fast aller, die es angeschaut haben, eine schlecht gemachte Verhöhnung des Propheten Mohammad ist. Damit richtet er schlimme Schäden an10 :
8 Prognoseentscheidungen im Strafrecht. Zur normativen Relevanz empirischen Wissens und zur Entscheidung bei Nichtwissen, 1983. 9 Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988. 10 Knapper Überblick in der FR v. 20. 09. 2012, S. 8 f.
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Bei gewalttätigen Demonstrationen in muslimischen Ländern und auch bei uns sterben Menschen („auf beiden Seiten“, wie man nach diesen Eskalationen der Gewalt fast schon wieder formulieren kann), westliche Botschaften und andere hilfreiche Institutionen wie etwa das Goethe-Institut machen dicht, ehemals freundschaftliche Kontakte verwandeln sich in Hass, und bei uns werden Forderungen laut, freiheitliche und menschenrechtsfreundliche Errungenschaften wie die Trennung von Staat und Kirche oder die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Gottes Namen einzuschränken, damit wir aus diesem Blutgeruch endlich wieder herausfinden. Wie har er das nur geschafft, dieser Herr Nakoula? Aber wer hat das denn tatsächlich geschafft? Wirklich Nakoula oder nicht eher die jungen Leute, die zur Verteidigung ihres Propheten zu Felde ziehen, oder gar die Islamisten in Libyen oder die Salafisten in Ägypten (oder Teile davon) nach verlorenen Wahlen zur Mobilisierung ihrer Anhänger und zur Revitalisierung ihrer radikalen Reputation11 oder vielleicht auch nur die Zeitschrift „Charlie Hebdo“ in Frankreich12 oder die Leute von „Pro Deutschland“, die durch die Verbreitung dieses Videos auf eine Aufbesserung ihrer Finanzen oder auf einen Zustrom von Gesinnungsgenossen setzen? Man wird die Ereignisse, so fürchte ich, nicht verstehen, wenn man nicht alle dieser Akteure im Blick behält; der Knäuel, in den sie verstrickt sind, ist kaum zu entwirren13. Sie handeln augenscheinlich in einer komplexen Kohärenz: Obwohl die ideologische Ausstattung der Akteure – von den ägyptischen Demonstranten bis zu den Herstellern des Videos, von „Charlie Hebdo“ bis „Pro Deutschland“ – nicht unterschiedlicher sein könnte, handeln doch alle im Verbund und mit demselben Ziel: Aufmerksamkeit und Einschüchterung, ja mehr noch: Die jeweilige Antwort auf die Frage: „Wer hat das bewirkt, wer hat angefangen?“ ist ein guter Indikator für die Meinung des Antwortenden zum Geschehen überhaupt. Sie deckt die Interessen auf, die hinter den eigentlich harmlosen und scheinbar selbstverständlichen Fragen nach Kausalität und Verantwortlichkeit stecken.
V. Muster, Hintergründe Damit ist das erste Problem umschrieben: Alle zusammen – von Islamisten über politische Strategen in Ost und West bis zu Islamophoben – rühren in derselben Suppe, und sie brauchen einander, damit es am Ende knallt und aus diesem Knall der Gewinn erwächst, den jeder für sich erhofft. Auf säuberliche Trennung als Voraussetzung einer richtigen Zurechnung und gerechten Beurteilung darf man bei diesen Verschränkungen nicht rechnen. Trotz der fundamentalen Unterschiede in ihren inhaltlichen Zielen und Weltanschauungen: An 11
Necla Kelek in: Die Welt v. 19. 09. 2012. Einzelheiten in FR v. 20. 09. 2012, S. 8. 13 Ähnlich Abdel-Samai, in: Cicero online v. 19. 09. 2012.
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der Verbreitung von Hass, Angst, Gewalt und geistiger Engführung sind alle Akteure gleichermaßen interessiert (oder sie nehmen sie, wie Medien im Westen, die sich auf die Pressefreiheit berufen, doch immerhin sehenden Auges in Kauf). Deshalb führen Wege zu Verstehen und Lösen nur über ein Verständnis dieser Verschränkungen. Das Muster dieser Erregungsfallen liegt klar zutage, es ist immer dasselbe (auch wenn es bei der Todes-Fatwa 1989 gegen Salman Rushdie14 und selbst im Fall der dänischen Karikaturen noch vergleichsweise zivil zuging und sich vor allem alsbald eine argumentative Gegenfront zur Verteidigung des Schriftstellers, der Karikaturisten und der europäischen Grundrechte zu Gehör brachte – es waren, trotz aller Unterschiede in Maß und Ton, dieselben Ingredienzen, welche die Suppe gewürzt haben, es war dasselbe Muster)15. Das Muster also: Fremde Religionen und ihre Anhänger werden medial gepackt und vorgeführt durch symbolische Schläge gegen ihre zentralen Heiligtümer – möglichst weit verbreitet, möglichst simpel, emotional, primitiv und in die Magengrube. Darauf zeigen sich hinreichend16 viele verletzt und reagieren mit Gewalt. Warum die kritische Masse einmal erreicht wird und einmal nicht, warum beispielsweise das hier besprochene Schmähvideo nach Presseberichten17 schon einige Zeit im Internet verfügbar und erst später „entdeckt“ wurde und imstande war, Gewaltexzesse auszulösen, wissen wir noch nicht genau; wir warten auch insofern auf Ergebnisse der empirischen Wissenschaften. Die stellvertretend beleidigten Personen sehen sich dabei nicht in der Rolle von „Tätern“, sondern von „Verteidigern“ oder „Rächern“ im stärkenden Bewusstsein der Übereinstimmung mit dem Willen ihres verletzten Gottes (was eine weitere und tiefere Rechtfertigung ihres Tuns ebenso überflüssig macht wie Angebote friedlicher Verständigung). Wir hier reagieren sodann mit Angst, Entrüstung und wohl auch Verachtung angesichts der ungewohnten Simplizität von Reiz und Reaktion dort und dem absichtlichen und ungerührten Anheizen von Konflikten hier.
14 Aufschlussreich und mit vielen Einzelheiten die beiden Interviews mit ihm in der FAZ v. 05. 10. 2012 („Es geht nur um eines: Wer kontrolliert die Erzählung?“) und in der FR vom selben Tag („Ihr wollt, dass ich Angst habe“). 15 Interview mit Schmidt-Salomon („Skandalöse Umkehrung des Täter-Opfer-Prinzips“) in Cicero online v. 18. 09. 2012. 16 Der Text verwendet dieses Wort öfter. Es ist in unserem Kontext, trotz seiner Alltäglichkeit und Unauffälligkeit, wichtig: Wir haben die Erfahrung, dass erst eine „kritische Masse“ beteiligter Akteure eine Bombe voll Empörung und Gewalt, die zuvor still bereitlag, zur Explosion bringen kann. Ab wann die Anzahl (und Motivation und Bewaffnung) der Akteure dafür jeweils hinreicht, dürfte in hohem Maße abhängig sein von wechselnden komplexen Situationsbedingungen. Mit den Folgen des Hinreichens haben wir alle zu tun – auch in unseren normwissenschaftlichen Fragestellungen; die Aufklärung der jeweiligen Mechanismen des Hinreichens aber ist Aufgabe der empirischen Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft; zu diesem Zusammenhang schon oben unter II. am Anfang. 17 Abdel-Samai, in: Cicero online v. 19. 09. 2012.
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Und endlich entwickelt sich bei uns heftiger Streit auf einem außerordentlich breiten Spektrum von Vorwürfen und Vorschlägen, die von der Einschränkung „herausfordernder“ oder gar „gefährlicher“ Grundrechte (Presse- und Versammlungsfreiheit) über Friedensschutz durch erweiterte Strafbarkeit (der Hersteller und Verbreiter der Videos) bis hin zu irgendeinem „Dialog“ reichen. Viele unter uns sind normativ verunsichert und hätten die Sache liebend gerne hinter sich; sie liegt ja auch außerhalb des Horizonts unserer alltäglichen Interessen. Zu einem ausgewogenen und transparenten öffentlichen Diskurs kommt es – jedenfalls zuerst einmal – nicht; dafür gibt es zu wenig Ruhe, Zeit und Wohlwollen.
VI. Staat und Religion Das zweite Problem ist nicht weniger dringlich: Worum geht es eigentlich, so lautet die weiterführende Frage, was ist der Motor dieses Konflikts, was treibt ihn an, was kann ihn stoppen oder doch besänftigen? Es sieht auf den ersten Blick so aus, als lägen hier unterschiedliche Religionen miteinander im Streit, als seien das, was wir erleben, Glaubenskriege, wie wir sie aus dunklen Zeiten unserer christlichen Vergangenheit kennen. Auch scheint offensichtlich, dass differente „Durchsetzungskulturen“ im Spiel sind: Bei uns ist es, jedenfalls derzeit, kaum vorstellbar, dass sich hinreichend viele Medien, anerkannte Schriftgelehrte und junge Männer zusammenfinden, um – notfalls mit Gewalt – den christlichen Gott und seine Jünger gegen öffentliche Ehrabschneidung zu schützen. Die Gründe dieser gewaltförmigen Durchsetzung religiöser Annahmen und Verhaltensweisen – der Motor des Konflikts – scheinen komplex zu sein; sie dürften hinab reichen bis etwa zu den Formen und Begleitumständen religiöser Unterweisung im Islam, bis zu virilen kulturellen Traditionen des Streitens oder bis zu Beleidigungserfahrungen der Muslime durch westlichen Lebensstil. All dies aber wäre Gegenstand sorgfältiger empirischer Aufklärung; alles andere ist derzeit Spekulation. Was man freilich mithilfe der Instrumente einer normativen Wissenschaft vertreten kann, ist eine Vergewisserung zur Bedeutung von Religion in diesen Konstellationen. Dabei zeigt sich, dass die Vorstellung von „Glaubenskriegen“ wohl nicht haltbar ist: Es geht nicht – allgemein – um die Differenz zwischen religiös bestimmten Kulturen oder gar zwischen Inhalten einer Religion; die Erregungsfallen leben nicht vom kritischen Interesse der Muslime an der Bibel oder der Christen und Atheisten an der Lehre Mohammads. Es geht – viel präziser und konkreter als auf der Ebene von Kulturen und Religion – um das Verhältnis von Staat und Kirche, und es geht dort zuerst einmal um dessen rechtliche Ausgestaltung, also um das Recht18. 18
Zum nun Folgenden auch Michael Borgstede, in: Die Welt v. 20. 09. 2012.
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Die beleidigten Massen fordern nicht eine Revision des christlichen Glaubens, sondern überzeugte und wirksame Eingriffe und Verteidigungsanstrengungen der westlichen Staaten gegen die Zulassung und Verbreitung von westlichen Beleidigungen ihrer Heiligtümer; erst dieses Unterlassen macht westliche Gesellschaften und Rechtsordnungen in den Augen der Beleidigten zu Komplizen der Angreifer, und hier liegt die kulturelle Differenz, um die es inhaltlich geht. Diese Differenz ist zentral und hat Gewicht. Sie liegt nicht an der Oberfläche der jeweiligen religiösen Erfahrungen, sie ist nicht nur Wasser einer tieferen Quelle; sie ist vielmehr nicht weniger fundamental als diese religiösen Erfahrungen selber. Das Verhältnis von Staat und Religion, das uns trennt und das jetzt zum Problem wird, gehört zum Proprium der religiösen Weltanschauung – jedenfalls im Islam und im modernen Christentum, für die der Staat wichtig ist und immer war. Die Forderung, die christlichen Kulturen und die westlichen Staaten, deren Rechtsordnungen der Aufklärung verpflichtet sind, sollten sich mit den Muslimen auch hinsichtlich ihrer rechtlichen Möglichkeiten beim Schutz des Heiligen verbünden, geht an den Kern einer säkularen Weltanschauung und Staatsbestimmung: Die Kultur eines Gottesstaats kann das staatliche Recht nur als Instrument begreifen, das – auch – den anwesenden und einwirkenden Gott schützt; es ist ja von ihm gesetzt. Die Kultur der Aufklärung hingegen, so wie wir sie heute in Westeuropa leben, kennt diesen Gott nicht mehr oder hält ihn für stumm oder hat ihre guten Gründe dafür, dass man besser nicht auf ihn hört. Ihre Vorstellung eines Gesellschaftsvertrags sieht die Menschen als Gesetzgeber, weil ihr die Überzeugung abhanden gekommen ist, wir hätten Zugang zu inhaltlichen und zugleich richtigen Normen des Zusammenlebens, an die wir uns wegen einer allgemeinen Vernunft, wegen der Natur oder auch des göttlichen Willens halten müssten (oder dürften). Dieser Vorstellung muss die Annahme eines Gottesstaats als unterkomplex und naiv erscheinen, weil diese Annahme die vernichtenden Einwände der Erkenntniskritik nicht versteht oder jedenfalls nicht verarbeitet. Zum Anathema wird der Gottesstaat der europäischen Moderne aber erst durch die abschreckenden historischen Erfahrungen seiner Durchsetzung in den zahlreichen Glaubenskriegen in unseren Breiten. Vor diesem Hintergrund hält sich der aufgeklärte Staat aus Glaubenszwist strikt heraus und beschränkt sich auf Garantien von Räumen, in denen Menschen ihren Glauben oder Nichtglauben ohne Angst und Gewalt leben können19. Zwingende Konsequenz für das Recht ist, dass der Gottesstaat (und auch wir haben ja lange so gelebt und gehandelt, er ist uns nicht fremd) den Angriff auf Gott für das schwerste Verbrechen hält, während in unserer Moderne „Gotteslästerung“ nicht einen Gott schützt, sondern den profanen „öffentlichen Frieden“, der durch religiöse Beschimpfung in Gefahr geraten kann (§ 166 StGB). Das ist ein gewaltiger Unterschied.
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BVerfGE 19, 206, 215 ff.
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Der Schutzzweck des öffentlichen Friedens, der die „Straftaten gegen Religion und Weltanschauung“ in unserer Strafrechtsordnung systematisch miteinander verbindet, führt die Strafrechtswissenschaft bis heute in fundamentale Auseinandersetzungen20, die ihre Gründe haben. Manche bezweifeln, dass sich diese Strafdrohungen auf die Pflicht zum Rechtsgüterschutz berufen können (weil es gar kein „Rechtsgut“ gebe), andere halten den „öffentlichen Frieden“ als Tatbestandsmerkmal für zu vage21, und wiederum andere kritisieren, das alles sei angesichts der geringen Fallzahlen von Ermittlungen und Verurteilungen bloß „symbolisches Strafrecht“22. Ich kann diese Diskussion hier nicht führen23, aber doch darauf verweisen, dass eine Kriminalpolitik, die im säkularen Staat die Bestrafung der „Gotteslästerung“ und ihrer Varianten, nicht ersatzlos beseitigt, sondern durch weichere und generalisierte Tatbestandsfassungen ersetzt und „entschärft“, nicht zufällig in die Schwierigkeiten gerät, welche die zitierte Kritik aufgreift24. Diese Schwierigkeiten sind nämlich jeglicher strafrechtlichen Ordnung eingebaut, die, wie die unsere, religiös motivierte Interaktion mit Strafe bedroht, ohne einen immanenten Gott als Referenz benennen zu können. Diese Ordnung steht normativ zwar im Einklang mit dem säkularen Staat, mit dem Gesellschaftsvertrag und der Trennung von Staat und Religion; sie weiß aber nicht so recht zu sagen, warum eine Störung des öffentlichen Friedens ausgerechnet dann mit Strafe bedroht werden muss, wenn sie religiös motiviert ist – wo dem säkularen Staat doch gerade Religionen gleich-gültig sind. Dieses zögerliche Innehalten auf halbem Weg zu einer säkularen Rechtsordnung auch im Strafrecht hat zwangsläufig Verwerfungen zur Folge: Der öffentliche Friede ist ein blutarmer, ein papierener Nachfolger und Ersatz eines starken immanenten Gottes, der „gelästert“ wird, die Friedensstörung bleibt deshalb als Schutzweck blass und unbestimmt, die Justiz lässt eher die Finger von einer Anwendung dieser Tatbestände, weil sie den Webfehler erkennt und vage Formulierungen mit Recht fürchtet, und der Schaden, den der Straftatbestand verhindern will, nämlich die Friedensstörung, wird nicht, wie sonst im Strafrecht, von einem „Täter“ bewirkt, sondern von allen Beteiligten in unheiliger Allianz gemeinsam25 – vom Hersteller des Videos bis hin zu Steine werfenden Männern mit Berufung auf das Video.
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Einzelheiten und Nachweise bei SK-StGB/Rudolphi/Rogall, Loseblattausgabe, 58. Lfg. (September 2003), Vor § 166 Rn. 4 ff. 21 Art. 103 II GG, Bestimmtheitsgebot. 22 Ein Strafrecht also, das seine Wirkungen weniger auf rechtsschützende Effizienz denn auf politische Eindrücklichkeit anlegt; zu den unterschiedlichen Varianten dieses Typs von Strafrecht und ihrer Berechtigung mein Aufsatz „Das Symbolische am symbolischen Strafrecht“, in: FS Roxin, 2001, S. 1001 ff. 23 Vgl. immerhin: Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, in: Lombardi Vallauri/Dilcher (ed.), Christentum, Säkularisation und modernes Recht, 1981, S. 1309 ff. 24 Zu den rechtlichen Problemen auch Torsten Jungholt, in: Die Welt v. 17. 09. 2012. 25 Ausführlicher oben unter V.
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VII. Irrwege, Auswege Die dritte und letzte Frage: Was also sollen wir tun? Es lässt sich über drei Typen von Auswegen ernsthaft diskutieren, aber nicht alle drei lassen sich ernsthaft empfehlen. Fundamentale Lösungen sind entweder abwegig oder zu teuer. Dass wir unsere Rechtsordnung am Bild des Gottesstaates ausrichten, wird schon an dem Umstand scheitern, dass in Europa die Existenz eines immanenten Gottes nicht mehr hinreichend geglaubt wird, um legislativ auf sie bauen zu können; die Menschen, die hier leben, sehen in ihrer übergroßen Mehrheit den Staat nicht als verlängertes Instrument eines handelnden Gottes an. Auch die Trennung von Staat und Kirche und der Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit stehen nicht zur Debatte; sie gehören zum Kernbestand unserer Rechtskultur und sind mit Blut und Tränen erkämpft. Wir kennen und wir meiden die Alternativen zum säkularen Staat wie der Teufel das Weihwasser. Und Meinungsfreiheit ist überdies nicht nur eine Freiheitsverbürgung gegenüber den Menschen, sondern auch eine zwingende Voraussetzung von Demokratie; dieses Grundrecht ist stark begründet – personal und institutionell. Pragmatische Lösungen sind derzeit unterbelichtet; das lässt sich angesichts der Heftigkeit der Auseinandersetzungen verstehen, ist aber nicht klug. Wir setzen auf „Gerechtigkeit“, „Schuld“, „Ehre“ und vergessen Konzepte wie „Störer“, „Gefahrenvorsorge“ oder „Schadensabwendung“. Um solche Konzepte aber geht es der Sache nach aktuell: Gerade ein liberaler Staat darf nicht den Eindruck erwecken, als seien ihm die Schäden für Menschen, Institutionen und Rechtskultur, die in den hier besprochenen Konstellationen angerichtet werden, egal; er muss zeigen, dass gerade eine freiheitliche Rechtsordnung zu einem effektiven Schutz von Rechtsgütern – nicht nur langfristig – imstande ist. Das Verwaltungsrecht hat viele Möglichkeiten, die wir in den Blick nehmen sollten. Polizeirecht und Recht der Ordnungswidrigkeiten verfügen über aktuell wirksame und eingreifende Maßnahmen gegenüber Personen und Vermögen hierzulande (etwa Sistierung und Abschöpfung). Sie sind kein „kleines“ oder „mildes Strafecht“, sondern haben ihre eigene Vernunft und ihre besonderen Anwendungsbedingungen. Auch in Rechtstheorie und Rechtsphilosophie als Grundlagen der Rechtswissenschaft dürfte es eher Befürwortung als Bedenken gegenüber dieser Linie geben. So bringt das moderne Konzept der „Folgenberücksichtigung“ in der richterlichen Auslegung zum Ausdruck, dass das, was durch Handeln (und Unterlassen) der Justiz angerichtet wird, nicht immer außerhalb unseres juristischen Horizonts liegt. Und ehrwürdige Kernsprüche wie summum jus, summa injuria oder fiat justitia, pereat mundus geißeln eine falsche Konzentration des Rechts auf Begriff und System.
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Langfristig aber muss es auch um kommunikative Lösungen gehen, sie sind in kulturellen Konflikten die wichtigsten26. Nicht erst wenn die Fahnen nicht mehr brennen, sondern schon jetzt müssen wir hörbar auch von den Erfahrungen, Ergebnissen und Gründen erzählen, die unsere Rechtskultur tragen und die diese Rechtskultur auch hervorbringt. Ihre Liste ist lang, fast unerschöpflich. Sie reicht von der Existenz einer kritischen Religionswissenschaft, die sich auch öffentlich Gehör verschaffen kann, über Motivation und Arbeit rechtsstaatlich orientierter europäischer Gruppen und Institutionen in fremden Kulturen bis hin zu einer wertorientierten und stabilen Außenpolitik, die – auch – der Wahrung der universellen Menschenrechte verschrieben ist. Diese Botschaften sollten sich an alle diejenigen Muslime richten, deren Streit um den richtigen Weg nicht über die Straße der Gewalt führt. Menschenrechte stehen wohl in ihrer jeweiligen Pragmatik und ihrer Durchsetzungskraft, nicht aber in ihrer Konzeption und ihrer Botschaft in Relation zu unterschiedlichen Kulturen.
26 In dieser Beurteilung ähnlich Harry Nutt, in: FR v. 18. 09. 2012, S. 11 („Religiöse Verletzungen“).
Die mafiaartige organisierte Kriminalität und das italienische Strafrechtssystem* Von Vincenzo Militello
I. Die Antimafia-Maßnahmen zwischen Recht und Gesellschaft: Einführende Beobachtungen In langjährigem und aus diversen Faktoren – Menschenopfern, politischen Entscheidungen, normativen Lösungen, Entwicklungen in der Rechtsprechung sowie individuellen und kollektiven Verhaltensweisen – gestaltetem Einsatz bemüht sich die italienische Gesellschaft um Bekämpfung eines der schwersten Probleme, mit denen sie sich je auseinandersetzen musste: die in der Mafia (und ähnlichen Gruppen) organisierte Kriminalität. Sicher spielen die Normen eine wichtige Rolle bei diesen Faktoren; die Wirksamkeit der jeweiligen Maßnahme leitet sich jedoch nur aus ihrem Zusammenwirken insgesamt ab. Auffallend ist der Antimafia-Einsatz Italiens auch im internationalen Kontext nicht nur hinsichtlich der normativen Aspekte, sondern auch, was die zahlreichen Stellungnahmen in der Zivilgesellschaft anbelangt, die Gruppen und Vereinigungen von Bürgern entwickelt haben, um Verhalten gegen die Kontrolle des täglichen Lebens durch die Mafia zu fördern und zu verbreiten. Auf der anderen Seite ist die auch heute noch bestehende Gefährlichkeit der Mafia nicht nur auf ihren gewalttätigen Arm (der auch vor der Tötung seiner Gegner nicht zurückschreckt) oder auf ihre massive Präsenz auf den unterschiedlichsten illegalen Märkten (Drogen, Waffen, Abfall) zurückzuführen, sondern auch auf ihre besondere Fähigkeit zur Infiltration in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt. Daher können auch nicht zwei deutlich unterschiedene und völlig getrennte Sektoren der Kräfte dargestellt werden, die hier im Spiel sind. Eine unzulässige Verallgemeinerung wäre aber eine Gleichsetzung der – tatsächlichen – Fähigkeit der Mafia, externe Kontakte zu knüpfen, und ihrer – angeblichen – Effizienz, wenn es darum geht, die gesamten Gegenmaßnahmen von Staat und Gesellschaft zu umgehen oder sogar völlig zunichte zu machen. Wenn auch in Phasen von unterschiedlicher Intensität und oftmals als Reaktion auf besonders dreiste Attacken seitens der Mafia, entwickeln sich die Bestrebungen zur ihrer Bekämpfung doch seit mehreren Jahrzehnten kontinuierlich, und zwar sowohl auf institutioneller als auch auf allgemein gesellschaftlicher Ebene. *
Die Übersetzung erfolgte in Zusammenarbeit mit Jutta Hohe.
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Nach Darstellung der ursprünglich fehlenden ausdrücklichen Berücksichtigung des Problems im italienischen Strafgesetzbuch (infra II.) sowie der ersten außerstrafrechtlichen Maßnahmen (infra III.) werden im Folgenden drei Antimafia-Phasen im italienischen Strafrechtssystem zusammengefasst: Eine erste Gruppe von Maßnahmen, die infolge des grundlegenden Gesetzes von 1982 und in den folgenden zehn Jahren in Kraft traten (infra IV. und V.); eine zweite Gruppe von Normen, die nach den Morden an den Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992 eingeführt wurden (auch mit Bezugnahme auf den entscheidenden Bereich der Geldwäsche und ihrer Bekämpfung) (infra VI. und VII.); und die jüngste Phase, die von der Notwendigkeit einer Systematisierung und Neuordnung der bisher eingeführten großen Zahl an Normen zu diesem spezifischen Bereich geprägt ist, was 2011 zu einem gesonderten „Antimafia-Gesetzbuch“ geführt hat (infra VIII.).
II. Normative Grundlagen: Der lange Schlaf des Gesetzgebers und das assoziative Straftatmodell Wie auch international bekannt, stellt das organisierte Verbrechen, insbesondere die Mafia, in Italien sicherlich kein neues Problem dar. Dessen ungeachtet enthielt das immer noch geltende Strafgesetzbuch von 1930 ursprünglich weder einen eigenständigen Normenbereich, noch spezifische Straftaten in dem doch immerhin breiten und detaillierten Besonderen Teil, der der Bekämpfung des Phänomens gewidmet war. Bis dahin – nicht erst unter dem faschistischen Regime, das das Strafgesetzbuch von 1930 herausgab, sondern bereits seit der Einigung Italiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – betrachtete man das Mafia-Problem zumeist lediglich als „einen der vielen Anhänge zum Komplex öffentliche Sicherheit“.1 Das hieß, die schlagkräftigen Instrumente zur Ausrottung des Phänomens Mafia auf eine Antwort seitens des Militärs oder zumindest der Polizei zu beschränken. Gleichzeitig bedeutete es, die Materie aus dem Strafgesetzbuch als allgemeine Grundlage des gesamten Strafrechtssystems auszuschließen, um die Mafia als Ausnahme-Problem zu behandeln, das anderen, ad hoc einsetzbaren und vor allem nicht denselben Garantien unterliegenden Instrumenten zu überlassen war. Dieser traditionelle Ansatz – der sich als strafrechtlicher Negationismus der Mafia und/oder als Reduktionismus ihrer Bekämpfung auf eine rein polizeiliche Frage definieren ließe – war jedoch nicht aufrecht zu erhalten, weder was seine Legitimität, noch was seine Wirksamkeit anbelangt. Im Hinblick auf Erstere machen sich Probleme der Rechtsgarantie der Bürger spätestens mit der Rückkehr zu den ver1 So – im Übrigen kritisch – Mignosi, Profili e problemi, 1927, S. 143. Eine sorgfältige Rekonstruktion dieser früheren Phase in: Lupo, Storia della mafia. Dalle origini ai giorni nostri, 1993, S. 19 f. Vgl. auch auf deutsch die Hinweise von Bögel, Strukturen und Systemanalyse der Organisierten Kriminalität in Deutschland, 1994, S. 16 f.
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fassungsrechtlichen Freiheiten 1948 deutlich bemerkbar. Was Letztere anbelangt, so wurde das Ungenügen der polizeilichen Antwort angesichts der Kontinuität und Schwere des Mafia-Problems zunehmend deutlicher. Ein Trend der im Übrigen einer allgemeineren, auch international zu beobachtenden Wandlung der schweren Kriminalitätsformen vom Individuum zur Gruppe entspricht, die neue Probleme für alle Strafrechtssysteme aufwirft. Im italienischen Strafgesetzbuch von 1930 lässt sich allerdings ein Modell der assoziativen Straftat erkennen: eine dogmatische Figur, die durch die dauerhafte Präsenz einer Gruppe von mindestens drei Personen mit dem Zweck der Begehung oder Unterlassung mehreren Straftaten gekennzeichnet wird. Bei dieser Unrechtstruktur wird das Verhalten mehrerer Personen, die sich zur gemeinsamen Begehung von mehreren Straftaten vereinigen, unter Strafe gestellt: Es bleibt auf diese Weise eine Differenzierung bezüglich der Teilnahme, als Beitrag von mehreren Personen an einem Verbrechen.2 Dafür gibt es zahlreiche Beispiele auf dem weiten Gebiet der Verbrechen gegen den Staat, mit dem der Besondere Teil des italienischen Strafgesetzbuchs beginnt: umstürzlerische Vereinigung (Art. 270), politische Verschwörung durch Vereinigung (Art. 305), Bildung bewaffneter Haufen (Art. 306). Strafrechtlich relevant ist hier bereits die Bildung – in einigen Fällen sogar die schlichte Verabredung (politische Verschwörung durch Verabredung: Art. 304) – einer Gruppe aus mehreren Personen zum Zwecke des Umsturzes, auch wenn noch kein Versuch der bezweckten Straftaten vorhanden ist. Die Probleme dieser Modelle für die Vorverlagerung der Strafbarkeit werden nur zum Teil durch das Merkmal der gewalttätigen bzw. bewaffneten Art und Weise der geplanten Aktionen abgedeckt.3 Seine klarste Ausformulierung findet das Modell jedoch auf dem Gebiet der Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung: Art. 416 stellt die Vereinigung von mindestens drei Personen zur Begehung von Verbrechen gleich welcher Art unter Strafe.4 Damit wird eine unbegrenzte Reihe von Verbrechen als Zweck der kriminellen Vereinigung erfasst, was die maximale Erweiterung der vorhergehenden Spezifikation nur einiger Delikte als Zweck der entsprechenden Figur im StGB von 1889 darstellt. 2
Kritisch dazu Ardizzone, in: Militello u. a. (Hrsg.), Organisierte Kriminalität als transnationales Phänomen, 2000, S. 81 f.; vgl. aber Valiante, L’associazione criminosa, 1997; I reati associativi, 1998; Picotti u. a. (Hrsg.), I reati associativi: paradigmi concettuali e materiale probatorio, 2005 (mit Beiträgen auch über das wichtige Sonderproblem der Teilnahme an einer kriminellen Vereinigung). 3 Vgl. kürzlich, auf deutsch, Militello, FS Roxin, 2011, S. 1713 f., 1721 f.; hierzu auch schon Petta, Reati associativi e libertà di associazione, in: Il delitto politico dalla fine dell’ottocento ai giorni nostri, 1984, S. 198 f.; Giov. De Francesco, I reati di associazione politica, 1985. 4 Vgl. Boscarelli, Associazione per delinquere, in: Enc. Dir., III, 1958, 865 f.; Patalano, L’associazione per delinquere, 1971; Insolera, L’associazione per delinquere, 1983; Neppi Modona, Criminalità organizzata e reati associativi, in: Beni e tecniche della tutela penale, 1987, S. 107 f.; De Vero, Tutela dell’ordine pubblico e reati associativi, 1988; Giov. De Francesco, Rivista italiana diritto e procedura penale, 1992, S. 54 f.; Moccia (Hrsg.), I delitti contro l’ordine pubblico, 2007.
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Auf diese Weise spielt die kriminelle Vereinigung die Rolle des Musterbeispiels für das Modell der assoziativen Verbrechen, auch wenn dies seinerseits als Ausnahme von dem im Allgemeinen Teil des im it. StGB niedergelegten Grundsatzes gilt: Die einfache Verabredung zwischen zwei oder mehr Personen zur Durchführung eines einzelnen Verbrechens, das dann nicht einmal als Versuch zur Ausführung gelangt, genügt nicht für eine Bestrafung, sondern kann allenfalls eine Sicherheitsmaßnahme nach sich ziehen (Art. 115). Ein Grundsatz, der übrigens typisch für das in dem Paradigma des Tatstrafrechts verankerte italienische System ist, obwohl es im Besonderen Teil des StGBs weitgehend außer Kraft gesetzt wird. Es ist übrigens in kodifizierten Rechtsordnungen nicht unüblich, dass der kriminalpolitisch beeinflusste Sonderfall von allgemeinen dogmatischen Grundsätzen auch beträchtlich abweicht: So wird Art. 115 sowohl von der Figur der kriminellen Vereinigung, als auch innerhalb des Staatsschutzes von der politischen Verschwörung durch Verabredung (Art. 304) derogiert.
III. Außer-strafrechtliche Vorläufer: die präventiven Maßnahmen Das derzeitig in Italien vorhandene umfangreiche Antimafia-Normensystem hat seine unmittelbaren Vorläufer auf dem Gebiet der außer-strafrechtlichen Maßnahmen, die lange Zeit als einzige Mittel zur Bekämpfung des Phänomens galten. Die Notwendigkeit eines auch strafrechtlichen Einsatzes reifte im – auf der Verfassung von 1948 gründenden – italienischen Staat nur langsam, was eine eindeutige Verzögerung bei der politischen Einschätzung der Schwere des Phänomens reflektiert. Seit der Landung der alliierten Truppen auf Sizilien 1943 manifestierte sich die Mafia wieder mit großer Anmaßung in der Öffentlichkeit: Abscheuliche Beispiele sind die Ermordung einer Reihe von Gewerkschaftern im Zusammenhang mit der Landreform und dann das Attentat auf die Carabinieri von Ciaculli (1963). In diesem kleinen Stadtviertel unmittelbar vor den Toren Palermos zeigte die Mafia mit der Explosion einer Autobombe ihre Gewaltbereitschaft, nicht nur gegen Vertreter des Staates, sondern auch mithilfe einer Technik, die ihrer Zeit weit voraus war. Ein erstes Antwortsignal seitens der Politik war die Parlamentarische Untersuchungskommission zum Phänomen der Mafia auf Sizilien:5 Seit 1948 angekündigt, aber erst 1962 tatsächlich eingerichtet, erstreckte sich die Arbeit der Kommission über vier (!) Legislaturperioden, bevor sie schließlich 1976 ihren Schlussbericht vor5 Ein Vorläufer war die ähnlich geartete Untersuchungskommission des Parlaments im Königreich Italien (eingerichtet per Gesetz vom 03. 07. 1875), die in ihrer Arbeit ausgiebig Bezug nimmt auf die Frage der öffentlichen Sicherheit in Sizilien, und insbesondere auf die Mafia: vgl. Relazione della giunta per l’inchiesta delle condizioni della Sicilia, 1876, specie 111 f. Um eine Privatinitiative handelte es sich hingegen bei der um die gleiche Zeit stattgefundenden und oft zitierten Untersuchung Franchetti und Sonnino.
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legte. Die umfangreiche Untersuchung war jedoch nicht begleitet von spezifischen Vorschlägen zur Strafbarkeit, mit denen sich die Mafia bekämpfen ließe, sondern zielte lediglich auf eine Verbesserung der Maßnahmen auf außer- oder vielleicht para-strafrechtlicher Ebene ab. Das erwähnte Attentat von Ciaculli hatte dazu geführt, dass endlich und ausdrücklich „Bestimmungen gegen die Mafia“ verabschiedet wurden, vor allem spezielle Vorbeugungsmaßnahmen gegen „der Zugehörigkeit zu mafiösen Vereinigungen verdächtige“ Personen (Gesetz Nr. 575 vom 31. 05. 1965): Hierbei handelt es sich nicht um eine Haftstrafe, sondern vielmehr um ursprünglich polizei- und verwaltungsrechtliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit (Stellung unter Polizeiaufsicht, Aufenthaltspflicht oder -verbot), deren Verhängung weniger strenge Beweisauflagen als die strafrechtlich verlangten erfordert. Diese Maßnahmen werden als Abschluss eines vereinfachten und zumindest anfangs nicht gerichtlichen Verfahrens angewandt, das der polizeilichen Verwaltungsbehörde (des Präfekten) überlassen ist und sich völlig unabhängig vom Strafverfahren entwickeln kann. Ein ante delictum präventives System also, das außerhalb des Strafrechts im eigentlichen Sinne steht und eine Art von polizeirechtliche Maßnahme weiter entwickelt, die bereits im Gesetz Nr. 1423 vom 27. 12. 1956 für die öffentliche Sicherheit gefährdende Personen vorgesehen war. Ein System, das bis heute weiterentwickelt wird: nach einigen Jahren werden die ursprünglich nur personenbezogenen Maßnahmen auch Voraussetzung für weitere, aber vermögensbezogene präventive Maßnahmen. Diese zweite Vorbeugungsart nahm mit der Zeit eine vorherrschende Rolle an, um die äußerst hohen mafiösen Gewinne zu bekämpfen, bis sie im Laufe der Zeit völlig unabhängig von den traditionellen, personenbezogenen Maßnahmen geworden ist (s. infra VI.). Die ersten Jahre, in denen das Antimafia vorbeugende System Anwendung fand, waren jedoch in der Öffentlichkeit immer noch von einer Haltung des „Agnostizismus und der Gleichgültigkeit“ gegenüber der Mafia geprägt, wie die oben erwähnte Parlamentarische Antimafia-Kommission 1976 in ihrem Schlussbericht bemerkt. Im Übrigen wurde dieses Organ des Parlaments dann bis zu den schweren Attentaten, die 1982 zur Verabschiedung des grundlegenden Gesetzes „Rognoni-La Torre“ führten, nicht mehr einberufen. Aber auch der Gesetzgeber ging in jenen Jahren mit Vorsicht zu Werke und vermied den ausdrücklichen Verweis auf die organisierte Kriminalität. Dies offenbart eine Überzeugung, welche nicht nur damals weit verbreitet war, sondern noch heute nicht selten anzutreffen ist, obwohl angesichts einer italienischen und übernationalen Gesetzgebung, die seit geraumer Zeit intensiv auf den Begriff der organisierten Kriminalität zurückgreift.6 Es handelt sich um das Fehlen einer zweifelsfreien 6 Zu Hinweisen auf den Begriff „organisierte Kriminalität“ in der italienischen Gesetzgebung s. Insolera, Diritto penale e criminalità organizzata, 1996, S. 42 f. In Bezug auf die entsprechenden europäischen Quellen vgl. Kress/Gazeas, in: Sieber u. a. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, S. 327 f., sowie auch für weitere Verweise Militello, Transnational Organised Crime and European Union: Legal Aspects and Problems (in Druck bei Heinrich Böll Stiftung). Bassiouni/Vetere (eds.), Eine Sammlung der Dokumente der Vereinten Natio-
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Definition des Begriffs, der als eine allgemeine und unbestimmte Formel erscheint, unter der die unterschiedlichsten Formen des kollektiven Verbrechens gesammelt werden.7
IV. Eine Wende in der Strategie des Staates: Das Antimafia-Gesetz von 1982 Die zunehmende Brutalität der Mafia, die sich ab Ende der 70er Jahre mit Morden an Politikern und Journalisten manifestierte, führte endlich zu einer echten Wende bei der Bekämpfung des Phänomens, nämlich zu dem Antimafia-Gesetz von 1982. Sein ursprünglicher Befürworter, der Politiker Pio La Torre, war selbst bei einem Mafia-Attentat ums Leben gekommen, aber das Parlament nahm das Gesetz erst an, als wenige Monate später auch der Carabinieri-General Carlo Alberto Dalla Chiesa ermordet wurde, der eben aufgrund der unhaltbaren Situation nach Palermo entsandt worden war. Dies ist eines der typischen Kennzeichen der italienischen Antimafia-Gesetzgebung, die sich von Fall zu Fall, als staatliche Antwort auf einzelne, schwere Angriffe der Mafia entwickelt hat. Hier steht dem Willen, nicht vor der mafiösen Herausforderung zurückzuweichen, eine allgemeine Unfähigkeit gegenüber, die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung einem kohärenten Gesamtplan entsprechend durchzusetzen. Aber es zeigt sich auch, dass das Mafia-Phänomen weit davon entfernt ist, eine Ausnahme- oder Randerscheinung zu bilden, als die es bisher vom Staat behandelt worden war. Im Gegenteil, es handelt sich um eine kriminelle Erscheinungsform, die alles durchdringend und gut verwurzelt ist und daher auch als solche auf struktureller und besonders auf strafrechtlicher Ebene angegangen werden muss. Handelt es sich um einen „ewigen Ausnahmezustand“ als Vorwand für eine illiberale Rückentwicklung des Strafrechtssystems oder vielmehr um eine Weiterentwicklung der Kriminalität, deren neuen Manifestationen ein modernes Strafrechtssystem entgegenwirken muss? Dieses Dilemma durchzieht die kriminalpolitische Debatte sowohl in Italien8 als auch auf internationaler Ebene, beispielsweise mit der Theorie eines „Feindstraf-
nen in Organised Crime. A compilation of U. N. documents 1977 – 1998, 1998; vgl. auch jüngst Ponti, Crimini transnazionali e diritto internazionale, 2010, S. 5 f., 35 f. 7 Die Kritik an der Unbestimmtheit des Begriffs ist weit verbreitet: vgl. Fiandaca, in: Bassiouni u. a. (Hrsg.), Studi in onore di G. Vassalli, 1991, S. 33 f.; H.-J. Albrecht, in: Id. u. a. (Hrsg.), Organisierte Kriminalität und Verfassungsstaat, 1998, S. 3 f.; Auarte Borrallo, in: Ferré Olivé/Auarte Borallo (Hrsg.), Delinquencia Organizada. Aspectos penales, procesuales y criminologicos, 1999, S. 20 f.; Zaffaroni, in: Moccia (Hrsg.), Criminalità organizzata e risposte ordinamentali, 1999, S. 63 f. Über die Notwendigkeit einer Definition trotz aller Schwierigkeiten jüngst, Zúñiga Rodrígues, Criminalidad organizada y sistema de derecho penal, 2009, S. 27 s. 8 Zu den verschiedenen Positionen vgl. einerseits Moccia, La perenne emergenza, 1998, S. 88 f., und andererseits Vassalli, Emergenza criminale e sistema penale (1995), in: Ultimi scritti, 2007, S. 9 f.
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rechts“, innerhalb dessen die sowohl materielle als auch strafprozessuale Gesetzgebung gegen die organisierte Kriminalität als privilegiertes Beispiel angeführt wird.9 Es gibt mindestens drei Zielsetzungen, die das Antimafia-Gesetz Nr. 646 vom 13. 09. 1985 kennzeichnen: die Mafia als kriminelle Organisation zu treffen, die von ihr erlangten unrechtmäßigen Vermögen direkt anzugreifen und dem staatlichen Einsatz gegen die Mafia absoluten Vorrang einzuräumen. Dem entspricht die Serie von eingeleiteten Schritten: in erster Linie strafrechtliche Ad-hoc-Bestimmungen, in deren Mittelpunkt die normative Bestimmung der mafiaartigen kriminellen Vereinigung steht, sodann die Einführung der bereits genannten, spezifisch auf Vermögenswerte ausgerichteten Vorbeugungsmaßnahmen (Beschlagnahme und Einziehung von Kapital illegaler Herkunft), und schließlich die Wiedereinsetzung der Parlamentarischen Antimafia-Kommission, die über die Anwendung der neuen Instrumente zur Bekämpfung der Mafia wachen soll. 1. Dreh- und Angelpunkt des neuen Systems ist zweifellos die mafiaartige kriminelle Vereinigung als neu eingeführte Straftat (Art. 416bis), die im Strafgesetzbuch gleich hinter der traditionellen kriminellen Vereinigung (Art. 416) steht. Die Wirkungslosigkeit dieser bereits erwähnten (o. II.) Straftat bei der Bekämpfung der Mafia wird auf gerichtlicher Ebene bestätigt durch die Freisprüche am Ende der, in den 60er und 70er Jahren gegen mafiöse Gruppierungen angestrengten Prozesse, die nur dazu beitrugen, das Bild von einer gegen staatliche Reaktionen immunen Macht zu stärken. Trotz der scheinbaren Ähnlichkeit, die auch aus der Mindestanzahl der zur Vollendung der beiden Straftatbestände notwendigen Teilnehmer (mindestens drei) resultiert, ist ihre inhaltliche Struktur sehr unterschiedlich. Dem französischen Modell der Association des malfaiteurs im Code Napoleon von 1810 zufolge stellt auch Art. 416 ein unbestimmtes kriminelles Programm der Gruppe in den Mittelpunkt des Straftatbestands. Dagegen verleiht die mafiaartige kriminelle Vereinigung in Art. 416bis nicht nur den Modalitäten, unter denen die Gruppe agiert, einen besonderen Wert, sondern spezifiziert auch ihr Programm an Aktivitäten: Diese müssen nicht mehr nur illegal, sondern können hier an sich auch legal sein, um den Tatbestand zu erfüllen. Endlich wird die gesetzgeberische Zurückhaltung bei der ausdrücklichen Bezugnahme auf den Terminus Mafia überwunden und nun die spezifische „Mafia-Methode“ definiert, die den Tatbestand der gleichnamigen Vereinigung kennzeichnet. Sie besteht darin, dass die Mafia-Mitglieder „sich der einschüchternden Macht der Bindung an die Vereinigung und den daraus folgenden Bedingungen der Unterwerfung und Schweigepflicht (Omertà) bedienen“, um das kriminelle Programm der Vereinigung durchzuführen. Dabei muss es sich um ein aktuelles Kennzeichen der Vereinigung handeln, auch wenn die verschiedenen Zielaktivitäten nicht notwendigerweise 9 So z. B. Jakobs, HRRS 2004, 88 f., 92; sowie, unter den Kritikern, z. B. Hörnle, GA 2006, 80 f., 88; Jäger, FS Roxin, 2011, S. 77. In Italien, jüngst Donini, Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico, 2009, S. 1699 f., 1713; Pagliaro, Cassazione penale, 2010, S. 2460 f., 2469 (mit weiteren Nachweisen).
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durch konkrete Gewalttaten oder Drohungen ausgeführt werden sollen: Es genügt, dass die kriminelle Gruppierung eine, die freien Entscheidungen der Bürger „beherrschende Stellung“ ausübt und damit von einer Art krimineller Ausgangssituation profitieren kann, die es ihr leicht macht, Vergeltungs- oder Racheakte gegen einen bestimmten Kreis von Bürgern auszuüben. Die Mafia-Methode zielt ihrerseits auf die Verfolgung eines Programms unterschiedlicher Handlungen ab: Es handelt sich sowohl um kriminelle Verhaltensweisen (entweder im allgemeinen „Verbrechen begehen“, oder, spezifischer, „bei Wahlen die freie Ausübung des Stimmrechts ver- oder behindern, oder sich selbst oder anderen Stimmen verschaffen“)10, als auch um solche, die normalerweise – zumindest an sich – nicht strafrechtlich geahndet werden („die Leitung von oder allgemein die Kontrolle über wirtschaftliche Tätigkeiten, Konzessionen, Ermächtigungen, öffentliche Vergaben und Dienste“ zu „erlangen, oder für sich oder andere ungerechtfertigte Erträge oder Vorteile zu erzielen“). Diese Voraussetzungen sind im Übrigen auf besondere Weise konfiguriert: Es handelt sich nicht nur um Zielsetzungen, die keiner tatsächlichen Konkretisierung bedürfen, sondern es genügt auch eine Einzige von ihnen, um die Tatbestandmerkmale einmal zu erfüllen, was jedoch auch immerhin bestehen bleibt, wenn mehrere der genannten Zielsetzungen vorliegen. Zu den Bemühungen um Definition des Tatbestands gesellt sich die Strenge der strafrechtlichen Folgen: Die Hauptstrafen sind schwerer als die in Art. 416 für die kriminelle Vereinigung vorgesehenen (hinzu kommen noch die spezifischen Erschwerungsgründe, vgl. infra IV.2.); außerdem wird die obligatorische Einziehung auch auf diejenigen Sachen, die die Verwendung des Lohns, des Ergebnisses oder des Ertrags der Straftat darstellen, ausgedehnt; schließlich wird die Verwirkung der verwaltungsrechtlichen Genehmigungen zur Ausübung einer Reihe von wirtschaftlichen Tätigkeiten, als Nebenstrafe vorgesehen (was aber durch das spätere Gesetz 1990/55, Art. 36 Abs. 2 abgeschafft wurde, um dieselbe Folgen nur in Verbindung mit der Vorbeugungsmaßnahmen verhängen zu lassen)11 (Art. 416bis Abs. 7). Ferner ist wichtig, dass den historisch in Sizilien verwurzelten mafiösen Gruppierungen auch alle anderen kriminellen Organisationen, die auf italienischem Territorium operieren, ungeachtet ihrer einzelnen Bezeichnungen (Camorra, ’Ndrangheta, Sacra corona unita) normativ gleichgestellt werden: Somit wird das neue Verbrechen von einer auf soziokulturelle Muster beschränkten Bedeutung abgekoppelt und stellt sich als Bezugspunkt eines breiter angelegten Begriffs der kriminellen Vereinigung dar, wenn auch weiterhin mit terminologischem Bezug auf die Mafia als Typologie der verschiedenen Gruppen.12 Andererseits haben dieselben soziokulturellen Tatbe10 Decreto-legge (im Folgenden: d.l.) 1992/35, umgewandelt mit Änderung (im Folgenden: u.m.Ä.) im Gesetz 1992/356, hat diese weiteren möglichen Ziele der ursprünglichen Normfassung des Art. 416bis hinzugefügt [s. infra VI.a)]. 11 Vgl. Spagnolo, L’associazione di tipo mafioso, 1990, S. 19. 12 Vgl. Insolera (Fn. 6), S. 11 f.; In Bezug auf die Unbestimmtheit der Formel Spagnolo (Fn. 11), S. 19 f.
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standsmerkmale durch eine im Verlauf mehrerer Jahrzehnte entwickelte Rechtsprechung weitgehend bestimmte Konturen bekommen.13 2. Die den für die mafiöse Kriminalität typischen Manifestationen zugemessene Bedeutung beschränkt sich nicht auf den neuen Tatbestand der mafiaartigen kriminellen Vereinigung, sondern spiegelt sich auch in den spezifischen Erschwerungsgründen sowie in weiteren neuen Straftatbeständen wider. So sind besondere Erschwerungsgründe vorgesehen, die sich sozusagen intern in Bezug auf die kriminelle Vereinigung ergeben: Das ist der Fall, wenn diese bewaffnet ist, oder wenn die wirtschaftlichen Tätigkeiten, mit denen die Gruppe sich beschäftigt, durch illegale Einnahmen gefördert werden (Art. 416bis, Abs. 4 – 6). Weitere Gegebenheiten im Zusammenhang mit der Phänomenologie der Mafia betreffen Verbrechen wie Begünstigung, Raub und Erpressung, wenn sie von Mitgliedern einer mafiösen Vereinigung begangen werden (Art. 378 Abs. 2, Art. 379 Abs. 2, Art. 628 letzter Abs., Art. 629 letzer Abs.). Die Wachsamkeit, mit der die gefährliche Ausweitung der mafiösen Aktivitäten auf die legale Wirtschaft betrachtet wird, zeigt sich außerdem in dem neuen Delikt des unerlaubten Wettbewerbs unter Anwendung von Drohung oder Gewalt (Art. 513bis): Damit soll die Einschüchterung von Konkurrenten durch mafia-typische Handlungen wie Explosionen von Sprengkörpern, Verursachen von Sachschäden oder Gewalt gegenüber Personen bekämpft werden. Der Tatbestand ist jedoch so selektiv formuliert, dass er sich fast nur auf Handlungen bezieht, die bereits durch andere strafrechtliche Verbrechen abgedeckt sind. Dies hat zur Folge, dass diese Norm nur selten in der Praxis angewendet wird.14 3. Den zweiten Pfeiler des neuen Gesetzes bildet die Verstärkung der präventiven Maßnahmen. Das System der Antimafia-Vorbeugung (vgl. supra 2.) wird erheblich geändert: Nicht nur werden die Kennzeichen der Aufenthaltspflicht genauer definiert, sondern auch neue Maßnahmen eingeführt, um auf das Vermögen der verdächtigen Mitglieder der mafiösen Vereinigung zuzugreifen. Insbesondere die Einfüh13
Schon die normative Definition der mafiösen Methode verweist nicht so sehr auf soziologische Analysen als vielmehr auf frühere Rechtsprechung über Vorbeugungsmaßnahmen: Vgl. z. B. it. Kassationsgerichtshof, I, 8. 6. 1976, Nocera, in: Giustizia Penale 1977, Teil II, Kolumne 268 f. Andererseits wurde in der Rechtsprechung der ungenaue Begriff „Omertà“ verstanden als „absolute bzw. bedingungslose Weigerung, mit den staatlichen Organen zusammenzuarbeiten“ und in eine Ursache/Wirkung-Beziehung zu dem Einschüchterungspotenzial der Vereinigung gesetzt. Dieses muss aber nicht unbedingt allgemeinen Charakter haben und nicht ausschließlich aus der Furcht vor physischen Schäden der Personen entstehen, sondern kann auch durch direkte und/oder symbolische Drohungen gegeben sein: „Vorhanden sein muss die verbreitete Überzeugung, dass die (eventuelle) Zusammenarbeit mit den Justizbehörden nicht vor Vergeltungsschlägen gegen die Person und/oder die (nicht nur materiellen) Güter des Anzeigenden schütze, […] unter Berücksichtigung der Verzweigung der Organisation, ihrer Effizienz, des Vorhandenseins anderer, nicht identifizierbarer Subjekte, welche die Macht haben, denjenigen zu schädigen, der es gewagt hat, sich zu widersetzen“ (it. Kassationsgerichtshof, I, 10. 7. 2007, Nr. 34974, Brusca, RV237619). 14 Vgl. schon Palazzo, La recente legislazione penale, 1985, S. 236.
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rung (Art. 14 Ges. 1982/646) der Gütereinziehung in den Korpus des Maßnahmenkatalogs des vorhergehenden Gesetzes von 1965 stellt einen kulturellen Wendepunkt dar. Damit wird die Bedeutung unterstrichen, die der Anhäufung von Reichtümern innerhalb der mafiösen Wertehierarchie im Verhältnis zu anderen Gütern wie etwa der Freiheit zukommt: Die kriminellen Vereinigungen fürchten effektive Sanktionen zum Schaden ihrer unrechtmäßig erworbenen Vermögen mehr als strafrechtliche Drohungen oder verwaltungsrechtliche Verbote. Eine zutreffende Intuition, die sich in der weiteren Entwicklung der Maßnahmen dieser Art immer deutlicher als sinnvoll erwiesen hat (infra VII.). Der im Gesetz Rognoni-La Torre detailliert gezeigte Einsatz gegen die Mafia wurde dann durch eine weitere normative Innovation (Decreto legislativo 629/ 1982) unterstützt, die von der Notwendigkeit eines koordinierten Ansatzes bei der Bekämpfung eines verzweigten und weit verbreiteten kriminellen Phänomens ausgeht. Angedacht wird folglich ein eigenständiges, direkt von der Regierung ernanntes Verwaltungsorgan mit der Aufgabe, die Effizienz der Maßnahmen zu garantieren, die von den verschiedenen Antimafia-Ordnungskräften ins Werk gesetzt werden (Hochkommissar für die Koordination im Kampf gegen die Mafia). Dieses ad hoc eingesetzte Organ war – im Übrigen auch unter teils erbitterten Streitereien insbesondere wegen seiner direkten Abhängigkeit von der Regierung – fast zehn Jahre lang tätig. Es wurde dann im Rahmen der von Richter Falcone vorangetriebenen grundlegenden Neuorganisation aller vom Staat gegen die Mafia eingesetzten Subjekte durch die Antimafia-Ermittlungsdirektion (Direzione Investigativa Antimafia) ersetzt. Trotz der 1982 eingeleiteten umfangreichen Antimafia-Maßnahmen blieb das Gefahrenpotenzial der Organisation in jener Zeit sehr hoch: Eine Autobombe tötete im Juli 1983 den Richter Rocco Chinnici, der mit der koordinierten Arbeit innerhalb der Antimafia-Untersuchungen begonnen hatte und der in die Schulen Palermos ging, um schon die Jüngsten in eine Antimafia-Aktion „von unten“ einzubinden; im Sommer 1985 wurden zwei Polizeikommissare ermordet, Ninni Cassarà und Beppe Montana, die sich bei der Bekämpfung der Mafia besonders ausgezeichnet hatten.
V. Das Jahrzehnt 1982 – 1992 zwischen zunehmender normativer Schichtung und ersten Strafurteilen Während des Jahrzehnts nach dem Inkrafttreten des bedeutenden Antimafia-Gesetzes setzt der italienische Gesetzgeber die Bekämpfung der Mafia mittels vielfältiger Eingriffe fort, besonders auf prozess- und verwaltungsrechtlichem Gebiet. Zur Verdeutlichung der zunehmenden Schichtung der Gesetzgebung zum Thema sei nur an folgende Maßnahmen erinnert: a) Das Gesetz Nr. 29 aus dem Jahr 1987 regelt den Bereich Untersuchungshaft, um die Entlassung aus dem Gefängnis von Männern zu vermeiden, die im ersten gro-
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ßen Prozess gegen die mafiöse Organisation Cosa Nostra angeklagt waren (dem sog. „Maxi-Prozess“ mit mehreren hundert Angeklagten). b) Das Gesetz Nr. 327 von 1988 modernisiert die personenbezogenen Vorbeugungsmaßnahmen, modifiziert die Bestimmung zur Aufenthaltspflicht und setzt die (mündliche) Verwarnung außer Kraft. c) Das Gesetz Nr. 282 von 1989 (Umwandlung des d.l. 230/1989) regelt das verwaltungstechnische Vorgehen bei der Einziehung und Beschlagnahme von Mafia-eigenen Gütern und deren weitere Bestimmung. d) Das Gesetz Nr. 55 von 1990 enthält „Neue Bestimmungen für die Vorbeugung gegen Verbrechen mafiöser Art“ und behandelt verschiedene Aspekte sowohl des Verhältnisses zwischen Mafia und Politik als auch der Infiltration der Wirtschaft seitens der Mafia; außerdem beschäftigt es sich mit Untersuchungen von mafiösen Vermögenswerten. e) Die „Dringliche Maßnahmen zum Thema Bekämpfung der organisierten Kriminalität und gute Verwaltung“ (d.l. Nr. 324/1990, Nr. 5/1991 und Nr. 76/1991, die alle nicht umgewandelt und wie „am Fließband“ wieder vorgelegt wurden, sowie zuletzt d.l. Nr. 152 vom 13. 05. 1991 umgewandelt in das Gesetz Nr. 203 vom 12. 07. 1991) enthalten eine Reihe von prozessrechtlichen (Rückkehr zur automatischen Anwendung der Sicherheitsverwahrung bei Delikten der organisierten Kriminalität) und vollzugsrechtlichen (Einschränkung der Belohnungen für gute Führung bei wegen Mafiazugehörigkeit und anderer schwerer Verbrechen Inhaftierten, Einführung von Strafminderungen für auch wenn sie nach ihrer Verurteilung mit der Justiz zusammenarbeiten) Bestimmungen. f) Gerade das problematische Thema des Schutzes der in zahlreichen AntimafiaVerfahren entscheidenden Kronzeugen ist Gegenstand einer eigens formulierten Maßnahme („Neue Maßnahmen bei erpresserischem Menschenraub und zum Kronzeugenschutz“: d.l. Nr. 8 vom 15. 01. 1991, umgew. in Gesetz Nr. 82 vom 15. 03. 1991). g) Von besonderer Bedeutung ist die Neuorganisation der Untersuchungsbehörden durch Konzentration ihrer Organe, was die jeweilige Koordination sicherstellen soll. Die Grundidee geht auf den unvergessenen Richter Falcone zurück:15 Wenn die kriminelle Vereinigung in vernetzten Strukturen organisiert ist, so können die Untersuchungen nicht aus Maßnahmen bestehen, die vollständig voneinander getrennt und daher unfähig sind, Gemeinsamkeiten bei Interessen und persönlichen Beziehungen zu rekonstruieren. Um eine entsprechende Spezialisierung und Organisation aller mit der Bekämpfung der Mafia befassten Einheiten zu erreichen, wurde die Nationale Antimafia-Direktion (Direzione Nazionale Antimafia) geschaffen. Dieses justizbehördliche Organ, bestehend aus einer national operierenden Staatsanwaltschaft, welche die spezifisch für Mafia-Untersuchungen zustän15 Vgl. die verschiedenen Stellungnahmen der Jahre 1990 – 92 gesammelt in Falcone, Interventi e proposte, 1994, S. 24 f., 132 f.
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digen Bezirksdirektionen koordiniert (d.l. Nr. 327 vom 20. 11. 1991, u.m.Ä. im Gesetz Nr. 8 vom 20. 02. 1992).16 Parallel dazu erfolgte die schon genannte Einrichtung der Antimafia-Ermittlungsdirektion (Direzione Investigativa Antimafia), ein Organ des Innenministeriums, das aus Komponenten der diversen Ordnungskräfte besteht (Polizei, Carabinieri, Finanzpolizei) (d.l. Nr. 345 vom 29. 10. 1991, umgew. in Gesetz Nr. 410 vom 30. 12. 1992). Auf gerichtlicher Ebene steht das Jahrzehnt im Zeichen des bereits erwähnten ersten Maxi-Prozesses gegen die Mafia-Organisation Cosa Nostra, der 1986 in Palermo begann. Dieses Verfahren – „Maxi-Prozess“ genannt wegen der hohen Anzahl von Angeklagten (476) – schloss im Januar 1992 mit der kassationsgerichtlichen Bestätigung der überwältigenden Mehrheit der Urteile (über 80 Mal lebenslängliche Freiheitsstrafe). Die Symbolkraft war enorm: Zum ersten Mal war die Mafia von einem Staat in die Enge getrieben worden, der endlich seine Gegenmaßnahmen in kohärenter Weise anwenden wollte und konnte. Die Öffentlichkeit der Verhandlungen verstärkte den Wert von Vorgängen wie z. B. der Aussage der ersten Kronzeugen: Denkwürdig war hier diejenige von Tommaso Buscetta, dem Mafia-Boss, der in Brasilien von Richter Falcone verhaftet worden war und der mit seinen Enthüllungen den Schleier der Geheimhaltung zerriss, der bisher die innere Organisation der Palermitaner Mafia umgeben hatte; seine Aussage bildete einen wichtigen Trumpf beim Aufbau der Anklage, die dann auch vor Gericht bestätigt wurde.17
VI. Die Reaktion auf die Mafia-Attentate des Jahres 1992 Allerdings beugte die Mafia auch nach dem vernichtenden Schlag der erlittenen Verurteilungen nicht den Kopf: Sie ermordete erst einen bekannten sizilianischen Politiker, und dann, mit den verheerenden Bombenattentaten im Mai bzw. Juli 1992, die beiden bekannten und mutigen Antimafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino; auch ihr Begleitschutz fiel den Attentaten zum Opfer. Zugleich mit der starken Reaktion der Zivilgesellschaft – Demonstrationen, Umzüge und Bürgerkomitees –18 antwortete auch der Staat. Insbesondere wurde nach dem FalconeAttentat das d.l. Nr. 306 vom 08. 06. 1992 verabschiedet: „Dringliche Abänderungen der neuen Strafprozessordnung und Maßnahmen zur Bekämpfung des mafiösen Ver16 Vgl. Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 177 f. 17 Eine wichtige direkte Zeugenaussage in den Memoiren des Vorsitzenden des Palermitaner Gerichtshofs ersten Grades: Giordano, Il maxiprocesso venticinque anni dopo, 2011. 18 Die bekannteste war das aus Privatbürgern bestehende „Komitee der Betttücher“: Hier wurden zum Zeichen des Widerstands gegen die von der Mafia erzwungene Idee der Omertà und gegen die Angst weiße Leintücher an den Balkonen der Wohnungen aufgehängt, womit die Bürger ihre Antimafia-Gesinnung öffentlich machten (eine aktualisierte Erinnerung in: Alaimo, Un lenzuolo contro la mafia, 2012). Die Reaktion der Zivilgesellschaft wird hingegen vernachlässigt in dem doch immer wichtigen Beitrag von Fijnaut (2012) 20 Eur.J.Crime Cr.L.Cr.J., S. 131 f.
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brechens“, deren Umwandlung in ein Gesetz (Nr. 356 vom 07. 08. 1992) jedoch erst erfolgte, nachdem Borsellino und sein Begleitschutz nur zwei Monate später umgebracht worden waren. a) Beim materiellen Strafrecht wird vor allem der schwierige Punkt der Beziehungen zwischen Mafia und Politik behandelt. Erweitert wird insbesondere die Beschreibung des Programms der „mafiaartigen Vereinigung“ selbst durch den schon genannten Zusatz im dritten Absatz, der jetzt „die Ausübung des Stimmrechts ver- oder behindern, oder sich selbst oder anderen bei den Wahlen Stimmen zu verschaffen“ auch berücksichtigt. Des Weiteren wird der Tatbestand des mafiaartigen politischen Tauschgeschäfts bei Wahlen neu eingeführt (Art. 416ter), allerdings in einer Form, die den Beweis erschwert: Im Fall des gesetzwidrigen Stimmenhandels mit einem Politiker wird die Übergabe von Geld verlangt, während die Möglichkeit wirtschaftlicher Vorteilsnahme anderer Art nicht berücksichtigt wird. b) Wichtig sind auch die Änderungen bei der seit 1989 geltenden Strafprozessordnung, die in der Zwischenzeit nicht mehr auf dem inquisitorischen, sondern auf dem akkusatorischen Prinzip basiert, mit einer starken rechtsstaatlichen Prägung bei der Beweisbildung auf Antrag der Partei in der Hauptverhandlung und der Eliminierung des Untersuchungsrichters.19 Die Komplexität der Rekonstruktion der Fakten im Zusammenhang mit der Mafia während des Prozesses führt dazu, dass die entsprechenden Vorschriften vom neuen Regime abgetrennt werden, um die Befugnisse von Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei sowie der AntimafiaErmittlungsdirektion und des nationalen Antimafia-Staatsanwalts zu potenzieren; des Weiteren wird die Mündlichkeit der Hauptverhandlung begrenzt, um zu garantieren, dass Beweismittel nicht verlorengehen; außerdem sind in Fällen von Mafia-Delikten Abweichungen vom normalen Verfahren bei akustischen und Telefonüberwachungen ebenso vorgesehen wie eine Verstärkung der automatischen Überstellung des Verdächtigen in die Sicherheitsverwahrung bei Vorliegen von schwerwiegenden Indizien für Mafiadelikte und ihre Nicht-Ersetzbarkeit durch Maßnahmen außerhalb der Haftanstalt. All dies stellt letztendlich die Mafia-Prozesse auf ein autonomes, vom Radius des normalen Strafprozesses gesondertes Gleis, das mit der Zeit zum Angelpunkt einer autonomen Unterabteilung „Antimafia“ innerhalb des italienischen Strafrechtssystems werden wird. c) Und schließlich fehlen auch Änderungen im Strafvollzug nicht, und zwar hinsichtlich einer von den Mafiosi besonders gefürchteten Maßnahme, nämlich dem so genannten „carcere duro“ (verschärfte Haft nach Art. 41bis des Strafvollzugsgesetzes): Dabei handelt es sich um Aussetzung der allgemeinen Regeln für Personen, die wegen Delikten der organisierten Kriminalität und des Terrorismus inhaftiert sind (auch solche in Erwartung ihres Verfahrens). Diese per Erlass des Justizministeriums angenommene Aussetzung tritt in Kraft, wenn die öffentliche Ordnung und Sicherheit wiederholt schwer bedroht sind. Dieses strenge System – 19
Vgl. noch Maiwald (Fn. 16), S. 169 f., 185.
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es war fast, als wollte man damit die auf Rehabilitation zielenden Öffnungen eines Strafvollzugs-Gesetzes (Ges. Nr. 663/1986) ausgleichen – war ursprünglich nur für Notfallsituationen gedacht und daher nur von temporärer Gültigkeit. Aber nach dem Mord an Falcone 1992 wurden die Möglichkeiten seiner Anwendung auf wegen Verbrechen im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität Inhaftierte ausgedehnt. Außerdem wurde die Bestimmung nach einer Reihe jährlicher Fristverlängerungen schließlich permanent (Ges. Nr. 279 vom 23. 12. 2002). Es handelt sich um eine wirklich einschneidende restriktive Maßnahme (fast vollständiges Verbot der Beziehungen nach außen, Isolationshaft), die es sicherlich erschwert, auch bei wegen Mafiadelikten Inhaftierten den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Resozialisierung des Verurteilten als Strafzweck anzuwenden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im übrigen auf die Inkompatibilität des „carcere duro“ mit der europäischen Menschenrechtskonvention hingewiesen, wenn auch nicht in Bezug auf das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafen laut Art. 3 der Konvention.20 Wie die oben genannten Beispiele zeigen, werden durch die Gesetzgebung der letzten 20 Jahre im Grunde die bereits existenten Antimafia-Aktionslinien weiter entwickelt und durch neue Profile erweitert. Bemerkenswert sind hier insbesondere die staatlichen Hilfeleistungen an die Opfer von Mafiadelikten.21 Auch die Kronzeugenregelungen spielten in der gesamten staatlichen Antimafia-Strategie eine nicht unbedeutende Rolle:22 Das Gesetz 2001/45 setzt strengere Kriterien für die Anerkennung des Kronzeugenstatus ebenso fest wie für die Überprüfung der jeweiligen Aussagen; außerdem reduziert es die Anzahl der Verbrechen, für die ein „Bonussystem“ vorgesehen ist; es setzt auch eine Frist von sechs Monaten fest, innerhalb derer Aussagen gemacht werden können (zwecks Verhinderung der sog. „Aussagen auf Raten“); schließlich gewährt es Zugang zum Zeugenschutzprogramm an jener Personen, die mit den Gerichten zusammenarbeiten, aber selbst keine Verbrechen begangen haben und die besondere Schutzmaßnahmen gegen Vergeltungsakte der Mafia benötigen. In den letzten Jahren betrafen die meisten Veränderungen und Eingriffe nicht den Sektor des Strafrechts, sondern den Bereich der Vorbeugungsmaßnahmen. Diese werden außerdem nach und nach der Sphäre der Jurisdiktion einverleibt und verlieren 20 Insbesondere im Hinblick auf die Geheimhaltung der Korrespondenz wurde die fehlende Beachtung des Gesetzesvorbehalts ex Art. 8 EMRK festgestellt, denn die Maßnahme der verschärften Haft (des sog. „carcere duro“) wird vom Justizministerium angeordnet: Vgl. EGMR Entscheidung 21/12/2000, Natoli c. Italia; Entsch. 28/09/07, Messina c. Italia. In diesem Zusammenhang sei der Verweis auf Militello, FS Tiedemann, 2008, S. 1421 f. gestattet. 21 Vgl. die wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen für die Opfer von Vergeltungsschlägen (Gesetz 1999/44) und die Einrichtung des Solidaritätsfonds für die Opfer von Mafia-Verbrechen (Gesetz 1999/512). 22 Vgl. die deutsch-italienische rechtsvergleichende Darstellung von Mehrens, Die Kronzeugenregelung als Instrument zur Bekämpfung organisierter Kriminalität, 2001, S. 161 f.
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damit ihre ursprünglichen Kennzeichen eines Verwaltungsvorgangs (z. B. bei der Öffentlichkeit der jeweiligen Verhandlungen). Die entsprechenden Regeln bleiben jedoch nach wie vor verschieden von bestimmten grundlegenden Kennzeichen des Strafrechtssystems im eigentlichen Sinne; sie ließen sich heute eher als para-strafrechtlich definieren, anstatt wie anfangs als außer-strafrechtlich. Die Besonderheit der Materie bestätigte sich denn auch in den letzten Jahren, als die Antimafia-Bestimmungen in Rahmen eines allumfassenden sogenannten „Sicherheitspakets“ von Gesetzen und gleichwertigen Rechtsquellen wieder mit dem Thema Sicherheit verflochten wurden.23 2008 wurde die Möglichkeit eingeführt, die auf Vermögenswerte gerichteten Maßnahmen auch unabhängig von den personenbezogenen präventiven Maßnahmen anzuwenden, ja selbst Güter auch nach dem Tode ihres ursprünglichen Besitzers einzuziehen (Dringliche Maßnahmen für die öffentliche Sicherheit: d.l. 2008/92, u.m.Ä. im Gesetz 2008/125). Ein recht deutliches Beispiel dafür, wie die nicht-strafrechtliche Natur, die den auf das Vermögen abzielenden Vorbeugungsmaßnahmen zugeschrieben wird, das entsprechende Statut konditioniert: Auch wenn die angegebene Lösung nicht mit dem Grundsatz der Personalität der strafrechtlichen Verantwortung laut Art. 25 ital. Verf. im Konflikt steht, kann sie doch nur schwerlich den nicht neuen Vorwurf des Etikettenschwindels entkräften, weil in den von ihr angeführten Argumenten die systematische Einordnung im Verhältnis zu den inhaltlichen Lösungen eindeutig vorherrschend ist. Andererseits werden weitere Aspekte der mafiaartigen organisierten Kriminalität unter der Formel der öffentlichen Sicherheit gesammelt: im Gesetz 2009/94 wird ein besonderer Strafschärfungsgrund für die kriminellen Vereinigung zwecks Begünstigung der illegalen Einwanderung eingeführt,24 außerdem wird die formal verwaltungsrechtliche, tatsächlich jedoch para-strafrechtliche Verantwortlichkeit der Privatunternehmen für auf diese selbst zurückzuführende Tatbestände im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität ausgeweitet: Die betreffenden Zurechnungskriterien werden im entsprechenden Untersystem der Verantwortlichkeit festgelegt, welches 2001 in Italien unter dem Druck internationaler Verpflichtungen eingeführt wurde.25
23 Zu diesen Tendenzen vgl. Militello, in: Würtemberger u. a. (Hrsg.), Innere Sicherheit im europäischen Vergleich, 2012, S. 277 f. 24 Art. 416 Abs. 6 StGB, wie geändert durch Art. 1 Abs. 5 Gesetz 2009/94. 25 Neuer Art. 24-ter decreto legislativo 231/2001, eingeführt durch Art. 2 Abs. 29 Gesetz 2009/94. Über das italienische System der Verantwortung für die juristischen Personen vgl. auf deutsch Jarvers, in: Sieber/Kornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in Rechtvergleichender Darstellung. A.T., Teilband 4, 2010, S. 408 f.; amplius Rübenstahl, Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW), 2012. Vgl. auch die kurzen Beiträge in englischer Sprache in Eucrim, 2012, Heft 3 (Severino S. 89, Selvaggi, S. 127 f., Vagliasindi, S. 131 f.).
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VII. Der entscheidende Bereich der Bekämpfung unrechtmäßiger Gewinne und der emblematische Wert ihrer Wiederverwendung zu sozialen Zwecken Hierbei handelt es sich um eine der wirksamsten kriminalpolitischen Strategien innerhalb der beeindruckenden Zahl an Antimafia-Maßnahmen: Die Bekämpfung der unrechtmäßig gewonnenen Vermögen. Da die Mafia sich zumindest ab Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr in ein Unternehmen verwandelt hat, braucht der Staat bei ihrer Bekämpfung eine Erneuerung des traditionellen Prinzips „Verbrechen sollen sich nicht lohnen“.26 Auch in Italien zeigt sich deutlich die international verbreitete Doppelstrategie sowohl gegen die Wiederverwendung der unrechtmäßigen Gewinne, als auch direkt gegen das unrechtmäßig erworbene Vermögen selbst. Einerseits wird das schmutzige Geld mit den Bestimmungen gegen die Geldwäsche (Art. 648bis ff.) bekämpft, welche grundsätzlich den internationalen Strategien seit den 70er Jahren zu diesem Thema folgen, und die mit der im Jahr 2000 in Palermo verabschiedeten UNO-Konvention über das transnationale organisierte Verbrechen eine detaillierte Regelung gefunden haben. Gleichzeitig wird auch in Italien die traditionelle Gütereinziehung erneuert und in die Lage versetzt, auch die Kapitalien der Mafia anzugreifen. Tatsächlich erwies sich das traditionelle Merkmal der direkten Derivation des Guts bzw. Profits aus einer bestimmten Straftat (der sogenannte Tatkonnex) beim Vorgehen gegen die kolossalen Vermögenswerte der kriminelle Organisationen als schwer zu beweisen. Der alte Spruch pecunia non olet drückt genau jene Trennung zwischen Quelle und Produkt aus, die normalerweise das Vermögen kennzeichnet. Daher entsteht ein Bedürfnis nach einer Änderung des Bezugsparameters: Beschlagnahme und Einziehung werden auf ein neues Fundament gestellt, nämlich die Unmöglichkeit der Beweisführung seitens des Subjekts über die Zulässigkeit des Vermögens, über das es verfügt. Die Effizienz dieses neuen Ansatzes, mit dem der organisierten Kriminalität ihre unrechtmäßigen Gewinne entzogen werden sollen, kann aber nicht das – zumindest im Strafrecht – damit verbundene Problem der Beweislast verbergen, die sich so zu Lasten des Angeklagten umkehrt. Obwohl auch besondere strafrechtliche Einziehungsformen (Art. 12 sexies Gesetz 1992/356) eingeführt worden sind, die von dem direkten Ableitungszusammenhang zwischen einem Verbrechen und dem vom Staat eingezogenen Gut unabhängig sind, bilden die vermögensbezogenen präventiven Maßnahmen in Italien den bedeutendsten Teil des staatlichen Einsatzes gegen die illegalen Vermögen. Ihr Geltungsbereich endet allerdings paradoxerweise an den Landesgrenzen, da es gerade die Spezifizität dieses Untersystems die Zusammenarbeit mit den ausländischen Justizbe26 Hier sieht Kilchling, in: Militello u. a. (Hrsg.), Organisierte Kriminalität als transnationales Phänomen, 2000, S. 243 f. eine „Akzentverschiebung vom individuelle Täter zur organisationellen Perspektive“.
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hörden schwierig macht, was die von italienischen Richtern angeordnete Vollstreckung von Beschlagnahmen bzw. Einziehung im Ausland anbelangt.27 Dies stellt einen umso größeren Schwachpunkt dar, desto mehr sich die Internationalisierung von Vermögen und ihrer Entmaterialisierung in Werte ausbreitet, welche an den virtuellen Finanzplätzen an jeder Ecke des Planeten und besonders in nicht kooperationsbereiten Ländern verteilt werden können. Die Konturen dieser auf das Vermögen zielenden Maßnahmen sind jedoch nicht vollständig ohne die starke soziale Legitimation, die ihnen durch eine besondere Regelung in diesem Bereich verliehen wird, nämlich der Zuführung der von der Mafia eingezogenen Güter zu sozialen Zwecken. In der Tat könnte die Beschlagnahme von Vermögenswerten die Wirtschaft treffen, auch über diejenigen hinaus, die sich zu ihrer Ausbeutung illegaler Mittel bedienen, und negative Folgen für unschuldige Dritte und in erster Linie für die Mitarbeiter selbst zeitigen. Daher der Grundgedanke, den illegalen Vermögenswert nicht dem wirtschaftlichen Kreislauf zu entziehen, sondern vielmehr seine illegale Zielsetzung zu eliminieren, indem man ihn sozialen Zwecken innerhalb der lokalen Gemeinschaft zuführt. Insbesondere sollen der Mafia entzogene Güter sozialen Zwecken gewidmet werden: Ein starkes positives Signal, mit dem sich der Staat als Autorität wieder behauptet und der Gemeinschaft das zurückgibt, was ihr unrechtmäßigerweise mit Hilfe von Einschüchterung und Gewalt entzogen worden war.28 Dies repräsentiert am deutlichsten die enge Verbindung zwischen dem institutionellen und sozialen Antimafia-Einsatz, ohne den – wie in der Einführung betont – ein positiver Ausgang bei der Bekämpfung des Phänomens Mafia nicht gewährleistet ist.
VIII. Die Notwendigkeit einer Neuordnung des normativen Rahmens: das Antimafia-Gesetzbuch und seine Grenzen Angesichts der zahlreichen und oft nicht gut koordinierten Normen zum Thema Antimafia ist schon seit einiger Zeit die Notwendigkeit spürbar, die verschiedenen Rechtsquellen mittels eines Instruments zu rationalisieren, das nicht nur Inkohärenzen, Widersprüchen und Lücken entgegenwirkt, sondern auch als Orientierungs- und Entscheidungshilfe für die Fachleute des Sektors gelten kann. Das Thema steht vor dem Hintergrund der langen Diskussion über die Notwendigkeit eines neuen Strafgesetzbuches in Italien, mit dem das Strafrechtssystem an den Grundsätzen der Verfassung ausgerichtet wird. Trotz der vier Ministerialkommissionen, die sich im Laufe der letzten 20 Jahre abgewechselt haben, ist in Italien ein derartiges Ergebnis nicht erreicht worden. In diesem Zusammenhang wurde hier und da gerade die Mafia-Kriminalität und der daraus resultierende Notstand als Ur27
Vgl. schon Hein/Visconti, in: Militello u. a. (Hrsg.), in: Organisierte Kriminalität als transnationales Phänomen, 2000, S. 234. 28 So der Bericht von 2008 der Regierungskommission für die Verwaltung und Bestimmung der von kriminellen Organisationen beschlagnahmten Güter.
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sache für diesen enttäuschenden Zustand der italienischen Rechtsordnung angeführt, die Italien negativ von ähnlichen europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Spanien und Portugal) unterscheidet, wo in den letzten 40 Jahren eine Neuordnung der jeweiligen Strafgesetzbücher unternommen wurde. Es erscheint bedeutsam, dass gerade der hier betrachtete Bereich – der als Beispiel für die Verhinderung eines neuen Strafgesetzbuchs angeführt wird – derjenige ist, welcher früher als alle andern eine derartige Vielfalt an Quellen verzeichnet, dass sie zu Inkohärenzen, Widersprüchen und Lücken geführt hat und eine grundlegende Neuordnung in einem wenn auch nur bereichsbezogenen Gesetzbuch dringend angezeigt ist. Nachdem dieses Bedürfnis bereits von einigen mit der Materie beauftragten Ministerialkommissionen gemeldet wurde, fand sie schließlich mit dem Gesetz Nr. 136 vom 13. 08. 2010 Gehör (Außerordentlicher Plan gegen die Mafia-Organisationen sowie Ermächtigung der Regierung im Bereich Antimafia-Gesetzgebung), ebenso wie im entsprechenden Erlass zur Ermächtigung (decreto legislativo Nr. 159 vom 06. 09. 2011 „Kodex der Antimafia-Gesetze und präventive Maßnahmen“). Außerdem beauftragte Art. 1 des Ermächtigungsgesetzes die Regierung, sowohl „umfassende Erkundung der zurzeit gültigen straf-, prozess- und verwaltungsrechtlichen Gesetzgebung zum Thema Bekämpfung der organisierten Kriminalität, darunter auch die bereits im Strafgesetzbuch und in der Strafprozessordnung enthaltenen Vorschriften“, als auch eine „Harmonisierung der genannten Gesetzgebung“ ins Werk zu setzen. Jedoch das Fehlen von Kriterien und Grundsätzen, die einer solch schwierigen Aufgabe angemessen wären, führten dazu, dass der das Straf- und Strafprozessrecht betreffende Teil der Antimafia-Bestimmungen auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Damit wird mit dem Antimafia-Gesetzbuch nicht mehr die gesamte Materie geordnet, sondern nur einige ihrer Teilbereiche: Es beschränkt sich auf die – immer noch sehr umfangreiche und mittlerweile fundamental wichtige – Thematik der präventive Maßnahmen sowie auf die verwaltungsrechtliche Antimafia-Zertifizierung und auf die „Nationale Agentur zur Verwaltung der von der organisierten Kriminalität eingezogenen und beschlagnahmten Güter“; nur wenige Schlussnormen beschäftigen sich mit dem Strafgesetzbuch, der Strafprozessordnung und den anderen Antimafia-Gesetzen. Zu diesen Themen beschränkt sich das Gesetzbuch übrigens nicht auf die reine Koordination, sondern stellt einige wichtige Neuerungen vor. Beispielsweise ist die Möglichkeit vorgesehen, dass das Subjekt beim Verfahren zur Anwendung der Vorbeugungsmaßnahme die Öffentlichkeit der Verhandlungen beantragt. Nennenswert sind hier auch die Festsetzung strenger Fristen für die vorbeugende Beschlagnahme, sowie die Definition des Verhältnisses zwischen präventiver und strafrechtlicher Beschlagnahme. Insgesamt bleiben jedoch ein Gefühl der Unvollständigkeit des neuen AntimafiaGesetzbuchs, sowie der Eindruck der Verfälschung in wesentlichen Punkten der ursprünglichen, vom Ermächtigungsgesetz vorgegebenen Zielsetzung, die bereits in der Betitelung des Antimafia-Gesetzbuches explizit gemacht wurde. Zu den extra-
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codicem verbleibenden Antimafia-Vorschriften gehören alle, die ad-hoc-Verbrechen behandeln, sowie zahlreiche Prozessnormen. Damit entsteht hinsichtlich dieser Materie eine merkwürdige Inversion des logischen Verhältnisses zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Teil: Der Korpus der Antimafia-Normen insgesamt findet bei Fragen des materiellen Rechts seine stabile Mitte immer noch in der grundlegenden Strafbarkeit der mafiaartigen Vereinigung, wie sie auch heute noch in Art. 416bis des Strafgesetzbuches niedergelegt ist. Und zu diesem speziellen Tatbestand wollen wir abschließend zurückkehren: Seine Einführung bedeutete eine derartige Wende innerhalb der von Italien implementierten Maßnahmen zur Bekämpfung der Mafia, dass sie auch international Beachtung fand und die Diskussion über die Einführung übernationaler Verpflichtungen hinsichtlich der Strafbarkeit der Teilnahme an einer kriminellen Vereinigung anregte, welche schließlich in der Palermitaner Uno-Konvention im Jahre 2000 gipfelte und auch in dem besonderen Rahmen der EU Widerhall fand. Dreißig Jahre nach seiner Einführung in Italien ist die Vereinigung mafiöser Prägung nach wie vor ein äußerst wirksames Instrument zur Verfolgung Mafia-ähnlicher Vereinigungen: Betrachtet man die Zahlen der Inhaftierten in Italien – in den letzten fünf Jahren für etwa 65.000 Inhaftierte dokumentiert (eine Anzahl, die im Übrigen weit über der vorgesehenen Kapazität der Haftanstalten liegt, die auf 49.000 Insassen ausgelegt sind) – so liegt der Prozentsatz der wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung mafiösen Zuschnitts Inhaftierten nie unter 8,6 % (2008 und 2009) und ist immer ungefähr doppelt so hoch wie die Anzahl der wegen Teilnahme an der traditionellen kriminellen Vereinigung Inhaftierten.29 29 Anzahl der Inhaftierten am 31. Dezember, unterschieden je nach Verbrechenstypologie (2008 – 2011):
Verbrechenstypologie
Zugehörigkeit zu einer mafiösen Vereinigung (416BIS it. StGB) Verstoß gegen die öffentl. Ordnung (416) Vermögensdelikte Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz INHAFTIERTE insgesamt am 31/12
2008 (und Prozentsatz am 31/12) 5.257 (9,043)
2009 (und Prozentsatz am 31/12) 5.586 (8,621)
2010 (und Prozentsatz am 31/12) 6.183 (9,097)
2011 (und Prozentsatz am 31/12) 6.467 (9,667)
2.754
2.975
3.175
3.183
27.345 23.505
30.094 26.931
32.225 28.199
33.647 27.459
58.127
64.791
67.961
66.897
Quelle: Eigene Verarbeitung von Daten des Justizministeriums (Verwaltungsabteilung Vollzugsanstalten). Die für jede Verbrechenskategorie angegebene Zahl entspricht genau der Anzahl der inhaftierten Personen. Werden einer Person mehrere, zu unterschiedlichen Kate-
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Diese Zahlen, die die Wirksamkeit des von der italienischen Antimafia-Gesetzgebung eingesetzten Instrumentariums zeigen, wären jedoch wertlos, vergäße man die vielen Opfer, die auf Seiten der Institutionen gefallen sind, um diese Ergebnisse zu ermöglichen, und die noch zahlreicheren Menschen, die die Gedanken dieser tapferen Individuen aufgegriffen haben, damit die italienische Gesellschaft der Befreiung von der bleischweren Fessel durch kriminelle Vereinigungen jeglicher Art einen Schritt näher komme. Das Ineinandergreifen von institutionellen und gesellschaftlichen Antimafia-Bestrebungen bildet daher den wahren Beitrag, den die italienische Erfahrung – wenn auch erst nach vielen Opfern und großem Leid – der kollektiven, auch internationalen Diskussion anbieten kann.
gorien gehörige Verbrechen zugeschrieben, so wird die Person zu einer jeden von ihnen gezählt. Daraus folgt, dass jede Kategorie für sich zu betrachten ist; eine Summierung der Frequenzen ist also nicht korrekt.
Der juristische Gutachtenstil als cartesische Methode Von Carl-Friedrich Stuckenberg
I. Einleitung Im heutigen Alltag der universitären Juristenausbildung spielt der sogenannte Gutachtenstil eine zentrale Rolle: Erstsemester müssen sich nicht selten mühsam an diese Denk- und Redeweise gewöhnen, die fortan in fast allen Prüfungsarbeiten wie Klausuren und Hausarbeiten in Übungen, Abschlussklausuren und schließlich im ersten Examen anzuwenden ist; auch im Referendariat und in der zweiten Staatsprüfung können vorbereitende Gutachten Teil der Aufgabenstellung sein. Hochschullehrer verbringen insbesondere in den Anfänger- und Fortgeschrittenenübungen, wo es sie noch oder wieder gibt, geraume Zeit mit der mündlichen Demonstration und schriftlichen Korrektur gutachtlicher Falllösungen, obgleich die Initiation in diese „Standeskunst“1 in den ersten Semestern vielerorts hauptsächlich den von wissenschaftlichen Mitarbeitern geleiteten Arbeitsgemeinschaften überlassen wird. Der Prüfungsrelevanz der Gutachtentechnik entspricht ein abundantes Angebot an didaktischer Gebrauchsliteratur in Aufsatz- und Buchform mit allgemeinen Anleitungen und musterhaften Falllösungen in den verschiedenen Rechtsgebieten. Im internationalen Vergleich ist diese gutachtliche Falllösungstechnik eine Besonderheit der deutschen Juristenausbildung.2 Zu den Prüfungsgewohnheiten anderer Länder zählt vielfach neben dem Abfragen abstrakten Wissens das ebenso fallgelöste Erörtern von Rechtsfragen, und auch da, wo es um die Behandlung eines cas pratique geht, ist zumeist keine gutachtliche Lösung im deutschen Verständnis3 1 Die Ausbildung der deutschen Juristen, Denkschrift des Arbeitskreises für Fragen der Juristenausbildung e.V., 1960, S. 236. 2 Vergleichend Ranieri, JZ 1997, 801, 806 ff.; ders., ZEuP 1997, 718, 732 dort Fn. 50; ders., Ius Commune 17 (1990), 9, 16 ff., jew. m. w. umfangr. Nachw.; s.a. Hyland, 11 Cardozo Law Review 1587, 1597 ff. (1990). 3 Die einem französischen Juristen zudem unelegant vorkäme; zum plan eines cas pratique knapp Babusiaux, JuS 4/2010, S. XLVI f. Zur französischen Sicht auf den deutschen Anspruchsaufbau vgl. Witz, Droit privé allemand: 1. Actes juridiques, droits subjectifs, 1992, S. 479 ff. m. w. Nachw. auch zum fruchtlosen Versuch von Motulsky, Principes d’une réalisation méthodique du droit privé, 1948, den Justizsyllogismus in Frankreich einzuführen. Nutzen des deutschen Gutachtenstils für das österreichische Recht erhofft sich Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 402 dort Fn. 13.
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gemeint. Die Erörterung von erdachten Sachverhalten (hypotheticals) kommt etwa in Prüfungen an amerikanischen Law Schools durchaus vor, das geforderte issue spotting soll tunlichst auch einem erkennbaren gedanklichen Schema folgen,4 ohne jedoch die rigorose Disziplin des Gutachtenstils annähernd zu erreichen. Der gute Ruf, den die deutsche Juristenausbildung im Ausland – bisweilen mehr als im Inland – genießt, beruht auch auf dem sprichwörtlich guten Abschneiden deutscher Juristen in ausländischen Graduiertenstudiengängen,5 welches sich nicht zuletzt der Übung in der Gutachtentechnik verdanken dürfte. Gleichwohl scheint der Gutachtenstil keinen sonderlich guten Leumund zu haben, womit hier nicht der immer wiederkehrende und berechtigte Tadel des Abusus in Form stumpf schematischer Anwendung6 oder pedantischer Übertreibung7 sowie der Mutation des Studiums zur bloßen Prüfungsvorbereitung8 gemeint ist, sondern die grundsätzliche Geringschätzung der „bloßen“ Falllösungstechnik, die zum juristischen „Handwerk“ gezählt und somit nicht des akademischen Adelsprädikats der „Wissenschaft“ teilhaftig wird und daher, wie man mitunter hören, freilich seltener lesen kann, am besten gar nicht an Universitäten unterrichtet werden sollte.9 Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Falllösung im Gutachtenstil ein dem Prüfungszirkus geschuldetes notwendiges Übel sei, gleichsam der ungewaschene Fuhrknecht, der trotz nützlicher niederer Dienste in der Beletage der Rechtswissenschaft nichts verloren hat. Dabei scheint die immer noch nicht bewältigte Identitätskrise der deutschen10 Jurisprudenz durch, die, nach Jahrhunderten der Selbstgewissheit vom Mittelalter bis in die Neuzeit als eine der drei oberen Fakultäten neben Theologie und Medizin,11 seit den Veränderungen des Wissenschaftsbegriffs ab Ende des 4 Es gibt mehrere konkurrierende methodologies. Dem Gutachtenstil am ähnlichsten ist die auch in der Praxis für case briefs gebräuchliche sog. IRAC (issue, rule, analysis, conclusion) formula, für einen Vergleich s. Wolff, 14(1) Legal Education Review 19, 38 ff. (2003 – 2004). 5 Vgl. nur Martinek, JZ 1990, 796, 805. 6 Vgl. nur Kunkel, JZ 1956, 637 f., 639 f. 7 Vgl. Geilen, Jura 1979, 536, 539. 8 Großfeld, NJW 1989, 875, 877, 881, zu Recht gegen die „praktische Ausschließlichkeit“ der Falllösungstechnik. 9 So meint Braun, ZRP 1998, 42, 43, der Wissenschaftler sei dazu gar nicht geeignet. Ahnherr dieser Haltung ist namentlich von Savigny, für den alles, was „außer den Grenzen jener gelehrten Bearbeitung der Rechtswissenschaft liegt … seiner Natur nach der Universität fremd“ war, zit. nach Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band II/1, 1910, S. 215. 10 Die Kontingenz von Selbstverständnis und Theoriegeschichte der lokalen Disziplin verdeutlicht der Kontrast zum amerikanischen akademischen Diskurs, in dem das Erbe des Legal Realism fortlebt, so dass die Idee der „Wissenschaftlichkeit“ der Jurisprudenz heute vollends diskreditiert und Langdells nach deutschem Modell entworfene „legal science“ in das Kuriositätenkabinett besonders lächerlicher Verirrungen verbannt ist, s. nur Dedek, JZ 2009, 540, 543 ff., 546 m. w. Nachw. 11 Zu den Rangstreitigkeiten unter den drei Fakultäten s. Burmeister, Das Studium der Rechte, 1974, S. 21 ff.; s.a. Kant, Der Streit der Facultäten, 1798, Akademie-Ausgabe (1902), Band VII, S. 1 ff.
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18. Jahrhunderts von der chronischen Sorge angekränkelt ist, ob sie denn überhaupt eine wahre Wissenschaft sei,12 was sich auch auf die innerdisziplinäre Einstufung ihrer praktischen Seiten und ihrer Hilfsfächer auswirkt.13 Eine wissenschaftliche Geringschätzung des Gutachtenstils schien mir hingegen stets schon deshalb zweifelhaft, weil prima vista auffallende Ähnlichkeiten mit den Regeln der von Descartes im Discours de la méthode, einem der Gründungsdokumente der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaftslehre, beschriebenen Methode bestehen. Ob dieser Anschein trügt oder ob der juristische Gutachtenstil als eine Erscheinungsform der cartesischen Methode gelten kann, soll dieser Beitrag zu Ehren des Jubilars, dessen Interesse an „Wesenszügen rechtswissenschaftlichen Arbeitens“14 dokumentiert ist, zu klären helfen. Dafür wird zunächst versucht, sich des Gegenstands zu vergewissern, indem Herkunft und Status des Gutachtenstils nachgespürt wird (II.), sodann Descartes’ Methode näher zu betrachten (III.) und sie schließlich zur juristischen Falllösungstechnik in Beziehung zu setzen (IV.). Auf die Frage, ob die Jurisprudenz eine Wissenschaft sei, deren Antwort offenkundig vom verwendeten Wissenschaftsbegriff abhängt, der zuvor zu klären wäre,15 wird nur insoweit eingegangen, als es für die Beurteilung der „praktischen Jurisprudenz“ nötig ist. Im Folgenden wird überdies bewusst von Gutachten„stil“ gesprochen, womit nicht nur der Gebrauch des Konjunktivs, sondern die juristische Gutachten- oder Falllösungs„technik“16 in ihrer Gesamtheit gemeint ist, denn ob es sich um eine „Methode“ handelt und nicht nur um einen Stil, muss sich noch erweisen. Jedenfalls handelt es sich wenigstens um einen Stil im Sinne einer „eingeübten geistigen Attitüde“17 und zudem um den Abkömmling eines bestimmten stylus curiae,18 wie gleich zu zeigen ist.
12 Exemplarisch von Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848; von Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, Wiener Antrittsvorlesung vom 16. 10. 1868, aus dem Nachlass hrsg. von O. Behrends, 1998; Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Aufl. 1989, S. 375 ff., und letzthin die Beiträge in dem Sammelband von Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, sowie Zaczyk, FS Puppe, 2011, S. 305, 306 ff. 13 Grundlegend dazu Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, 1979. 14 So der Titel seines Kommentars in Engel/Schön (Fn. 12), S. 156 ff. 15 Neumann (Fn. 12), S. 376 („Scheinproblem“) u. ff. zu den Begriffskriterien. 16 Anderer Sprachgebrauch z. B. bei Schwabe, Jura 1996, 533. 17 Vgl. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 77. Für Walter, Kleine Stilkunde für Juristen, 2. Aufl. 2009, S. 23 f., ist der Gutachtenstil zur Hälfte Stil und zur Hälfte Methode. 18 Zum Terminus Schröder (Fn. 13), S. 32 dort Fn. 113a m. umfangr. Nachw.; Ranieri, Stylus curiae dans l’histoire européenne: modèles divergents ou traditions communes?, in: Jacob (Hrsg.), Le juge et le jugement dans les traditions juridiques européennes, 1996, S. 181 ff.
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II. Der Gutachtenstil als „praktische Jurisprudenz“: Historie und theoretischer Status So zahlreich die Anleitungen zur richtigen Verwendung des Gutachtenstils heute sind, so wenig wird die Technik selbst reflektiert oder historisch eingebettet. Sie scheint dem deutschen Juristen von geradezu apriorischer Evidenz zu sein, die keiner Erläuterung bedarf19 und keine Geschichte20 hat. Der obige knappe Blick über die Grenzen hat hingegen illustriert, dass es sich bei dieser deutschen Besonderheit um ein historisch kontingentes Falllösungs- und Unterrichtsverfahren handelt. Warum aber lösen die deutschen Juristen ihre Fälle anders als alle anderen? Die Geschichte des Gutachtenstils muss, soweit ersichtlich, noch geschrieben werden, und manches liegt im Dunkeln. Die wesentlichen Umrisse seiner Entwicklung dürften aber feststehen. 1. Charakteristisch für das in unserer Ausbildung gelehrte juristische Gutachten, dem der „Stil“ seinen Namen verdankt, ist, dass es ein Text ist, der in Form und Inhalt auf eine spezifische Verwendungssituation zugeschnitten ist, die in der universitären Ausbildung und oft auch im Referendariat fiktiv bleibt, nämlich die des Berichterstatters in einem Kollegialgericht,21 der seinen Kollegen die rechtliche Würdigung eines bestimmten Falles als Grundlage seines Votums umfassend und nachvollziehbar darlegen und sie von seiner Lösung überzeugen soll. Das an der Universität geübte Gutachten ist die reduzierte, um die praktischen Folgen entkleidete Version davon, indem es die Sachverhaltsfeststellung ausklammert, die der praktischen Ausbildung im Referendariat überlassen wird, so dass nur unstreitige, regelmäßig fiktive Sachverhalte zu beurteilen sind, und außerdem kein Entscheidungsvorschlag zu fertigen ist, dessen Fassung ebenfalls erst im Referendariat gelernt wird. Das universitäre Gutachten soll vor allem die materiell-rechtliche Rechtslage klären, ggf. ergänzt um die Zulässigkeit einer Klage oder eines sonstigen Rechtsbehelfs. Zentraler Bestandteil der gutachtlichen Prüfung ist das systematische Herantragen von Normhypothesen an den Sachverhalt,22 die mittels Subsumtion im Wege des sog. Justizsyllogismus23 als anwendbar erkannt oder verworfen werden. Da an 19 Etwa weil es „reine Folgerungen aus Logik und Zweckmäßigkeit und Konkretisierungen der strafrechtlichen Lehren“ seien, so Schroeder, JuS 1984, 699; generell krit. Großfeld, JZ 1992, 22, 25. 20 Zu Recht krit. Ranieri, ZEuP 1997, 718, 731. Löbliche Ausnahme: Braun, Der Zivilrechtsfall, 4. Aufl. 2008, S. 10 ff. 21 Selbst das gerät mittlerweile in Vergessenheit, vgl. Valerius, Einführung in den Gutachtenstil, 3. Aufl. 2009, S. 11, der es für „Sinn und Zweck“ des Gutachtens hält, einem rechtlichen Laien (!) die Rechtsprobleme des Falles zu erläutern. Wenigstens kennt (noch?) jeder Rechtsanwalt den Unterschied zwischen Rechtsgutachten und Mandantenschriftsatz. Allerdings ist das Gutachten nicht der Arbeitstechnik des Anwalts nachgebildet, wie Wörlen, Anleitung zur Lösung von Zivilrechtsfällen, 8. Aufl. 2007, S. 8, glaubt. 22 Vgl. nur Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 250. 23 Die übliche Fassung des „Justizsyllogismus“ ist paradoxerweise materiell-rechtlich und somit nur für ideale Anwendungssituationen, d. h. feststehende Sachverhalte, ausreichend
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der Universität der Sachverhalt feststeht, besteht die eigentliche Aufgabe in der Findung und Konkretisierung der auf den Einzelfall passenden Norm (Obersatz) mithilfe des Instrumentariums, das die juristische Methodenlehre – zu der die „Falllösungstechnik“ selbst nicht von allen gezählt wird24 – bereitstellt. Kennzeichnend für ein Gutachten ist darüber hinaus nicht nur, dass diese einzelnen Subsumtionen einer je nach Rechtsgebiet variierenden zweckmäßigen Ordnung folgen sollen, sondern auch eine strenge Disziplin der Gedankenführung: Begonnen wird stets mit einer tabula rasa, d. h. jede rechtliche Aussage über den Sachverhalt muss durch Subsumtion als zutreffend erwiesen werden, sofern die Aufgabenstellung keine lenkenden Vorgaben enthält. Die rechtliche Würdigung soll sodann komplett erfolgen, d. h. der Sachverhalt wird unter allen vernünftigerweise in Betracht kommenden Gesichtspunkten geprüft, wobei allerdings nur das ausgeführt werden darf, was für die Falllösung notwendig ist mit der Folge, dass ein Satz, der die Lösung nicht fördert, als überflüssig und damit falsch gilt; schließlich darf die „Fallfrage“ nicht offen bleiben, das Gutachten muss ein eindeutiges Ergebnis haben. Insgesamt betrachtet ist das als Prüfungsleistung an der Universität und im ersten Examen geforderte Gutachten ein eigentümlicher Hybrid, der weder Praxis noch Wissenschaft ganz zugehört, weder ganz geeignet, praktische Befähigung zu bezeugen, noch, wissenschaftliche Begabung zu offenbaren, denn aus praktischer Perspektive handelt es sich nur um eine unvollständige Trockenübung und die „Wissenschaft“ kommt überhaupt nur vor, soweit sie zur Falllösung benötigt wird, typischerweise bei Auslegungsproblemen. Erkennen lässt sich durch diese didaktische Kunstform freilich, ob der Gutachtenverfasser die einschlägigen Normen in ihrer Funktionsweise verstanden hat und ob er analytisch denken kann. Historisches oder philosophisches Verständnis und Wissen, für die juristische Fakultäten institutionell allein zuständig sind, spielen in Gutachten regelmäßig keine oder nur eine sehr vermittelte Rolle. 2. Ihren Ursprung dürfte diese Gutachtenform in der Relationstechnik der vormaligen Reichsgerichte, Reichskammergericht und Reichshofrat, haben, die als Vorläuferin der heute noch im juristischen Vorbereitungsdienst, wenngleich abnehmend, gelehrten Relationstechnik gelten kann. Es handelt sich um eine ebenso simple wie zweckmäßige organisatorische Maßnahme zur Arbeitsteilung an kollegial besetzten Spruchkörpern: Ein im Kollegium zu entscheidender Fall wird von einem oder zwei Berichterstattern (Referenten) vorbereitet und den anderen so vorgelegt, dass sie imstande sind, darüber eine begründete Entscheidung zu treffen. Dieser für die Kollegen bestimmte Bericht (Relation) folgte einem bestimmten Schema, formuliert, aber nicht für die justiztypische Situation, die auch die rechtlich geordnete Feststellung des Sachverhalts erfordert, so dass ein praktischer oder prozessualer Normsatz zu bilden ist, dazu Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1997, S. 458 ff. m. w. Nachw. 24 F. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Band I, Rn. 458 ff., 460; krit. E. Schneider, MDR 1973, 100, 101; a.A. Bydlinski (Fn. 3), S. 401.
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in dem die relevanten Fragen darzustellen waren.25 Bestandteil dieser Relationen war stets ein – nach Regeln der klassischen Rhetorik26 gestalteter – Sachbericht (species facti) mit Prozessgeschichte und Aktenauszug, ein zum Entscheidungsvorschlag hinführendes Gutachten, das aktionenrechtlich strukturiert war, also nach der Art der Klageansprüche fragte, nach Schlüssigkeit, Beweis und Einreden (quae sit actio? an sit fundata? an sit probata? an sit exceptione elisa?), eine fast bis heute bekannte Abfolge27. Die Beschränkung auf das zur Lösung des Einzelfalles Nötige ist ebenfalls ein schon damals aufgestelltes praktisches Erfordernis, denn Zweck der Relation war es, den übrigen Mitgliedern des Kollegiums die Lektüre der oft außerordentlich umfangreichen Akten und somit Zeit zu ersparen. Ebenso lang gibt es freilich die Klage, dass die Relationen unzweckmäßig, nämlich zu weitschweifig ausfielen.28 Andere Gerichte wie die römische Rota bildeten ebenfalls Arbeitsroutinen aus, die nicht nur enger dem Modell der scholastischen Disputation verhaftet blieben, sondern auch keine einheitliche – gerichtsinterne, da wie beim Reichskammergericht keine Entscheidungsgründe für die Parteien abgefasst wurden – Entscheidungsbegründung enthielten. Vielmehr legte der Berichterstatter (ponens) dem Kollegium eine Liste mit den Streitpunkten (dubia) vor, zu denen jeder Richter seine Meinung abgab; die Entscheidung war folglich die Kompilation dieser Konsilien, ähnlich wie bei Kollegialgerichten im Common Law-Raum.29 Das Relationsschema des Reichskammergerichts verfestigte sich nicht nur als gerichtsinterne Übung,30 sondern wurde schließlich auch außerhalb gelernt und gelehrt, zumal das Reichskammergericht 1570 begann, von künftigen Mitgliedern der Gelehrtenbank Proberelationen zu verlangen,31 was andere Gerichte bald übernahmen32. Bevor eine praktische Juristenausbildung institutionalisiert wurde, konnte diese Fertigkeit nur entweder im Wege eines Praktikums beim Reichskammergericht33 oder in Kursen der „Referier- und Dekretierkunst“ an Universitäten oder sons25 Dazu Berger, Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, Diss. iur. Frankfurt a.M., 1975, S. 21 ff.; Ranieri, Rechtshistorisches Journal 4 (1985), 75 ff.; ders., ZEuP 1997, 718, 723 ff.; ders., Entscheidungsfindung und Technik der Urteilsredaktion in der Tradition des deutschen Usus Modernus: Das Beispiel der Aktenrelationen des Reichskammergerichts, in: Wijffels (Hrsg.), Case Law in the Making, 1997, Band I, S. 277, 287 ff.; Schild, Relationen und Referierkunst, in: Schönert et al. (Hrsg.), Erzählte Kriminalität, 1991, S. 159, 165 ff.; Schröder (Fn. 13), S. 60 ff. 26 Vgl. Berger (Fn. 25), S. 26 f.; Schild (Fn. 25), S. 168 ff. m. w. Nachw. 27 Dazu Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 93 dort Fn. 2. 28 Der Jüngste Reichsabschied 1654 verbot Weitschweifigkeiten ausdrücklich in §§ 145 f., abgedruckt bei Berger (Fn. 25), S. 154. 29 Ranieri, ZEuP 1997, 718, 728 f. m. w. Nachw. 30 Die im Jüngsten Reichsabschied 1654 in §§ 143 ff. festgeschrieben wurde. 31 Smend, Das Reichskammergericht, 1911, S. 298 u. ff.; Goldschmidt, Rechtsstudium und Prüfungsordnung, 1887, S. 143 f.; Ranieri (Fn. 25), S. 288. 32 Berger (Fn. 25), S. 33 m. w. Nachw. 33 Dazu Burmeister (Fn. 11), S. 238 ff.
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tigen privaten Schulen oder Akademien erlernt werden. Die gedruckten Relationen des Reichskammergerichts34 sowie zahlreiche Anleitungsbücher35 aus der Zeit seit dem 16. Jahrhundert belegen eine beträchtliche Nachfrage. Sieht man sich diese frühen Relationen an, so fehlt ihren Gutachten nicht selten die strenge Gedankenführung, die heute erwünscht ist, und stattdessen finden sich scholastische Stilelemente wie die topische Auflistung und Abhandlung von dubia bzw. rationes dubitandi et decidendi,36 die zum conclusum aufgelöst werden. Wann sich die strengere gegenwärtige Relationsform ausgeprägt und das isolierte Gutachten für den Universitätsgebrauch aus ihr herausgelöst hat, ist, soweit ersichtlich, wenig erforscht.37 Mit Blick auf die Geschichte der Juristenausbildung lässt sich jedoch annehmen, dass die Weiterentwicklung der Relationstechnik maßgeblich durch die preußische Form der Juristenausbildung gefördert worden sein dürfte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts richtet Preußen eine praktische Juristenausbildung ein, die schließlich zur zwingenden Voraussetzung für alle juristischen Berufe wird.38 Zentraler Bestandteil dieser bis 1869 zweistufigen praktischen Ausbildung (Auskultatur und Referendariat) sind Relationen in Zivil- und Kriminalsachen, für die die preußische Allgemeine Gerichtsordnung von 1781 detaillierte Anweisungen39 nach dem Muster des Reichskammergerichts gibt. Wenigstens seit 1755 wurden Proberelationen in der zweiten und dritten („großen“) Staatsprüfung als Prüfungsleistung verlangt,40 ein Prüfungsbestandteil, der in den preußisch geprägten Bundesländern erst in den 1990er Jahren durch das reine Klausurexamen ersetzt41 wurde. Durch die Ausbildungspraxis – vor allem die Instruktionen der Appellationsgerichte Naumburg42 (für Zivilrecht) und Frankfurt an der Oder43 (für Kri34
Nachw. bei Ranieri, ZEuP 1997, 718, 721 f. dort Fn. 12 ff.; ders. (Fn. 25), S. 290 ff. Beispielsrelationen auch bei Berger (Fn. 25), S. 163 ff.; Ranieri, in Wijffels (Fn. 25), Band II, S. 319 ff. 35 Nachw. bei Berger (Fn. 25), S. 36 ff., 156 ff.; Ranieri, ZEuP 1997, 718, 721 Fn. 9, 10; Schild (Fn. 25), S. 166 f.; Schröder (Fn. 13), S. 28 ff. Eines der bekanntesten stammt von Hommel, Kurze Anleitung, Gerichts-Acten geschickt zu extrahieren, zu referieren und eine Sentenz darüber abzufassen, 1. Aufl. 1739, 7. Aufl. (bearb. v. Woltär) 1808. 36 Terminologisch überdauern die rationes dubitandi bis in das 19. und frühe 20. Jahrhundert, s. AppG Naumburg (Fn. 42), 78; Daubenspeck (Fn. 27), S. 96. 37 Vor allem von Berger (Fn. 25); Ranieri (Fn. 25); ders., ZEuP 1997, 718, 726 ff.; Schild (Fn. 25). 38 Bake, Die Entstehung des dualistischen Systems der Juristenausbildung in Preußen, Diss. iur. Kiel, 1971, S. 6 ff.; Ebert, Die Normierung der juristischen Staatsexamina und des juristischen Vorbereitungsdienstes in Preußen (1849 – 1934), 1995, S. 20 ff.; Weber, ZZP 59 (1935), 1, 2 ff.; Die Ausbildung (Fn. 1), S. 52 ff.; Dilcher, FS Thieme, 1986, S. 295 ff.; s. a. Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, 1972, S. 73 ff. 39 Pr.AGO Theil 3, Titel 4, § 27 und Theil 1, Titel 13, § 7. 40 Bake (Fn. 38), S. 11, 13 m. w. Nachw. 41 In Nordrhein-Westfalen etwa durch § 29 der Neufassung des JAG vom 08. 11. 1993, GVBl.NW 1993, 924. 42 Justiz-Ministerial-Blatt für die Preußische Gesetzgebung und Rechtspflege [Pr.JMBl.] 1853, 72 ff.; vgl. zuvor die lehrmäßige Auflistung typischer Mängel durch die Immediat-
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minalrecht) von 1852 für das Abfassen von Relationen sind den heutigen sehr ähnlich, verlangen insbesondere im Gutachten die erschöpfende Erörterung aller relevanten Fragen in geordnetem Zusammenhang unter Auswertung der wissenschaftlichen Literatur sowie, dass jeder Satz die Sache fördern müsse, Unnötiges also zu vermeiden sei – und die korrespondierende didaktische Literatur – namentlich das von Daubenspeck 1884 begründete und von Sattelmacher und anderen bis heute fortgeführte Standardanleitungsbuch44 – dürfte die Relationstechnik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, da sich der Charakter der Relation auch durch die nun maßgebenden Kodifikationen verändert,45 im wesentlichen zu ihrer heute noch gültigen Form gefunden haben.46 Noch weniger erforscht ist die Entwicklung des isolierten Gutachtens zur Standardprüfungsleistung an den deutschen juristischen Fakultäten. Die Spaltung der Juristenausbildung in einen theoretischen Teil, der an der Universität gelehrt, und einen praktischen Teil, der bei Gericht geübt wird (iuris enim theorica docetur in scholis, practica exercetur in curiis47), ist wohl so alt wie sie selbst.48 Im 15. und 16. Jahrhundert war in der Theorie die Bedeutung der Praxis durchaus anerkannt, nicht zuletzt aufgrund dauernder Klage aus der Praxis, dass die von der Universität kommenden Juristen in praktischen Tätigkeiten wie dem Anfertigen von Relationen nicht geübt seien49 – dies konnten sie auch nicht, denn trotz vielfacher Forderungen von Rechtslehrern, die Praxis stärker zu berücksichtigen,50 ist dies institutionell nie recht gelungen.51 Gleichwohl existierten an den Fakultäten vor allem in späterer Zeit52 neben den beherrschenden öffentlichen (lectiones, lecturae) und privaten (collegia) Vorlesungen und den durchaus kasuistisch orientierten Disputationen Justiz-Prüfungs-Commission vom 12. 05. 1836, Kamptz’ Jahrbücher für die preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung 47 (1836), 451 ff.; dazu Berger (Fn. 25), S. 146 ff. 43 Pr.JMBl. 1853, 383 ff. 44 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884; zuletzt bearb. von Schuschke, Bericht, Gutachten, Urteil, 34. Aufl. 2008. 45 Berger (Fn. 25), S. 26; Schild (Fn. 25), S. 166; s. a. Michaelis, JuS 1991, 798, 800 ff. 46 Auch die Relationstechnik wird zumeist ahistorisch gelehrt, was Fehlvorstellungen über ihren Ursprung hervorruft, vgl. Rasehorn, NJW 1970, 1166, 1167, der ihn im autoritären Staat des ausgehenden 19. Jahrhunderts erblickt; Grunsky bezeichnete sie als „Ableger der Begriffsjurisprudenz“, JuS 1972, 29, 30; dagegen zutr. E. Schneider, MDR 1973, 100, 101; s. a. Berg, JuS 1972, 523; K.W. Müller, JuS 1974, 313; Schmidt, JuS 1974, 441. 47 Petrus Blesensis, Speculum iuris canonici, ca. 1180, fol. 90a (zit. Ausgabe: Reimer 1837). 48 Burmeister (Fn. 11), S. 233 ff.; Schröder (Fn. 13), S. 21 ff. 49 Burmeister (Fn. 11), S. 234 ff.; Schröder (Fn. 13), S. 28 ff.; s.a. Smend (Fn. 31), S. 129 Fn. 1, S. 298, 304 f.; Goldschmidt (Fn. 31), S. 142 f. 50 Zahlr. Nachw. bei Schröder (Fn. 13), S. 21 ff., 28 ff. 51 Burmeister (Fn. 11), S. 234 f. 52 Burmeister (Fn. 11), S. 233 ff.; Schröder (Fn. 13), S. 193 ff., 198 ff.; Bake (Fn. 38), S. 17 ff., 117.
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sowie den schon an der Artistenfakultät in Bologna eingerichteten Kursen zu Geschäftspraxis und Urkundenwesen (Notariatskunst)53 in uneinheitlicher Weise stets54 Kurse zum Üben von Relationen (Relatorien) oder Abfassen von Entscheidungen (Praktika)55 unter Beachtung aller Formalien eines bestimmten stylus curiae, zumal viele Professoren selbst praktisch tätig waren56 als Mitglieder von Schöppenstühlen oder der Spruchkollegien der Fakultäten oder als Verfasser von Gutachten (Konsilien). Mit Aufkommen praktischer Ausbildungsphasen57 wie Auskultatur und Referendariat wurden solche Angebote jedenfalls in Preußen58 überflüssig und vernachlässigt59. Die heute übliche Art, Fälle zu lösen, kam erst im 19. Jahrhundert auf60 unter Einfluss der kantischen Lehre (unten 3.), dass man die Anwendung von Regeln auf den Einzelfall nicht lehren, sondern nur anhand von Beispielen üben könne,61 und wurde etwa im preußischen Studienplan62 von 1788 sowie nach wie vor von einigen Hochschullehrern als probates didaktisches Mittel propagiert,63 so bekanntlich nachdrücklich von Jhering64. Nach 1869 wurden Übungen in allen preußischen Fakultäten eingerichtet, ihr Besuch war empfohlen, 53
Dazu Peter, Studium generale 16 (1963), 65, 69 = ders., JuS 1966, 11, 13. Näher A.W. Meyer, Von der Theorie des Rechts, deren Eintheilung und Verhältniß zur Praxis, 1788, S. 19 ff.; Schweitzer, Zur Ankündigung juristischer Übungs-Collegien, 1817, S. 9 ff.; Ortloff, Methodologie oder Lehre des Studiums der Rechts- und Staatswissenschaft, 1863, S. 80 ff.; Goldschmidt (Fn. 31), S. 140; Ranieri, JZ 1997, 801, 808; ders., ZEuP 1997, 718, 730; Schild (Fn. 25), S. 160 ff., jew. m. w. Nachw. 55 Z. B. Osenbrüggen, Bericht über ein Practicum criminale, 1848. 56 Burmeister (Fn. 11), S. 170 f., 234; Goldschmidt (Fn. 31), S. 116, 145; Schild (Fn. 25), S. 163 ff. 57 Überblick in Die Ausbildung (Fn. 1), S. 52 ff.; Lührig, Die Diskussion um die Reform der Juristenausbildung von 1945 bis 1995, 1997, S. 30 ff.; zu Preußen s. Fn. 38. 58 In den süddeutschen Territorien war die Trennung von Theorie in der Praxis in der anders verlaufenden Ausbildungsgeschichte weniger ausgeprägt, vgl. Die Ausbildung (Fn. 1), S. 61 ff.; Penz, Die Geschichte der Juristenausbildung in Württemberg, Diss. iur. Freiburg/Br., 1985, S. 65. 59 Bake (Fn. 38), S. 36 ff.; anders in den süddeutschen Gebieten, Goldschmidt (Fn. 31), S. 88. 60 Vgl. Ortloff (Fn. 54), S. 84 ff. Die Prüfungsfragen sind in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jh. noch rein „theoretisch“, vgl. die Beispiele aus der Ausbildungsliteratur bei Butz, Juristenausbildung an den preußischen Universitäten Berlin und Bonn zwischen 1810 und 1850, Diss. iur. Berlin, 1992, S. 339 ff. 61 Schweitzer (Fn. 54), S. 6; w. Nachw. bei Schröder (Fn. 13), S. 208 ff., 211 f. 62 In der Vorerinnerung zur 3. Abteilung des 2. Teils des Entwurfs zum AGB, abgedr. bei Siewert, Materialien zur wissenschaftlichen Erklärung der neuesten allgemeinen preußischen Landesgesetze, 1800 ff., 1. Heft, S. 31 f. sub 4. 63 Etwa Schweitzer (Fn. 54), S. 5 ff.; zuvor vor allem Pütter im ohnehin besonders praxisfreundlichen Göttingen sowie Nettelbladt in Halle, dazu Bake (Fn. 38), S. 17 ff.; Schröder (Fn. 13), S. 193 ff., 201 ff. Zu Übungen und Praktika ders., S. 217 ff.; Butz (Fn. 60), S. 258 ff. 64 von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 13. Aufl. 1924, S. 366 ff.; auch Zitelmann, Die Neugestaltung des Rechtsstudiums, 1921, S. 6 f.; Goldschmidt (Fn. 31), S. 36 ff., 335; vgl. Ranieri, JZ 1997, 801, 808 Fn. 52. 54
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aber nicht vorgeschrieben.65 Zur Pflicht wurden die Übungen erst, als sie in Preußen 1897 zur Voraussetzung für das erste Examen erhoben wurden,66 unter dem heftigen Protest der Anhänger von Übungsveranstaltungen, die sich gegen diese „Zwangsübungen“ verwahrten.67 Die als „Übung“ bezeichneten Veranstaltungen waren allerdings vielgestaltiger als heute.68 Während in Süddeutschland Klausuren schon lange üblich waren,69 wurden sie erst 1908 endgültig70 Bestandteil der preußischen ersten Prüfung, die lange Zeit als schriftliche Leistung eine häusliche „wissenschaftliche Arbeit“ erforderte.71 Anfangs lag es im Ermessen der Prüfungsämter, theoretische Aufgaben oder Falllösung zu stellen,72 spätestens seit der Nachkriegszeit dominieren die Fälle73 – eine Prüfungsform, die von Liszt74 schon 1886 empfahl. Seitdem beeinflusst die Prüfung in umgekehrter Richtung die Inhalte des Studiums.75 An den Universitäten dürfte der Gutachtenstil heutigen Typs mithin seinen Einzug frühestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts gehalten und seine Dominanz erst im 20. Jahrhundert erlangt haben. 3. Eine Trübung des Selbstverständnisses der Jurisprudenz bewirkten praktische Elemente zunächst ebenso wenig wie die als Definiens verwendete praktische Ausrichtung der Juristerei („habitus practicus“)76 insgesamt, zumindest solange wie der 65
Dazu Ebert (Fn. 38), S. 105 ff.; Jescheck, Die juristische Ausbildung in Preußen und im Reich, 1939, S. 37 ff., jew. m. w. Nachw. 66 Durch die Allgemeine Verfügung vom 18. 01. 1897, Ziff. II., Pr.JMBl. 1897, 19 f. (zwei Übungen im bürgerlichen Recht, eine im Zivilprozessrecht; weitere Übungen kamen später hinzu); dazu Jescheck (Fn. 65), S. 55 ff.; Köbler, JZ 1971, 768, 772 Fn. 50; zu Württemberg Penz (Fn. 58), S. 119 ff. 67 Z. B. die Kieler Juristenfakultät, DJZ 1902, 185, 186 f.; von Liszt, DJZ 1902, 129, 130 ff.; w. Nachw. bei Lührig (Fn. 57), S. 76 f. 68 Vgl. nur von Liszt, Die Reform des Juristischen Studiums in Preußen, 1886, S. 26 f. 69 Die Ausbildung (Fn. 1), S. 61 ff.; Penz (Fn. 58), S. 122 ff., 183 f.; Schöbel, FS Schöch, 2010, S. 1039, 1043 ff.; Weber, ZZP 59 (1935), 96, 132; Rechtsgrundlagen bei Daude/Wolff, Die Ordnung des Rechtsstudiums und der ersten juristischen Prüfung in den Deutschen Bundesstaaten, 1903, S. 4 ff. 70 Die erstmals 1849 eingeführten Klausuren wurden 1864 wieder abgeschafft, Ebert (Fn. 38), S. 40 f. 71 Allgemeine Verfügung vom 30. 03. 1908, §§ 6, 7a, Pr.JMBl. 1908, 186 f.; dazu Ebert (Fn. 38), S. 118 ff. 72 Ebert (Fn. 38), S. 124 m. w. Nachw. Noch von Jhering (Fn. 64), S. 369, bezeichnet die Vorlage von Rechtsfällen im ersten Examen als Seltenheit. Die Sachverhalte der drei ersten beim Kammergericht gestellten Klausuren gibt Weber, ZZP 59 (1935), 96, 135 wieder. Auch die sechswöchige „wissenschaftliche Arbeit“ (Hausarbeit) war zunächst rein theoretischer Natur; Rechtsfälle werden erst ab 1892 häufiger ausgegeben, ibid., 122. 73 Vgl. die Übersicht in Die Ausbildung (Fn. 1), S. 112 f. 74 von Liszt (Fn. 68), S. 49 f. 75 Großfeld, NJW 1989, 875, 877 ff.; Sirp, FS Baumgärtel, 1990, S. 515, 526. 76 Exemplarisch Nettelbladt, Systema elementare universae iurisprudentiae positivae communis imperii romano-germanici usui fori accommodatum, 1749, § 4, S. 5: „Doctrinalis definitio iurisprudentiae fere communis vero haec est: Iurisprudentia est habitus practicus,
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Rang einer Disziplin sich nach ihrer Nützlichkeit bestimmte. Nach der bis in die Neuzeit wirkmächtigen aristotelischen Klassifikation war Wissenschaft (scientia, episteme) – als eine der fünf Fähigkeiten der Seele – die Erfassung und Beurteilung des Allgemeinen und Notwendigen. Mit veränderlichen Gegenständen befassen sich Klugheit (prudentia, phronesis) als „Haltung des Handelns nach rechter Überlegung“ und Kunst (ars, techne) als „Haltung des Schaffens nach rechter Überlegung“.77 Danach kann allenfalls die Befassung mit Naturrecht Wissenschaft sein,78 während das veränderliche weltliche Recht zumeist als prudentia eingeordnet wurde, obschon das aristotelische Schema nicht stets genau gehandhabt und, solange „Wissenschaft“ auch subjektiv verstanden wurde,79 oft in Anlehnung an Inst. 1.1.1, D. 1.1.10.2 von scientia oder nach D. 1.1.1 pr. von ars80 die Rede war. Solange es schon als „wissenschaftlich“ galt, einen Satz aus notwendigen Gründen herzuleiten,81 war auch die Anwendung allgemeiner Regeln auf den Einzelfall durch Subsumtion, wie sie im Gutachten geschieht, etwa noch für Christian Wolff und Thomasius ohne weiteres eine wissenschaftliche Tätigkeit82. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt sich der Begriff einer vom Anwendungszweck gelösten Rechtswissenschaft, der die praktische Jurisprudenz herabstuft oder ganz ausschließt.83 Mitbestimmend dafür waren zwei einflussreiche Positionen Kants: Zum einen sein dreistufiger Wissenschaftsbegriff, wonach jede systematische Lehre Wissenschaft heißt, und, wenn die Verknüpfung der Erkenntnis in ihrem System ein Zusammenhang von Gründen und Folgen ist, zudem rationale Wissenschaft ist, doch „eigentliche Wissenschaft“ ist nur die, „deren Gewißheit apodiktisch ist“, also Gründe a priori anführen kann.84 Die Rechtsgelehrtheit kann immerhin Systematik für sich reklamieren, doch bemühte man sich sogleich, sie mindestens
leges recte interpretandi applicandique rite quibusvis casibus obvenientibus.“, w. Nachw. bei Schröder (Fn. 13), S. 9 ff. 77 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI, 3 ff. 78 Statt vieler Chr. Wolff, De iurisprudentia civili in formam demonstrativam redigenda, in: ders., Horae subsecivae Marburgenses anni MDCCXXX, quibus philosophia ad publicam privatamque utilitatem aptatur, 1731, S. 84 f. 79 Dazu Schröder (Fn. 13), S. 9 ff., auch 39; insofern war „Rechtswissenschaft“ synonym zum früher üblicheren Ausdruck „Rechtsgelahrtheit“, der schließlich verschwand. Zur Objektivierung des Wissenschaftsbegriffs eingehend ibid. S. 36 ff. 80 Schröder (Fn. 13), S. 9 ff. Die römischen Juristen hat die aristotelische Klassifikation nicht interessiert, Viehweg (Fn. 17), S. 57 ff. m. w. Nachw. 81 Dazu Schröder (Fn. 13), S. 131 ff. 82 Chr. Wolff, Philosophia moralis sive Ethica, 1750, Pars I, § 195; Thomasius, Primae lineae de jurisconsultorum prudentia consultatoria, 1705, cap. III, § 32; ganz unumstritten war dies freilich nicht, w. Nachw. bei Schröder (Fn. 13), S. 170 ff., 174 ff. 83 Dazu Schröder (Fn. 13), S. 145 ff., 176 ff. 84 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786, Akademie-Ausgabe Band IV, S. 465, 467 f.
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als formal systematisch-rationale Wissenschaft einzustufen.85 Der Rang einer „eigentlichen“ Wissenschaft lässt sich nur erzielen, wenn man die Rechtswissenschaft der Mathematik angleicht, also meint, mit Begriffen rechnen zu können,86 oder sich auf die nun als Teildisziplin erst entstehende Rechtsphilosophie und eventuell die Rechtsgeschichte beschränkt,87 während die „Rechtskunde“ zum bloßen Handwerk88 absteigt. Zum zweiten ist für Kant der Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen keine bloß analytische Operation des Verstandes (acumen) wie bei Wolff, denn die Vorstellung eines einzelnen (Anschauung) ist nur in der Sinnlichkeit möglich, die Vorstellung eines allgemeinen (Begriff) im Verstand.89 Für die Anschauung (des zu beurteilenden einzelnen) lassen sich aber keine (Verstandes-)Regeln geben. Während der Verstand, gleichsam als Organ der Wissenschaft, für die Bildung von allgemeinen Begriffen und Regeln sorgt, ist für die Subsumtion eines Einzelfalles unter einen Begriff vielmehr ein anderes Seelenvermögen, die Urteilskraft, zuständig, die man nicht durch Regeln leiten, also weder lehren noch lernen, wohl aber üben und durch Beispiele (als „Gängelwagen der Urteilskraft“) schärfen kann.90 Daher ist auch der Richter wie der Arzt bei seiner Tätigkeit auf das Maß seiner natürlichen Urteilskraft, seines „Mutterwitzes“, zurückgeworfen.91 Die Anwendung von Regeln hat somit eine unausweichlich irrationale Natur, so dass eine Lehre zur Regelanwendung wie die juristische Falllösungstechnik letztlich nur beispielhaft, durch Anschauung verfahren und demnach als wissenschaftlich nicht gelten kann.92 Dieser Gedanke wird von nicht wenigen juristischen Autoren der Zeit aufgenommen, die nun die
85 Dazu Schröder (Fn. 13), S. 149 ff. m. w. Nachw.; vgl. jüngst Pawlik, FS Jakobs, 2007, S. 469, 470 ff. 86 Ausdruck von von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 29; s. a. Schröder (Fn. 13), S. 161 ff. Eine Ähnlichkeit von Geometrie und Jurisprudenz postuliert schon Leibniz, Dissertatio de arte combinatoria, 1666, AkademieAusgabe, 6. Reihe, 1. Band (Philosophische Schriften 1663 – 1672), S. 163, 189 Nr. 40. 87 Exemplarisch G. Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Band I (Enzyklopädie), 5. Aufl. 1817, §§ 24, 34, 43; Gans, Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung, Band 1, 1824, Vorrede, S. XXVII ff.; eingehend Schröder (Fn. 13), S. 155 ff. 88 So etwa Gans (Fn. 87); Klein, Klein’s Annalen 24 (1806), 157 u. ff.; die Rede vom „Handwerk“ im Gegensatz zur Wissenschaft war allerdings auch sonst geläufig, vgl. Rescript an das Cammer-Gericht, wie es künftig beym Examine der Rechts-Kandidaten gehalten werden soll, vom 01. 01. 1797, in: Novum Corpus Constitutionum Prusso-Brandenburgensium 19 (1801), Sp. 905, 906. 89 Kant, Logik, Elementarlehre, Akademie-Ausgabe Band 9, S. 91. 90 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. (B) 1787, B 170 ff. Allerdings auch nur in Maßen, B 173: „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“ s. a. ders., Über den Gemeinspruch: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, 1793, Akademie-Ausgabe, Band VIII, S. 275. Näher Schröder (Fn. 13), S. 176 ff. 91 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Fn. 90), B 173 f.; s. a. Köhler, JR 1991, 48, 49, 50. 92 Vgl. Schröder (Fn. 13), S. 176 ff., 188 ff.
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„Kunstregeln“ der praktischen Jurisprudenz bewusster und deutlicher93 von der theoretischen Rechtswissenschaft absetzen. Auch wenn die Wissenschaftstheorie unserer Tage, da apriorische Gegenstände selten geworden sind, andere Begriffskriterien benutzt,94 die deskriptiv-spekulative Lehre der „Seelenvermögen“ im Magazin der Psychologiegeschichte verschwunden und die „Urteilskraft“ von der Philosophie in die kognitive Psychologie bzw. Kognitionswissenschaft abgewandert ist und den Namen „Kategorisierung“ trägt, so ist doch die Kluft zwischen bloßer „Anwendung“/Falllösung einerseits und Theorie/Wissenschaft andererseits zwar in den Konturen verschüttet, aber bis heute tief geblieben. Vielleicht lohnt daher eine nähere Betrachtung des methodischen Aspekts der gutachtlichen Falllösung.
III. Descartes’ Methode des rechten Vernunftgebrauchs René Descartes Seigneur du Perron (1596 – 1650) gehört zu den Juristen,95 die nicht in ihrem Studienfach Karriere machten. Sein Werk galt und gilt vielen als „Anfang und Ursprung der neueren Philosophie“,96 Descartes selbst gar als „Erzvater der Neuzeit“,97 weil er sich radikal von der Scholastik und ihrer für die Naturerkenntnis unfruchtbaren Analytik abwendet und das nur auf sich selbst verlassende Subjekt in den Mittelpunkt aller Wahrheitssuche rückt. Seine 1637 anonym erscheinende erste Publikation Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences98 macht ihn schlagartig berühmt. Methodenlehren waren seinerzeit zwar geradezu modisch,99 doch war Descartes’ Text von bisher nicht gekannter Ra-
93 Als „Kunst“ (ars) wurde die praktische Jurisprudenz auch zuvor bezeichnet (Fn. 80), und noch heute findet man – wohl eher umgangssprachlich als aristotelisch oder kantisch inspirierte – Buchtitel wie „Die Kunst, Fälle zu lösen“ (Herbst Verlag, München). 94 Vgl. Neumann (Fn. 12), S. 378 ff.; Rinken, Einführung in das juristische Studium, 2. Aufl. 1991, S. 254 ff.; allg. Schurz, Einführung in die Wissenschaftstheorie, 3. Aufl. 2011, S. 21 ff. 95 Descartes erwarb am 9. und 10. 11. 1616 nach nur zweijährigem Studium an der Universität Poitiers das Baccalaureat und Lizenziat der Rechte jeweils mit der Note Et laudetur, Adam, Vie et œuvres de Descartes, 1910 (= Band XII der Erstauflage der maßgeblichen Werkausgabe von Adam/Tannery, Œuvres de Descartes, 1897 – 1913), S. 40 Fn. a; Gilson, René Descartes, Discours de la méthode. Texte et commentaire, 1930, S. 119. 96 Jaspers, Descartes und die Philosophie, 1937, S. 5; so schon Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Moldenhauer/Michel (Hrsg.), Werke, Band 20, 1986, S. 123: „wahrer Anfänger der modernen Philosophie“. 97 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie, 1936, Husserliana, Band VI, 1976, S. 76. 98 Der Discours wird im Folgenden wie alle Werke Descartes’ nach der Ausgabe von Adam/Tannery (Fn. 95) als „AT [Band], [Seite], [ggf. Zeile]“ zitiert, hier also AT VI, 1. 99 Vgl. Risse, Archiv für die Geschichte der Philosophie 45 (1965), 269 ff. m. w. Nachw.
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dikalität100. Der Discours ist an sich nur die an ein breites Publikum gerichtete, daher auf französisch verfasste Vorrede zu drei nachfolgenden Traktaten (La Dioptrique, Les Météores, La Géométrie), die ihren Gebrauch illustrieren sollen. Die Befassung mit einer Universalmethode beginnt früher und ist zuerst in dem unveröffentlichten und nicht im Original erhaltenen Fragment der Regulae ad directionem ingenii101 vermutlich in der Zeit zwischen 1619 bis 1628 für die Arithmetik und Geometrie niedergelegt, deren reifere Form der Discours enthält.102 Die „Methode zum rechten Vernunftgebrauch und zur Wahrheitssuche in den Wissenschaften“ ist für Descartes von zentraler Bedeutung, weil sie Wissenschaft überhaupt erst ermöglicht und zugleich universell, für alle Wissenschaften gültig ist,103 die durch sie zusammenhängen im Sinne einer Universalwissenschaft (mathesis universalis)104, wie sein berühmtes Bild eines Baumes verdeutlicht, dessen Wurzeln die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Äste die Einzelwissenschaften, darunter die hauptsächlichen die Medizin, Mechanik und Moral sind.105 Die Methode ist eingespannt in eine Erkenntnislehre, die begründet, ob und wie der Mensch die Wahrheit überhaupt erkennen kann, der hier jedoch ebenso wenig nachgegangen werden kann wie der übrigen cartesischen Metaphysik, seinem ontologischen und transzendentalen Dualismus usw. Im Folgenden muss daher unterstellt werden, dass die Methode ungeachtet ihrer Begründung Bestand haben kann. Die Methode besteht, in bewusstem Gegensatz zu den zahlreichen Regeln der Logik, lediglich aus den folgenden vier knappen Vorschriften (préceptes), die Descartes im zweiten Abschnitt des Discours anführt:106 100 Die Bestandteile der Methode sind freilich nicht gänzlich neuartig; zu Anleihen aus der Summa philosophiae quadripartita des Eustachius a Sancto Paulo, Secunda pars logicae, Tract. II, Ausgabe Leiden 1647, S. 106 ff., s. Gilson, Index scholastico-cartésien, 2. Aufl. 1979, S. 181 ff. 101 AT X, 349 ff. 102 Zum Verhältnis der Regulae zum Discours s. Gerten, Wahrheit und Methode bei Descartes, 2001, S. 66 ff., 208 ff.; Herrmann, Descartes’ Meditationen, 2011, S. 148 ff.; Röd, Descartes: Die Genese des cartesianischen Rationalismus, 3. Aufl. 1995, S. 46 ff., 68 ff.; Wladika, Breite des Ichs, Systematische Studien zu Descartes, 2007, S. 123 ff., 133 ff.; Wohlers, René Descartes, Discours de la Méthode, 2011, Vorwort, S. XXXVIII ff.; s.a. Specht, Descartes, 10. Aufl. 2006, S. 76 ff. 103 Der Titel sollte erst lauten „Le projet d’une Science universelle qui puisse élever notre nature à son plus haut degré de perfection …“, Brief an Mersenne, März 1637, AT I, 338, 339; s.a. Discours, AT VI, 21 sowie schon Regula II, AT X, 394 („qualibet scientia“). 104 Descartes, Regulae ad directionem ingenii, Regula IV, AT X, 378. 105 Descartes, Lettre préface des Principes de la philosophie, AT IX, 14. 106 AT VI, 18, 16 ff. Übersetzung nach Wohlers (Fn. 102), S. 33. Der Originaltext lautet (in modernisierter Orthographie): „Le premier était de ne recevoir jamais aucune chose pour vraie, que je ne la connusse évidemment être telle: c’est-à-dire, d’éviter soigneusement la Précipitation, & la Prévention; & de comprendre rien de plus en mes jugements, que ce qui se présenterait si clairement & si distinctement à mon esprit, que je n’eusse aucune occasion de le mettre en doute. Le second, de diviser chacune des difficultés que j’examinerais, en autant de parcelles qu’il se pourrait, & qu’il serait requis pour les mieux résoudre. Le troisième, de
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- Die erste war, niemals irgendetwas als wahr anzunehmen, von dem ich nicht evident erkannte, dass es wahr ist. Das heißt: Übereilung und Voreingenommenheit sorgfältig zu vermeiden, und nur noch das in meine Urteile einzubeziehen, was sich meinem Geist so klar und deutlich präsentierte, dass ich keinen Anlass hatte, es in Zweifel zu ziehen. - Die zweite, jede Schwierigkeit, die ich prüfen wollte, in so viele Teile zu teilen, wie möglich und erforderlich sein würde, um sie besser zu lösen. - Die dritte, meine Gedanken durch Ordnung zu leiten, beginnend mit den einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Objekten, um nach und nach, gleichsam in Stufen, bis zur Erkenntnis der am meisten zusammengesetzten aufzusteigen, und sogar bei denen eine Ordnung vorauszusetzen, die von Natur aus gar nicht aufeinander folgen. - Und die letzte, überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten aufzustellen, dass ich sicher sein konnte, nichts auszulassen. Diese Methode hat den Anspruch, eine Erkenntnisordnung sicherer und einfacher Regeln zu sein, die jeden, der sie befolgt, niemals Falsches als wahr voraussetzen lässt, so dass er sein Wissen schrittweise vergrößert und zur wahren Erkenntnis all dessen gelangt, wozu der Mensch fähig ist,107 selbst wenn der Erkennende nur über mittelmäßige Geisteskraft verfügen sollte108. Descartes geht es dabei um die Erweiterung des Wissens im Unterschied zur herkömmlichen Syllogistik der Dialektiker, die nur explizieren kann, was man schon weiß,109 insofern ist die Methode ars inveniendi. Sie ist gegründet auf den Einsatz zweier Elemente, Intuition und Deduktion. Unter Intuition versteht Descartes die Erkenntnis des Wahren qua Evidenz, wobei die Erkenntnis in einem Zug und nicht sukzessive geschehen sowie clair et distinct sein muss,110 d. h. die Anschauung des ganzen muss von anderem scharf unterschieden (klar) und auch ihre einzelnen Bestandteile müssen klar abgegrenzt (deutlich) sein. Die Deduktion gilt ihm als Operation, die von einem auch nur minimal funktionierenden Verstand niemals falsch vollzogen werden kann,111 weil sie eigentlich nur eine Abfolge von Intuitionen112 ist.
conduire par ordre mes pensées, en commençant par les objets les plus simples et les plus aisés à connaître, pour monter peu à peu, comme par degrés, jusques à la connaissance des plus composées; & supposant même de l’ordre entre ceux qui ne se précèdent point naturellement les uns les autres. Et le dernier, de faire partout des dénombrements si entiers, & de revues si générales, que je fusse assuré de ne rien omettre.“ 107 Regula IV, AT X, 372 f. 108 Regula VIII, AT X, 399 f. 109 Discours, AT VI, 17; Regula X, AT X, 406. 110 Regula III, AT X, 368; Regula XI, AT X, 407. 111 Regula II, AT X, 365: „deductionem … nunquam male fieri ab intellectu vel minimum rationali“. 112 Regula III, AT X, 369; Regula XI, AT X, 408.
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Die erste Regel setzt mit dem radikalen methodischen Zweifel113 den Ausgangspunkt und formuliert sodann den Maßstab zur Überwindung des Zweifels, nämlich nur das für wahr zu halten, was clare et distincte erkannt, mithin evident ist, also auch nichts für wahr zu halten, bloß weil es lange überliefert, von Eltern und Lehrern gelehrt114 oder die Meinung der Mehrheit115 ist. Dass solche Gewissheit auch wahr ist, folgert Descartes aus der „ersten Erkenntnis“ der eigenen Existenz (je pense, donc je suis)116 und mithilfe eines ontologischen Gottesbeweises117. Wahrheit wird dabei als Unbezweifelbarkeit verstanden.118 Der Zweifel ist also selbst ein „rationales Unterfangen“119. Die nächsten drei Regeln geben das eigentliche Verfahren an: Unterteilung, Gliederung, Aufzählung (divisio, ordo, enumeratio). Weil nur einfache Dinge klar und deutlich erkannt werden können, müssen nach der zweiten Regel komplizierte Objekte so lange zergliedert werden, bis ihre Bestandteile erkannt, Teilprobleme gelöst werden können. Die dritte Regel schreibt die Einhaltung einer Erkenntnisordnung vor, die nicht eine den Dingen innewohnende, sondern eine vom erkennenden Subjekt konstruierte Ordnung (ordre des raisons) ist, wie eines aus dem anderen erkannt werden kann.120 Descartes hält geordnetes, schrittweises Vorgehen für den „Kern aller menschlichen Aktivität“, wohingegen viele Leute nicht darüber nachdenken würden, was sie tun,121 oder schwierigste Fragen ungeordnet angehen, als würden sie versuchen, mit einem Sprung vom untersten Stockwerk eines Gebäudes in das oberste zu gelangen, weil sie die Treppen aus Hochmut oder Irrtum übersehen.122 Es sei daher das „tiefste Geheimnis der Technik“ und die nützlichste Vorschrift von allen,123 alles zu Erkennende in Serien zu ordnen und darauf zu achten, was das Allereinfachste ist und was aus ihm erkannt werden kann. In der Herstellung der Ordnung kann daher die hauptsächliche Anstrengung liegen.124 Geordnetes Vorgehen ist nicht mit starrem Schematismus zu 113 Dieser später sog. „cartesische Zweifel“ wird im 4. Abschnitt des Discours, AT VI, 31 ff., und eingehend in den Meditationes de prima philosophia, 1641, AT VII, begründet. 114 Discours, AT VI, 13. 115 Zumal es wahrscheinlicher sei, dass ein einzelner als ein ganzes Volk die Wahrheit entdecke, Discours, AT VI, 16. 116 Discours, IVe partie, AT VI, 32. 117 Am ausführlichsten in den Meditationes de prima philosophia, AT VII. Nachw. zur philosophiegeschichtlichen Rezeption bei Wladika (Fn. 102), S. 33 ff., 63 ff., 145 ff. 118 Regula II, AT X, 362. 119 Röd (Fn. 102), S. 49. 120 Regula VI, AT X, 381; Regula X, AT X, 404 f.; dazu Gilson (Fn. 95), S. 207 f.; Gerten (Fn. 102), S. 334 ff.; Röd (Fn. 102), S. 65 f., 73. 121 Descartes hält es für nötig, sich wenigstens einmal im Leben zu fragen, welcher Erkenntnis die menschliche Vernunft eigentlich fähig sei, Regula VIII, AT X, 396 f. 122 Regula V, AT X, 380 f. 123 Regula VI, AT X, 381. 124 Regula XIV, AT X, 452.
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verwechseln, denn nach Descartes muss die Ordnung nicht stets streng und unerbittlich eingehalten werden, weil es je nach Erkenntnisinteresse genügen kann, nur Teile einer Serie transparent zu erkennen.125 Die von der vierten Regel geforderten vollständigen Aufzählungen, die Descartes auch Induktion nennt,126 dienen dazu, die Fragestellung so vollständig zu durchlaufen wie es dem menschlichen Geist möglich ist, da oftmals lange Ketten von Folgerungen nötig sind und der Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses127 abzuhelfen ist. Diese Aufzählungen müssen ununterbrochen, hinreichend und geordnet sein,128 um überflüssigen Aufwand zu vermeiden und nichts auszulassen. „Hinreichend“ besagt, dass es auf das jeweilige Erkenntnisinteresse und die die Ordnung leitende Idee ankommt.129 Was die Regeln für den Gang einer Untersuchung vorschreiben gilt übrigens schon für die Fassung der zu untersuchenden Frage, bei der auch von Überflüssigem abzusehen sowie die Fragestellung auf das einfachste zurückzuführen und ggf. in einer Aufzählung in möglichst kleine Teile zu zerteilen ist.130 Die Schlichtheit der Methode hat schon sein Freund Mersenne moniert, dem Descartes antwortete, er schreibe keine Abhandlung (Traité de la Méthode), sondern nur einen Entwurf (Discours), was dasselbe bedeute wie Vorwort oder Anleitung (Préface ou Avis touchant la Méthode), denn er wolle sie nicht lehren, sondern nur über sie sprechen, da sie offenkundig mehr in Praxis als in Theorie bestehe.131 Später ist ausgiebig gezeigt worden, dass schon die Ausführungen der dem Discours folgenden Traktate kaum durch diese Methode hervorgebracht werden können – abgesehen davon, dass Descartes’ Physik sich bald als krass fehlerhaft herausgestellt hat132 –, deren „hervorstechendstes Merkmal ihre Banalität ist“,133 die bereits Leibniz kritisiert hatte: Er sehe nicht, was die vier cartesischen Regeln spezifisch Cartesisches an sich hätten, Sie erinnerten ihn vielmehr an die Vorschrift irgendeines Chemikers: „Nimm, was du brauchst, verfahre, wie du musst, und du wirst bekommen, was du willst.“ Dies laufe letztlich hinaus auf: „Man muss das Gute anstreben und das Schlechte meiden“, was ganz richtig sei, aber keine Kriterien für das Gute angebe.134 125
Regula VIII, AT X, 393 f. Regula VII, AT X, 387 ff. 127 Regula VII, AT X, 387. 128 Regula VII, AT X, 388 ff. 129 Regula VII, AT X, 390. 130 Regula XIII, AT X, 430. 131 Brief an Mersenne, März 1637, AT I, 347, 349. 132 Vgl. Wohlers (Fn. 102), Vorwort, S. XXIX ff. m. w. Nachw.; s.a. Specht (Fn. 102), S. 95 ff. 133 Wohlers (Fn. 102), Vorwort, S. XII; s.a. B. Williams, Descartes: The Project of Pure Inquiry, 1978/2005, S. 18 ff. 134 Leibniz, Brief an Gerhard Meier, Mitte Januar 1691, in: Sämtliche Schriften und Briefe, Akademie-Ausgabe, 2. Reihe, 2. Band (Philosophischer Briefwechsel 1686 – 1694), 2009, 126
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Das Spektrum der Bewertungen der „Methode“ ist heute so unüberschaubar wie die Literatur zu Descartes insgesamt. Manche sehen in ihr eine hochdifferenzierte allgemeine Theorie der Forschung135 oder halten sie zwar für selbstverständlich, aber nur in dem Sinne, wie man es heute selbstverständlich findet, einen Lichtschalter zu betätigen, an dessen Existenz man gewöhnt ist,136 oder verwerfen den Vorwurf der Banalität als verfehlt, weil es sich weniger um ein Verfahren als um eine psychologische Haltung, eine rhetorische Mahnung zur Aufmerksamkeit handele137.
IV. Ist der Gutachtenstil eine cartesische Methode? Man könnte einwenden, Descartes’ Methode wäre schon deshalb mit dem Gutachtenstil unvergleichbar, weil sie auf Wissenschaft und Wahrheit gerichtet ist. Zwar nennt Descartes die Jurisprudenz beiläufig „Wissenschaft“,138 benutzt dort aber offensichtlich nur die damals übliche Ausdrucksweise. Als Einsatzgebiet der Methode ist Wissenschaft alles Streben nach Erkenntnis, die durch Gewissheit, also etwa nicht durch Glauben erlangt werden kann; ausgeschieden ist auch die tägliche Lebensführung, wo die für die Wissenschaft nötige Gewissheit weder gesucht noch erwartet werden könne139. Als Bestandteil der mathesis universalis sind normative Disziplinen wie die von Descartes selbst angeführte Moral140 vorstellbar, nicht hingegen eine Disziplin, deren Sätze nicht durch Erkenntnis evidenter Wahrheit, sondern durch autoritative Setzung141 entstehen. Die Methodenlehre des positiven Rechts, sofern sie sich mit der Bildung konkreter Normsätze befasst, hätte Descartes ebenso wenig interessiert wie andere Disziplinen, in denen Meinungsstreit herrscht,142 auch wenn eine gedankliche Ordnung sich hier ebenso wie überall empfiehlt. Nr. 99, S. 377, Z. 11 ff.: „Quatuor Cartesianae Methodi Regulae … non video quid habeant Cartesio proprium. Et parum abest ut dicam similes praecepto Chemici nescio cujus: Sume quod debes, et operare ut debes, et habebis quod optas. Nihil admittere nisi evidenter verum (seu nisi quod debes admittere). Divide rem in partes quot requiruntur (id est quot facere debes). Procede ordine (quo debes). Enumera perfecte (seu quae debes). Prorsus ut quidam inter praecepta ponunt, Bonum esse appetendum, Malum fugiendum; recte profecto, sed indicia boni malique desiderantur.“ S.a. den nachfolgenden Brief Nr. 100. 135 Sorell, Descartes, dt. Ausgabe o. J., S. 30. 136 Honegger, René Descartes: Leben, Methode, Weltbild, 1957, S. 10. 137 Carr, Descartes and the Resilience of Rhetoric, 1990, S. 41. 138 Discours, AT VI, 6. 139 Brief vom August 1641, AT III, 422; vgl. die provisorische Moral im 3. Abschnitt des Discours, AT VI, 23 ff. 140 Oben Fn. 105; vgl. Gerten (Fn. 102), S. 49 ff. 141 Vgl. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 3: „Der Jurist empfängt die ,Wahrheit‘ als zeitlich und räumlich bedingte und begrenzte aus der Hand des Gesetzgebers.“ 142 Etwa die damalige Schulphilosophie, Discours, AT VI, 8.
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Hingegen unterscheidet sich die Aufgabenstellung bei der Lösung eines Rechtsfalls strukturell nicht von der Erklärung einzelner Phänomene oder Fragestellungen in empirischen oder formalen Wissenschaften, insofern durch geordnete und nachvollziehbare schrittweise Prüfung der Anwendbarkeit allgemeiner Sätze versucht wird herauszufinden, was in concreto „der Fall ist“, sei es nun eine medizinische Diagnose, bautechnische Untersuchung einer Autobahnbrücke, lebensmittelchemische Analyse eines Mensapuddings oder Lösung eines Strafrechtsfalls: Insoweit entsprechen juristische Gutachten den Gutachten anderer Disziplinen.143 Allerdings könnte noch ein Unterschied darin bestehen, dass andere Fächer nach der Wahrheit suchen (der Patient hat diese Krankheit, die Brücke ist marode, der Pudding verdorben oder nicht), während Juristen sich seit dem Abgang der Begriffsjurisprudenz schon wegen der semantischen Unbestimmtheit des Rechts scheuen würden zu behaupten, ihre Beurteilung eines Rechtsverhältnisses sei (einzig) „wahr“. Zwar sind in der Juristerei Aussagen über das positive Recht (z. B. Gültigkeit einer Norm) und institutionelle Tatsachen (z. B. Bestehen von Ansprüchen) ohne weiteres wahrheitsdefinit formulierbar,144 doch glaubt man heute kaum145 noch, die nicht nur grundsätzlich unvermeidbaren, sondern auch praktisch oft entscheidungserheblichen Zweifel über den genauen Inhalt einer zur Beurteilung eines Einzelfalls nötigen Norm more geometrico auflösen und eine einzig richtige Lösung finden zu können. Ist das Gutachten indes nicht nur zu Ausbildungszwecken verfasst, wo man mit „vertretbaren“ Lösungen zufrieden ist, so muss es dem Anspruch genügen, über einen – u. U. erst noch erst nach den Regeln des Beweisrechts herzustellenden – wahren Sachverhalt eine rechtlich „richtige“ (im Sinne der am besten begründbaren) Aussage zu treffen, weil wenigstens staatliche Rechtsanwendung sich Beliebigkeit nicht leisten kann, soll nicht das Recht seine Orientierungsfunktion einbüßen.146 Einen Wahrheitsanspruch mag das juristische Gutachten nicht haben, den Anspruch auf Richtigkeit schon. Mit diesen Abstrichen bestehen im Übrigen deutliche Parallelen zwischen Gutachtentechnik und den vier methodischen Vorschriften Descartes’: Der methodische Zweifel (1. Regel) ist der Ausgangspunkt, so dass keine rechtliche Aussage über den Sachverhalt getroffen wird, ohne sie vorher zu prüfen; auch die klarste Feststellung 143
Zutr. Wolf, JuS 1996, 30, 31. Vgl. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 4 f.; Poscher, ARSP 89 (2003), 200 f. 145 Anders etwa Dworkin, Hard Cases, in: ders., Taking Rights Seriously, 1977, S. 81, 105 ff.; ders., A Matter of Principle, 1985, S. 119; ders. (Fn. 144), S. 45 ff., 239 ff.; auch Moore, 26 Harvard Journal of Law & Public Policy 23, 41 ff. (2003). 146 Zum Anspruch auf Richtigkeit s. nur Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 264 ff.; Engisch (Fn. 141), S. 4 ff.; krit. Müller-Dietz, Z.f. evangel. Ethik 1971, 257, 258 f. Poscher, ARSP 89 (2003), 200, 210 ff., meint, mit Hilfe der deflationären Wahrheitstheorien einen Wahrheitsanspruch der dogmatischen Rechtswissenschaft begründen zu können, doch sind diese Theorien nicht kriterial und können daher bei einer unbestimmten Rechtslage lediglich sagen, dass das Recht unbestimmt sei, ibid. 212, womit sich die Rechtsanwendung, die ein Rechtsgutachten vorbereitet, nicht zufriedengeben kann. 144
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bedarf einer knappen Subsumtion. Die Frageform des Gutachtenstils ist Ausdruck dieses Zweifels. Die Zergliederung einer Aufgabe (2. Regel) ist kennzeichnend für ein juristisches Gutachten: Ein komplizierter Sachverhalt wird aufgeteilt in Segmente, die sich leichter bearbeiten lassen.147 Diese Segmente werden weiter dadurch unterteilt, dass einzelne Normen an sie schrittweise herangetragen werden. Die analytisch erlangten Ergebnisse werden schließlich in einer Synthese zusammengeführt. Diese Schrittfolge geschieht in einer Ordnung (3. Regel), die im wesentlichen Erkenntnisordnung (z. B. Verbrechensaufbau, Anspruchsaufbau) ist. Alle diese „Aufbauschemata“ sind wie bei Descartes nicht „starr und unerbittlich“, sondern zweckgerichtet variabel.148 Unerbittlich sind diese Ordnungen nur, insoweit sie zugleich die Aufgabe von (untergeordneten, weil nur einen Problemteil betreffenden) Aufzählungen übernehmen (4. Regel); so fungiert etwa der Verbrechensaufbau auch als „Checkliste“. Für den vollständigen Problemdurchgang sorgt der wiederholte Abgleich mit den einschlägigen Gesetzen zur Vergewisserung, alle in Betracht kommenden Normen (Straftatbestände, Ansprüche) geprüft zu haben. Die für Descartes elementaren Verstandesoperationen Intuition und Deduktion treten im juristischen Gutachten vielleicht sogar sichtbarer hervor als in anderen Disziplinen: Die Subsumtion einer Norm besteht aus – meistens einer längeren Reihe von – Deduktionen, die letztlich auf Evidenzbehauptungen – ob ein elementarer (Unter-)Begriff im Fall instantiiert ist149 – beruhen. Die spezifische juristische Schwierigkeit liegt freilich in der Findung der Obersätze, die nicht bloß deduktiv aus dem Gesetz zu gewinnen sind. Juristische Technik muss überdies noch weitere Ansprüche erfüllen: In einem Rechtsstaat muss juristische Arbeit rational im Sinne von nachvollziehbar und prüfbar sein; dies sind ohnehin Kriterien wissenschaftlicher Arbeit, die die cartesische Methode, auch wenn Descartes dies nicht hervorhebt, und gleichermaßen der Gutachtenstil erfüllen.150 Juristische Technik muss ferner auch von nur durchschnittlich begabtem Rechtsanwendungspersonal richtig angewendet werden können;151 eine 147 Zu aus der Rhetorik entlehnten Unterteilungen der Relation s. Schröder (Fn. 13), S. 61 m. w. Nachw. 148 Der Vorwurf des „Schematismus“ wird bei Falllösungen gern erhoben, vgl. Fn. 6, ist aber nur berechtigt bei differenzierter Verwendung: Denn schematisches Vorgehen an sich ist, wie gerade gezeigt, wünschenswert, um Ordnung und Vollständigkeit zu erreichen. Berechtigt ist ein Vorwurf nur, wenn ein Schema ohne Verstand angewandt, namentlich seine dienende Funktion vergessen und weiteres eigenes Nachdenken unterlassen wird. 149 Vgl. nur Puppe, JA 1989, 345, 363; dies., Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 49 f. Diese Evidenzerfahrung, das ist Kant (oben bei Fn. 90) zuzugeben, mag nicht lehrbar sein, der Weg dahin hingegen durchaus. 150 Dass ein Gutachten darüber hinaus eine ästhetische Seite haben kann, vgl. Schild (Fn. 25), S. 169 ff., wird hier keineswegs bestritten! 151 Vgl. Jahresbericht des Präsidenten des Juristischen Landesprüfungsamts für 1929, Pr.JMBl. 1930, 48, 51; E. Schneider, MDR 1973, 100 f.
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wissenschaftliche Methode dürfte wohl anspruchsvoller sein, aber Descartes rühmte sich,152 dass seine Methode jeden noch so mittelmäßigen Verstand zum Ziel führt. Der Gutachtenstil ist ebenso simpel und damit an sich simpel genug; die Erfahrung mit der Juristenausbildung möchte in ihm aber eher eine Widerlegung der Descartes’schen These sehen, dass eine simple Methode allein hinreichend sei und es auf den Intellekt nicht ankomme, denn ihre getreue Anwendung ist durch nichts garantiert. Insgesamt stellt sich die Gutachtentechnik wie die cartesische Methode zugleich als Verfahren dar, Irrtümer zu vermeiden. Bekanntlich scheitern viel juristische Klausuren und Hausarbeiten nicht an fehlender Rechtskenntnis, sondern an fehlerhafter Anwendung vorhandener Kenntnisse, namentlich aufgrund „Übereilung und Voreingenommenheit“ infolge Außerachtlassung des methodischen Zweifels sowie aufgrund Unvollständigkeit.
V. Fazit Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass der hierzulande gepflegte juristische Gutachtenstil als praktische wie didaktische Technik weniger selbstverständlich ist als es scheinen mag und erst seit Ende des 19. Jahrhunderts in universitären Lehrveranstaltungen üblich wird. Die Falllösung ist an der Universität längst fest etabliert als nötige Bewährungsprobe für juristische „Theorien“153 und als didaktisch nützliche „praktische Gymnastik“,154 um Verständnis zu prüfen und ad acuendum ingenium. Eine nicht stets, aber öfters durchaus pejorativ gemeinte Qualifizierung der Falllösungstechnik als „bloßes Handwerk“, das auch von der Rechtstheorie verschmäht wird, übersieht, dass die gutachtliche Lösung eines Rechtsfalles der wissenschaftlichen Erklärung eines Einzelproblems strukturell entspricht. Soweit die Methode des Descartes aus seiner Metaphysik herausgelöst werden kann, erfüllt der Gutachtenstil die für sie aufgestellten vier Vorschriften in sehr deutlicher Weise. Dass er würdig genug ist, an der Universität gelehrt zu werden, sollte außer Frage stehen; „falsche Scheu vor dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit“155 ist also nicht angebracht. Die cartesische Methode scheint jedoch genauso banal zu sein wie der Gutachtenstil. Es trifft zu, dass beide einfach sind, was kein Einwand gegen erwiesene Tauglichkeit wäre, im Gegenteil: Descartes sah in der Einfachheit die Bedingung der Tauglichkeit. Doch folgt aus Banalität oder Einfachheit keineswegs, dass die Methode allgemein richtig und mit Verstand angewendet würde, wie jeder Rechtslehrer weiß. Vielleicht wäre es hilfreich, die Gutachtentechnik nicht geschichts- und theo152
Oben Fn. 108. von Jhering (Fn. 64), S. 368, 377. 154 Goldschmidt (Fn. 31), S. 262. 155 Vgl. von Jhering (Fn. 64), S. 377, sowie jüngst den Bericht des Ausschusses der Justizministerkonferenz zur Koordinierung der Juristenausbildung: Der Bologna-Prozess und seine möglichen Auswirkungen auf die Juristenausbildung, 2005, S. 43. 153
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rielos zu vermitteln, den Arbeitsgemeinschaften oder gar den Repetitorien zu überlassen, sondern im universitären Unterricht den Zweck dieser Methode klar darzulegen und zu betonen, dass sie den Fallbearbeitern selbst am meisten nützen kann ad directionem ingenii.156
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Dass der Massenbetrieb an den juristischen Fakultäten, der sie zu „Elementar-Fachschulen zur Vorbereitung auf die erste juristische Prüfung“ (Zitelmann, DJZ 1909, 505, 508; ähnl. von Liszt, Fn. 68, S. 18) macht, seinen Tribut zollt und der „Banausengeist, der nur an die Prüfung denkt“ (von Liszt, DJZ 1902, 129, 130), „eigentlich wissenschaftliche Kenntnisse“ vernachlässigt (Rescript, Fn. 88) und, statt selbst zu denken, in blinden Schematismus verfällt (Kunkel, Fn. 6), wohl nicht auszutreiben ist, wird dabei ebenso wenig verkannt wie die Ambivalenz der Prüfungsform der Klausur (im Jahresbericht für 1929, Fn. 151, S. 51, ist das wesentliche schon gesagt) als Hauptexerzierplatz des Gutachtenstils.
Der Liberalismus und der Zivilprozess Von Rolf Stürner
I. Der klassische Liberalismus – Idee und Realität 1. Die Grundideen des Liberalismus Das Thema dieses Beitrags, der Wolfgang Frisch als langjährigen vertrauten Kollegen ehren und dabei seinen rechtsphilosophischen und prozessualen Neigungen etwas entgegenkommen soll, behandelt die Bedeutung des klassischen Liberalismus für die Entwicklung des Zivilprozesses bis zur Gegenwart. Als das große Zeitalter des europäischen Liberalismus betrachtet man gemeinhin die Mitte des 19. Jahrhunderts, das durch den Kampf um bürgerliche Freiheiten und die Konstitutionalisierung des staatlichen Gemeinwesens geprägt war. Die deutsche ZPO des Jahres 18791 gilt ebenso als Manifestation liberaler Prozessgesetzgebung wie der französische Code de Procédure Civile als eines ihrer großen Vorbilder oder die prozessualen Kodifikationen der vorausgehenden deutschen Partikulargesetzgebung.2 Was sind die Grundideen, die man dem Liberalismus zuzuschreiben pflegt? Erwähnenswert sind in unserem Zusammenhang vor allem zwei Elemente des liberalen Gedankenguts dieser Zeit. Einmal die individuelle Freiheit als Garantie und gleichzeitig als Basis und Ausgangspunkt jedweder gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Aktivität3 und damit verbunden der Wettbewerb beim Austausch von Gütern und Ideen. Zum anderen als logische Konsequenz die Subsidiarität des staatlichen Eingriffs und staatlicher Aktivität überhaupt.4
1 Dazu statt vieler Bettermann, Hundert Jahre Zivilprozessordnung – Das Schicksal einer liberalen Kodifikation, ZZP 91 (1978), 365. 2 Zur Geschichte der Partikulargesetzgebung und der Vorläufer der Reichszivilprozessordnung der Überblick bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 4 Rn. 26 ff. und § 5 Rn. 1 ff., S. 23 ff. 3 Zum deutschen Liberalismus des 19. Jahrhunderts und seinem teilweisen Scheitern ausführlicher Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 10. Aufl. 2011, Rn. 247 – 351. 4 Grundlegend war der Einfluss englischer Staats-und Gesellschaftsphilosophie; dazu hauptsächlich Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776; Hume, Essays, moral and political, 1741/1742; ferner die Würdigung bei J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2012; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, Rn. 67; Stürner, in: Starck (Hg.), Recht und Willkür, 2012 (im Erscheinen).
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2. Grenzen seiner Realisierung in Kontinentaleuropa Es wäre allerdings irreführend und falsch, wollte man davon ausgehen, dass die mit dem Liberalismus verbundene Vorstellung bürgerlicher Freiheit und staatlicher Zurückhaltung im Kontinentaleuropa des 19. Jahrhunderts in allen gesellschaftlichen Bereichen bestimmend gewesen wäre. Gerade in Deutschland konnten sich neben liberalen Ideen auf vielen Gebieten wohlfahrtsstaatliche Konzeptionen behaupten und weiterentwickeln, die ihre Entstehung dem aufgeklärten Absolutismus verdankten. Hierfür stehen etwa als besonders einprägsame Beispiele die Bismarcksche Sozialversicherung5 mit ihrer weitreichenden Vorbildfunktion, aber auch der Gedanke staatlicher Rechtsfürsorge, wie er im Preußischen Zivilprozess6 mit seiner richterlichen Vaterfigur und seiner weitgehenden Abneigung gegen die freie Advokatur7 übertriebene und in dieser Form nicht überlebensfähigen Ausdruck gefunden hatte, um dann in abgemilderter Form letztendlich doch zu überleben. Aber auch in Frankreich überdauerten Vorstellungen obrigkeitlicher Rechtsfürsorge die Revolution, wie sie im ancien régime entstanden waren. So stand etwa das Schicksal des früher königlichen Notariats auf des Messers Schneide und wäre vom revolutionären Parlament beinahe abgeschafft worden, hätte nicht der parlamentarische Berichterstatter die Bedeutung vorsorgender Rechtspflege für den Einzelnen und das Gemeinwohl auch in einer freiheitlichen Gesellschaft hervorgehoben und ausgeführt: „… L’intérêt (de la société) exige encore que des hommes plus expérimentés viennent éclairer leurs concitoyens et les garantir des erreurs funestes qui, en dispersant les fortunes particulières, attaquent d’une manière plus ou moins sensible l’ordre et la félicité publique.“8
3. Solidarität und Fraternité So stand in Kontinentaleuropa auch in der Zeit liberalen Aufbruchs neben dem Gedanken der individuellen Freiheit und Eigenverantwortlichkeit auch der Gedanke fürsorglicher Solidarität oder in den Worten der französischen Revolution: der Fraternité. Der klassische kontinentale Liberalismus hat die Einseitigkeit gemieden in der Erkenntnis, dass sich Freiheit und Solidarität nicht ausschließen, sondern in vielen Konfliktlagen durchaus bedingen. Man kann sicher nicht sagen, dass sich die angloamerikanische Rechtskultur dieser Erkenntnis völlig verschlossen hätte, aber vor allem in den USA ist die staatlich organisierte Solidarität im Lebensgefühl der Elite 5
Dazu Frotscher/Pieroth (Fn. 3), Rn. 476 ff. Kurze Darstellung bei Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 2), § 4 Rn. 26 ff.; Stürner, Europäisches Zivilprozessrecht, 2013, § 1 V 2. 7 Heinrich von Gneist, Freie Advokatur, 1867. 8 Dazu Moreau, Le Notariat Francais à Partir de sa Codification, 1984, S. 60. (Das öffentliche Interesse verlangt auch, dass wohlerfahrene Persönlichkeiten bereitstehen, um ihre Mitbürger aufzuklären und sie vor jenen unglücklichen Irrtümern zu bewahren, die das persönliche Glück und Wohlbefinden zerstören und dadurch die öffentliche Ordnung und Wohlfahrt in Frage stellen.) 6
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eher ein Ausnahmephänomen, das nur Akzeptanz findet, wenn Privatinitiative mehr oder weniger voll versagt.9 4. Vielfalt europäischer Kapitalismusformen und Tendenz zu gemischten Strukturen Das paternalistische Element einer gesellschaftlichen Ordnung, wie es Folge des Zusammenspiels von freiheitlicher Eigenverantwortlichkeit und staatlich organisierter Solidarität ist10, erfährt nun allerdings in den einzelnen kontinentalen Kulturräumen eine recht verschiedene Gewichtung und Gestaltung. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Kontinentaleuropa eine Vielzahl von Formen des Kapitalismus11 und der Sozialstaatlichkeit12 kennt. Es gibt weder „den“ kontinentaleuropäischen Kapitalismus noch „den“ kontinentaleuropäischen Sozialstaat. Hinzu kommt, dass die Struktur einer Gesellschaft zwar insgesamt stärker durch liberale oder paternalistische Elemente geprägt sein mag, stets aber auch Raum für Gestaltungsformen lässt, die dem Zufall oder vereinzeltem Beharrungsvermögen ihr historisches Überleben verdanken und im Gesamtbild eher als Fremdkörper erscheinen. Das englische Gesundheitswesen, das mit seinen durchaus sozialistischen Organisationsformen die Ära des Thatcherismus und der Liberalisierung überlebt hat, ist hierfür ein treffliches Beispiel.13 Diese Beobachtung manifestiert auch nicht selten eine Form gesellschaftlicher Selbststabilisierung, die der Versuchung zur Bildung monistischer Strukturen widersteht und die stabilere gemischte Struktur vorzieht, auch wenn sie teilweise nicht der herrschenden zeitgenössischen Ideologie entspricht.14
9 Ein gutes Beispiel ist der heftige politische Kampf um die obligatorische Krankenversicherung: dazu National Federation of Independent Business et al. v. Sebelius, Secretary of Health and Human Services et al., 567 US 2012 mit seinen zahlreichen Sondervoten; allgemein zum individualistisch – liberalen Grundansatz des US-amerikanischen Staatsverständnisses und seiner Genese Stürner, Markt und Wettbewerb über Alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie, 2007, S. 33 ff. 10 Dazu Stürner, AcP 210 (2010), 105 ff., 132 ff.; ders., JZ 2012, 10 ff., 19 ff. 11 Ausführlich der Band Hall/Soskice (Hg.), Varieties of Capitalism, 2001. 12 Dazu statt vieler A. Giddens, Die Zukunft des europäischen Sozialmodells, Reihe Internationale Politikanalyse der Friedrich- Ebert- Stiftung, 2006; J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 238 ff., 245/246. 13 Hierzu R. G. Hodgkinson, The Origine oft he National Health Service, 1967; Carrier/ Kendall, Health and the National Health Service, 2005. 14 Zu dieser Problematik Stürner (Fn. 9), S. 134 ff., 140 ff., 314.
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II. Liberalismus und Zivilprozess 1. Zivilprozess als Erscheinungsform komplexer gesellschaftlicher Kultur Für den Zivilprozess, der entgegen einem berühmten Zitat des deutschen Prozessualisten Friedrich Stein durchaus nicht eher technisches Recht ist, „der Ewigkeitswerte bar“, sondern sich bei näherer Betrachtung als eine wichtige und prägende Erscheinungsform menschlicher Kultur und Gesittung erweist, gilt letztlich alles, was allgemein zum Verhältnis der liberalen Idee zur Wirklichkeit bereits gesagt ist. Die verschiedenen Prozesskulturen zeigen in ihren unterschiedlichen Epochen zwar eine grundsätzliche Adhäsion zur dominierenden Ideologie und damit auch zum Liberalismus des 19. Jahrhunderts und zum mehr oder weniger gemäßigten Paternalismus des Sozialstaates im 20. Jahrhundert. Es bleiben aber auch immer Einflüsse vorausgehender Epochen, die den historischen Wandel des dominanten Gesellschaftsmodells überdauern und der reinen Verwirklichung seiner Ideenwelt widerstreiten. Hinzu kommt, dass der Zivilprozess innerhalb der allgemeinen kulturellen Entwicklung der Gesellschaft oft ein Eigenleben führte, das vorwiegend schichtspezifische Bedürfnisse befriedigte. So erklärt es sich zum Beispiel, dass im Zivilprozess mit seiner Trennung vom Strafprozess sich die Dispositionsmaxime sehr früh auch in Gesellschaften durchsetzte, die insgesamt vom liberalen Gesellschaftsmodell noch weit entfernt waren, aber doch einer bestimmten Schicht die Autonomie über private Rechte einräumten, der in der Realität diese Prozessform mehr oder weniger alleine zugänglich war.15 2. Gesellschaftsstruktur und Struktur des Zivilprozesses Es ist deshalb ebenso verführerisch wie gefährlich, einfache Schlüsse vom herrschenden Gesellschaftsmodell auf die Struktur des Zivilprozesses zu ziehen. Teilweise findet sich vor allem in der angloamerikanischen Rechtskultur die These vom Zusammenhang zwischen dem Ausmaß richterlicher Aktivität im Zivilprozess und der Liberalität der gesellschaftlichen Grundverfassung.16 Je liberaler die Gesellschaft, desto passiver der Richter und umgekehrt je aktiver der Richter desto hierarchischer die gesellschaftliche Struktur – so die vereinfachte These. Sie ist nicht völlig falsch, trifft aber nur in Extremfällen voll zu, wenn man beispielsweise den traditionellen angloamerikanischen Richter dem Richter in früheren sozialistischen Systemen gegenüberstellt. Andererseits hat aber die passive Rolle des englischen Richters den 15 Hierzu schon Stürner, Procedural Law and Legal Culture. Inaugural Speech on the World Congress on Procedural Law in Mexico City 2003, in: Gilles/Pfeiffer, Prozessrecht und Rechtskulturen, 2004, S. 9 ff., 11. 16 Wichtig die Arbeiten von Damaska, The Faces of Justice and State Authority, 1986; eher kritisch zu dieser These Langbein, in: Lutter et al. (Hg.), Der Einfluss deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und Deutschland, 1993, S. 320 ff., 328 – 331; Oscar Chase, Law, Culture and Ritual, 2005, S. 66 ff.
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Trend zum Staatssozialismus im Großbritannien der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts17 überlebt, und der Schritt zur Aktivierung des englischen Richters im Rahmen der Reformen des letzten Jahrzehnts18 ist sicher kein Indiz für einen beginnenden Verlust an gesellschaftlicher Liberalität. Um noch ein Extrem der deutschen Geschichte anzuführen: der Zivilrichter der nationalsozialistischen Diktatur war wesentlich passiver als der Zivilrichter der inzwischen wohletablierten deutschen Demokratie – auch der passive Richter kann sich in den Dienst des totalitären Unrechtsstaates stellen. Man tut also bei den Betrachtungen zum Einfluss des Liberalismus auf den Zivilprozess gut daran, vereinfachende Direktschlüsse zu vermeiden und stets die denkbare Vielfalt bei der Motivation prozessualer Gestaltung zu beachten19. 3. Gang weiterer Überlegungen Die folgenden Überlegungen sollen sich nun etwas genauer mit dem Einfluss gegenwärtigen liberalen Denkens auf einige wichtige Strukturelemente des Zivilprozesses und den Stellenwert des Zivilprozesses in der Gesellschaft befassen. Besonders interessieren dabei das Schicksal der Parteiautonomie, die Entwicklung der richterlichen Rolle und das Verhältnis zwischen dem Prozess und der neu aufgekommenen Mediation.
III. Parteiautonomie im modernen Zivilprozess 1. Bewahrung und Sicherung als rechtspolitische Aufgabe a) Historische Vorreiterrolle der prozessualen Dispositionsfreiheit Es ist bereits erwähnt, dass die Parteiautonomie, also die Herrschaft der Parteien über Anfang, Ende und Gegenstand des Verfahrens, einer langen und vor dem Aufkommen des Liberalismus liegenden Tradition entspricht. Diese Parteidisposition über das Verfahren ist bekanntermaßen die prozessuale Spiegelung der Freiheit der Parteien, über ihre Rechtspositionen alleine und ohne staatliche Bevormundung grundsätzlich nach Belieben zu entscheiden, und damit Ausdruck persönlicher Entfaltungsfreiheit. Diese Freiheit ist zwar im Laufe einer langen und teilweise mühsamen Entwicklung gegen Herrschaftsansprüche einer Oberschicht oder eines Gemeinwesens zunächst für einzelne Gruppen oder Teile der Bevölkerung erkämpft worden, sie ist also keine völlig neue Errungenschaft des Liberalismus, was die lange Geschichte der prozessualen Parteidisposition erklärt. Es ist aber das hohe Ver17
Vgl. Tomlinson, Democratic Socialism and Economic Policy – The Attlee Years, 1997, S. 94 ff.; Hennessy/Sheldon (Hg.), Ruling Performance. British Governments from Attlee to Thatcher, 1987, S. 28 – 62. 18 Vgl. Andrews, English Civil Procedure, 2003, Rn. 2.13 ff.; 13.12 ff. 19 So schon Stürner, in: Gilles/Pfeiffer aaO (Fn. 15).
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dienst des modernen Liberalismus, diese Freiheitsrechte auf alle Menschen ausgedehnt zu haben, wie sich dies vor allem in den Emanzipationsbewegungen von Minderheiten im Europa des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Europa manifestiert. b) Rückschläge in Europa Allerdings musste diese Entwicklung zur Freiheit und damit auch zur prozessualen Disposition für Jedermann, die in Europa zunächst rascher fortschritt als in den USA, gerade in Europa im 20. Jahrhundert zwei schwere Rückschläge hinnehmen. In Deutschland verband sich mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten der Angriff auf die volle Rechtsfähigkeit und damit auch die Parteifähigkeit vor allem der jüdischen Minderheit, der sich als Vorbote voller Entrechtung und von Massenmorden erweisen sollte. Die kommunistischen Revolutionen Osteuropas schufen nach dem Ende rechtloser Revolutionswirren dauerhaft Regime, in denen die Privatautonomie stark beschränkt blieb und folgerichtig die prozessuale Parteidisposition ebenfalls bemerkenswerte Einschränkungen hinzunehmen hatte. In den sozialistischen Prozessordnungen bedurften Vergleiche ebenso richterlicher Zustimmung wie Anerkenntnisse, Verzichte oder Klagrücknahmen. Den Gerichten war es auch erlaubt, über die Parteianträge hinaus zu entscheiden. Erst das Ende des Sozialismus am Ende des 20. Jahrhunderts brachte eine Wende, die aber erst allmählich die rechtliche und prozessuale Realität zu ändern beginnt, wobei die Änderung von Texten sich als wesentlich einfacher erweist als nach Jahrzehnten anderer Gewöhnung die Änderung der Rechtspraxis. Ausländische Beratung und Hilfe zeigt hier nur sehr allmähliche Wirkung, wenn es gelingt, die Menschen vom hohen Wert auch der Freiheit im Prozess zu überzeugen. c) Weltweiter rechtstheoretischer Konsens Wie stark die Parteidisposition sich inzwischen als rechtstheoretische Grundregel durchgesetzt hat, zeigen die vom American Law Institute und Unidroit verabschiedeten Principles of Transnational Civil Procedure. Principle 10 dieses Regelwerkes lautet in seinen hier interessierenden Teilen: „The proceedings should be initiated through the claim or the claims of the plaintiff, not by the court acting on its own motion … The parties should have a right to voluntary termination or modification of the proceeding or any part of it, by withdrawal, admission, or settlement …“20
2. Die neuen Problemfelder Die neuen Problemfelder, die sich für die prozessuale Parteiautonomie in den Staaten der westlichen Zivilisation und den von ihnen beeinflussten hybriden Rechtskulturen der letzten Jahrzehnte ergeben, sind von anderer und etwas unauffälligerer 20 Siehe ALI/UNIDROIT, Principles of Transnational Civil Procedure, 2006, S. 29; ferner Stürner, RabelsZ 69 (2005), 201 ff., 221 f.
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Art. Zwei wichtige Bereiche verdienen ausführlichere Erörterung, nämlich die Kollektivklagen und die Verschärfung prozessualer Aufklärungspflichten. a) Kollektivklagen und Gefährdung individueller Autonomie aa) Massenhafte Schadensersatzprozesse als Steuerungsinstrumente der modernen Gesellschaft Die moderne Massengesellschaft bindet das Individuum in zahllose Abhängigkeiten ein, die ihren Ursprung in fortschreitender Technisierung, medizinischem Fortschritt, der wachsenden Bedeutung überregional oder global produzierender Märkte, der Internationalisierung der Finanzmärkte und nicht zuletzt dem steigenden Bedarf an Information durch Informationsintermediäre haben. Gleichzeitig wird die Möglichkeit präventiver Vorsorge durch staatliche Gesetzgeber und administrative Kontrolle erschwert, weil Komplexität und Internationalisierung an den effizienten und gleichzeitig verhältnismäßigen präventiven Zugriff immer höhere Anforderungen stellen. Moderne Formen des Liberalismus benützen die wachsende Schwierigkeit präventiver Regulierung als Argument gegen traditionelle Formen der Prävention und setzen auf repressive Sanktion als Mittel der Steuerung durch Abschreckung.21 Massenhafte Schadensersatzprozesse werden damit zum Instrument gesellschaftlicher Steuerung, die Grenzen des innovativen Freiheitsraums werden erst nachträglich im Zivilprozess definiert, oft wenn sie bereits überschritten sind. Die Finanzkrise ist hierfür ein treffliches Beispiel. Die kontinentale Tradition der Typisierung verkehrsfähiger Finanzprodukte wurde unter dem Druck der neoliberalen angelsächsischen Finanzmarktkonzeption weithin aufgegeben und praktisch jedes Produkt in den Markt gelassen, um dann in Schadensersatzprozessen die unterlassene Warnung vor dem Kauf zu sanktionieren.22 Die Folge eines solchen Systems sind Massenverfahren und Kollektivklagen, die das Gesicht des Zivilprozesses im Sinne einer Kolchosierung der Parteien verändern können, falls man nicht gegensteuert. bb) US-amerikanische Class Action und Parteiautonomie Die US-amerikanische Rechtskultur löst die Problematik bekanntlich mit der Class Action.23 Ein Lead Plaintiff, der vom Gericht in seiner Funktion bestätigt werden muss, führt den Prozess mit Wirkung für alle Class Members auf Risiko der klägerischen Law Firm, die nur im Falle ihres Sieges eine Honorierung beanspruchen 21 Zu dieser Analyse bereits Stürner, Die Qualität der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft und der Zivilprozess, International Journal of Procedural Law Vol. I/2011/01,50 ff., 60, 62 ff. 22 Dazu kritisch bereits Stürner, in: Starck (Hg.), Recht und Willkür, 2012; ders., AcP 210 (2010), 105 ff., 134 ff., 153 ff. 23 Näheres hierzu Hazard/Leubsdorf/Bassett, Civil Procedure, 6. Aufl. 2011, § 7.19 ff., S. 309 ff.; zum Folgenden schon Stürner, The Role of Judges and Laywers in Collective Actions. Equality Among Parties. Conflicts of Interest, in: Eduardo Orteiza (Herausg.), Procesos Colectivos. Class Actions, 2012, S. 67 – 89.
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kann. Die übrigen Parteien sind durch die Prozesshandlungen des Lead Plaintiff gebunden, falls sie nicht nach Bekanntmachung rechtzeitig aus der Class austreten (opt out-Modell). Praktisch alle Verfahren enden durch Vergleich, weil die Verteilung der zugesprochenen Summe den Nachweis individueller Kausalität zu einer bestimmten Teilschadenssumme verlangen würde, der praktisch kaum zu erbringen ist. Der Vergleich sieht notwendigerweise eine Verteilung nach sehr pauschalen Regeln vor, was natürlich zu Interessenkonflikten führt. Der Vergleich liegt auch meist im Kosteninteresse der Law Firm des Lead Plaintiff, sodass weitere Interessenkonflikte entstehen. Deshalb muss der Richter den Vergleich prüfen und bestätigen, soll er wirksam sein. Dabei hat er ein sehr weites Ermessen, wobei die US-amerikanische Prozessrechtslehre an der Fiktion festhält, dass der Richter den Vergleich nicht inhaltlich beeinflussen, sondern ihn nur bestätigen oder ablehnen dürfe.24 Natürlich kann und muss er aber die Vergleichsbildung durch die Andeutung möglicher Ablehnungsgründe mitgestalten, soll es nicht zu einem völlig unpraktischen Trial-and-Error-Verfahren für die Parteien kommen. Was lehrt die US-amerikanische Entwicklung?25 Der übertriebene Neoliberalismus, der dem Markt die Gestaltung verkehrsfähiger Güter vollkommen überlässt, führt gleichzeitig zum Verlust prozessualer Freiheit bei der Rechtsverteidigung für die Gegenseite. Gesetzgeberisch nicht gestaltete Freiheit zerstört die Freiheit anderer mehr oder weniger unwiederbringlich bis hin zur prozessualen Entrechtung. Diese Tendenz verdient keine Förderung durch weiteren Rückbau präventiver Regulierung, die durchaus geeignet erscheint, den Prozessanfall zu vermindern, um so trotzdem Geschädigten ein volles Verfahren mit allen Rechten eigener Disposition zu lassen. Hinzu kommt, dass Massenklagen auf Schadensersatz die ihnen zugeschriebene Steuerungsfunktion oft nicht zu entfalten scheinen: die globale Finanzkrise mit ihren verantwortungslosen Manipulationen nahm ihren Ausgang in den USA, der Rechtskultur der Class Action. cc) Verhaltene europäische Reaktion Anders als die USA waren die europäischen Rechtskulturen bei Eingriffen in die Parteidisposition zur Bewältigung von Massenklagen bisher wesentlich zurückhaltender als die USA.26 Die weit verbreitete Unterlassungsklage von qualifizierten Verbänden entfaltet grundsätzlich nur Wirkung zugunsten späterer Individualkläger, jedoch keine negative Präklusionswirkung. Kollektive Schadensersatzklagen sind überwiegend die Sache qualifizierter Verbände, die sich vor dem Verfahren um das Einverständnis der Geschädigten in die Rechtsverfolgung bemühen müssen. Auf diese Weise bleibt die individuelle Autonomie weithin gewahrt. Das englische 24
So etwa Friedenthal/Kane /Miller, Civil Procedure, 4. Aufl. 2005, S. 791. Zu dieser Kritik ausführlicher Stürner, International Journal of Procedural Law Vol. I/ 2011/ 01, S. 50 ff., 60 ff. 26 Wegen Einzelheiten kann auf den Überblick im Generalbericht für den Weltkongress in Buenos Aires 2012 verwiesen werden: Stürner, in: Orteiza, Procesos Colectivos (Fn. 23), S. 67 ff., 74 ff. 25
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Gruppenverfahren, dem das deutsche Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz nachgebildet ist, erfasst mit seinen Wirkungen nur aktiv teilnehmende Kläger, geht also mit der Parteiautonomie wesentlich pfleglicher um als die Class Action, obgleich der Verfahrensablauf gewisse Einschränkungen mit sich bringt, die einen gleitenden Übergang zur Class Action anzeigen könnten. Die Zurückhaltung der Europäer hat tief sitzende rechtskulturelle Gründe. Ihre Tradition setzt stärker auf Prävention zum Schutz der Individualfreiheit vor Übergriffen als auf die nachträgliche Sanktion, die deshalb weniger Gewicht hat. Dabei vertraut die Gesellschaft stärker auf den Gesetzgeber als etwa der US-Bürger auf seinen Gesetzgeber, der es z. B. nach Jahrzehnten nicht fertig gebracht hat, Asbestschäden einer endgültigen vernünftigen Lösung zuzuführen.27 Hier zeigt sich das unterschiedliche Verhältnis der Rechtskulturen zur Solidarität durch gesetzgeberische Prävention, die neben die Eigenverantwortlichkeit später nachfolgender Rechtsdurchsetzung tritt. Die Dominanz des Denkens in Marktfreiheiten, wie es den Unionsverträgen zugrundeliegt und folgerichtig die Aktivitäten der Kommission prägt, könnte allerdings auf Dauer zu einer immer weiteren Rückdrängung von Elementen präventiv gestalteter Freiheit führen, was die Bedeutung kollektiver Schadensersatzklagen trotz ihrer bedenklichen Folgen für die individuelle Autonomie und trotz ihrer fragwürdigen Effizienz erhöhen müsste. Es ist deshalb kein Zufall, dass gerade die Europäische Kommission immer wieder Anläufe zur Einführung kollektiver Massenklagen unternimmt, ohne jedoch bisher erfolgreich gewesen zu sein.28 Zu groß ist die nicht unberechtigte Furcht vor einem damit verbundenen rechtskulturellen Wandel und einer damit einhergehenden Veränderung des Freiheitsverständnisses. b) Verschärfung prozessualer Aufklärungspflichten aa) Der Liberalismus der ZPO von 1879 Vor allem die deutsche ZPO in ihrer Urfassung von 1879 verwirklichte im Bereich prozessualer Mitwirkungspflichten den Liberalismus des 19. Jahrhunderts in einer sehr eigenartigen und etwas rigiden Form.29 Die Grundidee war, dass sich jede Partei ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel selbst zu beschaffen habe, der Gegner müsse nur insoweit mitwirken, als ihn schon außerhalb eines Prozesses entsprechende Informationspflichten träfen. Die Folgen waren vor allem die strenge Subsidiarität der Parteivernehmung bei Fehlen einer kodifizierten prozessualen Wahrheitspflicht und 27 Symptomatisch die insoweit wenig hilfreichen Entscheidungen des Supreme Court Ortiz v. Fireboard Corp., 527 US 815 (1999); Amchem Products Inc. v. Windsor, 117 s. Ct. 2231 (1997); dazu Mullenix, ZZPInt 5 (2000), 337 ff. 28 Ausführlich zur geplanten „private law enforcement“ bei Wettbewerbsklagen der Band Basedow, Private Law Enforcement of EU Competition Law, 2007; daselbst kritisch insbesondere gegen Paulis (S. 7 ff.) die Ausführungen von Stürner (S. 163 ff.). 29 Zum Folgenden ausführlicher Stürner, Die Informationsbeschaffung im Zivilprozess, Festgabe für Max Vollkommer, 2006, S.201 ff. m.w.N.; ders., Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976.
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das grundsätzliche Fehlen eigenständiger prozessualer Editionspflichten. „Nemo tenetur se accusare“ und „Nemo tenetur edere contra se“. Gewisse Ungereimtheiten zeigte dieses Modell prozessualer Selbsthilfe von Anfang an. So mussten Dritte zwar wie die Parteien Urkunden und Augenscheinsgegenstände nur vorlegen, wenn außerprozessuale materiellrechtliche Vorlagepflichten bestanden. Sie waren aber andererseits zur Zeugenaussage unter Eid erzwingbar verpflichtet und mussten damit zur Wahrheitsfindung in einem fremden Rechtsstreit mehr beitragen als die Parteien selbst. bb) Der angloamerikanische Antipode Dieses Modell des frühen deutschen Liberalismus stand in scharfem Gegensatz zum angloamerikanischen Verfahren, wie es sich endgültig im 19. Jahrhundert in England und den USA etabliert hatte,30 also Rechtskulturen, denen man im Vergleich zu Deutschland schwerlich ein Defizit an Liberalität vorhalten konnte. In diesen Verfahren waren im Rahmen der pretrial discovery beide Parteien verpflichtet, sich grundsätzlich alle unter ihrer Kontrolle befindlichen Beweismittel wechselseitig zugänglich zu machen, so dass beide Parteien sie im trial auch benutzen oder bekämpfen konnten.31 Der Unterschied zwischen der englischen und US-amerikanischen Prozesskultur bestand in der Folgezeit vor allem darin, dass der englische Prozess an die Substantiierung von Behauptungen als Voraussetzung für den Beginn des Wahrheitsfindungsprozesses wesentlich höhere Anforderungen stellte, um missbräuchliche „fishing expeditions“ zu verhindern,32 die der US-amerikanische Prozess in der Folgezeit immer großzügiger zuließ.33 cc) Das Missverständnis des deutschen prozessualen Liberalismus Was war der Grund für die restriktive Haltung des deutschen Liberalismus gerade in diesem Punkte? Es war letztlich die Furcht vor dem dominanten Richter, wie ihn vor allem der friederizianische Prozess Preußens mit seiner Inquisitionsmaxime vorübergehend geschaffen hatte. Man wollte durch die Minimierung von Mitwirkungspflichten der Parteien richterliche Übergriffe auf die Parteiautonomie bei der Tatsachenbeschaffung von vorneherein ausschließen. Nachdem aber der Prozess der ZPO eindeutig den Tatsachenvortrag ausschließlich den Parteien anvertraute und dem 30
Dazu Millar, Civil Procedure of the Trial Courts in Historical Perspective, 1951, S. 43 ff., 52 ff. 31 Zum heutigen Stand der pretrial discovery beispielsweise Andrews, English Civil Procedure, Rn. 26.01 ff.; Hazard/Leubsdorf/Bassett, Civil Procedure, S. 334 ff., 389 ff. 32 Dazu unter altem Recht z. B. Goldschmidt v. Constable (1937) All E.R. 293/294; Barham v. Huntingfield (1911 to 1913) All E.R. 663, 665; Rofe v. Kervokan (1936) 2 All E.R. 1334, 1337/1338; zum wohl etwas zurückhaltenderen neuen Recht Andrews, English Civil Procedure, Rn. 10.37; ders., The Modern Civil Process, 2008, S. 107 m.w.N. 33 Berühmt Hickman v. Taylor, 329 US 495 507 (1947); restriktiver aber nunmehr wieder Bell Atlantic Corporation v. Twombly 550 US 544(2007); Ashcroft v. Iqbal 129 S.Ct. 1937 (2009); sehr kritisch Miller, 60 Duke Law Journal 1 ff. (2010).
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Richter die Einbringung neuer Tatsachen gerade nicht erlaubte, war diese Furcht im deutschen Prozess letztlich so unbegründet wie im englischen Verfahren. Vielmehr gebot es wie in England die Fairness des Verfahrens und die Waffengleichheit, beiden Parteien alle vorhandenen Mittel der Wahrheitserforschung gleichermaßen an die Hand zu geben, gerade weil der Tatsachenvortrag und der Beweisantritt in ihrer Verantwortung lagen.34 Eigenverantwortung kann ohne das hierfür notwendige Instrumentarium sinnvoll nicht wahrgenommen werden. Es ist deshalb gerade der Beibringungsgrundsatz als Ausfluss der Parteiautonomie, der Aufklärungspflichten der Parteien verlangt. Dem Missbrauch muss durch das Gebot ausreichender Substantiierung und spezielle Weigerungsrechte gewehrt werden. Es ist jedoch nicht sinnvoll, aus Angst vor dem Missbrauch eines richtigen Grundprinzips das Prinzip selbst zu verwerfen. Gerade diesem Missverständnis ist aber der deutsche Liberalismus des 19. Jahrhunderts erlegen. dd) Der langsame deutsche Weg in die prozessuale Moderne Es hat sehr lange gebraucht, bis der deutsche Prozess sich von diesem historischen Irrtum löste.35 Während zum Beispiel der französische Nouveau Code de Procédure Civile schon 1976 eine allgemeine prozessuale Mitwirkungspflicht der Parteien festschrieb und sie in vielen weiteren Vorschriften näher konkretisierte,36 vollzog Deutschland diesen Schritt erst runde 25 Jahre später in reichlich missglückter Form.37 Auch die meisten anderen Prozessordnungen Kontinentaleuropas waren hier Deutschland weit voraus. Der EuGH stellte demgegenüber schon im Jahre 1993 fest: „… le droit communautaire n’impose pas le respect du droit de ne pas témoigner contre soimême dans une procédure civile“.
Japan hat sich – ursprünglich und bemerkenswerterweise auch noch nach dem zweiten Weltkrieg beeinflusst von der deutschen Zurückhaltung – endgültig erst mit der Reform 1996/1998 dem allgemeinen Trend angeschlossen.38 ee) Schutz der Freiheitssphäre des Gegners Man wird bei der weiteren Entwicklung allerdings darauf zu achten haben, dass die grundsätzliche Parteiautonomie bei der Sachaufklärung zwar die wechselseitige 34
Zum Ganzen ausführlich Stürner, op. cit. (Fn. 29). Dazu insbesondere Schlosser, Die lange deutsche Reise in die prozessuale Moderne, JZ 1991, 599 ff. 36 Insbesondere Art. 11 n.c.p.c.; ausführlich Adloff, Vorlagepflichten und Beweisvereitelung im deutschen und französischen Zivilprozess, 2007. 37 Zur insoweit völlig berechtigten Kritik an der Neuregelung Leipold, FS Gerhard, 2004, S. 563 ff.; Stadler, FS Beys, Bd. 2, 2003, S. 1625 ff. 38 Dazu Yoshida, ZZPInt 12 (2007), 305 ff. 35
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Aufklärungspflicht der jeweils nicht beweisbelasteten Parteien erfordert, die Schwelle ausreichender Substantiierung aber nicht wie teilweise in den USA zu tief gelegt wird und ein ausreichender Schutz der persönlichen und geschäftlichen Geheimsphäre gewahrt bleibt. Ausgewogene Liberalität verlangt nicht nur ausreichendes Instrumentarium für parteiautonome prozessuale Sachaufklärung, sondern auch die Respektierung einer verbleibenden prozessfreien Sphäre der Parteien. Es steht zu hoffen, dass die Entwicklung in den USA dauerhaft zu einem ausreichenden Substantiierungserfordernis führen wird und auch die Elektronisierung der discovery39 nicht in unverhältnismäßige Ausforschung umschlägt. ff) Grundtendenzen weltweiter Entwicklung Die Principles of Transnational Civil Procedure gehen bei ausreichender Substantiierung und Spezifizierung von umfassenden Mitwirkungspflichten aus (Principles 11.3 und 16.1 und 2), sehen aber auch Maßnahmen zum Schutz der Geheimsphäre vor (Principles 16.5 und 18.1 – 3) und geben damit in gewissem Sinne die gegenwärtige communis opinio der prozessualen Zivilisation wieder.
IV. Richterliche Rolle und Liberalismus 1. Gegen Thesen vereinfachender Zusammenhänge Wie schon erwähnt kommt der Rollenverteilung zwischen Parteien und Richter eine ganz wesentliche Bedeutung bei der Charakterisierung eines Verfahrens als Spiegelung demokratischer Grundverfassung einer Gesellschaft zu. Es ist auch bereits ausgeführt, dass die Gleichsetzung richterlicher Passivität mit dem freiheitlichen Prozess einer demokratischen Gesellschaft ebenso wie die Gleichsetzung richterlicher Aktivität mit illiberaler gesellschaftlicher Hierarchisierung einer gründlicheren Analyse nicht standhält. Sicher gibt es einen Zusammenhang zwischen der richterlichen Rolle im Prozess und der Grundverfassung einer Gesellschaft, in der die Prozessbeteiligten leben und ihre Sozialisation erfahren haben. Das denkbare Extrem des staatlichen Dirigismus gegenüber dem Bürger mag sich in der Prozessordnung und dem richterlichen Stil menschlichen Umgangs des Richters mit dem Bürger wiederfinden, die liberale Prägung der Gesellschaft in der Stellung, die eine Prozessordnung den Bürgern als Parteien zuweist, und in einer Atmosphäre gedanklichen Austausches. Die Geschichte lehrt jedoch auch, wie sich totalitärer Ungeist hinter der Maske verfahrensmäßiger Korrektheit verbergen kann und wie dieselbe Form der Aktivität völlig unterschiedlichen Zwecken dienstbar gemacht werden kann. Aus all diesen Gründen bedürfen die unterschiedlichen Formen richterlicher Verfah-
39 Dazu Hazard/Leubsdorf/Bassett, Civil Procedure, § 8.19, S. 363 ff. mit allerdings wenig hoffnungsvollen Ausführungen.
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rensaktivität verfeinerter Analyse, ehe man die Bestimmung ihres Verhältnisses zur Liberalität wagt. 2. Formelle Prozessleitung und Liberalismus a) Entwicklung zur gerichtlichen Prozessleitung Dem Leitbild liberaler Ideenwelt würde es entsprechen, dass das Gericht möglichst wenig in den Verfahrensablauf eingreift und die Gestaltung des Verfahrensgangs weithin der Parteiaktivität überlässt: Zustellung der Klage und der Schriftsätze durch die Parteien, Terminbestimmung nach Wahl der Parteien, Fortgang des Verfahrens auf Parteiantrag, Zustellung von Entscheidungen durch die interessierte Partei, Vernehmung von Beweispersonen durch die Parteien. Ein Blick in die Prozessgeschichte zeigt40, dass die alten Prozessrechte mit diesen Vorstellungen sehr Ernst machten und dass dann erst vor allem der gelehrte Prozess bei der amtswegigen Klagzustellung und der richterlichen Vernehmung einen gewichtigen Schritt hin zur gerichtlichen formellen Prozessleitung machte. Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts kehrte dann bei der Klagzustellung zum Parteibetrieb zurück, und von den romanischen Ländern sind insbesondere Frankreich und Italien bis heute bei dieser Lösung geblieben. In der Gegenwart41 überwiegt aber letztlich doch die Vorstellung von der gerichtlichen Verantwortung für den Verfahrensgang, wobei jedoch insbesondere Italien insoweit den Parteien noch die meisten Spielräume lassen dürfte – mit durchaus zweifelhaften Folgen für die Verfahrensdauer. b) Der Sonderfall der Vernehmung und ihrer Protokollierung aa) Die prozessuale Rechtsspaltung Eine prozessuale Rechtsspaltung besteht in Europa und weltweit in der Frage der Vernehmung von Zeugen und Parteien. Während sich in kontinentalen und kontinental beeinflussten Rechtskulturen die Tradition des Gelehrten Prozesses mit seiner gerichtlichen Vernehmung durchgesetzt und erhalten hat,42 führte die Vereinheitlichung des Verfahrens der Equity und Common Law Courts im 19. Jahrhundert für den Raum der angloamerikanischen Rechtskultur zur vollen Verdrängung der Vernehmung durch einen richterlichen Examinator, wie sie die Equity Courts in der Tradition des italienisch – kanonischen Prozesses durchaus noch gekannt hatten. Die Vernehmung und Präsentation der Aussageperson durch die Partei und damit die Tradition der Trial Courts des Common Law setzte sich voll durch, und zwar im Trial
40
V 2. 41
Dazu demnächst Stürner, Europäisches Zivilprozessrecht (im Erscheinen), 2013, § 2 A
Zusammenfassend nochmals Stürner (Fn. 40), § 2 A V 3. Hierzu z. B. Art. 213 ff. c.p.c. Frankreich; Art. 252 – 254, 257 c.p.c. Italien; §§ 396, 397 ZPO Deutschland; §§ 340, 341, 289 ZPO Österreich etc. 42
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und Pretrial.43 Hinzu kommt ein Weiteres. Während nämlich die Vernehmung durch die Parteien im angloamerikanischen Raum grundsätzlich im Wortlaut festgehalten wird, fasst bei der richterlichen Vernehmung typischerweise der Richter die Vernehmungsergebnisse in einem richterlichen Protokoll zusammen. bb) Die angloamerikanische Kritik und ihre Berechtigung In dieser Praxis richterlicher Vernehmung sehen die Angloamerikaner einen schweren Eingriff in die Parteiautonomie und kritisieren die inquisitorische Macht des kontinentalen Richters.44 Für sie liegt in dieser Gestaltung ein Akt illiberaler Entmündigung der Parteien, unvereinbar mit natural justice und due process of law. Auf den ersten Blick hat diese angloamerikanische Kritik, die ja in Japan nach dem zweiten Weltkrieg ein Stück Rechtsgeschichte geschrieben hat,45 manches für sich. Bei näherer Betrachtung beruht sie aber doch zumindest teilweise auf einem Missverständnis.46 Im angloamerikanischen Prozess präsentiert die Partei ihren gesamten Fall mit allen seinen Tatsachen durch den Zeugen. Die Vernehmung einer Aussageperson ist Fallpräsentation vor dem Gericht, die zwischen Tatsachenvortrag und Beweis nicht trennt, weil die entscheidenden Richter – Laienjuroren oder ein Berufsrichter – den Fall vor seiner Präsentation nicht oder doch nicht voll in seiner endgültigen Gestalt kennen. Es ist dann Sache der Gegenpartei, den präsentierten Fall im Cross Examination zu schwächen oder zu widerlegen. Diese Funktion einer Vernehmung prägt etwas die Beurteilungsbasis, wenn ein Angloamerikaner das kontinentale Verfahren kritisiert. Der Ausgangspunkt einer kontinentalen Vernehmung ist aber völlig verschieden. Die Parteien legen durch ihren Tatsachenvortrag das Thema der richterlichen Vernehmung fest und sind damit die Herren des Sachaufklärungsverfahrens, der Richter kann durch die Vernehmung grundsätzlich keine neuen Tatsachen einführen und damit einen anderen als den von den Parteien präsentierten Fall in das Verfahren bringen. In einigen Prozessrechten wie etwa dem deutschen Verfahren ist es dem Richter auch gar nicht gestattet seinerseits von Anfang an Fragen zur Sache zu stellen. Vielmehr muss er den Zeugen veranlassen, zunächst geschlossen und in eigenen Worten zu erzählen,47 was er zum durch den Parteivortrag determinierten Beweisthema weiß, das ihm mit der Ladung mitzuteilen ist. Erst anschließend darf der Richter Fragen stellen, und nach dem Richter die Parteianwälte und auch die Parteien selbst. Wenn manche Prozesskulturen des Kontinents dieses unmittelbare Fragerecht der Parteianwälte oder der Parteien ins Ermessen des Gerichts stellen oder sogar nur die Anregung weiterer Fragen durch das Gericht ohne 43
Hierzu beispielsweise Phipson, On Evidence, 17. Aufl. 2012, § 12.01 ff. Aufschlussreich Mattei/Ruskola/Gidi, Schlesinger’s Comparative Law, 7. Aufl. 2009, S. 780 ff. 45 Dazu Taniguchi, Japan’s Recent Civil Procedure Reform, in: Chase/Hershkoff, Civil Litigation in a Comparative Context, 2007, S. 35 ff., 37. 46 Dazu schon Stürner, ZZP 123 (2010), 147 ff., 157 f. 47 Vgl. § 396 ZPO Deutschland. 44
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unmittelbares Fragerecht zulassen, so erscheint die angloamerikanische Kritik allerdings voll gerechtfertigt, weil insoweit in der Tat ein illiberaler, etatistischer Ungeist durchbricht. Dies gilt auch für das Festhalten am richterlichen Protokoll und der Verweigerung wörtlicher Dokumentation einer Aussage, eine Problematik, die moderne Techniken eigentlich erledigt haben sollten. c) Die künftige internationale Entwicklung Bei Fragen der formellen Prozessleitung zeigt ein reiner liberaler Ansatz eine Schwäche aller liberalen Modelle, nämlich die Schwierigkeit einer Koordination mehrerer selbstständig agierender Beteiligter. Sie gestaltet sich nicht selten aufwendig und zeitraubend, wobei dann der Anlass den Aufwand häufig nicht lohnt. Dies ist der Grund, warum eine breite internationale Tendenz zur richterlichen formellen Prozessleitung besteht.48 Hingegen zeigt sich bei der Durchführung von Vernehmungen zwar eine Übereinstimmung darin, dass zumindest Parteivertreter Fragen stellen können müssen49, im Übrigen zeichnet sich aber bei der Frage nach der Verfahrensleitung keine für alle Prozesskulturen annehmbare gemeinsame Konzeption ab. 3. Materielle Prozessleitung a) Liberalismus und richterliche Neutralität Zwar gehen alle Prozesskulturen davon aus, der Richter müsse neutral sei. Offen bleibt dann aber doch die Frage, ob formelle oder materielle Neutralität erwünscht ist. Das liberale Prozessmodell scheint hier auf den ersten Blick einer formalen Neutralität zuzuneigen. Der Richter agiert als Schiedsrichter eines Wettstreites um Wahrheit und Recht zwischen Parteien, die beide aufgrund gleicher Waffen auch die abstrakte gleiche Chance zum Siege haben und deshalb keiner richterlichen Unterstützung bedürfen. Dieser gedankliche Ansatz, der stark dem ursprünglichen klassischen „adversarial system“ der angloamerikanischen Rechtskultur entspricht,50 ist allerdings bereits in sich nicht ganz stimmig, gerade wenn man die Rechtsfindung des liberalen Prozesses tatsächlich als eine Art Wettbewerb der Parteien um Wahrheit und Recht begreifen wollte. Effizienter Wettbewerb verlangt volle Information der Wettbewerber. Besteht ein Informationsdefizit oder gar ein Informationsgefälle, so setzt sich nicht das qualitativ bessere Produkt durch.51 Es spricht deshalb Vieles dafür, dass auch ein „adversarial system“ optimale Ergebnisse nur erreicht, wenn 48
Dazu Principles of Transnational Civil Procedure, Principles 5.3, 7, 10.2, 12.5, 14. Principle 16.4. 50 Hierzu Andrews, English Civil Procedure, Rn. 2.13.; Hazard/Leubsdorf/Bassett, Civil Procedure, § 1.2 f., S. 4 ff. 51 Zu diesem im Wirtschaftsleben idealisierenden Ausgangspunkt der Wettbewerbstheorien Akerlof, The Market for „Lemons“, 84 QuArt. J. Econ. 488 ff. (1970); ausführlicher und teilw. krit. Stürner (Fn. 9), S. 90 ff. 49
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die Parteien über den Stand der richterlichen Meinungsbildung beide gleichermaßen informiert sind, um so auf gleicher Wissensbasis zu Verbesserungen und zur Aufklärung richterlicher Missverständnisse beitragen zu können. Hinzu kommt jedoch der Gesichtspunkt der Solidarität, der es verbietet, gerade bei der Rechtsverwirklichung die intellektuell oder wirtschaftlich schwächere Partei an ihren eigenen Defiziten ohne jeden Versuch einer Kompensation scheitern zu lassen. Dies kann niemals bedeuten, dass man Rechtsregeln ad hoc im Sinne eines „social engineering“ zugunsten einer sozial schwachen Partei zurechtrückt. Es muss der Gedanke der Solidarität aber dazu führen, dass ein Richter das von einer Partei klar erkennbar verfolgte Recht nicht sehenden Auges an ihren leicht behebbaren Informationsdefiziten scheitern lässt.52 b) Richterliche Motivation der Parteiaktivität Der Richter schuldet bei diesem materialen Verständnis seiner Neutralität zwar nicht eigene kompensatorisches Aktivität, aber doch den Hinweis an eine säumige Partei auf ihre der Rechtsordnung entsprechenden Möglichkeiten zur eigenen Rechtsverwirklichung. Liberalismus entartet, wenn er das Stolpernlassen des andern Teils mit Erwägungen optimierender Resourcenallokation zu rechtfertigen versucht. Kontinentale Prozesskulturen kennen deshalb eine Hinweisbefugnis des Richters an die fehlsam agierende oder säumige Partei, ihren Tatsachenvortrag oder ihre Beweisangebote zu ergänzen oder zu verbessern.53 Im deutschen Prozess ist dies sogar richterliche Pflicht. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Pflicht zur eigenen Aufklärung, vielmehr soll der Richter Parteiaktivität durch seinen Hinweis motivieren. Sehr schön formuliert der französische Code de Procédure Civile: „Le juge peut inviter les parties …“54 Richterliche Hinweisbefugnisse oder Hinweispflichten lassen den Parteien ihre eigene Verantwortung und Autonomie, weil sie die Parteiaktivität gerade nicht ersetzen, sondern zu optimieren versuchen. Die Tendenz des reformierten englischen Prozesses, dem Richter „die Befugnis zu gewähren,“… „to order to clarify any matter which is in dispute … or to give additional information to any such matter …“55 öffnet sich dieser Erkenntnis und nimmt in gewisser Weise Abschied von einem unbedingten Prozessliberalismus. Wo kontinentale Prozessordnungen eine amtswegige Beweisaufnahme zulassen,56 darf sie immer nur Tatsachen gelten, welche die Parteien beigebracht haben; ein Hinweis an die Partei müsste praktisch stets zum gleichen Ergebnis führen, so dass letztlich nur ein ökonomischer Abkürzungseffekt gegeben ist und kein gewichtiger richterlicher Eingriff in die Autonomie der 52 Zur Problematik und den Grenzen dieses Grundsatzes Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozess, 1982, Rn. 19 ff., S. 23 ff. 53 Vgl. Art. 8 c.p.c. Frankreich; Art. 183 Abs. 4 c.p.c. Italien; Art. 414 ff., 426 LEC Spanien; Part 1 (4) (2) (b), Part 18 CPR England; § 139 ZPO Deutschland. 54 Art. 8 c.p.c. 55 Part 18 CPR; hierzu Andrews ZZPInt 4 (1999), 3 ff., 13. 56 Art. 10, 143, 146 c.p.c. Frankreich; §§ 273 Abs. 2, 141 ff., 448 ZPO Deutschland; Art. 117, 118, 191, 213 etc. c.p.c. Italien; Art. 435 LEC Spanien.
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Partei. Es ist allerdings zuzugeben, dass man über die Berechtigung dieser richterlichen Befugnis geteilter Meinung sein kann, weil bei extensiver Praxis die Autonomie über das Beweisverfahren beeinträchtigt ist und damit der innere Kern des prozessualen Liberalismus angetastet ist. c) Der dialogische Zivilprozess und der Liberalismus Im deutschen Prozess hat sich aus dem Erfordernis des Hinweises der dialogische Prozess entwickelt, in dem der Richter die Parteien über seinen Meinungsstand zur Entscheidungslage informiert und dabei den weiteren Verfahrensgang mit den Parteien offen bespricht, um ihnen zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.57 Diese Form des diskursiven Verfahrens atmet stärker den Geist richterlicher Rechtsfindung mit selbstverantwortlichen, wohlinformierten Bürgern als der Schlagabtausch vor stummen Richtern, der oft ängstlich auf einer Basis der Spekulation über richterliche Absichten erfolgt. Das Modell hat zudem den Vorteil zügigen Verfahrensfortgangs. d) Der Trend zum dialogischen Prozess Die internationale Entwicklung neigt zur Aufgabe des klassischen adversarial system als Ausdrucksform freiheitlicher Prozesskultur. Die Principles of Transnational Civil Procedure empfehlen offen richterliche Verantwortung und richterlichen Hinweis an die Parteien zur Schaffung einer zutreffenden Grundlage für die Entscheidung von Sach- und Rechtsfragen.58 Auch das American Law Institute hat diese Empfehlung zur Überraschung vieler Beobachter einstimmig akzeptiert.59
V. Mediation als liberales Phänomen? Abschließend sei noch kurz auf ein besonderes Phänomen der modernen Gegenwart eingegangen, die Verdrängung des Zivilprozesses als Instrument der Konfliktlösung durch die Mediation, wie sie besonders eindrucksvoll in den USA zu beobachten ist.60 Die Protagonisten der Mediationsbewegung pflegen der Mediation als freiheitliches und selbstbestimmtes Mittel der Konfliktbewältigung61 das richterliche Urteil oder sogar den am Recht orientierten gerichtlichen Vergleich als Instrumente 57 Dazu Stürner, International Journal of Procedural Law Vol. I/2011/01, 50 ff., 58 f.; ders., ZZP 123 (2010), 147 ff. 58 Ausführlich Principle 22. 59 Hierzu Stürner, RabelsZ 69 (2005), 201 ff., 203, 228 ff. 60 Vgl. hierzu und zur Kritik Resnik, Contracting Civil Procedure, in: Carrington/Jones, Law and Class in America, 2006, S. 60 ff.; Murray, ZZPInt 12 (2007), 283 ff. 61 Hierzu besonders pointiert Fisher/Ury, Getting to Yes: Negotiating Agreement without Giving in, 2. Aufl. 1991.
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autoritativer Konfliktbewältigung gegenüberzustellen. Damit wird Mediation als das einer liberalen Gesellschaft adäquatere Konfliktlösungsmittel charakterisiert. Für die deutsche Prozesskultur, die in ihrem dialogischen Zivilprozess während der letzten Jahrzehnte eine sehr weitreichende richterliche Vergleichskultur mit durchaus mediativen Zügen entwickelt hat,62 sind die Vorteile gütlicher Einigung nicht wirklich neu, woraus sich auch erklärt, dass der Bedarf an freier Mediation nicht so groß ist wie etwa in den USA oder England. Es entspricht aber auch deutscher Erfahrung, dass jede Vermittlung einer Einigung die Gefahr der Manipulation durch den erfolgsorientierten Vermittler in sich birgt, dem das „Getting to Yes“ wichtiger ist als der Inhalt. Während der richterlich vermittelte Vergleich wegen des im Verfahren geltenden „audiatur et altera pars“ auf der Basis gleichen Informationsstandes erfolgt, nimmt die Mediation häufig ein Informationsgefälle in Kauf, um die vermeintlichen Vorteile eines „Caucussing“ ausnutzen zu können.63 Vertragsgerechtigkeit setzt aber gerade gleiche Information zur Wahrung voller individueller Entscheidungsfreiheit voraus. Schon diese Schwachpunkte des Mediationsverfahrens sollten davon abhalten, die Mediation als überlegenes Instrument der Konfliktlösung in freiheitlichen Gesellschaften zu feiern, wie dies teilweise geschieht. Hinzu kommt aber ein recht grundsätzliches Bedenken. Der massenweise Einsatz der Mediation stört das Vertrauen auf die verlässliche Geltung von Vereinbarungen und Rechtsregeln überhaupt. Denn der rechtliche oder gesellschaftliche Zwang zur Mediation als erstes Mittel der Wahl setzt die sich auf ihre Rechte berufende Partei unter den Druck, Rabatte zu gewähren, und der konfliktfreudigere andere Teil nützt dies aus, selbst wenn es um vertragliche, von den Parteien vorher selbstbestimmt geschaffene Rechte und Pflichten geht. Das Recht verliert damit seine Bedeutung als selbstverständlich zu beachtende Lebensordnung, es wird zur Verhaltensregel des „last resort“, zu deren Gunsten man vorteilhaftere abweichende Verhaltensformen nur unterlässt, wenn sich die andere Seite als nicht einschüchterungsfähig und als gleich durchsetzungsfähig erweist. Auf diese Weise entsteht eine etwas rechtsferne Gesellschaft, die dann dem Recht dadurch Geltung zu erhalten versucht, das sie immer wieder durch harte Sanktionen Grenzen deutlich zu machen bestrebt scheint. Man kann diese Gesellschaft der Bereitschaft zur Gegenwehr und der Durchsetzungsfähigkeit als liberale Gesellschaft begreifen, und manche Züge moderner westlicher Gesellschaften und vor allem der US-amerikanischen Gesellschaft erinnern etwas an dieses Grundmuster. Es handelt sich dabei aber um einen Liberalismus, der zur Rücksichtslosigkeit ermuntert und es an rechtlich verfasster Solidarität zu sehr fehlen lässt. Eigentlich sollte er der Vergangenheit angehören.
62 Dazu Stürner, FS Walder, 1994, S. 273 ff.; M. Wolf, ZZP 89 (1976), 260 ff.; zur gerichtlichen Mediation von Bargen, Gerichtsinterne Mediation, 2008. 63 Dazu von Bargen (Fn. 62), S. 334 f.
II. Strafrecht – Allgemeiner Teil
Bestimmung und Zurechnung von Handlungen und Erfolgen Von Gerhard Seher Zwei Fragen haben die Dogmatik des Allgemeinen Strafrechts in den letzten Jahrzehnten intensiver beschäftigt als alle anderen Themen: Welche Elemente gehören zum Tatbestand einer Strafnorm? Und: Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob der Täter für einen durch seine Handlung herbeigeführten Erfolg strafrechtlich einzustehen hat? So verschieden diese beiden Fragen sind, werden sie doch in den meisten Darstellungen unter dem Etikett „objektive Zurechnung“ zusammengefasst. Unübersehbar ist inzwischen die Fülle an Publikationen zu dieser schwammigen Rechtsfigur, und doch haben es nur Wenige vermocht, substantiell zu ihrer Konturierung beizutragen. Zu ihnen gehört der verehrte Jubilar, der sich bereits recht früh mit zwei wegweisenden Monographien1 in die Debatte eingeschaltet hat und sie bis heute mit eigenständig systematisierenden Beiträgen2 begleitet. Trotzdem hat Wolfgang Frisch jüngst noch konstatiert, die Diskussion um die Zurechnung auf Tatbestandsebene sei weiterhin „im Fluss“.3 Daher lohnt es sich, über die beiden tatbestandsprägenden Elemente – die Handlung und den Taterfolg – und deren normativen Zuschnitt erneut nachzudenken. Zu den prägenden Thesen der von Frisch entwickelten Tatbestandstheorie gehört die scharfe Trennung zwischen der Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens und der Zurechnung des Taterfolgs4 – die eingangs nachzuzeichnen ist (I.). Aus ihrer Grundaussage, das tatbestandsmäßige Verhalten sei nach den Regeln zu ermitteln, die für die Bestimmung von Verhaltensnormen gelten, während der Taterfolg erst nach der Tat im Wege der Zurechnung an die Tathandlung angebunden werde, ergeben sich zwei Folgefragen, die anschließend in ergänzender Absicht besprochen werden:
1 Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, sowie ders., Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988. 2 Frisch, NStZ 1992, 1 – 7 und 62 – 67; ders., in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 135 – 210, insbes. S. 165 ff.; ders., FS Roxin, 2001, S. 213 – 237; ders., GA 2003, 719 – 743; ders., JuS 2011, 19 – 24, 116 – 123 und 205 – 211. 3 Frisch, JuS 2011, 205, 209. 4 s. etwa Frisch (Fn. 1, 1988), S. 33 ff.; ders., NStZ 1992, 1, 5.
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1. Ist es möglich oder sogar dogmatisch zwingend, die Verhaltensnorm ohne Bezug auf den Handlungserfolg zu formulieren – mit anderen Worten: Lässt sich der Taterfolg gar nicht verbieten? Oder muss er sogar bei der Formulierung der Verhaltensnorm mit einbezogen werden? Dazu einige Gedanken, auch in rechtshistorischer Perspektive, unter II. 2. Sind die normativen Vorgänge auf der Ebene des Straftatbestandes mit der Dichotomie von Verhaltensbestimmung und Erfolgszurechnung hinreichend beschrieben? So richtig es ist zu betonen, dass die verbotene Tathandlung als Verhaltensnorm ex ante umschrieben werden muss, und so zwingend es ist, eine konkret eingetretene Handlungsfolge durch einen Zurechnungsakt als Taterfolg festzusetzen: Muss nicht auch eine konkrete Handlung ex post – zurechnend? – als tatbestandserfüllendes Verhalten qualifiziert werden? Und bedarf nicht auch – umgekehrt – eine Handlungsfolge, die dem Handelnden als „Taterfolg“ strafbegründend oder strafschärfend zugerechnet wird, vor der Tat einer rechtsstaatlich hinreichenden Fixierung? Diese Überlegungen führen zu normtheoretischen Ergänzungsvorschlägen, die unter III. entfaltet werden.5
I. Handlungsbestimmung und Erfolgszurechnung 1. Die Elemente des objektiven Tatbestandes Der „klassische“ Straftatbestand setzt sich bekanntermaßen zusammen aus Taterfolg und Tathandlung sowie einer Verbindung zwischen beiden6, die früher allein durch die Kausalität im Sinne der Condicio-sine-qua-non-Formel hergestellt wurde, nach heute etablierter normativierender Überzeugung aber durch den Akt der objektiven Zurechnung vermittelt wird.7 Die Theorie der objektiven Zurechnung wurzelt in der philosophisch alten Erkenntnis, dass die Kausalität kein taugliches Kriterium zur Zuschreibung von Verantwortlichkeit für eine Handlungsfolge sein kann, weil sie als Kategorie der Erkenntnis über Geschehensabfolgen ohne naturalistischen Fehlschluss keine normativen Wertungen zu tragen vermag. Dogmengeschichtlich ist sie zu verstehen als Quintessenz der vergeblichen Versuche, das Problem einer adäquaten Eingrenzung tatbestandlicher Verhaltens- und Zurechnungsnormen über differenzierende Kausalitätsbegriffe in den Griff zu bekommen (sog. 5 Die Gedanken dieses Beitrages sind verbunden mit den besten Wünschen für meinen verehrten Kollegen Wolfgang Frisch, mit dem mich nicht nur manche erhellende wissenschaftliche Diskussion verbindet, sondern darüber hinaus die dankbare Erinnerung an das akademische Jahr 2010/11, in dem ich die Ehre hatte, ihn in der Lehre an seinem Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtstheorie in Freiburg vertreten zu dürfen. 6 Sonderdelikte seien dabei ebenso ignoriert wie die zusätzlichen Erfordernisse von Vorsatz oder Fahrlässigkeit. 7 s. statt aller Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 44 ff.; Kühl, Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2012, § 4 Rn. 4, 36 ff.
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Adäquanztheorien).8 Nach der in der Lehrbuchliteratur mittlerweile durchgängig verankerten „Grundformel“ ist eine Handlungsfolge als tatbestandlicher Erfolg zurechenbar, wenn der Täter eine rechtlich relevante/missbilligte Gefahr geschaffen hatte, die sich in eben dieser Folge realisiert hat.9 Obwohl diese Grundformel offensichtlich zwei verschiedene Vorgänge beinhaltet – die Urteile über Gefahrschaffung und Gefahrrealisierung –, gilt die objektive Zurechnung beinahe flächendeckend allein als Instrument zur Anbindung des Taterfolgs an die Handlung bzw. den Handelnden.10 Dabei wird zumeist suggeriert, ein bereits als „Taterfolg“ feststehendes Ereignis – z. B. der kausal vom Handelnden herbeigeführte Tod des Opfers – werde nur noch mit der Handlung verbunden. Es ist aber erst der Zurechnungsakt, der ein durch die verbotene Handlung bewirktes Ereignis zum „Taterfolg“ macht.11 Man mag darin lediglich eine Unsauberkeit in der Darstellung des Zurechnungsaktes sehen – es fällt jedoch auf, dass hinsichtlich der Tathandlung oft ähnlich verfahren wird: Sie wird als bereits feststehend behandelt und fungiert einzig als Anknüpfungspunkt für das erfolgszurechnende Urteil. In allen Lehrbüchern finden sich die üblichen Ausführungen zu einem allgemeinen und vortatbestandlichen Handlungsbegriff, die die tradierten drei Varianten – die kausale, die finalistische und die soziale – referieren. Es schließen sich die Erörterungen zu Kausalität und objektiver Erfolgszurechnung an – und damit wird suggeriert, mit den Darlegungen, was überhaupt im Strafrecht als „Handlung“ gelten könne, sei alles zum tatbestandserfüllenden Verhalten gesagt. Nur selten wird den Voraussetzungen, unter denen ein beliebiges Tun als Tathandlung qualifiziert werden kann, eigenständige Aufmerksamkeit geschenkt.12 Frisch hat den Finger in die Wunde dieser eklatanten Lücke in der Dogmatik des Straftatbestandes gelegt und konfrontiert diese unzulängliche Konturierung der tat8 Hierher gehören exemplarisch von Bar, Die Lehre vom Kausalzusammenhang im Recht, besonders im Strafrecht, 1871; Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1929; und Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931. 9 s. nur Jescheck/Weigend, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 1996, S. 287; Kühl (Fn. 7), § 4 Rn. 43; Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 42. Aufl. 2012, Rn. 179. 10 Dies gilt für die große Mehrzahl der Lehrbücher zum Allgemeinen Teil: Rengier, Strafrecht, AT, 4. Aufl. 2012, § 13 Rn. 38, 46; Wessels/Beulke (Fn. 9), Rn. 176, 178; Krey/ Esser, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2012, Rn. 326; Heinrich, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2012, Rn. 243; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2011, § 8 Rn. 15, 34; Jescheck/Weigend (Fn. 9), S. 286 f.; Hoffmann-Holland, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2011, S. 46 f.; Ebert, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2001, S. 45, 48; aus der Kommentarliteratur u. a. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, 28. Aufl. 2010, Vorbem. § 13 ff. Rn. 92. 11 Diesen Fehler kritisiert Frisch, GA 2003, 719, 736 prägnant: Eine „Folge, die die bloße Konsequenz rechtlich unverbotenen […] Verhaltens“ sei, stelle „auch keinen Unrechtserfolg“ dar (Hervorhebungen von mir). 12 Ausnahmen bilden die differenzierenden Darstellungen bei Kühl (Fn. 7), § 4 Rn. 40, 43; Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 46 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 9), Rn. 177; Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 21, 35; Kindhäuser, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, § 11 Rn. 1.
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bestandlichen Ausführungshandlung mit der Erkenntnis, dass das Verhalten, das als tatbestandserfüllend gelten soll, an den Maßstäben einer Verhaltensnorm gemessen werden – und auf diese normative Weise eine einschränkende Qualifikation erfahren muss, die die allgemeinen Handlungsbegriffe nicht leisten können, weil sie gar nicht dafür entworfen wurden. 2. Zur Tatbestandsdogmatik von Wolfgang Frisch Das lenkt den Blick auf die Frage, wie eigentlich die beiden Kernbausteine des Straftatbestandes – Handlung und Erfolg – dogmatisch zu fundieren sind, in welcher Beziehung sie zueinander stehen und welche Rolle die Zurechnung dabei spielt. Hierzu hat sich Frisch ausführlich – und in exponierter Distanz zur Hauptströmung der Zurechnungstheoretiker – geäußert und dabei Erkenntnisse der Normentheorie fruchtbar mit einbezogen. Er differenziert zwischen den Straftatbeständen als Sanktionsnormen, die an ein bestimmtes Verhalten die Androhung der strafenden Rechtsfolge knüpfen13, und den Verhaltensnormen, die dem Bürger Ver- und Gebote auferlegen und deren Verletzung die Voraussetzung für die Anwendbarkeit der entsprechenden Sanktionsnorm darstellt.14 Aus der normtheoretischen Analyse der grundlegenden Dichotomie zwischen Verhaltens- und Entscheidungsnormen15 ergibt sich vor allem ihre unterschiedliche Perspektive: Verhaltensnormen intendieren die Steuerung künftigen Verhaltens und müssen daher aus ex-ante-Sicht formuliert und legitimiert werden; Sanktionsnormen organisieren dagegen die Reaktion auf vergangenes Verhalten und nehmen daher einen Standpunkt ex post ein.16 Da nun Zurechnung – bei aller erstaunlichen Unklarheit darüber, was „zurechnen“ genau bedeutet17 – jedenfalls einen Akt bezeichnet, der etwas bereits Gegebenes (ein Ereignis, ein Verhalten oder eine subjektive Haltung) zum Gegenstand hat, kann sie erst nach der Tat, also im Anwendungsbereich der Entscheidungsnormen, stattfinden – zu einem Zeitpunkt also, an dem die Verhaltensnorm für den konkreten Fall irrelevant geworden ist, weil sie versagt hat. 13 Der objektive Tatbestand sei eine „typische Prüfkategorie des Rechtsanwenders“ (Frisch [Fn. 1, 1983], S. 60). Dies nimmt die Erkenntnis der Normentheorie auf, dass Adressat der Sanktionsnorm allein der Rechtsanwender ist, der die Voraussetzungen festzustellen hat, unter denen er verpflichtet ist, die angeordnete Sanktion zu verhängen und durchzusetzen. Daher beinhalte die Sanktionsnorm Fragen, die sich allein der Rechtsanwender zu stellen habe, nicht aber der Täter im Zeitpunkt seiner Handlung (Frisch [Fn. 1, 1983], S. 62). Dazu gehören nach Frisch der gesetzlich verlangte Erfolgseintritt sowie der Kausal- und Zurechnungsverlauf, durch den der Erfolg mit dem tatbestandsmäßigen Verhalten verbunden wird. 14 Vgl. Frisch (Fn. 1, 1983), S. 59 f. 15 s. dazu Hruschka, Rechtstheorie 22 (1991), 451 ff.; Renzikowski, FS Gössel, 2002, S. 19; ders., ARSP 87 (2001), 122; ders., ARSP Beiheft (2005), 116 ff. 16 s. Frisch (Fn. 1, 1988), S. 71 f., 519; ders., GA 2003, 719, 734 Fn. 73. 17 Dazu ausführlich Seher, Die Idee der Zurechnung und ihre Bedeutung in der Dogmatik des Straftatbestandes, Typoskript, Jena 2007 (Druckfassung erscheint voraussichtlich 2013).
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Konsequent konstatiert Frisch, es sei noch keine Zurechnungsfrage, welche Verhaltensweisen rechtlich missbilligt und deshalb verboten werden; dies sei vielmehr nach den Grundsätzen über „Reichweite und […] Grenzen rechtlich anerkannter Freiheit“, der „Wertigkeit von Freiheiten und Gütern“ und nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen zu bestimmen. Die Frage nach diesen Grundsätzen gehe den Zurechnungskriterien – speziell der „Steuerbarkeit eines Verhaltens oder der Vermeidbarkeit bestimmter Folgen durch rechtmäßiges Verhalten“ – „gedanklich voraus“.18 Dass die den Tatbeständen zugrunde liegenden Verhaltensnormen unabhängig von jeder Zurechnung relevant sein können, zeige sich, wenn der Täter noch gar nicht gehandelt hat19 oder weil eine Erfolgszurechnung mangels Erfolgseintritts nicht zum Zuge kommt: beim Versuch20. Im Gegensatz zur verhaltensnormwidrigen Handlung gehöre der Taterfolg (genauer: die Handlungsfolge, die Gegenstand des Zurechnungsaktes ist und im Falle der Zurechnung „Taterfolg“ genannt werden kann) in den Bereich der Sanktionsnorm, werde also nicht von dem Befehl der Verhaltensnorm umfasst. Letztere erschöpft sich also nach Frisch in dem Verbot rechtlich missbilligten Verhaltens.21 Das bedeutet, dass der Taterfolg als solcher nicht verboten, sondern lediglich als funktionale Bestrafungsvoraussetzung relevant ist22 – sofern er sich nach bestimmten Kriterien mit der ausgeführten rechtlich missbilligten Handlung verbinden lässt. Diese Verbindung werde durch Zurechnung geleistet. Frisch gelangt auf diese Weise zu einem gegenüber der verbreiteten Dogmatik entscheidend eingeschränkten Zurechnungsbegriff: Allein die normative Anbindung der Handlungsfolge an die Handlung wird als Zurechnungsakt begriffen. Dieser sei zudem auf ein einziges Prinzip zu gründen, den Realisierungszusammenhang: Eine Handlungsfolge ist dem Täter dann als „Erfolg“ seines Verhaltens zuzurechnen, wenn sich in ihm „gerade jenes Risiko niedergeschlagen [hat], dessentwillen das Verhalten verboten ist“. In diesen Topos gehören Fragen der Grenzen des missbilligten Risikos (etwa aufgrund Realisierung bloß eines allgemeinen Lebensrisikos) und der Problemkreis des rechtmäßigen Alternativverhaltens.23
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Frisch, GA 2003, 734. – Dieses Konzept wurde bereits in „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs (Frisch [Fn. 1, 1988]) gründlich entfaltet. 19 Frisch, GA 2003, 734. Man denke insoweit an das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG), das vor jeder Tat eine hinreichend klare Formulierung des ver- bzw. gebotenen Verhaltens verlangt. 20 Frisch, GA 2003, 736. 21 s. Frisch (Fn. 1, 1988), S. 33 ff.; ders., GA 2003, 719, 733. 22 Er demonstriere die Gefährlichkeit der missbilligten Handlung, die ihn herbeigeführt hat, und erfordere als äußerlich überdeutlich wahrgenommene Störung des Rechtsfriedens in besonderer Weise die strafende Sanktion: Frisch (Fn. 1, 1988), S. 516 – 518. 23 Frisch (Fn. 1, 1988), S. 55 f.
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Für die Erfolgszurechnung muss also das rechtlich missbilligte Verhalten bereits als eigenständige und abgeschlossene „Handlung“ feststehen.24 Dies impliziert eine strikte Ausscheidung der Handlungsfolgen aus dem Handlungsbegriff – und damit die Ablehnung zweier anderer Handlungskonzepte: der finalistischen Idee, eine Handlung lasse sich überhaupt nur als auf Verwirklichung eines bestimmten Zwecks gerichtetes Verhalten begreifen und sei daher unter Einschluss des bezweckten Ziels zu beschreiben25, und solcher Zurechnungstheorien, die den Sinn der Zurechnung darin erblicken, ein Ereignis mit einem menschlichen Verhalten zu einer „Handlung“ zu verbinden. Zu letzteren zählt einerseits die Konzeption Roxins26, andererseits der von der naturrechtlichen Imputationslehre ausgehende Entwurf Hruschkas, in dem die Zurechnung eines Verhaltens als Handlung (naturrechtlich: imputatio facti) auch die faktischen Folgen des Tuns implizit mit einschließt27. Dieser schwache, da auf die Körperbewegung (oder deren Unterlassen) reduzierte Handlungsbegriff wirft Folgefragen auf, die sich in der Geschichte der Handlungsund Zurechnungstheorien als hartnäckige Konstanten erwiesen haben. Aus Sicht der von Frisch entfalteten Konzeption geht es einerseits um die Regeln, nach denen Folgen an eine bereits ausgeführte Handlung angebunden werden können; dafür stehen die Maßstäbe der Erfolgszurechnung zur Verfügung, die sich mittlerweile in dogmatisch recht gut abgesicherten Bahnen bewegen und deshalb nicht weiter vertieft werden sollen. Schon vor einer möglichen Zurechnung fragt es sich aber – andererseits –, welchen Bezug die Verhaltensnormen zu möglichen Handlungsfolgen haben, denn bei radikaler Ausblendung gefahrrealisierender Erfolge bilden die Verhaltensnormen nur noch abstrakte Gefährdungsverbote. Diesem in der Dogmengeschichte des Straftatbestandes bereits zum dritten Mal virulent gewordenen Problem ist nun nachzuspüren.
II. Lassen sich Erfolge verbieten? – Zum Zuschnitt von Verhaltensnormen Im Bereich der Zurechnungsdogmatik gehört die Trennung von Verhalten und Verhaltensfolgen zum gesicherten Kernbestand. Sie hat sich zu Recht durchgesetzt, nachdem alle starken Handlungsbegriffe, die jedenfalls die intendierten Folgen mit in die Handlung hineingenommen hatten, unüberwindbare Schwächen offenbart 24 Frisch (Fn. 1, 1988), S. 50 f., spricht in diesem Zusammenhang von einem „vorausgesetzten […] missbilligten Verhalten“. 25 Welzel, Das deutsche Strafrecht in seinen Grundzügen, 1947, S. 32; ders., Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 62. 26 s. z. B. Roxin (Fn. 7), § 10 Rn. 54 und § 10 Rn. 97: Er spricht von Zurechnung des Erfolges als Handlung, so dass mithin „die Tatbestandhandlung als Einheit innerer und äußerer Faktoren (einschließlich des Erfolges) das Objekt der dem Unrecht zugrundeliegenden Bestimmungs- und Bewertungsnorm“ ist. 27 Dieses Detail bleibt bei Hruschka unausgesprochen; zur Analyse seiner Konzeption einer Handlungszurechnung Seher (Fn. 17), 10. Kap., II. 1.
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haben.28 Zudem hat die Theorie einer objektiven Zurechnung den Finger in die Wunde all jener Kausalverläufe gelegt, in denen trotz gefahrschaffender Handlung und Eintritt des intendierten Erfolgs dessen Zurechnung normativ zweifelhaft wäre, z. B. weil er durch eine eigenverantwortliche Anschlusshandlung bewirkt wurde oder auch bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre. Die Struktur der Zurechnungsnormen besagt allerdings nichts darüber, wie das regulative Gerüst vor der Handlung beschaffen sein muss. Zwar gibt es enge Verbindungen zwischen Verhaltens- und Zurechnungsnormen29, aber aus der unterschiedlichen Regelungsrichtung ergibt sich eine prinzipielle Selbstständigkeit dieser beiden Normtypen. Es ist also eine von der Zurechnung unabhängig zu beantwortende Frage, welchen Bezug die Verhaltensnormen zu einem durch das Verhalten möglicherweise bewirkten Erfolg haben können bzw. müssen. Vor diesem Hintergrund ist Frischs These, die Verhaltensnorm erfasse nur das gefahrschaffende Verhalten, nicht aber die Herbeiführung gefahrrealisierender Erfolge, allein unter dem Aspekt zu betrachten, wie Verhaltensnormen in rechtsstaatlich angemessener und zugleich effizienter Weise formuliert werden sollten. Mit der Reduktion der Verhaltensnorm auf ein reines Gefährdungsverbot reiht sich Frisch in einen Argumentationsstrang ein, der in der Dogmengeschichte des Straftatbestandes mehrfach zutage getreten ist und letztlich in der intuitiv naheliegenden These wurzelt, das Recht könne allein Handlungen steuern, nicht aber die erst durch die Handlungen vermittelten Erfolge, denn der Normadressat habe ja selbst unmittelbar nur Einfluss auf sein Handeln, nicht aber auf den weiteren Geschehensverlauf. Frisch erschließt sich diese Überzeugung in seiner dem Vorsatz gewidmeten Monographie30, in der er betont, der Vorsatz könne sich nur auf Umstände beziehen, die während der Tatbegehung vorliegen – und das sind allein solche, die die Handlung und deren Einbettung in ihr situatives Umfeld betreffen. „Wissen“ könne der Täter nämlich nur, was schon gegenwärtig ist, und dazu gehörten im Handlungszeitpunkt weder der Taterfolg noch der zu ihm hinführende Kausalverlauf.31 28
Das gilt zunächst für den hegelianischen Handlungsbegriff, der über den Willen ein dialektisches Band zwischen Verhalten und Folge gewoben hatte – exemplarisch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 118 (ohne Hervorhebungen des Originals): „Die Handlung […] hat mannigfaltige Folgen. Die Folgen, als die Gestalt, die den Zweck der Handlung zur Seele hat, sind das Ihrige (das der Handlung Angehörige)“. Dem zwecksetzenden Willen des Handelnden wurde dabei die Kraft beigemessen, Handlung und bezweckte Folge zu einer begrifflichen Einheit zu verschmelzen. Dieser Willensbegriff zeigte jedoch für das Recht markante Schwächen im Fahrlässigkeitsbereich – wenn eine Handlung definiert ist als „Übereinstimmung von Wille und Tat“, kann es eine fahrlässige Handlung gar nicht geben – und wurde deshalb nach dem Ende der hegelianischen Epoche in der Straftatdogmatik nie wieder aktiviert. – Ähnlich verhält es sich mit dem finalistischen Handlungsbegriff; zu diesem sogleich im Text. 29 Dazu anschließend unter III. 30 Frisch (Fn. 1, 1983). 31 Frisch (Fn. 1, 1983), S. 57. Die damit verbundene Umorientierung des Vorsatzes von seinem klassischen Gegenstand, dem Eintritt des zumindest ernsthaft für möglich gehaltenen
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Die Ausgrenzung der Handlungsfolgen aus der Verhaltensnorm wurde zum ersten Mal während der positivistischen Epoche ab ca. 1870 befürwortet. Man gab zu bedenken, nur die Körperbewegungen selbst seien steuerbar, während alle Ereignisse, die sich daran anschließen, dem komplexen Zufall der Kausalität ausgesetzt seien.32 Die Verhaltensnorm fordere lediglich, „dass ein Mensch sich in bestimmter Weise verhalte, nicht auch, dass sich an sein Verhalten ein bestimmter Kausalverlauf [und a fortiori: ein bestimmter Erfolg] anschließe oder nicht anschließe.“ Das ergebe sich allein schon daraus, dass in der Handlungssituation weder der Kausalverlauf noch ein Erfolgseintritt „wirklich“ seien, sondern nur als Möglichkeit im künftigen Raum stehen.33 – Die positivistische Skepsis hinsichtlich der Beherrschbarkeit von Kausalverläufen gehört der Vergangenheit an, denn es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Handelnde kraft seines Erfahrungswissens in der Regel in der Lage ist, durch seine Handlung einen Kausalverlauf auf das gewünschte Ziel hin zu steuern. Die Zielverfehlung ist die Ausnahme. Das zeigt – im Umkehrschluss – auch die Plausibilität der Theorie einer objektiven Erfolgszurechnung: Wäre die Entwicklung des gefährlichen Verlaufs zwischen Handlung und Erfolgseintritt grundsätzlich unbeherrschbar, wäre jegliche Haftung für Erfolge unfair und daher rechtsstaatlich indiskutabel. Eigenartigerweise wurde die zweite Welle verhaltensnormtheoretischer Erfolgsskepsis gerade von Finalisten losgetreten, die doch von ihrem ontologischen Begriff der finalen Überdetermination von Geschehensverläufen34 her eher die Gegenposition hätten einnehmen müssen – wie es Welzel selbst auch getan hat.35 Aber Armin Kaufmann betonte – in normtheoretischer Perspektive –, der Inhalt einer Verbotsnorm sei „immer eine (finale) Handlung“, denn nur eine Willenssteuerung könne „durch eine andere, richtige Steuerung des Willens unterbleiben“; die im Erfolg liegende „Willensverwirklichung“ gehe über das normative Potential der Verhaltensnorm hinaus.36 Und Zielinski kehrt gar zu der beinahe abergläubischen Sorge vor der Unberechenbarkeit von Kausalverläufen zurück, wenn er die Verhaltensnorm auf das Handeln beschränkt, weil der Erfolg nicht notwendig auf der Finalität der Erfolges, auf die der Tathandlung inhärente missbilligte Gefährlichkeit soll hier nicht weiterverfolgt werden. 32 s. Klee, Der dolus indirectus als Grundform der vorsätzlichen Schuld, 1906, S. 49 ff. – Gespeist wurde diese Ansicht durch die „Vorstellungstheorie“ des Vorsatzes, der zufolge der Handelnde allein seine Körperbewegung wollen, sich die daran anschließenden Folgen aber lediglich vorstellen könne; so z. B. von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 8. Aufl. 1897, S. 167; Frank, ZStW 10 (1890), 204. 33 Müller, Die Bedeutung des Kausalzusammenhanges im Straf- und Schadensersatzrecht, 1912, S. 23 (Einfügung von mir). – Ähnlich argumentierte wenig später Sauer, Grundlagen des Strafrechts, 1921, S. 422: Da es möglich sein müsse, jedes menschliche Verhalten zu jeder Zeit zu beurteilen – also auch vor dem Eintritt eines „Taterfolgs“ –, könne es auf den tatsächlichen Eintritt eines solchen Erfolges nicht ankommen. 34 Grundlegend dazu Welzel, ZStW 51 (1931), 708 – 712. 35 s. die Nachweise in Fn. 25. 36 Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 106.
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Handlung beruhe, sondern auch durch einen zufälligen Kausalverlauf ausgelöst sein könne.37 In aller Konsequenz mutiert für ihn der Versuch zum Prototyp der Straftat.38 – So sehr man den gravierenden methodischen Fehler kritisieren mag, aus der Ausnahme überraschender Kausalverläufe die Regel abzuleiten, dass die Herbeiführung von schädigenden Erfolgen nicht verboten werden könne39, so hilfreich ist es, dass dadurch die Folgen einer ohne Erfolgsbezug konstruierten Verhaltensnorm offenbar werden: Allein der beendete Versuch begründet die Strafwürdigkeit der Tat, und ein anschließend eintretender Erfolg vermag dem keinen weiteren Unrechtsgehalt mehr hinzuzufügen. Die Verletzung fremder Rechte oder Werte, deren Verhinderung das Strafrecht erst auf den Plan gerufen hat, verflüchtigt sich zu einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit40 oder einem „Indikator generalpräventiv besonders indizierten […] Strafeinsatzes“41. In dieser Marginalisierung der dogmatischen Rolle des Taterfolgs liegt aus der Perspektive einer positiven Generalprävention eine gewisse Logik, denn wenn das Strafrecht primär der Normbekräftigung dient und nicht der Aufarbeitung erlittenen Unrechts, braucht auch nur der Verhaltensnormverstoß sanktioniert zu werden. Ob diese Auffassung über den Zweck der Strafe adäquat ist oder vielmehr fehlerhaft den normbekräftigenden Nebeneffekt dieses Konfliktbewältigungsinstruments zu seinem Sinn erhebt, kann hier nicht weiterverfolgt werden.42 – Unabhängig davon ergeben sich aber zwei wichtige Einwände gegen die Ausgrenzung des Erfolgs aus der Verhaltensnorm: ein normtheoretischer und ein damit zusammenhängender verfassungsrechtlicher. Wenn betont wird, es komme normtheoretisch allein auf ein gefahrschaffendes Verhalten an, während der Erfolg ja frühestens mit Abschluss des Verhaltens eintrete und daher für den Verhaltensbefehl schon zeitlich nicht mehr in Frage komme, dann bleibt außer Betracht, dass die Bestimmung der Gefährlichkeit eines Verhaltens ohne Bezug zu möglichen Erfolgen undenkbar ist, denn ihr drohender Eintritt ist es ja gerade, der das Verhalten gefährlich macht. In der Formulierung jeder Verhaltensnorm, die einem Erfolgsdelikt zugrunde liegt, ist die zu vermeidende Folge notwendig enthalten – ansonsten bliebe ein in seiner Unbestimmtheit unerfüllbares allgemeines Gefährdungsverbot übrig.43 37
Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 129 – 135. Zielinski (Fn. 37), S. 136. 39 Zielinski (Fn. 37), S. 142, geht sogar so weit zu behaupten, die „objektive Erfolgsfähigkeit“ einer Handlung entbehre „jedes Bezuges zur handelnden Person“ – als sei der Mensch schlicht nicht in der Lage, gesetzte Ziele durch geeignetes Handeln zu verwirklichen. Das verkehrt die Uridee des Finalismus geradezu in ihr Gegenteil. 40 Zielinski (Fn. 37), S. 206 f., spricht von einer „Strafbedürftigkeitsvoraussetzung“. 41 Frisch (Fn. 1, 1988), S. 516 – 518. 42 s. hierzu etwa Schneider, Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus, 2004. 43 Man riskiere die Probe aufs Exempel: Die auf die Gefahrschaffung reduzierte Verhaltensnorm zu § 223 StGB könnte lauten: „Vermeide jedes Verhalten, das die relevante Gefahr 38
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Diese Konkretisierungsfunktion, die der drohende tatbestandliche Erfolg bei der Fixierung der Verhaltensnorm spielt, ist seit langem bekannt. Schon Max Ludwig Müller wies darauf hin, dass das Erfolgserfordernis ein Hilfsmittel sei, um das von der Verhaltensnorm geforderte Verhalten zu konkretisieren44, und auch Frisch spricht von einem normtheoretisch erforderlichen „Bezug zwischen Verhalten und unwertigen Folgen“45. Aus diesem anerkannten Bezug des verbotenen Verhaltens zu seinen möglichen, rechtlich missbilligten Folgen ergibt sich aber, dass diesen nicht erst eine retrospektive Rolle als objektive Strafbarkeitsbedingung oder Indikator besonderer Strafbedürftigkeit zukommt, sondern sie als notwendige Richtpunkte der gesetzlich intendierten Verhaltenssteuerung schon Bestandteil der Verhaltensnorm sein müssen.46 Anderenfalls hätten sie nicht teil an der Verbindlichkeit der Verhaltensnorm, und das hieße nichts anderes, als dass sie keine verbindlichen Orientierungspunkte für das gebotene Verhalten wären – ein klarer Widerspruch zu dem normtheoretischen Anliegen, das Verhalten gerade durch Orientierung auf zu vermeidende Schädigungen zu steuern. Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine zweite, von den Prinzipien des Grundgesetzes geforderte Bedeutung schädigender Folgen bereits vor der Vornahme der Handlung. Wenn sie als Orientierungspunkt47 zur Konkretisierung des verbotenen Verhaltens unverzichtbar sind, dürfen sie nicht aus der Verhaltensnorm ausgeklammert werden, weil sonst die Verhaltensnorm in verfassungswidriger Weise unbestimmt bliebe. Art. 103 Abs. 2 GG fordert, dass der Normadressat vor seiner Handlung vorhersehen können muss, welches Verhalten verboten und strafbar ist48, und wenn zum vollständigen Zuschnitt der Verhaltensnormen der Erfolgsdelikte deren Ausrichtung auf bestimmte mögliche schädigende Erfolge unabdingbar ist, dann ist deren Bestimmung vor der Tat und ihre Einbeziehung in die Verhaltensnorm nicht nur normtheoretisch, sondern auch verfassungsrechtlich geboten. Man kann insoweit von der Bestimmungsfunktion möglicher Erfolge sprechen. einer körperlichen Misshandlung oder Gesundheitsschädigung eines Anderen birgt!“ – Versuchte man, den sprachlichen und sachlichen Bezug zu den tatbestandlich umrissenen Erfolgen zu vermeiden, indem man – rechtsgutsorientiert – sagte: „Vermeide jedes Verhalten, das eine relevante Gefahr für die Gesundheit eines Anderen birgt!“, wäre nichts gewonnen, denn „Gefahr für die Gesundheit“ ist synonym mit „Gefahr einer Gesundheitsschädigung“. Ohne Bezug zu einem möglichen Taterfolg lautete die Norm: „Vermeide jedes Verhalten, das eine relevante Gefahr birgt!“ – und diese ubiquitär einschlägige Norm würde jede Handlungsfreiheit zunichtemachen. 44 Müller (Fn. 33), S. 22. 45 Frisch (Fn. 1, 1983), S. 76. 46 Dies gilt – nebenbei – nicht nur für die Erfolgsdelikte, sondern gleichermaßen bei konkreten Gefährdungsdelikten, denn der Bezug auf eine „Gefahr“ lässt sich nur herstellen, wenn das gefährdete Objekt genannt wird. Der „Gefahrerfolg“ ist also auch hier Bestandteil der Verhaltensnorm. 47 Frisch (Fn. 1, 1983), S. 58, nennt den Erfolg „Richtungsmerkmal des unerwünschten Verhaltens“. 48 BVerfGE 87, 209, 224.
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Es zeigt sich also, dass es jedenfalls zwei Gründe dafür gibt, die von Frisch entworfene Struktur der Verhaltensnormen dahin zu ergänzen, dass die Erfolge mit hineingelesen werden, deren Verhinderung der entsprechende Straftatbestand dient: Sie werden bereits hier normtheoretisch und verfassungsrechtlich benötigt.
III. Normtheoretische Ergänzungen: Erfolgsbestimmung und Handlungszurechnung Wer – wie der Jubilar – großen Wert darauf gelegt hat, Erfolge erst dann ins Spiel zu bringen, wenn sie tatsächlich eingetreten sind, mag mit den bisherigen Überlegungen unzufrieden sein. Sie führen aber keineswegs zu einer Revision der normtheoretischen Erkenntnisse, sondern bestätigen die Notwendigkeit, in der Dogmatik des Straftatbestandes strikt zwischen den Geltungsfeldern der Verhaltens- und der Zurechnungsnormen zu unterscheiden. In beiden Bereichen lassen sich aber im Anschluss an die Analysen von Frisch verfeinerte Aussagen treffen. 1. Maßstäbe zur Formulierung von Verhaltensnormen Wenn tatbestandliche Erfolge als mögliche Handlungsfolgen bereits ex ante zu berücksichtigen sind, weil es für den Zuschnitt des verhaltensnormwidrigen Verhaltens der Orientierung auf mögliche Handlungsfolgen bedarf, die als tatbestandserfüllende „Erfolge“ den Erfolgsunwert der Handlung tragen und dann Teil des Unrechts der Tat darstellen, müssen diese zu vermeidenden Erfolge bereits vor der Tat abstrakt, aber doch hinreichend bestimmt formuliert werden. Diese Erfolgsbestimmung geht sogar der Bestimmung des verbotenen Verhaltens logisch voraus, denn dessen – normativ maßgebliche – Gefährlichkeit ergibt sich ja allein durch den Bezug auf die Art der zu vermeidenden Erfolge. Als Maßstab zur ex ante-Bestimmung möglicher Erfolge kommt in der deutschen Tradition natürlich vor allem die Rechtsgutstheorie in Betracht, die jedenfalls den Anspruch erhebt, eine Beschreibung möglicher und legitimer Schutzobjekte des Strafrechts leisten zu können.49 Und da die Verhaltensnormen im Gesetzgebungsverfahren entstehen – man hat sie sich als logische Voraussetzungen der explizit erlas-
49 Der Glaube an ihre kritische Leistungsfähigkeit ist zwar durch den vernichtenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 120, 224) erheblich ins Wanken geraten, und die dadurch inspirierte lebhafte Diskussion scheint zu bestätigen, dass ihr gesetzgebungskritisches Potential überschätzt worden ist (s. nur Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331 ff.; Stuckenberg, GA 2011, 653 ff.). Gleichwohl bleibt es Konsens in Dogmatik und Rechtsprechung, dass die kriminalpolitischen Schutzziele der Erfolgsdelikte als „Rechtsgüter“ beschrieben werden können. Dieser semantischen Üblichkeit kann sich selbst das Bundesverfassungsgericht in seiner im Übrigen so rechtsgutskritischen Entscheidung nicht entziehen (s. etwa BVerfGE 120, 224 Rn. 35).
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senen strafrechtlichen Sanktionsnormen zu denken50 –, geben auch die Begründungen zu den Gesetzentwürfen wichtige Hinweise auf die geschützten Güter. Nicht nur diese historische Auslegung, sondern der gesamte Kanon der Auslegungsmethoden ist heranzuziehen, um das durch einen Straftatbestand geschützte Rechtsgut – und damit auch die ex ante relevanten Erfolge – zu konturieren.51 Es ist eine der wichtigsten tatbestandstheoretischen Leistungen von Wolfgang Frisch, darauf insistiert zu haben, dass das tatbestandsmäßige Verhalten nicht nach Maßstäben einer Erfolgszurechnung, sondern nach eigenen, der Logik von Verhaltensnormen folgenden Kriterien zu umreißen ist.52 Dabei spielt, wie Frisch betont hat, die Abwägung von Freiheits- und Rechtssphären zwischen Handelndem und potentiellen Opfern eine wichtige Rolle.53 Mindestens ebenso bedeutsam sind aber die Berücksichtigung des Strafrechtsziels und die legislative Formulierung des Tatbestandes: Nur weil der Gesetzgeber schädigende Erfolge oder die konkrete Gefährdung fremder Rechtsgüter verhindern will, erweist sich die Eigenschaft eines Verhaltens, einem tatbestandlich geschützten Gegenstand gefährlich zu sein, als Maßstab des Verbotenseins. Und die gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich bestimmter weiterer Eigenschaften des tatbestandserfüllenden Verhaltens (dass es beispielsweise das Führen eines Kraftfahrzeugs oder grausam sein oder sich als Gewalt gegen eine Person darstellen muss) liefern die übrigen Informationen für den Zuschnitt der Verhaltensnormen. Auch hier erhebt sich wieder die – schon eben bei den Erfolgen angesprochene – Frage, in welchem Verhältnis die Bestimmung des Verhaltens zur Auslegung steht: Ergibt sich das zentrale Erfordernis der rechtsgutsbezogenen Gefahrschaffung aus einer teleologischen Auslegung aller Tathandlungen der Erfolgsdelikte? Oder eröffnen die Auslegungsmethoden allein den Blick auf die jeweiligen, tatbestandsbezogenen Besonderheiten der Handlungen, während der Grundmaßstab der Gefahrschaffung aus der Heranziehung allgemeiner Rechtsprinzipien gewonnen wird? Diese Frage ist bislang unerörtert geblieben – wahrscheinlich weil sie gar nicht erkannt werden konnte, solange die Theorie einer objektiven Zurechnung die Verhaltensnormbestimmung an sich gerissen und damit die eigenständige Perspektive dieser Normen verstellt hatte. Aus Raumgründen kann sie hier nur gestellt, aber nicht 50
Das folgt aus dem Schuldprinzip: Wenn Strafe Schuld voraussetzt (BVerfGE 95, 96, 131; 96, 245, 249) und wenn Schuld der Vorwurf für einen verantwortbaren Verstoß gegen Rechtsbefehle ist (Wessels/Beulke [Fn. 9], Rn. 400; Ebert [Fn. 10], S. 92), dann muss schuldhaftes Handeln gegen ein Verbot verstoßen – und dann müssen den Sanktionsnormen, die an die begangene Tat anknüpfen, Verhaltensnormen vorausgehen, die das entsprechende Tun verbieten (s. nur Renzikowski, ARSP 87 [2001], 111, 122 ff.). Warum die Verhaltensnormen in fester legislativer Tradition nicht explizit mitformuliert werden, gehört zu den von der Normentheorie noch nicht gelüfteten Geheimnissen. 51 Dass die Bestimmung der Reichweite eines Rechtsgutes im Grenzbereich schwierig sein kann, ist bekannt. Man denke etwa an die normative Festlegung von Lebensbeginn und -ende oder den Streit um den strafrechtlichen Vermögensbegriff, der für die Formulierung der Verhaltensnormen zu §§ 253, 263, 266 u. a. StGB benötigt wird. 52 Frisch, FS Roxin, 2001, S. 231 – 237; ders., GA 2003, 719, 733 ff. 53 s. nur Frisch, GA 2003, 719, 734.
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vertieft werden; aber es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die normtheoretisch konzise Analyse von Frisch wesentlich dazu beigetragen hat, dass sie überhaupt ans Tageslicht kam. 2. Zur retrospektiven Beurteilung von Sachverhalten anhand von Entscheidungsnormen Auf der Seite der Verhaltensnorm gilt es also, das verbotene Verhalten mit – für den Normadressaten erkennbarem – Blick auf den durch das Verbot geschützten Gegenstand zu bestimmen. Mit der Vornahme des normwidrigen Verhaltens ist jedoch diese Perspektive situativ erledigt: Sie vermag als solche nichts darüber zu sagen, wie nach einem verhaltensnormwidrigen Verhalten zu verfahren ist. Nunmehr geht es um die rechtsstaatliche Abarbeitung des Normverstoßes, für die das Reservoir der Entscheidungsnormen zur Verfügung steht. Hier liegt die Domäne der Erfolgszurechnung. Aber sie bestimmt keineswegs allein, ob das zu beurteilende Geschehen den Straftatbestand erfüllt hat. Es klang bereits an, dass die Zurechnung eines Ereignisses als Taterfolg das Vorliegen einer einschlägig gefahrschaffenden Handlung voraussetzt. Dass eine solche Handlung tatsächlich vorliegt, ist aber mit den Requisiten der Erfolgszurechnung gar nicht feststellbar. Hierfür bedarf es des Rückgriffs auf andere Normen – und zwar zunächst solcher, die darüber bestimmen, wann überhaupt die personalen Voraussetzungen rechtlich relevanten Handelns vorliegen. Dieser Akt ist seit naturrechtlichen Zeiten als imputatio facti bekannt, der Zurechnung eines Verhaltens als Handlung einer Person, die zu normbefolgendem Verhalten in der Lage ist.54 Das einziges Problem dieses naheliegenden ersten Zurechnungsschritts besteht innerhalb des geltenden Strafrechts darin, dass man bei fehlender Normbefolgungsfähigkeit eigentlich eine Handlung ablehnen müsste, dies jedoch dazu führte, dass die Schuldfähigkeit zur Voraussetzung der Tatbestandserfüllung mutierte – was mit dem Wortlaut von § 20 StGB nicht vereinbar ist. Darin dürfte der Grund dafür liegen, dass dieser normlogisch am Anfang jeder Zurechnungsprozedur stehende Schritt zumeist geflissentlich übergangen wird. Bevor nun – bei vollendeter Tat – die Zurechnung des Erfolges vorgenommen werden kann, bedarf es eines Zwischenschrittes, der zurechnungstheoretisch zumeist unterschlagen wird. Er betrifft die Qualifikation des konkreten Täterverhaltens als verhaltensnormwidrig.55 Wie sich dieser Schritt in die Wertungs- und Zurechnungsprozedur der Entscheidung über die begangene Tat einfügt, ist bislang wenig unter54
Die dogmengeschichtliche Pionierarbeit in der Zurechnungstheorie leistete Pufendorf; Verfeinerungen bei Daries, Institutiones Iurisprudentiae Universalis, 1740, §§ 213 ff.; dazu Hruschka, ZStW 96 (1984), 661, 672 – 674, Seher (Fn. 17), 2. Kap., III. 5. – Auch Frisch, FS Roxin, 2001, S. 235 f. und GA 2003, 719, 742 weist auf diesen ersten Zurechnungsschritt hin. 55 Als einer der wenigen ausgewiesenen Tatbestandstheoretiker weist Frisch, GA 2003, 719, 735 explizit auf die Notwendigkeit dieses Schrittes hin.
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sucht und daher reichlich unklar. Immerhin ist von Hruschka bereits betont worden, dass diese Beurteilung an die Verhaltensnorm anknüpfen muss. Diese habe aber jetzt – nach der Tat – keine Steuerungsfunktion mehr, sondern eine „Maßstabsfunktion“56 für die Prüfung, ob das Verhalten gegen die Norm verstoßen hat. In der Regel kann die Verhaltensnorm dabei gewissermaßen spiegelbildlich eingesetzt werden57, d. h. ihre Kriterien werden nicht prospektiv, sondern retrospektiv angewandt. Aber es ist keineswegs zwingend, den Maßstab zur Beurteilung der Normwidrigkeit vollständig aus der Verhaltensnorm zu entnehmen, denn die Eigenständigkeit der Entscheidungsregeln lässt durchaus auch Veränderungen zu – die jedoch aus rechtsstaatlichen Gründen nicht zu Lasten des Handelnden gehen dürfen. Eingrenzende Merkmale sind immerhin denkbar – es könnten beispielsweise Verhaltensweisen, die ex ante gefahrschaffend zu sein scheinen und deshalb prospektiv normwidrig sind, im Rückblick als irrelevant eingestuft werden, weil sie sich ex post als nicht gefahrrealisierend erwiesen haben; hierher gehören alle fehlgeschlagenen Versuche. Dies erachtet Frisch aber als unnötig, weil bei fehlender Gefahrrealisierung der Tatbestand wegen Unzurechenbarkeit des Erfolges nicht erfüllt ist.58 Ob es sich bei dieser Wertung auch um einen Zurechnungsakt handelt, ist ganz ungeklärt. Hruschka setzt ihn – in naturrechtlicher Tradition – als Rechtswidrigkeitsurteil zwischen die Zurechnung des Verhaltens als Handlung und die spätere Zurechnung des rechtswidrigen Geschehens zur Schuld.59 Zurechnungsakte seien immer auf das handelnde Subjekt hin orientiert, hier aber gehe es um den Abgleich eines Verhaltens mit einer Norm. Im Ergebnis gleich ist die Einschätzung von Frisch, der erst bei der Anbindung des Erfolges an das gefahrschaffende Verhalten von Zurechnung spricht. Was allerdings an diesem Schritt, der ja auch nicht auf das handelnde Subjekt gerichtet ist, sondern eine Relation zwischen Akt und Folge herstellt, zurechnend sein soll, wird nicht thematisiert. Hier dokumentiert sich das verblüffende Phänomen, dass auch nach über 40 Jahren intensiver Debatte über die Zurechnung auf Tatbestandsebene der Kernbegriff der Zurechnung im Nebel liegt. Legt man Hruschkas Kriterium zugrunde, ist auch die „Zurechnung“ des Erfolges kein Zurechnungsakt, sondern Teil der Bewertung des Geschehens als rechtswidrig; betrachtet man umgekehrt jede auf allgemeine Rechtsprinzipien gestützte Bewertung oder Zuordnung von Straftatmerkmalen als „Zurechnung“, dann ist auch die Qualifikation eines Verhaltens als „Tathandlung“ ein Akt der Zurechnung, genauer: der Handlungszurechnung. Dabei handelt es sich vielleicht vordergründig um einen Streit um Worte – und normtheoretisch kommt es tatsächlich allein darauf an, die unterschiedlichen Wertungsschritte exakt auseinanderzuhalten –; aber solange der Sprechakt des Zurechnens als Schlüsselschritt angewandter Straftatdogmatik gilt (und auch die Rechtsprechung 56
Hruschka, Rechtstheorie 22 (1991), 441, 450. Hruschka, Rechtstheorie 22 (1991), 441, 451 spricht von „zwei Seiten ein und derselben Medaille“. 58 Dazu Frisch (Fn. 1, 1988), S. 35. 59 Vgl. Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 30 und 67 f. 57
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hat ihn inzwischen, wenn auch zögerlich, aufgenommen), sollte der Klärung dieses Begriffs die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt werden.60 Erst nachdem das Täterverhalten als Tathandlung zugerechnet worden ist, kann sich die Zurechnung der Handlungsfolge als Taterfolg anschließen. Das ist rechtsstaatlich unbedenklich: Nachdem der Erfolg – soweit er eine vorhersehbare Option darstellte – schon ex ante als Bestandteil des Verhaltensverbots aufgetreten war61, darf er ex post bei dem Urteil über die Tatbestandserfüllung zum Nachteil des Täters berücksichtigt werden.
IV. Fazit Die Theorie der objektiven Zurechnung hat die Dogmatik des Straftatbestandes umfassend – und in einer richtigen, normativierenden Richtung – verändert. Aber sie hat sich in normtheoretischer Perspektive als unzureichend erwiesen, weil sie einseitig die Bewertung des Erfolges der begangenen Tat thematisiert. Wolfgang Frisch hat maßgeblich dazu beigetragen, diesen Mangel aufzudecken, indem er die normative Selbstständigkeit des normwidrigen Verhaltens betont. Aber es spricht viel dafür, daraus sowohl auf der Ebene der Verhaltensnormen als auch in zurechnender Perspektive weitere Konsequenzen zu ziehen: In die den Erfolgsdelikten zugrunde liegenden Verhaltensnormen sind die ex ante möglichen und vermeidbaren Taterfolge mit einzubeziehen, und auf der Ebene der Entscheidungsnormen bedarf die Feststellung, dass die Täterhandlung normwidrig war, einer von der Erfolgszurechnung unabhängigen Feststellung – die in heutiger, normativer Terminologie durchaus als Akt der Handlungszurechnung begriffen werden kann.
60 61
Dieses Ziel verfolgt die in Fn. 17 genannte, zur Publikation anstehende Schrift. s. dazu o. II.
„Umräumen von Möbeln“ auf offener Bühne Von Andreas Hoyer
I. Tatbestandsmäßiges Verhalten und objektive Erfolgszurechnung Wolfgang Frisch hat stets eine vermittelnde Position zwischen denjenigen Strafrechtswissenschaftlern eingenommen, die die gesamte Feststellung des Gegebenseins einer Straftat ausschließlich als „Problem der Zurechnung eines bestimmten Geschehens zu einer Person als dafür verantwortlichem Urheber“ verstehen und definieren,1 sowie denjenigen, die jeder objektiven Zurechnungslehre im Strafrecht schlicht „ihre Existenzberechtigung und ihre Adäquität“ bei der Beschreibung von Straftatvoraussetzungen bestreiten.2 Widersprochen hat Frisch aber auch der im heutigen Schrifttum herrschenden und vor allem auf Roxin rückführbaren gemäßigten Variante einer „normativierenden“ Zurechnungslehre,3 der es allein um die Frage geht, „welcher Zusammenhang bei den Erfolgsdelikten zwischen der Handlung des Täters und dem eingetretenen tatbestandlichen Erfolg bestehen muss, damit der objektive Tatbestand eines Erfolgsdelikts erfüllt ist“.4 Frisch hat dieser Variante eine „Aufblähung der Erfolgszurechnung zulasten des tatbestandsmäßigen Verhaltens“ vorgeworfen5 und sich demgegenüber um einen „Rückschnitt der objektiven Zurechnungslehre“ bemüht.6 Während ein vom Handelnden verursachter Erfolg diesem nach Roxin nur dann objektiv zuzurechnen ist, „wenn das Verhalten des Täters eine nicht durch ein erlaubtes Risiko gedeckte Gefahr für das Handlungsobjekt geschaffen und diese Gefahr sich auch im konkreten Erfolg verwirklicht hat“,7 anerkennt Frisch nur die letztgenannte sog. „Realisierungsklausel“ als wirklich die objektive Erfolgszurechnung betreffend an.8 Die erstgenannte „Gefahrschaffungsklausel“ betreffe dagegen „in Wahrheit gar nicht erst die Erfolgszurechnung, sondern schon die Frage …, ob überhaupt eine tatbestandsmäßig 1
Frisch, GA 2003, 719, 725. Frisch, FS Roxin, 2001, S. 213, 219. 3 Frisch, GA 2003, 733. 4 Frisch, JuS 2011, 19. 5 Frisch, FS Roxin, 2001, S. 235. 6 Frisch, JuS 2011, 210. 7 Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 47. 8 Frisch, GA 2003, 724. 2
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verbotene Handlung vorliegt“.9 Sachlich sei „damit die Bedeutung einer Erfolgszurechnungslehre weitaus geringer, als die Vertreter der (normativierenden Erfolgs-) Zurechnungslehre behaupten“.10
II. Handlungs- und Erfolgsunrecht Den denkbaren Einwand, es handele sich bei dieser abweichenden Einordnung der „Gefahrschaffungsklausel“ allein um „systematische Rechthaberei“,11 antezipiert Frisch und begegnet ihm mit dem Hinweis auf „durchaus unterschiedliche Lösungsprinzipien“,12 nach denen Fragen einer normativierenden Erfolgszurechnung einerseits sowie „Fragen der generellen Verbietbarkeit von Verhaltensweisen“ andererseits zu beantworten seien.13 Bei der zweitgenannten Kategorie von Fragen nach der Legitimierbarkeit von Einschränkungen der Handlungsfreiheit gehe es darum, „die Freiheit des Einen mit der Freiheit (und den Gütern) des Anderen nach einem allgemeinen Gesetz in ein für alle Beteiligten (auch wechselseitig) akzeptables Verhältnis zu bringen“.14 Entsprechend dieser generellen Abgrenzung der verschiedenen Freiheitssphären voneinander werde ein bestimmtes risikobehaftetes Verhalten deshalb gegebenenfalls rechtlich missbilligt – und erst diese „Behaftung des Verhaltens mit einer (bestimmten) missbilligten Gefahr bzw. Gefährlichkeit“15 lasse es „als tatbestandlich erfasste Abweichung von der rechtlichen Verhaltensordnung“ in Betracht kommen.16 Im Rahmen der Erfolgszurechnung stelle sich dann nur noch die Frage, „ob der eingetretene Erfolg die spezifische Folge dieses der Person zurechenbaren, prinzipiell missbilligten Handelns ist“17 und ihr deshalb als zusätzliches „Unrecht angelastet werden kann, so dass die Tat als vollendete Tat einen Rechtsbruch von besonderem Gewicht darstellt“.18 Bei seinen Überlegungen geht es Frisch darum, „die grundsätzlichen Kriterien des Handlungs- und Erfolgsunrechts der Erfolgsdelikte“ herauszuarbeiten und voneinander abzuheben.19 Seiner Auffassung nach muss ein Verhalten schon mit „besonderen Risiken der Herbeiführung tatbestandlicher Güterbeeinträchtigungen behaftet“ sein, 9
Frisch, JuS 2011, 218. Frisch, GA 2003, 735. 11 Frisch, GA 2003, 739. 12 Frisch, GA 2003, 739. 13 Frisch, JuS 2011, 210. 14 Frisch, FS Roxin, 2001, S. 236; ders., GA 2003, 739, führt zusätzlich noch „Interessen der Allgemeinheit“ auf. 15 Frisch, GA 2003, 739. 16 Frisch, GA 2003, 743. 17 Frisch, FS Roxin, 2001, S. 237. 18 Frisch, GA 2003, 743. 19 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, V. 10
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um überhaupt „für eine rechtliche Missbilligung … in Betracht zu kommen“ und so „zur Begründung des in dem Vollendungstatbestand vorausgesetzten objektiven Handlungsunrechts“ zu taugen.20 Fehle es an einem besonders riskanten Verhalten, so stelle sich die Frage nach einer Erfolgszurechnung zu diesem Verhalten gar nicht erst – weil ihre Beantwortung mangels Tatbestandsmäßigkeit des betreffenden Verhaltens strafrechtlich uninteressant sei. Dass sich in einem dennoch eingetretenen Erfolg dann auch kein durch die Handlung geschaffenes rechtlich missbilligtes Risiko verwirklicht haben kann und deshalb auch kein Erfolgsunrecht zustande kommt, bilde lediglich einen „Sekundäreffekt“21 dessen, dass es (mangels hinreichender Risikohaltigkeit) bereits an einem tatbestandsmäßigen Verhalten, also an Handlungsunrecht, gefehlt habe. Entgegen der herrschenden Lehre, die es erst als eine Bedingung für mögliches Erfolgsunrecht ansieht, dass eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen wurde, bilde dieses Erfordernis tatsächlich bereits eine Bedingung für mögliches Handlungsunrecht.
III. Gefahrschaffung als Verhaltenserfolg und Gefährlichkeit als Verhaltenseigenschaft Die von Frisch vorgeschlagene „Umakzentuierung“22 der rechtsdogmatischen Diskussion beschränkt sich aber nicht darauf, das Erfordernis der „Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr“ einfach nur in eine andere deliktssystematische Schublade zu verfrachten, indem es nunmehr als Voraussetzung schon für Handlungs- statt erst für Erfolgsunrecht eingeordnet wird. Vielmehr erzwingt die erwähnte systematische Rubrizierung dieses Erfordernisses zugleich dessen inhaltliche Umformung und sprachliche Umformulierung. Geht es nämlich im Sinne Frischs um die „generelle Verbietbarkeit von Verhaltensweisen“ (als Voraussetzung für deren mögliche Straftatbestandsmäßigkeit),23 so kann es nicht darauf ankommen, ob diese Verhaltensweisen bestimmte (rechtlich missbilligenswerte) Gefahren geschaffen haben, sondern allein darauf, ob sie ex ante geeignet erscheinen, bestimmte Gefahren zu schaffen, und deshalb selbst rechtlich missbilligenswert sind. Die Formulierung, dass durch ein Verhalten eine rechtlich missbilligte Gefahr für den tatbestandsmäßigen Erfolg geschaffen worden sein muss, bezeichnet nämlich selbst einen (Zwischen-)Erfolg, den das betreffende Verhalten nach sich gezogen haben muss: Es lässt sich keine Gefahrschaffung durch ein Verhalten denken, ohne dass erstens ein Gefahrenzustand zeitlich (zumindest eine logische Sekunde) nach dem betreffenden Verhalten eingetreten ist und zweitens dieser Gefahrenzustand als sein Erfolg von dem betreffenden Verhalten (zumindest mit) verursacht wurde. Wie wahr20
Frisch, FS Roxin, 2001, S. 223. Frisch, GA 2003, 736. 22 Frisch (Fn. 19), V. 23 Frisch, JuS 2011, 210.
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scheinlich der Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs aus der Perspektive eines bestimmten durch die Handlung mit verursachten Umständekomplexes heraus auch sein muss, damit dieser Komplex die Bezeichnung als „Gefahr“ sowie die Bewertung als „rechtlich zu missbilligen“ verdient, kann dabei offenbleiben. Um ein Verhalten verbieten zu können, muss das zu seiner Spezifizierung in der Verbotsnorm verwendete Kriterium jedenfalls „derart sein, dass es in jener Situation, in der durch das – strafbewehrte – Verhalten motiviert werden soll, überhaupt feststellbar ist“.24 Aus verhaltensnormlogischen Gründen kann das Verbot eines gegebenenfalls rechtlich zu missbilligende Gefahren schaffenden Verhaltens daher nicht davon abhängen, „dass das Verhalten die unerwünschten Folgen bewirkt hat. Dieser Gesichtspunkt kann – zusammen mit anderen – als Sanktionserfordernis für die Sanktionsnorm und den Rechtsanwender bedeutsam sein. Für die Kennzeichnung des verbotenen Verhaltens taugt er nicht“.25 Selbst wenn man im Sinne einer streng deterministischen Weltsicht davon ausgeht, die Eigenschaft eines Verhaltens, eine rechtlich missbilligenswerte Gefahr auszulösen, habe schon vor seiner Durchführung objektiv mit absoluter Sicherheit festgestanden, so lässt sich doch ein legitimes Verhaltensverbot an diese Eigenschaft nur anknüpfen, falls sie bereits in der Situation erkennbar war, in der das Verbot als Motivationsfaktor wirken sollte.26 Umgekehrt delegitimierte es das Verbot eines zum Zeitpunkt der Handlung nach damaliger Sicht der Wissenschaft als möglicherweise gefährlich eingeschätzten Verhaltens aber auch nicht, wenn sich nach seiner Vornahme zum Beispiel aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse herausstellt, dass es tatsächlich von Anfang an ungefährlich war. Allenfalls lässt sich im Lichte derartiger Erkenntnisfortschritte fragen, ob es noch einer Sanktionierung des mittlerweile als ungefährlich erwiesenen, immerhin aber verbotswidrig durchgeführten Verhaltens bedarf – an der Berechtigung des Verbots zu dem Zeitpunkt, als die Ungefährlichkeit derartiger Handlungen wissenschaftlich noch ungeklärt war, ändert dies aber nichts mehr. Für die rechtliche Missbilligungswürdigkeit eines Verhaltens ist es also weder notwendig noch hinreichend, dass es infolge seiner Vornahme zu einem „besonderen Risiko“ als einem irgendwie qualifizierten Gefährdungserfolg tatsächlich kommt. Wäre es anders, müsste beispielsweise auch Adam und Eva der von ihrem Sohn Kain verübte Mord an Abel objektiv durchaus zugerechnet werden, da die Zeugung von Kain im Ergebnis spätestens zu dem Zeitpunkt, als Kain unmittelbar zur Tötung des Abel ansetzte, eine rechtlich missbilligte Gefahr für das Leben des Abel unzweifelhaft verursacht hat. Eines der wesentlichen Motive für die Entwicklung der objektiven Zurechnungslehre bestand aber rechtshistorisch betrachtet von Anfang an darin, dass es „als geradezu grotesk … empfunden“ wurde, den objektiven Tatbestand eines Tötungsdelikts schon deswegen zu bejahen, weil „nach der Äquivalenz24
Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 76. Frisch (Fn. 24), S. 76. 26 Frisch (Fn. 24), S. 76 f.
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lehre auch die Eltern ursächlich für den später von ihrem Sohn begangenen Mord gewesen seien“.27 Versucht man dieser Konsequenz auszuweichen, indem man für die „Schaffung“ rechtlich missbilligter Gefahren mehr als lediglich deren bloße „Verursachung“ voraussetzt, so gerät man in die Schwierigkeit, die zusätzlichen Anforderungen an eine (Gefahr-)Schaffung konkret benennen zu müssen: Begnügt man sich insoweit mit der Antwort, der rechtlich missbilligte Gefahrerfolg müsse etwaigen Verursachern eben auch objektiv zugerechnet werden können, wofür es der „Schaffung einer Gefahr der Gefahr“ bedürfe, so gerät man in einen circulus vitiosus statt zu der erstrebten Tatbestandseinschränkung.
IV. Gegenstand und Grund der rechtlichen Missbilligung Es ist Frisch also darin zuzustimmen, dass es für die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens als solchem – unabhängig von den weiteren Merkmalen, die ein vollständig erfüllter Tatbestand voraussetzt – nicht darauf ankommt, ob es eine Gefahr (oder gar eine Verletzung) als ihm nachfolgendes Außenweltereignis ausgelöst hat, sondern nur „auf seine Eignung, bestimmte Erfolge herbeizuführen“,28 d. h. auf die „Behaftung des Verhaltens mit einer (bestimmten) … Gefährlichkeit“.29 Und rechtlich missbilligt wird dann auch nicht die „Eignung, bestimmte Erfolge herbeizuführen“, sondern das dadurch ausgezeichnete „Verhalten im Blick auf seine Eignung“,30 nicht die „Gefährlichkeit“ eines Verhaltens, sondern das Verhalten wegen seiner ihm innewohnenden Gefährlichkeit. Ob, inwieweit und wofür ein Verhalten „gefährlich“ ist, bildet also ein bloßes Bewertungskriterium für dieses Verhalten; Bewertungsgegenstand aber bleibt dieses Verhalten selbst und dessen Bewertung hängt neben seiner Gefährlichkeit auch noch von zahlreichen anderen Bewertungskriterien ab. Beispielsweise erscheinen „viele Tätigkeiten uns wegen ihrer sozialen Notwendigkeit oder ihres sozialen Nutzens so wichtig …, dass sie unter bestimmten risikominimierenden Bedingungen erlaubt werden“.31 Wenn es darum geht, „die Freiheit des Einen mit der Freiheit (und den Gütern) des Anderen nach einem allgemeinen Gesetz in ein für alle Beteiligten (auch wechselseitig) akzeptables Verhältnis zu bringen“,32 dann kann der Gefährlichkeit eines Verhaltens innerhalb dieses allgemeinen Gesetzes nur die Rolle eines (allerdings wichtigen) Abwägungsfaktors innerhalb der gebotenen umfassenden „Interessenabwägung“ zukommen.33 Ein identisches Maß an Gefährlichkeit, das sich mit zwei verschiedenen Verhaltenstypen verbindet, kann also zu einer gänzlich gegensätzlichen rechtlichen Bewertung beider Verhaltenstypen ent27
Frisch, JuS 2011, 20. Frisch, FS Roxin, 2001, S. 234. 29 Frisch, GA 2003, 734. 30 Frisch, FS Roxin, 2001, S. 234. 31 Frisch, JuS 2011, 118. 32 Frisch, FS Roxin, 2001, S. 236. 33 Frisch (Fn. 24), S. 138.
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sprechend ihrer unterschiedlichen „sozialen Notwendigkeit“ sowie ihres unterschiedlichen „sozialen Nutzens“ führen. Erst das Verhalten, in dem sich diese einander widersprechenden Eigenschaften (Gefährlichkeit vs. soziale Notwendigkeit bzw. Nützlichkeit) bündeln, kann deswegen gegebenenfalls rechtlich missbilligt und daher verboten werden oder eben rechtlich toleriert und daher erlaubt bleiben. Tatbestandsmäßig kann deshalb – in Frischs Worten – nur ein Verhalten sein, das „wir … im Blick auf seine Eignung, bestimmte Erfolge herbeizuführen, als rechtlich missbilligenswert ansehen“.34 Art und Ausmaß des Erfolgs, den das Verhalten herbeizuführen geeignet sein muss, um tatbestandsmäßig zu sein, ergeben sich dabei ebenfalls aus dem Tatbestand, unter den das betreffende Verhalten subsumiert wird. Die „Eignung“ eines Verhaltens, tatbestandsmäßige Erfolge herbeizuführen, müsse aus der ex ante-Sicht „im Zeitpunkt vor der Handlung“ festgestellt werden,35 damit gegen dieses Verhalten gerichtete (strafbewehrte) Verbote „in der Situation …, in der das Verbot oder Gebot wirken soll“, überhaupt „als Motivationsfaktor wirken können“.36 Also müssten die tatsächlichen Umstände und allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, von denen aus sich eine hinreichende (nicht mehr tolerable,37 im Rahmen der Interessenabwägung beachtliche) „Eignung“ des vom Verhaltensnormadressaten erwogenen Verhaltens zur Herbeiführung tatbestandsmäßiger Erfolge feststellen lässt, spätestens in der Situation unmittelbar vor Durchführung der Handlung so zutage getreten sein, dass man sie „zumindest prinzipiell … erkennen kann“.38
1. Objektive Verhaltensgefährlichkeit als Verbotsgrund Frisch zufolge muss es sich dabei „um einen dem Verhalten anhaftenden objektiven Bezug“ zu potentiellen Erfolgen handeln, so dass jenes Verhalten nach bis zum „Zeitpunkt der Tat“ gesammelter „Erfahrung … ein ernst zu nehmendes Risiko“ für derartige Erfolge bildet.39 Damit stellt sich für Frisch allerdings die Frage, auf wessen bis zum Tatzeitpunkt (§ 8 StGB) gesammelte Erfahrung es bei der gebotenen objektiven ex ante-Betrachtung der Risikohaltigkeit eines Verhaltens ankommen soll: „auf das ontologische und nomologische Wissen eines durchschnittlichen Teilnehmers des jeweiligen Verkehrskreises, auf die optimale Beurteilung auf der Basis des Höchstwissens (ex ante) oder auf das unter Anspannung aller Erkenntniskräfte seitens des Täters verfügbare Urteil“?40 Auf diese Frage gibt Frisch eine differenzierende Antwort:41 Bei der Wahrnehmung bestimmter sozialer Rollen komme es regelmä34
Frisch, FS Roxin, 2001, S. 235. Frisch (Fn. 24), S. 77. 36 Frisch (Fn. 24), S. 76 f. 37 Frisch (Fn. 24), S. 341. 38 Frisch (Fn. 24), S. 76. 39 Frisch (Fn. 24), S. 82. 40 Frisch (Fn. 24), S. 129. 41 Frisch (Fn. 24), S. 131.
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ßig auf die mit dieser Rolle als Erwartung verbundenen Standards nomologischen und ontologischen Wissens an; etwaiges individuelles Sonderwissen des Täters über diese Standards hinaus findet jedoch zusätzliche Berücksichtigung.42 Jenseits sozial akzeptierter Rollen oder als Erwartungen klar ausgeprägter Standards für die Wahrnehmung dieser Rolle in der Tatsituation sei „durchgängig das optimale ontologische und nomologische Wissen“ der Risikobeurteilung zugrunde zu legen.43 Rechtlich missbilligt und daher tatbestandsmäßig soll also nur ein Verhalten sein können, das aus der Perspektive unmittelbar vor seiner Durchführung von einer derart ausgestatteten Wissensbasis aus (ex ante) objektiv gefährlich erscheint, d. h. mit einem im Rahmen der Interessenabwägung beachtlichen und daher ernst zu nehmenden Risiko für den Eintritt eines tatbestandsmäßigen Erfolgs behaftet ist. 2. Objektive Erfolgszurechnung als Sanktionsgrund Mit dieser Kennzeichnung des tatbestandsmäßigen Verhaltens ist die durch eine ex post-Betrachtung44 zu beantwortende Frage danach, ob der Erfolg eingetreten und sich in ihm das dem tatbestandsmäßigen Verhalten immanente spezifische Risiko verwirklicht hat, noch gar nicht angesprochen. Die letztgenannte Frage zielt darauf ab, ob ein bestimmter Erfolg dem tatbestandsmäßigen Verhalten als zusätzliches (Erfolgs-)Unrecht objektiv zugerechnet werden kann, so dass die Tat „als vollendete Tat einen Rechtsbruch von besonderem Gewicht darstellt“.45 Erfolgseintritt und -zurechnung sind also Unrechtserschwernisse, die allenfalls für das „Ob“, die Art und die Höhe einer strafrechtlichen Sanktion bedeutsam sein können und dann Sanktionsvoraussetzungen innerhalb der an den Rechtsanwender gerichteten Sanktionsnorm bilden. Die Voraussetzungen der Verbotsnorm seien dagegen unabhängig davon bereits mit der Vornahme des objektiv ex ante gefährlich erscheinenden und daher tatbestandsmäßigen Verhaltens, also aufgrund bloßen Handlungsunrechts, erfüllt. In den sog. „Erbonkel-Fällen“ fehle es demnach nicht erst an der objektiven Zurechenbarkeit des eingetretenen Erfolgs – als Sanktionsvoraussetzung –, sondern schon an einem hinreichend riskanten und daher tatbestandsmäßigen Verhalten – als Verbotsvoraussetzung.46 Dass in den Erbonkel-Fällen nicht nur eine Strafbarkeit wegen vollendeten, sondern auch wegen versuchten Delikts ausscheide, lasse sich mit der Erfolgszurechnungslehre stringent überhaupt nicht begründen, da es für eine Versuchsstrafbarkeit keinerlei (und schon gar nicht eines zurechenbaren) Erfolgseintritts bedürfe. Konstruktiv exakt herleiten lasse sich dieses Ergebnis nur mit der Erwägung, „dass es in einem solchen Fall mangels einer missbilligten Risi-
42
Frisch (Fn. 24), S. 135. Frisch (Fn. 24), S. 137. 44 Frisch, GA 2003, 734. 45 Frisch, GA 2003, 743. 46 Frisch (Fn. 19), S. 46.
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koschaffung an einem auch für den Versuch erforderlichen tatbestandsmäßigen Verhalten des Tötungsdelikts fehlt“.47 3. Untauglicher Versuch als Sonderfall unwertigen Verhaltens Im Rahmen einer solchen Herleitung ergibt sich jedoch das Problem, dass gem. § 23 Abs. 3 StGB auch der aus ex ante-Sicht grob untauglich erscheinende Versuch strafbar sein soll, also auch ein Versuch, dem objektiv keinerlei „nach der Erfahrung … ernst zu nehmendes“ Risiko im Sinne Frischs48 innewohnt. Auch eine Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs setzt aber doch wohl ein verbotenes und daher tatbestandsmäßiges Verhalten voraus,49 so dass in den Erbonkel-Fällen eben doch nicht „sofort verständlich“ wird,50 weshalb hier unabhängig von Erfolgseintritt und -zurechenbarkeit „auch kein versuchtes Tötungsdelikt“ in Betracht kommen soll. Frisch erkennt denn auch durchaus, dass sein hier nachgezeichnetes Verständnis tatbestandsmäßigen Verhaltens durch dessen „Ungeeignetheit zur Erfassung des sog. untauglichen Versuchs“ diskreditiert zu werden scheint51 und deswegen für diesen Bereich „der Ergänzung bedarf“.52 Diese Ergänzung nimmt Frisch dadurch vor, dass er neben das „primäre Unwertigkeitskriterium“, nämlich „die dem Verhalten objektiv eignende Möglichkeit der Rechtsgutsbeeinträchtigung“, ein zweites, hilfsweise heranzuziehendes Unwertigkeitskriterium für solche Verhaltensweisen setzt, „die nur nach der Vorstellung des Täters gefährlich sind“.53 Es handele sich insoweit um einen „Sonderfall tatbestandsmäßigen Verhaltens“, den im Interesse des Rechtsgüterschutzes zu legitimieren jedenfalls „schwieriger“ sei als den eines Verbots objektiv gefährlicher Handlungen.54 Frisch gesteht zwar zu, dass sich nach dem von ihm entworfenen Modell „die Unwertigkeit der gesetzlich pönalisierten Verhaltensweisen nicht aus einem Kriterium erklären lässt“, sondern „innerhalb des Vorsatzdelikts“ zwischen objektiv (qua Gefährlichkeit) und subjektiv (qua bloßer Annahme von Gefährlichkeit) begründeter Unwertigkeit differenziert werden müsse.55 Das „primäre Unwertigkeitskriterium“56 der objektiven Gefährlichkeit eines Verhaltens stifte andererseits aber immerhin systematische „Einheit“57 zwischen vollendetem Vorsatzdelikt, tauglichem Versuch und Fahrlässigkeitstat, während es diese Einheit zerreiße, 47
Frisch, JuS 2011, 211. Frisch (Fn. 24), S. 82. 49 Frisch (Fn. 24), S. 87. 50 So aber Frisch, JuS 2011, 211. 51 Frisch (Fn. 19), S. 42. 52 Frisch (Fn. 24), S. 90. 53 Frisch (Fn. 24), S. 89. 54 Frisch (Fn. 19), S. 42. 55 Frisch (Fn. 24), S. 87. 56 Frisch (Fn. 24), S. 93. 57 Frisch (Fn. 24), S. 85.
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wenn bei allen Vorsatzdelikten auf die Finalität, bei Fahrlässigkeitstaten dagegen auf die objektive Gefährlichkeit als Verbotsgrund abgestellt werde.58 In der Tat erweist es einen bestimmten strafrechtlichen Systematisierungsversuch nicht von Vornherein als fehlgeschlagen, wenn er darauf verzichtet, sämtliche Delikte auf Verstöße gegen einen einheitlichen Verbotsgrund zurückzuführen. Zweifel an einem dualistischen Modell der Verbotsgründe ergeben sich erst, wenn nicht beide Verbotsgründe gleichermaßen geeignet, erforderlich und angemessen „zum Schutz von Rechtsgütern“,59 also zur Förderung des Ziels strafbewehrter Verbote, dargetan werden können: „Wenn das Strafrecht den Schutz der Rechtsgüter verwirklichen will, so müssen dem notwendigerweise auch die Verhaltensverbote und -gebote entsprechen, um deren Durchsetzung mit den Mitteln der Strafe das Strafrecht bemüht ist“.60 Frisch räumt aber ein, dass „durchaus nicht auf Anhieb einsichtig“ sei, „warum Handlungen, die dem Rechtsgutsobjekt objektiv nichts anhaben können, zum Schutz von Rechtsgütern verboten werden sollen und mit welchem Recht hier … die Entfaltungsfreiheit des Einzelnen beschnitten … werden darf“.61 Eine „halbwegs überzeugende Begründung“62 für die strafbewehrte Verbotenheit auch eines untauglichen Versuchs müsse bei den „negativen sozialpsychologischen Wirkungen“ ansetzen,63 die sich „im Sinne einer Infektion Dritter bei fehlender Reaktion des Staates auf die Betätigung des bösen Willens“ ergeben könnten.64 Indem Frisch die Unwertigkeit eines untauglichen Versuchs daraus ableitet, dass er Risiken „im Sinne einer Infektion Dritter“ in sich birgt, setzt er sich aber in Widerspruch zu seinen eigenen (gänzlich und nicht nur „halbwegs“ überzeugenden) Darlegungen zu sonstigen Fällen, in denen „das Verhalten einer Person nur über bestimmtes Fehlverhalten Dritter zu Beeinträchtigungen an fremden Gütern führen kann. Auch hier kann sich die Rechtsordnung, soweit es sich bei den zwischengeschalteten Dritten um zu eigenverantwortlichem Handeln fähige Personen handelt, darauf beschränken, diesen Personen Handeln zu verbieten, das fremde Güter beeinträchtigen kann. Im Interesse der Offenhaltung von Handlungsfreiheiten muss die Rechtsordnung sogar so verfahren“.65 Die Rechtsordnung darf also nicht ein objektiv ungefährliches, wenngleich von „bösem Willen“ getragenes Verhalten nur deshalb verbieten, weil eigenverantwortlich handelnde Dritte sich sonst künftig eher zu wegen seiner objektiven Gefährlichkeit ohnehin verbotenem Verhalten entschließen könnten. Ebenso stellte es eine „ganz unverhältnismäßige Einschränkung der Hand-
58
Frisch (Fn. 24), S. 90. Frisch (Fn. 24), S. 89. 60 Frisch (Fn. 24), S. 74. 61 Frisch (Fn. 24), S. 89. 62 Frisch (Fn. 24), S. 89. 63 Frisch (Fn. 19), S. 42. 64 Frisch (Fn. 24), S. 89. 65 Frisch, JuS 2011, 123.
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lungsfreiheit“ dar,66 wenn dem Täter eines untauglichen Versuchs sein gegenwärtiges, objektiv ungefährliches Verhalten untersagt würde, nur damit er selbst künftig seinen „bösen Willen“ nicht auf objektiv gefährliche Weise betätige: Auch hier ist allein das Verbot des späteren Verhaltens erforderlich und deshalb als Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit zu rechtfertigen, während das frühere, objektiv ungefährliche Verhalten noch nicht einmal als risikoschaffende Vorbereitungshandlung zu dem späteren, objektiv gefährlichen Verhalten erfasst werden kann. Der Verbotsgrund für einen untauglichen Versuch kann also nur darin liegen, dass gerade dieser Versuch (und nicht erst ein nach einer zeitlichen Zäsur vorgenommener weiterer) im Interesse des Rechtsgüterschutzes unbedingt verhindert werden muss. 4. Subjektive Gefährlichkeit als Verbotsgrund Dieser Verbotsgrund kann mangels objektiver Gefährlichkeit des untauglichen Versuchs nur in dessen subjektiver Gefährlichkeit bestehen, genauer gesagt: in den auf eine Rechtsgutsverletzung hindeutenden ontologischen und nomologischen Annahmen, unter denen der Handelnde sein Verhalten tätigt. Mit diesen Annahmen ist nicht der „böse Wille“ gemeint, der den Täter in den typischen Erbonkel-Fällen beseelt und der sich auf ein Verhalten bezieht, dessen objektive Ungefährlichkeit (ex ante) selbst der individuelle Täter in der Tatsituation angesichts aller ihm verfügbaren Anhaltspunkte hätte erkennen können. Umgekehrt können die vom Täter für wahr erachteten ontologischen und nomologischen Annahmen auch dann den Schluss auf eine objektive Gefährlichkeit seines Verhaltens nahelegen, wenn er selbst diesen ihm individuell möglichen Schluss nicht gezogen und ohne „bösen Willen“ gehandelt hat. „Subjektive Gefährlichkeit“ ist also nicht gleichbedeutend mit der Annahme objektiver Gefährlichkeit,67 sondern mit der Annahme von objektive Gefährlichkeit indizierenden Umständen. Um subjektiv gefährlich zu handeln, braucht der Handelnde somit nicht notwendig Vorsatz, sondern lediglich individuelle Fahrlässigkeit hinsichtlich einer objektiven Gefährlichkeit seines Verhaltens aufgewiesen zu haben. 5. Verhältnis von objektiver und subjektiver Gefährlichkeit als potentiellen Verbotsgründen a) Objektive und subjektive Gefährlichkeit als alternativ hinreichende Verbotsgründe Korrespondiert einer derartigen subjektiven auch objektive Gefährlichkeit, neigt Frisch dazu, das Verhalten sogar unter einem „doppelten Unwertgesichtspunkt“ als verbotswürdig zu begreifen.68 Während ihm dabei die Rolle der objektiven Gefähr66
Frisch, JuS 2011, 123. So aber wohl Frisch (Fn. 24), S. 88. 68 Frisch (Fn. 19), S. 43.
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lichkeit als für sich hinreichender Verbotsgrund „unmittelbar einsichtig“ erscheint, weise die Legitimation der subjektiven Gefährlichkeit als für sich hinreichender Verbotsgrund allerdings „gewisse Schwachstellen“ auf.69 Gerade wenn aber, wie Frisch meint, die Verbotenheit eines Verhaltens nur von einem Kriterium abhängen darf, das „in jener Situation, in der durch das – strafbewehrte – Verbot motiviert werden soll, überhaupt … als Motivationsfaktor wirken“ kann,70 dann drängen sich andere Schlussfolgerungen auf: Die objektive Gefährlichkeit einer „atypischen Verhaltensweise“,71 die Frisch nach dem „optimalen ontologischen und nomologischen Wissen“ zur Tatzeit beurteilt,72 wird dem individuellen Täter zum Zeitpunkt seiner Tathandlung häufig ebenso unzugänglich sein wie alle überhaupt erst ex post gewonnenen Erkenntnisse. Auch die mit der Wahrnehmung einer bestimmten sozialen Rolle als Erwartung verbundenen Standards73 können in der Tatsituation nicht „als Motivationsfaktor wirken“,74 wenn gerade derjenige, der sich individuell in dieser Tatsituation befindet, völlig überraschend in sie hineingeraten und auf sich allein gestellt ist (z. B. als Notarzt). Weist man einer strafbewehrten Verbotsnorm (wie Frisch) zumindest auch die Funktion zu, das Verhalten des Normadressaten i.S.d. Verbots zu bestimmen, so ergibt sich daraus, dass bei fehlender individueller Fahrlässigkeit bereits kein tatbestandsmäßiges Verhalten vorliegen kann. Soll eine Norm das Verhalten des Normadressaten beeinflussen, muss sie ihm die Situation, in der er sein Verhalten an ihr ausrichten soll, so kennzeichnen, dass er diese Situation auch wiedererkennen und darauf im Sinne der Norm reagieren kann. Zur Erlangung für ihn unerreichbaren Wissens über die Tatsituation aber kann die Norm den Täter nicht veranlassen, so dass eine Anknüpfung des Verbots an eine derartige, für den Täter nicht als normativ gemeint identifizierbare Situation auch kein entsprechendes Verhalten des Täters auslösen könnte. Um Verhaltensentschlüsse beeinflussen zu können, muss die Bestimmungsnorm ihre Verbote also an für den Normadressaten erkennbare Tatsituationen heften,75 d. h. an die subjektive Gefährlichkeit eines Verhaltens unter Zugrundelegung der dem Täter hic et nunc verfügbaren ontologischen und nomologischen Beurteilungsbasis.
69
Frisch (Fn. 24), S. 89. Frisch (Fn. 24), S. 76 f. 71 Frisch (Fn. 24), S. 136. 72 Frisch (Fn. 24), S. 137. 73 Frisch (Fn. 24), S. 135. 74 Frisch (Fn. 24), S. 77. 75 Hoyer, ZStW 121 (2009), 860, 877 f.
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b) Objektive und subjektive Gefährlichkeit als kumulativ notwendige Verbotsgründe Offen bleibt dann noch, ob es neben der subjektiven auch einer objektiven Gefährlichkeit des Verhaltens bedarf, damit ein Verbot dieses Verhaltens im Interesse des angestrebten Rechtsgüterschutzes legitimiert erscheint. Korrespondiert die subjektive nicht mit einer entsprechenden objektiven Gefährlichkeit des betreffenden Verhaltens, so ist mit Frisch zwingend danach zu fragen, „mit welchem Recht hier im Interesse der objektiv gar nicht gefährdeten Rechtsgüter die Entfaltungsfreiheit des Einzelnen beschnitten … werden darf“.76 Der Grund für eine Verbots- und Strafwürdigkeit bereits eines bloß subjektiv gefährlichen Verhaltens besteht meines Erachtens darin, dass mit dem Gegebensein von Anhaltspunkten für eine objektive Gefährlichkeit aus der Sicht des Täters stets auch die abstrakte Gefahr einhergeht, diese Anhaltspunkte könnten zutreffen und sich in einer dem Verhalten wirklich eigenen objektiven Gefährlichkeit bestätigen. Verbotsgrund für ein lediglich subjektiv gefährliches Verhalten wäre dann die generalisierende Annahme des Gesetzgebers, dass Handlungen, die aus der ontologischen und nomologischen Perspektive des Täters heraus gefährlich scheinen, es allzu häufig objektiv eben auch sind – und es deshalb im Interesse des Rechtsgüterschutzes besser nicht darauf ankommen sollte, ob dies auch im konkreten Einzelfall so ist. In vergleichbarer Weise werden schließlich auch durch andere abstrakte Gefährdungsverbote Verhaltensweisen untersagt, weil es im Interesse des Rechtsgüterschutzes nicht darauf ankommen soll, ob der individuelle Täter die durch bestimmte, ihm erkennbare Anhaltspunkte nahegelegte Gefährlichkeit seines Verhaltens (z. B. bei Trunkenheit im Verkehr) im konkreten Einzelfall richtig einzuschätzen weiß. Außerdem würde die „Entfaltungsfreiheit des Einzelnen“77 ohnehin nicht dadurch erweitert, dass das Verbot eines bestimmten, aus seiner Sicht gefährlichen Verhaltens auch durch dessen objektive Gefährlichkeit bedingt wird: Da er die objektive Ungefährlichkeit seines Verhaltens infolge dessen vermeintlicher Gefährlichkeit nicht erkennen kann, erwüchse ihm aus der objektiven Unverbotenheit seines Verhaltens subjektiv auch keine zusätzliche normativ in Betracht zu ziehende Verhaltensalternative. 6. Objektive und subjektive Unrechtserschwernisse in der Sanktionsnorm Entgegen Frisch ist der einzige Verbotsgrund für jegliches Verhalten daher in dessen subjektiver Gefährlichkeit bzw. individueller Fahrlässigkeit zu sehen. Dieser Verbotsgrund erklärt einerseits, dass in den Erbonkel-Fällen auch eine Versuchsstrafbarkeit entfällt, und andererseits, dass der untaugliche Versuch immerhin strafwürdig sein könnte. Inwieweit es für die Straftatbestandsmäßigkeit noch weiterer Voraussetzungen neben der Vornahme des verbotenen, weil subjektiv gefährlichen Verhaltens 76 77
Frisch (Fn. 24), S. 89. Frisch (Fn. 24), S. 89.
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bedarf, hängt davon ab, ob eine Strafbewehrung der Verbotsnorm in derartigen Fällen geeignet, erforderlich und angemessen erscheint, um bestimmte general- und spezialpräventive Effekte im Interesse der mit dem verbotenen Verhalten angegriffenen Rechtsgüter zu erzielen. Die Straftatbestandsmäßigkeit eines subjektiv gefährlichen Verhaltens kann demgemäß seitens der an den Rechtsanwender gerichteten Sanktionsnorm an weitere subjektive oder objektive Voraussetzungen neben der Vornahme des betreffenden Verhaltens geknüpft werden. Als weitere subjektive Straftatbestandsmerkmale kommen dabei in Betracht, dass der Täter die ontologischen und nomologischen Anhaltspunkte, aus denen die subjektive Gefährlichkeit seines Verhaltens folgte, selbst entsprechend bewertet hat (kognitives Vorsatzelement), oder das Verhalten womöglich sogar um dieser angenommenen Gefährlichkeit wegen überhaupt durchgeführt hat (voluntatives Vorsatzelement). Als weitere objektive Straftatbestandsmerkmale kommen in Betracht, dass die ontologischen und nomologischen Anhaltspunkte, aus denen die subjektive Gefährlichkeit des Täterverhaltens folgte, wirklich zutrafen, das Verhalten also (auch) objektiv gefährlich war, und sich diese Gefährlichkeit womöglich sogar in einer entsprechenden, durch das Verhalten verursachten Rechtsgutsbeeinträchtigung ausgewirkt hat. Alle diese Merkmale betreffen nicht mehr die Verbotswidrigkeit des subjektiv gefährlichen Verhaltens, mögen sie nun strafbegründend (wie der Vorsatz beim Versuchsdelikt oder der Erfolg beim Fahrlässigkeitsdelikt) oder auch strafmodifizierend (wie die Absicht bei Delikten mit überschießender Innentendenz oder die schwere Folge bei erfolgsqualifizierten Delikten) sein. 7. Objektive und subjektive Zurechnung zum tatbestandsmäßigen Verhalten Frisch hat sich eindringlich für eine Straftatsystematik ausgesprochen, die auf den normtheoretischen Grundkategorien „Verhaltensnorm – Sanktionsnorm“ aufbaut und innerhalb derer zum Verstoß gegen die Verhaltensnorm (= tatbestandsmäßiges Verhalten) als Fundament jeder Straftat eine Reihe weiterer teils objektiver, teils subjektiver Straftatvoraussetzungen hinzutritt,78 die jeweils für die Strafbedürftigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens bedeutsam sind. Je nachdem, ob subjektive oder objektive Umstände die Strafbedürftigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens beeinflussen, müssen sie dem durch das tatbestandsmäßige Verhalten verwirklichten Unrecht entweder subjektiv oder objektiv (hin)zugerechnet werden. Bei der subjektiven Zurechnung geht es darum, ob der spezifische Vorsatz des Täters, sein Verhalten möge gerade in einer bestimmten Weise oder für ein bestimmtes Tatobjekt gefährlich sein, normativ gerade auf einer diesem Vorsatz entsprechenden individuellen Fahrlässigkeit seines Verhaltens aufbaut. Bei der objektiven Zurechnung geht es dagegen darum, ob das subjektiv gefährliche und daher verbotene Verhalten zu entsprechenden Außenwelterfolgen geführt 78
Frisch (Fn. 24), S. 505.
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hat, so dass „die Sinnhaftigkeit des Verbots … überzeugend auch an den Folgen aufweisbar ist“.79 Zu diesen Folgen, deren Eintritt „aus der Sicht ex post“ zu beurteilen ist,80 zählt neben etwaigen Rechtsgutsbeeinträchtigungen auch schon eine seiner subjektiven korrespondierende objektive Gefährlichkeit des verbotenen Verhaltens – indem sich die ontologischen und nomologischen Annahmen des Täters, auf deren Basis sich dessen Verhalten als individuell fahrlässig darstellte, im Nachhinein als berechtigt erweisen.
V. Fazit Ganz im Sinne Frischs kreisen damit alle „Fragen der sog. missbilligten Gefahrschaffung gar nicht erst um Probleme der Erfolgszurechnung, sondern um die Frage, ob wir es überhaupt mit einem tatbestandsmäßig missbilligten Handeln zu tun haben“.81 Und ungeachtet der hier geführten Diskussion darüber, woran die tatbestandsmäßige Missbilligung eines Handelns anknüpft, bleibt es Frischs Verdienst, der Kategorie des tatbestandsmäßigen Handelns endlich den ihr gebührenden Rang verschafft zu haben.82 Damit hat Frisch der Strafrechtsdogmatik geradezu im Alleingang eine gänzlich neue Bühne eröffnet – und überhaupt erst das „Umräumen von Möbeln“83 auf dieser Bühne ermöglicht, das dem vorstehenden Beitrag in Anknüpfung an und zu Ehren von Wolfgang Frisch allenfalls noch zu unternehmen übrig blieb.
79
Frisch (Fn. 19), S. 585. Frisch (Fn. 19), S. 605. 81 Frisch, JuS 2011, 210. 82 Frisch (Fn. 19), V. 83 Frisch (Fn. 19), V.
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Das „tatbestandsmäßige Verhalten“ im Strafrecht Von Kurt Schmoller Eines der zentralen strafrechtsdogmatischen Anliegen von Wolfgang Frisch geht dahin, das „tatbestandsmäßige Verhalten“ inhaltlich näher zu konturieren und dessen Bedeutung als eigenständige dogmatische Kategorie herauszuarbeiten.1 Tatsächlich wird in der Strafrechtslehre ebenso wie in der Gerichtspraxis häufig die Wendung gebraucht, jemand habe ein „tatbestandsmäßiges Verhalten“ gesetzt. In der Regel geschieht dies aber ohne nähere Reflexion und ohne diesen Begriff – insbesondere im Hinblick auf die inhaltliche Trennung von „Verhalten“ und „Erfolg“ – näher zu hinterfragen. Die folgenden Überlegungen greifen das Anliegen von Wolfgang Frisch auf. Das Phänomen des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ soll weiter präzisiert und abgegrenzt werden; ferner ist zu fragen, welcher Nutzen für die Rechtsanwendung mit einer solchen Abgrenzung verbunden ist.
I. Begriff des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ 1. Erfüllung eines strafrechtlichen Tatbestands In einem zunächst unspezifischen Sinn kann man als „tatbestandsmäßiges Verhalten“ eine solche Verhaltensweise bezeichnen, die einen strafrechtlichen Tatbestand erfüllt.2 Das Verhalten ist in diesem Sinn deshalb „tatbestandsmäßig“, weil es zur Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale geführt hat.3 Zur Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens müssen danach alle Merkmale eines Tatbestands geprüft werden. Zu diesen gehört bei Erfolgsdelikten auch der tatbestandsmäßige Erfolg. In diesem Sinn erscheint ein Verhalten somit nur dann „tatbestandsmäßig“ i.S. 1
Grundlegend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988; ferner Frisch, FS Roxin, 2001, S. 213 (231 ff.); Frisch, Zum gegenwärtigen Stand der Diskussion und zur Problematik der objektiven Zurechnungslehre, GA 2003, 719 (733 ff.). 2 Z. B. Fuchs, Österreichisches Strafrecht, AT I, 8. Aufl. 2012, Kap. 6 Rn. 15; Schönke/ Schröder/Lenckner/Eisele, StGB, 28. Aufl. 2010, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 12; Triffterer, Österreichisches Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1994, Kap. 6 Rn. 43; Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 40. Aufl. 2010, Rn. 115. Betont in diese Richtung Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 51. 3 Frisch, FS Roxin, 2001, S. 234, bezeichnet dies zur Verdeutlichung als ein „in jeder Hinsicht tatbestandsmäßiges Verhalten“ (Hervorhebung im Original).
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eines Erfolgsdelikts, wenn es (in zurechenbarer Weise) zum tatbestandsmäßigen Erfolg geführt hat. Bleibt der Erfolg aus, ist das Verhalten eben nicht vollständig „tatbestandsmäßig“. Beispielsweise könnte ein Verhalten nur dann als „tatbestandsmäßig“ i.S. eines Tötungsdelikts beurteilt werden, wenn das Opfer tatsächlich getötet wurde. Solange das Opfer nicht gestorben und der Tatbestand des Tötungsdelikts daher nicht erfüllt ist, könnte das Verhalten nicht als „tatbestandsmäßiges Verhalten“ i.S. eines Tötungsdelikts bezeichnet werden. „Tötungshandlung“ wäre in diesem Sinn nur ein Verhalten, durch das ein anderer tatsächlich getötet wurde.4 2. Abschichtung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ vom tatbestandsmäßigen Erfolg Die Gleichsetzung von „tatbestandsmäßigem Verhalten“ und „Verhalten, das den Tatbestand erfüllt“ ist inhaltlich unverfänglich, bringt aber keinen Erkenntnisgewinn.5 Eigenständige Bedeutung erlangt das „tatbestandsmäßige Verhalten“ nur dann, wenn man es enger fasst, nämlich strikt auf die Verhaltensweise des Täters beschränkt, und es dem tatbestandsmäßigen Erfolg als ein vom Verhalten des Täters zeitlich und räumlich abtrennbares Ereignis gegenüberstellt. Bei dieser Konzeption ist ein strafrechtlicher Tatbestand dann erfüllt, wenn der Täter ein „tatbestandsmäßiges Verhalten“ gesetzt hat und zusätzlich ein allenfalls vorausgesetzter tatbestandsmäßiger Erfolg herbeigeführt wurde. Das Ausbleiben des Erfolgs ändert bei dieser Begriffsbildung nichts daran, dass der Täter jedenfalls ein „tatbestandsmäßiges Verhalten“ gesetzt hat.6 Trennt man auf diese Weise zwischen „tatbestandsmäßigem Verhalten“ und tatbestandsmäßigem Erfolg, so müssen jene Tatbestandsvoraussetzungen, die das Verhalten betreffen, von jenen unterschieden werden, die dem Erfolg zuzuordnen sind. Kriterium für diese Abschichtung muss sinnvollerweise die zeitliche Perspektive sein: Tatbestandliche Umstände, die bereits zum Zeitpunkt des Täterverhaltens vorliegen müssen, präzisieren das „tatbestandsmäßige Verhalten“. Umstände dagegen, die zeitlich nach dem Täterverhalten eintreten, weil sie erst durch dieses herbeigeführt werden, sind der Erfolgsseite zuzuordnen; über ihren Eintritt kann zum Zeitpunkt des tatbestandsmäßigen Verhaltens noch keine definitive Aussage getroffen 4 Ausdrücklich Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 51: „Ohne einen Todeserfolg und dessen Zurechnung gibt es keine Tötungshandlung und kein ,tatbestandsmäßiges Verhalten‘ (sondern höchstens eine Tötungsversuchshandlung …)“. Ebenso Hirsch, GS Meurer, 2002, S. 3 (14 Fn. 32). 5 Vgl. Frisch, FS Roxin, 2001, S. 234: „Freilich ist das tatbestandsmäßige Verhalten dann nur ein Synonym für die objektive Tatbestandsmäßigkeit.“ 6 Diese Konzeption des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ ist ein zentrales Anliegen von Frisch (Nachweise in Fn. 1). Ausführlich ebenso Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 8 ff. und 72 f. In Österreich wird diese Sicht hervorgehoben von Burgstaller, Normative Lehren der objektiven Zurechnung, JAP 1992/93, 136 (138); E. Steininger, Strafrecht, AT I, 2008, Kap 9 Rn. 3; ders., Sozialadäquanz und berufstypisches Handeln, 2005, S. 49.
Das „tatbestandsmäßige Verhalten“ im Strafrecht
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werden. Schlagwortartig lässt sich formulieren, das tatbestandsmäßige Verhalten kann schon ex ante, der Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs dagegen erst ex post beurteilt werden. Aus dieser Sicht gehören etwa eine tatbestandlich geforderte Modalität der Handlung, eine bestimmt beschaffene Handlungssituation sowie bestimmte Eigenschaften des Täters, Opfers oder Tatobjekts (z. B. das Alter des Opfers) zum „tatbestandsmäßigen Verhalten“. Daraus resultierende Ereignisse, die erst im Anschluss an das Täterverhalten eintreten, wie Verletzungen, Beschädigungen, Gefährdungen oder sonstige besondere Situationen, bilden dagegen den tatbestandsmäßigen Erfolg. Beispielsweise wäre das „tatbestandsmäßige Verhalten“ beim Betrug allein die Täuschungshandlung, also die Abgabe einer unrichtigen Erklärung. Ob sich hingegen der Adressat täuschen lässt (also ein Irrtum hervorgerufen wird), ob er sich zu einer Verfügung entschließt und letztlich ein Vermögensschaden eintritt, betrifft die tatbestandliche Erfolgsseite. 3. Sinn der Abgrenzung: Indiz für „rechtswidriges Verhalten“ Freilich stellt sich die Frage, welcher Gewinn mit der Abschichtung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ von den erfolgsorientierten Tatbestandsmerkmalen verbunden ist.7 Wolfgang Frisch sieht den Gewinn letztlich in der Verdeutlichung einer Handlungsanleitung für den Rechtsunterworfenen: „Für den Bürger ist es durchaus von Interesse zu wissen, ob er rechtlich einwandfrei gehandelt hat oder ob das nicht der Fall ist“.8 Neben der Frage der Erfolgszurechnung habe das Strafrecht die „Aufgabe der Differenzierung zwischen tatbestandlich erfaßtem und schon gar nicht tatbestandsmäßigem Verhalten“.9 Bei der vom tatbestandsmäßigen Erfolg losgelösten Beurteilung, ob ein „tatbestandsmäßiges Verhalten“ vorliegt, gehe es um „die Frage nach der Reichweite und den Grenzen der rechtlich anerkannten Freiheit (und deren Einhaltung oder Überschreitung)“; die Abgrenzung sei von dem „Erkenntnisinteresse geleitet …, die Freiheit des Einen mit der Freiheit (und den Gütern) des Anderen nach einem allgemeinen Gesetz in ein für alle Beteiligten (also wechselseitig) akzeptables Verhältnis zu bringen“.10 Gegen diesen Ansatz, bei der Abschichtung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ gehe es um eine verlässliche Handlungsanleitung für den Einzelnen, lässt sich zunächst allerdings ein Einwand vorbringen: Für die Handlungsanleitung ist nämlich 7
Keinen Sinn sieht darin etwa Schünemann, Über die objektive Zurechnung, GA 1999, 207 (216), der die Kontroverse um die Abgrenzung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ vom Erfolg als „Scheinproblem“ und als einen „müßigen Streit“ einstuft. Auch Schönke/Schröder/ Lenckner/Eisele (Fn. 2), StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 92, bezweifeln, ob diese Abgrenzung „in der Sache einen wesentlichen Unterschied begründet“. 8 Frisch, FS Roxin, 2001, S. 234 (Hervorhebung im Original). 9 Frisch, a.a.O. 10 Frisch, GA 2003, 734 (Hervorhebung im Original); ähnlich ders., FS Roxin, 2001, S. 236.
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primär nicht die Kategorie des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“, sondern jene des „rechtswidrigen Verhaltens“ relevant. Denn bei der Abgrenzung zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Verhalten fallen die Würfel, ob sich der Einzelne in einer bestimmten Weise verhalten darf oder nicht. Ebenso führt das Bemühen, „die Freiheit des Einen mit der Freiheit … der Anderen … in ein für alle Beteiligten … akzeptables Verhältnis zu bringen“11, primär zur Trennung von rechtmäßigen und rechtswidrigen Verhaltensweisen; ob das Verhalten einem strafrechtlichen Tatbestand unterfällt, also ein „tatbestandsmäßiges Verhalten“ darstellt, ist damit nicht gesagt. Es gibt zahlreiche rechtswidrige (also verbotene) Verhaltensweisen, die von keinem strafrechtlichen Tatbestand erfasst werden (z. B. fahrlässige Sachbeschädigung, eigenmächtige Benützung eines fremden Gegenstands, Nichterfüllung einer zivilrechtlichen Schuld etc.). Umgekehrt gibt es (straf-)tatbestandsmäßige Verhaltensweisen, die in der jeweiligen Situation wegen Eingreifens eines Rechtfertigungsgrunds (z. B. Notwehr) als rechtmäßig zu beurteilen sind. Auf die Kategorie des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ kann sich der Einzelne, wenn er eine verbindliche Handlungsanleitung sucht, deshalb nicht verlassen. Der Umstand, dass mit dem „tatbestandsmäßigen Verhalten“ keine verlässliche Handlungsanleitung verbunden ist, hängt damit zusammen, dass der heute übliche Straftataufbau (Tatbestandsmäßigkeit – Rechtswidrigkeit – Schuld) mehr an den praktischen Bedürfnissen der Rechtsanwendung als an rechtstheoretischen Grundlagen orientiert ist. Würde man nämlich aus einer rechtstheoretischen Sicht eine Einteilung menschlicher Verhaltensweisen vornehmen, so wäre die erste und grundlegende Unterscheidung jene zwischen rechtswidrigen und rechtmäßigen Verhaltensweisen. Für diese Einteilung ist zwar auch die Existenz und Reichweite der Straftatbestände relevant, ebenso sind aber zivil-, verwaltungs- und verfassungsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, insbesondere alle – wo auch immer geregelten – Rechtfertigungsgründe. Ist die grundlegende Einteilung in rechtmäßige und rechtswidrige Verhaltensweisen getroffen, können die rechtswidrigen daraufhin geprüft werden, ob sie von einem strafrechtlichen Tatbestand erfasst werden (oder ob sie „bloß“ rechtswidrig sind, ohne einem Straftatbestand zu unterfallen). Zusätzlich wäre zu prüfen, ob das rechtswidrige (und straftatbestandsmäßige) Verhalten schuldhaft erfolgt ist. Würde sich ein Straftataufbau an diesen rechtstheoretischen Grundlagen orientieren, wären zunächst die Rechtswidrigkeit und erst dann die Tatbestandsmäßigkeit sowie ferner die Schuld zu prüfen. Bei einem solchen Aufbau würde bereits die erste Stufe, nämlich die Beurteilung eines Verhaltens als rechtswidrig (oder eben als rechtmäßig), die erwünschte Handlungsanleitung enthalten. Wegen der bereits geklärten Rechtswidrigkeit könnte dann auch dem „tatbestandsmäßigen Verhalten“ eine verbindliche Handlungsanleitung entnommen werden: Die Tatbestandsmäßigkeit der rechtswidrigen Verhaltensweise würde signalisieren, dass ein solches Verhalten nicht nur rechtswidrig, sondern in qualifizierter Weise rechtswidrig, nämlich sozial unerträglich und deshalb strafrechtsrelevant ist. 11
Siehe Frisch, a.a.O.
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Trotz dieser rechtstheoretischen Überlegungen sprechen freilich gute Argumente, insbesondere ein ökonomisches Vorgehen bei der Rechtsanwendung, für die Beibehaltung des üblichen Straftataufbaus, bei dem das tatbestandsmäßige Verhalten an den Beginn der Prüfung gestellt wird: Denn falls ein Verhalten von gar keinem Straftatbestand erfasst ist, kann es für die strafrechtliche Beurteilung dahingestellt bleiben, ob dieses Verhalten rechtswidrig oder rechtmäßig war (was anhand der gesamten Rechtsordnung und deshalb nicht immer einfach zu beurteilen ist). Im Hinblick auf die Rechtsanwendung ist deshalb an der traditionellen Reihenfolge der Deliktsprüfung (Tatbestandsmäßigkeit – Rechtswidrigkeit – Schuld) festzuhalten. Dann muss man aber hinnehmen, dass die erste Kategorie des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ noch keine verlässliche Handlungsanleitung liefert. Der von Wolfgang Frisch betonte Grund für eine Abschichtung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ vom „tatbestandsmäßigen Erfolg“, nämlich eine Handlungsanleitung zu erhalten, wird dadurch relativiert. Allerdings ist das Anliegen von Wolfgang Frisch in einer etwas abgeschwächten Form aufrechtzuerhalten, sodass sich letztlich doch ein Grund ergibt, das „tatbestandsmäßige Verhalten“ vom „tatbestandsmäßigen Erfolg“ abzuschichten. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die Tatbestandsmäßigkeit im (üblichen) Straftataufbau eine „Indizwirkung“ für die Rechtswidrigkeit entfaltet, d. h. aus der Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens wird auf dessen Rechtswidrigkeit geschlossen; diese Indizwirkung wird nur in Ausnahmefällen durch das Eingreifen eines Rechtfertigungsgrunds durchbrochen.12 Nun ist die Rechtswidrigkeit des Verhaltens aber jedenfalls eine Eigenschaft der Verhaltensweise selbst, denn sie muss ex ante festgestellt werden können. Insbesondere kann die Rechtswidrigkeit des Verhaltens nicht davon abhängen, ob nachträglich ein Erfolg eintritt, was nämlich erst ex post beurteilt werden kann. Daraus ergibt sich, dass die im Straftataufbau angenommene Indizwirkung der Tatbestandsmäßigkeit für die Rechtswidrigkeit genau genommen nicht von der gesamten Tatbestandserfüllung, sondern allein vom „tatbestandsmäßigen Verhalten“ (im strikt verhaltensbezogenen Sinn) ausgehen muss. Der Eintritt eines tatbestandsmäßigen Erfolgs kann zwar über die (vollständige) Tatbestandsmäßigkeit, damit über die Schwere des Unrechts sowie über die Strafbarkeit (mit-)entscheiden, das Urteil über die Rechtswidrigkeit des Verhaltens muss jedoch bereits ex ante abgegeben werden. Die Abschichtung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ (vom tatbestandsmäßigen Erfolg) konturiert deshalb jene Basis, von der die Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit des Verhaltens ausgeht. Die Indizwirkung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ für dessen Rechtswidrigkeit ist vor allem deshalb bedeutsam, weil es im Straftataufbau nach der Tatbestandsmäßigkeit nur mehr sehr beschränkte Möglichkeiten gibt, diese Indizwirkung zu entkräften und die Rechtswidrigkeit auszuschließen, nämlich nur beim ausnahmsweisen 12 Z. B. Fuchs (Fn. 2), Kap. 10 Rn. 19; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 2), StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 46; Triffterer (Fn. 2), Kap. 6 Rn. 45 und Kap. 11 Rn. 4; Wessels/Beulke (Fn. 2), Rn. 121; weiter ausdifferenziert Gropp, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn. 1 ff.
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Eingreifen eines Rechtsfertigungsgrunds. Das „tatbestandsmäßige Verhalten“ muss daher so ausgestaltet sein, dass es – abgesehen von ausnahmsweise eingreifenden Rechtfertigungsgründen – die Rechtswidrigkeit der Verhaltensweise zutreffend abbildet; eine Korrektur außerhalb der Rechtfertigungsgründe ist nicht mehr möglich. Daraus folgt, dass die Abgrenzung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ nicht leichtfertig vorgenommen werden darf, vielmehr müssen bereits solche Gesichtspunkte, die die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens ausmachen, mitberücksichtigt werden: Es muss gesichert sein, dass ein „tatbestandsmäßiges Verhalten“, wenn nicht aufgrund eines Ausnahmefalls ein Rechtfertigungsgrund eingreift, tatsächlich den Anforderungen eines „rechtswidrigen Verhaltens“ entspricht. Damit wird der Sinn der Abschichtung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ vom „tatbestandsmäßigen Erfolg“ klar: Es geht darum, jene Verhaltensanforderungen herauszuschälen, die ex ante feststellbar sind (also nicht von einem dem Verhalten nachfolgenden Erfolgseintritt abhängen) und die dieses Verhalten – vorbehaltlich des Eingreifens eines Rechtfertigungsgrunds – tatsächlich als ein „rechtswidriges Verhalten“ erscheinen lassen. 4. Trennung von objektiver und subjektiver Komponente Allgemein anerkannt ist heute, dass es neben der objektiven Seite des Tatbestands auch subjektive Tatbestandsmerkmale gibt; zu diesen gehört insbesondere der für das jeweilige Delikt erforderliche Vorsatz.13 Bei subjektiven Tatbestandsmerkmalen ist stets wesentlich, dass sie im Zeitpunkt des Täterverhaltens vorliegen, nicht zu irgendeinem späteren Zeitpunkt. Auch wenn sich ein Vorsatz auf die Herbeiführung künftiger Ereignisse, etwa einen tatbestandsmäßigen Erfolg, erstreckt, ist doch erforderlich, dass dieser Vorsatz zum Zeitpunkt des Täterverhaltens vorliegt, weil der Täter sonst nicht „mit dem entsprechenden Vorsatz handelt“. Der subjektive Tatbestand ist deshalb nie Bestandteil des tatbestandsmäßigen Erfolgs, sondern gehört stets zum „tatbestandsmäßigen Verhalten“. Daher lassen sich innerhalb des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ selbst eine objektive und eine subjektive Komponente unterscheiden.
II. „Tatbestandsmäßiges Verhalten“ bei Erfolgsverursachung Häufig enthalten strafrechtliche Tatbestände als Erfordernis, dass ein bestimmter Erfolg herbeigeführt wurde. Ist ein Tatbestand überhaupt auf das Erfordernis einer Erfolgsherbeiführung beschränkt, handelt es sich um ein „reines Verursachungsde13 Z. B. Fuchs (Fn. 2), Kap. 10 Rn. 50; Kienapfel/Höpfel/Kert, Strafrecht, AT, 14. Aufl. 2012, Z 8 Rn. 8; Roxin (Fn. 2), § 10 Rn. 61 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 2), StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 52 ff.; Triffterer (Fn. 2), Kap. 6 Rn. 36.
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likt“, z. B. „wer einen anderen tötet“ bzw. „den Tod eines anderen herbeiführt“, „wer einen anderen am Körper verletzt“, „wer einem anderen die persönliche Freiheit entzieht“, „wer eine fremde Sache beschädigt“ etc. Da die Indizwirkung für die erforderliche Rechtswidrigkeit des Verhaltens nicht vom tatbestandsmäßigen Erfolg, sondern stets nur vom tatbestandsmäßigen Verhalten ausgeht (oben I. 3.), stellt sich die Frage, worin das „tatbestandsmäßige Verhalten“ eines reinen Verursachungsdelikts besteht. 1. Ausgangspunkt: Tatbestandswortlaut Ein reines Verursachungsdelikt enthält keine ausdrückliche Umschreibung des tatbestandsmäßigen Verhaltens. Zuweilen wird deshalb formuliert, bei solchen Delikten reiche jede beliebige Handlung aus, sofern sie zum tatbestandsmäßigen Erfolg führe.14 Bemüht man sich allerdings um eine Präzisierung, so erschiene die Aussage, jede beliebige Handlung komme als „tatbestandsmäßiges Verhalten“ in Betracht, wenig sinnvoll. Denn dies würde bedeuten, dass in solchen Fällen – was die objektive Tatseite betrifft – jedes beliebige Verhalten die Rechtswidrigkeit indizieren könnte (diese könnte dann nur durch das ausnahmsweise Eingreifen eines Rechtfertigungsgrunds ausgeschlossen werden). Es überzeugt aber (selbst beim Vorliegen zusätzlicher subjektiver Merkmale) nicht, jede beliebige Verhaltensweise als „grundsätzlich rechtswidrig“ einzustufen. Bei genauerer Analyse des Tatbestandswortlauts gelangt man allerdings ohnehin zu einem revidierten Ergebnis. Denn es ist heute allgemein anerkannt, dass der Ausdruck „Herbeiführung eines Erfolgs“ (oder ähnliche Formulierungen) nicht jede faktische Kausalität umfasst (was viel zu weit reichen würde). Vielmehr meint die „Herbeiführung eines Erfolgs“ eine so gestaltete Kausalität, dass der Erfolg wirklich als „Werk des Täters“ erscheint, also eine (im Rahmen der objektiven Zurechnung) rechtlich bewertete Kausalität. Abgesehen von Abweichungen im Detail besteht weitgehende Übereinstimmung, dass jemand nur dann einen Erfolg im rechtlichen Sinn „herbeiführt“, wenn erstens seine Handlung ein unerlaubtes (= rechtlich missbilligtes = sozial inadäquates) Risiko solcher Erfolge geschaffen hat und wenn zweitens der eingetretene Erfolg als Realisierung gerade dieses Risikos erscheint.15 Das im Hinblick auf die Erfolgsherbeiführung unerlaubt gefährliche Verhalten wird insbesondere bei Fahrlässigkeitsdelikten auch als „(objektiv) sorgfaltswidriges“ Verhalten bezeichnet.16 Diese tatbestandlichen Voraussetzungen lassen sich letztlich auf 14 Z. B. Triffterer (Fn. 2), Kap. 3 Rn. 84; ähnlich Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1993, Abschn. 6 Rn. 78. 15 Z. B. Burgstaller, JAP 1992/93, 137 f.; Gropp (Fn. 12), § 5 Rn. 42; Kienapfel/Schroll, Strafrecht, BT I, 3. Aufl. 2012, § 75 Rn. 14; Kühl, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2005, § 4 Rn. 43; Wiener Kommentar zum StGB/Moos, 2. Aufl., § 75 Rn. 15; Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 47; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 2), StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 92; Wessels/Beulke (Fn. 2), Rn. 179 u.v.m. 16 Z. B. Burgstaller, JAP 1992/93, 138 f.; Frisch (Fn. 1), Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 33 ff. und 36 ff.; Roxin (Fn. 2), § 24 Rn. 8 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 2),
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eine Auslegung der Wendung „Herbeiführung eines Erfolgs“ (oder ähnlich) zurückführen. 2. Begrenzung auf „(objektiv) sorgfaltswidriges“ Verhalten Nun könnte man an der Formulierung festhalten, dass grundsätzlich jedes beliebige Verhalten tatbestandsmäßig sein könne, und lediglich als zusätzliches Erfordernis sehen, dass der Erfolg in objektiv zurechenbarer Weise herbeigeführt wird. Es ist allerdings das Verdienst von Wolfgang Frisch, darauf hingewiesen zu haben, dass die erste Voraussetzung der Erfolgszurechnung, nämlich die Vornahme eines unerlaubt erfolgsgefährlichen Verhaltens, in Wahrheit nicht erst den Erfolg, sondern bereits das „tatbestandsmäßige Verhalten“ kennzeichnet. Bei den Fahrlässigkeitsdelikten wird dies seit langem betont, wenn auch bei reinen Verursachungsdelikten das Vorliegen eines „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ von einer „Sorgfaltspflichtverletzung“ bzw. einem „objektiv sorgfaltswidrigen Verhalten“ abhängig gemacht wird.17 Wolfgang Frisch hat verdeutlicht, dass diese Sicht auch auf die vorsätzlichen Erfolgsdelikte zu übertragen ist: Auch dort betrifft die Frage der Schaffung eines unerlaubten (= rechtlich missbilligten = sozial inadäquaten) Risikos (gleichbedeutend mit Sorgfaltspflichtverletzung) nicht erst eine Frage der Erfolgsherbeiführung, sondern bereits eine solche des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“. Mit der Einschränkung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ aller Erfolgsdelikte auf ein „(objektiv) sorgfaltswidriges“ Verhalten wird erreicht, dass die Indizfunktion des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ für die Rechtswidrigkeit (oben I. 3.) schlüssig bejaht werden kann. Denn ein Verhalten, mit dem eine nicht mehr akzeptable Gefahr eines rechtsgutverletzenden Erfolges verbunden ist, erscheint grundsätzlich rechtswidrig; diese Indizfunktion müsste durch ausnahmsweise eingreifende Rechtfertigungsgründe durchbrochen werden. 3. Unabhängigkeit vom „subjektiven Tatbestand“ Die erwähnte Einschränkung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ auf ein „unerlaubt erfolgsgefährliches“ bzw. „(objektiv) sorgfaltswidriges Verhalten“ betrifft die objektive Tatbestandsseite und ist grundsätzlich unabhängig von den tatbestandlichen Anforderungen auf der subjektiven Tatseite (Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit).18 StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 93; Schünemann, GA 1999, 217; E. Steininger, Strafrecht, AT II, 2012, Kap. 17 Rn. 13; Triffterer (Fn. 2), Kap. 8 Rn. 81 und 101 ff. 17 Z. B. Wiener Kommentar zum StGB/Burgstaller, 2. Aufl., § 6 Rn. 33 ff.; Fuchs (Fn. 2) Kap. 12 Rn. 10 ff.; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 2), StGB, § 15 Rn. 116 m.w.N. 18 Eine abweichende Konzeption vertritt allerdings Wiener Kommentar zum StGB/Moos (Fn. 15), § 75 Rn. 15, wonach die behandelten Fragen als „objektive Unrechtszurechnung“ erst im Anschluss an den Vorsatz zu prüfen seien und das Ergebnis unterschiedlich ausfallen könne, je nachdem, ob der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt habe. Für eine zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten differenzierende Sicht auch Schünemann, GA 1999, 220 f.
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Demgemäß ist allgemein anerkannt, dass selbst ein vorsätzlich einkalkulierter oder sogar angestrebter Erfolg nicht angelastet werden kann, wenn er aus einem sozialadäquaten (= nicht unerlaubt erfolgsgefährlichen = sorgfaltsgemäßen) Verhalten resultiert. Das bekannte Lehrbuchbeispiel bildet der „Erbonkelfall“19 : Um den Erbonkel endlich beerben zu können, schenkt ihm der Neffe eine Flugreise mit einer exotischen, der Statistik nach fehleranfälligen Fluglinie. Tatsächlich stürzt der Onkel wie angestrebt ab. Trotz Tötungsabsicht liegt schon auf der objektiven Tatseite kein „tatbestandsmäßiges Verhalten“ im Sinn des Mordes (§ 75 öStGB, § 211 dStGB) bzw. Totschlags (§ 212 dStGB) vor.
III. „Tatbestandsmäßiges Verhalten“ bei sonstigen Tatbestandsmerkmalen? Neben oder anstelle des Erfordernisses einer Erfolgsherbeiführung enthalten viele strafrechtliche Tatbestände nähere Umschreibungen des tatbestandsmäßigen Verhaltens selbst, indem die Modalität der Tathandlung, Ort, Zeit oder sonstige situative Umstände wie z. B. ein eingesetztes Tatmittel, ferner eine Eigenschaft des Opfers bzw. Tatobjekts oder eine solche des Täters umschrieben wird. Sogenannte „schlichte Tätigkeitsdelikte“ setzen keinen Erfolgseintritt voraus, sondern umschreiben allein die Umstände des tatbestandsmäßigen Verhaltens.20 So ist etwa das tatbestandsmäßige Verhalten in § 223 Abs. 2 öStGB als „Gebrauch einer falschen oder verfälschten Urkunde im Rechtsverkehr“, jenes des § 207 Abs. 1 öStGB (unter anderem) als „Vornahme einer geschlechtlichen Handlung an einer unmündigen Person“, jenes des § 211 Abs. 3 öStGB als „Vollziehung des Beischlafs mit seinem Bruder oder mit seiner Schwester“, jenes des § 164 Abs. 2 öStGB (unter anderem) als „Kauf einer Sache, die ein anderer durch eine Vermögensstraftat erlangt hat“ umschrieben. 1. Ausgangspunkt: Tatbestandswortlaut Der Tatbestandswortlaut scheint hinsichtlich jener Tatbestandsmerkmale, die die Verhaltensmodalität, die Situation des Verhaltens, Eigenschaften des Opfers bzw. Tatobjekts oder des Täters umschreiben, klar zu sein: Dem Wortlaut nach ist das Verhalten dann tatbestandsmäßig, wenn diese Umstände tatsächlich vorliegen. Anknüp19
Vgl. z. B. bei Burgstaller, JAP 1992/93, 139; Fuchs (Fn. 2), Kap. 11 Rn. 5; Gropp (Fn. 12), § 5 Rn. 43; Kienapfel/Höpfel/Kert (Fn. 13), Z 10 Rn. 18; Kühl (Fn. 15), § 4 Rn. 48; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 2), StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 93; Triffterer (Fn. 2), Kap. 8 Rn. 104; Wessels/Beulke (Fn. 2), Rn. 184. 20 Nicht weiterführend, sondern eher verwirrend erscheint diesbezüglich die Formulierung von Roxin (Fn. 2), § 10 Rn. 88 und 104, dass auch die schlichten Tätigkeitsdelikte einen „Erfolg“ aufwiesen, der aber „in der Täterhandlung selbst“ liege. Damit wird die besondere Struktur der schlichten Tätigkeitsdelikte verdeckt, ohne dass dies zur Lösung der inhaltlichen Fragen beiträgt.
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fend an die vorstehend erwähnten Beispiele würde dies bedeuten, dass ein „tatbestandsmäßiges Verhalten“ stets dann gegeben ist, wenn bei § 223 Abs. 2 öStGB die gebrauchte Urkunde tatsächlich falsch ist, wenn bei § 207 Abs. 1 öStGB die geschlechtliche Handlung an einer tatsächlich unmündigen Person vorgenommen wird, wenn bei § 211 Abs. 3 öStGB tatsächlich ein Geschwisterverhältnis besteht oder wenn bei § 164 Abs. 2 öStGB die Sache tatsächlich aus einer vorangegangenen Vermögensstraftat stammt. Dieses „unkomplizierte“, am Wortlaut der Tatbestände orientierte Verständnis des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ ist bei der praktischen Rechtsanwendung üblich. Für die Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit des Täterverhaltens stellt man im Normalfall einfach darauf ab, ob die tatbestandlichen Merkmale tatsächlich vorlagen. Erst bei genauerer Betrachtung entstehen Zweifel, ob mit dieser Sicht das „tatbestandsmäßige Verhalten“ wirklich exakt erfasst wird. Es sind nämlich Fälle vorstellbar, in denen die im Tatbestand umschriebenen Umstände zwar tatsächlich vorlagen, dies aber zum Handlungszeitpunkt (ex ante) vom Standpunkt des Täters aus in keiner Weise erkennbar war. So kann es sein, dass vom Täterstandpunkt aus überhaupt keine Anhaltspunkte auf das Vorliegen dieser Umstände hindeuteten oder sogar vieles gegen das Vorliegen dieser Tatbestandsmerkmale sprach. Beispielsweise wäre möglich, dass der Täter vor dem Gebrauch einer Urkunde, die ihm zunächst suspekt erschienen war, ausdrücklich nachgefragt und die Echtheit der Urkunde mehrfach bestätigt bekommen hat, obwohl sie in Wahrheit doch gefälscht war. Ebenso könnte sein, dass ein Täter vor der Vornahme einer geschlechtlichen Handlung an einer unmündigen Person diese und deren Freunde eingehend nach ihrem Alter befragt und übereinstimmend die unrichtige Auskunft bekommen hat, sie sei bereits 14 Jahre alt. In derartigen Fällen erscheint zwar der Wortlaut des objektiven Tatbestands erfüllt (weil die Urkunde tatsächlich gefälscht bzw. das Opfer tatsächlich unmündig war), dem Täter kann aber wegen seiner vorangegangenen Vergewisserung kein Verhaltensfehler angelastet werden. Da er sich hinreichend vergewissert hat, kann nicht gesagt werden, es sei rechtlich fehlerhaft gewesen, die Urkunde im Rechtsverkehr zu gebrauchen oder die geschlechtliche Handlung an der jungen Person vorzunehmen. Daraus entsteht eine Problematik, die damit zusammenhängt, dass das „tatbestandsmäßige Verhalten“ nach herrschender Meinung eine Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit des Verhaltens entfaltet (oben I. 3.). Denn klar erscheint, dass ein Verhalten, das nicht als rechtlicher Verhaltensfehler zu beurteilen ist (weil die Tatbestandsverwirklichung ex ante vom Täterstandpunkt aus nicht erkennbar war), letztlich nicht als rechtswidrig bewertet werden kann. Wenn aber – bei starrem Festhalten am Tatbestandswortlaut – auch ein solches Verhalten (das keinen Verhaltensfehler enthält) den Tatbestand erfüllen würde, ließe sich schwer sagen, es handle sich um ein grundsätzlich rechtswidriges Verhalten, bei dem die Rechtswidrigkeit nur durch das ausnahmsweise Eingreifen eines Rechtsfertigungsgrunds durchbrochen werden kann. Eher erscheint demgegenüber plausibel, dass eine Indizwirkung hinsichtlich der Rechtswidrigkeit stets nur von einem Verhalten ausgehen kann, dem – ex ante bezogen auf die in der Situation des Handelnden erkennbaren Umstände –
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ein Verhaltensfehler angelastet werden kann. Denn ob ein Verhalten rechtswidrig oder rechtmäßig ist, muss sich stets bei einer ex-ante-Betrachtung vom Standpunkt des Täters erkennen lassen; sonst ist die beabsichtigte Handlungsanleitung von vornherein wirkungslos. Bei der Umschreibung eines tatbestandsmäßigen Erfolgs hat sich der Tatbestandswortlaut als flexibel genug erwiesen, um das „tatbestandsmäßige Verhalten“ auf ein ex ante fehlerhaftes Verhalten zu beschränken: Da die „Herbeiführung“ eines Erfolgs stets dessen zurechenbare Herbeiführung meint, lässt sich daraus das Erfordernis eines Verhaltensfehlers (i.S. eines unerlaubt erfolgsgefährlichen = sozial inadäquaten = objektiv sorgfaltswidrigen Verhaltens) ableiten und das „tatbestandsmäßige Verhalten“ entsprechend eingrenzen (oben II. 2.). Soweit allerdings im Gesetz das tatbestandsmäßige Verhalten selbst umschrieben ist, erscheint der Tatbestandswortlaut weniger flexibel: Eine Urkunde ist eben auch dann „gefälscht“ und eine Person ist auch dann „unmündig“, wenn dies vom Täterstandpunkt aus ex ante nicht erkennbar war. Während es also im Zusammenhang mit einem tatbestandsmäßigen Erfolg leichter möglich ist, das „tatbestandsmäßige Verhalten“ auf ein unerlaubt gefährliches (= sozial inadäquates = objektiv sorgfaltswidriges) Verhalten zu beschränken, ist dies im Bereich tatbestandlicher Verhaltensumschreibungen schwieriger. Nach dem Tatbestandswortlaut scheint nicht relevant zu sein, ob in der konkreten Situation ein „unerlaubtes Risiko“, dass die gebrauchte Urkunde gefälscht ist oder dass die geschlechtliche Handlung an einer unmündigen Person vorgenommen wird, eingegangen wurde. Würde man allerdings starr an diesem Tatbestandswortlaut festhalten und deshalb allein auf das tatsächliche Vorliegen einer gefälschten Urkunde oder einer unmündigen Person abstellen, so ließe sich letztlich nicht aufrechterhalten, dass auch ein solches – ex ante objektiv fehlerfreies – Verhalten die Rechtswidrigkeit indiziert. Diese Problematik lässt sich nicht schon durch den Hinweis entkräften, dass die Indizwirkung ja auch von subjektiven Tatbestandsmerkmalen, etwa einem entsprechenden Vorsatz, abhänge. Denn auch bei Verhaltensweisen, die (objektiv) keinen Verhaltensfehler erkennen lassen, kann ein Täter ausnahmsweise einen entsprechenden Vorsatz haben (wie schon im oben beschriebenen „Erbonkelfall“21 deutlich wird). Beispielsweise kann jemand auch dann, wenn ihm von kompetenter Stelle versichert worden ist, eine Urkunde sei echt (sodass kein Verhaltensfehler mehr vorliegt, wenn er sie nunmehr gebraucht), ausnahmsweise (persönlich) dennoch ernstlich für möglich halten und sich damit abfinden, dass sie vielleicht doch gefälscht sei. Trotz dieses Vorsatzes erscheint jedoch der Gebrauch der Urkunde wegen der objektiven Sachlage nicht strafwürdig. Denn die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens darf generell nicht allein aus einer subjektiven Einstellung abgeleitet werden. Soll das Tatstrafrecht nicht in ein Gesinnungsstrafrecht abgleiten, muss stets zunächst ein objektiver Verhaltensfehler festgestellt werden, der die Basis der zusätzlichen subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen bildet. Nur von einem objektiv fehlerhaften Verhalten 21
Oben Fn. 19.
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(allenfalls ergänzt durch subjektive Voraussetzungen) kann deshalb eine Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit ausgehen. 2. Begrenzung auch hier auf „(objektiv) sorgfaltswidriges“ Verhalten? Die vorstehend aufgeworfene Frage, ob es für das Vorliegen eines „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ auf das tatsächliche Vorliegen der dieses Verhalten kennzeichnenden Tatbestandsmerkmale ankommt oder ob – wegen der Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit – stets nur ein fehlerhaftes Verhalten als „tatbestandsmäßiges Verhalten“ bezeichnet werden kann, ist bisher primär für den Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte diskutiert worden. Denn während bei Vorsatzdelikten das Erfordernis des Vorsatzes ohnehin eine stark einschränkende Wirkung entfaltet und deshalb im Normalfall die Frage nach einem objektiven Verhaltensfehler überlagert (zu Ausnahmefällen aber oben 1. am Ende), wird bei Fahrlässigkeitsdelikten der objektiven Tatseite mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Dies gilt besonders für die traditionelle und auch noch heute verbreitete Ansicht, nach der die subjektive Seite der Fahrlässigkeit nicht dem Tatbestand, sondern allein der Schuld zuzuordnen sei.22 Bei diesem Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts erschöpft sich nämlich die Tatbestandsmäßigkeit im objektiven Tatbestand; das objektiv tatbestandsmäßige Verhalten entfaltet ohne weitere Voraussetzungen seine Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit. Es ist deshalb verständlich, dass gerade von Vertretern dieses Fahrlässigkeitsaufbaus die Frage des objektiv tatbestandsmäßigen Verhaltens in den Vordergrund gerückt wird. Insbesondere hat sich Manfred Burgstaller näher mit dem „tatbestandsmäßigen Verhalten“ der Fahrlässigkeitsdelikte befasst und ist dabei zum Ergebnis gelangt, dass im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte stets nur ein ex ante fehlerhaftes, nämlich „objektiv sorgfaltswidriges“ Verhalten den Tatbestand erfülle.23 Burgstaller verweist ausdrücklich darauf, dass sich diese Verhaltenseinschränkung bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten schon daraus ergibt, dass der Erfolg in objektiv zurechenbarer Weise herbeigeführt werden muss und dies ein Verhalten voraussetzt, das eine deliktsspezifisch unerlaubte Gefährlichkeit beinhaltet. Ganz im Sinn von Wolfgang Frisch24 kommt also Manfred Burgstaller für die fahrlässigen Erfolgsdelikte zum Ergebnis, dass die allgemeine Voraussetzung, wonach nur ein unerlaubt gefährliches Verhalten die objektive Zurechenbarkeit eines Erfolgs begründen könne, in Wahrheit bereits das „tatbestandsmäßige Verhalten“ auf ein „objektiv sorgfaltswidriges“ Ver-
22 Für Österreich z. B. Wiener Kommentar zum StGB/Burgstaller (Fn. 17), § 6 Rn. 26 m.w.N.; für Deutschland z. B. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 2), StGB, § 15 Rn. 118 m.w.N. 23 Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 32 f.; Wiener Kommentar zum StGB/Burgstaller (Fn. 17), § 6 Rn. 33 ff. 24 Oben Fn. 1.
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halten begrenze.25 Burgstaller nimmt darüber hinaus aber auch ausdrücklich die fahrlässigen schlichten Tätigkeitsdelikte in den Blick, bei denen das Erfordernis einer objektiv sorgfaltswidrigen Handlung nicht aus den Voraussetzungen der objektiven Erfolgszurechnung abgeleitet werden kann.26 Als Beispiele nennt er Straftatbestände, die zwar heute nicht mehr in dieser Form existieren, zur Verdeutlichung aber dennoch geeignet sind: Ein Straftatbestand aus dem Lebensmittelstrafrecht erfasste das „Feilhalten nachgemachter oder verfälschter Lebensmittel unter einer zur Täuschung geeigneten Form und Bezeichnung“. Die frühere fahrlässige Hehlerei stellte darauf ab, dass jemand „fahrlässig eine Sache, die ein anderer durch eine mit Strafe bedrohte Handlung gegen fremdes Vermögen erlangt hat, kauft, zum Pfand nimmt oder sonst an sich bringt, verheimlicht oder verhandelt“.27 Burgstaller geht von der These aus, dass jedes Fahrlässigkeitsdelikt im objektiven Tatbestand nur objektiv sorgfaltswidrige Verhaltensweisen umfasse. Bei den genannten Straftatbeständen lässt sich diese Einschränkung allerdings nicht dem Wortlaut entnehmen und könne – da kein Erfolgseintritt verlangt wird – auch nicht aus dem Erfordernis der objektiven Erfolgszurechnung abgeleitet werden. Wenn aber z. B. ein Detailhändler von einem ansonsten stets verlässlichen Großhändler eine Ware mit der Zusage geliefert bekommt, es handle sich um ein bestimmtes Originalprodukt, darf er sich im Allgemeinen darauf verlassen; selbst wenn die Ware tatsächlich gefälscht war, setzt er mit dem Weiterverkauf kein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten. Burgstaller fordert deshalb, „daß man den gesetzlichen Tatbestand der genannten Bestimmung durch das aus dem Fahrlässigkeitsbegriff abgeleitete Merkmal der objektiven Sorgfaltsverletzung ergänzt und damit einschränkt“; man müsse den Tatbestand so auslegen, als würde er lauten: „wer Lebensmittel, von denen bei Einhaltung der objektiven Sorgfalt erkennbar ist, dass sie nachgemacht oder verfälscht sind, unter einer zur Täuschung geeigneten Form oder Bezeichnung feilhält“.28 Analog dazu sei der objektive Tatbestand der fahrlässigen Hehlerei auf Fälle zu beschränken, in denen die Herkunft aus einem Vermögensdelikt bei Einhaltung der objektiven Sorgfalt erkennbar war.29 Diesen Überlegungen ist zuzustimmen, weil nur ein Verhalten, das bei einer ex-ante-Betrachtung vom Standpunkt des Handelnden aus fehlerhaft erscheint, als ein die Rechtswidrigkeit des Verhaltens indizierendes „tatbestandsmäßiges Verhalten“ eingestuft werden kann.
25 Wiener Kommentar zum StGB/Burgstaller (Fn. 17), § 6 Rn. 37; ders., JAP 1992/93, 138 f. 26 Burgstaller (Fn. 23), S. 34 ff. – Soweit ein Straftatbestand nicht auf die Herbeiführung eines Erfolgs abstellt, sondern allein verhaltensbezogene Tatbestandsmerkmale aufweist, kann die „objektive Sorgfaltswidrigkeit“ deshalb nicht in der objektiven Zurechnung aufgehen. So formuliert z. B. Roxin (Fn. 2), § 24 Rn. 10: „Richtig ist, dass der Tatbestand der fahrlässigen Delikte, soweit er nicht eine zusätzliche Verhaltensbeschreibung enthält, allein durch die Lehre von der objektiven Zurechnung ausgefüllt wird“ (Hervorhebung hinzugefügt). 27 Burgstaller (Fn. 23), S. 36. 28 Burgstaller a.a.O. 29 Burgstaller a.a.O.
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Die vorangehenden Überlegungen haben allerdings gezeigt, dass dies genau genommen nicht nur für die Fahrlässigkeitsdelikte, sondern generell für ein „tatbestandsmäßiges Verhalten“ gelten muss, sofern man an der Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit des Verhaltens festhält. Soweit es um deliktische Erfolge geht, hat mittlerweile ohnehin eine Annäherung stattgefunden, weil die „Herbeiführung eines Erfolgs“ unabhängig von der subjektiven Tatseite voraussetzt, dass der Täter eine erfolgsspezifisch unerlaubte (sozial inadäquate) Gefahr geschaffen bzw. – gleichbedeutend – sich im Hinblick auf die Erfolgsherbeiführung objektiv sorgfaltswidrig verhalten hat (oben II. 2. und 3.). Bezüglich der verhaltensbezogenen Tatbestandsmerkmale, insbesondere bei schlichten Tätigkeitsdelikten, ist dieser Schritt dagegen bisher nicht erfolgt. Auch Wolfgang Frisch spricht diesen Bereich nicht eigens an. Die vom objektiven Tatbestand ausgehende Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit des Verhaltens erfordert jedoch, dass auch bei einem vorsätzlichen schlichten Tätigkeitsdelikt die Verwirklichung des objektiven Tatbestands von einem (objektiven) Verhaltensfehler des Täters abhängt. Dies setzt voraus, dass die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale ex ante vom Täterstandpunkt aus in einer Weise (objektiv) erkennbar war, dass das Täterverhalten als unerlaubt riskant im Hinblick auf die Tatbestandsverwirklichung erschien. Nur ein in diesem Sinn fehlerhaftes Verhalten kann letztlich als (objektiv) tatbestandsmäßig – und damit i. d. R. rechtswidrig – bewertet werden.30 Zieht man diese Konsequenz, die wohl rechtstheoretisch geboten erscheint, so ist z. B. der objektive Tatbestand des Gebrauchs einer falschen Urkunde nur dann erfüllt, wenn in der Situation des Täters ex ante erkennbar war, dass es sich um eine falsche Urkunde handelt; der objektive Tatbestand des sexuellen Missbrauchs Unmündiger ist nur gegeben, wenn vom Täterstandpunkt aus die Unmündigkeit des Opfers erkennbar war etc. Lagen für den Täter hingegen genügend verlässliche Anzeichen für die Echtheit der betreffenden Urkunde oder die erreichte Mündigkeit der betreffenden Person vor, sodass der Gebrauch der Urkunde bzw. die Vornahme der sexuellen Handlung nicht als objektiv sorgfaltswidrig (= nicht sozial inadäquat = nicht als unerlaubtes Risiko) erscheint, so ist der objektive Tatbestand der betreffenden Delikte nicht erfüllt.31 Auf die Frage nach der subjektiven Tatseite, insbesondere ob der Täter auch vorsätzlich gehandelt hat, kommt es dann gar nicht mehr an.
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In Österreich wird die Notwendigkeit einer selbständigen Betrachtung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ – auch bei Vorsatzdelikten – insbesondere von Burgstaller und E. Steininger befürwortet (Nachweise oben in Fn. 6). Beide sprechen in diesem Zusammenhang allerdings die Besonderheit der schlichten Tätigkeitsdelikte nicht an. 31 Zu genau diesem Ergebnis gelangt auch Triffterer (Fn. 2), Kap. 8 Rn. 81: „Führen zwei Geschwister, die von Geburt an getrennt waren, und die sich auf keinen Fall kennen konnten, den Beischlaf miteinander aus, so erfüllen sie nicht den objektiven Tatbestand der Blutschande …“. Aus der mangelnden objektiven Tatbestandsmäßigkeit der unmittelbaren Ausführungshandlung zieht Triffterer auch Konsequenzen für die Mitwirkung Dritter an diesem Delikt (nach der österreichischen Beteiligungsregelung); vgl. Triffterer, Die österreichische Beteiligungslehre, 1983, S. 88. – Allerdings ordnet Triffterer diese Überlegungen nicht (wie hier) in
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Die dargestellte Nuancierung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ kann allerdings bei der praktischen Rechtsanwendung im Regelfall unberücksichtigt bleiben. Wenn konkret kein Zweifel besteht, dass die Unechtheit der Urkunde oder die Unmündigkeit des Opfers vom Standpunkt des Täters aus erkennbar war, wird man auch künftig formulieren, dass das objektiv tatbestandsmäßige Verhalten einfach im „Gebrauch einer falschen oder verfälschten Urkunde“ oder in der „Vornahme einer geschlechtlichen Handlung an einer unmündigen Person“ besteht. In den meisten Fällen erscheint eine weitere Komplizierung nicht erforderlich. Wenn allerdings in einem Ausnahmefall zweifelhaft ist, ob die Unechtheit der Urkunde oder die Unmündigkeit des Opfers vom Standpunkt des Täters aus erkennbar war (etwa weil dieser sich ausdrücklich erkundigt und von verlässlicher Seite eine falsche Auskunft erhalten hat), so erscheint eine vertiefte Betrachtung erforderlich: Diese müsste berücksichtigen, dass nur ein solches Verhalten als „objektiv tatbestandsmäßig“ – mit Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit – eingeordnet werden kann, in dem sich ein Verhaltensfehler des Täters offenbart, weil ex ante von seinem Standpunkt aus die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale erkennbar war. 3. Bezug zum „subjektiven Tatbestand“ Wie bereits hervorgehoben, ist die dargestellte Einschränkung des objektiven Tatbestands von der subjektiven Tatseite unabhängig. Insofern gilt nichts anderes als im Bereich der Erfolgsverursachung (oben II. 3.). Ob der Täter im Einzelfall vielleicht doch vorsätzlich gehandelt hat, ferner ob allenfalls die subjektiven Voraussetzungen der Fahrlässigkeit vorliegen, ist ohne Bedeutung, wenn das Täterverhalten – weil es insgesamt objektiv sorgfaltsgemäß bzw. die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale objektiv nicht erkennbar war – gar nicht als objektiv tatbestandsmäßiges Verhalten zu beurteilen ist. Hat sich also z. B. ein Täter hinreichend über die Echtheit einer Urkunde vergewissert und gebraucht er diese dann, so ist er selbst dann nicht nach § 223 Abs. 2 öStGB strafbar, wenn die Urkunde tatsächlich doch falsch war und der Täter trotz aller gegenteiligen objektiven Hinweise persönlich dennoch ihre Falschheit ernstlich für möglich gehalten und sich damit abgefunden hat. Allein ein Vorsatz begründet dann keine Strafbarkeit, wenn das objektive Verhalten des Täters, so wie es sich von seinem Standpunkt aus darstellte, keinen Verhaltensfehler aufgewiesen hat.
IV. Subjektive Seite des tatbestandsmäßigen Verhaltens Das „tatbestandsmäßige Verhalten“ kann freilich nur vollständig erfasst werden, wenn auch dessen subjektive Seite miteinbezogen wird. Zwar kann, wie betont, die subjektive Tatseite allein nicht die Rechtswidrigkeit des Verhaltens begründen, soden Bereich des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“, sondern in jenen der „objektiven Zurechnung“ ein.
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lange kein objektiver Verhaltensfehler vorliegt.32 Basis muss deshalb im objektiven Tatbestand stets ein Verhaltensfehler des Täters sein. Die subjektive Tatseite trägt aber wesentlich zur Ausgestaltung jenes Unrechts bei, das durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert wird. Heute wird kaum mehr bezweifelt, dass der Vorsatz als subjektive Tatseite die Tatbestandsmäßigkeit und damit das Unrecht wesentlich mitprägt.33 Nicht endgültig geklärt ist indes, inwieweit die subjektive Seite des Fahrlässigkeitsdelikts, nämlich die auf die individuellen Fähigkeiten des Täters zugeschnittene „subjektive Sorgfaltswidrigkeit“, das tatbestandsmäßige Verhalten und damit das Unrecht mitgestaltet (oder nur die Schuld betrifft). 1. Die subjektive Seite der Fahrlässigkeit Einigkeit besteht darüber, dass nicht nur vorsätzliches, sondern auch fahrlässiges Handeln spezifische subjektive Voraussetzungen verlangt. Die subjektive Seite der Fahrlässigkeit wird dabei – freilich mit Unterschieden im Detail – darin gesehen, dass der Täter sich nicht nur objektiv sorgfaltswidrig, sondern auch „subjektiv sorgfaltswidrig“ verhalten hat, d. h. er muss individuell dazu fähig gewesen sein, die Sorgfaltsanforderungen einzuhalten.34 Diese „individuelle Fähigkeit zur Einhaltung der objektiven Sorgfalt“ bedarf allerdings einer Präzisierung: Zum Teil wird auch eine individuelle physische Unfähigkeit zu sorgfaltsgemäßem Verhalten als fehlende „subjektive Sorgfaltswidrigkeit“ interpretiert, etwa wenn ein Autolenker deshalb einen Unfall verursacht hat, weil er aufgrund eines Insektenstichs in das Augenlid oder eines plötzlichen Herzanfalls das Lenkrad verreißt.35 In Wahrheit geht es hier allerdings nicht um die subjektive Sorgfaltswidrigkeit, sondern um die Frage, ob überhaupt eine „Handlung“ vorliegt, somit um eine der Tatbestandsmäßigkeit vorgelagerte Frage des Handlungsbegriffs. Denn es bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder das Verreißen des Lenkrads beruhte auf einem Reflex, dann liegt gar keine „vom menschlichen Willen beherrschbare Handlung“ vor, sodass eine strafrechtliche Beurteilung aus diesem Grund ausscheidet. Oder aber das Verreißen des Lenkrads war kein Reflex, sondern „vom Willen beherrschbar“, dann ist damit gleichzeitig ausgesagt, dass es dem individuellen Täter physisch möglich gewesen wäre, dieses Verhalten zu unterlassen. Es wäre dann widersprüchlich, die subjektive Sorgfaltswidrigkeit mangels „physischer Unmöglichkeit zu sorg32
Oben II.3., III.1. am Ende und III.3. Nachweise oben in Fn. 13. 34 Für Österreich ergibt sich dieses Erfordernis ausdrücklich aus der gesetzlichen Umschreibung der Fahrlässigkeit in § 6 Abs. 1 öStGB: „Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer Acht läßt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt ist und die ihm zuzumuten ist …“ (Hervorhebung hinzugefügt). – Zum Meinungsstand in Deutschland z. B. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 2), StGB, § 15 Rn. 118 ff. und 194 ff.; Roxin (Fn. 2), § 24 Rn. 114 ff. 35 Zum Insektenstich in das Augenlid z. B. Salzburger Kommentar zum StGB/Triffterer, § 6 Rn. 90; zum Herzinfarkt während einer Autofahrt z. B. Roxin (Fn. 2), § 24 Rn. 116. 33
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faltsgemäßem Verhalten“ zu verneinen. Für die „physische Unmöglichkeit“ zu sorgfaltsgemäßem Verhalten ist deshalb innerhalb der subjektiven Sorgfaltswidrigkeit kein Raum: Bei nicht vom Willen beherrschbaren Verhaltensweisen fehlt bereits eine „menschliche Handlung“; war das Verhalten hingegen vom Willen beherrschbar, konnte der Täter dieses Verhalten stets unterlassen und sich somit sorgfaltsgemäß verhalten.36 Der Verhaltensvorwurf der Fahrlässigkeitsdelikte geht ja generell nicht dahin, ein bestimmtes Verhalten vorzunehmen (zu dem man vielleicht physisch nicht imstande ist), sondern stets dahin, das betreffende sorgfaltswidrige Verhalten zu unterlassen;37 zu einer Unterlassung ist man physisch immer in der Lage, solange das Verhalten vom Willen beherrschbar, also eine „Handlung“ ist.38 Zur Ausfüllung der „subjektiven Sorgfaltswidrigkeit“ bleiben deshalb nur die subjektive (individuelle) Erkennbarkeit bzw. Voraussehbarkeit der Tatbestandserfüllung übrig. „Subjektive Erkennbarkeit“ kann dabei als Oberbegriff verwendet werden, weil dieser Begriff sowohl für Erfolge (dort „Voraussehbarkeit“) als auch für verhaltensbezogene Merkmale passt (hier geht es nicht um Voraussehbarkeit, sondern um gegenwärtige Umstände, z. B. Erkennbarkeit der Unechtheit einer Urkunde oder der Unmündigkeit einer Person). Subjektiv sorgfaltswidrig handelt ein Täter somit dann, wenn ihm zum Zeitpunkt der Handlung die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale (einschließlich des Erfolgs) „subjektiv erkennbar“ war. Ohne subjektive Erkennbarkeit kann letztlich nicht wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts bestraft werden. 2. Komponente des subjektiven Tatbestands oder der Schuld? Obgleich allgemein anerkannt ist, dass ein Fahrlässigkeitsdelikt die „subjektive Sorgfaltswidrigkeit“ des Täterverhaltens voraussetzt, ist nicht endgültig geklärt, ob diese bereits das „tatbestandsmäßige Verhalten“ begrenzt oder ob bei aufrechtem tatbestandsmäßigen Verhalten allein die Schuld des Täters entfällt.39 Wird also das „tatbestandsmäßige Verhalten“ eines Fahrlässigkeitsdelikts (und damit dessen Unrecht) durch die subjektive Erkennbarkeit mitgeprägt? Die Antwort hängt letztlich 36 Allenfalls könnte in diesem Fall zusätzlich noch die Zumutbarkeit sorgfaltsgemäßen Verhaltens erörtert werden, die nach h.M. die Schuld betrifft. 37 Z. B. Jakobs (Fn. 14), Abschn. 9 Rn. 6; Roxin (Fn. 2), § 24 Rn. 12; Salzburger Kommentar zum StGB/Triffterer, § 6 Rn. 22. 38 Besonderheiten gelten insofern allenfalls für fahrlässige (und auch vorsätzliche) Unterlassungsdelikte, weil man bei diesen zu einem Tätigwerden verpflichtet ist. Ohne dass hier auf die besonderen Anforderungen der Unterlassungsdelikte näher eingegangen werden kann, ist jedoch anzumerken, dass die physische Unmöglichkeit zu einem bestimmten Verhalten bereits zur Folge hat, dass gar kein „Unterlassen“ vorliegt; auch hier geht es nicht erst um die subjektive Fahrlässigkeitskomponente. Näher z. B. Triffterer (Fn. 2), Kap. 14 Rn. 8 ff. 39 Ausführlich zum diesbezüglichen Meinungsstand Moos, FS Burgstaller, 2004, S. 111 ff.; ferner Triffterer (Fn. 2), Kap. 13 Rn. 21 ff.; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 2), StGB, § 15 Rn. 119 ff. und 195 ff.; Roxin (Fn. 2), § 24 Rn. 53 ff. und 114 ff.
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davon ab, was unter – vom tatbestandsmäßigen Verhalten indiziertem – „Unrecht“ und was unter „Schuld“ verstanden wird. Eine nähere Betrachtung des Unrechts führt insoweit allerdings zu keiner eindeutigen Entscheidung, weil danach beide Lösungen plausibel erschienen. Denn es gibt verschiedene Ausprägungen und Abstufungen des Unrechts. Schon eine objektiv tatbestandsmäßige (insbesondere objektiv sorgfaltswidrige) Verhaltensweise lässt sich als „rechtswidriges Verhalten“ verstehen und enthält ein gewisses Unrecht. Handelt der Täter zusätzlich mit einem tatbestandsmäßigen Vorsatz, so ergibt sich daraus ein spezifiziertes, i. d. R. intensiveres Unrecht.40 Ebenso lässt sich aber auch der zusätzliche Umstand, dass der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten subjektiv sorgfaltswidrig gehandelt hat, als eine spezifische Unrechtsausprägung einordnen.41 Die Intensität dieses Unrechts wäre weniger stark als bei vorsätzlichem Verhalten, aber doch stärker ausgeprägt als bei einem bloß objektiven Sorgfaltsverstoß. Es wäre deshalb prinzipiell gleichermaßen möglich, als tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verhalten der Fahrlässigkeitsdelikte entweder auf ein allein objektiv sorgfaltswidriges oder aber auf ein objektiv und subjektiv sorgfaltswidriges Verhalten abzustellen. Für die Zuordnungsfrage ergiebiger erscheint dagegen eine nähere Betrachtung des Schuldbegriffs. Die frühere Unterscheidung, nach der alle objektiven Umstände dem Unrecht und alle subjektiven der Schuld zugeordnet wurden, gilt heute als überwunden. Seither ist es allerdings erforderlich, die Zweiteilung in Unrecht und Schuld durch ein anderes durchgängiges Abgrenzungskriterium zu legitimieren; insbesondere muss dargetan werden, warum es nicht möglich ist, die verschiedenen Komponenten der Schuld ebenfalls als Ausprägungen des Unrechts zu verstehen, also die eigenständige Kategorie der Schuld durch eine weitere Ausdifferenzierung des Unrechts zu ersetzen. Meines Erachtens lässt sich die fortbestehende Trennung damit begründen, dass die Schuld eine „Metaebene“ betrifft, deren Gegenstand die Einstellung des Täters zu dem von ihm verwirklichten Unrecht ist. Die Einstellung des Täters zum Unrecht der eigenen Tat muss notwendigerweise außerhalb dieses Unrechts liegen, weil man sonst in eine selbstbezügliche Spirale geriete. Wenn man der Einstellung des Täters zum Unrecht der eigenen Tat eine rechtliche Relevanz einräumt, wie dies nach herrschender Strafrechtsdogmatik anerkannt ist, bedarf es einer zusätzlichen Kategorie neben dem Unrecht, in der eben die Einstellung des Täters zum Unrecht beurteilt werden kann; diese Kategorie bildet in der modernen Strafrechtsdogmatik die Schuld.42 40 Knüpft eine andere Rechtsfolge als eine Strafe (für eine Strafe ist stets schuldhaftes Verhalten erforderlich) an ein „rechtswidriges“ (nicht schuldhaftes) Verhalten an, so ist jeweils durch Interpretation zu entscheiden, ob dabei schon eine objektive Rechtswidrigkeit ausreicht, oder eine durch zusätzliche subjektive Erfordernisse spezifizierte Rechtswidrigkeit gemeint ist. 41 Ausführlich – mit Darstellung des Meinungsstands und der zentralen Argumente – Moos, FS Burgstaller, 2004, S. 113 ff. 42 Ganz ähnlich Moos, FS Burgstaller, 2004, S. 123: Bei der Abgrenzung von Unrecht und Schuld gehe es um „die Trennung der auf die Seinsebene bezogenen psychologischen Ele-
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Die Konzeption der Schuld als „Metaebene“ gegenüber dem Unrecht wird bei den einzelnen Schuldvoraussetzungen deutlich, wenn es bei ihnen darauf ankommt, ob der Täter „das Unrecht seiner Tat einsehen und nach dieser Einsicht handeln konnte“. Ausdrücklich auf diese beiden Aspekte stellen die Regeln über die Zurechnungsfähigkeit ab. Um die Fähigkeit, das Unrecht der Tat zu erkennen, geht es ebenso beim Verbotsirrtum. Und schließlich ist auch die Möglichkeit, der Unrechtseinsicht entsprechend zu handeln, letztlich der entscheidende Maßstab der Entschuldigungsgründe. Besteht die Legitimation einer eigenen Schuldebene in ihrer Funktion als „Metaebene“, die die Einstellung des Täters zu dem von ihm verwirklichten Unrecht betrifft, so muss dies auch Richtschnur für die Abgrenzung sein: Zur Schuld gehören jene individuellen Umstände, die die Einsicht des Täters in das von ihm verwirklichte Unrecht oder die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, betreffen. Für alle anderen – auch individuellen – Umstände, die die Tat betreffen, aber nicht speziell deren Unrecht reflektieren, besteht keine Notwendigkeit der Zuordnung zur Schuld, sie gehören daher zum Unrecht als allgemeine Unwertebene (auf die sich die Schuldelemente beziehen).43 Die subjektive Sorgfaltswidrigkeit im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte betrifft die subjektive Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung. Dabei geht es um die mögliche Einsicht des Täters in faktische Gegebenheiten, nicht um die Einstellung des Täters zu dem von ihm verwirklichten Unrecht.44 Diese Überlegung spricht dagegen, die subjektive Sorgfaltswidrigkeit (subjektive Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung) der Schuld zuzuordnen. Vielmehr erscheint schlüssig, dass es sich – ganz analog zum Vorsatz – um eine subjektive Komponente des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ handelt, die, wenn sie vorliegt, das spezifische Unrecht mitprägt.45 Schon mente vom Unrechtsbewußtsein.“ – Dagegen kann die Konzeption eines überhaupt „einstufigen“ Deliktsaufbaus, nach dem die Schuldfaktoren als Bestandteile des „strafrechtsrelevanten Unrechts“ eingeordnet werden und damit „eine selbständige Kategorie der Schuld verzichtbar“ sein soll – so Freund (Fn. 6), § 4 Rn. 19 ff.; Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 116 f. –, nicht überzeugen. Denn die Schuld kann nicht einerseits die Einstellung des Täters zum Unrecht seiner Tat betreffen und gleichzeitig Bestandteil eben dieses Unrechts sein. Damit würde eben eine selbstbezügliche Spirale eröffnet. 43 Moos a.a.O. 44 Moos, FS Burgstaller, 2004, S. 124. 45 In Österreich setzt sich die Einordnung der subjektiven Sorgfaltswidrigkeit als „subjektiver Tatbestand“ immer mehr durch: richtungweisend Triffterer (Fn. 2), Kap. 13 Rn. 21 ff.; Moos, FS Burgstaller, 2004, S. 111 ff.; ferner Birklbauer/Sautner/Velten/Wegscheider (Hrsg.), Strafrecht. Diplomprüfungsfälle und Lösungen, 2005, S. 90, 97 f., 101 f., 149, 213; Salzburger Kommentar zum StGB/Flora, § 170 Rn. 10 ff., § 177 Rn. 8; Hilf/Schick, Strafrecht. Fälle und Lösungsmuster zum materiellrechtlichen Teil, 5. Aufl. 2008, S. 99, 122 f., 135, 181 ff., 191 f.; Hinterhofer/Rosbaud, Strafrecht, BT II, 5. Aufl. 2012, § 170 Rn. 5, § 303 Rn. 9; Hochmayr, Strafrecht und Strafprozessrecht, 12 Diplomklausurfälle mit Lösungen, 2007, S. 29, 54, 97 f.,108 f., 130 ff.; Salzburger Kommentar zum StGB/Manhart, § 181 Rn. 4 f.; Salzburger Kommentar zum StGB/Rainer, § 159 Rn. 53; E. Steininger (Fn. 16), Kap. 17 Rz 10 f. und 43 ff.; Wach, 18 Fälle zur Übung Strafrecht, 2012, S. 22, 30; Kienapfel/Schmol-
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das objektiv tatbestandsmäßige Verhalten i.S. eines objektiv sorgfaltswidrigen Verhaltens indiziert eine gewisse Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens (an die sich auch Rechtsfolgen knüpfen können), allerdings noch in einer allgemeineren Ausprägung. Kommt im subjektiven Tatbestand der Vorsatz hinzu, wird das spezifische Unrecht eines Vorsatzdelikts, kommt die subjektive Sorgfaltswidrigkeit hinzu, das spezifische Unrecht eines Fahrlässigkeitsdelikts indiziert.46 Dabei handelt es sich jeweils um intensivere Ausprägungen des Unrechts als bei einem bloß objektiv tatbestandsmäßigen Verhalten. Zur Schuld gehören dagegen grundsätzlich nur Strafbarkeitsvoraussetzungen, die auf einer „Metaebene“ die Einstellung des Täters zu dem von ihm verwirklichten (spezifischen Vorsatz- oder Fahrlässigkeits-)Unrecht betreffen. Wolfgang Frisch hat zur Zuordnung der subjektiven Sorgfaltswidrigkeit nicht abschließend Stellung genommen, er lässt aber eine gewisse Sympathie für die auch hier befürwortete Zuordnung zum „tatbestandsmäßigen Verhalten“ erkennen.47
V. Ergebnis Anknüpfend an die von Wolfgang Frisch betonte Selbständigkeit des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ gegenüber dem tatbestandsmäßigen Erfolg haben die vorstehenden Überlegungen zu folgenden Ergebnissen geführt: - Die Abschichtung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ vom tatbestandsmäßigen Erfolg ist vor allem wegen der Indizwirkung des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ für die Rechtswidrigkeit des Verhaltens sinnvoll. Da stets ex ante feststellbar sein muss, ob ein Verhalten rechtswidrig ist, kann die Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit nicht von der Gesamtheit der Tatbestandsmerkmale (etwa auch dem erst ex post feststellbaren Erfolg) ausgehen. Erst ein Herausschälen des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ auf der Basis der ex ante feststellbaren Umstände liefert die zutreffende Basis für die Indizwirkung hinsichtlich der Rechtswidrigkeit.
ler, Strafrecht, BT III, 2. Aufl. 2009, §§ 169 – 170 Rn. 42, §§ 176 – 177 Rn. 14. – Ebenso entspricht die Zuordnung zum subjektiven Tatbestand der in der Schweiz herrschenden Meinung; Nachweise bei Moos, FS Burgstaller, 2004, S. 114 Fn. 14. 46 Die Einordnung der subjektiven Sorgfaltswidrigkeit als „subjektiver Tatbestand“ macht keinesfalls die „objektive Sorgfaltswidrigkeit“ überflüssig, die den objektiven Tatbestand (und damit das objektive Unrecht) begrenzt. Denn in einem Tatstrafrecht ist der subjektive Tatbestand stets nur dann von Interesse, wenn ein objektives Fehlverhalten gesetzt wurde. Die objektive Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens „indiziert“ auch die subjektive Sorgfaltswidrigkeit, bei besonderen individuellen Mängeln wird diese Indizwirkung aber durchbrochen. 47 Frisch (Fn. 1), Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 631 ff. behandelt die „subjektive Zurechnung“ beim Fahrlässigkeitsdelikt ganz analog zu jener beim Vorsatzdelikt. Er erwähnt dabei nicht, dass die Problematik beim Fahrlässigkeitsdelikt an einer anderen Stelle im Straftataufbau einzuordnen sei als beim Vorsatzdelikt.
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- Verlangt ein Tatbestand die „Herbeiführung eines Erfolgs“, ist tatbestandsmäßig nur ein solches Verhalten, das im Hinblick auf die Erfolgsherbeiführung „objektiv sorgfaltswidrig“ (= sozial inadäquat = erfolgsspezifisch unerlaubt gefährlich) ist. Diese erste Voraussetzung der Erfolgszurechnung ist ex ante (zum Zeitpunkt des Verhaltens) vom Täterstandpunkt aus zu beurteilen und betrifft deshalb einen Aspekt des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“, der für die Indizwirkung hinsichtlich der Rechtswidrigkeit zu berücksichtigen ist. Nur von einem in diesem Sinn „objektiv sorgfaltswidrigen Verhalten“ kann eine Indizwirkung hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Verhaltens ausgehen. - Bei Tatbestandsmerkmalen, die keinen Erfolg umschreiben, sondern das Täterverhalten näher ausgestalten (Tatmodalitäten, Tatsituation, eingesetzte Tatmittel, u. U. Eigenschaften des Täters oder Opfers), wird üblicherweise die objektive Tatbestandsmäßigkeit dann angenommen, wenn diese Merkmale tatsächlich vorliegen. Daran kann bei der praktischen Rechtsanwendung im Regelfall auch weiterhin festgehalten werden. Eine genaue Betrachtung hat allerdings gezeigt, dass das „tatbestandsmäßige Verhalten“ auch in derartigen Fällen letztlich auf solche Situationen zu beschränken ist, in denen die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale ex ante vom Standpunkt des Täters aus objektiv erkennbar war. Denn nur unter dieser Voraussetzung lässt sich die Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit des Verhaltens aufrechterhalten. War die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale dagegen nicht objektiv erkennbar, kann überhaupt kein Fehlverhalten festgestellt werden; eine Indizwirkung hinsichtlich der Rechtswidrigkeit wäre in dieser Situation nicht plausibel. Für die Fahrlässigkeitsdelikte wird dies anerkannt, wenn auch bei (schlichten) Tätigkeitsdelikten (also unabhängig von einer Erfolgsherbeiführung) eine „objektive Sorgfaltswidrigkeit“ (= objektive Erkennbarkeit bzw. Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung) verlangt wird. Genau genommen gilt dies aber auch bei Vorsatzdelikten: Ein „tatbestandsmäßiges Verhalten“ verlangt stets als Basis einen objektiven Verhaltensfehler; hat sich der Täter auf der Grundlage der von seinem Standpunkt aus objektiv erkennbaren Umstände korrekt verhalten, entfällt die Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit, und zwar unabhängig von der subjektiven Tatseite. Insofern ist die „objektive Sorgfaltswidrigkeit“ nicht nur gemeinsames Merkmal aller Fahrlässigkeitsdelikte, auch nicht nur gemeinsames Merkmal aller Erfolgsdelikte, sondern letztlich eine Voraussetzung jeden „tatbestandsmäßigen Verhaltens“. - Schon das „objektiv tatbestandsmäßige Verhalten“ ist in der Lage, eine Rechtswidrigkeit zu indizieren. Ein vollständiges „tatbestandsmäßiges Verhalten“ setzt hingegen auch einen subjektiven Tatbestand voraus. Ist der subjektive Tatbestand ebenfalls verwirklicht, wird spezifiziertes Unrecht indiziert, etwa das spezifische Unrecht eines Vorsatzdelikts. Für die Fahrlässigkeitsdelikte bildet analog dazu die subjektive Sorgfaltswidrigkeit den subjektiven Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts, bei dessen Vorliegen spezifisches Fahrlässigkeitsunrecht indiziert wird. Die subjektive Sorgfaltswidrigkeit ist dagegen nicht – wie heute noch verbreitet vertreten wird – dem Bereich der Schuld zuzuordnen. Denn die Schuld ist
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als eine „Metaebene“ gegenüber dem Unrecht zu konzipieren, deren spezifischer Gegenstand die Einstellung des Täters zu dem von ihm verwirklichten Unrecht ist. Bei der subjektiven Sorgfaltswidrigkeit geht es indes um die subjektive Erkennbarkeit von Sachverhalten, nicht um die Einstellung des Täters zu dem von ihm verwirklichten Unrecht. Ich würde mich freuen, falls Wolfgang Frisch die hier angestellten Überlegungen mit seinem Konzept des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ als vereinbar sieht.
Die objektive Zurechnung des Erfolgs in der polnischen Strafrechtslehre Von Andrzej Zoll Der Lehre über die objektive Erfolgszurechnung schenkte der verehrte Jubilar viel Aufmerksamkeit und trug somit erheblich zur Entwicklung und Verbreitung dieser Konzeption bei.1 Auch ich habe unseren Diskussionen im Rahmen der Seminare und Konferenzen der polnischen und deutschen Strafrechtslehrer viel zu verdanken. In Dankbarkeit für diese Gespräche möchte ich nun – als einen bescheidenen Beitrag zur Ehrung des werten Jubilars – den Stand der polnischen Strafrechtslehre im Bereich der objektiven Erfolgszurechnung darstellen. In der polnischen, ähnlich wie in der deutschen Strafrechtslehre, wurde die Strafbarkeit bei Erfolgsdelikten auf die Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Verhalten und dem Erfolg als Tatbestandsmerkmal gestützt, und wird es nach wie vor. Das Problem lief und läuft auf die Art hinaus, in der der Kausalzusammenhang verstanden wird. Auch die polnische Strafrechtslehre hat diesbezüglich verschiedene Konzepte vorzuweisen.2 Als erstes Unterscheidungskriterium kann das Verhältnis der Strafrechtler zur philosophischen Auffassung der Kausalitätsfrage genannt werden.3 Auf der einen Seite ist auf Meinungen jener Autoren hinzuweisen, die eine philosophische Auffassung der Kausalität, insbesondere die Bedingungstheorie von John Stuart Mill auf dem Boden des Strafrechts für ungeeignet halten und auf dem Standpunkt stehen, dass sich diese Rechtsdisziplin auf eine eigene, den kriminalpolitischen Bedürfnissen des Strafrechts Rechnung tragende Kausalitätskonzeption stützen soll. Auf der anderen Seite sind Meinungen dieser Autoren zu nennen, die im Kausalzusammenhang ein rein philosophisches Problem sehen und in der Philosophie eine für die Feststellung des Wesens und des Charakters dieses außernormativen Phänomens richtige Disziplin sehen. Das Strafrecht könne, so der Tenor, lediglich die Fragen nach nor-
1 Siehe Frisch, Tatbestandsmäbiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988; ders., FS Roxin, 2001, S. 213 ff. 2 Umfangreiche Monographien widmeten der Problematik des Kausalzusammenhanges Lernell, Zagadnienia zwia˛zku przyczynowego w prawie karnym [Fragen des Kausalzusammenhanges im Strafrecht], 1962 und Giezek, Przyczynowos´c´ oraz przypisanie skutku w prawie karnym [Kausalität und Erfolgszurechnung im Strafrecht], 1994. 3 Siehe Kula, Przyczynowos´c´ w prawie karnym. Próba analizy krytycznej [Kausalität im Strafrecht. Versuch einer kritischen Analyse], 2005, S. 95 ff.
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mativen Voraussetzungen der Strafbarkeit für die Herbeiführung des Erfolgs beantworten. Die Meinungen der erstgenannten Gruppe lassen übrigens Homogenität vermissen. Problematisch erscheint das auch auf dem Boden der Philosophie4 anerkannte Eliminationsverfahren oder vielmehr der Charakter von Voraussetzungen zur Abgrenzung der Erfolgsbedingungen5. Einige Autoren halten eine normative (strafrechtliche) Einschränkung des Ursachenbegriffs für möglich, andere wiederum betrachten die Kausalität als ein außernormatives Problem und suchen nach Ursachenbeschränkung auch mit Hilfe außernormativer Mittel. Zu den ersteren ist vor allem L. Lernell zu zählen, der die Auffassung vertrat, das Isolationsverfahren sei keineswegs willkürlich, sondern durch den Wesensgehalt der zu untersuchenden Materie und durch die Untersuchungszwecke bedingt. Untersuchungsgegenstand bildet im Falle des Strafrechts das Verbrechen, und sein Ziel ist die Verwirklichung von Aufgaben der Kriminalpolitik.6 Lernell beschränkte die Kausalität auf sozialgefährliche Täterschaft. Nur eine sozialgefährliche Tat könne als für den deliktischen Erfolg als Tatbestandsmerkmal ursächlich angesehen werden. Auch für Igor Andrejew galt als Ursache nur ein solches menschliches Verhalten, das ein einem bestimmten Tatbestand eigenes Rechtsgut zu gefährden geeignet war.7 Es ist unschwer zu beobachten, dass die Meinungen dieser Autoren unmittelbar an die relativistischen Kausalitätskonzepte knüpfen, die im Grunde Konzepte der Strafbarkeit für die Herbeiführung des Erfolgs als Tatbestandsmerkmal darstellen. Unter den Autoren, die auf der außernormativen Ebene nach der Ursacheneinschränkung suchten, gehörte in der polnischen Strafrechtslehre vor allem Edmund Krzymuski. Er vertrat die Meinung, man könne selbst auf Grund der Naturgesetze Handlungen, ohne die der Erfolg nicht eingetreten wäre, in solche unterscheiden, die als ursächlich angesehen werden können, und solche, denen dieses Merkmal fehlt. Krzymuski unterschied zwischen Ursache und Bedingung. Eine Handlung sei dann für den Erfolg ursächlich, wenn sie, als Voraussetzung für dessen Eintritt, darin bestehe, „einem bestimmten Faktor die für Erfolgsherbeiführung notwendige
4 Kołakowski war der Auffassung, dass in der wissenschaftlichen Praxis nicht nur die Frage wichtig ist „wie der allgemeine Sachzusammenhang zu berücksichtigen ist“, sondern wie er möglichst effizient unbeachtet zu lassen ist“. Siehe Determinizm i odpowiedzialnos´c´ [Determinismus und Verantwortung], in: Fragmenty filozoficzne [Philosophische Fragmente], 1959, S. 40. Es wird hier von einer ziemlich offensichtlichen Annahme ausgegangen, dass es in der Forschungspraxis nicht möglich sei, die volle Summe der kausal verbundenen Bedingungen zu berücksichtigen. Aus verständlichen Gründen wird auf dem Boden des Strafrechts der zwischen der Handlung und dem deliktischen Erfolg bestehende Kausalzusammenhang beachtet. 5 Kula (Fn. 3), S. 76. 6 Lernell (Fn. 2), S. 77. 7 Andrejew, Podstawowe poje˛cia nauki o przeste˛pstwie [Grundbegriffe der Strafrechtslehre], 1988, S. 155.
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Kraft zu gewähren“.8 Zu dieser Strömung ist auch die Meinung von Kazimierz Buchała zu zählen. Eine menschliche Handlung sei dann als Erfolgsursache anzusehen, wenn es zwischen dieser Handlung als notwendige Bedingung für den Erfolgseintritt und dem Wirkungsobjekt, an dem eine Änderung als Erfolg eingetreten ist, zu einer Energie- bzw. Informationsübertragung gekommen sei.9 Diesen Standpunkt teilt auch Marek Bielski, der den ontologischen, außernormativen Charakter des zwischen der Handlung und dem eingetretenen deliktischen Erfolg bestehenden Kausalzusammenhangs hervorhebt, der sich „sowohl auf rein physikalische Energie- als auch Informationsflüsse gründet, die in kausalen Kategorien auch Wirkungen sozialer Natur wiedergeben lassen“.10 Ein entschiedener Gegner jeder Einschränkung des ontologisch aufgefassten Kausalzusammenhangs auf der Ebene des Strafrechts war Władysław Wolter – „Die Kausalität darf nicht den Bedürfnissen des Strafrechts gebeugt werden“.11 W. Wolter sprach sich für eine radikale Unterscheidung zwischen der Sein-Sphäre und der Soll-Sphäre. Alle Versuche, die Strafbarkeit wegen Erfolgsherbeiführung einzuschränken, seien Konzeptionen, die auf der normativen Ebene angesiedelt seien und von Natur aus die auf der ontologischen Ebene liegende Kausalität nicht beeinflussen könnten.12 Wolter hatte bereits im Jahre 1927, d. h. noch bevor der Artikel von Richard Honig13 erschien, der Meinung Ausdruck gegeben, dass es, neben dem traditionell aufgefassten Zusammenhang ontologischen Charakters, notwendig sei, auch einen normativ verstandenen Zusammenhang zwischen der Handlung und dem Erfolg zu berücksichtigen. Diesen Zusammenhang bezeichnete er als „juristische Kausalität“.14 Ein ontologisch verstandener Kausalzusammenhang könne lediglich bei der Feststellung der juristischen Kausalität eine Hilfsrolle spielen, die nach Wolter ein Gebilde gleich einer rein juristischen Konstruktion sei.15 Umstritten war in der polnischen Rechtslehre auch die Kausalität des Unterlassens, wobei beide Seiten dieses Streites an philosophische Meinungen anknüpften, insbesondere an die Konzeption von John Stuart Mill und seiner bekannten Definition der Ursache eines Dinges als „die volle Summe seiner negativen und positiven
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Siehe Krzymuski, System prawa karnego [System des Strafrechts], Bd. I, AT, 1921, S. 50. Buchała, Prawo karne materialne [Das materielle Strafrecht], 1980, S. 247. 10 Bielski, Obiektywna przypisywalnos´c´ skutku w prawie karnym [Die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs im Strafrecht], 2009, S. 160 f. 11 Wolter, Nauka o przeste˛pstwie [Die Lehre vom Verbrechen], 1971, S. 67. 12 Wolter (Fn. 11), S. 67. 13 Honig, Festgabe fu˝ r Richard v. Frank, 1930, S. 174 ff. 14 Wolter, Zwia˛zek przyczynowy i zwia˛zek adekwatny [Der Kausalzusammenhang und der Adäquanzzusammenhang], 1927, S. 44 f. Die Grundthesen dieser Studie veröffentlichte Wolter in der deutschen Sprache. Siehe zur Methodologie des sogenannten Kausalproblems, Archiv fu˝ r Rechts – und Wirtschaftsphilosophie, B. XIX Heft 4. 15 Wolter (Fn. 14), S. 45. 9
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Bedingungen in ihrer Gesamtheit, bei deren Vorliegen die Folge jeweils eintritt“16. Die Befürworter der Kausalität des Unterlassens verwiesen auf die in dieser Definition genannten negativen Bedingungen als Beweis dafür, dass auch der Begründer der Bedingungstheorie im Unterlassen die Ursache des Erfolgs gesehen hat, dessen Eintritt der Unterlassende abzuwenden hatte. Zu den Anhängern der Kausalität des Unterlassens gehören vor allem jene Autoren, die auf dem Boden der Autonomie des Strafrechts bei der Bestimmung der Kausalität stehen. Ein eifriger Befürworter dieser Konzeption war Lernell17, der in ein und demselben Satz den Kausalzusammenhang der (ontologischen) Seins-Kategorie zurechnete und zugleich feststellte, „das Unterlassen (…) sei ursächlich, da der Mensch durch sein Unterlassen bestimmte Ereignisse in der Außenwelt bewirken kann“18. Ein ebenso eifriger Verfechter der Annahme der Kausalität des Unterlassens ist Leszek Kubicki19, der seinen Standpunkt aus der Bedingungstheorie von J. S. Mill ableitet20. In eine ähnliche Richtung äußerte sich auch Tomasz Kaczmarek.21 Die überwiegende Mehrheit der polnischen Strafrechtler lehnte die Kausalität des Unterlassens ab und stützte die strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen des eingetretenen Erfolgs auf die Verletzung der Erfolgsabwendungspflicht (Garantenpflicht), d. h. auf einen normativen Faktor. Diese Auffassung verbindet sich in der polnischen Strafrechtslehre vor allem mit dem Namen W. Wolters.22 Das Unterlassen versteht er nicht als das Fehlen irgendeines Tuns, sondern als eine gezielte Tunlosigkeit in einer auf Grund des angenommenen Normativsystems vorgesehen Richtung.23 Hinsichtlich der Bedingungstheorie hob Wolter hervor, dass „sich das Fiasko des Kausalitätskonstrukts beim Unterlassen darin äußert, dass die Zahl positiver Bedingungen zwar enorm hoch sein könne, dennoch immer ein geschlossenes Ganzes bilden werde. Die Zahl der negativen Bedingungen sei unbegrenzt, weil der Erfolgseintritt durch unendlich viele Umstände hätte verhindert werden können“.24 Die Strafbarkeit wegen Unterlassens beim Erfolgsdelikt sei nicht durch das Zustandekommen des Kausalzusammenhangs zwischen diesem Unterlassen und dem Erfolg begründet, 16 Mill, System logiki dedukcyjnej i indukcyjnej [System der deduktiven und induktiven Logik], 1962, S. 514. 17 Lernell (Fn. 2), S. 271 f. 18 Lernell, Wykład prawa karnego. Cz.og. [Vorlesung des Strafrechts. AT], Bd. I, 1961, S. 126. 19 Kubicki, Przeste˛pstwo popełnione przez zaniechanie. Zagadnienia podstawowe [Die Straftat durch Unterlassen. Grundfragen], 1975, S. 127 f. 20 Mill (Fn. 16), S. 134. Auf die missverständliche Stützung der Konzeption der Kausalität des Unterlassens auf die Theorie von J.S.Mill weist Kula hin. Siehe Kula (Fn. 3), S. 129 ff. 21 Kaczmarek, FS Kubicki, 2003, S. 388 f. 22 Wolter (Fn. 14), S. 97 ff.; ders., Prawo karne [Strafrecht], 1947, S. 119 f.; ders., O tzw. przyczynowos´ci zaniechania [Zur sogenannten Kausalität des Unterlassens], Pan´stwo i Prawo 10 – 11/1954 S. 520 ff.; ders. (Fn. 11), S. 77 f. 23 Wolter (Fn. 11), S. 77. 24 Wolter, Prawo karne [Strafrecht] (Fn. 22), S. 119 f.
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sondern durch das mangelnde Zustandekommen einer entgegengesetzten, zur Erfolgsabwendung geeigneten Kausalität. Zu den Gegnern der Kausalität beim Unterlassen zählen unter den heute schreibenden Autoren Jarosław Majewski25, Wojciech Patryas26, Piotr Kardas27 und vor allem Michał Kula28. Es ist offensichtlich, dass die heute noch in Literatur und Rechtsprechung zu findende Feststellung, Grundlage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen des Erfolgsdelikts sei die Feststellung des Kausalzusammenhanges zwischen der Handlung und dem deliktischen Erfolg, als eine weit gehende Vereinfachung anzusehen ist.29 Dies gilt nicht nur für Erfolgsdelikte durch Unterlassen, wo ein solcher Zusammenhang einfach nicht festgestellt wird, sondern auch für Erfolgsdelikte durch aktives Tun, bei denen die Bejahung des Kausalzusammenhanges den ersten Schritt zur Feststellung der Strafbarkeit bildet, die sich ihrem Wesen nach auf die Feststellung von Voraussetzungen normativen Charakters stützt. Die Notwendigkeit eines normativen Elements wurde und wird in der polnischen Strafrechtslehre nicht in Frage gestellt. Die objektive Seite einer verbotenen Tat kann nicht nur kausal verstanden werden, und wie es sich zeigt, vermag auch eine finale Auffassung der verbotenen Tat das Problem nicht zu lösen30. Dies schuf günstige Voraussetzungen für die Aufnahme der Konzeption der objektiven Erfolgszurechnung in die polnische Strafrechtslehre – einer Konzeption, die davon ausgeht, dass die Grundlage der Strafbarkeit, d. h. eine verbotene Tat, weder kausal noch final, sondern nur im Hinblick auf die normativen Grundlagen des Strafrechts zu fassen ist.31 Den Wendepunkt brachte das vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wrocław und vom Institut für Strafrecht der Universität Bonn im Mai 1990 organisierte Polnisch-Deutsche Symposium in Karpacz32, auf dem Claus Roxin ein Referat zur objektiven Erfolgszurechnung gehalten hat.33 25 Majewski, Prawnokarne przypisanie skutku przy zaniechaniu. (Zagadnienia we˛złowe) [Strafrechtliche Erfolgszurechnung beim Unterlassen. Schlüsselfragen], 1997, S. 56 ff. 26 Patryas, Przyczynek do zagadnienia przyczynowos´ci zaniechania [Beitrag zur Kausalität des Unterlassens], Ruch Prawniczy Ekonomiczny i Socjologiczny 1992, Heft. 3, S. 2 ff. 27 Kardas, in: Majewski (Hrsg.), Podstawy odpowiedzialnos´ci karnej za przeste˛pstwo skutkowe [Grundlagen der Strafbarkeit wegen der Erfolgsdelikte], Kwartalnik Prawa Publicznego 2004, Heft 4, S. 73 ff. 28 Kula (Fn. 3), S. 118 ff. 29 In der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung wird die Feststellung der Kausalität auf die Bestätigung des conditio sine qua non-Test zurückgeführt. 30 In der polnischen Strafrechtslehre wird allgemein zwischen der objektiven und der subjektiven Tatseite unterschieden. Der Vorsatz oder das Fehlen des Vorsatzes werden auf die objektiven Merkmale bezogen. Eine finale, und nicht kausale Interpretierung der verbotenen Tat vermag das gesamte Kausalitätproblem bei der gegenständlichen (objektiven) Verbindung des menschlichen Verhaltens mit dem Erfolg nicht zu lösen. 31 Siehe Roxin, FS Honig, 1970, S. 133 ff. 32 Die Konferenzmaterialien erschienen sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Sprache. Ich berufe mich auf die polnische Ausgabe Tomasza Kaczmarek (Hrsg.), Teore-
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In der einschlägigen polnischen Literatur wird heute unter dem Begriff der objektiven Erfolgszurechnung die Gesamtheit von Voraussetzungen verstanden, die es festzustellen gilt, um die ursächliche Relation zwischen dem Verhalten eines Subjekts, dessen Strafbarkeit geprüft werden soll, und dem eingetretenen Erfolg als Tatbestandsmerkmal zu bestimmen.34 Die so gefasste Konzeption der objektiven Zurechnung stellt somit keine Beschränkung der ontologischen Auffassung der Kausalität, sondern eine normative Voraussetzung für das Verständnis der Täterschaft auf dem Boden des Strafrechts dar.35 Die Frage der objektiven Erfolgszurechnung wird von Natur aus bei Straftaten aktuell, bei denen der Erfolg ein Tatbestandsmerkmal bildet. In der gesetzlichen Bestimmung dieser Straftaten fehlt in der Regel eine detaillierte Beschreibung des zum Erfolgseintritt führenden Täterverhaltens. Der Gesetzgeber beschränkt sich auf allgemeine Formulierungen zur Charakterisierung des Täterverhaltens, wie etwa „verursacht“, „führt … herbei“, „fügt … zu“ etc. Ein in dieser Weise bestimmter Straftatbestand liefert nur ein bescheidenes Material zur Feststellung des Inhalts der sanktionierten Norm, die das Gebot bzw. Verbot des durch den Gesetzgeber bestimmten Verhaltens ausdrückt. An dieser Stelle muss ich auf den in der polnischen Fachliteratur angenommenen, von mir vorgeschlagenen und vom Belingschen Modell etwas abweichenden Verbrechensaufbau verweisen.36 Wertungsgrundlage ist das menschliche Verhalten. Das erste Wertungsergebnis ist die Feststellung, dass dieses Verhalten eine Handlung ist. Im nächsten Schritt wird untersucht, ob diese Handlung eine sanktionierte Norm verletzt. Wird eine solche Verletzung bejaht, dann wird das eventuelle Vorliegen von Umständen geprüft, die eine Verletzung der sanktionierten Norm rechtfertigen können (Rechtfertigungsgründe, im polnischen Fachschrifttum als Konträrtypen bezeichnet). Liegen keine Rechtfertigungsgründe vor, so wird die eine sanktionierte Norm verletzende Tat als rechtswidrig angesehen. Erst in der folgenden Etappe wird untersucht, ob eine rechtswidrige Tat alle Merkmale des Straftatbestandes verwirklicht, d. h. ob sie eine Straftat bildet. Ein Element des Verbrechensaufbaus ist auch, da gem. Art. 1 Abs. 2 des polnischen Strafgesetzbuches eine verbotene Tat, tyczne problemy odpowiedzialnos´ci karnej w polskim oraz niemieckim prawie karnym [Theoretische Probleme der Grundlagen der Strafbarkeit nach polnischem und deutschem Strafrecht], 1990. 33 Roxin, in: Tomasza Kaczmarek (Hrsg.), Teoretyczne problemy odpowiedzialnos´ci karnej w polskim oraz niemieckim prawie karnym [Theoretische Probleme der Grundlagen der Strafbarkeit nach polnischem und deutschem Strafrecht], 1990, S. 5 ff. 34 Siehe Bielski, FS Zoll, Bd. II, 2012, S. 504. 35 Siehe De˛bski, Pozaustawowe znamiona przeste˛pstwa [Außergesetzliche Tatbestandsmerkmale], 1955, S. 166 f.; Giezek, Przyczynowos´c´ oraz przypisanie skutku w prawie karnym [Kausalität und Erfolgszurechnung im Strafrecht], 1994, S. 50 f.; Bielski, FS Zoll, Bd. II, 2012, S. 505. 36 Zoll, O normie prawnej z punktu widzenia prawa karnego [Über die Rechtsnorm aus der Perspektive des Strafrechts], Krakowskie Studia Prawnicze t. XXIII/1990, S. 69 ff.; ders., ZStW 107 (1995); ders., FS Roxin, 2001, S. 93 ff.
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deren Sozialschädlichkeit gering ist, keine Straftat bildet, die Strafwürdigkeit der Tat, d. h. ein durch eine konkrete Tat erreichter bestimmter Grad der Tadelnswürdigkeit. Das letzte Element des Verbrechensaufbaus ist die Schuld. Von entscheidender Bedeutung für die vorliegenden Erwägungen ist die Feststellung einer Verletzung der sanktionierten Norm durch die Tat. Die Prüfung beginnt auf der der Feststellung der Rechtswidrigkeit der zu bewertenden Tat vorausgehenden Etappe. Notwendig ist eine Prüfung des Inhalts einer solchen sanktionierten Norm. Die ein rechtlich gebotenes Verhalten bestimmende sanktionierte Norm hat dem Schutz eines bestimmten Rechtsguts zu dienen. Ihr Adressat ist der mit diesem Rechtsgut in Beziehung tretende Mensch. Die sanktionierte Norm kann somit weder das Gebot noch das Verbot der Beeinträchtigung eines Rechtsguts zum Inhalt haben, im ontologischen Sinne als rein ursächlicher Erfolgseintritt verstanden. Die Befolgung einer Rechtsnorm darf die objektiven Möglichkeiten des handelnden Subjekts nicht überschreiten. Der in Beziehung zu einem Rechtsgut stehende Mensch darf nicht nur als ein zu dessen Beeinflussung unfähiges Glied der Kausalkette angesehen werden. Schon darin äußert sich die grundlegende normative Voraussetzung der als Feststellung der Täterschaft im strafrechtlichen Sinne verstandenen objektiven Erfolgszurechnung. Der Schutz eines Rechtsguts durch das in der sanktionierten Norm enthaltene Gebot. bzw. Verbot bezieht sich nicht allein auf die eventuelle Zerstörung dieses Rechtsguts. Durch das Verbot bzw. das Gebot ist bereits eine unmittelbare Gefährdung des Rechtsguts erfasst.37 Das generell gefasste Verbot der „Verursachung“, „Herbeiführung“, „Zufügung“ muss durch das Gebot der Beachtung der durch unser Wissen und unsere Erfahrung herausgebildeten Umgangsregeln mit diesem Rechtsgut adäquat gemacht werden. Das Verhalten des Rechtssubjekts, der mit einem Rechtsgut nach diesen Regeln umgeht, schließt die Möglichkeit der Feststellung einer Verletzung der sanktionierten Norm selbst dann aus, wenn es dieses Rechtsgut gefährdet. Die Herbeiführung von Gefahr trotz Einhaltung der Umgangsregeln kann zu einer entsprechenden Änderung der Umgangsregel führen. Dies gilt freilich für künftige Kontakte des Menschen mit dem Rechtsgut. Diese Regeln können sich auf die Qualifikationen der auf das Rechtsgut einwirkenden Person beziehen, auf das dem Kontakt mit dem Rechtsgut dienende Werkzeug oder auf die Art der Einwirkung auf das Objekt – Rechtsgutträger. Als Voraussetzung für eine Verletzung der sanktionierten Norm zum Schutz eines bestimmten Rechtsguts im Falle der Handlungen durch ein positives Tun38 gelten die Herbeiführung einer Gefahr für dieses Rechtsgut (ontischer Faktor) sowie die Ver37
Den Tatbeständen, deren Merkmal die Verletzung des Rechtsguts, und den Tatbeständen, deren Merkmal die unmittelbare Gefährdung desselben Rechtsguts ist entspricht die gleiche sanktionierte Norm. Dasselbe gilt auch für die versuchte Verletzung des Rechtsguts. 38 Tun und Unterlassen betrachte ich als zwei verschiedene Charakteristiken der vom Standpunkt der normativen Anforderungen aus zu bewertenden Tat, und nicht als zwei verschiedene Tatvarianten.
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letzung der auf eine konkrete Situation bezogenen Regeln des Umgangs mit dem Rechtsgut (normativer Faktor). Der ontische Faktor wird durch die Feststellung bestimmt, dass zwischen den einzelnen Gliedern der das menschliche Verhalten mit dem eingetretenen Erfolg verbindenden Kette (auch in Form unmittelbarer Gefährdung) entweder ein bestimmtes Naturgesetz bestätigt wird, auf Grund dessen auf das Ereignis A das Ereignis B folgt, oder auch dass sich eine auf unserem Wissen bzw. unserer Erfahrung beruhende Gesetzmäßigkeit in sozialen Relationen manifestiert hat, die den Eintritt einer Folge nach dem Ereignis A entsprechend voraussehen lässt.39 Ist die Handlung durch Unterlassen charakterisiert, so liegt der die Handlung mit dem Erfolg verbindende ontische Faktor in Wirklichkeit nicht vor. Anstelle dessen wird eine hypothetische Argumentation eingeführt, die sich auf die Kenntnis von Naturgesetzen und Gesetzmäßigkeiten in sozialen Relationen stützt40. Als ein zusätzliches, für die objektive Erfolgszurechnung erforderliches Element gilt nach polnischem, wie auch nach deutschem Strafrecht die Garantenfunktion des Unterlassers.41 Eingeengt wird somit der Adressatenkreis einer sanktionierten Norm. Auch in diesem Fall bedarf die Verletzung der sanktionierten Norm der Feststellung, dass der Unterlasser die auf eine konkrete Situation bezogenen Umgangsregeln mit dem Rechtsgut verletzt hat. Ein charakteristisches Merkmal des von mir dargestellten Verbrechensaufbaumodells ist, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Tat der Feststellung der Strafbarkeit, d. h. Übereinstimmung des Sachverhaltes mit dem gesetzlichen Tatbestand, vorausgeht. Die Funktion des Strafrechts besteht nämlich nicht in der Entscheidung darüber, welche Verhaltensweisen rechtswidrig sind, sondern darüber, welche von rechtswidrigen Handlungen Straftaten bilden. Eine solche Situierung von einzelnen Elementen des Verbrechensaufbaus lässt die Feststellung zu, dass die für die Verletzung der sanktionierten Norm relevanten Umstände zugleich Tatbestandsmerkmale sind und als solche den Strafbarkeitsumfang mit all dessen Konsequenzen, z. B. in Bezug auf die subjektive Tatseite, adäquat machen.
39 Zutreffend weist Bielski, FS Zoll, Bd. II, 2012, S. 513 darauf hin, dass „Grundlage des zwischen dem Verhalten des potentiellen Täters und dem deliktischen Erfolg bestehenden Kausalzusammenhanges sowohl rein physikalisch zu verstehenden Energieflüsse, aber auch Informationsflüsse sind, die in kausalen Kategorien auch Wirkungen sozialen Charakters wiedergeben können“. 40 Mit Recht wird im Schrifttum hervorgehoben, dass die Kenntnis der Kausalabläufe bei Erfolgszurechnung sowohl im Falle des Tuns als auch des Unterlassens gleich wichtig ist. Siehe Majewski, Prawnokarne przypisanie skutku przy zaniechaniu [Strafrechtliche Erfolgszurechnung beim Unterlassen], 1997, S. 56 ff. 41 Art. 2 des polnischen Strafgesetzbuches lautet: „Wegen eines durch Unterlassen begangenen Erfolgsdelikts ist nur derjenige strafbar, der eine rechtliche besondere Pflicht zur Erfolgsabwendung hatte“ (Das polnische Strafgesetzbuch. Kodeks karny. Deutsche Übersetzung und Einfu˝ hrung von Ewa Weigend, 1998, S. 37).
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Das eine ursächliche Relation charakterisierende Merkmal, z. B. „verursacht“, „herbeiführt“, „zufügt“, ist somit Träger sowohl der (beim Tun tatsächlichen, beim Unterlassen hypothetischen) Kausalrelation als auch der Normativrelation.42 Es sei dabei auf einen wichtigen Aspekt der Bestimmung dieser Relationen hingewiesen. Während die ursächliche, kausale Relation immer ex post untersucht wird, indem man die Ereigniskette von der in der Außenwelt eingetretenen Änderung über die ihr vorausgehenden Ereignisse zurückverfolgt, so wird die normative Relation, und somit eine Verletzung der sanktionierten Norm, stets aus der ex-ante-Perspektive festgestellt.43 Die Herbeiführung einer unmittelbaren Gefahr für das Rechtsgut bzw. Vernichtung seines Trägers unter gleichzeitiger Verletzung der Umgangsregel mit diesem Rechtsgut ist noch nicht für die Annahme einer Verletzung der sanktionierten Norm und die objektive Erfolgszurechnung entscheidend. Es muss nämlich nachgewiesen werden, dass die mit einem konkreten Rechtsgut in Beziehung stehende Person diese Umgangsregel verletzt hat, die das Rechtsgut vor der Gefahr bzw. Zerstörung auf eben diesem Wege schützen soll, auf dem es tatsächlich zu einer Gefährdung bzw. Zerstörung gekommen ist. Das Autofahren im alkoholisierten Zustand verstößt unbestritten gegen die Umgangsregeln mit dem Rechtsgut. Ist aber ein Fußgänger angefahren worden, weil er unerwartet auf die Fahrbahn gelangte, und wird festgestellt, dass selbst ein nüchterner Autofahrer die Kollision hätte nicht vermeiden können, so findet die Erfolgszurechnung nicht statt. Der Autofahrer wird lediglich wegen Trunkenheit im Verkehr strafrechtlich belangt. Besondere Probleme entstehen, wenn in den Kausalablauf ein Dritter, darunter auch der Verletzte, eingebunden wird, der die Umgangsregeln mit dem Rechtsgut verletzt. Insbesondere wird eine autonome Entscheidung des sich seiner Lage bewussten Verletzten zum Verzicht auf die Abwendung der ihm drohenden, durch das Verhalten einer anderen, die sanktionierte Norm verletzenden Person herbeigeführten Gefahr, die Möglichkeit der Zurechnung des Erfolgs ausschließen, dessen Eintritt der Verletzte mit seinem Verhalten hätte verhindern können. Der Erfolg kann nicht zugerechnet werden, wenn nach der ein bestimmtes Rechtsgut unmittelbar gefährdenden Verletzung einer Umgangsregel das Verhalten einer anderen, ebenfalls eine Umgangsregel verletzenden Person den Ereignisablauf wesentlich beeinflusst hat. Dem Täter eines Verkehrsunfalls mit Verletzten kann der Erfolg in Gestalt des Todes des Verletzten nicht zugerechnet werden, wenn dieser Tod infolge eines Fehlers des Krankenhauspersonals eingetreten ist (z. B. durch Verabreichung der falschen Blutgruppe).44
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Bielski, FS Zoll, Bd. II, 2012, S. 507 f. Bielski, FS Zoll, Bd. II, 2012, S. 514. 44 Die mit dem Ausschluss der Erfolgszurechnung trotz Gefährdung des Rechtsguts infolge der Verletzung von Umgangsregeln mit dem Rechtsgut verbundenen Probleme bespricht ausführlich anhand der deutschen Literatur und Rechtsprechung Bielski (Fn. 10), S. 292 ff. 43
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Die Konzeption der objektiven Erfolgszurechnung ist in der polnischen Strafrechtslehre inzwischen so fest verankert und in der Rechtsprechung anerkannt45, dass es der Kodifikationsausschuss für die Reform des Strafrechts in Erwägung zieht, in das polnische Strafgesetzbuch Vorschriften einzuführen, um dieser Konzeption eine gesetzliche Stütze zu geben. Um genauer zu sein – man will keine gesetzlichen Kriterien für die objektive Erfolgszurechnung einführen, vielmehr geht es darum, die heute geltenden Regelungen zu verbessern und wesentlich auszubauen. Das polnische StGB von 199746 bestimmte in Art. 9 § 2 Kriterien der objektiven Zurechnung einer fahrlässig begangenen verbotenen Tat – „Eine verbotene Tat ist fahrlässig verwirklicht, wenn der Täter die Tat, ohne den Vorsatz zu haben, sie zu begehen, infolge der Verletzung der unter den gegebenen Umständen erforderlichen Sorgfalt dennoch begeht, obwohl er die Möglichkeit ihrer Begehung vorausgesehen hat oder hätte voraussehen können“.47 Die Verletzung der unter den gegebenen Umständen erforderlichen Sorgfalt ist – von der sprachlichen Seite her – eng mit der fahrlässig begangenen Tat verbunden. Das Problem der Voraussetzungen der Verletzung einer sanktionierten Norm als Grundlage für die Feststellung der Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit beschränkt sich allerdings nicht lediglich auf fahrlässig begangene verbotene Taten. Es ist von Bedeutung auch bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit bei vorsätzlich begangenen verbotenen Taten. Die Feststellung der Verletzung einer sanktionierten Norm ist grundsätzlich nicht von dem psychischen Verhältnis des Täters zu der verwirklichten Handlung abhängig. Eine gesetzliche Beschränkung des Kriteriums für Verletzungen von Umgangsregeln48 nur auf fahrlässig begangene Taten kann insbesondere an Gerichte und Verfolgungsorgane ein falsches Signal senden, dass bei Vorsätzlichkeit eine Verletzung der Umgangsregel mit dem Rechtsgut nicht bedeutsam sei. In Art. 9 § 2 des polnischen StGB kommen darüber hinaus Elemente zur Charakterisierung der subjektiven Tatseite (fehlender Vorsatz, Voraussehbarkeit der Verwirklichung einer tatbestandsmäßigen Tat49) und Elemente der objektiven Seite einer verbotenen Tat zusammen, zu der unbestritten eine Verletzung der Sorgfaltsregeln als Grund für die Begehung einer verbotenen Tat zu rechnen ist. Im polnischen Strafgesetzbuch wurden in Art. 2 StGB fragmentarisch auch Kriterien der objektiven Erfolgszurechnung im Falle der durch Unterlassen begangenen Erfolgsdelikte geregelt. Der fragmentarische Charakter dieser Regelung besteht 45
Es muss jedoch zugegeben werden, dass es ungeachtet der Berufung auf die Konzeption der objektiven Erfolgszurechnung vorkommt, dass die Rechtsprechung auf Grund des conditio sine qua non-Tests verfährt. 46 Seit 01. 09. 1998 in Kraft. 47 Siehe Anm. 41. 48 Dieser Ausdruck hat einen breiteren Bedeutungsumfang als die Verletzung der Sorgfaltsregeln und ist auch in Bezug auf verbotene Vorsatzdelikte adäquat. 49 Auch hinsichtlich dieses Kriteriums ist die gesetzliche Regelung in Art. 9 § 2 des polnischen StGB unpräzise und scheint eher auf eine individuelle Voraussehmöglichkeit statt auf eine objektive Voraussehbarkeit hinzuweisen.
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darin, dass man hier von der Verletzung der Umgangsregeln mit dem Rechtsgut als Kriterium für die Zurechnung des Erfolgs abgesehen hat. Es muss verwundern, dass der Gesetzgeber Kriterien für die objektive Erfolgszurechnung bei den durch Unterlassen begangenen Erfolgsdelikten bestimmt hat, ohne Kriterien für die Erfolgszurechnung im Allgemeinen, und beim Tun im Besonderen berücksichtigt zu haben. In Anbetracht dessen begann der Ausschuss für die Kodifikation des Strafrechts an einer Novellierung des Strafgesetzbuches zu arbeiten.50 Konkrete Entscheidungen liegen noch nicht vor. Der Änderungsvorschlag von Art. 2 des polnischen StGB hat folgenden Wortlaut: Art. 2 § 1. Wegen eines Erfolgsdelikts ist nur derjenige strafbar, der die unter den gegebenen Umständen verbindlichen Umgangsregeln mit dem Rechtsgut nicht eingehalten, und infolge deren Nichteinhaltung den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeigeführt hat. § 2. Wegen eines durch Unterlassen begangenen Erfolgsdeliktes ist nur derjenige strafbar, der eine rechtliche besondere Pflicht zur Erfolgsabwendung hatte. § 3. Der Erfolg wird einer die Umgangsregeln mit dem Rechtsgut verletzenden Person nicht zugerechnet, wenn eine spätere Verletzung der Umgangsregel durch eine andere Person die Umstände der Erfolgsherbeiführung wesentlich beeinflusst hat; diese Einschränkung findet keine Anwendung, wenn die Person, die die Umgangsregeln mit dem Rechtsgut nicht eingehalten hat, mit einer anderen Person, die Umgangsregeln später verletzt hat, bei der Begehung eines Erfolgsdeliktes mitgewirkt hat.“
Die Vorschläge des Kodifikationsausschusses werden demnächst zur Diskussion gestellt, was, worauf ich hoffen will, zur Popularisierung und Entwicklung der Konzeption der objektiven Erfolgszurechnung in der polnischen Strafrechtslehre und Praxis beitragen wird.
50 Die geplante Novellierung hat einen breiten Umfang und ist nicht nur auf die hier diskutierten Probleme der objektiven Erfolgszurechnung beschränkt.
Objektive Zurechnung – nichts für Finnland?* Von Dan Frände
I. Einleitung Die Lehre von der „objektiven Zurechnung“ ist eine dogmatische Konstruktion, die in der deutschen Strafrechtswissenschaft lebhaft diskutiert wird. An dieser für uns Nordländer nicht ganz leicht verständlichen Diskussion hat auch Professor Wolfgang Frisch sich intensiv beteiligt.1 Der vorliegende Beitrag versucht, auf recht allgemeinem Niveau zu beschreiben, wie Ideen, die mit der objektiven Zurechnung in Zusammenhang stehen, von der finnischen Lehre und Rechtsprechung aufgenommen worden sind. Um die Diskussion in der Lehre zu verstehen, muss man von Nils Jareborg ausgehen, der viele Jahre als Strafrechtsprofessor an der Universität Uppsala tätig war. Zu Beginn der 1970er Jahre entstand eine rege Zusammenarbeit zwischen seiner Fakultät und Strafrechtswissenschaftlern an den Universitäten Helsinki und Turku. Im Rahmen dieses fachlichen Austauschs lernten die finnischen Kollegen Jareborgs Lehre von den zwei Arten der Fahrlässigkeit kennen. Zu dieser Lehre, die Jareborg 1977 auf Schwedisch vorstellte,2 gehört eine objektive Seite, die er „Tatfahrlässigkeit“ (gärningsculpa) nennt. Die Lehre von der Tatfahrlässigkeit weist deutliche Ähnlichkeiten mit der Lehre von der objektiven Zurechnung auf, doch es gibt natürlich auch Unterschiede.3 Jareborgs Lehre sollte in mehrfacher Hinsicht die finnische Strafrechtswissenschaft beeinflussen. Mein Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts, das 1994 in erster Auflage erschien, war stark von dem Eindruck durch Jareborgs Lehre geprägt, während ich gleichzeitig versuchte, die deutsche Diskussion zu berücksichtigen.4 In seiner sehr umfassenden Dissertation über die strafrechtliche Fahrlässigkeit („Rikosoikeudellinen huolimattomuus“) aus dem Jahr 1996 nahm Ari* Übersetzt aus dem Schwedischen von Dr. Karin Cornils. Unter den Veröffentlichungen der letzten Jahre siehe insbesondere seine Beiträge in; FS Roxin, 2001, S. 213 ff., GA 2003, S. 719 ff., FS Sootak, 2008, S. 41 ff. und JuS 2011, S. 19 ff., 116 ff., 205 ff. 2 Jareborg, Nordisk Tidsskrift for Kriminalvidenskab 1977, S. 219 ff.; in englischer Sprache veröffentlicht in Jareborg, Essays in Criminal Law, 1988, S. 28 ff. 3 Siehe dazu Frände, FS Jareborg, S. 237 ff. 4 Die vierte Auflage ist 2012 erschienen und die finnische Version der zweiten Auflage ebenfalls 2012. 1
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Matti Nuutila ausführlich Stellung zur objektiven Seite der Fahrlässigkeit. Auch er war stark beeinflusst durch Jareborgs Modell und berücksichtigte zugleich in weitem Umfang die deutsche Lehre. Dabei ging er auch auf die von dem Jubilar entwickelten Kriminalisierungsgrundsätze ein, wie sie in dem bedeutenden Werk „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs“ von 1988 zum Ausdruck kommen. Nuutila hält es sogar für möglich, sämtliche tatbestandsmäßigen Handlungen unter das Erfordernis der Eingehung eines unerlaubten Risikos zu stellen. Damit meint er, dass bei Delikten ohne eigentlichen Erfolg das Verhalten des Täters nur dann eine Straftat darstellt, wenn dieser ein unerlaubtes Risiko der Tatbestandserfüllung eingegangen ist. Weder mein Versuch noch die Bemühungen von Nuutila oder anderen,5 das Tatfahrlässigkeits-Modell einzuführen, haben bisher irgendwelche erkennbaren Spuren in der finnischen Gesetzgebung oder Rechtsprechung hinterlassen. Wesentlich größer für die finnische Fahrlässigkeitslehre war hingegen der Einfluss von Pekka Koskinen. Er hatte als finnischer Strafrechtsprofessor an der Zusammenarbeit mit Uppsala von Beginn an teilgenommen und sich mit Jareborgs Lehre von der Tatfahrlässigkeit eingehend befasst, jedoch niemals deren Terminologie übernommen. Koskinens Ansichten sind heute für das finnische Strafrecht von zentraler Bedeutung, nachdem er im Rahmen der umfassenden Reform des Strafgesetzes den Inhalt des 2004 in Kraft getretenen Allgemeinen Teils entscheidend mit geprägt hat. Ich beginne mit einer kurzen Darstellung von Jareborgs Modell.6 Anschließend beschreibe ich Koskinens Auffassung von der objektiven Seite der Fahrlässigkeit und wie diese in der finnischen Gesetzgebung zum Ausdruck gekommen ist. Am Ende berichte ich über die Reform der Allgemeinen Lehren im finnischen Strafgesetz von 2004 und darüber, wie die finnische Rechtsprechung auf diese Reform reagiert hat.
II. Jareborgs Lehre von der Tatfahrlässigkeit und Koskinens Antwort Der Straftatbegriff bei Jareborg besteht aus zwei Teilen, dem Erfordernis einer unerlaubten Handlung und dem Erfordernis persönlicher Verantwortlichkeit. Da nach seinem Verbrechensaufbau die Tatfahrlässigkeit zu dem ersten Teil gehört, bleibt die persönliche Verantwortlichkeit außer Betracht. Jareborg gliedert das Erfordernis der unerlaubten Handlung in vier Untergruppen. Erstens muss die Tat nach dem geltenden Recht mit Strafe bedroht sein, wobei auch die Regeln für sogenannte 5 Als weitere finnische Strafrechtslehrer, die zur Tatfahrlässigkeit Stellung genommen haben, sind unter anderen zu nennen Nuotio, Teko, vaara, seuraus, 1998; Tolvanen, Tieliikennerikokset ja kriminaalipolitiikka, 1999 und Tapani, Petos liikesuhteessa, 2004. 6 Über den Beitrag von 1977 hinaus hat Jareborg in mehreren Veröffentlichungen seine Lehre von der Tatfahrlässigkeit dargelegt. Hier sei nur das Lehrbuch „Straffrättens ansvarslära“ von 1994 genannt. Dieses Buch, auf das sich die nachfolgenden Zitate beziehen, hat die finnische Diskussion über die Tatfahrlässigkeit stark beeinflusst.
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unselbstständige Deliktsformen wie Versuch und Tatbeteiligung zu beachten sind. Zweitens muss die Tat Merkmale einer Kontrolle des Täters über den Geschehensablauf und eines unerlaubten Risikos aufweisen; diese fasst Jareborg unter dem Begriff der Tatkontrolle zusammen. Drittens muss die Tat gegen schwedisches Recht verstoßen, was bei Auslandsdelikten relevant wird. Viertens darf die Tat nicht gerechtfertigt sein, das heißt, es dürfen im Einzelfall keine Ausnahmeregeln anwendbar sein.7 Jareborg betont, dass die Fahrlässigkeit den wichtigsten Begriff in der Strafrechtslehre darstelle.8 Fahrlässig zu handeln bedeute, nicht in gebührlicher Weise die Risiken des eigenen Verhaltens zu berücksichtigen. Dass eine Handlung kontrolliert erfolgt, bedeute, dass die handelnde Person das Geschehen im Griff hat, dass sie dessen Verlauf nach ihrem Willen abbrechen oder weiterführen kann. Um eine kontrollierte Handlung als tatfahrlässig bezeichnen zu können, setzt Jareborg voraus, dass mit der Handlung ein unerlaubtes Risiko in Bezug auf einen unkontrollierten Erfolg eingegangen wird, und dieser Erfolg muss in einer solchen Weise verursacht werden, dass gerade das unerlaubte Risiko (und nicht irgendein anderes Risiko) sich darin verwirklicht. Das Erfordernis der Tatfahrlässigkeit gilt für alle Straftaten, nicht nur für fahrlässige, sondern auch für vorsätzliche (und selbst für schuldunabhängige) Tatbegehung. Dies folgt aus der Tatsache, dass jemand sich durch sein Handeln nur dann strafbar machen kann, wenn er zu irgendeinem Zeitpunkt des Geschehensverlaufs die Kontrolle über sein Verhalten hatte.9 Zugleich bedeutet diese Begriffsbestimmung, dass Tatfahrlässigkeit nicht relevant ist, wenn die handelnde Person den gesamten Geschehensverlauf unter ihrer Kontrolle hatte. Der erste Schritt zur Konkretisierung der Tatfahrlässigkeit besteht darin, die Bedeutung des Begriffs des unerlaubten Risikos zu bestimmen; die kontrollierte Handlung ist ja deshalb fahrlässig, weil sie die Eingehung eines unerlaubten Risikos in Bezug auf einen strafrechtlich relevanten Erfolgseintritt darstellt. Nach Jareborg ist eine Handlung unerlaubt, wenn es „gute Gründe“ gibt, sie zu unterlassen. Bei der Feststellung, ob solche Gründe vorliegen, sollen verschiedene Interessen gegen einander abgewogen werden.10 Die Abwägung ist objektiv, ausgehend von dem Blickwinkel der handelnden Person, vorzunehmen.11 Jareborg unterteilt die „guten Gründe“ in verschiedene Gruppen. Die wichtigste Gruppe bilden Ordnungsregeln und Schutzvorschriften. Diese gelten für gesellschaftsnützliche, aber gefährliche Tätigkeiten wie Straßenverkehr und Bauarbei-
7
Jareborg (Fn. 6), S. 25. Jareborg (Fn. 6), S. 30. 9 Jareborg (Fn. 6), S. 37. 10 Jareborg (Fn. 6), S. 44. 11 Jareborg (Fn. 6), S. 49. 8
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ten.12 Ebenso von großer Bedeutung sind Anweisungen darüber, wie etwas in (technisch) korrekter Weise auszuführen ist. Selbst wenn eine solche Regel im Zusammenhang mit der kontrollierten Tat verletzt worden ist, bleibt dies jedoch für die Beurteilung eines unerlaubten Risikos in denjenigen Fällen unbeachtlich, in denen die Nichteinhaltung der Norm für die Gefahrschaffung selbst nur unbedeutend war. Jareborg hebt hervor, dass die Sorgfaltspflicht erst durch das Gericht in seiner Entscheidung formuliert werde; man könne also an sich gegen eine solche Pflicht nicht verstoßen.13 Doch bestehe eine starke Vermutung für die Eingehung eines unerlaubten Risikos, wenn zentrale Ordnungsregeln auf einem bestimmten Gebiet missachtet worden sind. Der sozialen Rolle der handelnden Person und ihren allgemeinen Fähigkeiten schreibt Jareborg jeweils im konkreten Zusammenhang Bedeutung zu. So seien Fachleute grundsätzlich strenger zu beurteilen als Laien, sofern es sich nicht um eine Tätigkeit handelt, die überhaupt nur von jemandem mit einer bestimmten Zulassung oder Ausbildung ausgeübt werden darf.14 Auch die Tatumstände seien zu berücksichtigen. Hier führt Jareborg als Beispiel an, dass durch die Handlung ein geringerer Schaden entsteht, als es ohne sie der Fall wäre, und er meint, man müsse das Eingehen eines Risikos dann als erlaubt ansehen, wenn dadurch eine bereits bestehende Gefahrenlage nicht noch gesteigert wird. Jareborg nimmt auch Stellung zu Tätigkeiten, die für die ausübende Person unmittelbar gefährlich sind, bei denen aber besondere Vorsichtsmaßnahmen eingehalten werden. Unter der Voraussetzung, dass die Person ihre Gefährdung freiwillig akzeptiert, gehe sie in diesem Fall kein unerlaubtes Risiko ein.15 Man darf auch damit rechnen, dass andere Menschen sich irgendwie vernünftig verhalten.16 Konkrete Umstände können diesen Vertrauensgrundsatz zwar aufheben. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es bei der Risikobeurteilung unberücksichtigt bleibt, wenn ein anderer etwa Sicherheitsvorrichtungen sabotiert, die eigene Gesundheit offensichtlich vernachlässigt oder eine schwerere Straftat begeht. Bei organisierter Sportausübung werden schwerwiegende Regelverstöße im Allgemeinen als unerlaubtes Risiko angesehen.17 In sonstigen Fällen kann die freiwillige Teilnahme an Sportveranstaltungen sowie deren unmittelbare staatliche Unterstützung einen Grund bilden für die Einstufung der sportlichen Betätigung als erlaubtes Risiko. Es genügt nach Jareborg nicht, dass der Täter ein unerlaubtes Risiko eingegangen ist und einen bestimmten strafbaren Erfolg verursacht hat. Vielmehr muss mit dem Erfolgseintritt gerade eine der in dem unerlaubten Risiko enthaltenen Gefahren rea12 13 14 15 16 17
Jareborg (Fn. 6), S. 51. Jareborg (Fn. 6), S. 44, 54. Jareborg (Fn. 6), S. 55. Jareborg (Fn. 6), S. 56. Jareborg (Fn. 6), S. 57. Jareborg (Fn. 6), S. 58.
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lisiert worden sein. Entscheidend ist, ob der eingetretene Schaden zu dem Kreis von plausiblen Geschehensabläufen zählt, die zur Beurteilung des Risikos als unerlaubt geführt haben.18 Außerhalb eines plausiblen Geschehensverlaufs liegen spätere Folgeschäden auf Grund einer durch die Tat herbeigeführten Körperbehinderung des Opfers. Jareborg nennt hier unter anderem Verkehrsunfälle in Folge von Taubheit sowie Depression und Selbstmord wegen eines körperlichen Leidens.19 Nach Jareborg ist es unklar, wie die Fälle von versäumten Sicherheitsmaßnahmen zu lösen sind, in denen nicht festgestellt werden kann, dass der unkontrollierte Erfolg durch das Versäumnis herbeigeführt worden ist. Wir wissen nicht mit Sicherheit, was geschehen wäre, falls die Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden wären. Jareborg empfiehlt, sich mit der Feststellung zu begnügen, dass das Versäumnis ein unerlaubtes Risiko in Bezug auf den Erfolg dargestellt hat.20 In dem Fall des Lastwagens, der mit zu geringem Abstand einen Radfahrer überholt, wobei dieser stürzt und sich tödlich verletzt, ist es nach Jareborg für die Strafbarkeit des Lkw-Fahrers unerheblich, ob bei dessen korrektem Verkehrsverhalten die Todesfolge ausgeblieben wäre: „Selbst wenn offenbar ist, dass B auch dann zu Tode gekommen wäre (er war vielleicht betrunken), falls A den erforderlichen Sicherheitsabstand zu ihm eingehalten hätte, muss A nach der hier vertretenen Meinung als strafbar angesehen werden.“21
Die Risikoerhöhungslehre findet Jareborg mit zu großen Beweisproblemen belastet. Stattdessen könne man davon ausgehen, dass die Missachtung einer Sicherheitsvorschrift eine Tatfahrlässigkeit in Bezug auf den eingetretenen Erfolg bedeutet.22 Den Versuch, die Relevanzproblematik zu lösen, indem man auf den Schutzzweck der Sorgfaltsnorm abstellt, betrachtet Jareborg ebenfalls kritisch. Dieses Modell sei nur in bestimmten Einzelfällen anwendbar. Irreführend werde das Ganze aber, wenn wir nicht wissen, worin der Schutzzweck einer bestimmten Sorgfaltsnorm besteht. Jareborg nimmt auch ausdrücklich Stellung zur Rolle der Tatfahrlässigkeit bei vorsätzlich begangener Straftat. Die Frage, ob das Eingehen eines Risikos erlaubt oder unerlaubt ist, sei grundsätzlich in der gleichen Weise zu beurteilen wie bei fahrlässigen Delikten.23 Ohne es belegen zu können, vermutet er, dass die Anforderungen an die Sorgfalt bei einer vorsätzlichen Tat höher seien. Die Relevanzbeurteilung unterscheide sich jedoch nicht von derjenigen im Falle fahrlässiger Tatbegehung. Die Frage eines abweichenden Geschehensverlaufs im Zusammenhang mit dem Vorsatz zu prüfen, hält Jareborg für verwirrend.24 18 19 20 21 22 23 24
Jareborg (Fn. 6), S. 61. Jareborg (Fn. 6), S. 61 f. Jareborg (Fn. 6), S. 63. Jareborg (Fn. 6), S. 65. Jareborg (Fn. 6), S. 66. Jareborg (Fn. 6), S. 68. Jareborg (Fn. 6), S. 70.
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Pekka Koskinen wies bereits 1976 auf die Probleme hin, die sich aus der damals herrschenden Systematisierung der fahrlässigen Straftaten ergeben: „Insbesondere bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten, bei denen die Art und Weise der Erfolgsverursachung nicht näher beschrieben wird, ist die objektive Seite sehr leicht zu prüfen, während auf der subjektiven Seite ein Übergewicht liegt. Wer auch immer den Tod oder Schaden eines anderen kausal verursacht, hat die objektive Seite eines Tötungs- oder Schadensdelikts verwirklicht. Es bleibt allein die Frage, ob der Erfolg dem Verursacher zugerechnet werden kann.“25
In seinem eigenen Versuch, das Ungleichgewicht zu lösen, lehnt er sich recht weitgehend an das an, was Professor Hans-Heinrich Jescheck in seinem Lehrbuch von 1969 ausgeführt hatte. Koskinen führt hier unter anderem den Begriff „objektive Sorgfaltspflicht“ ein. Auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit greift er als Erstes das Erfordernis der Verletzung einer solchen objektiven Sorgfaltspflicht heraus, bei deren Erfüllung der Erfolgseintritt verhindert worden wäre. Zweitens kann es eine zusätzliche Voraussetzung geben, welche deutlich an die grobe Fahrlässigkeit anknüpft. Drittens muss eine Kausalbeziehung zwischen der Tat und dem Erfolg bestehen. Bei unbewusst fahrlässiger Tatbegehung ist viertens eine Art objektiver Vorhersehbarkeit erforderlich.26 Hinsichtlich des Inhalts der objektiven Sorgfaltspflicht stellt Koskinen zwei Fragen. Die erste bezieht sich auf die unterschiedliche Weise, in der der Täter die Sorgfaltspflicht verletzen kann. Er nennt unter anderem das Versäumnis, eine gefährliche Tätigkeit zu unterlassen, und das Versäumnis, einen bestimmten Umstand zu berücksichtigen. Die zweite und nach Koskinen wichtigere Frage steht im Zusammenhang mit der Konstruktion der im Einzelfall einschlägigen Sorgfaltspflicht. Hier spielen verschiedene Formen von Regeln und Standards für die sichere Ausübung gefährlicher Tätigkeiten eine Rolle. Er nennt ausdrücklich die Straßenverkehrsregeln, stellt jedoch fest, dass es letztlich Aufgabe der Rechtsprechung bleibt, den Inhalt der Sorgfaltspflicht zu konkretisieren. Koskinen lenkt den Blick auch auf eine Problematik, die später häufig mit dem Begriff „Risikorelevanz“ bezeichnet worden ist. Nach seiner Ansicht reicht eine bloße Kausalbeziehung zwischen Tat und Erfolg nicht aus. Vielmehr muss gerade diejenige Tätigkeit, mit der die Sorgfaltspflicht verletzt wird, den Erfolg kausal verursacht haben.27 Bereits im Jahr ihrer Veröffentlichung nimmt Koskinen Stellung zu Jareborgs Lehre von den zwei Arten der Fahrlässigkeit. In einem 1977 erschienenen Aufsatz stellt er fest, dass er selbst schon ein Modell entworfen habe, in dem die Beurteilung der Fahrlässigkeit sowohl auf die Tatbestandsmäßigkeit als auch auf die Schuld verteilt ist. Er fährt fort: 25 Koskinen, in: Tuottamuksekkiset rikokset. Rikosoikeudellinen jatkokoulutusseminaari Tvärminnessä 18.–20. 02. 1976, S. 26 ff. (26). 26 Koskinen (Fn. 25), S. 31 f. 27 Koskinen (Fn. 25), S. 33.
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„Trotz einiger konstruktiver und terminologischer Unterschiede deckt sich mein […] Schema recht weitgehend mit dem, was Jareborg in seinem Bericht mehr analytisch vorbringt.“28
Ich deute Koskinen so, dass er zu jener Zeit Jareborgs Modell als demjenigen entsprechend ansah, was er selbst von Jescheck entlehnt hatte. Jareborgs Terminologie zu übernehmen, hielt er offenbar nicht für erforderlich. Rund 20 Jahre später fungierte Koskinen als Opponent der Fakultät im Promotionsverfahren für Ari-Matti Nuutila. Auf der Grundlage seines oben genannten Aufsatzes ist es schwer zu sagen, ob Koskinen die neue Terminologie passend fand oder nicht. Vermutlich hielt er an seiner Skepsis gegenüber dem Risikobegriff fest, unterließ es aber, dies offen zu erklären.
III. Die Fahrlässigkeit in der Strafgesetzreform von 2004 Koskinen spielte eine entscheidende Rolle bei der Modernisierung des finnischen Strafrechts, und sein Einsatz für die Fassung des Allgemeinen Teils im neuen Strafgesetz ist kaum zu überschätzen. Seit dem Jahresbeginn 2004 gelten bei uns neue allgemeine Bestimmungen über die Strafbarkeit, und unter diesen findet sich auch eine Definition der Fahrlässigkeit (Kap. 3 § 7 Strafgesetz). Absatz 1 dieser Bestimmung hat folgenden Wortlaut: „Eine Handlungsweise des Täters ist fahrlässig, wenn der Täter die ihm unter den gegebenen Umständen obliegende Sorgfaltspflicht verletzt, obwohl er sie hätte einhalten können (Fahrlässigkeit).“
Wir sehen hier, dass der von Koskinen verwendete Begriff „Sorgfaltspflicht“ in den Gesetzestext Eingang gefunden hat. In gewisser Weise kann man sagen, dass sich Koskinens Wille durchgesetzt hat, zumindest im Gesetzeswortlaut. Betrachtet man hingegen den Inhalt der Regierungsvorlage, die zu der Reform geführt hat, so stellt sich die Lage etwas anders dar. In der Vorlage ist die Rede vom Tatfahrlässigkeits-Begriff als Synonym für die objektive Seite der Fahrlässigkeit. Die Tatfahrlässigkeit selbst wird wie folgt definiert: „Bei der Tatfahrlässigkeit stellt sich in der Sache vor allem die Frage, inwiefern der Täter ein verbotenes Risiko eingegangen ist oder ob sich das Risiko innerhalb der erlaubten Grenzen hielt. In diesem Sinne wird die Tatfahrlässigkeit in erster Linie durch Rechtsnormen bestimmt, aber auch durch verschiedene Arten inoffizieller oder technischer Normen. Es kann ferner erforderlich sein, Vorteile und Nachteile gegeneinander abzuwägen. In bestimmten Fällen ist man gezwungen, ,eine normal sorgfältige Person‘ als Maßstab zu nehmen.“29
In den Vorarbeiten scheut man also nicht davor zurück, die Sorgfaltspflicht mit dem Begriffspaar erlaubtes und unerlaubtes Risiko zu präzisieren. Man könnte 28 29
Koskinen, Nordisk Tidsskrift for Kriminalvidenskab, 1977, S. 38. Regeringsproposition 44/2002 rd S. 90.
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sagen, dass die Vorarbeiten einen moderneren Ansatz vertreten als der geltende Gesetzestext. Wie die vorstehende Darstellung gezeigt hat, waren sowohl Jareborg als auch Koskinen der Ansicht, dass es Aufgabe der Rechtsprechung sei, den Inhalt der Sorgfaltspflicht (oder des unerlaubten Risikos) näher zu konkretisieren. Leider hat die finnische Rechtsprechung sich dieser Aufgabe nicht angenommen. Stattdessen hat man Fragen im Zusammenhang mit der Fahrlässigkeit meistens mit Hilfe eines anderen Begriffs gelöst. Finnlands „grand old man“ der Strafrechtslehre, Brynolf Honkasalo, führt in seinem Lehrbuch von 1965 aus, dass das naturwissenschaftliche Kausalitätsverständnis eine Reihe von Kausalzusammenhängen schaffe, zu denen solche gehören, die man als mehr oder weniger unwahrscheinlich bezeichnen muss.30 Nach seiner Meinung ist die Kausalität auszuschließen, wenn der Erfolg nicht auf der Grundlage allgemeiner Lebenserfahrung sowie besonderer Kenntnisse des Täters als vorhersehbar angesehen werden kann. Dies kann auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden. Eine Möglichkeit besteht darin, die Vorhersehbarkeit als einen Teil der Kausalitätslehre zu betrachten. Die Eltern des Mörders haben also nicht durch ihren Zeugungsakt, der zur Geburt des Mörders führte, den Tod des späteren Mordopfers verursacht. Diese Folge kann nicht als vorhersehbar angesehen werden. Soweit ersichtlich, hat diese Auffassung keine Anhänger in der heutigen finnischen Lehre. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Vorhersehbarkeit als eine Art Generalklausel zu verstehen, welche ganz einfach pauschal jede weitere Prüfung im Zusammenhang mit der Fahrlässigkeit ersetzt. Dies gilt sowohl für die Sorgfaltspflicht als auch für die Frage, ob das eingegangene Risiko erlaubt oder unerlaubt war. In der Rechtsprechung des finnischen Obersten Gerichtshofs erkennt man deutlich eine Vorliebe für dieses letztgenannte Verständnis der Vorhersehbarkeit. Das wohl wichtigste Beispiel hierfür ist die höchstrichterliche Entscheidung HD 1998:67. In dem betreffenden Fall ging es unter anderem um die strafrechtliche Verantwortung für einen Personenschaden, genauer gesagt für eine psychische Schädigung infolge des Verlustes eigener Kinder durch einen Verkehrsunfall. Der Verletzte (B), der beinahe selbst ums Leben gekommen wäre, hatte mit ansehen müssen, wie seine beiden kleinen Kinder durch einen betrunkenen Autofahrer (A) getötet wurden. Die Tat des Angeklagten A hatte nachweislich zu psychischen Schäden bei B geführt, wie sie dem Tatbestand der fahrlässigen Personenschädigung (Kap. 21 § 10 Strafgesetz) entsprechen. Die Kontroverse galt hier der Frage, ob die übrigen Voraussetzungen der Strafbarkeit erfüllt waren. Man kann beispielsweise mit gutem Grund fragen, ob derjenige, der eine Straftat begeht, sich auch wegen der psychischen Schäden
30
Honkasalo, Suomen rikosoikeus, 1965, S. 118 ff.
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strafbar macht, die eine Person dadurch erleidet, dass sie Augenzeuge des Tatgeschehens gewesen ist. Das erstinstanzliche Gericht war nicht zu der Überzeugung gelangt, dass das Verkehrsverhaltendes A ursächlich gewesen war für den psychischen Schaden des B. Das Berufungsgericht stellte im Hinblick auf die Bedingungen der Strafbarkeit in Situationen wie dieser fest, dass nur solche Folgen, die zum Tatzeitpunkt vorhersehbar waren, eine Strafbarkeit begründen. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist die Strafbarkeit wegen eines Verkehrsdelikts zu beschränken auf Folgen, welche aus einer durch die Tat geschaffenen Gefahrensituation entstanden sind und denjenigen treffen, der dieser Gefahr ausgesetzt war. Davon ausgehend kam das Berufungsgericht zu dem Schluss, dass der psychische Schaden des B eine vorhersehbare und direkte Folge des Verkehrsverhaltens von A war. Der Oberste Gerichtshof begnügte sich in seiner Urteilsbegründung mit der Feststellung, dass die Folge vorhersehbar gewesen sei, was nach Auffassung des Gerichts sowohl für die objektive als auch für die subjektive Tatseite ausreichte. In einer anderen höchstrichterlichen Entscheidung, HD 2006:25, ging es um die Strafbarkeit wegen Betäubungsmitteldelikts und fahrlässiger Tötung. Der Angeklagte (A) hatte unerlaubt Subutex-Tabletten besessen und an die stark betrunkene B weitergegeben. Nach der Einnahme der Drogen hatte B sich schlafen gelegt, woraufhin eine Atemlähmung mit Todesfolge auftrat. Einem medizinischen Gutachten zufolge beruhte der Tod auf einem Zusammenwirken von Alkohol, Subutex und dem Einschlafen. In diesem Fall schien der Oberste Gerichtshof den Kausalverlauf als objektiv vorhersehbar zu betrachten,31. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung setzt jedoch voraus, dass der Täter sich der betreffenden Gefahr zumindest hätte bewusst sein müssen. Das Gericht befand, dass dem Angeklagten seine Unkenntnis nicht angelastet werden könne und sprach ihn vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Einem Urteil aus dem darauffolgenden Jahr, HD 2007:62, lag der Sachverhalt zugrunde, dass von einem Hausdach herunterfallendes Eis einen Passanten (B) getötet hatte. Der Geschäftsführer (A) der Wohnungsbaugesellschaft, in deren Eigentum das Haus stand, war wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Zwischen dem herabstürzenden Eis und dem Tod des B war der Kausalzusammenhang eindeutig gegeben. Der Oberste Gerichtshof entschied, dass A den Tod des B fahrlässig verursacht habe, indem er es unterließ, für eine Beseitigung von Eis und Schnee auf dem Dach zu sorgen. Ein wichtiges Element in der Argumentation des Gerichts stellt hier die Vorhersehbarkeit dar. Es wird sogar folgende Definition vorgenommen: „Bei der Grenzziehung zwischen einem straflosen Unglücksfall und Fahrlässigkeit ist es von entscheidender Bedeutung, ob der Geschehensverlauf so unvorhersehbar war, dass selbst eine sorgfältige Person ihn nicht hätte berücksichtigen müssen“.32
31 32
HD 2006:25, s. Punkt 2 der Urteilsgründe. HD 2007:62, s. Punkt 20 der Urteilsgründe.
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Diese relativ neuen Rechtsfälle zeigen deutlich, dass der Oberste Gerichtshof der Tatfahrlässigkeit keine eigentliche Bedeutung beimisst. Über die Ursache hierfür kann man natürlich spekulieren. Persönlich meine ich, dass ein wesentlicher Grund im finnischen Schadensersatzrecht zu finden ist, da die Vorhersehbarkeit des Schadens dort eine zentrale Rolle als haftungsbegrenzender Faktor spielt.33 Der finnische Richter, der in den meisten Fällen sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Fragen zu lösen hat, sieht keinen Grund, innerhalb des Strafrechts die Vorhersehbarkeit außer Betracht zu lassen. Solange man im Schadensersatzrecht nicht zwischen einer objektiven und einer subjektiven Seite unterscheidet, scheint deshalb die objektive Zurechnung nichts für finnische Gerichte zu sein.34
33
Vgl. beispielsweise Routamo/Ståhlberg/Karhu, Suomen vahingonkorvausoikeus, 2006, S. 337. 34 Vielleicht liegt hierin auch der Grund dafür, dass Tolvanen und Tapani in ihrem gemeinsamen Lehrbuch Rikosoikeuden yleinen osa – Vastuuoppi aus dem Jahr 2008 die Tatfahrlässigkeit überhaupt nicht erwähnen. In ihren jeweiligen Dissertationen (siehe oben Fn. 5) hatten beide Autoren die Tatfahrlässigkeits-Lehre jedoch behandelt.
Die vorsätzlich-vollendete Zurechnung Von Sheng-wei Tsai*
I. Vorsatzausschluss als die einzige Rechtsfolge des beachtlichen Tatbestandsirrtums? Menschen irren sich häufig. Der Straftäter stellt hierzu keine Ausnahme dar. Ein Täter kann sich z. B. über das Vorliegen von Tatsachen irren. Nach § 16 Abs. 1 StGB entfällt der Tatbestandsvorsatz, wenn der Täter bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört.1 Man spricht in diesem Fall vom Tatbestandsirrtum. Es ist allgemein anerkannt, dass das Problem des Tatbestandsirrtums darin besteht, ob ein Tatbestandsvorsatz anzunehmen ist. Nach der überwiegenden Meinung ist der Vorsatzausschluss die einzige Rechtsfolge eines beachtlichen Tatbestandsirrtums. Dies soll für alle Tatsachenirrtümer gelten, zu denen z. B. auch die Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf, die aberratio ictus und der Irrtum über Tatbestandsalternativen (Alternativenirrtum) gehören. Diese Ausführungen klingen zunächst ziemlich einleuchtend. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch ihre Lückenhaftigkeit. Das zeigt sich vor allem in der zeitlichen Dimension des Vorsatzes. Als Paradebeispiel dient die Abweichung vom Kausalverlauf. Da einerseits der Vorsatz bei Begehung der Tat vorhanden sein muss (Koinzidenzprinzip) und andererseits der abweichende Kausalverlauf erst nach der Ausführungshandlung eintritt, ist nicht ersichtlich, warum der zur Tatzeit bereits vorhandene Vorsatz in den Fällen einer wesentlichen Abweichung wegen später entstehender Faktoren nachträglich entfällt. Ferner ist unbestritten, dass der Täter sich in den Fällen einer wesentlichen Abweichung zumindest wegen des Versuchs bezüglich des vorgestellten Verlaufs strafbar gemacht hat. Die Strafbarkeit des Versuchs setzt aber gerade die Bejahung des subjektiven Tatbestandes voraus. Würden die Fälle einer wesentlichen Abweichung zum Vorsatzausschluss führen, dann könnte möglicherweise nicht einmal wegen Versuchs bestraft werden.2 Auf der anderen * National Taipei University, Taiwan. Für das Korrekturlesen und die Verbesserungsvorschläge danke ich Herrn Prof. Dr. Bernd Heinrich ganz herzlich. 1 Genauer: einen Umstand, der zu den alle Tatbestandsmerkmale des einschlägigen Tatbestandes erfüllenden Tatsachen gehört. Vgl. dazu auch LK-StGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 16 Rn. 15. 2 Die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes soll danach nicht nur bei der unwesentlichen, sondern auch bei der wesentlichen Abweichung angenommen werden. So schon Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 574 bei Anm. 28.
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Seite sollte man nach der Bejahung der objektiven Tatbestandsmäßigkeit und des Vorsatzes aber noch nicht voreilig die Tatbestandsmäßigkeit der vollendeten Vorsatztat bejahen. Dafür stellt die allgemein anerkannte Möglichkeit der „gleichartigen Idealkonkurrenz zwischen Versuch und Fahrlässigkeit“ einen starken Beweis dar. Denn ein solches Ergebnis besagt gerade, dass objektive und subjektive Tatbestandserfüllung hinsichtlich ein und desselben Tatbestandes selbst dort nicht zwangsläufig zu einem vollendeten Vorsatzdelikt verschmelzen, wo sie durch ein und dieselbe Handlung verklammert werden. Daraus lässt sich schließen, dass der Vorsatzausschluss nicht die einzige Rechtsfolge des beachtlichen Tatsachenirrtums ist. Die Annahme einer vorsätzlich-vollendeten Straftat kann also an einem Tatsachenirrtum scheitern, von dem aber der Tatbestandsvorsatz unberührt bleibt. Da man diese Problematik üblicherweise unter dem Stichwort „Kongruenz“ behandelt,3 darf eine Erklärung dieses Wortes freilich nicht fehlen.
II. Kongruenz im ursprünglichen Sinne Der Terminus „Kongruenz“ taucht oft in der strafrechtlichen Literatur auf. Unter dem „Kongruenzprinzip“ versteht man meistens „die Orientierung des subjektiven Tatbestands am objektiven Tatbestand“.4 Hiernach hat der objektive Tatbestand eine Sonderstellung, weil der subjektive Tatbestand sich am objektiven Tatbestand orientieren muss; der subjektive Tatbestand stellt sich als eine bloße Widerspiegelung, also als ein passiver Reflex des objektiven Tatbestandes dar (man spricht hier auch vom sog. sekundären Charakter des Vorsatzes).5 Damit wird nichts weiter verlangt, als dass der vorsätzlich handelnde Täter sich die Tatsachen vorstellen muss, die den objektiven Tatbestand erfüllen. In diesem Sinne ist die Kongruenzforderung trivial. Auf Grund des Prüfungsschemas der Tatbestandsmäßigkeit versteht sie sich von selbst: Aus praktischen Gründen muss aber ein Prüfungsschema für die Falllösung entwickelt werden, um das Prüfungsergebnis intersubjektiv nachprüfbar zu machen. Im modernen Prüfungsschema der Vorsatztat wird die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit zwar in den objektiven und den subjektiven Teil zerlegt. Dennoch ist sowohl bei der Prüfung der objektiven Tatbestandsmäßigkeit als auch bei der der subjektiven Tatbestandsmäßigkeit stets der Unrechtstatbestand maßgebend. Unter diesen Unrechtstatbeständen sind „Unrechtskriterien“6 zu verstehen, mit denen der Strafgesetzgeber ausdrücklich bestimmt hat, 3 So etwa Maurach/Zipf, Strafrecht, AT I, 8. Aufl. 1992, § 20 Rn. 17; Kindhäuser, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, § 13 Rn. 10; SK-StGB/Rudolphi/Stein, Loseblattsammlung, 125. Lfg. (Oktober 2010), § 16 Rn. 29. 4 Samson, JA 1989, 451 f.; ähnlich: Maurach/Zipf (Fn. 3), § 20 Rn. 22, 24; Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 41. Aufl. 2011, Rn. 208. 5 Vgl. dazu Maurach/Zipf (Fn. 3), § 20 Rn. 17. 6 Solche Unrechtskriterien sind der Maßstab für die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit und werden im Schrifttum seit jeher als objektiver Tatbestand bezeichnet. Jedoch können sie
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unter welchen Voraussetzungen ein Tatgeschehen strafrechtlich missbilligt werden soll. Werden alle Merkmale eines bestimmten Unrechtskriteriums verwirklicht, dann liegt eine prinzipiell unerträgliche Störung für das Zusammenleben der Rechtsgemeinschaft vor, über die sich der Staat nicht hinwegsetzen darf. Bei der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit muss der Rechtsanwender zunächst einmal die objektiv vorliegende Wirklichkeit7 einerseits und die vom Täter vorgestellten Tatsachen andererseits feststellen. Danach werden diese beiden Prüfungsgegenstände anhand desselben Kriteriums (desselben Tatbestandes) mit dem gleichen Operationsvorgang (Subsumtion) geprüft, um festzustellen, ob alle Tatbestandsmerkmale einerseits in der Wirklichkeit (objektive Tatbestandsmäßigkeit) und andererseits in der Vorstellung des Täters (Feststellung des Vorsatzes)8 erfüllt sind. Der Maßstab für die objektive Tatbestandsmäßigkeit und der für die Feststellung des Vorsatzes sind also stets identisch. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Prüfungen liegt im geprüften Gegenstand. Das Schaubild (siehe oben) mag dies veranschaulichen. Dadurch lassen sich beide Prüfungsgegenstände (die objektiv vorhandenen Tatsachen und die Vorstellung des Täters) sowohl von dem Prüfungskriterium (Unrechtstatbestand) als auch von Prüfungsergebnissen (Tatbestandsmäßigkeit) sauber unterfür sich genommen weder objektiv noch subjektiv sein. Sie sind als normative Aussagen also weder den objektiv vorhandenen Tatsachen noch der Vorstellung des Täters gleichzusetzen; sonst würde der Prüfungsmaßstab sich mit dem Prüfungsgegenstand irreführend vermengen. s. dazu das unten eingefügte Schaubild. 7 Damit sind freilich nicht alle objektiv vorhandenen Tatsachen gemeint. Denn man kann die Tatsachen – nämlich den gesamten Zustand der Welt – niemals vollständig beschreiben. Es ist vielmehr dem Sprecher überlassen, welche Angaben er in die Beschreibung seiner Prämissen aufnimmt (s. dazu Puppe, GA 1994, 301, 316). Deswegen müssen die Tatsachen, die den Gegenstand der objektiven Tatbestandsmäßigkeit bilden sollen, speziell für den zu prüfenden Tatbestand zugeschnitten werden, und zwar durch eine Art von Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Norm und Lebenssachverhalten. 8 Hier setzen wir uns über das umstrittene Element des Willens hinweg und stellen nur auf das Wissenselement ab.
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scheiden.9 In diesem Kontext ist die Kongruenzforderung nichts anderes als eine Forderung nach Übereinstimmung des Vorsatzes am Prüfungsmaßstab der objektiven Tatbestandsmäßigkeit und kann als „die Kongruenz im ursprünglichen Sinne“ bezeichnet werden. Über die Kongruenz in diesem Sinne besteht Einigkeit. Durch § 16 Abs. 1 StGB hat der Gesetzgeber den gleichen Gedanken zum Ausdruck gebracht und den Inhalt des intellektuellen Elements des Vorsatzes indirekt bzw. negativ bestimmt. Mit Ausdrücken wie etwa „Kongruenz“, „Zurechnung zum Vorsatz“, „subjektive Zurechnung“ oder „Vorsatzzurechnung“ haben die meisten Autoren nur die Kongruenz in diesem Sinne, nämlich die Feststellung des Vorsatzes, gemeint.10 Bei der Prüfung des Vorsatzes ist ausschließlich der rein psychische Zustand bzw. die Vorstellung des Täters zu berücksichtigen,11 und zwar gleichgültig, ob die Vorstellung des Täters bezüglich der bereits zur Tatzeit gegebenen Umstände der Wirklichkeit entspricht oder nicht.12 Deshalb kann die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellung dort gar nicht thematisiert werden. Hinzu kommt noch das zeitlich-dimensionale Argument, das bereits erwähnt wurde. Da jede Straftat eine zukünftige, in der Außenwelt entstehende Veränderung darstellt und für die Feststellung des Vorsatzes allein die Vorstellung zur Tatzeit maßgeblich ist, ist der Tatbestandsvorsatz von Natur aus zukunftsbezogen. Jedoch treten manche von der Vorstellung abweichende Faktoren erst nach der Ausführungshandlung ein, wie etwa der abweichende Kausalverlauf. In solchen Fällen bleibt also keine andere Möglichkeit übrig, als die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellung des Täters jenseits der Vorsatzfeststellung zu behandeln. Man muss also fragen, ob dieser konkrete Kausalverlauf noch von dem – feststehenden – Vorsatz des Täters vom Tatverlauf gedeckt ist.
9 Daran lässt sich die Unbeachtlichkeit des Subsumtionsirrtums eindeutig erkennen. Nicht der Täter, sondern nur der Rechtsanwender muss also den Gesetzestext bzw. Tatbestandsmerkmale kennen. Wenn der Täter den Gesetzestext bzw. das Gesetz nicht kennt, kann er höchstens einem Verbotsirrtum unterliegen (allgemeine Ansicht, vgl. nur B. Heinrich, Strafrecht, AT II, 2. Aufl. 2010, Rn. 1078 f.). Jedoch sind einige gängige Definitionen des Vorsatzes im Schrifttum nicht nur sprachlich verunglückt, sondern sogar irreführend, wie etwa: „das Wissen und Wollen der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden objektiven Merkmale“ (Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S. 293; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, 28. Aufl. 2010, § 15 Rn. 9) oder „der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatbestandsmerkmale“ (Rengier, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2010, § 14 Rn. 5). Nimmt man diese geläufigen Definitionen wörtlich, dann würde der Subsumtionsirrtum deshalb zwangsläufig zum Vorsatzausschluss führen, weil der das Gesetz unrichtig auslegende Täter einschlägige „gesetzliche Tatbestandsmerkmale“ gerade nicht kennt. 10 So z. B. Wessels/Beulke (Fn. 4), Rn. 202, 244. 11 So ist jedenfalls die h. M., vgl. nur B. Heinrich, Strafrecht, AT I, 2. Aufl. 2010, Rn. 264 ff.; a. A.: Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 8/5a, 13, 69, 100. 12 Der Tatbestandsvorsatz kann also durchaus auf der Basis einer vermeintlichen, völlig von objektiven Umständen abweichenden Vorstellung begründet werden. Sonst könnte der Täter beim untauglichen Versuch niemals vorsätzlich handeln.
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III. Das zusätzliche Kongruenzerfordernis Die Straftat soll immer als eine Einheit bzw. Ganzheit verstanden werden, obwohl sie wegen der fallprüfungstechnischen Schematisierung in die objektive und die subjektive Seite zerlegt wird. Bei vorsätzlich-vollendeten Delikten erscheint – wie der Jubilar zutreffend dargestellt hat – das objektiv tatbestandsmäßige Geschehen in besonderem Maße unwertig, weil es sich als spezifische Verwirklichung der betätigten Entscheidung begreifen lässt.13 Im Vergleich zum Fall gleichartiger Tateinheit zwischen Versuch und Fahrlässigkeit zeigt das vollendete Vorsatzdelikt also ein erhöhtes Unrecht.14 Das ist aber nur verständlich, wenn man im vollendeten Vorsatzdelikt mehr als die bloße Addition einer objektiven und subjektiven Unrechtskomponente innerhalb einer Tat, also mehr als eine mathematische Aufsummierung von Versuch und fahrlässiger Vollendung sieht15. Um die sachliche Einheit bzw. Ganzheit der Straftat zu wahren, muss nach der Prüfung des äußeren und inneren Tatbestandes ein dritter Schritt, nämlich eine weitere Prüfungsstation der Kongruenz, zusätzlich in den Aufbau des Vorsatzdelikts eingefügt werden.16 Denn nach der Bejahung der objektiven Tatbestandsmäßigkeit und des Vorsatzes kann man noch nicht ausschließen, dass die Vorstellung des Täters und die objektiven Tatsachen atypisch (i. S. einer Tateinheit von Versuch und Fahrlässigkeit) miteinander verbunden sind. Diese zusätzlich eingefügte Kongruenzprüfung sollte dann vorgenommen werden, wenn der objektive Tatbestand erfüllt ist17 und der Täter auch vorsätzlich gehandelt hat, jedoch zweifelhaft bleibt, ob das objektive Unrecht vom Vorsatz gedeckt ist.
13
Frisch (Fn. 2), S. 585. Dies zeigt sich dort umso deutlicher, wo weder der Versuch noch die fahrlässige Begehungsweise ausdrücklich mit Strafe bedroht werden und daher straflos sind; z. B. bei der Untreue (§ 266 StGB). 15 Vgl. Frisch (Fn. 2), S. 584 f. 16 Vgl. Schild, Die „Merkmale“ der Straftat und ihres Begriffs, 1979, S. 120 f. Bis dato wurde diese zusätzliche Anforderung an das vorsätzlich-vollendete Delikt zwar nur teilweise ausdrücklich anerkannt, jedoch nehmen die Stimmen, die dies fordern, allmählich zu. So etwa: Frisch (Fn. 2), S. 569 ff., 582 ff.; Eser/Burkhardt, Strafrecht I, 4. Aufl. 1992, 8/A2 ff., besonders A24 ff., 9/A6 ff., 19 (Deckungsverhältnis); Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn. 109 ff.; MK-StGB/Freund, 2003, Vor §§ 13 ff. Rn. 341 ff.; Frister, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, 11. Kap. Rn. 43 ff.; Hoyer, Strafrecht, AT /1, 1996, S. 59 ff.; Küper, ZiS 2010/ 3, 199; Puppe, Vorsatz und Zurechnung, 1992, S. 1 ff.; NK-StGB/Puppe, 3. Aufl. 2010, § 16 Rn. 68 ff., insbesondere 71, 45 ff.; Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 151 ff.; Samson, Strafrecht I, 7. Aufl. 1988, S. 17, 98 f., 105 f., 186, 257; AK-StGB/Schild, 1990, Rn. 185 vor § 13; ders., FS Jakobs, 2007, S. 613; SK-StGB/Rudolphi/Stein (Fn. 3), § 16 Rn. 36 ff.; LK-StGB/Vogel (Fn. 1), § 15 Rn. 48 ff., § 16 Rn. 72; Wolter, GA 1991, 540 Fn. 18; ders., GA 2006, 408 f. 17 Wenn die objektive Tatbestandsmäßigkeit verneint wird, bleibt allenfalls eine eventuelle Bestrafung wegen Versuchs übrig. Die Frage nach der Kongruenz entsteht dann freilich nicht mehr. So etwa in dem Krankenhaus-Fall, in dem das Opfer durch einen gezielten Messerstich in den Bauch verletzt wird und bei Behandlung der Wunde an einem Brandunglück im Krankenhaus sirbt. Vgl. dazu B. Heinrich (Fn. 11), Rn. 249 ff. 14
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Bei Annahme der objektiven und subjektiven Tatbestandsmäßigkeit ist eine hinreichende Kongruenz zwischen dem objektiven und dem subjektiven Unrecht für die Annahme einer vorsätzlich-vollendeten Zurechnung zwar in meisten Fällen gegeben. Trotzdem ist eine zusätzliche Prüfung dieser hinreichenden Kongruenz nötig. Ohne einen solchen zusätzlichen Prüfungsschritt, der jenseits der objektiven und der subjektiven Tatbestandsmäßigkeit liegt, kann man in den Fällen der aberratio ictus bzw. der wesentlichen Abweichung gar nicht zum Ergebnis der Bestrafung wegen fahrlässiger Erfolgsherbeiführung in gleichartiger Tateinheit mit versuchter vorsätzlicher Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges kommen. Der Kongruenz im ursprünglichen bzw. ersten Sinne gegenüber lässt sich diese Kongruenzforderung als Kongruenz im zweiten Sinne bezeichnen.18 Das zusätzliche Kongruenzerfordernis ist nicht mit dem Vorsatzerfordernis zu verwechseln. Bei der Feststellung des Vorsatzes handelt es sich um eine die Psyche des Täters betreffende Frage, die sich auf der Basis einer naturalistischen Betrachtung beantworten lässt. Bei der zusätzlichen Kongruenzprüfung geht es dagegen um eine Wertungsfrage, nämlich darum, ob die Vorstellung des Täters mit den objektiven tatbestandsmäßigen Tatsachen insofern hinreichend kongruent ist, als ein gewisses Maß an Übereinstimmung zwischen dem objektiven Sachverhalt und dem Inhalt des Vorsatzes bzw. der Vorstellung des Täters vorliegt.19 Durch die systematische Trennung der beiden Feststellungen können terminologische Missverständnisse vermieden werden. Zudem lässt sich bei den unwesentlichen Abweichungsfällen der mögliche Vorwurf der „Vorsatzfiktion“ leicht widerlegen, da nicht behauptet wird, der Täter habe den objektiv eintretenden Verlauf auch gekannt bzw. sich vorgestellt, sondern: Dieser wirkliche Kausalverlauf kann dem Vorsatz, der an sich einen anderen Verlauf betrifft, zurechenbar sein. Ebenfalls bleibt der gleiche Vorwurf gegen die Gleichwertigkeitstheorie20 bei aberratio ictus in der Luft hängen, weil diese Theorie nicht behauptet, der Täter habe auch einen Vorsatz hinsichtlich des getroffenen Objekts, sondern: Das objektive Geschehen könne auch dem Vorsatz, der an sich ein anderes, aber tatbestandlich gattungsgleiches Objekt betrifft, zurechenbar sein. Darüber, ob die tatbestandliche Gattungsgleichheit bei der aberratio ictus eine hinreichende Kongruenz und daher eine Bestrafung der vollendeten Vorsatztat begründen kann, kann man freilich weiter diskutieren.21 So wird aber klar, dass es bei der aberratio ictus nicht etwa um das Ob des Vorsatzausschlusses überhaupt geht. Beim Fehlen der hinreichenden Kongruenz bleibt also der Vorsatz bestehen, der die Grundlage einer Versuchsbestrafung bildet.22
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s. dazu S.-W. Tsai, Zur Problematik der Tatbestandsalternativen, 2006, S. 236 ff. Vgl. dazu NK-StGB/Puppe (Fn. 16), § 16 Rn. 68; dies. (Fn. 16), S. 1; Roxin (Fn. 16), § 12 Rn. 153 f. 20 s. dazu Koriath, JuS 1997, 902, 906; krit. Puppe, JuS 1998, 287 f. 21 Vgl. näher dazu Frisch (Fn. 2), S. 600 f., 616 f. 22 Vgl. Eser/Burkhardt (Fn. 16), 8/A11; Frisch (Fn. 2), S. 574. 19
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IV. Konkretisierung des Prüfungsinhalts Diejenigen Tatsachenirrtümer, die nichts mit dem Tatbestandsirrtum i. S. des § 16 zu tun haben und auf der Ebene der zusätzlichen Kongruenzprüfung zu behandeln sind, sind durch Folgendes gekennzeichnet: Der objektive und der subjektive Tatbestand sind zwar je für sich genommen erfüllt; jedoch liegt eine Diskrepanz zwischen beiden Seiten vor, die ggf. verhindern kann, das äußere Geschehen als Ausdruck der bewussten Entscheidung des Täters gegen das Rechtsgut zu begreifen. Hier muss man sich aus normativer Sicht entscheiden, ob eine für die Zurechnung der vollendeten Vorsatztat hinreichende Kongruenz zwischen der objektiven und der subjektiven Seite gegeben ist. Solange beide Seiten gemeinsam ein normatives Substrat bilden, kann eine vollendete Vorsatztat trotz der Divergenz zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellung bejaht werden. Ein solches normatives Substrat ist zunächst dort leicht zu finden, wo der Gesetzgeber dafür Hinweise im Gesetzestext hinterlassen hat. Wenn dies der Fall ist, braucht die Vorstellung nur in Bezug auf diese Tatbestandsmerkmale mit der Wirklichkeit übereinzustimmen. Mit dem Tatbestand hat der Gesetzgeber bestimmt, welche Voraussetzungen für die Annahme einer Straftat erfüllt sein müssen. Bei der Beschreibung der Straftat muss der Gesetzgeber die zu regelnden Tatsachen selbst konstituieren und auf Informationen verzichten, die er für irrelevant hält. Bezüglich der irrelevanten Eigenschaften fällt die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellung des Täters für die Annahme dieser Straftat überhaupt nicht ins Gewicht. Danach bildet jedes gesetzliche Tatbestandsmerkmal bezüglich einer bestimmten Dimension des Geschehens (z. B. Gattung bzw. Eigenschaften des Tatobjekts) ein normatives Substrat für die vorsätzlich-vollendete Zurechnung. Innerhalb der Extension eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmales steht die Diskrepanz der vorsätzlichvollendeten Zurechnung deshalb nicht im Wege. Dadurch lässt sich die Unbeachtlichkeit des sog. gleichwertigen Objektsirrtums (error in persona vel objecto) problemlos erklären.23 Der Irrtum des Täters ist hier lediglich als ein unbeachtlicher Motivirrtum anzusehen. Das Gleiche gilt auch für den Irrtum über diejenigen Tatbestandsalternativen, die zusammen ein (disjunktiv formuliertes) Tatbestandsmerkmal darstellen. Wenn die einschlägigen Tatbestandsalternativen zusammen ein Tatbestandsmerkmal bilden, hat der Gesetzgeber mit der disjunktiven Fassung eigentlich nur einen einzigen Begriff beschreiben wollen, weswegen der Alternativenirrtum genau so zu behandeln ist wie der Irrtum über dasjenige Tatbestandsmerkmal, das anhand eines einzigen Wortes formuliert wird. Nach dem Hinweis des Gesetzgebers schaffen die einschlägigen 23 Allein durch die Feststellung des Vorsatzes bleibt die Divergenz zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellung unberücksichtigt, weil man hier ausschließlich auf die Vorstellung des Täters abstellt. Anders ist es beim ungleichwertigen Objektsirrtum. Dort löst man das Irrtumsproblem lediglich auf der Ebene der Vorsatzprüfung, weil der Vorsatz wegen des Irrtums ausgeschlossen wird. Beim Vorsatzausschluss bleibt also keine vorsätzlich-vollendete Strafbarkeit mehr übrig, weshalb die Frage nach Kongruenz überhaupt nicht entsteht.
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Tatbestandsalternativen gemeinsam ein normatives Substrat für die vollendete Vorsatztat. Hier müssen die Wirklichkeit und die Vorstellung des Täters lediglich innerhalb dieses disjunktiv gefassten Merkmals kongruent sein. Kommt aber dagegen jeder Tatbestandsalternative die Qualifikation eines Tatbestandsmerkmales zu, dann muss die vorsätzlich-vollendete Zurechnung stets verneint werden.24 Die Tatbestandsalternativen des § 326 Abs. 1 bieten ein Schulbeispiel für den unbeachtlichken Alternativenirrtum. Nr. 1 – 4 des § 326 Abs. 1 stellen zusammen ein Merkmal über die Eigenschaften des tatbestandsmäßigen Objekts dar. Folglich ist der Irrtum darüber, welcher Unterart die Emission angehört, unbeachtlich. Danach hat sich auch derjenige Lkw-Fahrer wegen einer vollendeten Vorsatztat des § 326 Abs. 1 strafbar gemacht, der im Auftrag eines Unternehmens Abfälle auf eine nicht zulässige Weise beseitigt und davon ausgeht, dass es sich um gifthaltige Abfälle handele, während sie in Wahrheit Erreger einer gemeingefährlichen und übertragbaren Krankheit enthalten. Ebenso hat sich strafbar gemacht, wer glaubt, er fahre explosionsgefährliche Abfälle, während diese tatsächlich geeignet sind, den Boden oder ein Gewässer zu verändern.25 Der Irrtum ist hier also lediglich als ein unbeachtlicher Motivirrtum – wie beim gleichwertigen Objektsirrtum (error in objecto) – zu behandeln. Im Gegensatz dazu ist die Annahme der hinreichenden Kongruenz bei der Abweichung des eingetretenen vom vorgestellten Kausalverlauf oder bei der aberratio ictus viel schwieriger, weil die Abirrung sich nicht auf ein geschriebenes Tatbestandsmerkmal bezieht und der Rechtsanwender sich daher ohne Hinweise des Gesetzgebers entscheiden muss, unter welchen Umständen sich ein normatives Substrat für die vorsätzlich-vollendete Zurechnung begründen lässt. Wenn man die Bedeutung der Kongruenz ganz abstrakt betrachtet, kann ihr Kern so formuliert werden, dass das äußere Geschehen als die bewusste Entscheidung des Täters gegen das Rechtsgut zu begreifen sein muss. Dies setzt freilich voraus, dass der Täter seine Entscheidung gegen das Rechtsgut endgültig gefasst hat. Davon kann jedoch nur dann die Rede sein, wenn der Täter den Kausalverlauf in Richtung auf ein geschütztes Rechtsgut in Gang gesetzt bzw. das Geschehen aus der Hand gegeben hat. Damit lässt sich auch die Problematik des sog „vorzeitigen Erfolgseintritts“ lösen.26 Bei der zusätzlichen Kongruenzprüfung sollte man darüber hinaus auch die anderen sog. einaktigen27 Abweichungsfälle behandeln, in denen der ins Stadium des be24
Schwierigkeiten entstehen aber gerade bei der Antwort auf die Kernfrage, ob die einschlägigen Tatbestandsalternativen ein einziges Tatbestandsmerkmal oder mehrerer Tatbestandsmerkmale darstellen. Vgl. dazu S.-W. Tsai (Fn. 18), S. 77 ff., 117 ff., 155 f., 238 ff. 25 Beispiele nach Schittenhelm, GA 1983, 313. Vgl. dazu auch S.-W. Tsai (Fn. 18), S. 245 ff. 26 Im Ergebnis entspricht die hier vertretene Meinung vollständig der Lehre vom Vollendungsvorsatz. Der Ausdruck „Vollendungsvorsatz“ ist aber irrführend. 27 Demgegenüber stellt der Fall des dolus generalis (der verspätete Erfolgseintritt) eine mehraktige Abweichung dar. Dort soll das Hauptproblem die Prüfung der objektiven Tatbe-
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endeten Versuchs kommende Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg durch eine einzige Handlung in einer von seiner Vorstellung abweichenden Weise herbeiführt.28 Nach der sog. Risikotheorie muss das Risiko, das sich objektiv im Erfolg realisiert, vom Täter bewusst geschaffen werden.29 Nur dann, wenn die Risikofaktoren dem Täter bekannt sind, kann davon die Rede sein, dass das äußere, objektiv tatbestandsmäßige Tatgeschehen von seinem Vorsatz beherrscht wird und die Tat als die bewusste Entscheidung des Täters gegen das Rechtsgut zu begreifen ist. Die Vorstellung des Täters und die objektive Wirklichkeit müssen danach innerhalb einer unerlaubten Risikoschaffung kongruent sein. Hier muss der Rechtsanwender unausweichlich von der Sprache Gebrauch machen. Er kann das Prüfungsergebnis jedoch durch die Auswahl der Beschreibung leicht manipulieren, solange keine allgemeinen Regeln dafür angegeben und normativ gerechtfertigt werden, wie konkret eine Gefahr sein muss.30 Dafür hat Puppe einen scharfsinnigen Lösungsvorschlag aufgestellt. Ihrer Meinung nach sollen die Beschreibung über die objektiv vorhandenen Tatsachen einerseits und die über die vom Täter vorgestellten Tatsachen andererseits gegenseitig eingeschränkt werden.31 Die Manipulationsmöglichkeit kann erheblich reduziert werden, wenn man zunächst fragt, in welchen Tatsachen die Vorstellung des Täters mit dem wirklichen Kausalverlauf übereinstimmt, und dann die so erhaltene vorsätzlich gesetzte Gefahr daraufhin bewertet, ob die übereinstimmenden Faktoren zur Begründung einer unerlaubten Risikoschaffung hinreichen. Wenn dies der Fall ist, steht die Divergenz zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellung des Täters der vorsätzlich-vollendeten Zurechnung nichts im Wege. Schließlich bleibt noch der Irrtum über die Unrechtsquantität übrig.32 Da viele Unrechtserfolge quantifizierbar sind, kann der tatbestandsmäßige Schaden größer oder kleiner sein. Wenn der Täter sich über das Unrechtsquantum irrt, ist das ihm zuzurechnende objektive Unrecht vom Ausmaß des Erfolges abhängig. Geht der Schaden bzw. das Unrecht in seinem Ausmaß über die Vorstellung des Täters hinaus, kann ihm nur dasjenige Unrechtsquantum zum Vorsatz zugerechnet werden, das er sich als möglich vorgestellt hat.33 Handelt der Täter z. B. in der Vorstellung, den Brand eines Hauses zu verursachen, gehen aber infolge seiner Brandstiftung mehrere standsmäßigkeit bzw. die Feststellung der objektiven Zurechnung sein. Vgl. dazu Murmann, Grundkurs Strafrecht, 2011, § 25 Rn. 72. 28 Klassisches Schulbeispiel ist der berühmte Brückenpfeilerfall: Der Täter stürzt das Opfer in Tötungsabsicht von einer hohen Brücke, in dem Glauben, unter ihm und dem Opfer befände sich nichts als Wasser und das nicht schwimmen könnende Opfer werde darin ertrinken. In Wirklichkeit zerschellt das Opfer an einem Vorsprung des Brückenpfeilers. 29 Vgl. Frisch (Fn. 2), S. 574 f., 587; Frister (Fn. 16), 11. Kap. Rn. 47 ff.; Jakobs (Fn. 11), 8/63, 66; Kindhäuser (Fn. 3), § 27 Rn. 44 ff. 30 Vgl. näher Puppe, GA 1994, 308 f. 31 Vgl. dazu Puppe, GA 1994, 315; dies. (Fn. 16), S. 53 f.; NK-StGB/Puppe (Fn. 16), § 16 Rn. 80 f. 32 Anders: SK-StGB/Rudolphi/Stein (Fn. 3), § 16 Rn. 30. 33 Frisch (Fn. 2), S. 589 Fn. 100, 597 f.; NK-StGB/Puppe (Fn. 16), § 16 Rn. 88; dies. (Fn. 16), S. 8 f.
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Häuser in Flammen auf, so kann er wegen vorsätzlicher Brandstiftung nur an einem Gebäude bestraft werden.34 Das überschießende Unrechtsquantum kann dem Täter – wegen Mangels an Kongruenz – allenfalls als fahrlässiges Verhalten oder im Rahmen der Strafzumessung als verschuldete Folge der Tat angelastet werden.35
V. Schlusswort Mit der oben skizzierten Argumentation kann man zu folgendem Ergebnis kommen: Manche Tatsachenirrtümer sind zwar im Rahmen der Vorsatzfeststellung unbeachtlich, können aber trotzdem die Annahme einer vorsätzlich-vollendeten Straftat ausschließen. Um die Ganzheit der Straftat gewährleisten zu können, muss es jenseits der objektiven und der subjektiven Tatbestandsmäßigkeit noch ein „Kettenglied“ zwischen beiden geben. Die Kongruenz ist dieses notwendige Kettenglied. Nur wenn man ein positives Ergebnis bei dieser zusätzlichen Kongruenzprüfung erzielt, kann die Tatbestandsmäßigkeit der vollendeten Vorsatztat angenommen werden. Die fehlende Kongruenz in diesem Sinne hat demzufolge nichts mit § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zu tun, ist also kein Unterfall des vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums. Der Jubilar hat einen großen Namen in der internationalen Strafrechtswissenschaft, vor allem auch im Fernost. In Taiwan ist er bekannt für die Gründlichkeit seiner Forschung. Während meiner Promotion hat er mich betreut und in vielerlei Hinsicht inspiriert. Von der Fachkenntnis, der Denkmethode bis zur Vortragstechnik kann man unheimlich viel von Herrn Frisch lernen. Alles, was ich von ihm gelernt habe, kann ich in meiner Lehr- und Forschungstätigkeit in Taiwan gut gebrauchen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Da wir sehr intensiv – sowohl während meiner fünfjährigen Promotion als auch während meines einjährigen Forschungsaufenthalts in WS 2010/2011 und SS 2011 – über die Irrtums- und Vorsatzproblematik diskutiert haben, ist das Thema der „vorsätzlich-vollendeten Zurechnung“ ein uns beide sicherlich in gleicher Weise interessierendes Thema. Mit diesem Aufsatz möchte ich – ein Schüler, der das gleiche Geburtstagsdatum hat – dem Jubilar meinen herzlichen Glückwunsch zu seinem 70. Geburtstag aussprechen und wünsche ihm für die nächste Lebensphase Gesundheit, Freude und die Fortdauer seiner fruchtbaren wissenschaftlichen Produktivität!
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Beispiel nach NK-StGB/Puppe (Fn. 16), § 16 Rn. 68. Vgl. dazu Puppe, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2011, § 10 Rn. 2 f.; zur verschuldeten Folge, vgl. Frisch, GA 1972, 321 ff. (im Hinblick auf Irrtumskonstellationen). Ferner soll der Irrtum über die Beteiligungsrolle auch bei der zusätzlichen Kongruenz behandelt werden. Darauf kann hier aus räumischen Gründen nicht eingegangen werden. s. dazu Frisch (Fn. 2), S. 624 ff.; Bloy, ZStW 117 (2005), 3 ff. 35
Der Pockenarztfall Von Enrique Gimbernat Ordeig
I. Bei dem bekannten Pockenarztfall (BGHSt 17, 359 f.) ging es hauptsächlich darum, ob der mit Pocken in Asien angesteckte Arzt, der trotz Kenntnis seiner Krankheit nach seiner Rückkehr seinen Dienst in Deutschland in einer Universitätsklinik wieder angetreten hatte, nicht nur für die persönlichen Schäden zu haften hatte, die mehrere Personen, die sich in der Klinik aufhielten, als Folge der Infizierung mit der Krankheit erlitten hatten, sondern auch für die Ansteckung des Klinikseelsorgers, der sich infiziert hatte, als er sich zu den unter Quarantäne stehenden Infizierten begab. Entscheidend dafür, dass der Arzt für die dem Seelsorger beigebrachte Körperverletzung doch haften musste, ist nach dem BGH folgende Überlegung: „Deshalb könnte allenfalls in Betracht kommen, im Verhalten des Seelsorgers eine Einwilligung zu künftigen Handlungen oder Unterlassungen derjenigen Kranken zu finden, zu denen er sich in die Quarantäne begab. Es geht aber nicht an, diese ,Einwilligung‘ auch auf das fahrlässige Verhalten des Angeklagten zu beziehen, das längst abgeschlossen vorlag, als der Seelsorger die Quarantänestation aufsuchte.“
II. Über das Ergebnis dieser Entscheidung des BGH sind die Meinungen in der Doktrin geteilt. 1. Roxin überträgt auf den Pockenarztfall sinngemäß die Ansicht, die er schon bei den „Retterfällen“ vertritt, nach der der Brandstifter nicht für die Tode oder die Verletzungen haftet, die die Retter beim Versuch, das Feuer zu löschen, sich selbst zufügen1: „Es ist daher hinsichtlich der Personen, die sich unwissentlich infiziert haben, zu Recht wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung bestraft worden. Anders liegt es aber im Falle des Klinikseelsorgers. Denn dieser hat sich vorsätzlich aus eigenem Entschluss selbst gefährdet, so dass die daraus entstehenden Folgen nicht dem A [dem Arzt] zugerechnet werden dürfen. Das edle Motiv dieser Selbstgefährdung ändert daran nichts: im Gegenteil, es könnte nur das Gewissen des Seelsorgers be1 Vgl. Roxin, FS Honig, 1970, S. 142/143; ders., FS Gallas, 1973, S. 247/248; ders., Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 139.
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lasten, wenn er befürchten müsste, durch seine Aufopferung den A in Strafe zu stürzen.“2 Fiedler kommt zum selben Ergebnis, wenngleich mit einer anderen Begründung, nämlich, indem er sich auf das Selbstverantwortungsprinzip beruft: „Es kann aber nicht Ziel des Strafrechts sein, die Rechtsgüter selbst gegen den Willen ihrer Träger und unter Missachtung von deren Recht zur Selbstentfaltung absolut zu schützen, es muss jedem Bürger gestattet sein, in eigener Verantwortung bestimmte Gefahren auf sich zu nehmen, oder sich etwa in gefährlichen Verhaltensbereichen zu bewegen“3, woraus sich ergebe, dass „Rechtsgüterschutz wider Willen des Rechtsgutträgers mit der Funktion des Rechtsguts im Strafrecht unvereinbar“ sei4. Im Unterschied zum „Retterfall“, in dem nach Fiedlers Meinung der Bandstifter für die persönlichen Schäden, welche die Feuerwehrleute beim Löschen des Brandes sich selbst zufügen, zur Verantwortung gezogen werden muss, da der Retter „gerade nicht frei“ sei, weil dieser „vom Täter zur Selbstgefährdung gezwungen“ werde, kann „im Pockenarztfall […] jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass der angeklagte Arzt den Seelsorger in diesem Sinne dazu ,gezwungen‘ hat, Krankenbesuche zu machen. Wenn auch Gössel von einer kirchenrechtlichen Dienstpflicht und der BGH von einem ,Gebot des Gewissens‘ sprechen, ist nicht ernstlich bestreitbar, dass religiöse Betreuung nicht durch rechtliche Verpflichtung erzwungen werden kann […] – Daraus folgt, dass es dem Seelsorger im Pockenarztfall zuzumuten war, sich der Ansteckungsgefahr ohne strafrechtlichen Schutz auszusetzen“5. Für die Freisprechung des Arztes von der vom Geistlichen erlittenen Körperverletzung haben sich auch, wenngleich nicht immer mit derselben Begründung, u. a. Schünemann6, Otto7, Feijoo8 und Schroeder9 ausgesprochen. 2. Eine andere Ansicht vertritt Rudolphi, weil nach ihm der Seelsorger die Gefahr sich selbst zu schaden nicht freiwillig übernimmt, und zwar deswegen, weil: „Der Verpflichtung nach staatlichem Recht ist dabei die kirchenrechtliche Dienstpflicht z. B. des Klinikseelsorgers, Kranken auch dann beizustehen, wenn dies Gefahren 2 Roxin, Strafrecht, AT I (Fn. 1), § 11 Rn. 109. Im gleichen Sinne schon ders., FS Honig, S. 143 Anm. 26; ders., FS Gallas, 1973, S. 248 Anm. 23. 3 Fiedler, Zur Strafbarkeit der einverständlichen Fremdgefährdung, 1990, S. 186. 4 Fiedler (Fn. 3), S. 187. 5 Fiedler (Fn. 3), S. 188. Im gleichen Sinne und mit der gleichen Argumentation, Schönke/ Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 168. 6 Schünemann, JA 1975, 721: „Der Klinikseelsorger will sich zwar nicht selbst verletzen, oder gar töten, setzt sich aber bewusst der von ihm vollständig überblickten Infektionsgefahr aus […] im Pockenarztfall [geht es] aber überhaupt nicht um die Einwilligung in eine von fremder Hand gesteuerte Verletzung, sondern um die freiwillige Selbstverletzung, die wie die Selbstschädigung keinem Straftatbestand unterfällt und deren Förderung bzw. Ermöglichung ebenso (bzw. erst recht) wie beim Selbstmord straflos sein muss“ (Hervorhebungen dort). 7 Vgl. Otto, FS Maurach, 1972, S. 100. 8 Siehe Feijoo, RDPC 2000, 323, Anm. 32. 9 LK-StGB/Schroeder, 11. Aufl. 2003, § 16 Rn. 182.
Der Pockenarztfall
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mit sich bringt, gleichzuachten.“10 Rudolphi folgen im Ergebnis u. a. Maurach/Gössel11, Jescheck/Weigend12, Baumann/Weber13 und Murmann14, während Frisch zweifelhaft scheint, wie der Pockenarztfall entschieden werden muss15. 3. Beim Retterfall teilen sich die Meinungen darüber, ob der zur Rettung verpflichtete Feuerwehrmann rechtswirksam in seine Selbstgefährdung einwilligt: Hauptsächlich wird die Antwort auf die Frage, ob der Brandstifter für den Tod oder die Körperverletzungen verantwortlich gemacht werden kann, welche der Feuerwehrmann bei seiner Rettungshandlung sich selbst verursacht, davon abhängig gemacht, ob solch eine Handlung – weil sie in Ausübung seiner beruflichen Pflicht vollzogen wird – als freiwillig betrachtet werden kann oder nicht; denn es besteht Einigkeit darüber, dass dem Teilnehmer an der Selbstgefährdung eines anderen, der tatbestandsmäßige Erfolg, den dieser sich selbst beibringt, nur zugerechnet werden kann, wenn das Opfer sich unfreiwillig in die Gefahrlage begeben hat. Nach der h. L. kann aber von einer freiwilligen Selbstgefährdung des Feuerwehrmanns keine Rede sein, weil er seine Handlung auf Grund seiner Berufspflicht „gezwungen“ ausgeführt hat, mit der Folge, dass eine Verantwortung des BrandstifterTeilnehmers bejaht werden muss16, während eine Mindermeinung die Ansicht vertritt, dass der hilfspflichtige Retter seine Handlung freiwillig vollzieht17. 10
Rudolphi, JuS 1969, 557. Siehe, Maurach/Gössel, Strafrecht, AT 2, 7. Aufl. 1989, § 42 Rn. 73: Die Entscheidung des Klinikseelsorgers, sich in die Gefahrlage zu bewegen, könne nicht als „freiwillig“ erachtet werden. 12 S. Jescheck/Weigend, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 1996, S. 288. 13 Vgl. Baumann/Weber, Strafrecht, AT, 11. Aufl. 2003, § 14 Rn. 73/74. 14 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 386 und 440. 15 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 493/ 494. 16 In diesem Sinne vgl. etwa Rudolphi, JuS 1969, 557; SK-StGB/Rudolphi, Loseblattausgabe, 26. Lfg. (Juni 1997), vor § 1 Rn. 80 („Damit ist der Retter aber gerade in seiner Entscheidung, ob er sich zur Rettung des vom Erstverursacher pflichtwidrig gefährdeten Rechtsgutes in Gefahr begeben soll oder nicht, nicht frei […] Er wird von dem Erstverursacher durch Schaffung des seine Hilfspflicht begründeten Sachverhalts zur Gefährdung gezwungen“); Frisch (Fn. 15), S. 475 [„In der Rettungssituation selbst kann von einer freien, eigenverantwortlichen Entscheidung des Dritten keine Rede sein, weil dieser zur Vornahme der riskanten Handlung ja verpflichtet ist, also (im Rahmen des Rechts) überhaupt nicht anders handeln kann“]; Maurach/Gössel (Fn. 11), § 13 Rn. 73; Corcoy, El delito imprudente, 1989, S. 556; Fiedler (Fn. 3), S. 188; Sowada, JZ 1994, 665 Anm. 1; Bernsmann/Zieschang, JuS 1995, 778; Cancio, Conducta de la víctima e imputación objetiva, 2. Aufl. 2001, S. 343; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 27. Aufl. 2006, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 101 c; Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm“ und die strafgesetzlichen Erfolgsdelikte, 2001, S. 368 ff.; Cuello Contreras, Parte General, 3. Aufl. 2002, VIII/178; Puppe, Strafrecht, AT I, 2002, § 6 Rn. 36, siehe auch § 13 Rn. 28 und 33, SK-StGB/Puppe, 8. Aufl. 2005 ff., vor § 13 Rn. 186; dies., GA 2009, 494; dies., Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2011, § 6 Rn. 12 und 21; MKStGB/Freund, 2003, vor §§ 13 ff. Rn. 388; MK-StGB/Duttge, 2003, § 15 Rn. 155 [„[…] während es bei berufsmäßigen ,Rettern‘ (wie insbesondere bei Angehörigen der Feuerwehr oder der Polizei) im Rahmen des ihnen auferlegten Pflichtenkreises an der Eigenverantwort11
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III. Genauso wie beim Retterfall wird also beim Pockenarztfall der Freispruch oder die Verurteilung des Arztes wegen der Infektion des Klinikseelsorgers mit der Frage verknüpft, ob dieser sich in die Gefahrlage freiwillig begeben hat. Damit im Zusammenhang steht dann die Frage, ob man von einer rechtswirksamen Einwilligung in die Gefahr sprechen kann, falls der sich selbst Gefährdende verpflichtet ist, die riskante Handlung vorzunehmen. Aber auch wenn man davon ausgeht, dass – wie z. B. Rudolphi meint18 – „der Verpflichtung nach staatlichem Recht […] die kirchenrechtliche Dienstpflicht“ gleichzuachten sei, muss widersprochen werden, dass das Bestehen einer Pflicht zum Handeln die Nichtigkeit der Einwilligung mit sich bringt. Denn wenn dies zuträfe, dann wäre jeder Hauptvertrag, der auf einem Vorvertrag beruht, auch nichtig – genauso, wie wenn er durch Drohung oder auf Grund eines Irrtums geschlossen worden wäre –, denn dass der Vorvertrag zur Annahme des Hauptvertrages verpflichtet, steht außer Frage. Damit will nicht gesagt werden, dass der Bandstifter nicht für die persönlichen Schäden haftet, die der Retter sich selbst zufügt, oder dass der Arzt nicht für die Infizierung des Seelsorgers zur Verantwortung gezogen werden muss, sondern nur, dass – welche Lösung man auch immer vertritt – diese nicht mit dem Argument der angeblichen Unfreiwilligkeit der Einwilligung in die Gefahr seitens des Retters oder des Geistlichen begründet werden kann.
IV. Die h. L. reiht der Pockenarztfall in das bekannte Binom „einverständliche Fremdgefährdung/Teilnahme an einer vorsätzlichen Selbstgefährdung“ ein. Dies aber geschieht – was den Arzt betrifft – zu Unrecht. Zwar muss der Primärkranke (der Arzt) – und darüber herrscht Einigkeit – wegen der fahrlässigen Tötungen und Körperverletzungen zu Lasten der sich im Krankenhaus aufhaltenden Menschen haften. Was aber die Infizierung des Geistlichen betrifft, ist der Arzt kein Teilnehmer an der vorsätzlichen Selbstgefährdung des Seelsorgers: Teilnehmer an dessen Selbstlichkeit stets fehlt (und deshalb der ,Veranlasser‘ die Tatfolge als durch ,Fahrlässigkeit‘ bewirkt zugeschrieben werden kann“); SK-StGB/Hoyer, Loseblattausgabe, 39. Lfg. (Juni 2004), Anh. zu § 16 Rn. 44; Radtke/Hoffmann, GA 2007, 212 und 215; Radtke, FS Puppe, 2011, S. 844 ff.; Frister, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2008, 10/28; Murmann, Grundkurs Strafrecht, 2011, § 23 Rn. 89. 17 In diesem Sinne vgl. etwa Roxin, FS Honig, 1970, S. 142/143, ders., FS Gallas, 1973, S. 247/248; ders., Strafrecht, AT I (Fn. 1), § 13 Rn. 25 und 29; ders., FS Puppe, 2011, S. 913, 916/917; Otto, FS Maurach, 1972, S. 160 Anm. 32; ders., FS Wollf, 1998, S. 411; Martínez Escamilla, La imputación objetiva del resultado, 1992, S. 3652 ff. 18 Rudolphi, JuS 1969, 557.
Der Pockenarztfall
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gefährdung19 ist vielmehr – unter den Kranken, die sich in der Quarantänestation befanden – der konkrete, sekundäre Kranke (der seinerseits vom Arzt infiziert wurde), welcher dem Seelsorger die Pockenviren übertragen hat. Wenn z. B. ein an Aids-Infizierter (Primärkranker) durch Geschlechtsverkehr eine andere Person (Sekundärkranker) – die von der Krankheit seines Partners nichts weiß – die Viren überträgt20, so ist niemand bisher auf die Idee gekommen, den Primärkranken haftbar zu machen für eine weitere, auch durch intime Beziehungen erfolgte Übertragung der Aids-Erkrankung von dem Sekundärkranken an eine dritte Person, die über die Krankheit seines Geschlechtspartners informiert war. Unabhängig davon, ob man der Meinung ist, dass sowohl bei der Fremdgefährdung als auch bei der Teilnahme an einer Selbstgefährdung die rechtswirksame Einwilligung des Opfers in die Gefahrlage die Strafbarkeit des Dritten ausschließt21, oder ob man sich für die Straflosigkeit nur im Fall der Teilnahme an einer Selbstgefährdung ausspricht22, so oder so ist schwer zu begründen – sowohl im Aids- wie im Po19 Bei der Übertragung der Pockenviren an den Seelsorger von einem, von den sich in der Quarantänestation aufhaltenden Kranken, haben wir es nach h. M. mit einer einverständliche Selbstgefährdung zu tun: vgl. nur Schünemann, JA 1975, 191; Feijoo, RDPC 2000, 323 Anm. 32; LK-StGB/Schroeder (Fn. 9), § 16 Rn. 182; Castaldo, La imputación objetiva en el delito culposo de resultado, 2004, S. 233/234; Roxin, Strafrecht, AT I (Fn. 1), 2006, § 11 Rn. 109. 20 Bei der Aidsübertragung, in der der gesunde Partner über die Krankheit des HI-Virusträger informiert worden ist, handelt es sich nach h. M. um eine einverständliche Selbstgefährdung: vgl. BGHSt 36, 1 ff.; BayObLG, NJW 1990, 131 ff.; LG Kempten, NJW 1989, 2068 ff.; Bottke, in: Schünemann/Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 183; Otto, FS Tröndle, 1989, S.367; Hugger, JuS 1990, 975; Fiedler (Fn. 3), S. 190/191; Mir, ADPCP 1991, 264/265; Walther, Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991, S. 240; Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1992, 21/78 a; ders., La prohibición de regreso en los delitos de resultado, in. Estudios de Derecho penal, 1997, S. 405; Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstveranwortung des Verletzten, 1993, S. 58 Anm. 195; Gómez Rivero, La imputación de los resultados producidos a largo plazo, 1998, S. 185/186; García Álvarez, RDPC 3 (1999), 271/272, 291/292; Hellmann, FS Roxin, 2001, S. 284; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 16), Vorbem §§ 32 ff, Rn. 107; Puppe, Strafrecht, AT, 2011, § 6 Rn. 6 und 7; Murmann (Fn. 14), S. 416 ff. und passim (im Ergebnis: Selbstgefährdung, wenn der gesunde Sexualpartner die Gefahrlage überblickt, andernfalls: Fremdgefährdung); ders., FS Puppe, 2011, S. 775; Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 35. Aufl. 2006, § 6 Rn. 191; Duttge, FS Otto, 2007, S. 240; Kühl, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 89. Anderer Ansicht (Fremdgefährdung): Helgerth, NStZ 1988, 262; Frisch, NStZ 1992, 166/167; Schünemann, Problemas juridicopenales relacionados con el SIDA, in: Problemas jurídico penales del SIDA, 1993, S. 44; Roxin, Strafrecht, AT I (Fn. 1), § 11 Rn. 133; ders., JZ 2009, 401; ders., La polémica en torno a la heteropuesta en peligro consentida (von Cancio ins Spanische übersetztes Manuskript des von Roxin im Juli 2012 auf der Universidad Autónoma de Madrid gehaltenen Vortrages), S. 7, 13 und 18. Unentschieden: Weber, FS Baumann, 1992, S. 54 Anm. 45; LK-StGB/Schroeder (Fn. 9), § 16 Rn. 183; Beulke, FS Otto, 2007, S. 211/212. 21 So die in der deutschen und in der spanischen Wissenschaft herrschende Meinung: vgl. Gimbernat, Imputación objetiva y conducta de la víctima, 2007, S. 61/62, Anm. 102, mit zahlreichen Hinweisen. 22 Hinweise bei Gimbernat (Fn. 21), S. 61 – 63, Anm. 102 und 103.
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ckenarztfall –, wieso die Primärkranken für die durch die Sekundärkranken übertragenen Aids- bzw. Pockenerkrankung an die Dritten – die die Gefahrlage völlig überblicken – verantwortlich gemacht werden sollen. Bei der Aidsübertragung ist man darüber einig, dass der HI-Virusträger straflos bleiben muss, wenn er den gesunden Geschlechtspartner über seine Krankheit unterrichtet hat, und beim Pockenarztfall ist die einzige Frage, über welche gestritten wird, die Frage danach, ob der Arzt für die Erkrankung des Geistlichen haften oder nicht haften muss. Aber dass der Sekundärkranke, der die Pockenviren direkt an den Seelsorger übertragen hat, als dieser sich wohlwissend in die Quarantänestation und damit in die Gefahrenlage begab, straflos bleiben muss, ist von niemandem bezweifelt worden. Wenn dies aber so ist, wie sollte es dann möglich sein, den Arzt für die Pockenübertragung an den Geistlichen verantwortlich zu machen, wenn bei dem Verhalten (des Sekundärkranken), das am Ende die Krankheit tatsächlich übertragen hat, es sich um ein tabestandsloses Verhalten handelt, ungeachtet dessen, ob diese Tatbestandslosigkeit auf das Fehlen der objektiven Zurechnung zurückgeführt wird, oder damit begründet wird, dass die Reichweite des Tatbestandes so einen Erfolg nicht erfasst?23 Denn zwar hat der Arzt die Kausalkette, die letztlich in die Pockenerkrankung des Klinikseelsorgers gemündet hat, in Gang gesetzt, aber da diese Infizierung durch ein Verhalten (des sekundären Kranken), das nicht rechtswidrig (ja, nicht einmal tatbestandsmäßig) ist, hervorgebracht wurde, besteht keine Möglichkeit, eine Verantwortung des Arztes zu begründen, wenn die Erfolgsverursachung in ihrer letzten Stufe rechtmäßig (weil nicht tatbestandsmäßig-rechtswidrig) war. Andererseits: Sollte der Arzt für die Erkrankung des Seelsorgers verantwortlich sein, so müsste man daraus folgerichtig schließen – und dies gilt auch für den primären Aidsinfizierten, der die Viren an einen von der Krankheit nichts wissenden Dritten rechtswidrig übertragen hat –, dass er auch für die weiteren Pockenkrankheiten haften würde, die der Geistliche bei einverständlichen vorsätzlichen Selbstgefährdungen auf andere Personen überträgt, und auch für die Krankheiten, die die vom Seelsorger Infizierten an weitere Personen übertragen, so dass dem Arzt – wie dem primären Aids-Kranken – in einer unendlichen Kette eine unübersehbare Zahl von tatbestandlichen Erfolgen zugerechnet werden müsste.
V. M. a. W. und als Ergebnis dieses Beitrages: Der Arzt kann für die Erkrankung des Klinikseelsorgers deswegen nicht haftbar gemacht werden, weil die Übertragung der Pockenviren durch ein Verhalten durchgeführt wurde, dessen Erfolg nicht objektiv zurechenbar (Teilnahme des Sekundärkranken an einer völlig überblickten Selbstgefährdung seitens des Geistlichen mit Körperverletzungsfolge), d. h. nicht tatbestandsmäßig war, woraus sich ergibt, dass niemand (auch nicht der Arzt) für eine am Ende tabestandslose Erfolgsverursachung sich strafbar machen kann. 23
In diesem Sinne Roxin, Strafrecht, AT I (Fn. 1), § 11 Rn. 106 ff.
Der Pockenarztfall
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Ich danke den Herausgebern dafür, dass sie mir durch ihre Einladung zur Mitwirkung an dieser Festschrift für Wolfgang Frisch die Gelegenheit gegeben haben, meine sowohl persönliche als auch wissenschaftliche große Achtung auszudrücken, die ich für unseren Jubilar empfinde: Einen auch in den spanischsprechenden Ländern hoch geschätzten Strafrechtler, dem neben anderen wissenschaftlichen Verdiensten die Errungenschaft zukommt, dass der fortgeschrittene Stand der heutigen Diskussion bei so schwierigen wie wichtigen Kernproblemen des Strafrechts wie dem Vorsatz und den Sachfragen, die unter der Lehre der objektiven Zurechnung behandelt werden – auch wenn Frisch einige dieser Fragen dem tatbestandsmäßigen Verhalten zuschreibt –, ohne die beiden großartigen Monographien des Jubilars über Vorsatz und objektive Zurechnung einfach nicht vorstellbar wäre.
Abbruch eines fremden rettenden Kausalverlaufs im eigenen Organisationsbereich: ein Rechtfertigungsproblem1 Von Jesús-María Silva Sánchez
I. Einführung: Abbruch rettender Kausalverläufe 1. Es ist fast einhellige Meinung in der Literatur, dass der vom geschädigten (nicht geretteten) Dritten erlittene Erfolg dem Verhalten, das einen rettenden Kausalverlauf abbricht, zuzurechnen ist2 ¢vorausgesetzt der rettende Kausalverlauf war ex ante für die Rettung geeignet. Meinungsverschiedenheiten bestehen lediglich in Bezug auf die Zurechnungsform, die angewendet werden soll. Die herrschende Meinung vertritt die Lösung des aktiven Tuns, obwohl man hier vor dem Problem steht, dass die Zurechnung eine zusätzliche hypothetische Prüfung ex post erfordern könnte, nämlich, ob der rettende Kausalverlauf mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit den Erfolg vermieden hätte, wenn er nicht abgebrochen worden wäre. Um dieses Problem zu lösen, greifen manche Autoren auf einen breiten Kausalitätsbegriff zurück.3 Gleichwohl ist die Ansicht, welche die aktive Begehung auf die vom abbrechenden Verhalten ausgehende Risikoerhöhung für die Herbeiführung 1 Übersetzung von Dr. Teresa Manso Porto, mag. iur. comp., Referentin für Spanien am MPI in Freiburg. Vielen Dank an cand. iur. Oliver Jany für die Revision des Textes. Dieser Beitrag ist die Fortführung einer Forschungslinie, die ich mit dem Aufsatz, Notstandsrechte und Duldungspflichtverletzungen, in: Festgabe für Claus Roxin zum 75. Geburtstag, GA 2006/ 5, 382 ff. wieder aufgenommen habe. Die Existenz der Monographie von Rheinhold, Unrechtszurechnung und der Abbruch rettender Kausalverläufe, 2009, ist mir leider zu spät zur Kenntnis gekommen und ich habe sie hier nicht berücksichtigen können. 2 Statt vieler, Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 133 f.; Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 33 – 34; Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 7/63; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT I, 5. Aufl. 2004, § 13 Rn. 3, § 8 Rn. 35 ff.; Kühl, Strafrecht, AT, 4. Aufl. 2002, § 4 Rn. 17 – 18, § 18 Rn. 18 ff. In den Kommentaren, LK-StGB/Weigend, 12. Aufl. 2006, § 13 Rn. 8; SK-StGB/Rudolphi, 6. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 48. Ebenso Winter, Der Abbruch rettender Kausalität, 2000, S. 135, 157 f. 3 NK-StGB/Puppe, 2. Aufl. 2005, Vor § 13 Rn. 111 ff., übernimmt die Doktrin der „negativen Bedingungen“ des Erfolgs und integriert diese als notwendige Bestandteile einer ausreichenden Erklärung desselben.
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des Erfolgs stützen lässt, vielleicht sogar verbreiteter.4 Eine Mindermeinung geht einen anderen Weg und bejaht die Erfolgszurechnung in dieser Konstellation als Fall einer Begehung durch Unterlassung.5 Schließlich gibt es eine weitere Mindermeinung, wonach die Zurechnung in diesen Fällen durch eine Figur stattfinde, die ein von den beiden vorhergehenden Konstruktionen zu unterscheidendes tertium genus darstelle.6 2. Freilich gilt die eingangs dargestellte – weit verbreitete – Lösung, wonach der vom Hilfsbedürftigen erlittene Erfolg dem Subjekt zuzurechnen ist, welches den rettenden Kausalverlauf abgebrochen hat, nicht uneingeschränkt. So unterscheidet eine Mindermeinung danach, ob der (fremde) rettende Kausalverlauf von irgendjemandem (quivis ex populo) oder von einem Garant in Gang gesetzt wurde. Im ersten Fall versteht diese Position den Abbruch als eine unterlassene Hilfeleistung, welche die Zurechnung des Erfolgs nicht zu begründen vermag.7 Demnach wäre das Verhalten tatbestandslos, sofern die unterlassene Hilfeleistung in der betreffenden Rechtsordnung nicht typisiert ist. Dagegen ist im zweiten Fall die Zurechnung des Erfolgs zum abbrechenden Verhalten sehr wohl begründet und zwar in dem Maße, in dem der Erfolg dem Garant, dessen rettender Kausalverlauf abgebrochen wurde, gegebenenfalls hätte zugeschrieben werden können. 3. Für die Lösung des hier aufgezeigten Problems kann die Wahl für die eine oder andere Alternative von entscheidender Bedeutung sein, da die damit einhergehenden Falllösungen zu stark divergierenden Ergebnissen führen. Es erscheint daher angemessen, folgende Fragestellung offen zu lassen: Ist der Abbruch (fremder) rettender Kausalverläufe tatbestandslos, wenn nicht ein solches Verhalten kraft gesetzlicher Regelung der unterlassenen Hilfeleistung typisiert ist? Außer Betracht bleiben hier die Fälle des „Abbruchs (fremder) rettender Kausalverläufe von Garanten“ sowie die Fälle des „Abbruchs (fremder) rettender Kausalverläufe durch Garanten“. 4. Ich stimme mit der Lösung der unterlassenen Hilfeleistung nicht überein. Vielmehr meine ich mit der herrschenden Lehre, dass das abbrechende Subjekt in Fällen des Abbruchs rettender Kausalverläufe eine negative Pflicht (oder Unterlassungs4 Otto, Grundkurs Strafrecht, 6. Aufl. 2000, § 9 Rn. 8; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 2), § 8 Rn. 36 f. 5 Silva Sánchez, El delito de omisión. Concepto y sistema, 1. Aufl. 1986, S. 227 ff.; 2. Aufl. 2003, S. 282 ff.; vgl. die kritische Analyse meines Standpunkts von Dopico GómezAller, Omisión e injerencia en Derecho penal, 2006, S. 596 ff., 625 ff. 6 Das tertium genus wäre zwischen der herkömmlichen aktiven Begehung kausalistischer Basis und der Begehung durch Unterlassung. Schon Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 74, 104; Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986, S. 146 ff.; ders., Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, 1988, S. 51. Später wurde diese Idee des tertium genus, mit eigener Argumentation, von Gimbernat Ordeig aufgegriffen, ADPCP 2000, 29 ff.; ders., in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 163 ff. 7 Außer wenn das abbrechende Subjekt selber Garant ist; in diesem Sinne Gimbernat Ordeig, ADPCP 2000, 98 ff.
Abbruch eines fremden rettenden Kausalverlaufs
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pflicht) missachtet, welche selbst in einer streng liberalen Verfassung zur ursprünglichen Verbindlichkeit der Bürger/innen untereinander gehört. Meiner Ansicht nach können negative Pflichten auf fünffachem Wege verletzt werden: i) aktive Risikoschaffung für die Sphäre eines Dritten; ii) Übernahme der Überwachung eines Risikos für die Sphäre eines Dritten (Sicherung) und dessen Nicht-Neutralisierung; iii) Übernahme einer Rettungsfunktion (Schutz) für die Güter eines Dritten und NichtErfüllung der Rettungspflicht; iv) Eingreifen in einen fremden Vorgang, der zur Überwachung eines für einen Dritten bestehenden Risikos in Gang gesetzt wurde; und v) Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs für die Güter eines Dritten, welche einem nicht-überwachten Risiko ausgesetzt sind. 5. Die letzten vier Varianten haben eine Gemeinsamkeit. Alle gehen von einem status quo aus, der die Situation des Rechtsguts eines Dritten verbessert. In der Tat wird die Situation des betroffenen Rechtsguts sowohl durch die Übernahme der Überwachung potentieller Risiken, die Übernahme der Rettung des bereits konkret gefährdeten Rechtsguts, das Bestehen eines Vorgangs zur Überwachung solcher Risiken, als auch durch das Bestehen eines Vorgangs zur Rettung des bereits konkret gefährdeten Rechtsguts verbessert. In solchen Fällen bedeuten sowohl der Abbruch der Ausübung einer vorher übernommenen8 Überwachungs- oder Rettungsfunktion als auch der Abbruch eines vorher von einem Dritten in Gang gesetzten Überwachungs- oder Rettungsvorgangs eine Verschlechterung des status quo für fremde Rechtsgüter.9 Dies stellt meines Erachtens das Charakteristikum der Verletzung negativer Pflichten dar. Die Verletzung solcher Pflichten unterscheidet sich von der Verletzung von positiven Pflichten, bei der es um Missachtung von Pflichten zur Verbesserung des Ist-Zustands von Rechtsgütern geht. 6. Aus dem bisher Gesagten lassen sich zwei vorläufige Schlussfolgerungen ziehen: eine Begriffliche und eine Systematische. Ich komme zum Ersteren. Die begriffliche Schlussfolgerung ist, dass die sogenante Struktur „Abbruch fremder rettender Kausalverläufe“ in eine breitere Kategorie eingefügt werden muss, zu der auch die Struktur „Abbruch fremder Überwachungsvorgänge“ gehört. Zugleich gehören diese beiden Strukturen zu einer noch breiteren Kategorie, in welcher sie mit den Strukturen Unterlassung von Überwachungstätigkeiten sowie Unterlassung von Rettungshandlungen nach vorhergehender Übernahme integriert sind. Sie alle bilden, zusammen mit den Strukturen der aktiven Risikoschaffung, die Gesamtheit der Verletzungen negativer Pflichten. 7. Diese Schematisierung bereitet einige Probleme in Fällen von institutionellen Überwachungs- oder Rettungspflichten – positiven Sonderpflichten. Konkret stellt 8 Wobei Übernahme im Sinne der Aufnahme einer fremden Freiheitssphäre in die eigene Organisationssphäre unter Ausschluss der Beteiligung überwachender oder rettender Dritter zu verstehen ist. 9 Keine Verschlechterung liegt dagegen vor, wenn jemand einen selber in Gang gesetzten Rettungsvorgang – ohne vorangehende Übernahme – abbricht, es sei denn, das Verhalten kann zugleich als simultaner Abbruch eines fremden Überwachungs- oder Rettungsablaufs charakterisiert werden.
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Jesús-María Silva Sánchez
sich die Frage, ob es Sinn macht, zwischen Fällen, in denen ein Dritter die Erfüllung institutioneller Rechtspflichten abbricht, und Fällen, in denen der Dritte selbst zur Verletzung solcher Rechtspflichten (sogar dazu anstiftend) beiträgt, zu unterscheiden. Wenn nämlich, wie ich persönlich meine, die Verletzung institutioneller Pflichten zu mittelschweren Unterlassungen (mit einer ebenfalls mittelschweren Strafbarkeit, die jedenfalls milder ist, als die der aktiven Begehung) führt,10 würde im Ergebnis der zur Pflichtverletzung „helfende“ extraneus keine höhere Strafe verdienen, als derjenige, der die Rechtspflicht selbst verletzt. Die Quelle der strafrechtlichen Verantwortung des extraneus wäre eine sekundäre Unterlassungspflicht (das heißt, eine Pflicht, das regelgerechte Funktionieren der Institutionen zu achten), welche erstens ausdrücklich zu positivieren wäre und zweitens keineswegs eine höhere strafrechtliche Verantwortung begründen könnte, als die des seine Rechtspflicht verletzenden intraneus. Denn, das wozu der extraneus beigetragen hätte, wäre die aus der Verletzung der institutionellen Rechtspflicht des intraneus hervorgehenden Nicht-Verbesserung des Rechtsguts.11 Wenn aber ein (institutioneller) Überwachungs- oder Rettungsvorgang schon besteht und von jemandem abgebrochen wird, basiert die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht mehr auf einem „akzessorischen“ Beitrag zur Nicht-Verbesserung des Rechtsguts, sondern wohl auf einer Verschlechterung (Neutralisierung der in Gang gesetzten Verbesserung), was zu einer höheren Strafbarkeit führen müsste. Mit anderen Worten: die verletzte Rechtspflicht wäre hier nicht die (sekundäre) Unterlassungspflicht als Pflicht zur „Achtung des regelgerechten Funktionierens der Institution“, sondern eine primäre Unterlassungspflicht, die als Verbot des verschlechternden Eingriffs in den status quo von Rechtsgütern zu definieren ist.12 8. Die systematische Schlussfolgerung, die aus dem bisher Gesagten gezogen werden kann, ist, dass es sich in allen Fällen des Abbruchs fremder Überwachungsoder Rettungsvorgänge um (für die objektive Zurechnung des Verletzungserfolgs ausreichende) Tatbestandsverwirklichungen handelt. Solche Tatbestandsverwirklichungen können allerdings gerechtfertigt sein. Beispielsweise kann der Eingreifende einen Kausalverlauf zur Rettung fremden Eigentums abbrechen, indem er dem Retter ein Werkzeug entzieht, das der Eingreifende zur Rettung eines fremden Lebens selbst benötigt. Der Unrechtsausschluss setzt allerdings voraus, dass die an sich verletzende (tatbestandsmäßige), den rettenden Kausalverlauf abbrechende Handlung den An-
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Siehe Silva Sánchez, FS Roxin, 2001, S. 641 ff., 648 ff., 650 Fn. 40. Das müsste sowohl für die Anstiftung als auch für die Beihilfe zur Pflichtverletzung gelten. 12 Darüber hinaus ist folgendes zu beachten: das Bestehen eines institutionellen Kontexts bedeutet nicht, dass das institutionell gebundene Subjekt nicht auch konkrete Überwachungsoder Rettungsfunktionen übernehmen könnte, was im Prinzip auch negative oder Unterlassungspflichten gegebenenfalls ins Spiel bringen würde. Es handelte sich sodann um Fälle von Pflichtenkonkurrenz (von positiven und negativen Pflichten), was folglich zur „Verantwortungskonkurrenz“ bzw. Konkurrenz deliktischer Strukturen führen würde. 11
Abbruch eines fremden rettenden Kausalverlaufs
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forderungen eines konkreten Rechtfertigungsgrundes genügt. Ansonsten ist das Verhalten, beim Vorliegen sonstiger Merkmale, strafbar.
II. Insbesondere: Abbruch rettender Kausalverläufe innerhalb der eigenen Organisationssphäre 1. Die oben geschilderte Gesamtansicht wird von der Fallgruppe getrübt, in welcher jemand einen fremden rettenden Kausalverlauf13 für fremde Rechtsgüter innerhalb seiner eigenen Organisationssphäre abbricht. In dieser Fallgruppe sind unterschiedliche Konstellationen denkbar. Es könnte geschehen, dass ein natürlicher Rettungsablauf zugunsten des Hilfsbedürftigen (H) entsteht, sich innerhalb der Organisationssphäre des Abbrechenden (A) ereignet und von diesem abgebrochen wird. Allemal häufiger dürfte jedoch der Fall sein, dass ein menschlicher Rettungsvorgang abgebrochen wird, welcher sich in die Rechtssphäre des A eingeführt hat. Ein solcher Rettungsvorgang kann wiederum eine Selbst- (wenn der Auslöser des Rettungsvorgangs H selber in Gefahr ist) oder eine Fremdrettung (wenn ein Retter – R – den Rettungsvorgang zugunsten des H in Gang setzt) sein. Fremdrettungsvorgänge können ihrerseits als direkte Fremdrettung, als Teilnahme an einer (Beihilfe zur) Selbstrettung oder sogar als Teilnahme an einer direkten Fremdrettung erfasst werden. Doch unabhängig von diesen Differenzierungen ist allen Fallgruppen gemein, dass das Subjekt (H oder R), das den Rettungsvorgang initiiert hat, in die – faktisch zugängliche – Rechtssphäre des A eindringt (entweder um ein Rechtsgut des A als Rettungsmittel oder bloß seine Rechtssphäre als Kanalisierungsweg für den Rettungsversuch zu benutzen), wobei A das Eindringen in seine eigene Freiheitssphäre verhindert. 2. Der Abbruch eines fremden rettenden, innerhalb der eigenen Freiheitssphäre sich ereignenden Verlaufs kann wiederum zwei Varianten umfassen: einen eigenen Abbruch, der von A (Träger des Rechts auf Freiheitssphäre) allein oder mit Hilfe anderer durchgeführt wird, oder aber einen fremden Abbruch (der von einem anderen mitwirkenden Subjekt –M– durchgeführt wird) sein. Letzterer lässt sich wiederum in drei Subvarianten unterteilen: Beihilfe eines Dritten zum eigenem Abbruch, indirekter oder stellvertretender Abbruch, das heißt ein vom Subjekt M mit Einwilligung des Trägers der Organisationssphäre durchgeführter Abbruch, oder sogar Beihilfe eines Dritten zum stellvertretenden Abbruch durch M. 3. Die Tatsache, dass das Abbruchsverhalten im eigenen Organisationsbereich des Abbrechenden stattfindet, hält die herrschende Lehre für irrelevant.14 Demnach sollen etwa der Fall, in dem der Eigentümer die Benutzung seines Bootes durch einen mit Rettungsabsicht Handelnden verhindert, und der Fall, in dem der Abbrechende 13
Oder einen Risikoüberwachungsablauf. Vgl. Winter (Fn. 2), S. 147; weitere Hinweise bei Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 234 ff. 14
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die rettende Benutzung des Bootes eines Dritten, der in diese eingewilligt hatte, verhindert, identisch seien.15 Für einen Teil der Lehre verwandelt dieser Umstand dagegen das allgemein erreichte Ergebnis in radikaler Form. Für diese Position ist nämlich die Tatsache, dass der Rechtsinhaber die Benutzung der eigenen Rechtssphäre im Dienste eines Fremdrettungsversuchs verhindert, einer bloßen Unterlassung der Rettungshandlung zuungunsten des Betroffenen gleichzustellen.16 Mangels einer spezifischen Garantenstellung könnte also unter diesen Umständen allenfalls der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung in denjenigen Rechtsordnungen in Betracht kommen, in denen ein solches Verhalten ausdrücklich typisiert ist. Das wiederum bedeutet, dass in allen anderen Rechtsordnungen das Verhalten tatbestandslos und somit straflos wäre. 4. Meiner Meinung nach haben beide Positionen teilweise Recht. Die zweite Lehrmeinung ist insofern richtig, als dass die Ausgangssituation sich von den üblicherweise behandelten Fällen des Abbruchs fremder rettender Kausalverläufe durch ein Subjekt außerhalb der eigenen Organisationssphäre deutlich unterscheidet. In solchen Fällen ist der rettende Kausalverlauf nämlich tatbestandslos, da er nicht innerhalb einer fremden Freiheitssphäre gegen den Willen des Rechtsinhabers eingeleitet wird. Dagegen kann ein rettender Kausalverlauf, wenn zur Rettung eines in eine Gefahrenlage geratenen Subjekts das Eindringen in eine fremde, faktisch zugängliche Rechtsphäre ohne Einwilligung des Rechtsinhabers erforderlich ist, tatbestandsmäßig (im Sinne der Sachbeschädigung, des Hausfriedensbruchs, des Diebstahls usw.) sein.17 Ein solcher tatbestandsmäßiger, rettender Kausalverlauf kann allerdings gerechtfertigt und in diesem Sinne erlaubt sein. Das kann konkret immer dann der Fall sein, wenn die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands vorliegen. Denkbar wäre sogar, dass eine Pflicht des Handelnden vorliegt. Beispielsweise stellt das In-Gang-setzen eines Fremdrettungsablaufs, sei es direkt, sei es durch Teilnahme an einer fremden Selbstrettung, in denjenigen Rechtsordnungen, in denen ein Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung positiviert wurde und unter den dort vorgesehenen konkreten Umständen, ein pflichtmäbiges Verhalten dar. Und dies gilt allgemein bezüglich der täterschaftlichen oder akzessorischen Beteiligung an Fremdrettungsabläufen, sofern der Handlungsfähige ein Garant ist. Folglich kann der rettende Kausalverlauf, der in eine fremde Organisationssphäre eindringt, im strafrechtlichen Sinne18 selbstverständlich tatbestandsmäßig sein. Darüber hinaus kann es sich allerdings um drei mögliche Alternativen handeln: (a) ein unerlaubter Rettungsablauf (das heißt, ein tatbestandmäßiger und rechtswidriger Ablauf, weil weder die Voraus15 Vgl. statt vieler schon Roxin, FS Engisch, 1969, S. 380 ff., 389; siehe auch Samson, FS Welzel, 1974, S. 579 ff., 599; Herzberg, FS Rohl, 2003, S. 270 ff., 277 sowie Fn. 10. 16 Beispielhaft Ranft, JuS 1963, 340 ff., 342; Meyer-Bahlburg, GA 1968, 49 ff., 51; neulich Gimbernat Ordeig, ADPCP 2000, 103 f. 17 Außer Betracht bleiben die Fälle, in denen der rettende Verlauf ein bloßes Zivilunrecht darstellt; für diese Konstellation könnten die folgenden Ausführung a fortiori gelten. 18 Unter dem schon erwähnten Vorbehalt, dass der Kausalverlauf ein bloßes Zivilunrecht darstellen könnte.
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setzungen des rechtfertigenden Notstands noch sonstige Rechtfertigungsgründe vorliegen); (b) ein erlaubter Rettungsablauf (das heißt, ein tatbestandmäßiger aber wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands – oder eines weiteren Rechtsfertigungsgrundes- gerechtfertigter Ablauf); und (c) ein pflichtmäbiger Rettungsablauf (das heißt, ein tatbestandmäßiger aber nicht rechtswidriger Ablauf, da die Voraussetzungen einer generellen Hilfeleistungspflicht oder einer Garantenpflicht vorliegen). 5. Während die zweite Ansicht (s. oben II.3.) die Situation richtig analysiert, trifft die Lösung der ersten Ansicht (s. oben II.3.) zu. Wenn in diesen Fällen ein Abbruch des Rettungsvorgangs durch das Subjekt stattfindet, dessen Organisationssphäre betroffen ist, sollte meines Erachtens auf dieses Verhalten die allgemeine Doktrin für die Abbrüche fremder Rettungsvorgänge in vollem Umfang angewendet werden. Eingangs stellt das Verhalten den Abbruch eines fremden rettenden Verlaufs und somit eine Form von Tatbestandsverwirklichung dar, womit ihm der Erfolg, den der Initiator der Selbstrettungs- bzw. Fremdrettungsvorgangs vermeiden wollte, zugerechnet werden kann. Doch gewiss könnte diese Tatbestandsverwirklichung ihrerseits gerechtfertigt sein. 6. Ein Grund zur Rechtfertigung des Abbruchs eines unerlaubten (rechtswidrigen) Rettungsvorgangs kann aus meiner Sicht problemlos unterstellt werden. Ein solches Verhalten könnte je nach Ausgestaltung des abgebrochenen (unrechtmäßigen) Rettungsvorgangs etwa durch Notwehr oder defensiven Notstand erlaubt sein.19 Es könnte sich ja sogar um ein pflichtmäbiges Verhalten handeln: sowohl der Abbruch unrechtmäßiger Rettungsverläufe in Form einer Hilfeleistung zugunsten des Rechtsinhabers der betroffenen Organisationssphäre als auch der stellvertretende Abbruch unrechtsmäßiger Rettungsabläufe, die einen Dritten betreffen, stellen Pflichten dar. Eine solche Pflicht kann, in denjenigen Rechtsordnungen, die entsprechende Bestimmungen haben, in der allgemeinen Solidaritätspflicht bzw. in der Pflicht, gewisse Straftaten zu verhindern, begründet sein. Eine Pflicht besteht aber in jedem Fall, wenn das Subjekt eine Garantenstellung für die Organisationssphäre des Betroffenen innehat. Herkömmlicher ausgedrückt: unter den oben genannten Voraussetzungen stellen sowohl die Nothilfe als auch der defensive Notstand zugunsten Dritter eine Pflicht dar. Eine solche Pflicht entfällt nicht allein deshalb, weil der „Angriff“ oder Eingriff einen rettenden Ablauf darstellt, wenn dieser rechtswidrig ist. Auch wenn die Folge, die der Hilfsbedürftige, der durch den rettenden (rechtswidrigen) Kausalverlauf geschützt werden sollte, zu leiden hatte, dem abbrechenden Verhalten zugerechnet werden könnte, verstieße ein solcher Abbruch offensichtlich gegen kein Verbot und führte infolgedessen zu keiner Bestrafung.
19 Auch durch defensiven Notstand könnte der (tatbestandsmäßige) Abbruch solcher rettender Verläufe gerechtfertigt sein, die zwar tatbestandslos sind, dennoch ein Eindringen in die Rechtssphäre des Abbrechenden darstellen – sofern die weiteren Voraussetzungen des defensiven Notstands vorliegen.
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7. Dagegen kann beim Verhalten eines Subjekts A (oder M) von Rechtfertigung nicht die Rede sein, wenn es um den Abbruch einer Rettung geht, die erlaubterweise – oder sogar pflichtgemäß – in die Organisationssphäre des A eindringt. Dementsprechend kann der vom Hilfsbedürftigen erlittene Erfolg dem Rechtsinhaber (oder dessen Vertreter oder Helfer) zugerechnet werden, wenn er mit seiner Handlung im Rahmen seiner eigenen Organisationssphäre den rettenden Kausalverlauf abbricht. Doch ist hier (anders als beim Abbruch rechtswidriger Rettungsabläufe) der Schluss zu ziehen, dass der Abbruch nicht nur tatbestandsmäßig, sondern auch rechtswidrig (verboten) ist, so dass im Prinzip eine Bestrafung in Frage käme. 8. Allerdings könnten die Dinge auch anders betrachtet werden. Ausgangspunkt eines solchen alternativen Verständnisses wäre die Annahme, dass der Abbruch eines in die eigene Organisationsphäre eindringenden Rettungsablaufs per se tatbestandslos ist. Dann würde man argumentieren: wenn jemand in seiner eigenen Freiheitssphäre handelt und nur in deren Rahmen Folgen verursacht, kann man schwer behaupten, dass er den eigenen Bereich in einer für die Organisationssphäre Dritter schädigenden Weise organisiert hätte.20 Das hiebe: man könnte kaum behaupten, er hätte gegen die Maxime „neminem laede!“ verstoßen, welche die „ursprüngliche Verbindlichkeit“ der Bürger/innen widerspiegelt.21 Kurz ausgedrückt: der Abbruch als solcher verstiebe gegen keinerlei Unterlassungs- oder negativen Pflichten. 9. Dieser Ansicht nach könnte dem Subjekt in einer solchen Situation nur die eventuelle Verletzung anders begründeter negativer bzw. positiver Pflichten zugerechnet werden. Die Zurechnung könnte auf das Bestehen einer allgemeinen Hilfeleistungspflicht basieren, sofern die jeweilige Rechtsordnung derer Verletzung positiviert hat. Auch das Bestehen einer Garantenpflicht gegenüber dem Subjekt, um dessen Schutz es sich beim Rettungsvorgang handelt, könnte bestimmt eine Pflicht begründen – und zwar eine Sonderpflicht. Die Pflicht, ob Sonder- (bzw. Garantenpflicht) oder allgemeine Hilfeleistungspflicht, wäre aber davon unabhängig, ob das Subjekt einen rettenden Ablauf unterbrochen hat oder nicht. Der Abbruch fremder rettender Abläufe innerhalb der eigenen Organisationssphäre wäre per se, mangels Verletzung einer negativen Pflicht, für das Strafrecht bedeutungslos. Die Kernaussage dieses Standpunkts ist demzufolge die Irrelevanz des Abbruchs als solche: Gesetzt den Fall, dass derjenige, der einen an sich strafrechtlich irrelevanten Rettungsabbruch verwirklicht hat, eine der genannten Pflichten verletzt hat, müsste er sich dafür verantworten. Solche Verantwortung hat dennoch nichts mit dem von ihm unterbrochenen fremden rettenden Verlauf zu tun, gleichwohl ob der rettende Verlauf ein (weil durch Notstand gerechtfertigter) erlaubter oder ein (auf Grund einer Hilfeleistungs- oder Garantenpflicht) sogar pflichtmäbiger Ablauf war. Zur Verantwortung wäre auch jeder Dritte zu ziehen, der von den genannten (allgemeinen
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Mit anderen Worten: dass er ein unerlaubtes Risiko geschaffen hätte. Zur „ursprünglichen Verbindung“ der Bürger vgl. Jakobs, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, 1996, S. 15 ff. (19 f.). 21
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oder besonderen) Pflichten betroffen ist und diese missachtet, ohne jedoch einen fremden rettenden Ablauf abgebrochen zu haben. 10. Problematisch an dieser soeben dargestellten Sichtweise ist jedoch, dass sie von einem maßlos einseitigen Verständnis der Beziehungen zwischen Organisationssphären ausgeht.22 Insbesondere scheint diese Ansicht davon auszugehen, dass die Organisationssphären absolut getrennt voneinander existierten und die einzigen Bindungen zwischen ihnen aus eventuell bestehenden positiven Pflichten stammten. Darüber hinaus gerät dabei die keineswegs entfernte, sondern vielmehr alltägliche Wahrscheinlichkeit, dass die Organisationssphären sehr wohl miteinander verflochten sind, völlig aus dem Blick. In Wahrheit liegt diese Verflechtung im Kern des Verständnisses der Rechtsfertigungsgründe als gesellschaftliche Konfliktlösung – in der bekannten Formulierung von Roxin.23 Gerade auf Grund solcher Verflechtungen, die nicht nur normativ, sondern auch empirisch leicht konstatierbar sind, ist es möglich, dass jemand, der in seiner eigenen Organisationssphäre handelt, die Rechtssphäre eines Dritten beeinträchtigt, ohne die eigene zu verlassen. Mit einem einfachen Beispiel: Wer seinen Angreifer verletzt, um sich von einem Hausfriedensbruch zu wehren, beeinträchtigt eine fremde Organisationssphäre; darum verwirklicht er, wenn auch aus der eigenen Organisationssphäre, den Tatbestand der Körperverletzung und handelt darum gerechtfertigt (Notwehr).24 Mutatis mutandis handelt derjenige tatbestandsmäßig, der in seiner eigenen Organisationssphäre einen fremden rettenden Kausalverlauf abbricht (sei es als aktiver Begehung, als Handeln durch Unterlassen oder in Form eines tertium genus – je nachdem, welche Ansicht vertreten wird). Allerdings kann dieses tatbestandsmäßige Verhalten gerechtfertigt sein, wenn, wie soeben dargelegt wurde, der rettende Ablauf rechtswidrig ist. 11. Die Frage ist, was geschieht, wenn der rettende Ablauf kein rechtswidriges Verhalten darstellt, sondern für den Handelnden erlaubt ist oder sogar eine Pflicht darstellt. Zum vorangehenden Beispiel zurückkommend: wer einen Polizist verletzt, der im Besitz eines richterlichen Beschlusses in sein Haus eindringt, beeinträchtigt eine fremde Organisationssphäre; darum begeht er eine tatbestandsmäßige Körperverletzung. Er handelt jedoch nicht gerechtfertigt, weil der Polizist sich auf die Pflichtausübung berufen kann. Darum ist das Verhalten des Hausbesitzers, obwohl er im Prinzip in seiner Organisationssphäre handelt, nicht gerechtfertigt, sondern ver22 Außerdem setzt sie gerade dasjenige voraus, was diskutiert werden muss: ob der Abbruch eines fremden rettenden Ablaufs im eigenen Organisationsbereich ein rechtlich nicht missbilligtes Risiko (eine tatbestandslose Tat), ein tatbestandsmäßiges aber gerechtfertigtes Risiko oder ein rechtswidriges Risiko darstellt. 23 Vgl. Roxin, Política criminal y sistema del Derecho penal (Übersetzung von Muñoz Conde), 1972, S. 40, 55 ff. Es ist allerdings zutreffend, dass die gesellschaftliche Konfliktlösung teilweise auch im Bereich der Lehre von der objektiven Zurechnung (oder der Lehre des tatbestandsmäßigen Verhaltens – in der überzeugenden Formulierung von Frisch) stattfindet. 24 So die ganz herrschende Lehre. Die Minderheitenmeinung, die vertritt, dass Notwehr schon die objektive Zurechnung der Erfolgs ausschließt, wird in der Monographie meines Schülers Palermo ausführlich dargestellt, La legítima defensa: una revisión normativista, 2006, insbesondere S. 313 ff., 333 ff.
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boten. Mutatis mutandis geht es in Fällen des Abbruchs eines rettenden Kausalverlaufs, der für den Retter erlaubt ist oder sogar eine Pflicht darstellt, aller Anschein nach: (a) um die Zurechnung eines vom Rettungsopfer erlittenen Verletzungserfolgs – da das Verhalten den Abbruch einer „Rettung“ darstellt; und (b) um ein verbotenes Verhalten, da es ein erlaubtes oder sogar pflichtmäbiges Verhalten abbricht (verhindert). 12. Problematisch bei dieser Ansicht wird das daraus resultierende Verbot angesehen, Handlungen eines Dritten zu verhindern, der in die eigene Organisationssphäre in erlaubter (nicht rechtswidriger) Weise eindringt. Die Begründung eines solchen „Verbots der Hinderung“ von erlaubten Verhaltensweisen, das in der herkömmlichen Terminologie als „Duldungspflicht“ bezeichnet wird, ist fraglich.25 Das Bestehen einer Duldungspflicht als Korrelat eines bloß erlaubten Verhaltens wird nämlich in der Literatur abgelehnt. Das Erlaubtsein eines Verhaltens bedeute kein subjektives Recht auf dessen Ausübung, welches zugleich eine Duldungspflicht für Dritte und die entsprechende Einschränkung deren Rechts auf ihre eigene Freiheitssphäre mit sich bringen würde. Weniger Beachtung fand bisher allerdings der Fall, in dem ein solches eindringendes Verhalten zugunsten einer Fremdrettung pflichtgemäß ist. In dieser Konstellation sieht es wie folgt aus: wenn der R dazu verpflichtet ist, den H zuungunsten des A zu retten, hätte H allem Anschein nach auch das Recht, von R zuungunsten des A gerettet zu werden; daraus folgt, dass sowohl A als auch M zur Duldung der Verwirklichung des Rechts des H auf Rettung durch R verpflichtet wären.26 Wenn dem so wäre und H ein Recht auf Rettung durch R zuungunsten des A (mit den entsprechenden Pflichten des A und des G) hätte, wäre es jedoch axiologisch seltsam, wenn H das gleiche Recht zur Selbstrettung zuungunsten des A (mit der entsprechenden Pflicht des A und des G, die Rettung nicht zu hindern) nicht hätte. Die Beantwortung dieser Frage erfordert jedoch eine Untersuchung des Problems aus der gegenseitigen (und ergänzenden) Perspektive.
III. Tatbestandsmäßige aber durch Notstand gerechtfertigte, rettende Verläufe 1. Es besteht keine Einigkeit über den Umfang und die konkreten Auswirkungen der Regelungen des Notstands, welche einer derartigen Sonderlage eine straffreistellende Wirkung beimessen. Sofern diese Institution gesetzlich als Rechtfertigungsgrund definiert wird, sind Meinungen über ihre Tragweite umstritten. Deutlich größer ist die Auseinandersetzung in denjenigen Rechtsordnungen, die keine konkrete Definition, sondern eine undifferenzierte Regelung des „Notstands“ als Grund für 25 Mit der Folge, wie Jakobs (Fn. 2, 7/63) vermerkt, dass die Duldungspflicht das Recht auf ungehinderte Gestaltung im eigenen Organisationskreis ausschließt: „denn schon die Duldungspflicht allein nimmt das Bestimmungsrecht über die Organisationsgestalt“. 26 Nochmals: H = Hilfsbedürftige; R = Retter; A = Abbrechender; und M = Mitwirkende des A.
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den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vorsehen. Jedenfalls besteht ein klarer Konflikt zwischen utilitaristischen, deontologischen und gemischten Auslegungen des Notstands. Deutlich spürbar ist ebenfalls der Streit zwischen Systematisierungen der gesetzlichen Regelung, die von einem Grundverständnis interpersonaler Solidarität ausgehen und denjenigen, die eine Übertragung öffentlicher Gewalt an den Hilfsbedürftigen und damit eine institutionalisierende Sichtweise annehmen.27 2. Abgesehen von den Schwierigkeiten einer Festlegung des genauen Umfangs rechtlicher Bestimmungen, herrscht Einigkeit darüber, dass infolge des rechtfertigenden Notstands ein tatbestandsmäßiges Verhalten als erlaubt, d. h. als nicht verboten charakterisiert wird. Eingangs bedeutet dies, dass in denjenigen Rechtsordnungen, die eine (ausdrückliche oder konkludente) Regelung des rechtfertigenden Notstands kennen, die Maxime „casum sentit dominus“ nicht allgemein gilt. Anders ausgedrückt: eine generelle Pflicht zur Duldung von Gefahren, die der eigenen Rechtssphäre drohen, besteht in solchen Rechtsordnungen nicht. Vielmehr ist die Umleitung solcher Gefahren in die Rechtssphäre Dritter unter bestimmten Umständen (die in der jeweiligen gesetzlichen Regelung des rechtfertigenden Notstands festgelegt werden) erlaubt. Wie etwa die spanische Regelung (Art. 20, Ziff. 5 spStGB; dritte Voraussetzung) zur Geltung bringt, besteht beim Vorliegen sonstiger Voraussetzungen allenfalls ausnahmsweise eine Duldungspflicht bezüglich solcher Gefahren. Eine solche Pflicht besteht wiederum in Zusammenhang mit bestimmten Berufen oder Ämter, die Aufopferungsplichten beinhalten. Demnach stellt der Notstand eine bedeutende Einschränkung der Maxime „casum sentit dominus“ dar, welche wiederum die notwendige Ergänzung des Prinzips der Trennung der Rechtssphären, das einem liberalen Strafrecht eigen ist, ausmacht. 3. Die erste Wirkung des rechtfertigenden Notstands ist also die Negation einer allgemeinen Pflicht zur Risikoduldung28 des Hilfsbedürftigen. Allein darin liegt die Bedeutung des Erlaubt-Seins von Gefahrumlenkungen, welches mit dem Vorliegen der Voraussetzungen dieser Institution einhergeht. Fraglich ist jedoch, ob das Erlaubt-Sein eines Verhaltens wegen rechtfertigenden Notstands, über das Nicht-Verboten-Sein hinaus, noch weitere Auswirkungen hat. Insbesondere wird diskutiert, ob aus der Erlaubnis, drohende Gefahren in die Rechtssphäre eines Dritten umzulenken, das Bestehen eines subjektiven Rechts auf ein solches Verhalten hergeleitet werden kann. Gebe es ein solches Recht (Notrecht), müsste als notwendiges Korrelat das Be-
27 Eine solche Übertragung sei darin zu begründen, dass der Staatsapparat den Bedürfnissen aller nicht genügen könne. Deswegen zählt das Subsidiaritätsprinzip zu den wesentlichen Prinzipien, die dem rechtfertigenden Notstand zugrunde liegen (darunter auch das moderne Prinzip der Primat der Institutionen). 28 Die Pflicht zur Risikoduldung (Aufopferungspflicht), welche beim Vorliegen eines Notstands verneint wird, ist trotz gegenseitiger Beziehung nicht mit der umstrittenen Duldungspflicht Dritter in Bezug auf das Verhalten des Hilfsbedürftigen zu verwechseln.
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stehen einer Pflicht des Dritten (oder anderer beliebiger Subjekte) bejaht werden, die Ausübung dieses Rechts nicht zu hindern (Duldungspflicht).29 4. In dieser Linie hatte die herrschende Lehre in Deutschland folgenden Schluss gezogen: (a) generell kommt zur Rechtfertigung eines Verhaltens die Duldungspflicht des Betroffenen hinzu; und (b) was der rechtfertigende Notstand konkret betrifft, verleiht dieser dem Hilfsbedürftigen ein subjektives Recht (subjektives Notstandsrecht, Eingriffsrecht), welches eine Duldungspflicht des vom notwendigen Eingriff Betroffenen selbstverständlich hervorruft.30 Trotzdem hatten solche Aussagen schon immer einen gewissen apodiktischen Charakter und die herrschende Meinung war heftiger Kritik ausgesetzt.31 Nach der – möglicherweise genauso apodiktischen – gegenteiligen Meinung, könnten nicht alle, sondern nur ein Teil der strafrechtlichen Erlaubnissätze Ausdruck eines subjektiven Rechts sein. Die Frage ist, ob der rechtfertigende Notstand dazu gehört.32 5. Auch wenn die Aussage über das Bestehen von Duldungsplichten nicht uneingeschränkt vertreten werden sollte,33 kann als Ausgangspunkt festgehalten werden, dass sie für bestimmte Bereiche sehr wohl gilt. Man muss bedenken, dass Erlaubnissätze zugunsten eines Subjekts gleichzeitig auch (wirklich) indirekte Formulierungen von Verbotsnormen für andere sein können.34 In der Tat darf ein von der Rechtsordnung erlaubtes Verhalten vom Staat und seinen Vertretern nicht verhindert werden. Demnach impliziert die Aussage: „Das Verhalten des Subjekts S ist erlaubt“ zumindest pragmatisch eine weitere Aussage folgenden Inhalts: „Es ist verboten, dass der Staat das Verhalten des S verhindert“. Demnach sind alle Amtsträger und öffentliche Beamte zur Duldung eines durch Notstand gerechtfertigten Verhaltens verpflichtet, ungeachtet dessen, ob das Verhalten eine öffentliche oder eine private Rechtssphäre betrifft.
29 Dennoch kann das Bestehen einer Duldungspflicht unabhängig von der Bejahung eines Notrechts begründet werden, wie noch zu zeigen sein wird. 30 Vgl. ausführlich zur zivilrechtlichen (§ 904 BGB) und strafrechtlichen (§ 34 StGB) Lehre die monographische Studie von Haas (Fn. 14), S. 236 ff. 31 Besonders kritisch mit der von ihm so genannten „Duldungspflichtautomatik“, Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2008, § 3 Rn. 27 ff. Vgl. Ebenfalls die kritische Analyse dieser These von Larrauri, in: Hassemer/Larrauri, Justificación material y justificación procedimental en el Derecho penal, 1997, S. 57 ff., 100 ff. 32 Deutlich bejahend SK-StGB/H.-L. Günther, 6. Aufl., Vor § 32 Rn. 47 ff. Günther differenziert zunächst zwischen Rechtfertigungsgründen im engeren Sinne und schlichten Handlungsbefugnissen. Erstere könnten in drei große Gruppen unterteilt werden: a) Rechtspflichten (Rn. 47); b) Grundrechte (Rn. 48); und c) Eingriffsrechte (Rn. 49); alle riefen Duldungspflichten hervor. Schlichte Handlungsbefugnisse führten dagegen nicht zu Duldungspflichten, stellten aber auch keine Rechtsfertigungsgründe, sondern „Strafunrechtsauschließungsgründe“ dar. 33 Dieser umstrittenen Frage werden die folgenden Seiten gewidmet. 34 Vgl. etwa Riggi, Interpretación y ley penal. Un enfoque desde la doctrina del fraude de ley, 2010, S. 194 ff., Fn. 52.
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6. Neben dieser inhaltlichen Schlussfolgerung soll an dieser Stelle der methodologische iter hervorgehoben werden, der zu deren Begründung verfolgt wurde. Nämlich: (a) bei der Lösung der hier behandelten Streitfragen geht es hauptsächlich darum, ob das Verhalten des A oder M strafbar ist und in welchem Maße; (b) für die Problemlösung ist jedoch die Fokussierung auf die Frage, ob H und R ein Notstandsrecht (oder sogar eine Notstandspflicht) haben, und ob A oder M folglich eine Duldungspflicht trifft, unnötig komplex; (c) richtiger ist es vielmehr aufzuklären, ob das tatbestandsmäßige Verhalten des A oder M erlaubt ist oder nicht. Da die herkömmliche Lehre häufig den unter (b) genannten Weg gegangen ist, darf dieser jedenfalls nicht ganz außer Acht gelassen werden.
IV. Eine zusätzliche Betrachtung 1. Die These, welche den Handlungsbefugnissen jegliche rechtliche Nachwirkungen abspricht, erhält durch die oben erörterten Bemerkungen zum Bestehen von Duldungspflichten (III.5.) eine zusätzliche Nuance. Dennoch gewinnt das Problem im Bereich der privaten Beziehungen eine besondere Relevanz. Man könnte sagen: Handlungsbefugnisse, sofern sie den Umfang von Verboten begrenzen, betreffen die Beziehung zwischen Individuum und Staat, ohne dass reflexartige Folgen für andere Individuen unmittelbar daraus entstehen würden. Insbesondere werden bei gerechtfertigt Handelnden keine subjektiven Rechte hervorgerufen, mit denen Duldungspflichten Dritter einhergehen würden. Trotzdem lässt sich bei einigen Rechtfertigungsgründen (beispielsweise Notwehr, Ausübung eines Rechts oder Pflichterfüllung) ohne Schwierigkeiten behaupten, dass die Duldungspflicht des Betroffenen das notwendige Pendant der Anerkennung des rechtfertigenden Charakters der rettenden Handlung darstellt.35 Man muss also zugestehen, dass das eigentliche Problem im rechtfertigenden Notstand liegt.36 Insgesamt lassen die Ausführungen des vorhergehenden Absatzes vorerst folgende Behauptungen zu: (a) der von einem durch Notstand gerechtfertigtes Verhalten Betroffene darf keine Hilfe des Staates in Anspruch nehmen, um sich den Folgen des gerechtfertigten Verhaltens zu entziehen; (b) unbeteiligte Dritte trifft keine Pflicht, den Betroffenen dabei zu helfen, sich den Folgen des gerechtfertigten Verhaltens zu entziehen; (c) die offene Frage wäre, ob Dritte ein Recht darauf hätten, dem Betroffenen zu helfen, d. h., ob die Teilnahme am Abbruchsverhalten gerechtfertigt sein könnte. 35 Es scheint offensichtlich, dass Rechtfertigungsgründe wie die Ausübung eines Rechts, um praktikabel zu sein, das Bestehen einer Duldungspflicht benötigen (man denke nur an das Recht auf Informationsfreiheit oder Meinungsfreiheit). Dasselbe geschieht mit der Erfüllung einer Pflicht: Wer sich mit einem Amtsträger auseinandersetzt, begeht den Tatbestand des Ungehorsams oder des Widerstands bzw. eine der Varianten des Vollstreckungsbruchs. 36 Kühl, Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 359 ff, 363, 373 f., erkennt das Bestehen einer moralischen (und rechtlichen) Duldungspflicht, ohne sich jedoch zu den Folgen ihrer Verletzung zu äußern.
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2. Eine Duldungspflicht desjenigen, der von einem durch Notstand gerechtfertigten Verhalten betroffen wird, wird zumindest37 aus zwei verschiedenen Perspektiven vertreten.38 Die erste geht von der oben schon erörterten Behauptung aus, dass der Hilfsbedürftige ein subjektives Recht habe, dessen Korrelat die Duldungspflicht des Betroffenen sei. Die zweite vertritt die öffentlich-rechtliche Natur einer solchen Pflicht, unabhängig von der Anerkennung eines subjektiven Rechts des Hilfsbedürftigen. Diese zweite Perspektive setzt die Duldungspflicht mit der allgemeinen Hilfeleistungspflicht (oder gegebenenfalls mit höherrangigen Garantenpflichten) gleich. Das bedeutet, dass die Verletzung der Duldungspflicht ausschließlich zur Bestrafung wegen der Verletzung der entsprechenden Pflicht führen kann, welche eine positive Pflicht wäre. Anders ausgedrückt: die Verletzung der Duldungspflicht wäre ein Fall von „Unterlassung“ der Hilfeleistung „durch Begehung“39 – und nichts weiter. 3. Nun ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass auf dieser Basis die Verletzung einer Duldungspflicht nur in denjenigen Rechtsordnungen unter Strafe gestellt werden darf, welche den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung positiviert haben und dies nur in dem Maße, in dem dies geschehen ist. Handelt der Hilfsbedürftige in rechtfertigenden Notstand und kann eine Hilfeleistungspflicht des Abbrechenden nicht begründet werden, dann bleibt der Abbruch des rettenden Verlaufs straflos. Es kann also vorkommen, dass die Hilfeleistungspflicht entweder gar nicht gesetzlich geregelt ist oder nicht mit demselben Umfang wie der rechtfertigende Notstand. Denn der Kreis der Umstände, auf welche sich die Hilfeleistungspflicht beschränkt, umfasst in der Regel Gefahrlagen für persönliche Güter. Dagegen darf durch rechtfertigenden Notstand auch das Eigentum bewahrt werden. Nach der hier kritisierten These, könnten A oder M, wenn sie R oder H daran hindern, Wasser aus der Zisterne des A zur Löschung eines die Wohnung und die Güter des H bedrohenden Feuers zu benutzen, in keiner Weise bestraft werden. Und das obwohl sie einen rettenden Kausalverlauf abgebrochen haben, der von der Rechtsordnung erlaubt wird. 37 Joerden, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet (Band 5/6), 2002, S. 33 ff. (55), nimmt an, dass ein System von Handlungspflichten für Notsituationen im Gegenzug einem System von Eingriffsrechten/Duldungspflichten bedarf. 38 Haas (Fn. 14), S. 234 ff., 236 ff., 260 ff. 39 In diesem Sinne ausdrücklich Haas (Fn. 14), S. 260 ff. (263), der aus dem Parallelismus zwischen § 323 c und § 34 StGB die Unmöglichkeit herleitet, dass die Verletzung einer Duldungspflicht in einer Notlage zur Zurechnung des Erfolgs führen kann. Dies würde mit einer in der Lehre relativ verbreiteten Meinung übereinstimmen, welche einen Parallelismus zwischen beiden Institutionen im allgemeinen Kontext der Solidaritätspflichten herstellt: NKStGB/Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34, Rn. 9 ff. Nun besteht der rechtfertigende Notstand bekannter Weise in zahlreichen Rechtsordnungen unabhängig davon, ob in ihnen auch der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung positiviert ist. Sogar dort, wo beide Institutionen rechtlich geregelt sind, sind die jeweils zu betrachtenden Gefahrensituationen verschieden: für den Fall der §§ 34 und 323 c StGB, Kühl (Fn. 36), S. 366; Joerden (Fn. 37), S. 57. Ungeachtet dessen werden beide Figuren von Kühl – und anderen Autoren – miteinander in Verbindung gebracht (S. 373).
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V. Schlussfolgerungen 1. Wenn Avorsätzlich einen fremden rettenden Kausalverlauf abbricht, verwirklicht er in der Regel ein tatbestandsmäßiges Verhalten, welches ihm samt schädigenden Folgen des Abbruchs zugerechnet wird. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass sein tatbestandsmäßiges Verhalten rechtswidrig wäre. 2. Das Problem des Abbruchs eines fremden rettenden Kausalverlaufs durch ein Subjekt A im Rahmen seiner eigenen Freiheitssphäre kennt keine einheitliche Lösung. 3. Das Verhalten eines Subjekts H oder R, das ein rettender Kausalverlauf darstellt, welches in die Freiheitssphäre eines Subjekts A eindringt, ist tatbestandsmäßig. 4. Lässt sich ein solches Verhalten auf keinen Rechtsfertigungsgrund stützen und ist somit rechtswidrig, kann sein (tatbestandsmäßiger) Abbruch durch A oder M gerechtfertigt sein. 5. Der rettende Kausalverlauf des H oder R, der in die Sphäre des A eindringt, könnte durch Notwehrhilfe, Pflichterfüllung, Ausübung eines Rechts oder aggressiven bzw. defensiven Notstand gerechtfertigt sein. 6. Ist der rettende Kausalverlauf gerechtfertigt, so könnte sein Abbruch seinerseits nicht gerechtfertigt sein. Keine Berufung auf rechtfertigenden Notstand ist bei einem Verhalten möglich, welches durch Notwehrhilfe ein fremdes Leben rettet, eine Pflicht erfüllt oder durch rechtfertigenden Notstand das Leben eines Dritten bewahrt. Denn es ist nicht möglich, dass das dem Betroffenen zuzurechnende Übel (die Bedingung des Todeserfolgs des Hilfsbedürftigen) das vom Betroffenen zu leidende Übel nicht übersteigt. 7. In Wirklichkeit nennen wir Verletzung der Duldungspflicht die Tatsache, dass A oder M, welche – innerhalb der Organisationssphäre des A – den rettenden Kausalverlauf des H oder R abbrechen, ein tatbestandsmäßiges (ihnen wird der von H erlittene Verletzungserfolg zugerechnet) und nicht gerechtfertigtes Verhalten verwirklichen. 8. Man könnte behaupten, dass das Ausbleiben einer Verletzung der Duldungspflicht eine Voraussetzung für die Rechtfertigung des Abbruchs rettender Kausalverläufe darstellt. Solche Behauptung bedarf nicht der Auflösung der Frage, ob in einer Notlage ein subjektives Recht entsteht, sich der Rechtssphäre Dritter für die Steuerung rettender Verläufe zu bedienen. Diesen Aufsatz widme ich dem verehrten Kollegen, dem großen Strafrechtsdogmatiker Wolfgang Frisch in Anerkennung seiner hervorragenden Beiträge zu unserer Wissenschaft. Ad multos annos!
Die Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung bei geheimen Abstimmungen Zur Zurechnung auf der Grundlage von Leitungsmacht Von Marco Mansdörfer
I. Die Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung als Problem des „tatbestandsmäßigen Verhaltens“ Das strafrechtliche Wirken meines akademischen Lehrers Wolfgang Frisch möchte ich rückblickend – trotz der ungeheuren Bandbreite seines Werkes1 – doch in drei große Phasen einteilen: Eine frühe Phase reicht von Frischs Dissertation zum Revisionsrecht2, das seine Kräfte insbesondere mit der umfangreichen Kommentierung in dem von ihm mitbegründeten Systematischen Kommentar zur StPO bis heute beansprucht3, über die darauf folgende Habilitation zum Maßregelrecht4 bis hin zu der damit eingeleiteten Wende zur subjektiven Tatseite, die in der Monographie „Vorsatz und Risiko“5 kulminierte. Die Hochphase von Frischs Wirken kann ohne jeden Zweifel mit dem monumentalen Werk „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges“6 gleichgesetzt werden. Die Spätphase seines Schaffens ist stärker von einem Streben nach transnationaler, rechtsphilosophischer und überzeitlicher7 Erkenntnis geprägt. 1 Aus der Vielzahl der Aufsätze darf ich pars pro toto den mich bei jeder Lektüre von Neuem überwältigenden Beitrag „An den Grenzen des Strafrechts“ in der Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels aus dem Jahr 1993 (S. 69 – 106) erinnern. 2 Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung – eine Untersuchung über die Struktur u. Revisibilität des richterlichen Ermessens bei der Strafzumessung, 1971. 3 Aktuell als Degener/Deiters/Frisch/Paeffgen/Rogall/Velten/Weßlau/Wohlers/Wolter, SKStPO, Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung – Mit GVG und EMRK, in 4. Auflage erscheinend. 4 Frisch, Grundlagen des Maßregelrechts, 1974. 5 Frisch, Vorsatz und Risiko, Köln, 1983; siehe aber auch zu seiner grundlegenden Beschäftigung mit Fragen der Prognose Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983. 6 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988. 7 Unvergessen bleibt mir unser in den Jahren 2003 und 2004 über vier Semester fortlaufendes Seminar über die allgemeine Straftatlehre in den zentralen europäischen Strafrechtsordnungen. Hier hat Frisch in beeindruckender Manier nicht nur die Rechtsordnungen Deutschlands, Spaniens, Frankreichs, des Common Law und der nordischen Länder (insbe-
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Mit seinem größten Werk, dem „Tatbestandsmäßigen Verhalten“ erweist sich freilich auch Frisch als ein Kind seiner Zeit. Er griff den damaligen Trend weg von einem kausalen hin zu einem stärker normativen Tatbestandsverständnis auf und deklinierte das tatbestandsmäßige Verhalten in bis dahin nicht gesehener Virtuosität durch alle seinerzeit virulenten Fallgruppen8. Vor diesem Hintergrund darf ich auf das Interesse und Wohlwollen des verehrten Jubilars hoffen, wenn ich im Folgenden versuche, einen kleinen Beitrag zur Diskussion des tatbestandsmäßigen Verhaltens im Fall von Leitungspersonen in Unternehmen (und noch konkreter zur Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung bei geheimen Abstimmungen) zu erbringen.
II. Zum Wesen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung Die strafrechtliche Haftung der Unternehmensleitung ist in den seltensten Fällen eine Verantwortung für physische Handlungen, die kausal den Verletzungserfolg eines Strafgesetzes herbeiführen. Regelmäßig resultiert die Haftung phänomenologisch aus den dem unmittelbaren tatbestandlichen Geschehen vorgelagerten Entscheidungen über die Lenkung und Leitung des Unternehmens und deren Umsetzung. Das Wesen dieser Haftung wird anschaulich, wenn wir drei konkrete Beispiele betrachten: Geradezu klassisch ist das Beispiel der strafrechtlichen Produkthaftung. Wie im berühmten Lederspray-Fall9 oder im spanischen Ölivenöl-Urteil10 wird hier meist die Verantwortlichkeit des Managements für die Entscheidung über den Vertrieb gesundheitsschädlicher Produkte diskutiert. Nahezu täglich aktuell wird die Haftung der Unternehmensleitung im Bereich der Arbeitssicherheit. In Italien wurden im Jahr 2011 sechs Manager von Thyssen-Krupp zu Freiheitsstrafen zwischen zehn und sechzehn Jahren verurteilt. Sie hatten im Wissen um unzureichende Sicherheitsvorkehrungen notwendige Investitionen in den Brandschutz ihres italienischen Werkes unterlassen, sodass bei dem Bruch eines Leitungsrohres sieben Mitarbeiter mit heißem Öl übergossen wurden und starben11. Ebenfalls zunehmend kritisch betrachtet wird die Haftung für Personalentscheidungen und die Personalorganisation. Beispielhaft kann man etwa nach der Verantsondere Dänemark und Schweden) verglichen. Er hat vielmehr meisterhaft ein Raster für das aus dem Rechtsvergleich erkennbare Gemeinsame des europäischen Rechtskreises entwickelt und in zahlreichen Koreferaten in diesem Seminar präsentiert. 8 Frisch (oben Fn. 6), Zweites und Drittes Kapitel. 9 Siehe nur die bis heute gültige Leitentscheidung BGHSt 37, 106. 10 Spanischer Tribunal Supremo in Übersetzung abgedruckt in NStZ 1994, 37. 11 Dazu näher den Bericht von Schönau, Die Zeit, Ausgabe 24/2011 vom 9. Juni 2011, Rubrik Wirtschaft (abrufbar unter: http://www.zeit.de/2011/24/ThyssenKrupp-Italien).
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wortlichkeit der Krankenhausleitung12 fragen, wenn aufgrund einer unzureichenden Personalorganisation einem Patienten auf der Intensivstation nicht schnell genug Hilfe geleistet oder notwendige Hygienestandards nicht eingehalten werden13. Die Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung ist nochmals schwerer zu fassen, wenn und weil praktisch sehr häufig die maßgeblichen Entscheidungen nicht von einer Person allein, sondern von mehreren getroffen werden. Beispiele hierfür sind Beschlüsse eines mehrköpfigen Vorstands, eines Beirats, eines Aufsichtsrats, einer Gesellschafterversammlung oder einer speziell gebildeten Task-Force-Gruppe. Gemeinhin wird die Verantwortlichkeit für Kollektiv- oder Gremienentscheidungen14 an das individuelle Entscheidungsverhalten geknüpft und danach differenziert, ob für oder gegen eine Maßnahme votiert wurde. Das ist freilich nicht möglich, wenn die Abstimmung nicht offen, sondern „geheim“ stattgefunden hat15. Das Beispiel der geheimen Abstimmung kann daher als eine Art „Nagelprobe“ für eine angemessene Dogmatik des tatbestandsmäßigen Verhaltens der Unternehmensleitung angesehen werden.
III. Die besondere Problematik geheimer Abstimmungen 1. Zum Begriff der „geheimen“ Abstimmung Der Begriff der „geheimen“ Abstimmung ist nicht ganz eindeutig. Im Gesellschaftsrecht gelten zum Teil auch solche Beschlüsse als „geheim“, bei denen der Einzelne – insbesondere zur Vermeidung einer persönlichen Haftung – sein Verhalten noch nachträglich offen legen kann. Solche und ähnliche Modi einer lediglich „verdeckten Abstimmung“16 werden hier aus dem Begriff der „geheimen“ Abstimmung ausgeschlossen. Die potenziell nachträgliche Offenlegung wird der Einzelne von Beginn an in seine Überlegungen einbeziehen. Die besonderen Verhaltensanreize einer geheimen Aktivität werden daher in erheblichem Maß konterkariert. Gleiches gilt für Fälle, bei denen bereits „geheim“ bleibt, dass überhaupt eine Abstimmung stattgefunden hat. Hier handelt es sich schlicht um konspiratives Verhalten. 12
Grundlegend hierzu Zwiehoff, MedR 2004, 354 ff. Beispielhaft etwa BGH NJW 2000, 2754. 14 Siehe etwa Schönke/Schröder/Heine, StGB, 28. Aufl., 2010, § 25 Rn. 76b. 15 Beispielhaft zu geheimen Abstimmungen etwa im Aufsichtsrat einer AG stellvertretend Hoffmann-Becking, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, 3. Aufl., 2007, § 31 Rn. 55 m.w.N. in Fn. 3 sowie ausführlich Kollhosser, FS Hadding, 2004, S. 501 ff.; zur Zulässigkeit geheimer Abstimmungen im Aufsichtsrat einer GmbH Meier, DStR 1996, 38; zu geheimen Abstimmungen auf der Hauptversammlung einer AG Hüffer, Aktiengesetz-Kommentar, 9. Aufl., 2010 § 134 Rn. 35. 16 Den Begriff der „verdeckten Abstimmung“ verwendet zum Beispiel Vollhard, in: Kropff/Semler (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 2004, § 134 Rn. 90. 13
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Geheim sind danach nur solche Abstimmungen, bei denen *
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entweder schon das konkrete Abstimmungsergebnis und insbesondere die konkrete Stimmenmehrheit unbekannt und nicht mehr ermittelbar ist oder jedenfalls das konkrete individuelle Wahlverhalten nicht mehr sicher reproduziert werden kann. 2. Klärungsbedürftige Vorfragen
Diese Fälle werden im Folgenden detailliert dogmatisch behandelt. Vorab kläre ich aber – quasi als Hintergrund – das besondere Gefahrenpotential und die Frage der grundsätzlichen normativen Zulässigkeit geheimer Abstimmungen: a) Die Problematik des Grundsatzes „in dubio pro reo“ Klärungsbedürftig ist zunächst, inwieweit bei „nicht mehr reproduzierbarem Abstimmungsverhalten“ angesichts des Beweisgrundsatzes „in dubio pro reo“17 die Gefahr praktisch erheblicher Strafbarkeitslücken besteht. Gerade für geheime Abstimmungen wird ganz überwiegend18 die Auffassung vertreten, die Unaufklärbarkeit der Stimmabgabe im Detail führe zu der Annahme, der Einzelne habe sich mit seiner Stimme rechtstreu verhalten. Dies gelte auch, wenn strafprozessual aus Beweisgründen das gesamte Gremium frei zu sprechen sei. Dieselbe Auffassung vertritt im belgischen Schrifttum Deruyck19. Er verweist darüber hinaus auf eine Entscheidung des Cour d’Appel in Brüssel aus dem Jahr 198520, in der Beweisschwierigkeiten tatsächlich zu einem Freispruch der gesamten Unternehmensleitung geführt haben. Strafbarkeitslücken infolge geheimer Abstimmungen können derzeit also zumindest nicht ausgeschlossen werden. 3. Erforderlichkeit eines grundsätzlichen Verbots geheimer Abstimmungen? Es stellt sich die weitere Frage, ob geheime Abstimmungen dann nicht grundsätzlich verboten werden sollten.
17 Zum doppelten – materiell-rechtlichen und strafprozessualen – Charakter des Grundsatzes „in dubio pro reo“ siehe nur Beulke, Strafprozessrecht, 11. Aufl., 2011, Rn. 25 m.w.N. 18 Schönke/Schröder/Heine (Fn. 15), StGB, § 25 Rn. 76b; ähnlich mit einem in konkreten Fall differenzierenden Lösungsansatz LK-StGB/T. Walter, 12. Aufl. 2007, vor § 13 Rn. 83. 19 Deruyck, ZStW 1991 (103), 703, (711). 20 Deruyck, ZStW 1991, 711 Fn. 25 mit Verweis auf die Entscheidung des Cour d’Appels Bruxelles, vom 24. 04. 1985, Pas 1985, II, 109.
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Eine entsprechende Diskussion findet vornehmlich im öffentlichen Recht und im Gesellschaftsrecht statt und normativ sprechen für ein solches Verbot durchaus eine Reihe gewichtiger Gründe21: *
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Aus kriminologischer Warte ist geheimes und konspiratives Verhalten stark kriminogen. Geheime Abstimmungen sind wegen der ihnen ihrem Wesen nach immanenten Verdunkelungstendenz per se missbrauchsanfällig. Sie widersprechen dem im Wirtschaftsstrafrecht bereits an verschiedenen anderen Stellen – bei der Untreue, im Korruptionsstrafrecht oder auf dem Feld der allgemeinen Compliance22 – erfolgreich etablierten Transparenzgebot und sie verschärfen das ohnehin schon vorhandene Phänomen der „organisierten Unverantwortlichkeit“23 in Unternehmen und eventuell vorhandene „kriminelle Verbandsattituden“ (Schünemann)24.
Diese Argumente wiegen doppelt, wenn wir die das Strafrecht generell beherrschenden Grundsätze des Schutzes der Rechte und Interessen Dritter und der Gefahrenvermeidung erinnern. Gleichwohl streiten meines Erachtens die besseren Erwägungen doch dafür, geheime Abstimmungen grundsätzlich zuzulassen: *
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Ein generelles Verbot bestimmter Verhaltensweisen sollte stets nur ultima ratio sein. Geheime Abstimmungen können im Einzelfall durchaus auch normativ positiv besetzte und geradezu erwünschte Effekte haben: Sie können in besonderem Maß der Gefahr unsachlicher Einflüsse durch falsch verstandenes solidarisches Verhalten entgegen wirken. Sie können Konfliktfällen vorbeugen25 und sie bringen deutlich das Wesen einer Gremienentscheidung als eigenständige und von Einzelinteressen gelöste Mehrheitsentscheidung zum Vorschein. Der Gesetzgeber sieht – vom Recht der Aktiengesellschaft26 über das Kommunalrecht27 bis zum WEG – auch in Bezug auf Sachfragen geheime Abstimmungen aus-
21 Siehe beispielhaft für die beachtlichen Stimmen, die ein Verbot geheimer Abstimmungen im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft fordern, die Nachweise bei Kollhosser, FS Hadding, 2004, S. 501 (503). 22 Augenfälliges Beispiel hierfür ist etwa das „Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich“ (KonTraG), BT-Drs. 13/9712, S. 1 (15). 23 Dazu nur Heine, in: Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen in der Marktwirtschaft, 1998, S. 90, 91; vgl. aber auch zum Gegenkonzept der „organisierten Verantwortlichkeit Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 4. Aufl., 2008, S. 394 ff, 457. 24 Dazu stellvertretend Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 22. 25 So auch Oetker, Erfurter-Kommentar zum Arbeitsrecht, 12. Aufl., 2012, § 108 AktG Rn. 10; Hoffmann-Becking (Fn. 16), § 31 Rn. 55; Meier, DStR 1996, 385 (385); vgl. beispielhaft auch die lex lata in §§ 116, 93 Abs. 1 S. 2 AktG. 26 Siehe dazu bereits die Nachweise oben Fn. 15.
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drücklich vor28. Er geht insoweit also davon aus, dass die hier drohenden Gefahren insgesamt beherrschbar sind. Der von Deruyck zitierte Fall aus der belgischen Rechtsprechung ist bislang – soweit ersichtlich – auch eine Einzelentscheidung geblieben. *
Im Übrigen greift es zu kurz, geheimes Verhalten per se mit konspirativem Verhalten gleich zu setzen29.
IV. Vorfindliche dogmatische Ansätze Sind geheime Abstimmungen normativ grundsätzlich zulässig, so gilt es, der Problematik strafrechtsdogmatisch Herr zu werden. Hier besteht angesichts der seit rund zwanzig Jahren währenden, recht intensiven Diskussion ein erheblicher Fundus an Lösungsvorschlägen30. Stark vereinfachend lassen sich drei hauptsächlich vertretene Ansätze herausarbeiten: 1. Lösung über die Spezifizierung der tradierten Kausalitätslehre a) Begründung Das Schrifttum schlägt überwiegend den Weg ein, das tatbestandsmäßige Verhalten in der Zustimmung zu dem rechtsgutsverletzenden Gremienbeschluss zu sehen31. Diese Zustimmung ist für den Verletzungserfolg dann kausal, wenn ohne sie die notwendige Mehrheit nicht zustande gekommen wäre. Sie soll aber auch kausal sein, wenn der Beschluss mit einer größeren als der erforderlichen Mehrheit zustande kommt und der Erfolg damit „überbedingt“ ist32. Für die exakte Begründung dieses Ergebnisses wurde ein bunter Strauß an Argumentationsmustern entwickelt33 : Roxin votiert für eine Anwendung der Grundsätze der sog. kumulativen Kausalität34. Jede Stimme sei eine für sich allein nicht wirksa27
Vgl. etwa §§ 45 Abs. 4, 46 saarl KSVG. Kritisch dazu Groth/Rühl, LKV 2007, 311. 29 Insoweit wurde schon bei der Definition des Begriffs der „geheimen Abstimmung“ differenziert. 30 Bei der Sichtung des Schrifttums und der Rechtsprechung konnten weit über ein Dutzend unterschiedliche Lösungsansätze ausdifferenziert werden. Ich bitte insoweit, mir meine Vereinfachung nachzusehen. 31 Stellvertretend etwa Rengier, Strafrecht, AT, 3. Aufl., 2011, § 13 Rn. 35 und § 49, Rn. 20 jeweils m.w.N. 32 Vgl. LK-StGB/T.Walter (Fn. 19), vor § 13 Rn. 82. 33 Siehe hierzu den gelungenen Überblick bei Schaal, Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen, 2001, S. 22 ff. 34 Roxin, Strafrecht AT, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 8; hierzu grundlegend kritisch auch Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, 1988, S. 27 ff. 28
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me Ursache, die erst mit den anderen Stimmen zusammen ihre Wirksamkeit entfalte. Andere35 unterscheiden nach dem konkreten Abstimmungsergebnis. Sie wollen in Fällen überbedingter Beschlüsse die Grundsätze der sog. alternativen Kausalität anwenden, da die zustimmenden Voten zwar jeweils für sich, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden könnten36. Wieder andere bemühen z. B. die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung37 oder argumentieren – wie z. B. Puppe – mit sog. Inus-Bedingungen38. Puppe greift damit zurück auf eine maßgeblich von dem (auch von Wolfgang Frisch sehr geschätzten) Philosophen John Mackie entwickelte Erweiterung der traditionellen Kausalitätslehre zur Erfassung multi-kausaler Zusammenhänge. Kuhlen votiert in diesem Zusammenhang generell für ein „unbefangenes Kausalitätsverständnis“39. b) Kritik Die Vielfalt an Einzelauffassungen deutet schon darauf hin, dass die Begründung der Kausalität weitaus schwieriger ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Gerade bei überbedingten Erfolgen und der weiteren Realisierung der von dem Gremium geschaffenen Gefahren kann man eine echte „naturwissenschaftliche“ Kausalität nicht wirklich feststellen. Im Grunde geht es von Beginn an in erster Linie um die stärker normative Frage der Zurechenbarkeit. Diese Frage wird aber recht unspezifisch beantwortet. Einig ist man sich nur im Ergebnis. Geradezu augenfällig wird das Dilemma der Kausalitätslösungen bei geheimen Abstimmungen: Den hier bestehenden Nachweisschwierigkeiten haben sie im Grunde nichts entgegen zu setzen. Eine Strafbarkeit lässt sich hier nur nach den Grundsätzen des „Erfolgs in seiner ganz konkreten Gestalt“ begründen40. Strafrechtlich sanktioniert wird dann aber allein das Faktum der Teilnahme an der Abstimmung, nicht mehr das Abstimmungsverhalten selbst. Auf der Ebene der Zurechnung bliebe begründungsbedürftig, weshalb die Teilnahme an der Abstimmung rechtlich missbilligt gewesen sein soll – und diese Begründung dürfte entsprechend unseren vorherigen Überlegungen zur grundsätzlichen normativen Zulässigkeit geheimer Abstimmungen misslingen.
35 Vgl. etwa Dreher, JuS 2004, 17, 18 sowie aus der zivilrechtlichen Literatur etwa Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl., 2009, § 830 Rn. 54. 36 Stellvertretend Dreher, JuS 2004, 17, 18. 37 Hilgendorf, NStZ 1994, 561, 565. 38 INUS steht als Abkürzung für „insufficient, but necessary part of an unnecessary but sufficient condition“ und meint einen „nicht hinreichenden, aber notwendigen Teil einer nicht notwendigen, aber hinreichenden Bedingung“. 39 Kuhlen, NStZ 1990, 570. 40 So etwa Rengier (Fn. 32), § 40 Rn. 22: „der konkrete Kausalverlauf darf nicht durch eine Ersatzursache ersetzt werden“.
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2. Anwendung der Regeln zur Mittäterschaft Die Schwierigkeiten mit der Kausalität scheinen überwindbar, wenn man – so die Rechtsprechung in der berühmten Lederspray-Entscheidung41 – in der Gremienentscheidung einen Sonderfall der Mittäterschaft sieht. a) Lösungsansatz Mit unterschiedlicher Begründung im Einzelnen42 wird dann davon ausgegangen, die Mitglieder handelten aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses und jeder Einzelne bringe mit seiner Stimmabgabe den von ihm geforderten Tatbeitrag. Der Tatbeitrag liegt damit zwar noch deutlich im Vorbereitungsstadium der Tat; dieser Umstand wird indessen kaum weiter problematisiert43. Wichtig ist vor allem, dass so die einzelnen Handlungen den Beteiligten wechselseitig zugerechnet werden können. Besonders weit geht hier gerade im Fall einer kollegial besetzten Unternehmensleitung Tiedemann. Er will auch das Erfordernis eines gemeinsamen Tatentschlusses durch das Faktum der Unternehmenszugehörigkeit ersetzen44. In ähnlicher Weise begründet Dencker die Mittäterschaft generell durch das Prinzip der „Gesamttat“45. Rechtsvergleichend findet sich außerdem – in dem von Wolfgang Frisch stets mit besonderem Interesse verfolgten – japanischen Recht die Figur der „kyobo kyodo seihan“ (verabredete Mittäterschaft) als Sonderform der Mittäterschaft. Danach wird jeder als Täter bestraft, wenn zwei oder mehrere Täter die Ausführung der Tat verabreden und einer von ihnen die Tat dem gemeinsamen Willen entsprechend ausführt46. Nicht unähnlich sind dieser japanischen Figur im deutschen Schrifttum entwickelte Ideen vom Handeln einer „imaginären Gesamtperson“47 oder einer „kollektiven Leistung“48.
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BGHSt, 37, 107, 114, 129 ff. Siehe auch insoweit zusammenfassend Schaal (Fn. 34), S. 164 ff. 43 Dazu kritisch Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 189. 44 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, AT, Rn. 179. 45 Dencker (Fn. 44), S. 142 ff. 46 Näher und kritisch dazu Bloy, GA 1996, 424, 435, der darauf hinweist, dass in § 27 Abs. 2 Entwurf eines japanischen Gesetzbuches vom 29. Mai 1974 zeitweise sogar die gesetzliche Anerkennung dieser Rechtsfigur vorgesehen war, mit weiteren rechtsvergleichenden Hinweisen (aaO. Fn. 51); aus dem japanischen Schrifttum in deutscher Sprache etwa Shimada, GA 2009, 469 (474) sowie mit strafprozessualer Perspektive Ohno, Gedächtnisschrift f. Armin Kauffmann, S. 691, 695 f. 47 Heinrich, Rechtsgutszugriff und Entscheidungsträgerschaft, 2002, S. 287. 48 Lesch, GA 1996, 435. 42
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b) Kritik Zustimmung verdienen diese Ansätze insoweit, als das Augenmerk von der reinen Kausalität weg auf grundsätzliche Fragen der Zurechnung gerichtet wird. In den Vordergrund rückt hier die wechselseitige Zurechnung individueller Handlungen. Es bleibt aber unklar, ob diese Art der Zurechnung überhaupt ausreicht oder auch nur den Kern des Verhaltens trifft49 und ob das Maß der individuellen Verantwortung hinreichend erfasst wird. Ganz grundsätzlich infrage gestellt werden muss die Mittäterschaftslösung, wenn das Gremium im konkreten Fall tatsächlich eine nur beratende Funktion hatte. Etwa beim Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft oder dem Beirat einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) geht die regelhafte Annahme einer täterschaftlichen Haftung ersichtlich zu weit und ebnet die objektive Unterscheidung zwischen den verschiedenen Beteiligungsformen unnötig ein50. Immerhin ist der Ansatz auch geeignet, verschiedene Fälle geheimer Abstimmungen normativ adäquat zu lösen: In der Literatur werden die Anforderungen an die Begründung von Mittäterschaft dann so weit abgesenkt, dass der in der Stimmabgabe liegende Tatbeitrag zusammen mit einem „tatbeherrschenden Steuerungsbewusstsein“ auch bei geheimen Abstimmungen eine Mittäterschaft begründen können soll51. Selbst diese Weiterung führt – so wenig wie die genannten überindividuellen Konstruktionsversuche – nicht in jedem Fall weiter: Aus der Teilnahme an einer normativ zulässigen Abstimmung und einer unterstellt rechtstreuen Stimmabgabe kann keine Basis für die Zurechnung einer nachfolgenden rechtswidrigen Tatbestandsverwirklichung abgeleitet werden. 3. Bestimmung der Verantwortlichkeit nach den Grundsätzen des begehungsgleichen Unterlassens Noch stärker normativiert wird die Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung, wenn nicht mehr auf das Begehungsdelikt, sondern sogleich auf die Grundsätze des Unterlassungsdelikts abgestellt wird52. Die Rechtsprechung53 hat insoweit das Prin-
49 Fletcher, FS Roxin II, 2011, S. 793 (795, 798) schlägt – freilich mit Bezug zum Völkerstrafrecht – vor, kollektives Handeln als Zusammenarbeit gegenseitig kooperierender Teilnehmer und damit als Straftaten ohne Straftäter zu behandeln. 50 Zu den Folgen einer zu undifferenzierten Mittäterschaftsdogmatik etwa im japanischen Recht Ohno, Gedächtnisschrift A. Kauffmann, S. 691 (692 Fn. 12), wonach dort rund 97 % aller Beteiligungsfälle als Mittäterschaft bestraft werden. 51 So etwa Christian Corell, Strafbarkeit trotz/nach geheimer Abstimmung, (noch unveröffentlichtes Skript), 2. Teil A 2. b. 52 Tendenziell auch LK-StGB/T. Walter (Fn. 19), vor § 13 Rn. 83. 53 OLG Stuttgart JZ 1980, 774 ff.; BGHSt 37, 106; 48, 77 dazu Dreher, JuS 2004, 17 f.; BGH NJW 1995, 2933 (2934).
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zip der Allzuständigkeit und Generalverantwortlichkeit54 der Unternehmensleitung entwickelt. Danach ist gerade in Krisensituationen die Unternehmensleitung insgesamt zum Handeln berufen. Wenn hier die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung von Gefahren für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter nicht vorgenommen werden, hat jeder Einzelne für die Konsequenzen einzustehen. Der Grundgedanke, jede einzelne Person aus der Unternehmensleitung persönlich in die Verantwortung zu nehmen, verdient Zustimmung. Insoweit unterscheidet sich der Ansatz freilich auch nicht von der vorgenannten Kausalitäts- oder Mittäterschaftslösung. Überlegen ist die Konstruktion dieser Verantwortlichkeit über individuelle Garantenpflichten aber insoweit, als so der Blick direkt auf die dem Einzelnen konkret vorwerfbare Pflichtverletzung gerichtet wird. Leitungsverantwortlichkeit wird damit eine nicht nur formelhaft, sondern konkret bestimmbare Individualverantwortlichkeit und die besteht auch dann, wenn zuvor geheime Abstimmungen stattgefunden haben. Die Einwände gegen die Lösung über die Grundsätze des Unterlassungsdelikts sind hauptsächlich strafrechtssystematischer Provinienz: Der Rückzug auf das Unterlassen kommt möglicherweise etwas vorschnell und verliert auch zu sehr „den Tatbestandsbezug“55 bzw. den „personalen Bezug“56 überhaupt aus dem Blick. Phänomenologisch wird der Geschäftsleitung in aller Regel keine Untätigkeit vorgeworfen; regelmäßig wird der Vorwurf dahin gehen, zwar schon gehandelt zu haben, aber eben falsch gehandelt zu haben. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung ist, auch wenn sie in Form einer Entscheidungsverantwortlichkeit in Erscheinung tritt, strukturell eine Verantwortlichkeit für positives Tun. Erst recht ist kein Raum für eine Strafmilderung, wie sie in § 13 Abs. 2 StGB vorgesehen ist. Der Anwendungsbereich des begehungsgleichen Unterlassens ist auch im Wirtschaftsstrafrecht auf Einzelfälle begrenzt.
V. Konkretisierung des eigenen Lösungsansatzes Die Bestandsaufnahme hat durchweg das Bestreben gezeigt, eine möglichst umfassende Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung durchzusetzen57. Dazu wer54
BGHSt 37, 106 (123 f.); ZIP 2001, 422 (423); zustimmend etwa Beulke/Bachmann, JuS 1992, 791 sowie Weißer, Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen, 1996, S. 72 ff. m.w.N. in Fn. 220; Volk, FS Roxin, 2001, S. 422 (423) weist darauf hin, dass gerade bei strafrechtlich relevanten Ereignissen stets eine dieses Prinzip begründende Krisensituation vorliegt. 55 In diesem Sinn etwa Rotsch, ZIS 2009, 718. 56 Letzteres betont jüngst – bezogen auf das vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs ausgesprochene obiter dictum zur Haftung des Compliance Officers (BGH NJW 2009, 3175) – Momsen, FS Puppe, 2011, S. 751 (758). 57 Deutlich rechtspolitisch argumentieren hier auch BGHSt 37, 106, 132; OLG Stuttgart NStZ 1981, 27 (28).
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den die Kernelemente der Tatbestandslehre recht stark normativiert. Die Kategorien der tatbestandsmäßigen Handlung sowie der Kausalität werden extensiv interpretiert und in der Beteiligtendogmatik wird – möglicherweise unbewusst – einem Einheitstäterbegriff58 oder einem extensiven Täterbegriff Vorschub geleistet. Ein insgesamt überzeugendes Konzept und ein entsprechender Konsens wurden bislang jedenfalls noch nicht gefunden. 1. Ausgangspunkt: Verknüpfung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit und „Leitungsmacht“ Trotz der vorhandenen Diskussion scheint es daher gerechtfertigt, einen eigenständigen und a priori funktional orientierten Ansatz zu entwickeln59. Maßgeblicher Ausgangspunkt hierfür sind die in einem Unternehmen legitimer Weise ablaufenden Prozesse60. Eine legitime Organisation taugt noch nicht per se als eigenständiger Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Haftung61. Die Rechtsordnung knüpft erst an die hieraus resultierenden Prozesse an und leistet Vorsorge, dass die strafrechtlich flankierte Normordnung gewährleistet bleibt, signifikante Strafbarkeitslücken nicht entstehen und strafrechtliche Verantwortlichkeit hinreichend differenziert werden kann62. Nimmt man diese Parameter ernst, so kann sich die Verantwortlichkeit des Einzelnen in einem Unternehmen nur an den von ihm dort im organisierten Zusammenwirken mit den anderen – als zusammengenommen bzw. aggregiert „dem Unternehmen“63 – erbrachten Beiträgen orientieren. Die Art dieser individuellen Beiträge unterscheidet sich nach der konkret wahrgenommenen Aufgabe. Die Leitung des Unternehmens besteht regelmäßig in dessen grundlegender Organisation und Steuerung64. Die Personen in der Unternehmensführung steuern die in dem Unternehmen ablaufenden Prozesse in zentraler Weise65. Gerade hieraus folgt auch der normative 58
Siehe in diesem Zusammenhang auch das grundsätzliche Votum für einen Einheitstäterbegriff von Rotsch, Einheitstäterschaft statt Tatherrschaft – zur Abkehr von einem differenzierenden Beteiligungsformensystem in einer normativ-funktionalen Straftatlehre, 2009. 59 Auch MK-StGB/Schmitz, 2006, vor § 324 Rn. 125 weist darauf hin, dass es für die faktische Verantwortungsvervielfachung „bis heute an einer überzeugenden Begründung“ fehlt. 60 Näher dazu Mansdörfer, Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011, Rn. 746 ff. 61 Vgl. Mansdörfer (Fn. 61), Rn. 825 f. 62 Siehe hierzu auch bereits § 130 OWiG. 63 In diesem Sinn Lüderssen, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 79 (100 ff.). 64 Zutreffend hervorgehoben wird dieser Punkt auch von LK-StGB/T.Walter (Fn. 19), vor § 13 Rn. 83. 65 Gerade das (funktional) steuernde Beherrschen des Geschehens wird in Rechtsprechung und Literatur schließlich auch im Übrigen als Wesensmerkmal des Täters angesehen, vgl. nur Roxin, Strafrecht, AT II, 2003, § 25 Rn. 27 ff.
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Ansatz zur Begründung einer (straf)rechtlichen Verantwortlichkeit und zur Zurechnung etwaiger strafrechtlich relevanter Rechtsverletzungen. Eine solche Leitungsmacht besteht nicht nur dann, wenn der Einzelne alle wesentlichen Vorgänge in einem Unternehmen komplett beherrscht66. Auch die Leitungsmacht ist insgesamt Abstufungen zugänglich. 2. Konkretisierung und Eingrenzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung Diese Leitungsmacht zur Implementierung sachverhaltsübergreifender langfristiger Strategien oder Zielvorgaben führt regelmäßig nicht zu einer strafrechtlichen Haftung. Der Schwerpunkt dieses Handelns liegt im planerischen Bereich und beschränkt sich regelmäßig auf Zielvorgaben67. Hier liegt ein für gewöhnlich „sicherer Hafen des Geschäftsleiterermessens“68. Der strafrechtskritische Bereich beginnt regelmäßig erst bei der Entscheidung konkreter Einzelfragen (= potentieller Tatbestandsbezug69) und der daraus folgenden (= potentielle Zurechnung) Verwirklichung des Tatbestandes70. Auf solche Fälle bezogen sich auch die einführend genannten Beispiele zur Produkthaftung, Arbeitssicherheit und Personalplanung. Entscheidungen zu solch konkreten Sachfragen sind immer eingebunden in eine bereits bestehende, an sich auf rechtskonforme Ergebnisse ausgerichtete71 Unternehmensorganisation. Die Mitarbeiter in einem Unternehmen sind grundsätzlich gehalten, dass aus ihrer Tätigkeit keine unzulässigen Gefahren für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter resultieren72. Auch Vorgaben und Weisungen von Vorgesetzten dürfen gerade nicht ungeprüft und ohne Rücksicht auf die Folgen umgesetzt werden73. Sicherheitsbedenken müssen die Mitarbeiter 66 Im Zivilrecht wird an dieser Stelle insbesondere im Konzernrecht als Schlüsselbegriff zur Begründung der Zurechnung der Begriff der „Leitungsunterstellung“ verwendet, vgl. Ederle, Verdeckte Beherrschungsverträge, 2010, S. 92 ff. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 67 Sog. management by objectives. 68 Näher zu dieser „safe-harbor-rule“ Mansdörfer (Fn. 61), Rn. 829 ff. 69 Gerade hier „eignet dem Verhalten ex ante eine missbilligte Gefahrschaffung“, vgl. Frisch (Fn. 6), S. 40. 70 Vgl. insoweit auch Roxin (Fn. 66), § 25 Rn. 5, der vor dem Hintergrund des geltenden restriktiven Täterschaftsbegriffs darauf hinweist, dass die Verantwortlichkeit einer Person als Täter gerade nicht allein mit der Verursachung, sondern mit der Verwirklichung des Tatbestandes begründet wird. 71 Dies darf vorausgesetzt werden, da andernfalls ein krimineller Verband vorliegen würde, der zu verbieten wäre; ebenfalls die Bedeutung dieser Aussage betonend Lüderssen (Fn. 64), S.102 f. 72 Näher dazu Mansdörfer (Fn. 61), Rn. 749 f., 751. 73 Näher dazu Mansdörfer (Fn. 61), Rn. 657 ff.
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stets an übergeordnete oder spezifische andere Stellen melden, sodass insgesamt ein recht stabiles Gebilde entsteht. 3. Exemplifizierung am Beispiel geheimer Abstimmungen Welche Folgen haben diese Überlegungen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung bei geheimen Abstimmungen? a) Strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Wahrnehmung von Leitungsmacht Die erste und wichtigste Konsequenz liegt darin, dass der eigentliche Abstimmungsakt zwar die Entscheidung des Kollegialorgans begründet; die unternehmerische Handlung – und gegebenenfalls die rechtlich missbilligte Gefahrenschaffung – des einzelnen Mitglieds in Bezug auf das konkrete Geschehen erschöpft sich in diesem Akt bei weitem nicht74: Der Schwerpunkt des dem Einzelnen vorwerfbaren Verhaltensunrechts liegt (seltener) darin, sich entweder im Vorfeld der Entscheidung nicht hinreichend informiert zu haben oder (häufiger) eine a priori kriminelle Handlung umgesetzt zu haben. Die Stimmabgabe selbst ist ein hier nur ausnahmsweise äußerlich wahrnehmbarer Akt persönlicher Entschließung. Im Fall einer von einem Einzelnen isoliert begangenen Straftat wäre dieser Akt (ebenso wie der Prozess der Entscheidungsfindung) nicht nach außen dokumentiert und regelmäßig kein tauglicher Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Haftung. Auch beim Handeln in einem Unternehmen ist das Entscheidungsverhalten allein daher nicht der für die normative Bewertung einzige und maßgebliche Anknüpfungspunkt75. Auch rechtstatsächlich hat es mit diesem Akt in aller Regel nicht sein bewenden. Jedes einzelne Mitglied der Unternehmensleitung konkretisiert mit seinem weiteren Verhalten und dem Wahrnehmen seiner für das Unternehmen wesentlichen Funktionen die rechtlich missbilligte Gefahr einer spezifischen Rechtsgutsverletzung. Erst die Gesamtheit des Verhaltens erlaubt eine sachgerechte Differenzierung verschiedener Verantwortlichkeitsgrade. Auf diese Weise wird dann erst der Zugang zu dem unserer allgemeinen Strafrechtsdogmatik zugrunde liegenden Beteiligungssystem eröffnet. Dieses Verhalten variiert je nach der konkreten Funktion in der Produktion, im Vertrieb, im Bereich Public Relation oder im Finanzwesen. Gerade hierfür hat der Einzelne aber in erster Linie strafrechtlich einzustehen. Diese individuelle Verant74 Differenzierend hier auch – die von Wolfgang Frisch betreute Dissertation von – Neudecker, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen, 1995, S. 235 ff., die die Abstimmung ausdrücklich noch in den Bereich des Vorbereitungshandelns einstuft; weitergehend aus der Rechtsprechung dagegen LG Göttingen NJW 1979, 1558 (1561); OLG Düsseldorf NJW 1980, 71; OLG Stuttgart 1981, 27 (28). 75 Ähnlich auch der japanische OGH bei der Auslegung der Rechtsfigur der kyobo kyodo seihan in der sog. Nerima-Entscheidung, dargestellt bei Shimada, GA 2009, 469 (476), wo das Schwergewicht wieder auf die Verwirklichung des Tatplans gelegt wurde.
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wortlichkeit entspricht seiner aus der formalen Organisation des Unternehmens folgenden Kompetenz. Das einzelne Mitglied der Unternehmensführung schafft mit der Wahrnehmung seiner Funktion rechtlich missbilligte Gefahren, die sich dann – zusammen mit den von den übrigen Beteiligten geschaffenen Gefahren – in der Verletzung des Straftatbestands realisieren. Zutreffend ist dabei der mit der Lehre von der kumulativen Kausalität im Grunde schon gewohnheitsrechtlich anerkannte Grundsatz, dass jeder für den vollen Schaden (Verletzungserfolg) einzustehen hat, obwohl der von ihm geleistete Beitrag erst zusammen mit den von den anderen gesetzten Ursachen und Rahmenbedingungen das endgültige Resultat herbeiführt. b) Strafrechtliche Verantwortlichkeit für Eingriffe in die bestehende Unternehmensorganisation Ein nochmals deutlich gesteigertes Handlungsunrecht liegt dort vor, wo ein Mitglied der Unternehmensleitung direkt in die vororganisierten Abläufe des Unternehmens eingreift oder Mitarbeiter mit einer rechtstreuen Tendenz ruhig stellt. Diese individuelle Verantwortlichkeit besteht gleichermaßen bei offenen und geheimen Abstimmungen. Das Mitglied eines Führungsgremiums ist daher nicht schon dann straflos, wenn es sich in der fraglichen Abstimmung gegen ein strafrechtlich relevantes Szenario ausgesprochen hat; der Einzelne bleibt nur straflos, wenn er auch im Übrigen keine weiteren Umsetzungshandlungen unternimmt. Praktisch ist das fast nur in den seltenen Konstellationen der Fall, in denen das Mitglied der Unternehmensleitung sein Amt niederlegt76. Selbst die Niederlegung des Amtes schützt den Einzelnen aber nicht zwingend vor einer Verantwortlichkeit wegen eines begehungsgleichen Unterlassens. Das einzelne Mitglied hat aufgrund der von ihm eingenommenen Stellung als Leitungsorgan des Unternehmens die Pflicht, insoweit auf das Unternehmen Einfluss zu nehmen, wie dies seinen Leitungskompetenzen entspricht. Insoweit wird regelmäßig bereits die dem einzelnen Mitglied zur Verfügung stehende, sektoral beschränkte Kompetenz – insbesondere in den Kernbereichen Produktion, Vertrieb, Personal und Finanzen – ausreichen, um ein strafrechtsrelevantes Ereignis insgesamt zu unterbinden. Hierbei verdient der Einzelne insbesondere den flankierenden Schutz des Zivilrechts und namentlich des Arbeitsrechts im weitesten Sinne. Eine letzte wichtige Konsequenz besteht in der bereits angemahnten Differenzierung unterschiedlicher Verantwortlichkeitsgrade auch bei Gremienentscheidungen: *
Bei Vorständen und Geschäftsführern liegt grundsätzlich eine (neben)täterschaftliche Verantwortung77 nahe.
76 Zu den konkreten Möglichkeiten zur Verhinderung rechtswidriger Beschlüsse stellvertretend Neudecker (Fn. 75), S. 196 ff. 77 Zu den daraus im Einzelnen zu schließenden Folgerungen und insbesondere den trotz der Annahme von Nebentäterschaft bestehenden Differenzierungsmöglichkeiten Mansdörfer (Fn. 61), Rn. 765 ff.
Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung bei geheimen Abstimmungen *
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Bei Aufsichtsräten und Mitgliedern anderer „Beiräte“ ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit, sofern sie in ihrer nur beratenden Funktion tätig werden, regelmäßig auf die eines Teilnehmers beschränkt78. Initiiert der Aufsichtsrat die rechtswidrige Handlung, können sich seine Mitglieder im Einzelfall auch als Anstifter strafbar machen. Bei Beschlüssen von Aktionärs- oder Gesellschafterversammlungen wird die Besonderheit bestehen, dass dem einzelnen Gesellschafter – als Ausnahme zu der von mir postulierten Regel – tatsächlich einzig und allein das Abstimmungsverhalten vorgeworfen werden kann. Wenn dieses nicht nachgewiesen werden kann, bleibt die Haftung nach den Grundsätzen des begehungsgleichen Unterlassens im Raum. Gewöhnliche Aktionäre sind freilich trotz ihrer Kapitalbeteiligung am Unternehmen in der Regel keine Garanten. Bei Gesellschaftern etwa einer GmbH ist dies eine Frage des Einzelfalls.
4. Replik auf potentielle und konkrete Einwände a) Potentielle Einwände Der schwerwiegendste Einwand gegen den hier entwickelten Lösungsansatz könnte darin liegen, lediglich eine Scheinlösung entwickelt zu haben. Im Grunde knüpft die postulierte Haftung gerade nicht an das Abstimmungsverhalten an und der Beitrag verhält sich zum Faktum der strafrechtlichen Relevanz der nicht bekannten Stimmabgabe bei geheimen Beschlüssen nicht. Diesem Einwand kann insoweit klarstellend entgegen getreten werden, dass die Feststellung der Teilnahme an einer Abstimmung allein nach meiner Auffassung in der Regel nicht genügt, um eine täterschaftliche strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen zu können. Solche Feststellungen können allenfalls eine Garantenpflicht zur Abwendung der rechtlich missbilligten Gefahr aktuell werden lassen. Ein weiterer Einwand könnte mein Verständnis der tatbestandsmäßigen Handlung betreffen: Insoweit liegt der Vorwurfe nahe, die Grenzen des üblichen Verständnisses der tatbestandsmäßigen Handlung als einzelnes willensgesteuertes Verhalten überschritten zu haben und anstatt der Handlung ein „Gesamtverhalten“ zur Grundlage der normativen Bewertung zu machen. Dagegen lässt sich einwenden, dass die Rechtsprechung seit je her ähnlich verfährt: Mit der Argumentationsfigur der „natürlichen Handlungseinheit“79 wird rechtsgutsverletzendes Verhalten, das sich bei natürlicher Betrachtung als Einheit darstellt, auch rechtlich als einheitliches
78 Diese Gehilfenhaftung geht einer möglichen Unterlassenshaftung des Aufsichtsrates (dazu näher Krause, NStZ 2011, 57 [60]) vor. 79 Vgl. schon RGSt 58, 116 sowie stellvertretend BGHSt 4, 219; 43, 387.
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Tun behandelt. Im Übrigen werden nur Defizite eines zu rudimentären Handlungsbegriffs deutlich80. b) Konkrete Einwände von Klaus Lüderssen Klaus Lüderssen geht noch einen Schritt weiter als von mir vorgeschlagen und postuliert die Entwicklung einer neuen „Dogmatik der kumulativen Beteiligungslehre“ (sog. aggregative model)81. Die persönliche Verantwortung der Unternehmensleitung folgt seiner Auffassung nach aus dem „Ineinandergreifen persönlicher und systemischer Anteile an der Existenz und der Aktivität eines Unternehmens“82. Eine solch neue Dogmatik würde spannende Möglichkeiten einer weiteren Ausdifferenzierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeiten in Unternehmen bieten, wird von mir aber in der Tat nicht eingefordert83. Ich meine, die Problematik ausgehend von einer präziseren Erfassung der tatsächlichen Strukturen (durchaus im Sinne eines sozialen Handlungsbegriffs)84 abarbeiten zu können. Die hierfür nötigen Argumentationsfiguren sind im modernen Strafrecht durchaus geläufig. Die Ideen von Lüderssen sind freilich im Ansatz spektakulär und eröffnen ungeahnte Möglichkeiten der Kombination eines Sanktionen-, Maßregel- oder Interventionsrechts gegen juristische Personen und individueller Verantwortlichkeit85. Das „Strafrecht ohne Täter“86 wird es freilich selbst dann kaum geben. In jedem Fall müsste das traditionelle Schuldstrafrecht (mit seinen rechtsstaatlichen Sicherungen) mit dem neuen Eingriffsrecht gegen Unternehmen austariert werden87; auch wären die Folgen und Rückkoppelungen eines solchen Rechts für das Individualstrafrecht sorgsam zu erwägen. Derartige Überlegungen sind – wie gesagt – reizvoll; sie sollten an anderer Stelle vertieft werden.
VI. Zusammenfassung in Thesen Thesenartig lassen sich die vorstehenden Ausführungen wie folgt zusammenfassen:
80
Grundlegend und weiterführend Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, 1994, S. 330 ff. 81 Siehe nochmals Lüderssen (Fn. 64). S. 79 (100 ff.). 82 Lüderssen (Fn. 64), S. 79 (103 f.). 83 Mansdörfer (Fn. 61), Rn. 2. 84 Vgl. Eb. Schmidt, FS Engisch, 1969, S. 339 (343 ff.). 85 Lüderssen (Fn. 64), S. 387 (388 ff.). 86 Lüderssen (Fn. 64), S. 104 unter Bezugnahme auf Fletcher (Fn. 50), S. 793 ff. 87 Wie im Grunde auch ein Austarieren von Individualstrafrecht und bestehendem Unternehmenssanktionenrecht (nach § 30 OWiG, 73 ff. StGB bzw. verwaltungsrechtlichen Folgen) überfällig ist.
Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung bei geheimen Abstimmungen *
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Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung ist bislang dogmatisch unzureichend aufbereitet. In der Sache resultiert die Haftung aus der vom Einzelnen in Anspruch genommenen Leitungsmacht, die häufig über Leitungsentscheidungen und deren Umsetzung ausgeübt wird. Solche Entscheidungen können vom einzelnen Manager allein oder von einem Gremium getroffen werden. In beiden Fällen bleibt die Verantwortlichkeit ihrem Wesen nach unverändert. Der Begriff der Leitungsmacht ist wertenden Differenzierungen zugänglich. Er kann erst anhand des gesamten tatsächlichen Geschehens und in Anbetracht der tatsächlich wahrgenommenen Funktionen schrittweise entfaltet und konkretisiert werden. Mittel- und langfristige Managemententscheidungen sind meist ein sicherer Hafen des Geschäftsleiterermessens. Anderes gilt für die Entscheidung konkreter Sachverhalte. Hier sind einzelne Abstimmungen und deren Umsetzung je nach der Funktion des Gremiums durchaus unterschiedlich zu behandeln: Bei mehreren Geschäftsführern liegt regelmäßig eine Nebentäterschaft nahe. Bei nur beaufsichtigenden Kollektiven spricht im ersten Zugriff vieles für eine reine Unterlassenshaftung und bei nur beratenden Gremien ist auch eine bloße Teilnahmestrafbarkeit denkbar. Einer Sonderdogmatik für offene oder geheime Gremienentscheidungen bedarf es nicht. Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik im Zusammenhang mit Straftaten aus einem Unternehmen ist freilich offen. Die Diskussion um Modelle und ihre Folgen hat hier gerade erst begonnen.
Die Betriebsbezogenheit der Garantenstellung von Leitungspersonen im Unternehmen Von Héctor Hernández Basualto
I. Die Garantenstellung von Leitungspersonen und das Problem der Betriebsbezogenheit Die innerhalb von unternehmerischen Strukturen begangene Kriminalität ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr in den Mittelpunkt der kriminalpolitischen bzw. strafrechtsdogmatischen Diskussion gerückt. Dies gilt nicht nur für Industrienationen, sondern auch für viele sog. Schwellenländer wie Chile, wo sich die Strafjustiz zunehmend gezwungen sieht, sich mit Fällen auseinanderzusetzen, bei denen es in erster Linie um die Begründung der Verantwortlichkeit der Leitungspersonen im Unternehmen geht. Spektakuläre Strafprozesse, die unterschiedliche Bereiche der unternehmerischen Betätigung betreffen, geben Anlass, nach dem „echten“ Verantwortlichen im Unternehmen zu suchen. Diesbezüglich wird versucht, von einer „bottom up“-Betrachtung allmählich Abschied zu nehmen und anhand überzeugender dogmatischer Kriterien auch in der Praxis eine „top down“-Betrachtung durchzusetzen. In diesem Zusammenhang kommt den in anderen Rechtsordnungen entwickelten Grundsätzen und Modellen besondere Bedeutung zu. Da bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen von Modellen Abstand zu nehmen ist, die unter bestimmten objektiven Umständen Straftaten, die durch Mitarbeiter begangen wurden, der Leitungsperson schlicht als deren eigene Taten zurechnen und damit eine Verantwortlichkeit ohne Verschulden bzw. ohne Verschuldensnachweis vorsehen,1 ist auf eine vorwerfbare eigene Tat der Leitungsperson abzustellen. Da in den Unternehmen jedoch die Leitungspersonen immer seltener in die konkret schadensauslösenden Vorgänge eingeschaltet sind, ist regelmäßig lediglich deren Untätigkeit festzustellen, womit nur eine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen (unechten) Unterlassens in Frage kommt.2 1
So etwa die responsabilité pénale pour autri des französischen Rechts, dazu Larguier/ Conte, Droit pénal des affaires, 11e édition, 2004, S. 34 ff.; oder die strict liability des USamerikanischen Rechts, dazu Strader, Understanding White Collar Crime, 2002, S. 27 ff. Siehe auch Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, AT, 3. Aufl., 2009, Rn. 184. 2 So die meisten deutschen Monographien zur Unternehmenskriminalität, u. a. Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 61 ff.; Heine, Die strafrechtliche
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Am schwierigsten ist die Frage nach der Verantwortlichkeit einer Leitungsperson für Straftaten zu beantworten, die von voll verantwortlichen Mitarbeitern aktiv begangen werden. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob die Leitungsperson eine Garantenstellung innehat, die zur Überwachung und Vermeidung dieser Straftaten verpflichtet. Es geht also in erster Linie um ein Konstrukt, das im deutschsprachigen Raum als „Geschäftsherrenhaftung“ bezeichnet wird. Trotz dieser wenig glücklichen und möglicherweise irreführenden Bezeichnung, die zu sehr an das Privatrecht erinnert, handelt es sich um den richtigen Ausgangspunkt für die Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Leitungspersonen. Soweit das Konstrukt in das System der tradierten Unterlassungsdogmatik integriert wird, sind seine Erfordernisse und Grenzen (ggf. sogar seine Unzulänglichkeiten) besser zu erkennen und zu kontrollieren, als dies bei anderen, vor allem in der deutschen Rechtsprechung vertretenen Ansätzen möglich ist.3
Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 108 ff.; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 30 ff.; Rotsch, Individuelle Haftung in Großunternehmen, 1997, S. 187 ff.; Bosch, Organisationsverschulden in Unternehmen, 2002, S. 127 ff.; Bock, Criminal Compliance, 2011, S. 308 ff. Abweichend nur Mansdörfer, Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011, S. 406 ff. (Rn. 811 ff.), der die praktische Bedeutung der Unterlassungsfälle bestreitet. Seine These, fast immer gehe es um aktives sorgfaltwidriges Tun, kann aber nur unter der Prämisse zutreffend sein, dass die Übernahme der Führung eines Unternehmens ohne das Bestehen eines lückenlosen Vorsorgesystems für mögliche künftige Risiken eine aktuell gefährliche, strafrechtlich relevante Handlung darstellt. Damit werden Handlungen, die eigentlich unbedenklich sind, nur aufgrund von möglichen künftigen pflichtwidrigen Unterlassungen für aktuell pflichtwidrig erklärt. 3 Verwiesen sei zunächst auf die den Unterschied zwischen Tun und Unterlassen negierende „Pauschalzurechnung“ der Tat an die Leitungspersonen „als eigenes Handeln“, die z. B. in der Lederspray-Entscheidung des BGH (Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung aufgrund der „Fortsetzung“ von Produktion und Vertrieb) praktiziert wurde: „Denn Produktion und Vertrieb von Erzeugnissen durch eine im Rahmen ihres Gesellschaftszwecks tätige GmbH sind ihren Geschäftsführern als eigenes Handeln – auch strafrechtlich – zuzurechnen. Sie haften für etwaige Schadensfolgen unter dem Gesichtspunkt des Begehungsdelikts“, BGHSt 37, 106 (114). Vor allem sei aber die Figur der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft erinnert, wie sie vom BGH angewandt wird. Bekanntlich hat der BGH diese Figur zum ersten Mal in BGHSt 40, 218 (236 ff.) akzeptiert und in einem obiter dictum behauptet, dass sich „das Problem der Verantwortlichkeit beim Betrieb wirtschaftlicher Unternehmen“ ebenso lösen lasse. Seitdem hat der BGH von diesem Konstrukt im Rahmen der Unternehmenskriminalität tatsächlich recht großzügig Gebrauch gemacht. Nach einer ständig verwandten Formel soll als Täter auch derjenige in Betracht kommen, „der durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, die regelhafte Abläufe auslösen, die ihrerseits zu der vom Hintermann erstrebten Tatbestandsverwirklichung führen“ (BGH wistra 1998, 148, 150). Abgesehen von anderen Bedenken gegen diese Entwicklung, die den Kern dieses Konstrukts und dessen Anwendung auf wirtschaftsstrafrechtliche Fälle betreffen, sei hier nur darauf hingewiesen, dass es nicht wenige Fälle gibt (wie gerade BGH wistra 1998, 148 zeigt), in denen diese Formel den Unterschied zwischen Tun und Unterlassen und damit auch die erforderliche Feststellung der Voraussetzungen des Unterlassens einfach ausblendet.
Die Betriebsbezogenheit der Garantenstellung von Leitungspersonen
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Die heute in Deutschland4 und anderen europäischen Ländern5 h.M. nimmt eine Garantenstellung der Leitungspersonen im Unternehmen an, die zur Überwachung und Vermeidung von Straftaten der Mitarbeiter verpflichtet. Nach der hier vertretenen Ansicht folgt dies aus dem Grundsatz, dass man für diejenigen Schäden einstehen muss, die aus dem eigenen Organisationskreis stammen. Da das Unternehmen ein Teil des Organisationskreises des Inhabers und der Leitungspersonen bildet, ist es konsequent, dass die Leitungspersonen auch für Gefahren, die aus dem Unternehmen entstehen, einschließlich der Straftaten der Mitarbeiter, verantwortlich sein können. Es geht also im Grunde genommen um das Junktim „Inanspruchnahme von Freiheit/Verantwortlichkeit für die Folgen“, das mit der Autonomie der Mitarbeiter durchaus vereinbar ist. Diese Sichtweise stimmt im Wesentlichen mit der Ansicht überein, die vom verehrten Jubilar zum Thema der Geschäftsherrenhaftung vertreten worden ist. Wolfgang Frisch befasste sich nämlich in einer seiner ersten in spanischer Sprache veröffentlichten Arbeiten gerade mit den „Grundproblemen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Leitungsorgane des Unternehmens“.6 Sein Aufsatz, der auf einen im Jahre 1993 in Madrid gehaltenen Vortrag zurückgeht, fand in Spanien und Südamerika große Aufmerksamkeit und übte großen Einfluss auf die wissenschaftliche Diskussion aus. Unter anderem trug er zweifelsfrei dazu bei, dass die Begründung der Garantenposition von Leitungspersonen als Folge der Ausübung ihrer Betätigungsfreiheit7 mittlerweile wohl zur h.M. im spanischen Schrifttum geworden ist.8 Auch 4
Vgl. u. a. Fischer, StGB, 58. Aufl., 2011, § 13 Rn. 38; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., 2011, § 13 Rn. 14. 5 In Spanien siehe neben den in Fn. 8 erwähnten Autoren Arroyo Zapatero, La protección penal de la seguridad en el trabajo, 1981, S. 160 f.; Gracia Martín, El actuar en lugar de otro en derecho penal, 1985, Bd. I, S. 378 f.; Bacigalupo, Responsabilidad penal de las sociedades. Actuación en nombre de otro. Responsabilidad de los consejos de administración. Responsabilidad de los subordinados, Cuadernos de Derecho Judicial Nr. 7 (1994), S. 75; Terradillos Basoco, Derecho penal de la empresa, 1995, S. 40; Demetrio Crespo, Responsabilidad penal por omisión del empresario, 2009, S. 91 ff. In der Schweiz statt vieler Wohlers, in: Ackermann/ Wohlers (Hrsg.), Umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren in Theorie und Praxis, 2008, S. 83, 96 ff. 6 Frisch, Problemas fundamentales de la responsabilidad penal de los órganos de dirección de la empresa – Responsabilidad penal en el ámbito de la responsabilidad de la empresa y de la división del trabajo (übersetzt von Paredes Castañón), in: Mir Puig/Luzón Peña (Hrsg.), Responsabilidad penal de las empresas y sus órganos y responsabilidad por el producto, 1996, S. 99 ff. 7 Frisch (Fn. 6), S. 111. 8 Bereits Silva Sánchez, in: Schünemann/De Figueiredo Dias/Silva Sánchez (Hrsg.), Fundamentos de un sistema europeo del derecho penal, 1995, S. 371 f.; und dezidierter ders., in: Bacigalupo (Hrsg.), Empresa y delito en el nuevo Código penal, 1997, S. 14; Gallego Soler, in: Gimeno Jubero (Hrsg.): Derecho penal económico, Estudios de Derecho Judicial Nr. 72 (2005), S. 74; Peñaranda Ramos, in: Derecho y justicia penal en el siglo XXI. Liber amicorum en homenaje al Profesor Antonio González-Cuéllar García, 2006, S. 420 ff.; Robles Planas, Garantes y cómplices. La intervención por omisión y en los delitos especiales, 2007, S. 64 f., 68; Bolea Bardón, in: Luzón Peña (Hrsg.), Derecho penal del estado social y democrático de
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im südamerikanischen Schrifttum ist diese Meinung auf Zustimmung gestoßen.9 Daher erscheint es angebracht, zu Ehren des Jubilars den heutigen Stand der Diskussion zur Garantenstellung von Leitungspersonen im Unternehmen aufzugreifen. Aus der Fülle von Fragen, die diese Garantenposition aufwirft, soll hier aber nur die spezifische Frage der sog. Betriebsbezogenheit behandelt werden.10 Soweit ersichtlich besteht unter den Befürwortern einer Garantenstellung der Leitungspersonen Einigkeit, dass diese nur zur Verhinderung von Straftaten verpflichten kann, die in einer besonderen Beziehung zu dem konkreten Unternehmen stehen, d. h. nur zur Verhinderung von betriebsbezogenen Straftaten. Die Betriebsbezogenheit wird in aller Regel aus dem Grund der Garantenposition abgeleitet. So ist es für diejenigen, welche die Garantenstellung aus dem Autoritätsverhältnis zwischen Leitungsperson und Mitarbeitern ableiten,11 selbstverständlich, dass die entsprechenden Garantenpflichten nicht weiter als die Direktionsbefugnisse der Leitungsperson reichen können. Gelten also die Direktionsrechte nur im Rahmen der betrieblichen Tätigkeit der Mitarbeiter, dann kann auch die Verhinderungspflicht nur in diesem Rahmen gelten. Dasselbe muss aber für diejenigen gelten, die den Grund der Garantenposition entweder in einer Art „verlängerter“ Sachherrschaft12 oder in der Herrschaft über den Betrieb als zu überwachender „komplexer“ Gefahrenquelle13 erblicken, da auch dann nur Straftaten relevant sein können, die Ausdruck der besonderen Gefährlichkeit von Sachen, die sich in den Händen der Mitarbeiter befinden, oder der Gederecho. Libro homenaje a Santiago Mir Puig, 2010, S. 764 ff. Gemischt mit der Idee von Herrschaft über die Mitarbeiter Lascuraín Sánchez, in: Hacia un derecho penal económico europeo. Jornadas en honor del Prof. Klaus Tiedemann, 1995, S. 211; Meini, Responsabilidad penal del empresario por los hechos cometidos por sus subordinados, 2003, S. 304 f., 315; Martínez-Buján Pérez, Derecho penal económico y de la empresa. Parte general, 38 edición, 2011, S. 473 ff. 9 In Peru García Cavero, Derecho penal económico. Parte general, 28 edición, 2007, S. 709 ff. In Chile Hernández Basualto, REJ Nr. 10 (2008), 175 (189 f.); und gemischt mit der Idee der Herrschaft über die Mitarbeiter Novoa, Actualidad Jurídica Nr. 18 (2008), 431 (455 ff.). 10 Nicht nur aus terminologischen Gründen sollte man zwischen Betriebs- und Unternehmensbezogenheit unterscheiden, siehe dazu Waßmer, Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung, Habil. Freiburg 2006, S. 17 ff., 21 f. Am häufigsten wird von Betriebsbezogenheit gesprochen. Aus Gründen der Vereinfachung geschieht dies auch hier. 11 Thiemann, Aufsichtspflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen, 1976, S. 17; Schünemann (Fn. 2), S. 101 ff.; Rogall, ZStW 98 (1986), 573 (616 ff.); Schall, in: Schünemann (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Arbeitskreis Strafrecht, Bd. III (Unternehmenskriminalität), 1996, S. 111; Busch, Unternehmen und Umweltstrafrecht, 1997, S. 540 ff.; Tiedemann (Fn. 1), Rn. 185. 12 Schlüchter, FS Salger, 1995, S. 158; Roxin, Strafrecht, AT II, 2003, § 32 Rn. 137. 13 Schon im Ergebnis Bottke, Haftung aus Nichtverhütung von Straftaten Untergebener in Wirtschaftsunternehmen de lege lata, 1994, S. 25 f.; insbesondere aber Ransiek (Fn. 2), S. 35 ff.; Brammsen, in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, S. 126 ff.; Schall, FS Rudolphi, 2004, S. 275 ff.; Otto, FS Schroeder, 2006, S. 341.
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fahrenquelle „Betrieb“ sind.14,15 Auch der BGH brachte in seiner Entscheidung im „Mobbing-Fall“, die unten (II.) näher betrachtet wird, zum Ausdruck, dass die Beschränkung auf betriebsbezogene Taten unabhängig davon geboten ist, „welche tatsächlichen Umstände für die Begründung der Garantenstellung im Einzelfall maßgebend sind“16. Unter keinem Gesichtspunkt, so der BGH, „lässt sich eine über die allgemeine Handlungspflicht hinausgehende, besondere Verpflichtung des Betriebsinhabers begründen, auch solche Taten von voll verantwortlich handelnden Angestellten zu verhindern, die nicht Ausfluss seinem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb seines Betriebes genauso ereignen könnten“.17 Damit sind alle Straftaten irrelevant, die allein zur Privatsphäre der Beschäftigten gehören. Hierunter ist nicht nur das zu verstehen, was außerhalb des Unternehmens geschieht, sondern auch zahlreiche interne Ereignisse fallen darunter, da nicht alles, was im räumlichen Bereich des Unternehmens oder während der Arbeitszeit passiert, als betriebsbezogen angesehen werden kann.18 So hat der BGH betont, dass es bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 103 II GG) keine Verantwortlichkeit der Leitungsperson für eine insgesamt straffreie Lebensführung seiner Mitarbeiter während der Arbeitszeit geben kann.19 Wo aber die genaue Grenze verläuft, ist bislang sehr umstritten. Die jüngste Rechtsprechung des BGH zur Garantenstellung von Leitungspersonen bietet neue Anhaltspunkte für die Diskussion.
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So Schall (Fn. 13), S. 279. Die Betriebsbezogenheit kann nur für Autoren irrelevant sein, die eine Überwachungsgarantenstellung der Leitungsperson im Unternehmen schlicht ablehnen oder nur in sehr engen Grenzen annehmen. Dies zeigt sich z. B. bei Spring, Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung, 2009, der nur dort eine Garantenstellung folgert, wo ein Defizit beim Mitarbeiter vorliegt, womit die meisten „Grenzfälle“ keine sind und schlicht aus dem Anwendungsbereich des unechten Unterlassens herausfallen (S. 237, 239). 16 BGH wistra 2012, 64 (65). 17 BGH wistra 2012, 64 (65). 18 Frisch (Fn. 6), S. 117; Waßmer (Fn. 10), S. 299 f. 19 BGH wistra 2012, 64 (66). Früher (ohne Hinweis auf das Grundgesetz) OLG Karlsruhe GA 1971, 281 (283): „Der Vorarbeiter ist weder berechtigt noch verpflichtet, die allgemeine Lebensführung der ihm zugewiesenen Arbeiter zu beeinflussen oder zu beaufsichtigen“. Oft wird auch auf die Begründung des OWiG 1968 in Bezug auf die Aufsichtspflichten des Betriebsinhabers hingewiesen, obwohl sie eigentlich nicht einschlägig ist: „Dem Geschäftsherrn […] kann nicht zugemutet werden, über die in dem Betrieb tätigen Personen wie über Pflegebefohlene zu wachen und darauf zu achten, daß sie sich im Betrieb straflos führen, also z. B. keinen Diebstahl, keine Beleidigung, keine Körperverletzung, kein Sittlichkeitsdelikt usw. begehen. Die Aufsichtspflicht des Geschäftsherrn so weit auszudehnen, wäre weder angemessen noch notwendig“ (BT-Drucks. V/1269, S. 68). 15
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II. Die Garantenstellung von Leitungspersonen und das Erfordernis der Betriebsbezogenheit in der jüngsten Rechtsprechung des BGH Anders als in der Schweiz, wo die Geschäftsherrenhaftung nach Impulsen der Rechtsprechung zum festen Bestandteil des strafrechtlichen Instrumentariums wurde,20 musste man in Deutschland – obwohl hier die Annahme einer Überwachungsgarantenstellung von Leitungspersonen im Unternehmen seit den 1990er Jahren der h.M. entspricht – lange warten, bis der BGH eine Garantenstellung in zwei wichtigen Urteilen recht deutlich bejaht hat.21 Zunächst im berühmten Urteil vom 17. Juli 2009 (5 StR 394/08 – „Berliner Straßenreinigung“), in dem es um die Verantwortlichkeit des Leiters der Rechtsabteilung und der Innenrevision einer Anstalt des öffentlichen Rechts im Bereich der Straßenreinigung ging, der das Zustandekommen von betrügerischen Abrechnungen durch seine Untergebenen nicht verhindert hatte. Am wichtigsten für die allgemeine Problematik der Geschäftsherrenhaftung ist das obiter dictum des BGH, in dem er feststellt, dass in Großunternehmen sog. „Compliance Officers“ etabliert sind, deren Aufgabengebiet die Verhinderung von Rechtsverstößen, insbesondere auch von Straftaten ist, die aus dem Unternehmen heraus begangen werden. Diese treffe „regelmäßig strafrechtlich eine Garantenpflicht i.S. des § 13 I StGB […], solche im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Unternehmens stehende Straftaten von Unternehmensangehörigen zu verhindern“.22 Der BGH leitet die Garantenstellung der „Compliance Officers“ allein aus ihrer Übernahme der Pflicht gegenüber der Unternehmensleitung, Rechtsverstöße und insbesondere Straftaten zu unterbinden, ab.23 Damit wird aber stillschweigend die Existenz einer Pflicht anerkannt, die originär die Leitungspersonen trifft.24 Von Bedeutung ist schließlich, dass es im Fall um eine Strafbarkeit wegen Betrugs ging, so dass sich das Urteil nicht als Bestätigung einer Garantenstellung zur Überwachung von gefährlichen Sachen, sondern nur als Bestätigung einer genuinen Geschäftsherrenhaftung verstehen lässt. Im Urteil vom 20. Oktober 2011 (4 StR 71/11 – „Mobbing“)25 ging es dann um den Vorarbeiter einer Arbeitskolonne in einem städtischen Bauhof, der nicht verhindert hatte, dass Arbeiter unter seiner Leitung während der Arbeitszeit wiederholt gegen einen (wenn auch einer anderen Kolonne zugehörigen) Kollegen demü20
Nach der Entscheidung zum Fall „Bührle“, BGE 96 IV 155, vom 27. November 1970. Es ist klar, dass die Lederspray-Entscheidung aus dem Jahre 1990 (BGHSt 37, 106) hierfür ein wichtiger Katalysator war. Da sie aber die Verantwortlichkeit für Straftaten von voll verantwortlich agierenden Mitarbeitern nicht thematisierte, ist sie im Grunde genommen nicht einschlägig. 22 BGHSt 54, 44 (50). 23 BGHSt 54, 44 (50). 24 So u. a. Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 981 (991); Mosbacher/Dierlamm, NStZ 2010, 268 (269); Warneke, NStZ 2010, 312 (315); Bock (Fn. 2), S. 324 f. 25 Den ersten Hinweis auf diese Entscheidung schuldet der Verfasser Klaus Tiedemann. 21
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tigende körperliche Übergriffe begingen. Obwohl die Anwesenheit des Angeklagten bei den Vorfällen bewiesen war, konnte keine aktive Tatbeteiligung, auch nicht in Form einer psychischen Unterstützung festgestellt werden, so dass nur eine Verurteilung wegen (unechten) Unterlassens in Frage kam.26 Sowohl das Landgericht als auch der BGH lehnten eine Garantenstellung des Angeklagten ab. Der BGH tat dies aber nicht wegen einer grundsätzlichen Ablehnung der Garantenstellung des Betriebsinhabers oder anderer Vorgesetzter, sondern nur deshalb, weil die in concreto begangenen Straftaten nach Ansicht des BGH keine betriebsbezogenen Straftaten waren.27 Zur Möglichkeit einer Überwachungsgarantenstellung erklärt der BGH: „[…] aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter [kann sich] je nach den Umständen des einzelnen Falles eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben“. Und er führt an, dass – unter der Voraussetzung der Betriebsbezogenheit – eine Garantenpflicht besteht, „Taten von voll verantwortlich handelnden Angestellten zu verhindern, die … Ausfluss seinem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind“.28 Da für den Prozessausgang die Betriebsbezogenheit der Straftat entscheidend war, hat die zweite Entscheidung besondere Bedeutung für die hier betrachtete Fragestellung. Der BGH definiert folgendermaßen: „Betriebsbezogen ist eine Tat dann, wenn sie einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes aufweist“.29 Nicht betriebsbezogen seien dagegen Taten, „die nicht Ausfluss seinem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb seines Betriebes genauso ereignen könnten“.30 Wie üblich ist also von den Gefahren die Rede, die der Betriebstätigkeit spezifisch anhaften. Problematisch erscheint allerdings die Präzisierung des Merkmales anhand des Ausschlusses von Straftaten, die sich außerhalb des Betriebes genauso ereignen könnten. Denn im Grunde genommen kann fast jede Straftat auch außerhalb des Betriebs begangen werden. Offenbar soll das eigentlich maßgebende Kriterium sein, dass die Straftat außerhalb des Betriebs nicht „genauso“ begangen werden könnte. Das muss aber entweder bedeuten, dass die Straftat in concreto in irgendeiner Weise durch einen Zusammenhang mit dem Betrieb gekennzeichnet ist – womit man in einen Zirkelschluss gerät und nach anderen ausschlaggebenden Kriterien su-
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BGH wistra 2012, 64 f. BGH wistra 2012, 64 (65 f.). 28 BGH wistra 2012, 64 (65). 29 BGH wistra 2012, 64 (66). Ähnlich die Entscheidung zum Fall „Berliner Straßenreinigung“, wo von „im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Unternehmens stehende[n] Straftaten von Unternehmensangehörigen“ die Rede ist, BGHSt 54, 44 (50). 30 BGH wistra 2012, 64 (66). 27
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chen muss –,31 oder dass die Verwirklichung von solchen Gefahren gemeint ist, die nur innerhalb eines (bestimmten) Betriebs entstehen können. Die zweite Deutung wird vom BGH nahegelegt, wenn er die Ablehnung der Betriebsbezogenheit des „Mobbings“ im konkreten Fall wie folgt begründet: „Die Gefahr auch wiederholter, unter Kollegen begangener Körperverletzungen besteht in jedem Unternehmen mit mehr als einem Mitarbeiter, ist also keine gerade dem konkreten Betrieb … innewohnende Gefahr“.32 Es genügt also nicht, dass die in Frage kommende deliktische Gefahr eine typische Erscheinung der betrieblichen Tätigkeit darstellt,33 sondern vielmehr wird negativ verlangt, dass sie keine allgemeine, in jedem (wenn auch nur oder überwiegend in einem) Unternehmen bestehende betriebliche Gefahr ist. Streng genommen führt diese Ansicht zu einer extremen Einschränkung des Anwendungsbereichs der Garantenstellung von Leitungspersonen, die in der deutschen Literatur – abgesehen von Gegnern der Geschäftsherrenhaftung – kaum (wenn überhaupt) vertreten worden ist. Denkbar sind zwei Auslegungsmöglichkeiten. Einerseits könnte man behaupten, dass nur solche Straftaten betriebsbezogen sein können, die im Rahmen von per se besonders gefährlichen Betrieben zustande kommen, wie etwa im Bereich der Kernenergie oder der Produktion bzw. Anwendung von Sprengoder Giftstoffen.34 Dies wäre der Sache nach eine Rückbesinnung auf eine Garantenstellung von Leitungspersonen, die sich auf die Überwachung von gefährlichen Sachen beschränkt. Andererseits könnte man vertreten, dass nur Sonderdelikte betriebsbezogen sind, die auf spezifischen Pflichten des Betriebsinhabers beruhen (dazu unten III. 1.). Beide Auslegungen hätten zur Folge, dass z. B. ein Betrug niemals eine betriebsbezogene Straftat sein könnte, was jedoch mit der Rechtsprechung des BGH im Fall „Berliner Straßenreinigung“ nicht vereinbar wäre. In Bezug auf den konkreten Sachverhalt führt der BGH im „Mobbing-Fall“ zusätzliche Gesichtspunkte zur Präzisierung seiner Definition an, die aber nicht weniger einschränkend wirken. Zunächst deutet er an, dass die Übergriffe dann betriebsbezogen sind, wenn sie als Teil der „Firmenpolitik“ von der Betriebsleitung aufgetragen werden.35 Abgesehen davon, dass dies nicht begründet wird, ist es bemerkenswert, dass nicht einmal die dauerhafte Duldung bestimmter Straftaten im Betrieb zur „Firmenpolitik“ zählen soll, da der iterative Charakter der Straftaten ausdrücklich für 31 So Roxin (Fn. 12), § 32 Rn. 139, für den im Ergebnis eigentlich nicht entscheidend ist, ob sich die Straftat außerhalb des Betriebes genauso ereignen könnte, sondern nur, ob sie zur spezifischen Betriebsgefahr des jeweiligen Unternehmens gehört. 32 BGH wistra 2012, 64 (66). 33 Der BGH bestreitet nicht, dass beim „Mobbing“ „sich eine in der Betriebsgemeinschaft allgemein angelegte Gefahr verwirkliche, weil für solche Taten der abgegrenzte soziale Raum des Betriebes ohne ausreichende Ausweichmöglichkeiten für das um seinen Arbeitsplatz und damit seine wirtschaftliche Existenz fürchtende Opfer konstitutiv seien“, BGH wistra 2012, 64 (65 f.). 34 Kritisch dagegen Frisch (Fn. 6), S. 116. 35 BGH wistra 2012, 64 (65).
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nicht ausreichend erklärt wird.36 Der Hinweis auf einen Auftrag der Betriebsleitung scheint also nicht nur ein Beispiel, sondern ein Grundbestandteil des Begriffs zu sein. Wenn dies aber tatsächlich so sein sollte, dann würde das Unterlassen des Vorarbeiters völlig in den Hintergrund treten und stattdessen wäre es am wichtigsten, die Verantwortlichkeit der an der Spitze des Unternehmens stehenden Leitungspersonen für eine aktive Mitwirkung zu begründen.37 Großzügiger erscheint es – zumindest auf den ersten Blick – wenn der BGH es für nötig (und vielleicht auch für ausreichend) erachtet, dass der deliktisch handelnde Mitarbeiter besondere, ihm durch seine Stellung im Betrieb eingeräumte arbeitstechnische Machtbefugnisse zur Tatbegehung nutzt.38 Da dies aber gerade im „Mobbing-Fall“ verneint wurde, wird deutlich, dass der BGH die Ausnutzung der tatsächlichen Zugriffsmöglichkeiten nicht für ausreichend erachtet. Damit scheint ein Handeln etwa „in Erfüllung der übertragenen Aufgaben“ erforderlich zu sein (dazu unten III. 3.), was, da es keine rechtlichen Befugnisse zur Begehung von Straftaten geben kann,39 besonders problematisch ist und wiederum zu extrem begrenzten Ergebnissen führen muss. Diese Handhabung der Betriebsbezogenheit, mit der die Gegenstandslosigkeit der vom BGH an sich anerkannten Geschäftsherrenhaftung droht,40 könnte kaum als Vorbild für die Praxis in anderen Rechtsordnungen fungieren. Freilich ist es nicht sicher, dass der BGH tatsächlich eine so restriktive Auffassung vertritt. Vielmehr scheint die Entscheidung mehr ein erster Versuch zur Behandlung der spezifischen Problematik des „Mobbings“ im Rahmen der Unterlassungsdelikte zu sein als ein Wendepunkt in der Rechtsprechung zur Garantenstellung von Leitungspersonen im Unternehmen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass sich eine Garantenstellung in Bezug auf die Rechtsgüter der Mitarbeiter in Form der Obhutsgarantenstellung begründen lässt.41 Dies scheiterte im konkreten Fall aber daran, dass der Angeklagte nicht der Vorgesetzte des Opfers war. Was nun die Erfassung der Straftaten gegen Mitarbeiter in Bezug auf eine Überwachungsgarantenstellung betrifft, war dies deswegen problematisch, weil in der Diskussion zur Geschäftsherrenhaftung42 in der Regel nur Delikte thematisiert werden, die Rechtsgüter von „Außenstehenden“, d. h. nicht zum betrieblichen Herrschaftsbereich gehörenden Personen verletzen. Dies wurde teilweise sogar ausdrücklich als begrifflich gebotene Begrenzung der Garantenstellung
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BGH wistra 2012, 64 (66). Dazu Kudlich, HRRS 2012, 177 (179 f.). 38 BGH wistra 2012, 64 (65). 39 Dazu Kudlich, HRRS 2012, 177 (180). 40 Kudlich, HRRS 2012, 177 (180). 41 BGH wistra 2012, 64 (65): „grundsätzlich mögliche“ arbeitsvertragliche Übertragung einer Schutzpflicht im Interesse nachgeordneter Mitarbeiter. Dazu Kudlich, HRRS 2012, 177 (178). 42 Anders als bei der Garantenstellung zur Überwachung von gefährlichen Sachen, wo ganz überwiegend Verstöße gegen die Arbeitssicherheit, die schädliche Folgen für die Mitarbeiter haben, thematisiert werden. 37
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postuliert.43 Sicherlich handelt es sich hierbei um keine selbstverständliche Voraussetzung, sie könnte aber vielleicht einen Weg zur Einschränkung der Garantenstellung in Mobbing-Fällen weisen, die mit einem brauchbaren Begriff der Betriebsbezogenheit kompatibel ist. Nach einem derartigen brauchbaren Begriff ist nun in der Literatur zu suchen.
III. Die Betriebsbezogenheit in der Literatur 1. Nur auf Pflichten des Unternehmens (bzw. des Unternehmensinhabers) gegründete Sonderdelikte Es liegt nahe, dass die deliktische Verletzung von Pflichten, die ausschließlich das Unternehmen selbst oder dessen Inhaber treffen, nicht Sache allein des Täters, sondern auch und in besonderem Maße des Unternehmens und damit des Unternehmensinhabers und der Leitungspersonen ist. Bei solchen Taten handelt es sich immer um betriebsbezogene Delikte.44 Dass aber für die Garantenstellung nur diese Sonderdelikte relevant sein sollen, ist dagegen weder nötig noch, da zu eng, angemessen.45 Vom Ausland betrachtet scheint es, dass die in der deutschen Diskussion vertretene Ansicht, nur Sonderdelikte seien betriebsbezogen,46 allein auf Besonderheiten der deutschen Gesetzeslage zurückgeht. Jahrzehntelang hieß es bei § 130 OWiG, der die ordnungswidrigkeitenrechtliche Verantwortlichkeit des Betriebsinhabers bei der Verletzung seiner Aufsichtspflicht regelt, dass nur Zuwiderhandlungen (Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten) gegen Pflichten relevant sind, die den Inhaber „als solchen“ treffen. Hierunter waren aufgrund der Entstehungsgeschichte ausschließlich Sonderpflichten zu verstehen.47 Galt dies für die ordnungswidrigkeitenrechtliche Verantwortlichkeit des Betriebsinhabers, musste dasselbe erst recht für dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit gelten. Zwar hatte sich die ganz h.M. von dieser offensichtlich zu engen Ansicht distanziert und in den Anwendungsbereich des § 130 OWiG auch die Allgemeindelikte einbezogen,48 die Gesetzeslage blieb aber ein nicht zu vernachlässigendes Argument für die einschränkende Ansicht. Erst
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So Schall (Fn. 13), S. 279. Bereits Thiemann (Fn. 11), S. 20; Roxin (Fn. 12), § 32 Rn. 141; Waßmer (Fn. 10), S. 299; tendenziell auch Brammsen (Fn. 13), S. 128 f. 45 Schall (Fn. 13), S. 280. 46 Rogall, ZStW 98 (1986), 573 (618 f.). 47 Dazu Rogall, in: Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 3. Aufl., 2006, § 130 Rn. 78. 48 Vgl. Rogall (Fn. 47), § 130 Rn. 79 ff. Ausführlich dazu auch Waßmer (Fn. 10), S. 285 ff. 44
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im Jahr 2007 wurden die Wörter „als solchen“ gestrichen,49 womit sich die Diskussion – zumindest für das Ordnungswidrigkeitenrecht – erledigt hatte.50 Für das Kriminalrecht hatte diese Streichung zwar keine unmittelbaren Konsequenzen, sie beseitigte aber ein mögliches Argument gegen die Einbeziehung von Allgemeindelikten als vom Garanten zu verhindernden Straftaten. Im Grunde genommen ist es nämlich überhaupt nicht einsichtig, wieso deliktische Gefahren, die gerade im Unternehmen entstehen, für die Überwachungs- und Vermeidungspflichten der Leitungspersonen nur deswegen ohne Bedeutung sein sollen, weil sie durch Allgemeindelikte erfasst werden. 2. Handeln im Interesse des Unternehmens Nicht selten wird die Betriebsbezogenheit einer Straftat danach beurteilt, dass der Mitarbeiter im Interesse des Unternehmens und nicht nur eigennützig handelt.51 Oft hängt diese Abgrenzung mit einer Begründung der Garantenstellung von Leitungspersonen zusammen, wonach die Straftat Ausdruck der Verbandsherrschaft, d. h. der Beeinflussung des Täters seitens des Unternehmens ist.52 In diesem Kontext soll der Umstand, dass die Straftat gerade im Interesse des Unternehmens begangen wird, die Beweisführung über die kriminogene Wirkung des Unternehmens erleichtern.53 Nimmt man aber zur Begründung der Garantenstellung auf der normativen Ebene von der Idee einer Verbandsherrschaft bzw. von kriminogenen „Unternehmensattitüden“54 oder „kriminogenen Unternehmensstrukturen“55 Abstand, dann ist dieses Erfordernis, das zu einer unangemessen engen Abgrenzung führt,56 überhaupt nicht vonnöten. Zwar sind Straftaten, die im tatsächlichen oder vermeintlichen Interesse des Unternehmens begangen werden, in der Regel betriebsbezogen.57 Liegt aber der Grund der Garantenstellung in der Schaffung und Kontrolle der Gefahrenquelle „Unternehmen“, ist nicht ersichtlich, wieso die Aufsichts- und Verhinderungspflichten in Bezug auf die aus dem Unternehmen stammenden Gefahren nur gelten sollen, soweit die Beeinträchtigung von Gütern Dritter für das Unternehmen von Nutzen ist.
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Durch das 41. Strafrechtsänderungsgesetz zur Bekämpfung der Computerkriminalität vom 7. August 2007 (BGBl. I S. 1786 [Nr. 38]). 50 So Spring (Fn. 15), S. 190. 51 So Schünemann (Fn. 2), S. 106; Bottke (Fn. 13), S. 69, wenn auch bei ihm das Handeln zugunsten des Unternehmens nur einer unter anderen möglichen Anknüpfungspunkten für die Betriebsbezogenheit ist. 52 Schünemann (Fn. 2), S. 105 f. Ähnlich Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 222 f. 53 Schünemann (Fn. 2), S. 106. 54 Schünemann (Fn. 2), S. 103. 55 Köhler (Fn. 52), S. 223. 56 Schall (Fn. 13), S. 282; Otto (Fn. 13), S. 342. 57 Schall (Fn. 13), S. 282; Waßmer (Fn. 10), S. 299.
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Das Erfordernis eines Handelns zugunsten des Unternehmens tritt oft in Rechtsordnungen zutage, die eine Strafbarkeit der juristischen Personen kennen. In der Tradition der vicarious liability wirkt wahrscheinlich der Nutzen für das Unternehmen als legitimierende Kompensation für den Mangel an Verschulden. Er wird als Zeichen der Gleichgültigkeit der Organisation gegenüber den von ihren Mitarbeitern begangenen Straftaten begriffen.58 Wenig Sinn macht dieses Erfordernis dagegen dann, wenn die Strafbarkeit der juristischen Person nicht einfach von einer pauschalen Zurechnung der Straftaten der Mitarbeiter, sondern von der Verletzung eigener Pflichten abhängig ist, die ihrer Natur nach auf das Unternehmen zugeschnitten sind.59 Schließlich entbehrt das Erfordernis bei der Frage nach der Verantwortlichkeit von Leitungspersonen schlicht jeder Legitimation. 3. Objektiver Zusammenhang mit dem Unternehmen – Stellungnahme Sachgerechter erscheint es, auf einen objektiven Zusammenhang der Straftat mit dem Unternehmen abzustellen. Dafür gibt es in der deutschen Literatur eine Reihe bemerkenswerter Ansätze. Der Ansatz Schalls, betriebsbezogen sei jede Begehung einer Straftat „unter Ausnutzung der tatsächlichen oder rechtlichen Wirkungsmöglichkeiten“ im Betrieb,60 geht allerdings zu weit. Sofern der Betrieb großzügige Interaktionsmöglichkeiten eröffnet, würde im Grunde genommen jede Straftat, die auf einer solchen Interaktion beruht, die Ausnutzung tatsächlicher Wirkungsmöglichkeiten im Betrieb darstellen.61 Daher überrascht es nicht, dass ergänzend immer wieder ein weiteres Abgrenzungskriterium herangezogen wird, nämlich ob die Begehung der Tat als „typische berufliche Versuchung“ erscheint.62 Damit wird zugestanden, dass für die Garantenstellung nicht jede deliktische Ausnutzung von Wirkungsmöglichkeiten relevant sein kann, sondern nur eine solche, bei der sich typische betriebliche Gefahren verwirklichen. Damit steht man erneut vor der Eingangsfrage, wie typische betriebliche Gefahren zu bestimmen sind.
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Gobert/Punch, Rethinking Corporate Crime, 2003, S. 57. Auch § 30 I OWiG führt die (mögliche) Bereicherung der juristischen Person als Alternative zur Verletzung der Pflichten auf. 59 So aber Art. 3 des chilenischen Gesetzes zur Strafbarkeit der juristischen Personen (Gesetz Nr. 20.393, vom 2. Dezember 2009); Art. 5 des italienischen „Decreto legislativo“ Nr. 231, vom 8. Juni 2001, zur verwaltungsrechtlichen Verantwortlichkeit der juristischen Personen aus Straftaten; und zumindest teilweise Art. 31 bis des spanischen StGB. 60 Schall (Fn. 13), S. 282 f. 61 Kritisch auch Otto (Fn. 13), S. 342. 62 Schall (Fn. 13), S. 281 ff. In der strafrechtlichen Literatur findet man dieses aus dem Zivilrecht stammende Bild bereits bei Landscheidt, Zur Problematik der Garantenpflichten aus verantwortlicher Stellung in bestimmten Räumlichkeiten, 1985, S. 116.
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Zunächst könnte man von der spezifischen Zuständigkeit der deliktisch agierenden Mitarbeiter im Unternehmen ausgehen, so dass solche Straftaten als betriebsbezogen gelten würden, die sie „in Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben“ begangen haben.63 Damit könnte jedoch kaum eine Straftat erfasst werden, da bei einem deliktischen Verhalten, durch das ein Mitarbeiter gerade seine betrieblichen Aufgaben überschreitet, schwerlich von der Erfüllung ihm übertragener Aufgaben die Rede sein kann.64 Selbst wenn man als Kriterium eine lockere Beziehung zum Aufgabenbereich genügen lässt, erscheint die Lösung zu eng, weil viele Delikte, die damit nicht zu erfassen wären, dennoch eine typische Gefahr des Unternehmens darstellen,65 deren Ausschluss vom Pflichtenbereich des Garanten aufgrund einer internen Zuständigkeitsverteilung nicht überzeugen kann. Vielversprechender als die Berücksichtigung der Aufgaben der einzelnen Mitarbeiter erscheint es, auf die Aufgaben des Unternehmens abzustellen. So ist für Thiemann die Betriebsbezogenheit danach zu beurteilen, ob die Pflichten, die dem fraglichen Delikt zugrunde liegen, „im inneren Zusammenhang mit den Aufgaben und Zwecken des Betriebes stehen oder durch Betriebsvorgänge aktualisiert werden“.66 Zur Verdeutlichung führt er das Beispiel des Betruges an, der bei einem Unternehmen, dessen Geschäftstätigkeit die Vermögensbetreuung ist, betriebsbezogen sei, bei einem Unternehmen, das andere Aufgaben hat, dagegen nicht.67 Wegen dieses Beispiels ist der Ansatz Thiemanns kritisiert worden,68 da es unabhängig von der Art der Geschäftstätigkeit auch in zahlreichen anderen Unternehmen zu Betrügereien gegenüber Geschäftspartnern kommen kann, bei denen sich durchaus eine typische Betriebsgefahr realisiert.69 Diese Kritik ist sicherlich berechtigt. Zutreffend ist aber auch der Kern des vorgeschlagenen Einschränkung, der nicht vernachlässigt werden darf. Geht es um die Kontrolle des Betriebes als Gefahrenquelle, dann ist es nur konsequent, die Aufsichtspflichten ausschließlich auf Taten zu erstrecken, die in einem gewissen, noch zu bestimmenden Sinne als Taten des Betriebes verstanden werden können, und damit in erster Linie natürlich etwas mit den Zwecken und Aufgaben des Betriebs zu tun haben müssen. Entscheidend muss sein, dass die Tat Ausdruck einer eigenen Aufgabe ist.70 Die Schwäche des Vorschlags liegt darin, dass Thiemann nur dem „Unternehmensgegenstand“ Aufmerksamkeit gewidmet hat, ohne zu erkennen, 63 So die oft benutzte Redewendung, u. a. bei Roxin (Fn. 12), § 32 Rn. 141, oder bei Hellmann/Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl., 2008, Rn. 949, wenn auch nicht ersichtlich ist, dass damit tatsächlich zur Frage der Betriebsbezogenheit Stellung genommen wird. 64 Schall (Fn. 13), S. 281. 65 Schall (Fn. 13), S. 281; Otto (Fn. 13), S. 342; Waßmer (Fn. 10), S. 298 f. 66 Thiemann (Fn. 11), S. 21. 67 Thiemann (Fn. 11), S. 21. 68 Schall (Fn. 13), S. 281; Otto (Fn. 13), S. 343. 69 Schall (Fn. 13), S. 281. 70 So Frisch (Fn. 6), S. 117.
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dass dieser lediglich den Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit des jeweiligen Unternehmens anzeigt und keineswegs andere, zur Realisierung des Unternehmensgegenstands oft notwendige Aufgaben und Vorgänge ausschließt, die ebenfalls als Tätigkeit des Unternehmens anzusehen sind. Es gibt eine Reihe von betrieblichen Vorgängen wie etwa die Zahlung von Steuern, den Zahlungsverkehr mit Geschäftspartnern, Kunden oder Lieferanten, die von dem spezifischen Unternehmensgegenstand relativ unabhängig und fast in jedem Unternehmen zu beobachten sind, die ebenso Aufgaben des Betriebes darstellen. In diesem Sinne verstanden ist der Vorschlag, auf Zweck und Aufgaben des Unternehmens abzustellen, durchaus ein plausibler Ausgangspunkt. In diesem Kontext kann man mit Waßmer zwischen Delikten „zur“ und „bei“ Erfüllung von betrieblichen Aufgaben unterscheiden. Im ersten Fall erfüllt der Mitarbeiter (wenn auch fehlerhaft) Aufgaben des Unternehmens durch die Begehung eines Delikts, so z. B. wenn der Arbeiter eines chemischen Betriebes giftige Abwässer entsorgt, indem er sie ohne vorherige Reinigung in einen Fluss einleitet. Diese tätigkeitsspezifischen Delikte, die oft (aber nicht immer) Sonderdelikte sind und im Interesse des Unternehmens begangen werden, sind immer betriebsbezogen.71 Im zweiten Fall begeht der Mitarbeiter eine Straftat, die von der Erfüllung betrieblicher Aufgaben unabhängig ist. Ist eine derartige Straftat erfahrungsgemäß mit der jeweiligen Tätigkeit verbunden, dann kann man von einem tätigkeitstypischen Delikt reden, das gleichfalls betriebsbezogen ist. Das ist der Fall z. B. bei einem Diebstahl, den das Personal an der Brieftasche eines Gastes im Hotelzimmer begeht.72 Im Übrigen handelt es sich um tätigkeitsfremde Delikte, die als nicht betriebsbezogene Exzesstaten zu begreifen sind.73 Die Frage ist nun, wie die Grenze zwischen tätigkeitstypischen und tätigkeitsfremden Delikten zu ziehen ist. Oder mit anderen Worten, was in diesem Kontext noch als Tat des Unternehmens und nicht einfach als bloße Tat im Unternehmen zählt. Sachgerecht erscheint es, auf die Sicht eines objektiven Beobachters abzustellen und zu fordern, dass die Tat des Mitarbeiters von außen betrachtet noch als Interaktion des Unternehmens selbst mit dem Opfer und der Umgebung angesehen werden kann. Dies setzt voraus, dass die Tat noch als Ausdruck der „normalen“ Geschäftstätigkeit erscheint. Zwar gehört die Begehung von Straftaten natürlich nicht zur „normalen“ Tätigkeit eines Unternehmens, aber dennoch kann zwischen einem fehlerhaften Ausdruck seiner üblichen, dessen Zwecken, Organisation bzw. vermeintlichem „Willen“ entsprechenden Tätigkeit und der Exzesstat eines opportunistischen Einzelgängers unterschieden werden.74 71
Waßmer (Fn. 10), S. 297. Waßmer (Fn. 10), S. 297 f. 73 Waßmer (Fn. 10), S. 298 f. 74 So lässt sich auch die These von Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1991, 29/36, verstehen, nach der „Handlungen im Rahmen des Betriebs stets auch Handlungen im Organisationskreis des Inhabers sind“, solange damit überhaupt noch die Geschäfte des Inhabers organisiert werden, d. h. im Namen seiner Firma erfolgen. Dagegen: „benutzen freilich anarchistisch 72
Die Betriebsbezogenheit der Garantenstellung von Leitungspersonen
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In seinem Vorschlag zur Konkretisierung des notwendigen inneren Zusammenhangs der Tat mit dem Unternehmen stellt auch Otto auf die Sicht eines Dritten ab.75 Hierbei soll es sich zwar um keinen subjektiven Zusammenhang handeln, genau betrachtet ist es aber so, dass dies nur in Bezug auf die für irrelevant erachtete Sicht des Täters gilt,76 nicht aber in Bezug auf die Sicht des Opfers: Ob die Betriebsabläufe „in ihrem ordnungsgemäßen Ablauf Gefahren für Dritte begründen oder auf Grund einer Sorgfaltspflichtverletzung oder bewusst zur Gefahrenbegründung missbraucht werden, ist irrelevant im Hinblick darauf, dass der Dritte sich durch eine aus einem Betriebsablauf herrührende Gefahr bedroht sieht“.77 Weil sich das potentielle Opfer aber immer als bedroht ansehen muss, wenn die in Betracht kommende Gefahr aus dem Unternehmen stammt, darf seine Sicht nicht maßgeblich sein. Vielmehr muss es entscheidend darauf ankommen, dass jeder (auch das potentielle Opfer) die Straftat als Interaktion des Unternehmens mit dessen Umgebung begreift. Gegen sämtliche Ansichten, die von der spezifischen Zuständigkeit eines deliktisch agierenden Mitarbeiters absehen, könnte man geltend machen, dass zumindest in Fällen, in denen sich ein Mitarbeiter ganz bewusst über seine Zuständigkeit hinwegsetzt und seine Wirkungsmöglichkeiten missbraucht, eine diesbezügliche Überwachungspflicht der Leitungspersonen zu weit ginge. Denn die Kontrollmöglichkeiten sind begrenzt und müssen sich gerade an der Zuständigkeitsverteilung orientieren. Diese verständliche Überlegung darf aber nur bei der Prüfung Berücksichtigung finden, ob der Garant seine Überwachungspflichten erfüllt hat oder nicht. Für die Bestimmung der Delikte, auf die sich die Überwachungspflichten erstrecken, vermag sie aber nicht zu überzeugen. Selbstverständlich besteht keine Verpflichtung, Unmögliches zu tun (ultra posse nemo obligatur!), dies impliziert aber keineswegs, dass der deliktische Missbrauch von Wirkungsmöglichkeiten, die von außen betrachtet als Interaktion des Unternehmens mit dessen Umgebung erscheinen, von vornherein nicht zu den Angelegenheiten einer Leitungsperson zählt.78 Dementsprechend gelten als betriebsbezogen, um im Beispiel von Thiemann zu bleiben, Betrügereien, die entweder bei der Ausführung des Unternehmensgegenstands oder ergänzend im Rahmen der normalen Vermögensbeziehungen des Untergesinnte Mitarbeiter Betriebsräume als eigenes Sprengstofflager, steht der Betriebsinhaber einer dritten Person gleich“ (Hervorhebung im Original). 75 Otto (Fn. 13), S. 343. 76 Otto (Fn. 13), S. 343. 77 Otto (Fn. 13), S. 343 (Hervorhebung vom Verf.). Auch auf S. 342 misst er der Sicht des „schützwürdigen Dritten“ große Bedeutung zu. 78 Von Interesse ist in diesem Kontext die US-amerikanische Rechtsprechung zum Merkmal der „Begehung der Straftat im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses“, das in den USA eine Voraussetzung für die Strafbarkeit von juristischen Personen ist. Dieses Merkmal wird auch dann als gegeben angesehen, wenn ein Dritter aufgrund der Umstände annehmen durfte, die Person handle für das Unternehmen. Damit soll vermieden werden, dass sich das Unternehmen einfach mit der Berufung auf ein Handeln des Mitarbeiters ultra vires jeder Verantwortung entzieht. Vgl. dazu Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, 2010, S. 100 m.w.N.
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Héctor Hernández Basualto
nehmens begangen werden. Nicht betriebsbezogen sind dagegen Betrügereien, die sich zwar im Unternehmen ereignen, sich aber nicht als Tätigkeit des Unternehmens selbst verstehen lassen. Das ist z. B. der Fall beim Angestellten eines im Bereich der EDV-Beratung tätigen Unternehmens, der seine Kontakte mit den Kunden ausnutzt, um mit ihnen betrügerische Geschäfte in Bezug auf irgendwelche Gegenstände zu schließen – sofern aus den Umständen erkennbar ist, dass es sich um eine separate, vom Unternehmen unabhängige Tätigkeit handelt. In diesem Sinne sind die Aussagen zu verstehen, laut denen eine nicht betriebsbezogene Tat dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich mehr oder weniger zufällig im Betrieb ereignet79 oder nur bei Gelegenheit einer betrieblichen Verrichtung begangen wird.80 Anhand dieses Kriteriums kann man die Betriebsbezogenheit der in der Literatur vorgetragenen Fälle beurteilen. Betriebsbezogen ist danach sowohl die Tat eines Angestellten, der im Dienste des Betriebes Bestechungen oder Wettbewerbsverstöße begeht, als auch die Tat eines Croupiers, der ein manipuliertes Spiel durchführt oder sich an dem ihm zugänglichen Geld vergreift, und die Tat eines Türstehers, der seine Befugnisse deliktisch überschreitet.81 Diebstähle oder sexuelle Übergriffe gegenüber Kunden sind dagegen in der Regel nicht betriebsbezogen, es sei denn, es handelt sich um ein Unternehmen, dessen Geschäftstätigkeit es regelmäßig mit sich bringt, dass z. B. Betriebsangehörige die Privatwohnung der Kunden aufsuchen82 oder kleine Kinder unter Obhut der Mitarbeiter stehen.
79
Schall (Fn. 13), S. 283. So OLG Karlsruhe GA 1971, 281 (283). 81 So u. a. Roxin (Fn. 12), § 32 Rn. 139; Schall (Fn. 13), S. 282 f.; Waßmer (Fn. 10), S. 297 f. 82 LK-StGB/Weigend, 12. Aufl., 2007, § 13 Rn. 56 (mit Fn. 188). 80
Vorsatz als Dispositionsbegriff Von Christos Mylonopoulos Die Frage nach dem Wesen des Vorsatzes und nach der Unterscheidung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit hat bekanntlich den verehrten Jubilar insbesondere in seinem klassischen Werk „Vorsatz und Risiko“ beschäftigt, das auch in Griechenland eine erhebliche Resonanz gehabt hat. Die Dispositionsbegriffe, auf der anderen Seite, bezeichnen einen Problemkreis, deren Auswertung im Bereich der Vorsatzdogmatik als besonders attraktiv, sogar vielleicht ergiebig erscheint. Der eigentliche Grund jedoch, weswegen dieser Aufsatz Professor Frisch gewidmet wird, liegt in einem persönlichen Erlebnis, wofür ich ihm dankbar bin, nämlich dass er mich schon im Jahre 1992 entscheidend ermutigt hat, mich mit den Dispositionsbegriffen zu beschäftigen.
I. Die allgemein anerkannten Merkmale der Willenskomponente des Vorsatzbegriffs Wie zu Recht bemerkt wird, liegt das eigentliche Problem bei der Erfassung des Wesens des Vorsatzes überhaupt, aber auch des bedingten Vorsatzes insbesondere, in der immer noch nicht hinreichend beantworteten Frage, „die als solche nicht feststellbaren inneren Tatsachen … im Strafverfahren aus Indizien heraus beweiskräftig festzustellen“1.
Abgesehen von der Frage, ob und inwieweit die sog. „inneren Tatsachen“ wirklich „Tatsachen“ sind, eine Frage, die am geeigneten Ort behandelt werden wird, ist die obige Feststellung mit einer Betrachtungsweise verbunden, die als gemeinsamer Nenner der Bemühungen zur begrifflichen Konturierung sowohl des dolus eventualis als auch des Vorsatzes überhaupt zu dienen vermag, und zwar schon deswegen, weil der bedingte Vorsatz nicht nur die Grenze zur bewussten Fahrlässigkeit, sondern auch zum strafrechtlich irrelevanten Verhalten darstellt.
1 So Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 87b m.w.N.; Freund, Normative Probleme der Tatsachenfeststellung, 1987, S. 22 ff.; Frisch, GS Meyer, 1990, S. 552 ff.; Hassemer, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 304 ff.; Hruschka, FS Kleinknecht, 1985, S. 191 ff.; Krauss, FS Bruns, 1978, S. 26 ff.; Prittwitz, JA 1988, 487 ff.; Volk, FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 611; ders., 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. 4, 2000, S. 739.
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Christos Mylonopoulos
Diese Betrachtungsweise beinhaltet allgemein anerkannte Merkmale der Willenskomponente des Vorsatzbegriffes bzw. Feststellungsmethoden, die als unabdingbare gemeinsame Topoi im Rahmen der Zuschreibung (oder: der Bejahung, um einen neutralen Ausdruck zu gebrauchen) des Vorsatzes gelten. Solche, für den Vorsatzbegriff in Lehre und Praxis immer wieder auftauchende Parameter sind die folgenden: 1. Die Annahme, dass Vorsatz seinem Wesen nach „Entscheidung gegen das Rechtsgut“ sei. So bezeichnet Roxin den Kern des bedingten Vorsatzes als „Entscheidung für die mögliche Rechtsgutsverletzung“2, 2. die Annahme, dass auf diese Entscheidung von bestimmten Merkmalen der Tathandlung geschlossen wird (obwohl diese Merkmale für die Bejahung des Vorsatzes nicht als obligatorisch gelten). Diese Betrachtungsweise ist bei mehreren Autoren zu finden. So handelt es sich nach Hassemer um einen „Schluss vom Außen auf das Innen“3, während nach Roxin der bedingte Vorsatz „nach normativen Maßstäben zu beurteilen“ sei, da er einen „Wertungsakt“, eine „normative Zuschreibung“ voraussetze4. Ebenfalls ist die Rede davon, dass „grundsätzlich der Schluss von der dem Täter bekannten objektiven Gefährlichkeit der Handlung auf bedingten Tötungsvorsatz möglich“ sei5 und dass es besonderer Vorsicht bedürfe, „wenn der Vorsatz allein aus dem äußeren (objektiven) Tatgeschehen gefolgert werden soll“6, und 3. die Annahme, dass dieser Schluss mit Hilfe von empirischen und beobachtbaren Gegebenheiten der Außenwelt erfolgen könne. So müsse der Vorsatz, schreibt Roxin, „über Indizien erschlossen werden, weil er unmittelbarer Beobachtung nicht zugänglich ist“7.
2 Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 30; ders., JuS 1964, 53 ff.; Ebenso Brammsen, JZ 1989, 79; Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 111, 482; Hassemer, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 295; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 15 Rn. 24; vgl. Philipps, ZStW 85 (1973), 27 ff. 3 Hassemer, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 303. 4 Roxin (Fn. 2), § 12 Rn. 30; vgl. Schünemann, FS Hirsch, 1999, S. 367 nach dem bei der Willenskomponente des Vorsatzes es um „kein exakt beschreibbares Bewusstseinsphänomen“ handele, sondern um „verkappte Bewertungen eines Gesamtsachverhalts“. 5 Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 1), § 15 Rn. 87; BGH NStZ 1999, 507, 508. 6 Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 1), § 15 Rn. 87; BGH StV 1991, 262; StV 1993, 641; StV 2003, 213, 214. 7 Roxin (Fn. 2), § 12 Rn. 32.
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II. Die Indikatoren des Vorsatzes in Lehre und Rechtsprechung Diese „Indizien“ oder empirischen Kriterien des Vorsatzes werden in der einschlägigen Literatur Indikatoren genannt8. Als solche empirischen Merkmale, die die Entscheidung gegen das Rechtsgut „dokumentieren“9 und den Schluss auf das Vorliegen des Vorsatzes erlauben, werden z. B. die „Wahrnehmungsfähigkeit für die Gefahrsituation“ erwähnt, die „erkannte Wahrscheinlichkeit der Risikorealisierung“, die „Risikogewöhnung und Vorerfahrungen guten bzw. schlechten Ausgangs“, die „Steuerbarkeit des Geschehensablaufs aus Tätersicht“, die „dem Opfer verbleibende Schutzmöglichkeiten“, die „Selbstverletzung des Täters im Falle des Erfolgseintritts“, die „Bedeutung des außertatbestandlich verfolgten Zweckes für den Täter“ usw.10 Auf den Nachweis des Vorsatzes im Wege des Indizienbeweises stellt auch die Rechtsprechung des BGH ab. So werden drei Gruppen von Gegebenheiten vorausgesetzt, namentlich a) „die Feststellung aller objektiven und subjektiven Tatumstände“, b) „eine Gesamtschau dieser Umstände, bei der sich das Tatgericht … auseinandersetzen muss“ und c) eine „Darstellung der Umstände, Gesamtschau und Auseinandersetzung in den Urteilsgründen, die es dem Revisionsgericht erlauben, die revisionsrechtlichen Anforderungen zu überprüfen“11. Was nun die Tatumstände insbesondere betrifft, so sind nach dem BGH folgende zu berücksichtigen: die Persönlichkeit des Täters, seine Beziehungen zum Opfer, die näheren Umstände im Vorfeld der Tat (z. B. Tatplanung, Tatwiederholung), während der Tat und nach der Tat (z. B. Rettungsbemühungen)12. Zu Recht wird bemerkt, dass diese Indikatoren kein schlichtes Beweisverfahren eines davon unabhängigen Begriffes seien, sondern sie seien „vom Vorsatzbegriff nicht zu trennen, weil erst sie den Begriff anwendbar machen“13. So spricht Hassemer von „beobachtbaren Daten“ die die Situation der Gefahr für das Rechtsgut ausmachen und die deswegen unabdingbar sind, weil „die Vorstellung des Handelnden von dieser Situation sowie seine Entscheidung nur über Indikatoren erschließbar“ seien14. Sehr aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des deutschen Kassationshofes, der auf zwei wichtige Umstände abstellt: Erstens schließt er von der Tatsache, dass der Täter, der den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält, sein Handeln trotzdem fortsetzt, darauf, 8
Bungardt, Operationalisierung eines Dispositionsbegriffs am Beispiel der Glaubwürdigkeit, 1981, S. 8; Hassemer, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 304; ders., Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 184; Mylonopoulos, Komparative und Dispositionsbegriffe im Strafrecht, 1998, S. 101. 9 Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 1), § 15 Rn. 84. 10 Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 1), § 15 Rn. 87b. 11 s. statt vieler LK-StGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 15 Rn. 65 m.w.N. 12 LK-StGB/Vogel (Fn. 11), § 15 Rn. 109. 13 Hassemer, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 304. 14 Hassemer, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 307.
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dass es bei äußerst gefährlichem Verhalten nahe liegt, dass er den Eintritt des Erfolges billigend in Kauf genommen hat15. Zweitens, macht der BGH die folgende wichtige Bemerkung: „Handelt der Täter in Kenntnis der besonderen Gefährlichkeit seines Tuns und ist er sich […] des damit verbundenen ,besonders großen Gefahrenpotentials‘ bewusst, liegt es nahe, dass er die weitere Entwicklung dem Zufall überlässt. Dann genügt aber die ,Hoffnung, es werde nichts passieren‘, nicht, eine Billigung des für möglich gehaltenen Erfolges zu verneinen“16. Ähnliche Indikatoren des Vorsatzes sind auch im Rahmen der griechischen Rechtsprechung aufgestellt worden. So sind nach dem Areopag bzw. den Berufungsgerichten folgende Kriterien maßgeblich17: - Die (dem Täter bekannte) objektiv besonders hohe Gefährlichkeit seiner Handlung18, - die etwaige Eigensüchtigkeit des Täters, bzw. die Tatsache, dass er Gewinnmaximierung mit seiner Handlung erstrebt hat19, - die Erklärungen des Täters vor, während oder nach der Tat bzw. seine Beziehungen zum Verletzten20, - das Ergreifen von Maßnahmen durch den Täter zu dessen Selbstschutz21, - das vom Täter benutzte Mittel, der Körperteil des Verletzten, der getroffen worden war, die Ausgestaltung der Verletzung und die Wucht des Schlages22, - die Tatsache, dass der Täter seine gefährliche Tätigkeit fortgesetzt hat, trotz Kenntnis deren Gefährlichkeit, und zwar aus eigensüchtigen Motiven.23
III. Gegenindikatoren des Vorsatzes Im Rahmen der Suche nach der begrifflichen Erfassung des dolus eventualis stellen aber Rechtsprechung und Lehre auf Umstände, d. h. empirische Tatsachen, ab, 15
BGH NStZ 2000, 583; vgl. auch BGHSt 36, 1, 19 ff.; BGH NStZ 1994, 584; BGH NStZ 1999, 507; MK-StGB/Joecks, 1. Aufl. 2003, § 16 Rn. 30. 16 BGH NStZ 2000, 583, 584. 17 s. Mylonopoulos, FS Androulakis, 2003, S. 442 ff. 18 Berufungsgericht von Athen, Urteil Nr. 1416/2002. 19 Berufungsgericht von Athen 2512/2002, 572/2003. 20 Areopag, Urteil Nr. 552/2011, Poiniki Dikaiosyni 2012, S. 224 mit Anm. PapageorgiouGonatas. 21 Areopag (Fn. 20). 22 Areopag, Urteil Nr. 1206/2000, Poinika Chronika, 2001, 415. 23 Areopag, Urteil Nr. 1272/2001, Poinikos Logos 2001, 1786, Berufungsgericht von Athen, Urteile Nr. 1416/2002 und 572/2003 (in Kammer).
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die nicht für das Vorliegen, sondern umgekehrt für das Nichtvorliegen des bedingten Vorsatzes sprechen. Dabei handelt es sich also um Gegenindikatoren, die nichtsdestoweniger abgewogen werden sollten24. Als Gegenindikator des Vorsatzes wird vornehmend die sog. „Reziprozität der Todesgefahr“ genannt. Wenn nämlich die Gefahr, die der Täter gesetzt hat, auch ihn selbst gleichermaßen betrifft, so müssen wir sein Verhalten dahin interpretieren, dass er den eingetretenen Erfolg nicht gewollt hatte. So schreibt Philipps: „Der blindlings um die Kurve rasende Fahrer gefährdet sich selbst genau so sehr, wie den, der ihm möglicherweise entgegenkommt“25.
In diesem Zusammenhang könnte folgende praktische Regel von Nutzen sein: „Hätte der Täter, dem die Gefährlichkeit seiner Handlung bewusst war, gehandelt, wie er gehandelt hat, wenn er gewusst hätte, dass er mit seinem Verhalten sich selbst oder eine ihm nahestehende Person gefährdet hätte“?
Falls nein, so ist der soziale Sinn seiner Handlung nicht dahin zu interpretieren, dass er sich mit dem anschließend eingetretenen tatbestandsmäßigen Erfolg abgefunden hat und ihm kann bedingter Vorsatz nicht zugeschrieben werden26. Des Weiteren wird auf Handlungen des Täters abgestellt, die darauf gerichtet sind, den Erfolg zu vermeiden, woraus der Schluss gezogen werden kann, dass der Handelnde den konkreten Erfolgseintritt hatte vermeiden wollen (sog. betätigter Vermeidewille)27. Als Schulbeispiel wird der Telefonanruf eines Terroristen vorgebracht, der die Polizei darüber verständigt, dass in wenigen Minuten eine Bombe explodieren soll. Ähnlich wird die Ansicht vertreten, dass der Bauer, der in der Mitte des Ackers trockene Pflanzen in Brand setzt, nachdem er vorher den Raum um sich herum gesäubert hat und sich Wasserkanister „vorsichtshalber“ besorgte, nicht mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat, wenn trotzdem das Feuer vom Wind auf den Acker des Nachbars übertragen wurde28. Als Gegenindikator wird auch der Umstand erwähnt, dass der Verletzte oder ein Dritter in der Lage ist, die durch den Täter geschaffene Gefahr wegen seiner Ausbil24
Vgl. schon BGH, Urt. v. 17. 05. 1982 – 2 StR 175/82. Philipps, FS Roxin, 2001, S. 364, 370; Roxin (Fn. 2), § 12 Rn. 23; Charalambakis, Poinika Chronika 1995, 1189. So auch die griechische Rechtsprechung: Berufungsgericht von Athen, Urteil Nr. 911/2002, Poinika Chronika 2002, 726; Strafgericht Athen Erster Instanz 3772/2001; Poinika Chronika 2002, 736: „Vorsatz … in Form des dolus eventualis … kommt nicht in Betracht … da der Angeklagte, seine Ehefrau und seine vom eingestürzten Gebäude getötete Tochter in eben diesem Gebäude wohnten …“. Zum Ganzen s. auch die Arbeit von Papageorgiou-Gonatas, Die vorsätzliche Tötung, 2012, S. 32 ff. (in griechisch). 26 Mylonopoulos, Anwendungen des Strafrechts, 1997 (in griechisch). In diesem Sinne auch Schünemann, FS Hirsch, 1999, S. 374. 27 BGH, Beschl. v. 30. 11. 1983 – 3 StR 319/83; dazu Schroth, NStZ 1990, 324, 325. 28 Armin Kaufmann, ZStW 70 (1958), 64 ff., 73. Auch in der griechischen Rechtsprechung wird auf diesen Gegenindikator des Öfteren abgestellt: Areopag, Urteile Nr. 500/2003, 2125/ 2002. 25
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dung oder anderen Fähigkeiten zu meistern und unter Kontrolle zu bringen. Bekannt ist hier schon aus der Rechtsprechung der Fall des Autofahrers, der auf einen Verkehrspolizisten zugefahren ist, in der Annahme, letzterer wäre, schon auf Grund seiner Berufsausbildung, durchaus in der Lage eine solche Situation erfolgreich zu kontrollieren, so dass dem Angeklagten kein Tötungsvorsatz zugeschrieben werden könne29. Aus all diesen Gegenindikatoren verdient besondere Aufmerksamkeit der Gegenindikator der sog. „Reziprozität der Gefahr“ (der unvorsichtige Fahrer, der in die Gegenrichtung einfährt, könne keinen bedingten Tötungsvorsatz haben, da er sonst sich auch mit dem eigenen Tod abfindet). Dieses Kriterium ist zunächst einmal deshalb wichtig, weil es auch einen brauchbaren Indikator für den dolus eventualis liefern könnte: Genauso wie es richtig ist, dass der unvorsichtige Autofahrer sich selbst nicht töten will, in gleichem Maße müssten wir akzeptieren, dass der LKW Fahrer, der in die falsche Fahrbahn fährt, in Kenntnis, dass er selbst keine Gefahr läuft, den entgegenkommenden Fahrer eines kleinen Wagens aber massiv gefährdet und in der Überzeugung, letzterer werde ihm schon aus Selbsterhaltungsgründen ausweichen, sich erheblich näher zum dolus eventualis als zur Fahrlässigkeit befindet, auch wenn der eingetretene Todeserfolg ihm höchst unwillkommen ist. Zweitens aber bringt dieses Kriterium den Umstand zum Ausdruck, den auch der BGH hervorgehoben hat, dass der Täter den weiteren Ablauf der Dinge dem Zufall überlässt. Das ist m. E. von entscheidender Bedeutung für die ganze Erfassung des dolus eventualis, und zwar aus folgendem Grund: Nehmen wir das Beispiel des LKW Fahrers wieder auf, der in die entgegenkommende Richtung fährt, mit dem Gedanken, dass die anderen Fahrer alles Mögliche tun würden, um eine Kollision zu vermeiden, so stellen wir fest, dass er mit seinem Verhalten die ganze Last der Erfolgsvermeidung auf die anderen abwälzt, d. h. dass er die Verantwortung für die Nichtverwirklichung einer Gefahr, die er allein und wider besseres Wissen gesetzt und wofür er einzustehen hat, völlig auf die anderen verschiebt. Es ist also evident, dass diese Konstellation eine charakteristische Ähnlichkeit mit dem unechten Unterlassungsdelikt aufweist. Dort, wie auch hier, duldet das Strafgesetz keineswegs die Abwälzung der Haftung für die Abwendung des Erfolgs. Wenn also der Täter die Last zur Abwendung einer Gefahr, die er selbst rechtswidrig verursacht hat, auf einen Nichtbeteiligten abwälzt, nimmt er selbst den weiteren Ablauf der Dinge aus seiner Kontrolle heraus und überlässt ihn dem Zufall, indem er sich gleichzeitig jeder Möglichkeit der Erfolgsabwendung wissentlich entkleidet. Dieses Wertungsmoment, das sowohl den unechten Unterlassungsdelikten als auch dem dolus eventualis gemeinsam ist, zeigt eben den sozialen Sinn der Handlung, worauf wir abstellen müssen, wenn uns keine empirischen Merkmale zur Verfügung stehen.
29
Philipps (Fn. 25), S. 371.
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IV. Die Behandlung der Willenskomponente als Dispositionsbegriff in Rechtsprechung und Lehre Aus dieser Bestandsaufnahme sehen wir wohl, dass die eigentliche Schwierigkeit beim Umgehen mit der Willenskomponente des dolus eventualis nicht in der Entscheidung liegt, worin sie besteht, d. h. ob der Täter die Tatbestandsverwirklichung billigen muss oder ob er sich mit dem Erfolgseintritt abfinden oder ihn in Kauf nehmen muss usw., sondern darin, welcher der Sinn der jeweils vorgeschlagenen Willenskomponente ist, d. h. worin der Sinn des „sich Abfindens“, der „Inkaufnahme“, der „Billigung“ usw. besteht (denken wir etwa an die „Billigung im Rechtssinne“ des „Lederriemen-Falles“). Eine befriedigende und vollständige Definition dieser Begriffe aber, die dem Eliminierbarkeitsprinzip gerecht wird, ist kaum zu finden. Darin liegt m. E. auch der Grund des Scheiterns der zahlreichen Versuche, den bedingten Vorsatz von der bewussten Fahrlässigkeit zu unterscheiden. Denn alle diese Versuche betrachten beide Begriffe als klassifikatorische Begriffe, die angeblich scharfe, aber leider okkulte Konturen haben, die mit einer geeigneten Theorie angeblich entdeckt werden könnten. Trotz dieses Scheiterns hat jedoch die Rechtsprechung, aber auch ein Teil der Lehre, auf pragmatischer Weise den einzig gangbaren Weg gewählt, indem man auf eine Definition der Willenskomponente verzichtet, dafür aber auf Indikatoren und Korrespondenzregeln abgestellt hat, um zu zeigen, nicht was der Term „sich damit abfindet“ (bzw. „in Kauf nimmt“) bedeutet, sondern wann er vorliegt. Dieses Arbeitsvorgehen von Rechtsprechung und Lehre hat mit Klarheit gezeigt, dass in Wirklichkeit Gegenstand der begrifflichen Erfassung des Vorsatzes nicht das Wesen der Willenskomponente ist, sondern das Verfahren nach dem darauf geschlossen wird. Lehre und Praxis bemühen sich nämlich nicht, um eine vollständige Explizitdefinition des Begriffs „sich damit abfinden“ oder „in Kauf nimmt“ zu liefern, sondern schlicht um klarzumachen, wann wir davon zu sprechen berechtigt sind, aus welchen empirischen, beobachtbaren und direkt zugänglichen Tatsachen und äußeren Indizien wir zum Schluss kommen können, dass sich der Täter mit dem tatbestandsmäßigem Erfolg abgefunden hat. Die Beispiele dafür in Lehre und Rechtsprechung sind zahlreich: Diese Betrachtungsweise ist zunächst im Rahmen der deutschen Rechtsordnung verbreitet. So liegt nach der vorsichtigen Formulierung von Wessels/Beulke, die Lehre und Rechtsprechung treffend wiedergibt, bedingter Vorsatz dann vor, „wenn der Täter sich durch die naheliegende Möglichkeit des Erfolgseintritts nicht von der Tatausführung hat abhalten lassen und sein Verhalten den Schluss rechtfertigt, dass er sich … mit dem Risiko der Tatbestandsverwirklichung abgefunden habe“30. 30 Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 32. Aufl. 2002, Rn. 224. Siehe auch in diesem Sinne Hassemer, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 289; ders., Einführung in die Grundlagen des Strafrechts; Kuhlen, Die Objektivität von Rechtsnormen: Zur Kritik des radikalen labeling
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Auf jeden Fall ist der „Schluß von der äußersten Gefährlichkeit [der Handlung] auf die Aneignung des Verletzungserfolges“ als eine etablierte Arbeitsmethode der Tatsacheninstanzen angesehen, die nur beim Vorleigen von Gegenindikatoren relativiert werden sollte31. Denselben Weg ist auch die griechische Rechtsprechung wiederholt gegangen. So lesen wir bei einer Entscheidung des Berufungsgerichts von Athen32 : „Das Weiterführen der riskanten Tätigkeit … zeigt …“. Ebenfalls beim Strafgericht 1. Instanz von Athen33, heißt es: „Zur Erfassung des dolus eventualis insofern er einen Dispositionsbegriff darstellt … brauchen wir der Rechtssicherheit halber ein richtig gebautes System empirisch zugänglicher Indizien oder Gegenindizien aus denen gefolgert wird … ob der Täter sich mit dem tatbestandsmäßigen Erfolg tatsächlich abgefunden hatte“.
Aber auch in einer Entscheidung des Militärgerichts erster Instanz von Larissa34 lesen wir: „Wie bei allen Dispositionsbegriffen der Fall ist, muss der Tötungsvorsatz des Täters aus empirisch beobachtbaren Indizien gefolgert werden“.
Dieselbe Denkweise ist auch im Rahmen der Rechtsprechung des schweizerischen Kassationshofs zu finden, nach dessen Urteilen „der Richter auf das Einverständnis“ (des Täters) „zur Tatbestandsverwirklichung zu schließen [habe], wenn sich dem Täter der Eintritt des Erfolges als so wahrscheinlich aufdrängte, dass sein Handeln vernünftigerweise nicht anders denn als Billigung dieses Erfolges ausgelegt werden kann“35.
Im englischen Recht ist die Moloney Entscheidung in diesem Zusammenhang kennzeichnend36. Dort hat Lord Bridge darauf aufmerksam gemacht, dass wer in ein Flugzeug einsteigt, das nach Manchester fliegt, um vor seinem Verfolger zu fliehen, seine Intention manifestiere, nach dieser Stadt zu fliegen, da es praktisch mit Sicherheit vorauszusehen ist, dass die Maschine dort landen werde.
approach in der Kriminalsoziologie, 1978, S. 136; Schroth, FS Philipps, 2005, S. 467 ff., 470; ders., in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 299. 31 Schroth, NStZ 1990, 324, 325. 32 Urteil Nr. 1416/2002 in Kammer. 33 Urteil Nr. 2161/2005, Poinika Chronika 2005, 1029, mit Vorschlag der Staatsanwältin Vlachou. 34 Urteil Nr. 18/2002, Poinikos Logos 2002, 2649. 35 BGE 109 IV 140, 101 IV 46; Trechsel, SchwStGB Kommentar, 2. Aufl. 1997, Art. 18 Rn. 15 m.w.N.; Vest, Vorsatznachweis und materielles Strafrecht, 1986, S. 60. 36 Moloney 1985 AC 905, Crim L R 1985, 378; s. auch Smith & Hogan, Criminal Law, 10. ed. by J. C. Smith 2002, S. 72; Ashworth, Criminal Law, 5. ed. 2006, 178.
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Ähnliche Gedanken sind auch in der Rechtsprechung des Supreme Court der Vereinigten Staaten zu finden. In der Strafsache Sandstrom v. Montana37 meinte der Supreme Court, dass es unter bestimmten Voraussetzungen (= empirische Tatsachen) eine (wenn auch widerlegbare!) Vorsatzvermutung gebe (presumption of intent), nach der der Richter von bestimmten äußeren Tatsachen den Schluss ziehen darf (ohne zu müssen), dass der Täter vorsätzlich gehandelt hat. Aber auch in anderen Entscheidungen sind solche Überlegungen zu finden. In Hardy v. State, z. B., ist die These vertreten, dass der Gebrauch einer tödlichen Waffe oder von jeglicher Waffe in einer tödlichen Weise eine Tatsache sei, wovon auf Vorsatz geschlossen werden kann38. Eine ähnliche Betrachtungsweise ist auch im französischen Recht zu finden. Dort wird die vorsätzliche Gefährdung eines anderen (mise en danger delibérée, Art. 121-3 franzStGB) dann als bewiesen betrachtet, wenn äußere Umstände dafür sprechen, die dem objektiven Beobachter zugänglich sind. So wird z. B. gesagt, den Vorsatz bei der Gefährdung des Straßenverkehrs beweise etwa die Tatsache, dass der Autofahrer vorher wiederholt bei roter Ampel gefahren sei, oder dass er an einem improvisierten Autorennen mit anderen Fahrern teilnahm usw.39 Alle diese Entscheidungen und Stellungnahmen bedeuten aber nichts anders, als dass die Rechtsprechung (und zwar in mehreren Rechtsordnungen) den Vorsatz stillschweigend und unbewusst durchaus als Dispositionsbegriff behandelt und anwendet. Gehen wir aber von der Annahme aus, dass der Vorsatz ein Dispositionsbegriff ist, und da er faktisch als solcher in der Praxis behandelt wird, so müssen wir ihn nicht als Zustand des Geistes bzw. als (innere) Tatsache behandeln, die von der äußeren Tatseite getrennt werden kann, sondern ihn als Eigenschaft der Tat betrachten, und somit als eine Größe, die nicht beschrieben und festgestellt, sondern zugeschrieben wird, und zwar auf Grund bestimmter Regel und Methodologie40.
V. Der Vorsatz als Disposition Konsequenz dieses Ergebnisses ist eben dies, dass wir den Vorsatz nicht mehr als Tatsache behandeln müssten. Dispositionen werden weder festgestellt noch bewiesen, sondern dem Täter bzw. seiner Tat zugeschrieben mit einem Zuschreibungsur37
442 U.S. 510. S. La Fave, Criminal Law, 3. ed. 2000, S. 240 ff. Hardy v. State, 251 S.E. 2d 289; vgl. auch Commonwelth v. Boyd, 334 A 2d 610; zum Ganzen s. Weinreb, Criminal Law, Cases, Comment, Questions, 7. ed. 2003, S. 141. 39 Desportes-Le Guhenec, Le nouveau code pénal, t. 1 7. ed. 2000, 427. 40 Mylonopoulos (Fn. 8), S. 160; vgl. Duff, Intention Agency and Criminal Liability, Oxford 1990: der Täter handele vorsätzlich „for we can see his mind in his actions“, aber auch die vorbildlichen Ausführungen von Kuhlen (Fn. 30), S. 136. 38
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teil, das den Gebrauch von Indikatoren und Korrespondenzregeln voraussetzt. Das bedeutet aber: Für den Vorsatz, wie allerdings für alle strafrechtsrelevante Dispositionsbegriffe, „der Beweis wird zu Rechtsfrage“41. Das ist in der Tat verständlich. Denn das Hauptproblem beim Einführen der Dispositionsbegriffe ist die Unmöglichkeit, sie mit einer Explizitdefinition, die dem Eliminierbarkeitsprinzip gerecht wird, zu definieren. Deswegen hat Carnap die Dispositionsbegriffe dadurch zu erfassen versucht, indem er auf die Unterscheidung der wissenschaftlichen Sprache in zwei Stufen abstellte, nämlich die Beobachtungs- und die Theoretische Sprache. Während mit der Beobachtungssprache, die vollständig interpretiert sei, Merkmale beschrieben werden, die direkt wahrgenommen werden können, seien die Merkmale der Theoretischen Sprache der unmittelbaren Wahrnehmung nicht zugänglich und ließen ihre Terme keine explizite Definition zu. Deswegen seien die Terme der Theoretischen Sprache nicht aus sich heraus verständlich und würden auf dem Niveau der Beobachtungssprache eben mit Hilfe von Transformationsregeln abgebildet, die die Entsprechung zwischen den Aussagen der Theoretischen Sprache und jenen der Beobachtungssprache ausdrücken. Diese Regeln nennt man Korrespondenzregeln und die Merkmale der Beobachtungssprache, wodurch man unter Anwendung dieser Regeln theoretische Terme abbildet, werden Indikatoren genannt42. Eine Disposition wird also nicht beschrieben sondern nur zugeschrieben. Die Zuschreibung eines Dispositionsprädikats setze wiederum zweierlei voraus: erstens die Beobachtung von empirischen Gegebenheiten (z. B. vom Verhalten des Täters) und zweitens die Kenntnis der einschlägigen Korrespondenzregel, d. h. der Regel, die uns erlaubt, von den Reaktionen des Gegenstandes auf das Vorliegen der einschlägigen Disposition zu schließen43. Der geistige Vorgang, der uns interessiert, ist also nicht etwas vom äußeren Geschehen trennbar zu verstehen, sondern wir sind darauf angewiesen, beide als ein Ganzes zu sehen. Wie Ryle treffend bemerkt hat: dass der Clown „absichtlich stolperte“ bedeute nicht, dass es sich um zwei Vorgänge handelt, einen körperlichen und einen geistigen, dass er zuerst beabsichtigt und außerdem stolperte, sondern dass er absichtlich stolperte, was ein sowohl körperlicher als auch ein geistiger Vorgang ist44.
41 Volk, FS Bockelmann, 1979, S. 83; vgl. auch Androulakis, Strafrecht, AT I, 2005, S. 295 Fn. 80. 42 Carnap, The Methodological Character of Theoretical Concepts, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science, 1956, Bd. I, S. 38 ff.; s. auch Besozzi/Zehnpfennig, Methodologische Probleme der Indexbildung, in: van Koolwijk, Techniken der empirischen Sozialforschung, Bd. 5, 1976, S. 14; Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Bd. II, Teil A, 2. Aufl. 1970, S. 235 ff.; Volk, FS Bockelmann, 1979, S. 77. 43 Mylonopoulos (Fn. 8), S. 101; Schroth (Fn. 30), S. 282. 44 Ryle, Der Begriff des Geistes (dt. Übersetzung von K. Baier, 1982), S. 38.
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Die Zuschreibung einer Disposition ist ferner mit einem irrealen Bedingungssatz notwendig verknüpft. Sagen, dass ein Gegenstand biegsam oder zerbrechlich ist, bedeutet eben, dass er unter geeigneten Voraussetzungen sich biegen oder zerbrechen würde45. Insofern beinhalten die Dispositionsbegriffe eine Möglichkeitsaussage, die ihnen einen prognostischen Charakter beimisst. Sie beschreiben keine Ereignisse, sondern beinhalten eine Aussage darüber, was geschehen könnte oder würde, wenn die Person oder das Ding, das die dispositionelle Eigenschaft hat, sich in einem bestimmten Zustand befände46. Wie Rescher bemerkt hat, hätten dispositionelle Eigenschaften „amphibischen Charakter“. Denn sie stünden mit dem einen Bein auf der Welt der Wirklichkeit, mit dem anderen jedoch auf der Welt der Möglichkeit47. Obwohl diese partielle Deutung der theoretischen Terme als inadäquat angegriffen worden ist48, Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass die dispositionellen Eigenschaften keine wahrnehmbare Tatsachen sind, die festgestellt, beschrieben und bewiesen werden können, da auf sie von äußeren Umständen geschlossen wird und die infolgedessen nur zugeschrieben werden können, und zwar auf bestimmtem Denkprozess. Einigkeit besteht ferner darüber, dass sie keiner vollständigen Definition sondern nur einer partiellen Deutung zugänglich sind, an Hand von Bedingungssätzen und empirischen Merkmalen. Diese Notwendigkeit vom Gebrauch empirischer Merkmale bedeutet aber, dass die Manifestationen einer Disposition eben keine logischen Wahrheiten darstellen, die vom Dispositionsbegriff logisch deduziert werden können, sondern dass sie in Gegenüberstellung zur Wirklichkeit nur verifiziert werden können49. Wollen wir die obigen Feststellungen auf unsere Problematik übertragen, so ist es ersichtlich, dass auch Vorsatzzuschreibungen mit dem Gebrauch von Bedingungssätzen verbunden sind. Wenn wir z. B. sagen, dass jemand etwas „beabsichtigt“, so berichten wir nicht davon, was in einer verborgenen mentalen Welt geschieht, sondern wir sagen, was er tun würde50 wenn alle objektive Voraussetzungen erfüllt wären. Ferner: Der bestochene Amtsträger würde positiv antworten, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner Eigenschaft als Amtsträger gefragt worden wäre. Eine charakteristische (wenn auch formalistische) Anwendung dieser Betrachtungsweise ist bei Duff zu finden. Nach ihm wird der Vorsatz von der Fahrlässigkeit danach unterschieden, wie der Täter nach der Tatausführung auf die Frage antworten würde, ob er sein Ziel erreicht hat, falls durch seine Handlung kein Rechtsgut verletzt worden ist (sog. „failure test“). Würde er in diesem Fall sagen, so Duff, dass seine Handlung miss45
Prior, Dispositions, 1985, S. 9; Goodman, Tatsache, Fiktion, Voraussage, 1975, S. 63. Mylonopoulos (Fn. 8), S. 128 ff. 47 Rescher, A Theory of Possibility, Oxford 1975, S. 132. 48 Achinstein, The British Journal for the Philosophy of Science, Bd. XIV 1963, S. 89 ff.; Stegmüller (Fn. 42), S. 236 ff. 49 Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 2. Aufl. 1974, S. 111 ff. 50 Vgl. Duff (Fn. 40), S. 128 ff. 46
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lungen ist, so habe er vorsätzlich gehandelt. Seufze er hingegen, im selben Fall, mit Erleichterung, so sei ihm Fahrlässigkeit zuzuschreiben51. Aus alledem ist also daran festzuhalten: die Art und Weise des Schlages an bestimmtem Teil des Körpers des Opfers oder der protrahierte Gebrauch des Lederriemens im gleichnamigen Fall sind keine Wahrheiten, die vom Vorsatzbegriff logisch deduziert werden, sondern nur empirische Tatsachen der Beobachtungssprache, die uns erlauben, an Hand unserer Erfahrung, auf das Vorliegen der dispositionellen Eigenschaft der Handlung zu schließen und diese dem Täter zuzuschreiben. Der Vorsatz wird also nicht deduziert, sondern an Hand seiner Indikatoren verifiziert. Die Indikatoren sagen uns, dass wir berechtigt sind, das Wort „Vorsatz“ in Bezug auf die einschlägige Handlung zu gebrauchen, also diese Eigenschaft der Täterhandlung zuzuschreiben. Das bedeutet natürlich längst nicht, wie Paeffgen52 meint, dass eine Disposition, wie die Entscheidung gegen das Rechtsgut, nur an Hand von äußeren Tatsachen erschlossen werde und die „psychisch-empirische Rohdaten“ außer Acht ließe. Eine solche Betrachtungsweise würde zunächst einmal die Korrespondenz-Regeln übersehen, da die bloße Feststellung von Indikatoren keineswegs zwangsläufig und eindeutig zur Annahme einer Disposition führt, wie diese Meinung unterstellt. Es muss, darüber hinaus, auch eine Korrespondenz-Regel befriedigt sein. Sie würde aber ferner auch den Umstand außer Acht lassen, dass die oben erwähnten „psychisch-empirische Rohdaten“, genau die Größen sind, die den Sinnen nicht zugänglich sind und die uns deswegen zwingen, uns an äußere Gegebenheiten zu wenden. Darüber hinaus aber bleibt es durchaus unklar, welche diese „Rohdaten“ sein könnten. Die einzigen, die dieses Postulat befriedigen könnten, wären die (womöglich im menschlichen Gehirn zu findenden) einverleibten ständigen strukturellen Züge („built-in enduring structural traits“) von Quine53, die natürlich noch immer im Bereich der Arbeitshypothesen liegen. Schließlich darf man nicht vergessen, dass die dispositionelle Analyse eben den Abschied vom kartesianischen Dualismus bezweckt und die sog. „inneren Tatsachen“ als Aspekte eines Ganzen betrachtet54. Auf der anderen Seite dürfen wir in Erwägung ziehen, dass in den meisten Fällen die Indikatoren einer Disposition nicht immer dieselben, sondern im Gegenteil zahlreich und eventuell unübersehbar sind. Die meisten Dispositionen sind, wie man sagt, mehrspurig. Das bedeutet also, dass eine erschöpfende Wiedergabe einer Disposition an Hand ihrer Manifestationen meistens nicht möglich ist. Eine vollständige Reduktion der Disposition in die Sphäre der Empirie erscheint also hoffnungslos.
51 Duff (Fn. 40), S. 128 ff.; s. auch Pedain, Intention and the Terrorist Example, CrimLR 2003, 579 ff., 588. 52 NK-StGB/Paeffgen, 3. Aufl. 2010, Vor §§ 32 bis 35 Rn. 96. 53 s. Quine, Word and Object, 1960/1985, S. 223. 54 Vgl. schon Plato, Harmides.
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VI. Der Gebrauch komparativer Sätze bei der Zuschreibung des Vorsatzes In diesem Zusammenhang befasst sich Philipps mit der unausweichlichen Frage, was geschieht, wenn ein Indikator bzw. Indikatorenbündel in die Richtung der Bejahung (Zuschreibung) des Vorsatzes weisen, während zugleich Gegenindikatoren vorliegen, die das Vorliegen des Begriffes unsicher machen. Zu dieser Frage stellt er auf die Auswertung der komparativen Begriffe und des „je-desto“ Schemas ab: „Je mehr der Gegenindikator erfüllt ist, und je weniger deshalb bei seiner Negation übrig bleibt … in desto schwächerem Maße weisen dann die Indikatoren auf dolus eventualis hin“55. Ebenfalls vertritt der schweizerische Kassationshof die Auffassung, dass „je höher die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts, desto eher auf Inkaufnahme des Erfolges geschlossen werden darf“56
(ohne, natürlich, auf die Problematik der Dispositionsbegriffe einzugehen). Dabei handelt es sich also um eine Kombination dispositioneller Analyse und Gebrauch von komparativen Sätzen. Diese Arbeitsweise (bzw. die faktische und unbewusste Kombination des Gebrauchs von Dispositionsbegriffen und komparativen Sätze) ist den europäischen Rechtsordnungen durchaus nicht fremd. Auf diese Weise wird z. B. über die Drogenabhängigkeit oder den Begriff der pornografischen Schriften entschieden. Es handelt sich also um eine bekannte, bewährte und wissenschaftstheoretisch am wenigsten fragwürdige Annäherungsweise, die der Natur der Sache am meisten gerecht wird. So wird nach DSM-III R und der International Classification of Deseases (ICD), der auch das griechische Gesetz folgt (Art. 2 des Ministerialdekrets 3982 – 1987), die Drogenabhängigkeit dann bejaht, wenn mindestens drei von insgesamt 9 Kriterien (Indikatoren) erfüllt sind: Der Angeklagte konsumiert größere Mengen von Substanzen oder für längere Zeit als er vorhatte, er will oder hat erfolgslose Versuche gemacht, den Drogengebrauch zu mindern oder zu kontrollieren, er verbraucht einen großen Teil seiner Zeit in der Suche nach Drogen oder in Tätigkeiten, die den Drogenkonsum erst ermöglichen (z. B. Diebstähle), er weist Entziehungssyndrome auf, er verlässt wichtige soziale, professionelle oder Freizeitbeschäftigungen, er bedarf größerer Mengen um das gewünschte Resultat zu erreichen usw.57 Auch in diesen Regeln steckt also auf frappante Weise derselbe Grundgedanke: Es handelt sich um Dispositionsbegriffe, die einer vollständigen Explizitdefinition nicht
55
Philipps (Fn. 25), S. 375. BGE 119 IV 3. 57 In Bezug auf den Begriff der Pornographie s. ähnliches Verfahren bei Vadas, Journal of Philosophy, 1987, S. 489 ff. 56
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zugänglich sind, und von deren Vorliegen wir desto berechtigter zu sprechen sind, je mehr Indikatoren vorhanden sind.
VII. Schlussbemerkungen Aus den obigen Feststellungen, insbesondere aus der Erkenntnis, dass Dispositionen keine Gesetze sind, sondern allgemeine Tendenzen ausdrücken, folgt, dass wir auf die Zahl der Indikatoren angewiesen sind. Dispositionsbegriffe als theoretische Begriffe, können nur mehr oder weniger gut bestätigt werden, sie sind also nur mehr oder weniger entscheidbar. Das bedeutet wiederum: Je mehr Indikatoren des Begriffs vorliegen, desto vertretbarer ist die Zuschreibung der Disposition und infolgedessen des Vorsatzes. Eine letzte Bemerkung: Es ist nicht zu übersehen, dass die dispositionelle Analyse bei der Zuschreibung des Vorsatzes mit praktischen Schwierigkeiten in der Praxis behaftet ist, die vor allem darauf zurückzuführen sind, dass begriffliche Erfassung und Beweis zusammenfallen. Die Bejahung des Vorsatzes erweist sich damit als ein komplexes Vorgehen, das unter anderem Probleme bei der Begründung des Urteils verursachen könnte. Gleichzeitig aber zeigt uns diese Analyse, dass mit ihr das Verständnis des Vorsatzbegriffes seine Grenze erreicht hat und dass der Versuch, es weiter zu treiben oder es auf eine andere Weise zu erreichen, unwissenschaftlich und verfehlt wäre.
„Dolo specifico“ und Absichtsdelikte Der sog. Handlungszweck zwischen gesetzlicher Formulierungstechnik und dogmatischen Begriffen* Von Lorenzo Picotti
I. Einführung Das Thema meines wissenschaftlichen und persönlichen Beitrages für Wolfgang Frisch ist eng mit dem Verlauf meiner Forschungen verbunden, denn ich habe mich seinen Gedanken nicht nur mittels der Lektüre seiner Werke angenähert und mich mit ihnen auseinandergesetzt1, sondern auch dank der persönlichen Gespräche, welche ich mit ihm während der Zeit meiner Aufenthalte in Freiburg im Breisgau gepflegt habe, wo ich über viele Jahre hinweg beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht meine Untersuchungen zum dolo specifico betrieben habe2. Der intellektuelle Anstoß, den ich von dem verehrten Jubilar und großen Strafrechtler – insbesondere auf dem schwierigen Feld der Beziehungen zwischen dem Vorsatz und seinem Bezugspunkt – empfangen habe, war ein Grund, der mich veranlasst hat, neue Ansätze für die Analyse von anscheinend geklärten dogmatischen Kategorien zu suchen3, wie es gerade bei der hier angesprochenen der Fall ist, die in der Tradition des italienischen Strafrechts seit den Zeiten Francesco Carraras4, Eugenio Florians5 und Enrico Ferris6 vorhanden, sodann von Vincenzo Manzini in sei* Übersetzung aus dem Italienischen von Thomas Vormbaum in Zusammenarbeit mit dem Verfasser. 1 Zu nennen sind insbes. Frisch, Vorsatz und Risiko: Grundfragen des tatbestandsmäßigen Verhaltens und des Vorsatzes. Zugleich ein Beitrag zur Behandlung außertatbestandlicher Möglichkeitsvorstellungen, 1983; ders., Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988; ders., GS Armin Kaufman, 1989, S. 311 f. 2 Picotti, Il dolo specifico. Un’indagine sugli ,elementi finalistici‘ delle fattispecie penali, 1993; dazu Maiwald, Buchbesprechung, ZStW 106 (1994), 906 f. 3 Vergl. z. B. Frisch (Fn. 1), Vorsatz und Risiko, § 1 I S. 3; insb. § 16, S. 502 f. 4 Carrara, Momento consumativo del furto, in: Lineamenti di pratica legislativa penale, 1874, p. 229; s. ders., Programma del corso di diritto criminale. Parte generale, 6. Aufl., 1886, Neudruck 1993, § 153 Fußn. 1, S. 133, § 374, S. 247. 5 Florian, La teoria psicologica della diffamazione. Studio sociologico-giuridico, 1893; ders. (Hrsg.), Trattato di diritto penale, I, 1910, S. 320 f.
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nem berühmten Trattato abgesegnet worden ist7 und bis heute von der Mehrheit der Lehre sowie von der Rechtsprechung unseres Landes angewendet wird.
II. Der Begriff des „spezifischen Vorsatzes“ Der sog. spezifische Vorsatz bildet nicht eine im Allgemeinen Teil der Strafgesetzbücher definierte Kategorie, sondern ergibt sich aus der Analyse der gesetzlichen Struktur zahlreicher Tatbestände des Besonderen Teils oder der Nebenstrafgesetzgebung, die durch „finale“ (an Bezeichnungen wie „um … zu“, „zur“, „mit dem Ziel der“, „zum Zwecke der“, „in der Absicht zu“ zu erkennende) Elemente gekennzeichnet und tendenziell in allen betrachteten Rechtsordnungen im Wachsen begriffen sind. Sie liefern das unerlässliche positivrechtliche „Material“ der wissenschaftlichen Untersuchung. Andernfalls wäre sogar die Rechtsvergleichung schwierig zu bewerkstelligen, denn Lehre und Rechtsprechung der unterschiedlichen Rechtsordnungen verwenden unterschiedliche Bezeichnungen und Qualifizierungen, je nach ihren dogmatischen Systemen und den entsprechenden kulturellen Traditionen, womit sie eine historische und begriffliche Relativität jener in unserer Rechtsordnung noch heute mehrheitlich vertretenen Figur unter Beweis stellen. In einer ersten Annäherung werden als durch einen „spezifischen Vorsatz“ gekennzeichnet jene Tatbestände betrachtet, in denen verlangt wird, dass der Täter „mit Blick auf einen vom Gesetz genannten Zweck tätig ist, dessen Verwirklichung auf der Ebene des objektiven Tatbestandes keine Entsprechung findet“8. Das klassische Beispiel bildet das „Ziel“, aus der entwendeten Sache „einen Vermögensvorteil zu erlangen“, wie es sich in der Formulierung des Diebstahlstatbestandes nach Art. 624 des italienischen Strafgesetzbuches (Codice penale – im Folgenden: c.p.) findet und paradigmatisch in nahezu allen einschlägigen Abhandlungen erwähnt wird. Es ist nämlich einmütige Ansicht, dass, obwohl die Strafnorm ausdrücklich die Verfolgung des erwähnten Zieles durch den Täter verlangt, das Verbrechen bereits mit der „Gewahrsamserlangung“, die dem tatbestandsmäßigen Verhalten des „Entziehens“ (sottrazione) folgt, vollendet ist, ohne dass etwa die Verwirk6 Ferri, Sociologia criminale, 3. Aufl., 1892, insb. S. 504 f.; ders., Principii di diritto criminale. Delinquente e delitto nella scienza, legislazione e giurisprudenza, 1928, S. 440 f. 7 Manzini, Trattato di diritto penale italiano, I, 1908, 5. Aufl., fortgeführt von Nuvolone/ Pisapia, 1981, § 253, S. 774. 8 Gallo, Marcello, Dolo (Dir. pen.), in: Enc. Dir., XIII, 1964, S. 794. Dieselbe Begriffsbestimmung findet sich heute in den meisten Lehrbüchern und Studienbüchern: Fiandaca/ Musco, Diritto penale. P. gen., 6. Aufl., 2009, S. 371; Mantovani, Ferrando, Diritto penale. P. gen., 7. Aufl., 2011, S. 325; Marinucci/Dolcini, Corso di diritto penale, 3. Aufl., 2001, S. 572; Pagliaro, Principi di diritto penale. P. gen., 11. Aufl., 2010, S. 287 (der aber ausschließt, dass es hier um einer Art vom Vorsatz geht, weil ihr die äußerliche Verwirklichung nicht entspricht: S. 391 f.); Palazzo, Corso di diritto penale. P. gen., 4. Aufl., 2011, S. 321 f.; Pulitanò, Diritto penale, 4. Aufl., 2011, S. 321 f.
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lichung des „Vermögensvorteils“, zu dessen Erlangung der Täter gehandelt haben muss, erforderlich wäre. Nach Ansicht des Verfassers eines traditionellen Lehrbuchs des italienischen Strafrechts soll es sich dabei um „ein besonderes Ziel“ handeln, „welches jenseits und damit außerhalb der die Straftat bildenden Tat steht“9. In Wirklichkeit ist die Zielsetzung des Handelnden ein wesentliches Element in der gesetzlichen Formulierung und damit für die Existenz der Straftat [je nach seiner Funktion ein konstitutives oder ein gegenüber anderen ähnlichen Straftaten spezialisierendes: s.u. III. 1. d)]. Es wird daher zu klären sein, was es bedeutet, dass es „außerhalb“ der Tat, welche die Straftat ausmacht, „steht“. Seine Typisierung in finaler Begrifflichkeit kann nämlich nur seine Qualifikation als Requisit mit subjektiver bzw. psychologischer Natur (der Grund, weswegen man in Italien die fortdauernde Bezeichnung als Art oder Form des Vorsatzes benutzt) rechtfertigen, zweifellos aber nicht seine fehlende Zugehörigkeit zum gesetzlichen Tatbestand. Nach Ansicht des besonders feinsinnigen Rechtstechnizismus soll der spezifische Vorsatz sich an den allgemeinen Vorsatz anschließen10, welcher bloß die objektiven Elemente der tatbestandsmäßigen Handlung betrifft, während nach der vorherrschenden Auffassung die Zielsetzung den einheitlich aufgefassten Vorsatz der Straftat (eben als „spezifischen“) kennzeichnet und in Übereinstimmung mit der in unserer Rechtsordnung traditionell befolgten Systematik bei der Schuld eingeordnet wird – weshalb man sagen könnte, dass er nur deshalb „außerhalb“ der tatbestandsmäßigen Handlung stehe, weil diese als objektiv im naturalistischen Sinne aufgefasst wird11.
9 Antolisei, Manuale di diritto penale. P. gen., 16. Aufl. fortgeführt von Conti, 2003, S. 362; dagegen Picotti (Fn. 2), S. 575 – 577, weil der Vorsatz nicht über die Tat hinausgehen kann. 10 Manzini (Fn. 7), S. 758, meinte sogar dass es um den „generellen Vorsatz“ (dolo generico) gehe, wenn das Ziel kein „Differenzierungsmerkmal“ zwischen sonst gleichen materiellen Straftaten, sondern dasjenige einer sonst strafrechtlich irrelevanten Tat gewesen wäre. In der heutigen italienischen Lehre vgl. Romano, Mario, Commentario sistematico del codice penale, I, 3. Aufl., 2005, Sub Art. 43, Nr. 33, S. 446 und Pagliaro, Il reato, 2007, S. 221 f., die auch im letzteren Fall von einem an den „generellen Vorsatz“ angeschlossenen „spezifischen Vorsatz“ sprechen. 11 Gemäß der klassischen Systematik der Straftat, die in Italien von Delitala, Il „fatto“ nella teoria generale del reato, 1930, insb. S. 125 f., meisterhaft geschildert worden ist und sich an dem rein objektiven Tatbestandsbegriff von Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, anlehnt. Fast die gesamte italienische Lehre (s. Marinucci/Dolcini, Manuale di diritto penale. P. gen., 4. Aufl., 2012, S. 297 f.; und oben Fußnote 11), einschließlich Fiandaca/Musco (Fn. 8), S. 195 f., die von einer „getrennten Gestaltung“ der strafrechtlichen Tatbestände ausgehen (so dass dem Vorsatz ein entscheidender Einfluss auf die Typizität der Tat zuzurechnen sei), betrachtet den „spezifischen Vorsatz“ als Art und Form des Vorsatzes im Rahmen der Schuld (s. S. 371 f.). Einzelne Ausnahmen sind b. Padovani, Diritto penale, 9. Aufl., 2009, S. 105 f., und Pagliaro (Fn. 8), S. 391 f. (schon in seiner Monographie: Il fatto di reato, 1960, S. 331) dargestellt.
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Für die Vertreter der modernsten „personalen Unrechtslehre“, die in Italien noch in der Minderheit sind, ist hingegen der spezifische Vorsatz (dessen traditionelle Bezeichnung immerhin beibehalten wird) ein Teil des „subjektiven Unrechtstatbestandes“, also ein besonderes Element neben dem Vorsatz, der das allen Vorsatzdelikten gemeinsame hauptsächliche subjektive Unrechtselement bildet12 – eine Stellung, welche der Dogmatik in den deutschsprachigen Ländern und in den von ihr am meisten beeinflussten Ländern entspricht. Bevor man zu Schlussfolgerungen allgemeiner Art übergeht, muss man die unterschiedlichen Methoden, deren sich der Gesetzgeber zur Typisierung der Zielsetzung des Handelnden bei der Aufstellung der verschiedenen gesetzlichen Tatbestände bedient, gründlich analysieren und die Merkmale, durch welche sie sich von benachbarten Straftatkategorien unterscheiden, herausarbeiten.
III. Verschiedene Typologien von Straftaten mit spezifischem Vorsatz und benachbarte Kategorien Das kennzeichnende Merkmal, das die Straftatbestände mit „spezifischem Vorsatz“ gemeinsam haben und das sie von anderen unterscheidet, welche benachbarten Kategorien angehören, jedoch strukturelle Übereinstimmungen aufweisen können, ist die ausdrückliche Typisierung einer teleologischen Zweck-Mittel-Beziehung zwischen der Verhaltensweise (bzw., wie sogleich ausgeführt werden wird, der Grundhandlung) – deren objektive Verwirklichung den Augenblick der Vollendung der Straftat bezeichnet – und der spezifischen Zielsetzung des Handelnden, die jedoch objektiv nicht verwirklicht worden sein muss, da es für die formelle Vollendung der Straftat ausreicht, dass sie mit dem in der Norm aufgeführten „Mittel“ verfolgt worden ist. Die konkrete gesetzliche Formulierung der Tatbestände mit spezifischem Vorsatz lässt jedoch eine Vielfalt von unterschiedlichen Situationen sichtbar werden, sei es aufseiten der objektiv geforderten, auf die Verfolgung des Zieles gerichteten Verhaltensweise bzw. Grundhandlung (dazu Abschn. 1.; im Folgenden wird i. d. R. nur der weitere Begriff „Grundhandlung“ verwendet), die nicht mit der tatbestandsmäßigen Handlung gleichgesetzt werden darf, sei es aufseiten des Inhaltes bzw. Objekts der Zielsetzung selbst (dazu Abschn. 2.), die daher einzeln betrachtet werden sollen. 1. Merkmale der Grundhandlung Betrachtet man zunächst die Seite der Grundhandlung, so müssen vorab die Fälle, in denen der Gesetzgeber nur eine Handlung oder Unterlassung im eng verstandenen 12 Donini, Verbrechenslehre. Eine Betrachtung aus der Sicht des italienischen Strafrechts, 2005, S. 95 f.; ders., Il volto attuale dell’illecito penale, 2004, S. 200 f., 216 in enger Anlehnung an die herrschende deutsche Straftatsystematik.
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Sinne verlangt, mit der die spezifische Zielsetzung korreliert (z. B. die „Wegnahme“ der beweglichen Sache in § 242 StGB), von denjenigen unterschieden werden, in denen er eine umfassendere Grundhandlung beschreibt, die durch weitere Elemente im Hinblick auf das Verhalten gebildet wird. a) Die Grundhandlung der Straftaten mit spezifischem Vorsatz Häufig beschreibt der Gesetzgeber als Mittel zur Verfolgung der spezifischen Zielsetzung statt eines Verhaltens auch einen Vollendungserfolg, der von dem Handelnden objektiv verursacht worden sein muss, um ihn verfolgen zu können, wie es z. B. beim Tatbestand des Versicherungsbetruges nach Art. 642 c.p. geregelt ist, der mit der tatsächlichen Beschädigung der versicherten Sache (wie nach § 265 StGB) oder der Verschlimmerung der erlittenen Verletzungen vollendet ist. In anderen Fällen verlangt die gesetzliche Regelung, dass mehrere Handlungen, welche auf das Ziel gerichtet sind, seitens des Täters begangen werden, wie das „Gebrauch-machen“ von der falschen Privaturkunde nach ihrer Herstellung oder nach der Veränderung der echten Privaturkunde (nach Art. 485 c.p., der sich in diesem Punkt von dem „vorverlagerte“ Vollendungsmoment des § 267 StGB unterscheidet), oder auch, dass seitens dritter Personen eine Handlung begangen wird, wie im Falle der Annahme des Geldes oder des Versprechens seitens des bestechlichen öffentlichen Amtsträgers, wie es für die Vollendung des Delikts der vorhergehenden aktiven Bestechung seitens des Bestechenden selbst gefordert wird (anders als der in §§ 333 und 334 StGB „vorverlagerte“ Vollendungsmoment des bloßen Anbietens), der mit der „weiteren“ Zielsetzung handelt, dass seitens des betreffenden Amtsträgers eine Amtshandlung unterlassen oder eine gegen die Amtspflicht verstoßende Handlung begangen wird (Art. 320 c.p. i.V.m. Art. 319 c.p., die unter diesem Aspekt den genannten deutschen Straftatbeständen ähnlich sind; auf diese Straftat wird unten in Abschn. V noch zurückzukommen sein). Es gibt aber auch Fälle, in denen eine Tätigkeit des Opfers hinzutreten muss, wie z. B. seine Vermögensverfügung im Falle des Tatbestandes der Hintergehung hilfloser Personen nach Art. 643 c.p., der in dieser Hinsicht eine ähnliche Struktur wie derjenige des Betruges nach § 263 StGB besitzt. Schließlich kann zur Verfolgung des Zieles die „Teilnahme“ und die Tätigkeit weiterer Mitglieder gefordert sein, durch die eine kriminelle Vereinigung wie diejenige „zur Begehung von Straftaten“ (Art. 416 c.p., der in diesem Punkt dem § 129 StGB sehr nahe kommt) oder „mafioser Art“ (Art. 416bis c.p.) oder anderer Art gebildet wird und fortdauert [zu diesen besonderen Straftaten s.u. 2. d)]. In allen diesen Fällen verlangt das Gesetz, dass auch diese Handlungen und Verhaltensweisen, die sich vom anfänglichen Verhalten des Täters unterscheiden, in der vom Tatbestand beschriebenen teleologischen Verknüpfung als „typische Mittel“ zur Verfolgung des von ihm beschriebenen Zieles stehen, dessen Gegenstand also über den Vollendungserfolg oder über die genannten Handlungen hinausreicht, welche
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sich an das Verhalten anschließen und einen autonomen Willensentschluss, mitunter anderer Personen als des Handelnden, mitunter sogar des Opfers, erfordern. Deswegen erscheint es bereits angesichts dieser Eigenheit unlogisch, die tatbestandlich beschriebene Zielsetzung als Ausdruck eines vornormativen Begriffs des „Handlungszieles“ anzusehen, der auf eine innerliche Eigenheit menschlichen Handelns überhaupt zurückgeführt werden könne. b) Die strukturelle Unterscheidung des Tatbestandes mit spezifischem Vorsatz vom Versuch und von den Unternehmensdelikten Angesichts der Vielfalt der Merkmale, welche das objektive Verhalten oder die Grundhandlung der Tatbestände mit spezifischem Vorsatz annehmen können, erscheint ihre Struktur auf alle Fälle wohlunterschieden von derjenigen des Versuchs einerseits und der sog. Unternehmensdelikte andererseits, welche zwar offenkundig gemeinsame Züge aufweisen, jedoch keineswegs mit den ersteren verwechselt werden dürfen, wozu bei einem – auch angesehenen – Teil der italienischen13 und deutschen14 Lehre und derjenigen anderer Länder15 eine Neigung besteht. Beim Versuch und bei den Unternehmensdelikten bestimmt die Norm noch nicht in abstracto den genauen Moment, von dem man sagen könnte, dass nun die Schwelle der Strafbarkeit des einzelnen versuchten Delikts (dessen objektive und subjektive Requisiten im Allgemeinen Teil des Gesetzbuches aufgeführt sind: „Geeignetheit“ und „unmissverständliche Richtung“ auf die Begehung der Straftat im Sinne des 13 Marinucci/Dolcini (Fn. 8), S. 577, mit Verweisung an Delitala, Il „fatto“ nella teoria generale del reato, 1930, S. 132, der von Delikten, die durch Erfüllung von Versuchsmerkmalen vollendet sind („reati che si perfezionano con gli estremi del tentativo“), sprach. 14 Trotz der deutlichen Unterscheidungen von Binding, Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts, 2. Aufl., Band 2, Hälfte 2, 1916, § 140, S. 1158 f., war seit den Werken von Mezger, GS 89 (1924), S. 207 f., 262 f. und Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems. Eine Einführung, 1951, 4. Aufl., 1961; ders., Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung, 11. Aufl., 1969, insbes. S. 65 f., die Struktur der Absichtsdelikte der des Versuchs im Grunde gleichgestellt, indem die vorpositive „subjektive Steuerung“ der Handlung durch den Täter den Vorrang vor der normativen Tatbestandsgestaltung bekam. Demselben Missverständnis scheint auch Maiwald, ZStW 106 (1994), 908 – 909 in seiner sonst vorzüglichen Besprechung meines Buchs erlegen zu sein. 15 Damals beeinflusste Mezger (auch durch die spanische Übersetzung seines Lehrbuchs durch Rodríguez Muñoz im Jahre 1935, 2. Aufl. 1955) die Entwicklung der spanischen Lehre (s. Polaino Navarrete, Los elementos subjetivos de lo injusto en el codigo penal español, 1972, Mir Puig, Derecho penal. P. gen., 9. Aufl. fortg. von Gomez Martin, 2011, S. 278 f., Quintero Olivares/Morales Prats/Prats Canut, Manual de Derecho penal, P. gen., 1999, S. 350) und auch diejenige Südamerikas, wie das berühmte Lehrbuch von Jimenez De Asua, Tratado de derecho penal, III, 3. Aufl., 1965, S. 825 f., zeigt; ähnlich befolgt ein „neoklassisches“ Straftatsystem Zaffaroni/Alagia/Slokar, Derecho penal. P. gen., 2. Aufl., 2002, S. 542 f. m. w. N.
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Art. 56 c.p.; „Unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes nach seiner Vorstellung“ im Sinne des § 22 StGB) oder des Unternehmens erreicht sei. Hingegen ist bei den Delikten mit spezifischem Vorsatz der Augenblick der formellen Vollendung stets durch den Straftatbestand des Besonderen Teils selbst genau festgelegt, denn er fällt – gemäß den oben erwähnten Schemata der Zweck-MittelVerknüpfung – mit der Vollendung der Grundhandlung zusammen. Zusammengefasst: Von einer Vorverlegung der Strafbarkeit kann man bei den zuletzt genannten Delikten nur im Hinblick auf die tatsächliche Erreichung des Zieles des Handelnden sprechen (sog. materielle Beendigung), das über das genannte formelle Vollendungsmoment hinausgeht; doch diese Vorverlegung hat auf der Tatbestandsebene eine selbständige und unterschiedliche Bedeutung für den Eintritt der Verletzung und für das Strafmaß gegenüber der Vorverlegung der Strafbarkeit, mit der man es kraft gesetzlicher Definition beim Versuch im Verhältnis zur formellen Vollendung der Straftat zu tun hat, deren Strafe daher gemildert werden muss (so Art. 56 c.p.) oder kann (so § 23 StGB). Dieselbe Struktur und dieselben Requisiten wie beim versuchten Delikt sind im Wesentlichen für die Unternehmensdelikte kennzeichnend16, bei denen der Gesetzgeber als vollendete Delikte solche „Handlungen“ bestraft, welche bloß auf die Verwirklichung eines vom Tatbestand beschriebenen Erfolges oder Endergebnisses gerichtet sind oder sogar nur zu der Vorbereitung dieses Erfolges oder Endergebnisses dienen, dessen objektive Verwirklichung für die Strafbarkeit des Delikts nicht erforderlich ist. Soweit es hier interessiert, ist in diesen Unternehmenstatbeständen praktisch niemals der jeweilige Vollendungsmoment ausdrücklich im Straftatbestand benannt, wie es im Gegensatz dazu bei den Tatbeständen mit spezifischem Vorsatz der Fall ist – mit der wichtigen praktischen Konsequenz, dass der Versuch mit ihrer Struktur vollständig vereinbar ist und daher die Strafbarkeit unter diesem Gesichtspunkt möglich ist, während sie bei den Unternehmensdelikten nicht einmal begrifflich formuliert werden kann, denn die Handlungen, welche sie erfüllen würden, werden vom Gesetzgeber bereits als ausreichend angesehen, um sie als vollendete Delikte zu bestrafen17. Die positivrechtliche Bestätigung des gesetzlichen Strukturunterschiedes zwischen versuchtem Delikt und Unternehmensdelikt einerseits und Delikten mit spezifischem Vorsatz andererseits ergibt sich aus der möglichen „Kumulierung“ der bei-
16 Jescheck (Hrsg.), Die Vorverlegung des Strafrechtsschutzes durch Gefährdungs- und Unternehmensdelikte, 1987; Weigend, in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Deutschland und Japan, 1989, S. 119; in der ital. Lehre: Gallo, Ettore, Attentato (delitti di) in: Dig. Disc. Pen. I (1987), S. 340; Bricola, Teoria generale del reato, in: Noviss. Dig. It., XIX (1973), S. 7. 17 Vgl. § 11 I Nr. 6 StGB; schon Binding (Fn. 14), S. 1166 f.; H. Schröder, FS Kern, 1957, S. 457 f.; und s. o. II. 2.
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den gesetzlichen Formulierungstechniken in einem einzigen Fall bzw. Straftatbestand. Dies ist der Fall beim Versuch eines Delikts mit spezifischem Vorsatz, der, wie gesagt, zweifelsfrei konstruierbar ist und dessen Anwendung in der Rechtsprechung auch durchaus üblich ist, wobei die Handlungen, welche auf seine Begehung gerichtet sind, auch noch teleologisch als Mittel auf das darüber hinaus verfolgte Ziel der Täters bezogen sein müssen (zu denken ist an den Versuch des Diebstahls nach Art. 56, 624 c.p., §§ 22, 242 StGB); oder wenn der Gesetzgeber ausdrücklich eine spezifische Zielsetzung des Handelnden mit einer Grundhandlung in Beziehung setzt, welche nach dem Modell des Unternehmensdelikts typisiert ist (die Begehung der gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit „gerichteten Handlungen“), und überdies teleologisch instrumentell für die Erreichung des vom Täter darüber hinaus verfolgten Zieles des Terrorismus bzw. des „Umsturzes der verfassungsmäßigen Ordnung“ (nach Art. 280 c.p.) sein muss18. Seine Verwirklichung darf aber nicht mit der Verursachung des realen Körperverletzungs- oder Todeserfolges beim Opfer verwechselt werden. c) Tatbestände, in denen die Grundhandlung bereits eine andere Straftat darstellt In einigen Fällen von Straftaten mit spezifischem Vorsatz kann die Grundhandlung schon für sich alleine eine andere vollendete Straftat darstellen, welche unabhängig von der Verfolgung der Zielsetzung bereits strafbar ist. In diesen Fällen pflegt man zu sagen, die weitere Zielsetzung des Handelnden besitze eine bloße Spezialisierungsfunktion gegenüber der nicht finalistisch geprägten Handlung, indem sie deren rechtliche Objektivität (d. h. den Typus des verletzten Rechtsgutes) und infolge dessen auch die Strafe abändere19. In beiden Fällen bleibt jedoch der Vollendungszeitpunkt identisch. Emblematisch sind insoweit die Straftaten gegen die persönliche Freiheit. Die Freiheitsberaubung „zum Zwecke der Erpressung“ (Art. 630 c.p.), die zu den Straftaten gegen das Vermögen mittels Gewalt gehört (Titel XIII Kap. II), und diejenige „mit der Zielsetzung des Terrorismus oder des Umsturzes der demokratischen Ordnung“ (Art. 289 bis c.p.), die im Gegensatz dazu zu den Straftaten gegen die in18
Dazu Pelissero, Reato politico e flessibilità delle categorie dogmatiche, 2000, insb. S. 234 f. Vgl. auch das Delikt des Völkermordes – mit vorverlegter Vollendung (Art. 1 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 9. Oktober 1967, Nr. 962): hierzu bereits Grasso, Genocidio, in: Dig. disc. pen. V, 1991, S. 406. 19 Nahezu die gesamte italienische Lehrbuchliteratur schlägt dies nach dem Vorgang von Angioni Mauro, La volontarietà del fatto nei reati. Contributo alla nozione di „dolo“ (1923), 1927, S. 186 f., vor, der in Auseinandersetzung mit Manzini den konstitutiven Vorrang des spezifischen Vorsatzes forderte, womit diesem nur noch ein kleiner Rest an spezialisierender Bedeutung geblieben wäre.
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nere Persönlichkeit des Staates zählt (Titel I, Kapitel II), werden mit Freiheitsstrafe von 25 bis zu 30 Jahren bestraft. Hingegen ist die gewöhnliche Freiheitsberaubung „mit allgemeinem Vorsatz“ (Art. 605 c.p.), für die also keinerlei spezifische Zielsetzung verlangt wird, bei den Straftaten gegen die Person (Titel XII) und im Besonderen gegen die individuelle Freiheit (Kapitel I) eingeordnet und wird mit der deutlich geringeren Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren bestraft. In allen drei Fällen fällt der Vollendungszeitpunkt mit dem in Art. 605 c.p. formulierten Zeitpunkt („jemanden der persönlichen Freiheit berauben“) zusammen. Ungeachtet der Identität der vollendeten Grundhandlung nimmt die „spezialisierende“ Funktion, welche die Zielsetzung des Handelnden in den beiden anderen Tatbeständen besitzt, auf der Ebene der strafrechtlich relevanten Verletzung außergewöhnliche Bedeutung an20 – sie bezeichnet nicht nur unterschiedliche und weit voneinander entfernte Rechtsgüter, wie die jeweilige Positionierung in unterschiedlichen Titeln des Gesetzbuches beweist, sondern wirkt darüber hinaus auch in empfindlicher Weise auf die Bewertung der Schwere der Straftat ein, was positivrechtlich seinen Ausdruck in den oben zitierten Niveaus der Strafdrohung findet, welche deutlich höher liegen als dasjenige der einfachen Freiheitsberaubung mit sog. generischem Vorsatz. Spiegelbildlich gilt diese Betrachtung auch in den Fällen, in denen die spezifische Zielsetzung eine den Täter begünstigende Wirkung auslöst, indem sie die Straftat von anderen, die verletzungsintensiver sind, unterscheidet – wie im Fall des „Zwecks“, von der weggenommenen Sache „sofortigen Gebrauch zu machen“ bei den Delikten des Gebrauchsdiebstahls (Art. 626 Abs. 1 Nr. 1 c.p.)21, der Gebrauchs-Amtsunterschlagung (Art. 314 Abs. 1 c.p.) oder im Falle der Zielsetzung, „die Mutter zu unterstützen“, beim Tatbestand der Kindestötung in einer Lage materieller und moralischer Verwahrlosung (Art. 578 Abs. 2 Teil 2 c.p.), welche geringere Strafe als die der vorsätzlichen Tötung nach sich zieht. Es erscheint daher unlogisch, die spezifische Zielsetzung nur deshalb, weil die Grundhandlung bereits als solche strafrechtliches Unrecht darstellt, zu einer marginalen Funktion zu verdammen, so als ob sie sich nicht in empfindlicher Weise auf die tatbestandliche Ausgestaltung der Straftat auswirken würde und nicht Probleme der Vereinbarkeit mit dem Schädigungsgrundsatz aufwürfe, die sich normalerweise nur mit Bezug auf Straftaten einstellen, in denen die Zielsetzung eine als „konstitutiv“ bestimmte Funktion im Hinblick auf eine Grundhandlung ausübt, welche andernfalls als solche strafrechtlich bedeutungslos wäre [dazu unter e)]. 20
Zu diesem Punkt vgl. übereinstimmend Brunelli, Il sequestro di persona a scopo di estrosione, 1995, S. 250 f., Pelissero (Fn. 18), S. 232 f. 21 Zur konstitutiven Funktion der von diesem Tatbestand vorgesehenen spezifischen Zielsetzung vgl. die die Bedeutung des Schuldprinzips betonende Entscheidung des ital. Verfassungsgerichts vom 13. 12. 1988, Nr. 1085, in: Riv. it. dir. proc. pen., 1990, S. 289 f. (Anm. Veneziani).
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Mehr noch: Gerade weil die Grundhandlung bereits für sich allein ein anderes vollendetes Delikt darstellt, zeigen und „messen“ die hier betrachteten Straftaten mit spezifischem Vorsatz besonders deutlich die Wirkung der typischen Zielsetzung, welche eine Änderung der Natur des verletzten Rechtsgutes und auch noch der Höhe der Strafe mit sich führt. Zugleich bestätigen diese Tatbestände mit spezifischem Vorsatz die Unterschiedlichkeit der normativen Struktur im Vergleich mit dem Versuch und mit den Unternehmensdelikten, von denen bereits die Rede war [o. b)], denn sie umschreiben vollständig alle objektiven Elemente, deren Verwirklichung für die Vollendung notwendig und ausreichend ist, in denselben Begriffen wie eine entsprechende Straftat mit „generischem“ Vorsatz. Deshalb ist in Lehre und Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass ihr Versuch begrifflich denkbar und tatsächlich strafbar ist. d) Tatbestände, in denen die Grundhandlung für sich allein nicht strafbar wäre In anderen recht häufigen Fällen mit spezifischem Vorsatz verlangt der Gesetzgeber eine Grundhandlung, die für sich allein strafrechtlich insoweit nicht relevant ist, als sie keine Straftat und häufig nicht einmal irgend ein anderes Unrecht anderer Natur darstellen würde, wenn es nicht die im Straftatbestand beschriebene spezifische Zielsetzung des Handelnden gäbe. Die Lehre hat innerhalb dieser Deliktskategorie zwei verschiedene Konstellationen unterschieden. aa) Der erste und häufigste Fall ist derjenige, bei dem die Grundhandlung zwar für sich allein noch nicht selbständig strafbar ist, jedoch eine innere „Gefährlichkeit“ oder Nähe zur Verletzung des geschützten Rechtsgutes aufweist, da sie eine deutliche Richtung bzw. Potentialität oder doch zumindest einen vorbereitenden Inhalt im Hinblick auf seine (mehr oder minder nahe) Verletzung besitzt. Die spezifische Zielsetzung gewinnt damit eine Funktion konkreter Präzisierung und – für einige Autoren22 – Selektion der strafbaren Handlungen gegenüber dem weiteren Kreis von Grundhandlungen, die bereits abstrakt symptomatisch für die mögliche Verletzung sind, deren strafrechtliche relevante Sphäre sie einschränkt, indem sie sie auf jene begrenzt, die von der betreffenden Zielsetzung getragen sind. Es muss freilich eingewendet werden, dass es keinerlei positivrechtlichen Anhaltspunkt für die Ansicht gibt, dass bereits das Handlungsunrecht als solches auch unabhängig von der Typisierung der Zielsetzung strafwürdig mache, welche der Gesetzgeber ja vielmehr gerade deshalb gewollt hat, weil er die Tat von anderen, nicht strafbaren Taten unterscheiden wollte. 22 Mazzacuva, Il disvalore di evento nell’illecito penale, 1983, S. 219 f., 223; Angioni Francesco, Contenuto e funzioni del concetto di bene giuridico, 1983, S. 116 – 117; Oehler, Das objektive Zweckmoment in der rechtswidrigen Handlung, 1959, S. 79 f.
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Auch trifft es nicht immer zu, dass es eine Homogenität bzw. einen Verletzungsfortschritt zwischen der angeblichen Gefährlichkeit oder Symptomeigenschaft der Grundhandlung und der Verletzung des zu schützenden Interesses gebe, auf welche der Inhalt des spezifischen Zieles hinweise, denn dieses kann gegenüber der ersteren auch gänzlich entlegen sein23. bb) In anderen, selteneren Fällen wurzelt die vom Gesetzgeber formulierte spezifische Zielsetzung in Grundhandlungen, die an sich erlaubt sind oder doch als „neutral“ im Hinblick auf die Verletzung eines Rechtsgutes angesehen werden können – weswegen die strafrechtliche Relevanz und der Unwert der Straftat einzig und allein von der vom Täter verfolgten Zielsetzung abhängig zu sein scheinen. Dies ist der Fall des Delikts des Verbreitens von Informatikgeräten, -vorrichtungen und -programmen, mit denen ein digitales oder telematisches System beschädigt oder unterbrochen werden soll (Art. 615 quinquies c.p.); hier erfüllen Verhaltensweisen, welche völlig üblich und an sich erlaubt sind – wie das „Besorgen, Hervorbringen, Einführen, Aushändigen, Zur-Verfügung-stellen usw.“ der besagten, ebenfalls erlaubten, Gegenstände (Informatikgeräte, -vorrichtungen oder -programme) – dennoch den Tatbestand, wenn sie „zum Zwecke der widerrechtlichen Beschädigung eines Informatik- oder Telematiksystems oder der in ihnen enthaltenen Informationen, Daten oder Programme usw.“ begangen werden24. Dieselbe Zuordnung kann für die sog. „reinen“ Vereinigungsdelikte vorgenommen werden, d. h. für diejenigen Delikte, die durch keinerlei weiteres Unrechtselement gekennzeichnet sind als das der typisierten Zielsetzung, das sich in der gewöhnlichen kriminellen Vereinigung i.S.d. Art. 416 c.p. findet [s.u. 2. d)].
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s. z.B. die im Tatbestand der „Ausnutzung eines Amtsgeheimnisses“ (Art. 326 Abs. 3 c.p. eingeführt durch das Gesetz von 26. 04. 1990, Nr. 86, mit dem Ziel, die Betrügereien in Ausschreibungsverfahren zu bekämpfen) geforderte Zielsetzung „sich oder anderen widerrechtlich einen Vermögensvorteil zu verschaffen“, oder – im weniger schweren Fall des zweiten Halbsatzes – „sich oder anderen widerrechtlich einen anderen Vorteil zu verschaffen“, auf das sich das Verhalten dessen stützen muss, der „sich rechtwidrig amtlicher Aufzeichnungen, welche geheim bleiben müssen, bedient“, hat wenig mit einer Verletzung des Rechtsgutes „Geheimbereich der öffentlichen Verwaltung“ zu tun, der das im Wesentlichen bereits durch die Grundhandlung eingetretene Schutzobjekt sein müsste. In Wirklichkeit deutet daher die tatbestandliche Zielsetzung auf ein zum Teil unterschiedliches geschütztes Rechtsgut hin, nämlich die Unparteilichkeit der öffentlichen Verwaltung im wettbewerblichen Verfahren, welche mit dem Zuschlag verfolgt werden können, jedoch mit der Gefahr für das Amtsgeheimnis, welches Gegenstand des Grundverhaltens ist, nichts direkt tun zu haben. 24 Für einen kritischen Kommentar vgl. Picotti, Dir. pen. proc., 2008, S. 700 f. Anders lautet die Formulierung des neuen § 202c StGB, wodurch schon die bloße Vorbereitung des Ausspähens (§ 202a) und Abfangens von Daten (§ 202b) vor dem Stadium des Versuchs bestraft wird, aber die tatbestandsmäßige Handlung durch objektiv beschriebene Merkmalen typisiert ist.
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Bei dieser Tatbestandskategorie sind die Unsicherheiten der Lehre besonders groß, und einige Autoren halten sie sogar wegen Verletzung des Schädigungsprinzips für verfassungswidrig25. 2. Eigenschaften des spezifischen Zieles Wendet man sich nun der Untersuchung des vom Täter verfolgten spezifischen Zieles zu, so muss noch einmal gesagt werden, dass es einerseits ausdrücklich durch das Gesetz gefordert sein muss26 und dass es andererseits einen Erfolg bzw. – wie noch näher erläutert werden wird – eine „darüber hinausgehende“ Tätigkeit typisieren muss, die in einem auf die Grundhandlung folgenden Zeitpunkt nach der formellen Vollendung der Straftat, von der es sorgfältig zu unterscheiden ist, vorgenommen werden muss27. a) Zum Inhalt der Zielsetzung als „kupierter Erfolg“ eines Delikts bzw. als weiterer Akt eines „unvollständigen“ Delikts Die wichtigste und zugleich traditionelle Unterscheidung beim Inhalt der Zielsetzung, im streng positivrechtlichen Sinne der gesetzlichen Formulierungen, geht auf die Analyse von Karl Binding zurück28. Nach seiner klassischen Zweiteilung, die bis heute von der zeitgenössischen Literatur – nicht nur der deutschsprachigen – zugrunde gelegt wird, kann der Gegenstand der Zielsetzung vom gesetzlichen Tatbestand auf zweierlei Weise beschrieben werden, die in beiden Fällen nicht nur von dem Vollendungsmoment, sondern auch von den Fällen des Versuchs und der Unternehmensdelikten sorgfältig unterschieden werden müssen, bei denen nicht einmal die typisierte Grundhandlung begangen sein muss29. 25 Vgl. Marinucci/Dolcini (Fn. 8), S. 575 f.; und schon die Bemerkungen von Pedrazzi, Il fine dell’azione delittuosa, in: Riv. it. dir. pen., 1950, S. 349 f. und Molari, La tutela penale della condanna civile, 1960, insb. S. 86 f., die aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive entwickelt wurden von Bricola (Fn. 16), S. 87. 26 Deshalb darf man nicht von „impliziten“ Fällen spezifischen Vorsatzes reden; dazu Picotti (Fn. 2), S. 103 f. mit begründeter Ablehnung der Auffassung Mezgers, FS Träger, 1926, S. 187 f., 204 f. 27 Deshalb sind Fälle eines nur „scheinbaren“ spezifischen Vorsatzes, in welchen der Inhalt des beschriebenen Ziels mit dem der Grundhandlung übereinstimmt, von der Kategorie auszuschließen. Im Fall des § 2 Abs. 1 des Embryonenschutzgesetzes vom 13. 12. 1990 spricht auch F.-C. Schroeder, FS Lenckner, 1998, S. 333 f., 336, 341, von „Scheinabsichtsdelikt“ bzw. „Negativabsichtsdelikt“ („Verwendung zu einem nicht [der] Erhaltung [des Embryos] dienenden Zweck“). 28 Binding (Fn. 11), S. 1161 f.; ders., Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, BT, Band I, 2. Aufl. 1902, S. 11 f. Hegler, Festgabe für von Frank, 1930, I, S. 251 f., 310 f., sprach von „Erfolgsabsichtsdelikten“ und „Nachaktabsichtsdelikten“. 29 In der deutschen Lehre vgl. beispielhaft Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. 1996, S. 319; Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 84; in der italienischen
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In erster Linie kann die Zielsetzung ein Ereignis oder ein Endergebnis darstellen, das ursächlich auf die Grundhandlung zurückgeführt werden kann, so dass seine Herbeiführung kein weiteres Tätigwerden des Handelnden oder Dritter erfordert. Man spricht insofern von „kupierten Erfolgsdelikten“, deren klassisches Beispiel das „Erstreben eines rechtswidrigen Vermögensvorteils“ mittels der Täuschung, welche das Delikt des Betruges im Sinne des § 263 StGB bildet. Ebenso können aber auch alle Delikte gegen das Vermögen erwähnt werden, in denen gefordert wird, dass der Handelnde einen „Profit“ erstrebt, dessen objektiver Eintritt als Folge der Grundhandlung (bspw. infolge der benachteiligenden Handlung, welche der Täter gegenüber dem hilflosen Opfer nach Art. 643 c.p. begeht) jedoch nicht gefordert wird, sowie das Delikt der Fälschung von Privaturkunden, das begangen sein muss, „um sich oder anderen einen Vorteil zu verschaffen oder anderen einen Schaden zuzufügen“ [Art. 485 c.p.; dazu u. c) und o. 1. a)]. In einer zweiten Kategorie von Absichtsdelikten wird die Norm mit noch deutlicherer Vorverlegung gegenüber dem Zeitpunkt der sog. materiellen Vollendung bzw. tatsächlichen Beendigung der Straftat formuliert30, indem die Zielsetzung eine weitere Tätigkeit des Handelnden selbst oder Dritter zum Gegenstand hat, die nach der Durchführung der Grundhandlung, die ihnen „den Weg bahnt“, begangen werden muss. Man spricht in diesen Fällen von „unvollkommen zweiaktigen Delikten“, deren Beispiel das Delikt der Münzfälschung, das die Zielsetzung des „In-Verkehr-bringens“ […] „von nachgemachtem oder verändertem Geld“ nach dem Verhalten des „Sich-Verschaffens“ oder des „Ankaufens“ (Art. 453 Nr. 4 c.p.; vgl. auch § 146 Abs. 1 Nr. 2 StGB) verlangt, oder auch die Delikte der vorhergehenden Bestechung, sowohl der eigentlichen wie der uneigentlichen, für die das Ziel, dass der korrupte öffentliche Amtsträger „eine Amtshandlung begeht“ (Art. 318 c.p.) bzw. „eine amtspflichtwidrige Handlung unterlässt, verzögert [..] oder begeht“ (Art. 319 c.p.; vgl. auch § 334 StGB), gefordert wird, oder schließlich das Delikt der kriminellen Vereinigung, für das die Zielsetzung, „mehrere Straftaten zu begehen“, verlangt wird (Art. 416 c.p.; vgl. auch § 129 StGB), oder dasjenige der mafiaartigen Vereinigung, wofür der umfassendere Zweck, alternativ zur Begehung von Straftaten eine Vielfalt anderer Tätigkeiten, auch solche, die an sich erlaubt sind, vorzunehmen (Art. 416 bis c.p.; dazu u. d) vorausgesetzt wird.
Marinucci/Dolcini (Fn. 8), S. 574; Mazzacuva (Fn. 22), S. 179; Pelissero (Fn. 18), S. 435; in der spanischen Cerezo Mir, Curso de derecho penal español, P. gen., 4. Aufl., 1994, S. 360 f.; in der südamerikanischen Zaffaroni/Alagia/Slokar (Fn. 15), S. 544. 30 Zum Unterschied zwischen formeller Vollendung und materieller (oder tatsächlicher) Beendigung s. Jescheck/Weigend (Fn. 29), S. 517; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 28. Aufl., 2010, Vor § 22, Rn. 2 – 11; Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1991, S. 705, der betont, dass Vollendung „ein formeller Begriff [ist], der über eine Gutsverletzung nichts aussagt“; Samson, JA 1999, 452.
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b) Zum an sich rechtswidrigen bzw. verletzenden Inhalt des Zieles Der größere Teil der Lehre, nicht nur der italienischen, scheint jedoch gegenüber einer Analyse der Normstruktur der beiderseitigen Inhalte einer Bewertung der spezifischen Zielsetzung an sich, welche die Grundhandlung „ausrichtet“, vorzuziehen; sie versucht also, aus ihr den Inhalt des Unrechts bzw. der Verletzung der gesamten Straftat zu ermitteln, während sie die Fälle, in denen dies nicht zu finden ist, kritisiert und mit Skepsis betrachtet. Aus dieser Sicht sind zwei entgegengesetzte Situationen unterschieden worden. Die erste soll darin bestehen, dass die Verwirklichung des Zieles als solches eine selbständige Straftat oder doch zumindest eine an sich widerrechtliche bzw. ungerechte Tat bedeute – nämlich dann, wenn es sich als ein strafrechtlich oder rechtlich oder auch nur sozial oder ethisch „negatives“ Ziel darstellt. Es verleiht der gesamten Handlung des Täters strafrechtliche Bedeutung und wird damit zu einem wesentlichen Element des Handlungsunrechts. Die zweite Situation soll hingegen dann vorliegen, wenn das Ziel an sich nicht einen rechtswidrigen Inhalt – weder einen strafrechtswidrigen noch einen rechtswidrigen Inhalt – aufweist, ja nicht einmal eine soziale oder ethische Ungerechtigkeit oder Vorwerfbarkeit, vielmehr ein Ergebnis oder eine Handlung zum Gegenstand hat, welche für sich betrachtet erlaubt oder „neutral“ oder geradezu „positiv“ und „richtig“ sind. Im ersten Falle würde sich danach die Funktion der Zielsetzung darauf beschränken, die vollständige Realisierung der Rechtsgutsverletzung vorzuverlegen, wozu eine (bereits o. 1. b) kritisierte) Assimilierung an das Modell des Versuchs bzw. der Unternehmensdelikte vorgenommen wird. Innerhalb dieser Gruppe von Absichtsdelikten31 sollen nun – nach den Ausführungen von Zimmerl, die nach vielen Jahren von Oehler in der „umgekehrten“ Sicht, welche die Inhalte der Zielsetzung als Eigenschaften des Verhaltens selbst ansieht, wieder aufgegriffen wird32 – die Fälle, in denen die Handlung objektiv eine konkrete Gefahr für das geschützte Rechtsgut bedeutet und bei denen es keine wirklichen Pro31 Die Zimmerl, Zur Lehre vom Tatbestand. Übersehene und vernachlässigte Probleme, 1928, S. 39 – 40 f. als diejenige der „echten Absichtsdelikte“ bezeichnete, bei denen die Zielsetzung durch das objektive Verhalten (mit dem sie ein Ganzes bilde) bereits die vorweggenommene „teilweise Typisierung“ der Verletzung des Rechtsgutes enthalte – wie im Falle der „Zueignungsabsicht“, die von der „Wegnahme“ getragen sein müsse, um den Tatbestand des Diebstahls nach deutschem und nach österreichischem Recht zu erfüllen. Zur Betonung in dessen Stellungnahme auch der geschichtlichen Lage und Besonderheiten der österreichischen Gesetzgebung und Literatur vgl. Picotti (Fn. 2), S. 390 f., insb. mit Hinweis auf die „objektivistische“ Regelung der Teilnahme und des Versuchs durch das öStGB (s. auch die heutige Formulierung der §§ 12 und 15) und auf das bestimmende Werk von Rittler, Lehrbuch des österreichischen Strafrechts, 4. Aufl. 1954, das der Beling’schen Lehre nahestand. Dazu die klare Stellungnahme auch von Engisch, FS Rittler, 1957, S. 165 f. 32 Oehler (Fn. 22), S. 80.
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bleme der Vereinbarkeit mit dem Schädigungsgrundsatz gibt, von jenen unterschieden werden, in denen das für sich allein schon „offensive“ Ziel in einer Handlung wurzelt, die an sich neutral oder doch wenigstens kein Ausdruck von Gefährlichkeit für das geschützte Rechtsgut ist, weshalb es „gänzlich“ das Tatbestandsunrecht begründen und dessen ganzes Schadensgewicht zum Ausdruck bringen soll. Zu diesen letzten Fällen erhebt sich besonders heftige Kritik in der Lehre, vor allem der italienischen, welche – wie schon erwähnt – auf die Einhaltung der Forderung objektiver Schädlichkeit der Straftat schaut [oben 1. c)]33. Daher schlagen einige Autoren sogar vor, im Wege der Interpretation ein Requisit der Geeignetheit der Handlung zur Verwirklichung des angestrebten Zieles zu ergänzen, das in den betreffenden Straftatbeständen nicht verlangt wird, jedoch aus der allgemeinen Regelung des Versuchs in unserem Strafgesetzbuch bekannt ist [oben 1. d)]. Nun gibt es aber keine gesetzlichen Angaben, welche zu einer solchen analogen Erstreckung, wenn auch in bonam partem, ermächtigen; während aus dogmatischer Sicht die geforderte „Geeignetheit“ der Handlung zur Erreichung der Zielsetzung des Handelnden nicht mit der Eignung der Handlung zur Erreichung der Vollendung der Straftat vermengt werden darf, denn der Inhalt der subjektiven Zielsetzung fällt, wie gesehen, überhaupt nicht mit der objektiven Schädigung des Rechtsgutes zusammen, da es sich um unterschiedliche Wertungsebenen handelt. Nur in der teleologischen Beziehung mit der Grundhandlung, wie sie vom positiven gesetzlichen Straftatbestand objektiv typisiert ist, kann von dem „Ziel der Handlung“, genauer gesagt: des Handelnden als ihres speziellen Täters, gesagt werden, dass es zur Bestimmung des Inhaltes der Straftat beitrage, und erst als Folge dessen derjenigen der strafbaren Gutsverletzung – keineswegs aber, indem man die Rolle einer eigenständigen inneren psychischen Realität annimmt, welche auf einer vornormativen Ebene für sich allein bereits in der Lage sei, den inneren Handlungs-„Unwert“ oder gar den Intentionsunwert der Straftat als solcher zu erklären34. c) Tatbestände, in denen die Zielsetzung des Handelnden als solche rechtmäßig oder zu einer anderen an sich rechtswidrigen Zielsetzung alternativ ist Diese Folgerung wird bestätigt durch die Betrachtung der nicht seltenen Tatbestände, in denen als Gegenstand der Zielsetzung alternativ entweder ein Erfolg oder weiterer Akt typisiert ist, der schon als solcher rechtswidrig oder schädlich 33 Marinucci/Dolcini (Fn. 8), S. 578, Mantovani Ferrando (Fn. 8), S. 219, Palazzo (Fn. 8), S. 280. 34 Zur langen Debatte in der deutschen Lehre über den Vorrang des einen bzw. des anderen, auf jeden Fall beides für bedeutsamer haltend als den Erfolgsunwert, vgl. insb. Zielienski, Handlungs- und Erfolgsunwert. Untersuchungen zur Struktur von Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluss, 1973; Jakobs (Fn. 30), S. 164 f. In der italienischen Literatur s. die kritische Darstellung von Mazzacuva (Fn. 22).
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ist, oder ein Erfolg oder weiterer Akt, der an sich erlaubt ist, und beide vom Gesetzgeber, was die gesetzliche Typisierung der Verletzung des geschützten Rechtsgutes angeht, offenkundig als gleichwertig angesehen werden. Das deutlichste Beispiel, aus dem hervorgeht, dass die Verfolgung eines an sich erlaubten Zieles doch in entscheidender Weise zur Typisierung des strafrechtlich relevanten Schadens beiträgt, bildet das erwähnte Delikt des Versicherungsbetrugs nach Art. 642 c.p. (vergleichbar mit dem Versicherungsmissbrauch des § 265 StGB). Das Ziel, „für sich oder andere die Entschädigungsleistung einer Versicherung oder zumindest einen Vorteil zu erlangen“, ist erkennbar im Sinne der Rechtmäßigkeit formuliert, und es steht darüber hinaus auch noch in Verbindung mit einer Grundhandlung, die isoliert betrachtet ebenfalls erlaubt und unschädlich wäre, denn sie besteht in der Zerstörung oder Beschädigung einer „eigenen“ Sache oder in der Selbstverletzung der „eigenen“ Person. In dem Maße freilich, in dem diese Grundhandlung zum Werkzeug jenes Zieles wird, wird sie auch strafrechtlich relevant, denn sie verletzt offenkundig die Bedingungen und die „causa“ des zugrunde liegenden Versicherungsvertrages35. Die strafrechtlich relevante Schädigung des Rechtsgutes ergibt sich erst, wenn man den gesamten gesetzlichen Tatbestand vollständig betrachtet, insbesondere die teleologische Verknüpfung des Zieles mit der Grundhandlung, wie sie vom Gesetzgeber als typisiertes Instrument für die Verfolgung des Zieles beschrieben ist36. Daraus folgt: Auch das anscheinend nicht schädliche oder an sich erlaubte Ziel, das in zahlreichen gesetzlichen Tatbeständen anzutreffen ist – einschließlich derjenigen, in denen es eine den Handelnden begünstigende Wirkung bewirkt, da es zu einer weniger strengen Behandlung als derjenigen führt, welche andernfalls für die Grundhandlung, die als solche eine schwerere Straftat bilden würde, vorgeschrie35
Als weiteres Beispiel diene das bereits erwähnte Delikt der falschen Privaturkunde (Art. 485 c.p.), dessen Straftatbestand alternativ verlangt, dass der Täter handelt, „um sich oder einem anderen einen Vorteil zu verschaffen oder einem anderen einen Schaden zuzufügen“, oder das Delikt der mafiaartigen Vereinigung (Art. 416 bis c.p.), das alternativ zu den schon an sich rechtswidrigen Zwecken, „Straftaten zu begehen“ oder „sich rechtswidrige Vermögensvorteile zu verschaffen“ usw., als gleichwertig an sich erlaubte Zwecke angibt [vgl. unten d)]. 36 Das Zusammentreffen der beiden behaupteten Modelle des sog. echten und des sog. unechten Absichtsdelikts in einem und demselben Tatbestand, das zweifellos einen einheitlichen Schadensgehalt zum Ausdruck bringen soll, belegt die dogmatische Bedeutungslosigkeit der von in der Lehre vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen „schädlichen“ und „unschädlichen“ Zielen. Zimmerl (Fn. 18), S. 41, meinte, dass bei „unechten“ Absichtsdelikten dem rechtsgutsverletzenden Charakter der Tat durch das Objekt der Absicht nichts hinzugefügt werde; deshalb sollte sie zur Schuld, nicht zum Unrecht zugeordnet werden. Dagegen meint Jakobs (Fn. 30), S. 308, dass z. B. „auch alle Vorteilabsichten, bei denen der Vorteil deliktsspezifisch begrenzt ist, etwa die stoffgleiche Bereicherung bei der Hehlerei (§ 259 StGB) […]“ zum Unrecht gehören („subjektive Unrechtselemente in engeren Sinn“), weil dadurch aus dem Kreis der Verletzungshandlungen „die sozial unerträglichen und deshalb unrechten Handlungen“ bezeichnet werden.
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ben wäre [oben 1. d)] – bildet einen typisierenden Beitrag zur gesetzlichen Umschreibung der tatbestandsmäßigen Handlung und damit zum Inhalt der Gutsverletzung, da es vom Gesetzgeber mit einer Grundhandlung, die für die rechtliche Bewertung von ihm nicht getrennt werden kann, teleologisch verknüpft ist, weshalb diese Verknüpfung in der dogmatischen Aufarbeitung besonders aufmerksam berücksichtigt werden muss. d) Die spezifische Zielsetzung bei den Vereinigungsdelikten Eine besondere Vertiefung verdienen schließlich die Vereinigungsdelikte, die meistens durch einen spezifischen Vorsatz charakterisiert sind. Man hat eingewendet, dass diese Tatbestände allein wegen der Zielsetzung bzw. des Zwecks, der die Vereinigung prägt, etwas bestrafen, was andernfalls als die Ausübung eines sogar verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechtes wäre37. Im Fall der sog. „reinen“ Vereinigungsdelikte, d. h. solcher nach dem Vorbild des Art. 416 c.p., der die kriminelle Vereinigung allein wegen der schon an sich rechtswidrigen Zielsetzung, „mehrere Verbrechen zu begehen“, mit Strafe bedroht, soll dem genannten Ziel eine eindeutig konstitutive Bedeutung für die Strafbarkeit zuerkannt werden – wie in mehreren Bereichen der organisierten Kriminalität, wo die Strafnorm den Bereich dieser Verbrechen im Einzelnen beschreibt und dementsprechend abgestufte Strafen androht38. Man betrachte als emblematisches Beispiel der anderen Gruppe der Vereinigungsdelikte „mit komplexerer Struktur“ das Delikt der mafiaartigen Vereinigung nach Art. 416 bis c.p. Der Tatbestand nennt als Inhalt der spezifischen Zielsetzung der Vereinigung Zwecke, welche – neben solchen Zielsetzungen, die schon an sich offenkundig rechtswidrig sind, wie „Straftaten zu begehen“, „rechtswidrige Profite oder Vorteile für sich oder andere zu erlangen“, „die freie Ausübung des Stimmrechts zu behindern oder zu verhindern“ – als solche auch erlaubt sein können, einige sogar mit jenen zusammenfallen, welche im Bereich des gewöhnlichen ökonomischen oder politischen Wettbewerbs angestrebt werden – zu denken ist an die Zielsetzung, „direkt oder indirekt die Führung oder zumindest die Kontrolle über ökonomische Tätigkeiten, über Konzessionen oder über öffentliche Ermächtigungen, Aufträge oder Dienstleistungen zu erlangen“ oder an den weiteren, in der politischen Ausein37 Bricola (Fn. 16), S. 87; darauf ist jedoch erwidert worden, dass der wortwörtliche Inhalt der Garantie des Art. 18 der italienischen Verfassung auf Vereinigungen beschränkt sei, welche „Ziele“ verfolgen, „die einzelnen Personen vom Gesetz nicht verboten sind“. Palazzo, Associazioni illecite e illeciti delle associazioni, in: Riv.it.dir.proc.pen., 1976, S. 418 f., 426; Angioni Francesco (Fn. 22), S. 106. 38 s. Spagnolo, L’associazione di tipo mafioso, 5. Aufl., 1997, S. 64 f. Als Beispiel s. die kriminelle Vereinigung zum Zweck des Handels mit Betäubungsmitteln, die die spezifische Zielsetzung „der Begehung mehrerer der in Art. 73 genannten Delikten“ (d. h. insb. widerrechtliches Erzeugen und Handeln: Art. 74 Verordnung des Präsidenten der Republik Nr. 309 vom 09. 10. 1990) verlangt.
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andersetzung üblichen Zweck, „sich oder anderen bei Wahlen Stimmen zu verschaffen“. Die Rechtswidrigkeit, welche die mafiaartige Vereinigung kennzeichnet, hängt nicht von dem Inhalt der von den Mitgliedern verfolgten Ziele als solcher ab, sondern von der Methode, mit der diese zwecks ihrer Verwirklichung tätig werden39. Der Tatbestand verlangt nämlich, dass die Beteiligten sich „der Bindung durch die Vereinigung und der daraus folgenden Lage der Unterwerfung und des Schweigegebotes bedienen“ (Art. 416 bis Abs. 3 c.p.), sei es im Hinblick auf als solche rechtswidrige Zwecke, sei es im Hinblick auf jene, die an sich als erlaubt erscheinen würden. Das gemeinsame Merkmal dieser beiden Grundmodelle von Vereinigungsdelikten ist aber die wesentliche Bedeutung, welche in beiden Fällen das finale Element besitzt. Entsprechend der Mehrpersonen-Struktur der Straftat verbindet die Zielsetzung die verschiedenen Verhaltensweisen der Mitglieder – Teilnehmen, Gründen, Fördern, Leiten, Organisieren usw. – durch eine gemeinsame teleologische Verknüpfung, denn um tatbestandsmäßig zu sein, müssen alle auf die Erreichung des Zieles gerichtet sein. Diese Konvergenz im Hinblick auf den gemeinsamen Zweck verlangt die Herausbildung instrumenteller innerer Beziehungen im Sinne von Kooperation, Arbeitsteilung, Koordinierung von Tätigkeiten mittels einer notwendigen Bestimmung, Verteilung und Übernahme von Rollen und Aufgaben, welche nicht nur das materielle Verschaffen von Mitteln und Organisationsstrukturen betrifft, sondern auch dazu führt, dass ein Freundschaftsbund von Personen geschlossen wird, der sich über lange Zeit erstreckt, um die gemeinsamen Interessen mit Merkmalen der Stabilität und Dauer zu verfolgen, und sich somit vom bloßen Zusammenkommen von Personen zwecks Begehung – auch mehrerer – Verbrechen unterscheidet40. Es handelt sich ersichtlich um eine objektive Dimension der Vereinigung, welche sich damit als tatbestandsmäßiges Instrument zur Verfolgung der spezifischen Zielsetzung herausbildet, welche über die bloße Summe der einzelnen individuellen Verhaltensweisen hinausgeht. Daraus folgt: Das Ziel der Vereinigung ist nicht eine bloße „Spezifizierung“ des Vorsatzes, der die Beteiligungshandlungen begleitet, noch bildet es die bloße psychologische Seite (bzw. das subjektive Element), die ihnen zugrunde liegt; vielmehr übt es eine Tatbestandsfunktion aus, welche wesentlich für die Inkriminierung der Tat ist, die in dem Element des kriminellen Freundschaftsbun39 Die „Vereinigung mit der Zielsetzung des Terrorismus oder des Umsturzes der verfassungsmäßigen Ordnung“ setzt voraus, dass die Zielsetzung des Terrorismus durch „die Ausführung von gewalttätigen Handlungen“ verfolgt wird, welche die die Vereinigung qualifizierende Methode darstellen (Art. 270 bis c.p. eingeführt durch Gesetzesdekret Nr. 625 vom 15. 12. 1979, umgewandelt in Gesetz Nr. 15 vom 06. 02. 1980, und zum „auch internationalen“ Terrorismus durch Gesetzesdekret Nr. 374 vom 18. 10. 2001, umgewandelt in Gesetz Nr. 438 vom 15. 12. 2001). 40 Ähnlich De Francesco, Giovannangelo, Societas sceleris. Tecniche repressive delle associazioni criminali, in: Riv.it.dir.proc.pen., 1992, S. 54 f.; De Vero, Tutela dell’ordine pubblico e reati associativi, ebd., 1993, S. 93 f.
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des (societas sceleris) besteht – vergleichbar jener Funktion, welche der „Gesellschaftszweck“ bei der Bildung einer Gesellschaft besitzt41.
IV. Typisierende Bedeutung der Mittel-Zweck-Verknüpfung bei der gesetzlichen Beschreibung der tatbestandsmäßigen Handlung Die obige Analyse der gesetzlichen Struktur der Tatbestände mit spezifischem Vorsatz führt zu dem Schluss, dass die Zielsetzung des Handelnden, da sie die teleologische Ausrichtung der vom Gesetzgeber ausdrücklich umschriebenen Mittel-ZielVerknüpfung bildet, bei der dogmatischen Bearbeitung nicht von der als Mittel zu ihrer Verfolgung objektiv typisierten Grundhandlung getrennt werden kann, welche nun im Einzelnen betrachtet und unterschieden wird. Die erste Folgerung ist die, dass der Zielsetzung nicht eine separate Bedeutung als bloß psychisches bzw. subjektives Element gegeben werden kann, dass sie vielmehr Teil des Tatbestandes ist, welcher die konstitutive tatbestandmäßige Handlung der Straftat beschreibt – und zwar noch vor dem und ohne Rücksicht auf den Vorsatz, von dessen Gegenstand er vielmehr ein Bestandteil ist. Die zweite Folgerung ist die, dass spiegelbildlich der Inhalt der tatbestandsmäßigen Handlung, da er durch die Zielsetzung bedingt und vervollständigt wird, weiter und umfassender ist als die Summe der einzelnen materiellen Elemente, welche die Grundhandlung ausmachen, die den Vollendungszeitpunkt bestimmt. Die dritte Folgerung ist die, dass man dogmatisch nicht der konstitutiven Funktion der Zielsetzung, von der die strafrechtlich relevante Schädigung abhängt, eine bloß spezialisierende Funktion entgegensetzen kann. Erst aus der systematischen Gegenüberstellung von Tatbeständen mit „spezifischem Vorsatz“ und anderen Tatbeständen, welche diesen nicht verlangen bzw. eine andersartige Zielsetzung verlangen [wie im Falle der Freiheitsberaubungen, s. o. III. 1. d)], im Übrigen aber identisch sind, kann man von einer „spezialisierenden“ Funktion sprechen, wie man sie für jedes andere spezialisierende Element in verschiedenen gesetzlichen Tatbeständen ermitteln kann. Diese Erwägung schließt nicht aus, setzt vielmehr logisch die „konstitutive“ Bedeutung der Zielsetzung des Handelnden für die Beschreibung der Tatbestandsmäßigkeit der speziellen Straftat voraus, deren Bestanteil sie ist und deren Schädigungsgehalt, der sich im Strafmaß widerspiegelt, sie daher mitbestimmt. 41 Da es ein konstitutives Element der umfassenden Tat des Vereinigungsdeliktes ist, muss das tatbestandsmäßige Ziel der Verbindung sich zweifellos auch im Vorsatz der einzelnen Teilnehmer widerspiegeln, da es dessen Bezugspunkt mitbestimmt – ohne Rücksicht darauf, dass die einzelnen Verhaltensweisen des Teilnehmens, Förderns, Organisierens, Leitens usw. ihre Selbständigkeit auf der Ebene der individuellen Strafbarkeit – auch was den Vollendungszeitpunkt angeht – unter Beachtung des personalen Charakters der strafrechtlichen Verantwortlichkeit beibehalten.
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Die letzte Folgerung ist die, dass die Zielsetzung des Handelnden, da sie nicht auf ein bloßes subjektives Anhängsel an einen bereits vollständigen Straftatbestand aufgefasst werden kann, nicht auf die neben dem Vorsatz bestehende Schuld eingeschränkt werden kann, der sie eben wegen der von ihr ausgeübten Funktion als konstitutives Element des Straftatbestandes nicht zugeordnet werden kann. Auf dogmatischer Ebene aber lautet damit die zu beantwortende Frage, ob diese ihre Auswirkung auf den Straftatbestand einen objektiven Inhalt besitzt, der zu dessen im Wesentlichen äußerlicher und materieller Dimension passt. 1. Objektive Einwirkung der Zielsetzung auf die tatbestandsmäßige Handlung Die Auswirkung der Zielsetzung auf die objektive Dimension der tatbestandsmäßigen Handlung wird anhand von vier verschiedenen dogmatischen Überlegungen belegt. Vor allem muss die Grundhandlung, um tatbestandsmäßig zu sein, die äußerliche Ausführung des Mittels und damit den Beginn der tatsächlichen Verwirklichung der Zielsetzung selbst bilden, für welche sie ab origine teleologisch funktional sein muss. Die Zielsetzung findet somit in ihnen eine – sei es auch nur teilweise – objektive Entäußerung, was von großer rechtlicher Bedeutung ist, weil es den Zeitpunkt der Vollendung der Straftat bezeichnet (sog. formelle Tatvollendung). Zum zweiten ist der Gegenstand der Zielsetzung vom Gesetzgeber in der Weise umschrieben – und muss dies sein, damit der Grundsatz der Tatbestandsbestimmtheit beachtet ist –, dass auf Ereignisse oder weitere, mitunter ihrerseits selbständige Straftaten bildende Handlungen Bezug genommen wird, welche eine außerhalb des Täterbewusstseins selbst liegende Bedeutung besitzen, weil sie der tatsächlichen Verwirklichung zugänglich sind (sog. materielle Tatvollendung bzw. Beendigung)42. Was die erwähnte Einteilung durch Binding [o. III. 2. a)] angeht, so erscheint diese nicht nur wegen einer präzisen dogmatischen Klassifizierung, sondern auch wegen ihrer Auswirkungen auf die Rechtsanwendung nützlich. Fasst man den Inhalt der Zielsetzung als materiell realisierbare Handlung bzw. Tat auf, so erklärt dies, warum die diesbezügliche objektive Begehung als erschwerender Umstand ausgestaltet werden kann43 oder in späteren gesetzlichen Formulierungen, welche dieselbe Straftat betreffen44, oder in benachbarten Rechtsordnungen, welche 42 Diese auf Binding (Fn. 14), S. 1166 – 1167 zurückgehende deutliche Bemerkung mit Hinweis auf den Fall des Diebstahls wurde später von Oehler (Fn. 22), S. 79, auf die meisten Absichtsdelikte ausgedehnt. 43 Vgl. z. B. die objektive Erlangung der Versicherungsleistung nach Art. 642 Abs. 2 letzter Satz, c.p. 44 Das Delikt der Amtsausübung nach der ursprünglichen Formulierung des Art. 323 c.p. und auch nach der Novelle aus dem Jahre 1990 (Gesetz Nr. 86 von 26. 04. 1990) verlangte als
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entsprechende Tatbestände aufstellen45, verlangt werden kann46, ohne dass die Straftat selbst eine wesentliche Veränderung der rechtlichen Objektivität erfährt oder sich die Art der Schädigung des geschützten Rechtsgutes ändert. Die Subjektivierung der gesetzlichen Formulierung, welche aus dem Rückgriff auf die Technik des spezifischen Vorsatzes hervorgeht, wird daher nicht als „Psychologisierung“ des gesetzlichen Tatbestandes aufgefasst, die ihn zumindest teilweise den ihm eigenen objektiven Charakter verlieren ließe. Sie bewirkt bloß eine Vorverlegung der formellen Vollendung gegenüber der vollständigen „materiellen“ Verwirklichung des als Ziel des Handelnden typisierten Elementes – also gegenüber der Erreichung dessen, was er erstrebt – aus einer Sicht, die, wie gezeigt, sich von derjenigen der vollständigen Verwirklichung der Schädigung des geschützten Rechtsgutes unterscheidet, welche aufgrund des ausdrücklichen Willens des Gesetzgebers stets mit der objektiven Verwirklichung der Grundhandlung eng verknüpft bleibt. Das dritte dogmatische Argument, das die objektive Bedeutung. welche der Zielsetzung im gesetzlichen Straftatbestand zuerkannt werden muss, bestätigt, besteht darin, dass auf sie (oder besser: auf ihren Gegenstand) die Regelung über den Irrtum über Tatumstände angewendet wird (Art. 47 c.p. bzw. § 16 StGB)47. Deshalb ist auszuschließen, dass der Putativfall dem realen Fall gleichgesetzt wird Wie von Hegler eindrucksvoll ausgeführt48, muss der Inhalt bzw. der Gegenstand der Zielsetzung nicht nur tatsächlich realisierbar sein, sondern auch vom Handelnden alternatives Objekt der Absicht des Täters einen „rechtswidrigen Vorteil“ bzw. eine „Schädigung“ anderer (zur typisierenden Funktion dieses spezifischen Vorsatzes: s. Picotti (Fn. 2), S. 296 f.), der jeweils objektiv für die Vollendung des Delikts des Amtsmissbrauchs „herbeigeführt“ bzw. „verschafft“ worden sein muss, nachdem die Reform des Art. 323 c.p. durch die Novelle vom 16. Juli 1997, Nr. 234, diese Element in einen Erfolg umgewandelt hat (dazu Benussi, Il nuovo delitto d’abuso d’ufficio, 1998; s. auch Picotti, in: Dir. pen. proc. 1997, S. 347 f.). 45 Das Betrugsdelikt ist nach dem italienischen Art. 640 c.p. nur vollendet, wenn neben der Vermögensschädigung auch der Vorteil des Täters objektiv erreicht ist, während es nach § 263 StGB und in ähnlicher Weise nach Art. 248 des spanischen „codigo penal“ von dem Täter nur bezweckt („con ánimo de lucro“) werden muss. 46 Das „In-Umlauf-bringen“ des nachgemachten Geldes ist für die Vollendung der Tat nach Art. 453 Abs. 1 Nr. 3 erforderlich, während nach Nr. 4 derselben Vorschrift es genügt, dass es die „Zielsetzung des In-Umlauf-bringens“ des gekauften oder empfangenen Geldes gibt. Nicht unähnlich stehen in § 146 StGB der Fall der Nr. 2 („falsches Geld als echt in Umlauf bringen“) und der Nr. 3 („falsches Geld in dieser Absicht [es als echt in den Verkehr zu bringen] sich verschaffen oder feilhalten“). 47 Picotti (Fn. 2), S. 586 f. mit Literaturhinweisen auch zum deutschen Schrifttum: insb. Sieverts, Beiträge zur Lehre von den subjektiven Unrechtselementen, 1934, S. 175; Engisch (Fn. 31), S. 172 (nach deren Meinung § 59 StGB a.F. auch auf die in den gesetzlichen Tatbestand aufgenommenen subjektiven Elemente konsequent angewendet werden soll, wenn man nur ihr „komplexe Gebilde“ auflöst); Jakobs (Fn. 30), S. 286. 48 Hegler, Festgabe für von Frank, 1930, I, S. 334 – 335, der durch Anwendung des heuristischen Prinzips der „Objektivierung“ bei irrtümlicher Annahme des Täters meint, dass an
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zutreffend vorgestellt und gewollt sein, damit der zur Vollendung der Straftat erforderliche Vorsatz vorliegt. Nur wenn der Handelnde sich ohne Irrtum das Endergebnis, um dessen Verursachung es ihm geht, oder die weiteren Handlungen, denen die Grundhandlung den Weg bereiten soll, vorstellt, lässt sich sagen, dass sein Wille zur Begehung der die Straftat ausmachenden Gesamttat durch die teleologische Perspektive der Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Zielsetzung bestimmt sei. Anders ausgedrückt: Die teleologische Verknüpfung, welche die im gesetzlichen Tatbestand typisierten finalen Elemente mit der Grundhandlung verbindet, muss sich auch in einer korrekten psychologischen Vorstellung widerspiegeln, welche tatsächlich den bewussten Willen des Täters in diese Richtung lenkt. Daher müssen die – mit Bezug auf den Vollendungszeitpunkt – „weiteren“ Handlungen bzw. Taten, auf deren Verwirklichung die spezifische Zielsetzung gerichtet ist, zum Gegenstand des Vorsatzes gehören, genauso wie alle anderen wesentlichen Umstände des Tatbestandes, deren Rechtsnatur sie teilen, und können nicht durch eine irrige Vorstellung bzw. durch eine bloße innerpsychische Annahme des Handelnden ersetzt werden. Als Beispiel betrachte man das Delikt des Versicherungsbetruges (Art. 642 c.p.). Wenn die Versicherungsleistung, zwecks deren Erlangung der Handelnde die Beschädigung der eigenen versicherten Sache oder die Verletzung des eigenen Körpers vorgenommen hat, sich objektiv nicht aus dem Versicherungsvertrag ergibt, auf dessen Grundlage er diese erlangen will, indem er einen bestimmte Art von Schaden herbeiführt, so ist das Vorsatzerfordernis nicht erfüllt, obwohl das psychisch verfolgte Ziel und die beabsichtigte Verursachung des Erfolges zu bejahen sind49. die Stelle der Vollendungsstrafe die Versuchsstrafe oder gar die Straflosigkeit wegen „Mangel am Tatbestand“ treten sollte. 49 Als weiteres Beispiel betrachte man den Fall, in dem die Grundhandlung durch eine Bestechungsvereinbarung gebildet wird, welche der Amtshandlung des öffentlichen Amtsträgers vorhergeht, die dieser in Übereinstimmung mit der mit dem Bestecher geteilten Zielsetzung durchführen soll, welche aber objektiv nicht durchführbar ist, weil die zu ihrer Durchführung erforderlichen tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegen. Die Vorstellung des Gegenstandes der Zielsetzung (eine weitere Handlung des Bestochenen) wäre aufgrund eines Irrtums über Tatumstande fehlerhaft. Deshalb muss man anerkennen, dass der Tatbestandsvorsatz fehlt, obwohl der bewusste Wille, der die Vereinbarung herbeigeführt hat, und die „subjektiv“ verfolgte Zielsetzung, die Handlung herbeizuführen, welche ihr Gegenstand war, vorliegen. Bedeutungslos wäre hingegen angesichts der realen Möglichkeit, die Handlung bzw. Verhaltensweise des öffentlichen Amtsträgers, die Gegenstand der Vereinbarung ist, zu verwirklichen, der „mentale Vorbehalt“ seitens des letzteren, diese nicht umzusetzen oder nicht danach tatsächlich zu verwirklichen, denn im Zeitpunkt der Vollendung der Grundhandlung und damit der Umsetzung der Bestechungs-Vereinbarung bildete diese den tatsächlichen Gegenstand der zutreffenden gedanklichen Vorstellung beider Parteien, welche bewusst ihren übereinstimmenden Willen zum Ausdruck gebracht haben, die unerlaubte Vereinbarung abzuschließen, mit der die Straftat vollendet ist und die mit der Durchführung der erwähnten Handlung teleologisch verknüpft ist – ein bewusster Wille also zur Verwirklichung der gesamten Tatumstände, wie er notwendig und hinreichend ist, um die
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Schließlich ist damit logischerweise der Diskurs über die Frage erledigt, welche Bedeutung die Zielsetzung auf die Regelung der Mehrheit von Tatbeteiligten hat. Für den Fall der Beteiligung an einer Straftat mit spezifischem Vorsatz ist nämlich in Lehre und Rechtsprechung einhellig anerkannt, dass die für die objektiven Tatumstände geltende Regel anzuwenden ist50, d. h. dass die vom Täter oder zumindest von einem Teilnehmer verfolgte spezifische Zielsetzung sich nach den gewöhnlichen Bestimmungen des Art. 110 c.p. (und des entsprechenden § 28 bzw. § 29 StGB) auf die anderen Tatbeteiligten „erstreckt“51, die Zielsetzung qualifiziert die gesamte von mehreren Beteiligten begangene Tat, welche sämtlichen Tatbeteiligten unter der einzigen Bedingung zugerechnet und vorgeworfen wird, dass sie – auf der Ebene der Schuld – nach den allgemeinen Voraussetzungen des Beteiligtenvorsatzes Gegenstand ihrer Vorstellung gewesen ist, ohne dass sie auch ein „eigenes“, d. h. von jedem von ihnen persönlich bzw. innerlich verfolgtes Ziel gewesen sein muss. 2. Bedeutung der Zielsetzung als Ausdruck des Parteiinteresses, das im objektiven Konflikt mit den geschützten Interessen steht Der objektive Aspekt der Zielsetzung des Handelnden für den Straftatbestand findet seine strukturelle Grundlage in der Realität des Interessenkonfliktes, dessen Ausdrucksform die Verletzung jenes Interesses, das als Rechtsgut durch die Strafnorm geschützt ist, bildet. Indem er der Zielsetzung des Handelnden ausdrücklich Bedeutung einräumt, erkennt der Gesetzgeber an – oder, wenn man dies vorzieht: verlangt er – dass die Begehung der zu bestrafenden Tat die Manifestation eines „Partei“-Interesses (und nur in diesem Sinne „subjektiv“) sei, dessen Träger der Handelnde typischer Weise ist, und dass er sich zufrieden gibt mit der vollen Verwirklichung des als sein Gegenstand beschriebenen Ergebnisses bzw. Erfolges (bei den erfolgskupierten Delikten) oder mit der weiteren Tätigkeit, welche nach der Durchführung der Grundhandlung vorzunehmen ist (bei den unvollkommen zweiaktigen Delikten); ein „Partei“-Interesse, welches außer dem eigenen individuellen Interesse des Handelnden auch dasjenige Dritter sein kann, zu dessen Träger oder Instrument er sich macht (z. B. kann der mit dem Diebstahl nach Art. 624 c.p. verfolgte „Profit“ auch derjenige „anderer“ sein, Voraussetzungen des Vorsatzes zu erfüllen, dem gegenüber eine „reservatio mentalis“, die bloß im Bewusstseins-Innern des öffentlichen Amtsträgers vorhanden ist, gleichbedeutend mit einem bloßen subjektiven Motiv ist, das für den Vorsatz bedeutungslos ist, da es sich nur um eine psychische Gegebenheit ohne Bedeutung für den gesetzlichen Tatbestand handelt. 50 Zur Teilnahme mit „generischem“ Vorsatz an einer Straftat mit spezifischem Vorsatz s. Insolera, Concorso di persone, in: Dig. Disc. pen., 1988, S. 437 f., 476; Picotti (Fn. 2), S. 614 f., 620; Romano/Grasso, Commentario sistematico del codice penale, II, 4. Aufl., 2012, Art. 110, Rn. 90, S. 194. 51 Hierzu genüge der Hinweis auf Schönke/Schröder/Heine, StGB, 28. Aufl., 2010, § 28 Rn. 20; mit klarer Stellungnahme auch zu der Frage des sog. absichtslosen dolosen Werkzeuges s. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 5. Aufl., 1990, S. 643.
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der natürlich mit demjenigen des Opfers bzw. Gewahrsamsinhabers in Konflikt steht; dasselbe gilt für viele der oben angesprochenen Straftatbestände). Die vorweggenommene gedankliche Vorstellung (oder Voraussicht)52 des Erfolges oder der weiteren Handlung, welche das erwähnte „Partei“-Interesse befriedigen würden – gewiss nicht die Schädigung des Rechtsgutes als solche, die normaler Weise dem Täter gleichgültig ist –, besitzt demnach auslösende Bedeutung i.S. kausaler Auswirkung auf den konkreten Willen in der Psyche des Handelnden, die instrumentelle Grundhandlung ins Werk zu setzen. Und dies ist der Grund, warum der Gesetzgeber einen Nutzen darin sehen kann, ihr Bedeutung beizulegen. Tatsächlich bringt die Entscheidung, das Ziel zu verfolgen, den Handelnden dazu, sein Verhalten entsprechend zu organisieren und in die Tat umzusetzen sowie eventuell in Übereinstimmung mit der durch die teleologische Verknüpfung zum Ausdruck gebrachten Zielsetzung die Erfolge herbeizuführen oder den Weg für weitere Handlungen – eigene oder auch solche Dritter, einschließlich des Opfers selbst – zu bereiten53. Doch auch bei den hier interessierenden Delikten richtet sich die Aufmerksamkeit auf das vom Handelnden verfolgte Interesse, da seine Vorstellung – wie es in jüngerer Zeit auch ein Teil der italienischen Lehre zur Unterscheidung der verschiedenen Formen des Vorsatzes untereinander und von der Fahrlässigkeit vertritt54 – den Willen bestimmt und seine Entsprechung in der äußeren Realisierbarkeit und Erkennbarkeit findet. Ist es im Falle der spezifischen Zielsetzung nicht zur formellen Vollendung der Straftat erforderlich, dass das „Partei“-Interesse mit der Verursachung auch des Erfolges oder der Vornahme der weiteren Tätigkeiten, die ihn dann herbeiführen sollen, materiell befriedigt wird, so muss es objektiv dennoch von Anfang an und natürlich bei Begehung der Tat bestehen.
52 Das Etymon des deutschen Wortes „Absicht“ (vom Verb ab-sehen) wie vom des italienischen Wortes „scopo“ (aus dem griechischen Verb sjopey) setzt implizit auch ein äußerliches Objekt voraus, auf das es sich bezieht. 53 In der deutschen Strafrechtstradition erkennt man diese strukturelle Basis des psychischen Elementes in der zur Kennzeichnung der intensivsten Form des Vorsatzes, d. h. der Absicht oder des dolus directus ersten Grade, üblichen Formel, dass es „dem Täter darauf ankommt, die Tat zu verwirklichen“. In dieser Bedeutung soll aber die Absicht „kongruent“ mit dem objektive gesetzlichen Tatbestand sein: für alle s. Jescheck/Weigend (Fn. 29), S. 297; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 28. Aufl., 2010, § 16 Rn. 66; dazu auch Oehler, NJW 1966, 1633 f.; Frisch (Fn. 1), Vorsatz, S. 499 f., der betont dass der Eintritt des beabsichtigten Erfolgs nach dem Plan des Täters ein fester „Rechnungsposten“ sei. 54 Prosdocimi, Reato doloso, in: Dig.Disc.pen. XI, 1996, S. 235 f.; und schon ders., Dolus eventualis, 1993, S. 32 f.; in einer anderen, mehr zur Relevanz der innerlichen Gesinnung des Täterwollens neigenden Perspektive, entsprechend einem subjektivierenden Begriff, der immer mehr auf einer schiefen Ebene zur Verlagerung auf eine ethisch gefärbte Bewertung der „Vorwerfbarkeit“ des Täters selbst gleitet, s. Eusebi, Il dolo come volontà, 1993, S. 141 f.
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Und gerade wegen seiner äußerlichen Erkennbarkeit – in seiner kausalen Funktion als Auslöser des objektiven Verhältnisses des Konflikts mit dem geschützten Interesse, der durch die Handlung des Täters herbeigeführt wird – verleiht der Gesetzgeber ihm normative Bedeutung. Wie von einer angesehenen Zivilrechtslehre eindrucksvoll vorgeschlagen worden ist, fungiert sie als finales Äquivalent der tatbestandsmäßigen „causa“ eines Vertrages oder Rechtsgeschäftes, welches daher – obwohl immateriell – objektive Bedeutung besitzen muss, sodass sie erkennbares Objekt des Willens der Vertragspartner ist, ohne dass man sie mit ihren persönlichen Motiven verwechseln darf55. Aufgabe des Strafrechts ist es nun aber gerade, die Verfolgung unerlaubter Interessen unter Strafe zu stellen, insoweit dadurch rechtlich geschützte Interessen verletzt werden, oder auch die Verfolgung solcher Interessen unter Strafe zu stellen, die zwar an sich erlaubt sind, aber mit unerlaubten Mitteln und Methoden bzw. mit solchen Mitteln und Methoden, die nicht mit den akzeptierten Modellen der sozialen Beziehungen im Einklang stehen, verwirklicht werden – weshalb es sich gleichermaßen um rechtswidrige Verletzungen der konfligierenden bzw. konkurrierenden (individuellen oder kollektiven) Interessen handelt, welche von der Rechtsordnung als Rechtsgüter geschützt werden. Im Lichte dieser strukturellen, vornehmlich objektiven Grundlage, die der gesetzlichen Typisierung der Zielsetzung des Handelnden gemäß der Technik des spezifischen Vorsatzes zugrunde liegt, erklärt sich, warum der Gesetzgeber einmal nur einem „an sich“ unerlaubten oder rechtswidrigen Ziel Bedeutung verleiht (wie wir es beim Raub und beim Betrug kennen gelernt haben), ein anderes Mal „rechtmäßige“ und „unrechtmäßige“ Zielsetzungen auf eine Ebene alternativer gesetzlicher Gleichwertigkeit stellt (wie wir es bei der Fälschung von Privaturkunden gesehen haben), in wieder anderen Fällen auch einer an sich rechtlich neutralen oder sogar „berechtigten“ Zielsetzung, die jedoch mit unerlaubten Mitteln oder Methoden verfolgt wird, Bedeutung verleiht (wie wir es beim Versicherungsbetrug gesehen haben). Und es erklärt sich auch, warum er in vielen Fällen zur Spezifizierung der Natur des durch dieselbe Grundhandlung bzw. Grundtat verletzten Rechtsgutes, wie bspw. einer Freiheitsberaubung, einem anderen Typ der von dem Handelnden verfolgten Zielsetzung Bedeutung gibt – nicht so sehr, um den Handlungsunwert im Lichte der inneren Intention zu verdeutlichen, als vielmehr, um dem jeweils verfolgten besonderen „Partei“-Interesse, das mit den entsprechenden geschützten Interessen in Konflikt gerät, Bedeutung zuzuschreiben. Dies reicht von der erpresserischen Schädigung mit vermögensrechtlicher Bedeutung bis zum terroristisch-umstürzlerischen Angriff mit politischer Bedeutung entsprechend der unterschiedlichen – äußerlichen und erkennbaren – Bedeutung der korrespondierenden Interessen, die im Verhältnis zum Opfer und zur Gesellschaft verfolgt werden – also weit entfernt von dem, was 55 Carnelutti, Teoria generale del reato, 1933, S. 140 f. Unter den wenigen italienischen Strafrechtlern, welche die dogmatische Relevanz dieser Perspektive anerkannt haben s. Nuvolone, I limiti taciti della norma penale, 1947, S. 50 f.; Bricola, in: Archivio penale, 1960, II, S. 63.
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eine bloße psychische, subjektive Finalität zum Ausdruck bringen würde, die nur im Bewusstsein des Handelnden existiert, in dem sich freilich die Verfolgung des jeweiligen Interesses durch die betreffende Grundhandlung widerspiegeln muss und bewusst gewollt sein muss. Das Ergebnis lautet demnach: Die Zielsetzung des Handelnden gehört mit der Bestimmung der objektiven tatbestandsmäßigen Handlung zusammen, weil sie das zugrunde liegende „Partei“-Interesse zum Ausdruck bringt, das mit dem geschützten Interesse objektiv kollidiert oder dessen Verfolgung mittels besonderer Methoden oder Umstände das letztere objektiv verletzt oder konkret gefährdet. Es erweist sich damit, dass die tatbestandsmäßige Zielsetzung weder ein ontologisches Attribut der tatbestandsmäßigen Handlung noch eine bloße „innere“ Finalität des Handelnden darstellt; vielmehr bezieht sie sich auf die objektive Dimension und Art des Konfliktverhältnisses, in dem die strafbare Verletzung objektiv besteht, und soll diese präzisieren. Die Zielsetzung ist daher zu unterscheiden von den psychologischen Anforderungen des Vorsatzes, die hingegen für die subjektive Zurechnung und für den persönlichen Vorwurf gegenüber dem Täter gefordert werden, denn von ihm ist sie weder eine spezielle noch eine besonders intensive Erscheinungsform; ebenso ist sie zu unterscheiden von dem bloßen Beweggrund (bzw. Motiv), denn dieser kann zwar in concreto zu einer deliktischen Handlung den Anstoß geben, doch ist er auf normativer Ebene weder mit einer spezifischen Grundhandlung noch mit einem bestimmten Ergebnis oder äußerlichem Handeln teleologisch verknüpft56. Die nächste Aufgabe wäre es, einige Präzisierungen zur dogmatischen Unterscheidung zwischen spezifischer Zielsetzung und Vorsatz im Verhältnis zur tatbestandsmäßigen Handlung einerseits und zur Schuld andererseits anzustellen und die jeweiligen Konsequenzen im Hinblick auf die Intensität der Voraussetzungen der subjektiven Zielsetzung zu diskutieren. Aus Platzgründen kann dies jedoch hier nicht mehr geschehen und muss einer umfangreicheren Darstellung an anderer Stelle vorbehalten bleiben.
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Zur rechtsdogmatischen Unterscheidung s. Picotti (Fn. 2), S.520 f.; in gleicher Richtung auch Veneziani, Motivi e colpevolezza, 2000, S. 13 f.; dagegen Malinverni, Scopo e movente nel diritto penale, 1955, der sich vergebens bemühte, gemäß der ursprünglichen Einstellung der Scuola Positiva (vgl. Florian [Fn. 5], La teoria, S. 16 f., 23) eine Unterscheidung auf einer bloß psychologischen Ebene zu finden. Im deutschen Schrifttum s. Jakobs (Fn. 30), S. 309; Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, 1988, S. 226 f.; Oehler, NJW 1966, 1638 f.; s. auch Engisch (Fn. 31), S. 183, mit der Betonung dass die Beweggründe der Schuld angehören.
Zur Unterscheidung der aberratio ictus vom error in persona Von Volker Erb
I. Einführung Der verehrte Jubilar hat zur Behandlung der sog. aberratio ictus mit klaren Worten Stellung bezogen: „Der Täter hat sich hier gegen das Rechtsgut nur in der Beschränkung auf einen bestimmten raum-zeitlich konkretisierten Repräsentanten entschieden; ihm eine allgemeine Entscheidung gegen jedermann zu unterlegen, wäre abwegig“. Dies sei „der maßgebende Grund für die Unmöglichkeit einer Verschmelzung von Objektiv und Subjektiv“, die der Bestrafung wegen eines vollendeten Vorsatzdelikts in den einschlägigen Fällen entgegensteht.1 Im vorliegenden Beitrag wird diese Position zunächst eine Bestätigung erhalten (s.u. II.), bevor auf ihrer Grundlage die Einordnung von zwei Konstellationen erfolgt, bei denen Streit darüber besteht, ob es sich um Varianten der aberratio ictus oder um Fälle eines unbeachtlichen error in persona handelt. Dabei geht es erstens um fehlgegangene „Distanzdelikte“, bei denen der Täter das Opfer nicht durch eine visuelle oder sonstige sinnliche Wahrnehmung individualisiert, sondern ohne eine solche einen Kausalverlauf in Gang setzt, von dem er gleichwohl annimmt, damit ein ganz bestimmtes Opfer zu treffen. (s.u. III.). In engem Zusammenhang damit ist sodann die Frage zu erörtern, ob ein für den Täter unerheblicher error in persona für den Teilnehmer ebenso unbeachtlich ist, oder ob er sich aus dessen Perspektive als aberratio ictus darstellt (s.u. IV.). Abschließend erfolgt eine kurze Stellungnahme zu den Konsequenzen von letzterer (s.u. V.).
II. Die allgemeine Relevanz der aberratio ictus 1. Gegen die vorherrschende Ansicht, wonach bei einer aberratio ictus keine Kongruenz zwischen Tätervorsatz und objektivem Tatgeschehen bestehe, wird z. T. der Einwand erhoben, die Tatbestände des Strafrechts hätten nicht die Verletzung eines bestimmten Objektes zum Gegenstand, sondern diejenige eines Objektes aus der im Tatbestand beschriebenen Gattung. Folglich müsse es grundsätzlich auch genügen, dass der Vorsatz auf die Beeinträchtigung irgendeines in Frage kommenden Objektes 1 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 616 f. mit Fn. 215.
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gerichtet ist, wohingegen eine auf die Individualität bezogene „Konkretisierung“ überflüssig sei bzw. nur eine einfache Kausalabweichung begründen könne.2 2. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Bezugspunkt des Vorsatzes nicht in den Begriffen liegt, mit denen der Gesetzgeber das tatbestandsmäßige Verhalten beschreibt, sondern in tatsächlichen Umständen des Einzelfalls, die sich unter eben diese Begriffe subsumieren lassen.3 Wenn „Vorsatz“ somit primär die gedankliche Erfassung und Verarbeitung eines bestimmten Ausschnitts aus der Lebenswirklichkeit bedeutet, die erst in einem zweiten Schritt zum Gegenstand einer rechtlichen Bewertung wird, dann kann man die Reichweite des Vorsatzes schwerlich danach bemessen, ob sich die Vorstellungen des Täters mit bestimmten Gattungsbegriffen belegen lassen, die für die nachfolgende rechtliche Bewertung maßgeblich sind. Die Grenzen des vom Täter in seinen Vorsatz aufgenommenen Geschehens richten sich vielmehr ausschließlich danach, wie weit seine Vorstellung in tatsächlicher Hinsicht reicht. Vorgänge, die von dieser Vorstellung nicht in einer zumindest den Anforderungen des dolus eventualis genügenden Weise umfasst sind, mutieren dabei nicht deshalb zu einem Bestandteil des Tatvorsatzes, weil man sie unter den gleichen Straftatbestand subsumieren kann wie das vom Täter irrig angenommene Alternativgeschehen. Warum die parallele Anwendbarkeit einer Strafvorschrift auf das Für-möglich-Gehaltene und auf das tatsächlich Geschehene es erlauben sollte, das Geschehene als Teil des Für-möglich-Gehaltenen zu behandeln, ist nämlich nicht ersichtlich.4 3. Die Konkretisierung des Tatvorsatzes auf ein bestimmtes (bzw. mehrere kumulativ oder alternativ in Betracht gezogene) Opfer kann man auch nicht aus normativen Erwägungen für unbeachtlich erklären, wie das bei den Vorstellungen des Täters hinsichtlich der Details des Kausalverlaufs möglich ist und bei „unwesentlichen Abweichungen“ desselben gängiger Praxis entspricht. Die von denjenigen Autoren, die der aberratio ictus eine eigenständige Bedeutung absprechen wollen, vorgeschlagene
2 So insbesondere Puppe, GA 1981, 1 (3 f., 10 ff.); dies., GA 1984, 101 (120 f.); dies., NStZ 1991, 124; dies., Vorsatz und Zurechnung, 1992, S. 10 ff.; dies., Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 2. Aufl. 2011, § 10 Rn. 41; NK-StGB/Puppe, 3. Aufl. 2010, § 16 Rn. 96; ferner Loewenheim, JuS 1966, 310 (312 ff.); Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, 1987, S. 480 ff.; Schroth, Vorsatz und Irrtum, 1998, S. 100 ff.; Heuchemer, JA 2005, 275 (277 ff.); SK-StGB/ Rudolphi/Stein, Loseblattausgabe, 125 Lfg. (Oktober 2010), § 16 Rn. 32 f.; Frister, Strafrecht, AT, 4. Aufl. 2009, 11. Kap. Rn. 57 ff.; umfangreiche Nachweise aus dem älteren Schrifttum bei Hillenkamp, Die Bedeutung von Vorsatzkonkretisierungen bei abweichendem Tatverlauf, 1971, S. 20 ff. 3 Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 9; Hettinger, GA 1990, 531 (543, 553); ders., FG Paulus, 2009, S. 73 (80 f.); Mitsch, Jura 1991, 373 (374); Stratenwerth, FS Baumann, 1992, S. 57 (62); Herzberg, NStZ 1999, 217 (219); ders., JuS 1999, 224 (227); Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 28. Aufl. 2010, § 15 Rn. 57. 4 Vgl. bereits RGSt 3, 384; Bemmann, MDR 1958, 817 f.; Frisch (Fn. 1), S. 600; Hettinger, GA 1990, 531 (549).
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Behandlung als gewöhnlicher Fall einer Kausalabweichung5 erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht tragfähig. a) Anders als die spezifische Wirkungsweise der Tathandlung, die kein Täter im Detail zu kennen braucht, solange er nur zutreffend annimmt, dass diese mit insgesamt erheblicher Wahrscheinlichkeit in einer irgendwie plausiblen Weise den Eintritt des Erfolges verursachen wird,6 ist die Bildung einer Vorstellung darüber, wen die Folgen treffen werden, notwendiges Element jeder Vorsatzbildung: Tauglicher Gegenstand eines Tatvorsatzes ist nur ein Sachverhalt, den man unter einen Straftatbestand subsumieren kann. Ein solcher Sachverhalt beinhaltet bei einem Erfolgsdelikt aber zwangsläufig einen Angriff gegen konkrete Rechtsgutsträger. Die unmittelbare Beeinträchtigung einer „Gattung“ von Rechtsgutsträgern, der nicht durch die Verletzung individueller Repräsentanten eben dieser Gattung vermittelt wird, ist hingegen schlechthin undenkbar. Dementsprechend kann es auch prinzipiell keinen auf ein solches Geschehen gerichteten Vorsatz geben: Wie sollte jemand wissen und wollen, durch eine nicht gegen bestimmte Menschen gerichtete Tat das Rechtsgut „menschliches Leben“ „der Gattung nach“ zu verletzen?7 Rein auf die „Gattung“ bezogen kann man zwar – letzten Endes beliebige – böse Vorstellungen und Wünsche entfalten, eine Kenntnis ist aber begriffsnotwendig auf einen ganz bestimmten, real gegebenen Sachverhalt bezogen,8 und ein strafrechtlich relevantes Wollen, durch den Eingriff in reale Kausalabläufe tatsächlich Böses zu bewirken, setzt immer einen Bezug zu konkreten Individuen voraus.9 Über diesen Befund darf man sich nicht durch die Beobachtung hinwegtäuschen lassen, dass das Raster der Vorsatzkonkretisierung im Einzelfall sehr grob sein kann, wie z. B. bei einem Terroristen, der durch eine Bombenexplosion an belebter Stelle wahllos Menschen töten will.10 Selbst in diesem Fall 5
Vgl. insbesondere Puppe, GA 1981, 1 (14 ff.); dies., Vorsatz und Zurechnung, 1992, S. 10 ff.; NK-StGB/Puppe, 3. Aufl. 2010, § 16 Rn. 96. Auch diejenigen, die eine aberratio ictus grundsätzlich für beachtlich halten, gehen z. T. von einer – wenngleich im Regelfall als erheblich zu bewertenden – bloßen Kausalabweichung aus, so etwa Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 166. Gegen diesen Ansatz spricht entschieden, dass sich ein solches Ergebnis aus den üblichen Kriterien für die Erheblichkeit einer Abweichung im Kausalverlauf gerade nicht ableiten lässt, zutr. Rath, Zur strafrechtlichen Behandlung der aberratio ictus und des error in objecto des Täters, 1993, S. 181 f. Gegen eine Einstufung der aberratio ictus als Unterfall einer Kausalabweichung auch Wolter, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 103 (124 ff.). 6 Dazu und zur Unvergleichbarkeit mit der vorliegenden Problematik Frisch (Fn. 1), S. 588, 601. 7 Zutr. Hettinger, GA 1990, 531 (544) im Anschluss an Binding, Die Normen und ihre Übertretung, 2. Bd., 2. Hälfte, 2. Aufl. 1916, S. 826 ff.; vgl. auch Hillenkamp (Fn. 2), S. 97 ff. 8 Eingehend Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung, 1996, S. 19 f., 131 ff.; im Grundsatz schon ders., GA 1992, 307 (313 f.); ihm folgend Herzberg, NStZ 1999, 217 (219); ders., JuS 1999, 224. 9 Zutr. bereits Binding (Fn. 7), S. 827; Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 7 Rn. 94. 10 Entsprechender Einwand bei Loewenheim, JuS 1966, 310 (313 f.); Puppe, NStZ 1991, 124; Schroth (Fn. 2), S. 102, 104 f.; Frister (Fn. 2), 11. Kap. Rn. 57.
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ist die Tat nämlich immer noch gegen konkrete Menschen gerichtet, wenn auch relativ unspezifisch gegen diejenigen, die sich nach der Vorstellung des Täters zur Zeit der Explosion möglicherweise am Ort des Geschehens aufhalten.11 b) Mit der Bezeichnung tatbestandsmäßiger Erfolge, die jenseits einer wie auch immer gearteten Konkretisierung der Tätervorstellungen angesiedelt sind, als „vorsätzlich herbeigeführt“, begibt man sich demnach auf den Boden eines völlig neuen Begriffsverständnisses, das nicht nur mit der herkömmlichen Vorsatzdefinition, sondern auch mit dem in § 16 StGB verankerten gesetzlichen Erfordernis des „Kennens“ der Tatumstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, unvereinbar und damit letzten Endes unhaltbar ist. Dieser Befund lässt sich nicht mit der Erwägung überspielen, dass der Täter wenn schon keinen reinen „Gattungsvorsatz“, dann doch immerhin einen Vorsatz mit einem weiteren Konkretisierungsrahmen hätte bilden können, der das in concreto getroffene Opfer mit einschließt (was in Bezug auf einen in der Nähe stehenden Unbeteiligten in den klassischen Fällen der aberratio ictus ja immer möglich gewesen wäre). Hat er dies im Einzelfall nämlich gerade nicht getan, dann ist ein solchermaßen begründeter Vorsatz zwar nicht undenkbar, aber gleichwohl genauso inexistent wie der ominöse „Gattungsvorsatz“ und insofern keine tragfähige Brücke für den notwendigen Schritt von der diffusen Vorstellung einer irgendwie gearteten Beeinträchtigung einer Gattung von Rechtsgutsträgern zur Kenntnis einer Verletzung realer Repräsentanten derselben. Dieser Schritt kann vielmehr nur in Bezug auf das erfolgen, was der Täter als Folge seiner Handlung tatsächlich erwartet und in Kauf genommen hat.12 4. Bei alledem spielt es keine Rolle, ob die Konkretisierung des Tatopfers, die der Täter in seinen Überlegungen einer ganz bestimmten Form vollzogen hat, aus der Perspektive eines neutralen Beobachters vernünftig erscheint. So mag man demjenigen, der tatsächlich nicht damit rechnete, statt des in einer dichten Menschenmenge stehenden Opfers, dem sein Gewehrschuss galt, einen in der Nähe stehenden Unbeteiligten zu treffen, angesichts der Vorhersehbarkeit eines solchen Missgeschicks nach den Umständen Naivität bescheinigen und zugleich mehr oder weniger grobe Fahrlässigkeit vorwerfen. Je stärker sich die entsprechende Möglichkeit im Einzelfall aufdrängt, desto mehr ist man vielleicht auch geneigt, die Einlassung des Täters als offensichtliche Schutzbehauptung zurückzuweisen und ihn aufgrund eines aus den Umständen zu erschließenden dolus alternativus, der das letzten Endes getroffene Opfer einschließt,13 wegen eines vollendeten vorsätzlichen Tötungsdelikts zu verurteilen. Bei alledem gilt hier aber in gleicher Weise wie bei der Erfassung anderer Umstände, die zur Erfüllung des gesetzlichen Tatbestands notwendig sind: 11 Vgl. bereits Binding (Fn. 7), S. 829 f.; Silva-Sanchez, ZStW 101 (1989), 352 (360 f.); Hettinger, GA 1990, 531 (551 ff.). 12 Womit es sich entgegen Puppe, Vorsatz und Zurechnung, 1992, S. 11 insofern mitnichten um Vorstellungen handelt, „die für den tatbestandsmäßigen Vorsatz nicht konstitutiv sind.“ 13 So etwa in BGH NStZ 2009, 210 (211); zur Behandlung solcher Fälle Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 3), StGB, § 15 Rn. 57a; Rengier, Strafrecht, AT, 4. Aufl. 2012, § 15 Rn. 29.
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„Wissenmüssen“ ist kein „Wissen“, und deshalb setzt eine entsprechende Verurteilung die sichere Überzeugung des Gerichts voraus, dass der Täter die Möglichkeit eines Erfolgseintritts bei dem letzten Endes getroffenen Opfer in einer den Anforderungen an den dolus eventualis genügenden Form gedanklich erfasst und verarbeitet hat, so dass dieses in das Raster seiner individuell vollzogenen Vorsatzkonkretisierung hineinfällt.14
III. Die aberratio ictus bei „Distanzdelikten“ 1. Als besonderes Problem bei der Abgrenzung der aberratio ictus vom unbeachtlichen error in persona, das z. T. auch als Indiz für die angebliche Verfehltheit der Rechtsfigur der „aberratio ictus“ angeführt wird,15 gilt die Behandlung von „Distanzdelikten“: In ihrer klassischen und (vor allem im Falle des „Fehlschusses“ bei Verwendung einer Schusswaffe) besonders anschaulichen Form betrifft die „aberratio ictus“ Situationen, in der der Täter das schließlich „verfehlte“ Opfer durch eine sinnliche Wahrnehmung individualisiert und zum ausschließlichen Ziel seines Vorgehens gemacht hat. Letzteres geschieht in der Regel durch eine visuelle Betrachtung; denkbar wäre aber z. B. auch eine Ausrichtung der Tat gegen jemanden, den der Täter hört oder ertastet.16 Wie sind nun aber Taten zu behandeln, bei denen der Täter dem Opfer gar nicht unmittelbar gegenübertritt, sondern ohne jede optische oder sonstige Wahrnehmung desselben einen Kausalverlauf in Gang setzt, der nach seiner Vorstellung so ausgelegt ist, dass er einer bestimmten Person zum Verhängnis werden soll, während er in Wirklichkeit wiederum eine andere trifft? Beispiel hierfür wäre die Einrichtung einer Falle (etwa der Einbau eines Sprengsatzes in einen PKW), in deren Wirkungsbereich nach Vorstellung des Täters ein ganz bestimmtes Opfer (oder auch kumulativ oder alternativ mehrere Menschen aus einem Personenkreis, auf den es der Täter abgesehen hat) gelangen wird, die infolge einer fehlerhaften Installation (Einbau ins falsche Fahrzeug) oder aufgrund unerwarteter Umstände aber letzten Endes einen Dritten erfasst, an den der Täter nicht gedacht hat.17 Ähnlich liegen die Dinge, 14
Der Vorschlag von LK-StGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 16 Rn. 84, bei der aberratio ictus eine Zurechnung des Erfolges „kraft Vorsatzes“ immer dann vorzunehmen, wenn „dem Täter die von ihm nicht bedachte Abweichungsgefahr in dem Sinne gleichgültig [war], dass, hätte er sie bedacht, er gleichwohl gehandelt hätte“, genügt diesem Erfordernis nur für den Fall, dass dem Täter die Gefahr sehr wohl als naheliegend bewusst war und er sie – eben aus Gleichgültigkeit – lediglich nicht weiter bedacht hatte. Bei Erstreckung auf Abweichungsrisiken, an die der Täter tatsächlich gar nicht gedacht hat, läuft der Ansatz dagegen auf eine hypothetische Prüfung der Voraussetzungen des dolus eventualis auf der Grundlage von Tätervorstellungen hinaus, die in Wirklichkeit gerade nicht vorlagen, und beinhaltet damit ersichtlich eine unzulässige Vorsatzunterstellung. 15 Puppe, NStZ 1991, 124 (125 f.); NK-StGB/Puppe, § 16 Rn. 97 ff. 16 Zutr. Herzberg, JA 1981, 470 (473). 17 So etwa in dem BGH NStZ 1998, 294 zugrundeliegenden Sachverhalt, wo der Sprengsatz am Ende allerdings nicht explodiert ist.
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wenn an die Adresse des vorgesehenen Opfers (oder eines in Betracht gezogenen Kreises potentieller Opfer wie der Mitglieder einer Familie oder der Mitarbeiter einer Firma) ein Paket abgeschickt wird, in dem sich eine Bombe oder vergiftete Speisen bzw. Getränke befinden, deren schädliche Wirkungen aufgrund einer vorzeitigen Detonation der Bombe, einer falschen Zustellung, der Öffnung durch jemanden, an den der Täter nicht gedacht hat, der Weitergabe des Inhalts durch den Adressaten an einen Dritten oder aus anderen Gründen beim „Falschen“ eintreten. 2. Solche Konstellationen werden vielfach nicht einheitlich beurteilt – so möchte z. B. Roxin die versehentlich am falschen Auto installierte Sprengfalle als unbeachtlichen error in persona,18 die Übersendung eines vergifteten Getränks, von dem das Opfer zunächst einen anderen trinken lässt, als aberratio ictus behandeln.19 Vor dem Hintergrund, dass eine sinnvolle Differenzierung zwischen beiden Rechtsfiguren hier anscheinend kaum möglich ist,20 wird nun z. T. behauptet, die Behandlung eines Falles nach den Regeln über die aberratio ictus komme generell nur bei unmittelbarer Konfrontation zwischen Täter und Opfer in Betracht, während überall dort, wo der Täter gegen eine abwesende Person einen schädlichen Kausalverlauf in Gang setzt, der schließlich in zurechenbarer Weise den „Falschen“ trifft, nur eine unbeachtliche Personenverwechselung vorliege. Prittwitz hat diese Lösung auf der Grundlage der Annahme entwickelt, wonach die aberratio ictus lediglich eine Abweichung des Kausalverlaufs darstelle, die nach ihrer Erheblichkeit zu bewerten sei. Um für diese Bewertung einen festen Maßstab zu gewinnen, biete sich eine Unterscheidung danach an, ob der Täter das verfehlte Angriffsobjekt sinnlich wahrgenommen hat. Eine solche Differenzierung entspreche „einer – mit dem Rechtsgefühl in Übereinstimmung befindlichen – sinnvollen kriminalpolitischen Wertung“, weil die unmittelbare Wahrnehmung darüber entscheide, ob der Täter „über eine Kontrollmöglichkeit bis unmittelbar vor Vollendung der Tat verfügt“, was die Tat für Dritte typischerweise weniger gefährlich erscheinen lasse.21 Für die meisten Autoren bildet die Erwägung, wonach es der Täter ohne einen Sichtkontakt mit dem Opfer demgegenüber 18 Roxin (Fn. 5), § 12 Rn. 197 in Übereinstimmung mit dem obiter dictum in BGH NStZ 1998, 294 (295), anders jedoch für die überraschende Benutzung des verminten „richtigen“ Autos durch die „falsche“ Person ders., FS Spendel, 1992, S. 289 (294 f.); ähnlich Grotendiek, Strafbarkeit des Täters in Fällen der aberratio ictus und des error in persona, 2000, S. 105; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, 4. Aufl. 2011, Rn. 442; gegen eine Einstufung als aberratio ictus auch bei der Abwandlung Streng, JuS 1991, 910 (913); Rengier (Fn. 13), § 15 Rn. 48. 19 Roxin, JZ 1991, 680; ders., FS Spendel, 1992, S. 289 (293 ff.); für diesen Fall ebenso Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S. 313; Otto (Fn. 9), § 7 Rn. 95; Krey/Esser (Fn. 18), Rn. 446; Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht AT, 5. Aufl. 2011, Rn. 90; anders hingegen Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1993, 8. Abschnitt Rn. 81; Rengier (Fn. 13), § 15 Rn. 49. 20 So nachdrücklich Puppe, GA 1981, 1 (4 ff.); dies., GA 1984, 101 (121), ihr folgend BGHSt 37, 214 (219); ebenso Weßlau, ZStW 104 (1992), 105 (110 f.); Frister (Fn. 2), 11. Kap. Rn. 60. 21 Prittwitz, GA 1983, 110 (127 f.); krit. gegenüber dieser Annahme Geppert, Jura 1992, 163 (165); Rath (Fn. 5), S. 173 f.
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von vornherein nicht in der Hand habe, welche Person von seiner Tat getroffen wird, hingegen den Ausgangspunkt für folgende Überlegung: In Ermangelung einer anderen Möglichkeit zur Individualisierung seines Opfers könne der Täter in diesem Fall gar nicht anders, als seinen Vorsatz auf wen auch immer zu richten, der am Ende in den Wirkungsbereich der Tat gelangt.22 Insofern sei die Person, bei der der Erfolg schließlich eintritt, im Gegensatz zum Opfer einer klassischen aberratio ictus auch keineswegs „zufällig“ getroffen.23 3. Beide Argumentationsansätze können nicht überzeugen:24 Nach den oben II.2. und II.3. ausgeführten Überlegungen geht es im vorliegenden Zusammenhang nicht um kriminalpolitische Wertungen und letzten Endes (anders als bei der bei der Frage nach der Wesentlichkeit einer Abweichung im Kausalverlauf) überhaupt nicht um eine normative Entscheidung über die Beachtlichkeit bestimmter Fehlvorstellungen. Hier ist vielmehr ausschließlich die Feststellung zu treffen, ob die Verletzung des tatsächlich getroffenen Rechtsgutsträgers innerhalb der Vorsatzkonkretisierung liegt, die der Täter im Einzelfall getroffen hat, und deren Vornahme ungeachtet der Tatsache, dass sie unterschiedlich weit ausfallen kann, grundsätzlich eine notwendige Voraussetzung jeglicher Vorsatzbildung darstellt.25 Der Grad der Unbeherrschbarkeit des Geschehens und der damit verbundenen Gefährlichkeit der Tat für Unbeteiligte spielt bei dieser Betrachtung keine Rolle (es sei denn als Indiz dafür, dass der Täter den am Ende getroffenen Unbeteiligten vielleicht doch mit dolus eventualis in seine Vorstellungen aufgenommen hat – in diesem Fall entfällt das ganze Problem) und kann folglich auch nicht den Ausschlag darüber geben, wie die aberratio ictus vom error in persona abzugrenzen ist. Ebenso unzutreffend ist die Erwägung, wonach die Fehlentwicklung des Kausalverlaufs bei unmittelbarer Konfrontation mit dem Opfer auf einem nicht vom Vorsatz gedeckten Zufall beruhe, bei Einrichtung einer Falle usw. dagegen im Vorgehen des Täters „angelegt“ und deshalb von seinem Vorsatz miterfasst sei. Ob das „richtige“ Opfer in eine Falle geht, das Paket öffnet, aus einer Flasche trinkt usw. hängt nämlich ebenso von Zufällen ab wie die Frage, ob ein auf A abgefeuertes Gewehrgeschoss diesen oder den einige Meter weiter stehenden B trifft. Der Täter kann auch grundsätzlich in beiden Konstellationen mehr oder weniger zuverlässige Maßnahmen ergreifen, um solchen Zufällen möglichst wenig Raum zu lassen (hier sorgfältige Vorkehrungen bei Einrichtung der Falle mit Blick auf die Gewohnheiten des Opfers und vorhersehbare Verhaltensweisen potentieller Drittbetroffener, dort eine sorgfältige Wahl von Tatort, Waffe, sorgfältiges Zielen 22
Burchard, „Irren ist menschlich“, 2008, S. 499 ff.; HK-GS/Duttge, 2. Aufl. 2008, § 16 Rn. 8; Jakobs (Fn. 19), 8. Abschnitt Rn. 81; Kühl, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 27; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT I, 5. Aufl. 2003, § 8 Rn. 96 f.; Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 41. Aufl. 2012, Rn. 255; Murmann, Grundkurs Strafrecht, 2011, § 24 Rn. 63. 23 Geppert, Jura 1992, 163 (165 f.); Gropp, FS Lenckner, 1998, S. 55 (65 f.); Schönke/ Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 3), StGB, § 15 Rn. 59. 24 Gegen die Relevanz des Sichtbarkeitskriteriums auch Schlehofer (Fn. 8), S. 174; Herzberg, NStZ 1999, 217 (220 f.); LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 26 Rn. 86. 25 Zutr. Freund, FS Maiwald, 2010, S. 211 (226 f.).
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nach vorherigem intensivem Training usw.).26 Nehmen die Dinge schließlich doch einen anderen Lauf, weil er in irgendeiner Form „nachlässig“ war oder weil trotz noch so umfassender Vorsorge ein Umstand zum Tragen kam, den er nicht bedacht hatte, so kann man ebenfalls für beide Konstellationen gleichermaßen sagen, das Fehlgehen der Tat zum Nachteil eines Dritten sei in der Tat von vornherein „angelegt“ gewesen:27 Ebenso wie es in der Natur der Einrichtung einer Falle liegt, dass wider Erwarten ein Unbeteiligter in ihren Wirkungsbereich gelangen kann, liegt es in der Natur eines Schusses, dass er infolge eines Ziel- oder Abzugsfehlers und aufgrund einer unzureichenden Beobachtung des Gefahrenbereichs den Falschen treffen kann, und auch die Unwägbarkeiten des Opferverhaltens können (etwa in Gestalt einer plötzlichen Bewegungsänderung) hier wie dort zu einer unerwarteten Wendung des Geschehens führen.28 In beiden Konstellationen kann der Täter mit Bemühungen, entsprechende Risiken zu kontrollieren, schließlich im Einzelfall Erfolg haben oder nicht. 4. Richtig ist an den Überlegungen zur Bedeutung der unmittelbaren Konfrontation zwischen Täter und Opfer einzig und allein, dass der Täter nur hier die Möglichkeit hat, seinen Vorsatz gerade auf das vor ihm stehende Opfer zu konkretisieren. Daraus folgt nun aber nicht, dass eine aberratio ictus lediglich in dieser Konstellation in Betracht käme. Es ist vielmehr umgekehrt der error in persona, der eine direkte Wahrnehmung des Opfer voraussetzt, während der vom Täter nicht bedachte Eintritt des Taterfolgs beim falschen Opfer ohne eine solche immer eine aberratio ictus darstellt (und deshalb ist die Suche nach Kriterien zur Unterscheidung zwischen beiden Rechtsfiguren bei Distanzdelikten in der Tat zum Scheitern verurteilt).29 a) Erst die Wahrnehmung des Opfers mit den eigenen Sinnen (i. d. R. in visueller Form, bei Versperrung der Sicht auf das Opfer, völliger Dunkelheit oder einem blinden Täter kommt aber auch eine Erfassung des Opfers in seiner unmittelbaren Gegenständlichkeit, als Geräusch- oder als Geruchsquelle durch Tasten, Hören oder Riechen in Betracht) ermöglicht es dem Täter, seinen Vorsatz statt auf denjenigen, der nach seiner Vorstellungen „eigentlich“ zum Opfer der Tat werden sollte, auf den „Falschen“ auszurichten – nämlich auf die unzutreffend identifizierte Person, die in Fleisch und Blut vor ihm steht. Nur hier finden wir mithin das für den error in persona (bzw. den error in obiecto bei Gleichwertigkeit der Tatobjekte) typische Auseinanderklaffen zwischen dem Vorsatz des Täters, den vor ihm stehenden Menschen zu töten, und der Vorstellung über die Identität des Opfers, die ihn als „unbeachtlicher Motivirrtum“ nicht entlasten kann.
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Ähnlich Rath (Fn. 5), S. 286, 289. Vgl. Puppe, GA 1981, 1 (17 f.); Rath (Fn. 5), S. 51. 28 Zutr. Rath (Fn. 5), S. 285. Eingehend zur Gleichwertigkeit beider Konstellationen auch Freund, FS Maiwald, 2010, S. 211 (227 f.). 29 So wohl auch Herzberg, JA 1991, 470 (473 f.), allerdings mit einer (m. E. nicht veranlassten) Ergebniskorrektur für bestimmte Fälle. 27
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b) Wer eine Falle einrichtet oder eine Bombe oder vergiftete Lebensmittel verschickt, hat dagegen keine Möglichkeit, seinen Vorsatz in Abweichung von seiner Motivlage auf den „Falschen“ zu konkretisieren. Bei Tatopfern, denen der Täter nicht unmittelbar gegenüber steht, besteht vielmehr nur folgende Alternative: Ist dem Täter die mögliche Streuwirkung seiner Tathandlung in einer zur Annahme von dolus eventualis hinreichenden Weise bewusst, dann fällt ihm der Tod eines anderen als des primär vorgesehenen Tatopfers als vorsätzlich herbeigeführter Erfolg zur Last, aber nicht deshalb, weil er irgendeinem „unbeachtlichen Irrtum“ unterlegen wäre, sondern weil im Gegenteil genau das passiert ist, was er vielleicht nicht angestrebt oder als sicher vorhergesehen, aber doch als mögliche Folge seiner Handlung in Kauf genommen hat. Das Raster der Konkretisierung seines Vorsatzes deckt sich dabei wie bei demjenigen, der ohnehin wahllos töten will, in der Tat mit dem potentiellen Wirkungsbereich der Tathandlung und erfasst damit jeden, der in vorhersehbarer Weise in diesen hineingerät. Hat der Täter die Möglichkeit, dass die Folgen seines Vorgehens einen anderen als denjenigen treffen könnten, dem der Anschlag galt (bzw. jemanden außerhalb eines bestimmten Kreises von Personen, die er als alternative oder kumulative Opfer in Betracht gezogen hat), dagegen entweder überhaupt nicht bedacht, oder er hielt er das Risiko für so gut kalkulierbar, dass man ihm insoweit vielleicht noch bewusste Fahrlässigkeit, aber keinen Vorsatz vorwerfen kann, dann hat er seinen Vorsatz auf den Eintritt der Tatfolgen beim „richtigen“ Opfer konkretisiert.30 Geht er im letztgenannten Fall mit der Vorstellung zu Werke, ein ganz bestimmtes Opfer werde in die auf dessen Gewohnheiten zugeschnittene Falle gehen, während er das Risiko, dass ein Dritter in ihren Wirkungsbereich gelangt, nach Lage der Dinge für vernachlässigbar hält, dann ist nicht ersichtlich, was ihn von demjenigen unterscheiden sollte, der vom Flug der von ihm abgefeuerten Gewehrkugel entsprechendes denkt, bevor er durch deren tatsächliche Einschlagstelle schließlich eines Besseren belehrt wird. c) Dabei ist es völlig ausreichend, wenn der Täter seinen Vorsatz gegenüber einem abwesenden Tatopfer durch die Vorstellung, die Folgen seiner Handlung würden eine ganz bestimmte Person und niemanden sonst treffen, „gedanklich“ konkretisiert.31 Da die Vorsatzbildung nun einmal im Kopf des Täters stattfindet, liegt letzteres nämlich in der Natur der Sache und gilt im Übrigen auch im Falle seiner unmittelbaren Konfrontation mit dem Opfer: Im „klassischen“ Fall der aberratio ictus, in dem der Täter auf A schießt und statt diesem versehentlich den einige Meter weiter stehenden B trifft, richtet er die Tat ebenfalls nur „gedanklich“ gegen A. Löst man sich von den (Fehl-)Vorstellungen in seinem Kopf und nimmt stattdessen sein tatsächliches Zielund Abzugsverhalten, die technischen Eigenschaften von Waffe und Geschoss und die räumliche Position der Beteiligten in den Blick, gelangt man hingegen auch hier zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass die Tat in Wirklichkeit „gegen B gerichtet“ war – nicht mehr und nicht weniger als bei der Installation einer Sprengfalle, bei der 30
Ebenso im Ergebnis B. Heinrich, Strafrecht, AT II, 2. Aufl. 2010, Rn. 1112. Herzberg, JA 1981, 470 (473); kritisch hiergegen Weßlau, ZStW 104 (1992), 105 (113 f.); Rath (Fn. 5), S. 287. 31
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sich die Vorstellung des Täters, diese werde den A und nicht den B oder sonst jemanden töten, mit dem Tod des B schließlich als unzutreffend erweist. Der einzige Unterschied, den die neben die „gedankliche“ Erfassung tretende „sinnliche“ Erfassung des Opfers in den Fällen unmittelbarer Konfrontation bewirkt, ist die Eröffnung der oben a) dargestellten zusätzlichen Irrtumsmöglichkeit über die Identität desjenigen, von dem der Täter glaubt, dass ihn die Folgen der Tat treffen werden.
IV. Der error in persona des Täters als aberratio ictus des Teilnehmers 1. Seit das Preußische Obertribunal vor über 150 Jahren den berühmten „RoseRosahl-Fall“ entschieden hat,32 der durch eine im Jahre 1990 ergangene Entscheidung des BGH zu einem nahezu identischen Fall eine Neuauflage erfuhr,33 herrscht Streit über die Behandlung der Teilnahme an einem Delikt, das der Haupttäter infolge einer Personenverwechslung an einem anderen Opfer begeht, als der Teilnehmer angenommen hatte. Auf der einen Seite steht dabei die Vorstellung, eine vom Teilnehmer nicht eventualdolos in Kauf genommene Verwechslung des Tatopfers durch den Haupttäter bedeute für ersteren, dass seine Anstiftungs- oder Beihilfehandlung das ihr zugedachte Ziel verfehlt (ganz ähnlich wie eine vom Täter auf ein bestimmtes Opfer abgefeuerte Kugel, die ungewollt einen Dritten trifft), und stelle aus seiner Perspektive somit eine aberratio ictus dar, weshalb man ihm jedenfalls keine Teilnahme an der vollendeten Haupttat zur Last legen könne.34 Auf der anderen Seite stehen das Preußische Obertribunal, der BGH und eine Reihe von Autoren im strafrechtlichen Schrifttum, die den Teilnehmer wegen Anstiftung bzw. Beihilfe zur vollendeten Haupttat bestrafen wollen, wenn die Verwechslung des Opfers durch den Täter nach allgemeiner Lebenserfahrung im Rahmen des Vorhersehbaren liegt.35 2. Letzteres versteht sich von selbst, wenn man der aberratio ictus generell (d. h. auch für den Täter, dessen Schuss ein Opfer trifft, das er nicht anvisiert hatte) keine Bedeutung beimisst. Bei Ablehnung dieser – auch von der Rechtsprechung ausdrücklich nicht geteilten36 – Position (s. o. II.) ist eine solche Lösung noch folgerichtig, wenn man die Rechtsfigur der aberratio ictus nur bei unmittelbarer Konfrontation 32
Preußisches Obertribunal GA 1859, 322. BGHSt 37, 214. 34 So etwa Bemmann, MDR 1958, 817 (821 f.); ders., FS Stree/Wessels, 1993, S. 397 (401 ff.); Hillenkamp (Fn. 2), S. 65; Roxin, FS Spendel, 1992, S. 289 (291 ff.); Toepel, JA 1997, 248 (254 f.), 344 (345); HK-GS/Ingelfinger, 2. Aufl. 2008, § 26 Rn. 19; Jescheck/ Weigend (Fn. 19), S. 690; Otto (Fn. 9), § 22 Rn. 46; B. Heinrich (Fn. 30), Rn. 1311. 35 Puppe, NStZ 1991, 124 (126); Geppert, Jura 1992, 163 (167); Weßlau, ZStW 104 (1992), 105 (115, 129 ff.); Burchard (Fn. 22), S. 496 ff.; BeckOK-StGB/Kudlich, Stand 15. 6. 2012, § 26 Rn. 24.4; Wessels/Beulke (Fn. 22), Rn. 579; Krey/Esser (Fn. 18), Rn. 1096; Murmann (Fn. 22), § 27 Rn. 117. 36 Vgl. BGHSt 34, 53 (55). 33
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zwischen Täter und Opfer für einschlägig hält, weil sich der abwesende Teilnehmer insofern in der gleichen Situation befindet wie ein Täter, der seinem Opfer eine Paketbombe übersendet.37 Nachdem wir festgestellt haben, dass die fehlende sinnliche Wahrnehmung des Opfers nicht das Vorliegen einer aberratio ictus, sondern im Gegenteil nur die Möglichkeit eines error in persona ausschließt (s. o. III.3. und III.4.), bleibt als Argument für die Annahme einer Anstiftung oder Beihilfe zur vollendeten Haupttat die angeblich gebotene „Gleichbehandlung“ von Täter und Teilnehmer.38 3. Dieses Argument ist indessen im Ansatz verfehlt, weil es im vorliegenden Zusammenhang überhaupt nicht darum geht, dem Teilnehmer quasi irgendetwas dafür „gutzuschreiben“, dass der Täter einem als solchem unbeachtlichen Irrtum über die Identität des von ihm ausgewählten Opfers unterlag. Die Ausgangsfrage lautet vielmehr nur, ob das objektive Geschehen in Gestalt einer Tötung des „falschen“ Opfers vom Vorsatz des Teilnehmers gedeckt ist. Für den subjektiven Tatbestand der Teilnahme ist nun allgemein anerkannt, dass der Teilnehmer nicht nur die Anstiftungshandlung bzw. den Gehilfenbeitrag vorsätzlich erbringen muss, sondern einen eigenen Vorsatz hinsichtlich der Haupttat als solchen benötigt (Erfordernis eines „doppelten“ Anstifter- bzw. Gehilfenvorsatzes). Demnach entscheiden allein seine eigenen Vorstellungen vom Tatgeschehen über den Rahmen, in dem er das vom Haupttäter verwirklichte Unrecht als Teilnehmer mitverantworten muss – ein ihm unbekannter Vorsatz des Haupttäters ist ebenso wenig in der Lage, seine Vorsatzhaftung über diesen Rahmen hinaus zu erweitern, wie das bei ihm unbekannten Aspekten des äußeren Tatgeschehens der Fall wäre. Infolgedessen kann es beim Teilnehmer auch keine Vorsatzstrafbarkeit für die Folgen einer vom Haupttäter versehentlich vorgenommenen Fehlausrichtung seines Vorsatzes auf Taterfolge geben, die vom Teilnehmervorsatz nicht selbständig gedeckt sind.39 Bei der Frage, wie weit die Deckung des objektiven Geschehens durch den Teilnehmervorsatz reicht, ist nun zu beachten, dass dieser wie jeder andere Vorsatz wiederum niemals abstrakt „gattungsbezogen“ gegen alle denkbaren Träger des betroffenen Rechtsguts gerichtet sein kann, sondern zwangsläufig eine „Konkretisierung“ enthält (s. o. II.3.). Diese Konkretisierung kann auch hier sehr grob sein (so vor allem dort, wo ein Gehilfe – etwa der Lieferant einer Tatwaffe – nur recht vage Kenntnisse von der Haupttat besitzt und mit einem entsprechend weitreichenden dolus alternativus hinsichtlich aller potentiellen Opfer handelt, die von einem der in seinem Vorstellungsbereich liegenden Geschehensabläufe betroffen sein können). Ist sie im Einzelfall jedoch tatsächlich so weit verdichtet, dass sie nur den Tod eines ganz bestimmten Opfers beinhaltet, 37 So denn auch ausdrücklich die Argumentation von BGHSt 37, 214 (219). Bei einem Teilnehmer, der mit eigenem Blick auf das Opfer an der Tatausführung am Tatort beteiligt ist (Bsp.: A gibt dem gedungenen Mörder M, mit dem er gemeinsam auf das Opfer wartet, bei dessen Erscheinen das Zeichen für die Ausführung der Tat), stellt sich das Problem von vornherein nicht, weil er seinen Vorsatz hier ebenso wie der Täter auf die vor ihnen stehende Person konkretisiert und insofern selbst nur einem unbeachtlichen error in persona unterliegt. 38 Diesen Aspekt besonders betonend BGHSt 37, 214 (217 f.). 39 Zutr. bereits Bemmann, MDR 1958, 817 (821 f.); Schlehofer, GA 1992, 307 (310 f.).
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dann kann in Ermangelung einer anderweitigen Festlegung der Tätervorstellungen wiederum nur diese Ausrichtung der inneren Tatseite den notwendigen Übergang von der allgemein rechtsgutsfeindlichen Einstellung zum Bewusstsein der Beeinträchtigung realer Rechtsgutsträger markieren. Damit steht fest, dass ein Erfolg, der aufgrund einer fehlerhaften Vorsatzkonkretisierung des Haupttäters am „falschen“ Opfer eingetreten ist, ohne dass der Teilnehmer dieses in einer den allgemeinen Anforderungen an einen dolus eventualis genügenden Form in seine Vorstellung aufgenommen hatte, dem Anstifter oder Gehilfen nicht als vorsätzlich herbeigeführte Folge seiner Anstiftungshandlung (bzw. nicht als durch seinen Gehilfenbeitrag vorsätzlich unterstützter Taterfolg) zugerechnet werden kann. 4. Dabei sind es letzten Endes die allgemeinen Voraussetzungen einer strafbaren Teilnahme mit dem anerkannten Erfordernis eines eigenen „doppelten“ Anstifteroder Gehilfenvorsatzes,40 die bei konsequenter Anwendung zwangsläufig die Perspektivenverschiebung bewirken, durch die der error in persona des Haupttäters für den Teilnehmer eine aberratio ictus begründet. Wenn der BGH zur Legitimation einer „Gleichbehandlung“ auf § 26 StGB rekurriert, wonach der Anstifter „gleich einem Täter“ bestraft wird, insofern „grundsätzlich gleiches Unrecht wie der Täter [verwirkliche] und … ebenso wie dieser haftbar sein“ solle,41 verwendet er letzten Endes einen an die Rechtsfolgen von § 26 StGB angelehnten Evidenzappell, um einer exakten Prüfung der anerkannten Voraussetzungen dieser Norm auszuweichen, bei der notwendigerweise ihre Unanwendbarkeit zutage treten würde.42 5. Da es bei der Frage, ob der beim „falschen“ Opfer eingetretene Taterfolg vom Vorsatz des Teilnehmers umfasst ist, ebenso wie bei der aberratio ictus des Täters nur darum geht, ob der Anstifter oder Gehilfe einen solchen Ausgang tatsächlich für möglich gehalten und sich mit ihm abgefunden hat, bleibt letzten Endes auch kein Raum für differenzierende Lösungen, die nicht generell, sondern (mit Unterschieden in den Einzelheiten) jeweils für bestimmte Konstellationen behaupten, der Taterfolg sei dem Teilnehmer als vorsätzlich veranlasst bzw. gefördert zuzurechnen, obwohl er die Möglichkeit seines Eintritts beim betroffenen Rechtsgutsträger entweder gar nicht bedacht oder als vermeintlich beherrschbares Risiko eingestuft hatte. So spielt es insbesondere keine Rolle, ob die Personenverwechslung des Haupttäters auf einer Unzulänglichkeit der Kriterien beruht, die ihm ein Anstifter zur Identifizierung des 40 Und nicht etwa „ein rein mechanistisches Modell der Anstiftung“ (so aber Puppe, GA 1984, 101 [120 f.]; dagegen zutr. Roxin, FS Spendel, 1992, S. 289 [296]); entgegen Puppe, NStZ 1991, 124 können die allgemeinen Akzessorietätsregeln schon gar nicht für die Ansicht des BGH ins Feld geführt werden. 41 BGHSt 37, 214 (217). Diese Überlegungen sind im Übrigen einseitig auf die Situation der Anstiftung bezogen; der BGH war insofern offenbar völlig im konkreten Sachverhalt gefangen und hat die identische Relevanz des Problems für die Beihilfe übersehen, wo das Argument der Bestrafung „gleich einem Täter“ offenkundig neben der Sache liegt, die Lösung im Hinblick darauf, dass es um die allgemeinen Voraussetzungen der Teilnahme geht, aber schwerlich eine andere sein kann. 42 Zutr. Kritik bei Schlehofer, GA 1992, 307 (310).
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Opfers mitgeteilt hat, oder ob dabei eine unzureichende Umsetzung an sich zuverlässiger Vorgaben durch den Täter den Ausschlag gab.43 Es ist auch sonst unerheblich, ob die betreffende Fehlerquelle im Machtbereich des Täters oder des Teilnehmers liegt, oder ob es vielleicht unbillig erscheint, wenn sich ein Anstifter auf der Ebene der Vorsatzstrafbarkeit vom Risiko einer Personenverwechselung entlasten kann, indem er die Individualisierung des Opfers an den von ihm beauftragten Täter delegiert.44 Ob das Vorsatzerfordernis nach den dafür allgemein maßgeblichen Kriterien (!) in Bezug auf den tatsächlich eingetretenen Erfolg gewahrt ist, hat nämlich nichts damit zu tun, an welcher Stelle des Gesamtgeschehens die Dinge eine unerwartete Eigendynamik entfalten, und wer dafür unter Beherrschbarkeits- und Vorhersehbarkeitsaspekten welchen Verantwortungsanteil trägt. Eine aus solchen Gesichtspunkten abgeleitete Verantwortlichkeit für das Ergebnis ist vielmehr definitionsgemäß diejenige eines Fahrlässigkeitsdelikts.45
V. Konsequenzen des error in persona für den Teilnehmer: Teilnahme am Versuch oder versuchte Teilnahme? Zum Folgeproblem, ob der Teilnehmer bei einem error in persona des Haupttäters statt wegen Teilnahme an der vollendeten Tat gegenüber dem „falschen“ immerhin wegen Teilnahme an einer (in ersterer quasi enthaltenen) versuchten Tat gegenüber dem „richtigen Opfer“ strafbar ist,46 oder ob sich die Strafbarkeit neben derjenigen wegen eines evtl. Fahrlässigkeitsdelikts auf eine (wegen des insoweit beschränkten 43 In diesem Sinne jedoch Stratenwerth, FS Baumann, 1992, S. 57 (65 f.); Stratenwerth/ Kuhlen (Fn. 22), § 8 Rn. 98; Weßlau, ZStW 104 (1992), 105 (130 f.); Schönke/Schröder/ Sternberg-Lieben (Fn. 3), StGB, § 15 Rn. 59a; SK-StGB/Hoyer, Loseblattausgabe, 34. Lfg. (Oktober 2000), Vor § 26 Rn. 53; Jakobs (Fn. 19), 21. Abschnitt Rn. 45; Roxin, Strafrecht, AT II, 2003, § 26 Rn. 128; Kühl (Fn. 22), § 20 Rn. 209; Kindhäuser, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, § 41 Rn. 32 f.; Murmann (Fn. 22), § 27 Rn. 117; Rengier (Fn. 13), § 45 Rn. 58 ff. 44 So Streng, JuS 1991, 910 (915). Dabei ist im Übrigen zu bedenken, dass eine bewusste und gezielte Selbstentlastung vom Risiko der Opferverwechselung durch Einschaltung eines Dritten allenfalls dann in Betracht kommt, wenn der Anstifter die Fähigkeiten des beauftragten Täters zur korrekten Identifizierung des Opfers höher einschätzt als die eigenen und deshalb meint, jenes Risiko durch den Verzicht auf eine eigenhändige Tatausführung tatsächlich in beherrschbare Bahnen zu lenken. Will der Anstifter ein als naheliegend erkanntes Irrtumsrisiko, mit dessen möglichen Folgen für Unbeteiligte er sich abfindet, dagegen einfach nur an die angestiftete Person weiterreichen, dann wird seine Anstiftungshandlung von einem dolus alternativus getragen, der eine Bestrafung wegen Anstiftung zur vollendeten Haupttat unabhängig davon ermöglicht, ob diese am „richtigen“ oder am „falschen“ Opfer begangen wird! 45 Ähnlich LK-StGB/Schünemann (Fn. 24), § 26 Rn. 88, allerdings mit einer wenig konsequenten Ausnahme für den Fall einer fehlerhaften oder völlig ungenauen Beschreibung des Opfers durch den Anstifter (a.a.O. Rn. 89). 46 Stratenwerth, FS Baumann, 1992, S. 57 (67 ff.); Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 22), § 8 Rn. 98; Streng, ZStW 109 (1997), 862 (895 ff.); Joecks, Studienkommentar StGB, 9. Aufl. 2010, § 26 Rn. 27; MK-StGB/Joecks, 2. Aufl. 2011, § 26 Rn. 84 f.
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Anwendungsbereichs von § 30 StGB freilich nur im Falle der Anstiftung und auch dort nur bei Verbrechen mögliche) versuchte Teilnahme beschränkt,47 sei abschließend folgendes bemerkt: Auch der Tatentschluss des Versuchstäters kann sich nicht in der abstrakten Vorstellung erschöpfen, Träger des geschützten Rechtsguts „der Gattung nach“ zu beeinträchtigen, sondern bedarf einer „Konkretisierung“ auf einen oder (kumulativ oder alternativ) mehrere Rechtsgutsträger, gegenüber dem bzw. denen sich der rechtsfeindliche Wille gemäß § 22 StGB in Form des unmittelbaren Ansetzens zur Tat manifestiert. Eine Fehlkonkretisierung des Tatentschlusses gegenüber dem „falschen“ Tatobjekt führt dabei zwar nicht zur Entlastung des Versuchstäters (dieser haftet im Gegenteil sogar für eine Konkretisierung seiner Vorstellungen auf ein untaugliches Objekt, so z. B. der gedungene Mörder, der auf eine Gipsfigur schießt, die er in der Dunkelheit für die Person hält, die er töten soll, nach §§ 212, 211, 22). Wenn das Motiv des Täters in dem Sinn, ob er die Tat wirklich gegen dieses Objekt oder „eigentlich“ nicht doch gegen ein anderes richten wollte, für die Versuchsstrafbarkeit somit unerheblich ist, muss dies bei konsequenter Betrachtung jedoch auch in umgekehrter Hinsicht gelten. Das bedeutet: Ebenso wenig, wie die Vorstellung, die Tat gegen ein anderes Objekt zu richten, den Täter vom Vorwurf entlasten kann, gegenüber dem bei der Versuchshandlung ins Auge gefassten Objekt unmittelbar zur Tat angesetzt zu haben, ist sie geeignet, ein unmittelbares Ansetzen gegenüber demjenigen Objekt zu begründen, auf das es der Täter in letzter Konsequenz abgesehen, auf das er seine Versuchshandlung im Ergebnis aber gerade nicht ausgerichtet hat. Demnach ist die Vorstellung eines Versuchs am „richtigen“ Opfer, den der Täter beim error in persona mit der (vollendeten oder versuchten) Tat zum Nachteil des falsch identifizierten Opfers zugleich begangen habe, nicht richtig.48 Infolgedessen liegt auch insoweit keine Haupttat vor, die mit dem Anstifteroder Gehilfenvorsatz eines Teilnehmers kongruieren könnte, der eine solche Verwechslung nicht eventualdolos einkalkuliert hat.49 Dieser ist also allenfalls wegen versuchter Anstiftung strafbar (ggf. in Tateinheit mit einem Fahrlässigkeitsdelikt), wenn im Einzelfall die dafür maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt sind.
47 So die h.M., vgl. etwa Roxin, FS Spendel, 1992, S. 289 (300 f.); Bemmann, FS Stree/ Wessels, 1993, S. 397 (399); Toepel, JA 1997, 344 (348 ff.); LK-StGB/Schünemann (Fn. 24), § 26 Rn. 90; HK-GS/Ingelfinger (Fn. 34), § 26 Rn. 19; Otto (Fn. 9), § 22 Rn. 46; B. Heinrich (Fn. 30), Rn. 1311. 48 Ebenso Roxin, FS Spendel, 1992, S. 289 (301); Toepel, JA 1997, 344 (349); Schroth (Fn. 2), S. 108; LK-StGB/Schünemann (Fn. 24), § 26 Rn. 90. 49 Dies gilt übrigens auch und erst recht, wenn der Täter einen Versuch am untauglichen Objekt (Schuss auf eine Gipsfigur oder auf einen Baumstumpf) begeht, d. h. auch hier kommt im Teilnahmebereich richtigerweise nur eine versuchte Anstiftung in Betracht. Die Annahme einer Teilnahme am Versuch in derartigen Fällen ließe die Ablehnung einer solchen beim error in persona des Täters in der Tat inkonsequent erscheinen, insofern zutr. Stratenwerth, FS Baumann, 1992, S. 57 (68); Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 22), § 8 Rn. 98; Streng, ZStW 109 (1997), 862 (896).
Zur Unbilligkeit des vorgeblich „Billigen“ – oder: Höllen-Engel und das Gott-sei-bei-uns-Dogma (Noch einmal) einige Gedanken zum Erlaubnis-Tatbestandsirrtum Von Hans-Ullrich Paeffgen Die nachfolgenden Zeilen seien dem hochgeschätzten Kollegen und langjährigen Mitautor des Systematischen Kommentars in Dankbarkeit für viele Anstöße zum Nachdenken gewidmet: Der Jubilar hat vor allem in seinem Beitrag zur LacknerFestschrift Tiefschürfendes zur Frage der subjektiven Rechtfertigungs-Seite und speziell des Erlaubnis-Tatbestandsirrtums publiziert.1 Bei aller Übereinstimmung, die ich mit seinen Auffassungen in anderen Bereichen der Strafrechts- und Prozeßrechtsdogmatik verzeichnen darf, bin ich in diesem Punkte anderer Auffassung gewesen – und bin es immer noch.2 Als jemandem, dem es immer um die Sache geht, wird der Jubilar es deswegen sicher nicht als Affront auffassen, wenn ich auf diesen Dissens in einer seiner Ehrung gewidmeten Schrift zurückkomme. Vielmehr möchte ich einfach den Dialog um dieses Problem fortsetzen, – wenngleich mir bewußt ist, daß die Zeit solchen Grundsatzdebatten nicht sehr gewogen ist. Daß dies beim Jubilar freilich anders ist, dessen bin ich mir gewiß.
I. Problemaufriß Die h. M. ist sich im Ergebnis einig: Ein tatsachenbezogener Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes wird – irgendwie – nach § 16 StGB3 behandelt. Ob direkt4 oder analog5 oder „analog-analog“6: Hauptsache § 16.7 Der BGH 1 Frisch, FS Lackner, 1987, S. 113 ff. Aber nicht nur dort! Erinnert sei u. a. an: ders., in: Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung im deutschen, italienischen, portugiesischen und spanischen Strafrecht, 1991, S. 217 ff. 2 Paeffgen, Der Verrat in irriger Annahme eines illegalen Geheimnisses (§ 97b StGB) und die allgemeine Irrtumslehre, 1978, S. 93 ff.; ders., Arm. Kaufmann-GedS, 1989, S. 405 ff.; NK-StGB/Paeffgen, 4. Aufl. 2013, Vor § 32 Rn. 108 ff. 3 Also die Rechtsfolgenanordnung für den Tatumstands-Irrtum. 4 Sei es, der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen folgend, so etwa, Engisch, ZStW 70 (1958), 566 (585, 589 ff., 598 f.); Geerds, Jura 1990, 421 (430); Herzberg, JA 1989, 295 ff.; Art. Kaufmann, JZ 1954, 653 ff.; ders., JZ 1956, 353 ff.; 393; ders., FS Lackner, 1987, S. 185 (187); Rink, Deliktsaufbau, 2000, S. 251 ff.; Schaffstein, MDR 1951, 196; Schünemann, GA 1985, 341 (349 ff., 371 ff.); ders., FS R. Schmitt, 1992, S. 117 (132);
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spricht in jüngerer Zeit i. d. R. von einer „entsprechenden Anwendung“ des § 16, ohne deutlich zu machen, welcher Axiomatik er sich befleißigt.8 Freilich vermochte auch der Jubilar dieser Sicht einiges abzugewinnen9: Schünemann/Greco, GA 2006, 777 (790 ff.), sowie, früher schon, Minas-v. Savigny, Negative Tatbestandsmerkmale (1972) S. 104 ff. In modifiziert-vorsatztheoretischer Sicht auch Otto, Strafrecht, AT, § 15 Rn. 25 ff. – In modifizierter Form auch NK-StGB/Puppe, 3. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 16 ff., die aber als Irrtumslösung die Analogie zugrundelegt; NK-StGB/Puppe, 3. Aufl. 2010, § 16 Rn. 138; Puppe, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2011, § 13 Rn. 16 ff. 5 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, AT, 11. Aufl. 2011, § 21 Rn. 29 (31); Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 2009, § 7 Rn. 106 ff.; Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung III, 1991, S. 217 (247 ff.); Frister, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2012, § 14 Rn. 32 ff.; Graul, JuS 1995, 1049; Grünwald, Noll-GS (1984), S. 183 ff.; Krey, Strafrecht, AT I, 3. Aufl. 2008, Rn. 700 (710 f.) (a.A.: Krey/Esser, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2012, Rn. 743); Kühl, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 73; Kuhlen, Unterscheidung, 1987, S. 298 ff., 331; MK-StGB/Erb, 2. Aufl. 2012, § 32 Rn. 219; NK-StGB/Herzog, 3. Aufl. 2010, § 32 Rn. 130; NK-StGB/Neumann, 4. Aufl. 2013, § 34 Rn. 106 ff. (differenziert); Puppe, FS Stree/Wessels, 1993, S. 183 (191) und NK-StGB/Puppe (Fn. 4), § 16 Rn. 138; Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 70 ff.; Schlüchter, Irrtum, 1983, S. 171 f.; SK-StGB/Rudolphi (37. Lfg., 2002), §§ 15, 16 Rn. 10, 12; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 28. Aufl. 2011, § 16 Rn. 18, 19; Streng, FS Otto, 2007, S. 469 (478 ff.); i.E. ebenso Zielinski, Handlungsunwert …, 1973, S. 230 ff. und AK-StGB/Zielinski (1999), §§ 15, 16 Rn. 55. Differenzierend, aber i.E. nahestehend: M. Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 326. 6 Sog. rechtsfolgeneinschränkende Schuldtheorie. Grundlegend Krümpelmann, GA 1968, 129 (139 ff.) (allerdings noch für die differenzierende Lösung des E 1962) sowie Dreher, FS Heinitz, 1972, S. 207 (223); Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 16 Rn. 22; Gallas, FS Bockelmann, 1979, S. 155 (168 ff.); ferner: Bockelmann/Volk, Strafrecht, AT, 4. Aufl. 1987, S. 122 f., 125 f.; Herdegen, FS BGH, 1975, S. 195 (206 ff.); Jescheck/Weigend, Strafrecht, AT, 5. Aufl., § 41 IV 1d; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 15 Rn. 33; Maurach/Zipf, Strafrecht, AT I, 1992, § 37 Rn. 43; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB, 28. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn. 19, 60; Vor § 13 Rn. 17, 19, 60; Stratenwerth, Strafrecht, AT, 4. Aufl. 2000, § 9 Rn. 157 (
Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn. 162 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 42. Aufl. 2012, Rn. 478 f.; der Sache nach auch LK-StGB/Spendel, 11. Aufl. 1992, § 32 Rn. 343; und differenzierend Krümpelmann, ZStW-Beiheft 1978, 6 (47 ff.) (Vorsatz-Unrecht, aber Anwendung von § 49 II). 7 In Österreich ist die letztgenannte Sicht sogar h. M.: OGH ÖJZ EvBl 1994, Nr. 64, S. 282 (283); SSt (Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs in Strafsachen) Band 54, 59., S. 251; Kienapfel/Höpfl, Strafrecht, AT, 13. Aufl. 2009, Z 19 Rn. 6; Leukauf/Steininger, StGB, 3. Aufl. 1992, § 8 Rn. 4; WK/Höpfel, 2. Aufl. 2012, § 8 Rn. 3: Bei irrtümlicher Annahme einer Rechtfertigungslage sei das Vorsatzdelikt nicht zurechenbar; der Irrtum lasse zwar nicht den Vorsatz als solchen, aber dessen Unwert entfallen. Damit falle das Unrecht (vom Autor zugrundegelegt) oder jedenfalls die Schuld iSd vorsätzlichen Handlung fort; sowie Fabrizy, StGB, 10. Aufl. 2010, § 8 Rn. 1 (Der Erlaubnisirrtum schließe zwar nicht den Vorsatz, aber nach § 8 die Möglichkeit aus, wegen Vorsatzes bestraft zu werden.); Triffterer, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1994, 17 Rn. 37. Allerdings aA: (prominent) Nowakowski, Probleme der Strafrechtsdogmatik, JBl 1972, 19 (30); sowie Fuchs, Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2008, 20. Kap. Rn. 12; Schild, Die strafrechtliche Regelung des Irrtums, ÖJZ 1979, 173 (180), die für die eingeschränkte Schuldtheorie optieren. 8 BGHSt 45, 384; BGH NStZ 2001, 530; 591; 9 Grundlegend: Frisch, FS Lackner, 1987, S. 113 (119 ff.).
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Demgegenüber vertrat und vertritt eine, freilich scheinbar auch biologisch im Aussterben befindliche Gruppe von Autoren die These, mangels ausdrücklicher Ermächtigung falle der sog. „Erlaubnis-Tatbestandsirrtum“, da er kein Fall des § 16 sei, unter den Regelungsbereich des § 17.10 Ich möchte hier noch einmal drei Aspekte aufgreifen, die mir in der Diskussion – mit unterschiedlicher Intensität – belangreich erscheinen: Das erste ist ein verfassungsrechtlich-auslegungsmethodisches Argument: Nach verbreiteter, auch von der Rechtsprechung dann, wenn es ins Konzept paßt, gern bemühter Sicht ist eine Auslegung an zwei Voraussetzungen gebunden: a) eine (ungewollte) Gesetzeslücke – und b) die Ähnlichkeit des zu regelnden Sachverhaltes mit einem ausdrücklich geregelten. Über b) will ich hier nicht streiten. Angesichts der Vielzahl von Autoren, unter ihnen so kluger Köpfe wie dem Jubilar, sei die Ähnlichkeit der Fälle, in denen ein Akteur über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Tatbestandsmerkmals irrt, mit denen, in denen einer über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungs-Tatbestandsmerkmals irrt, hier nicht weiter befehdet. Kardinal scheint mir freilich der erste Aspekt zu sein: Bis zum In-Kraft-Treten der Strafrechts-Reform im Jahre 196911 mochte man ja noch von einer unbewußten Regelungslücke sprechen können. Dann und seit der Zeit wiederholt hat der Gesetzgeber am Allgemeinen Teil herumgewerkelt, ohne irgendeine Regelung für das „Uraltproblem“ des Erlaubnis-Tatbestandsirrtums zu promulgieren.12 Spätestens seit der Totalumkrempelung des ATs 1969 kann daher von einer – von der h.M. (sofern es nicht stört) immer noch geforderten – unbewußten Regelungslücke13 schwerlich die Rede sein: Das Gesetz kennt nur zwei Typen von Irrtümern und den zugehörigen
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Aber nur scheinbar. Wie auch sonst bei „Unkraut“ – das bekanntlich bisweilen auch besonders schöne Blüten zu treiben vermag – wachsen, trotz justiziellen Bemühens, sie durch Nichtbeachtung austrocknen zu lassen, und verbreitet gepflogener universitärer Ridikülisierung durch Banalisierung – hier und da junge Schößlinge nach: etwa: Heuchemer, Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 161 ff. und passim; Klesczewski, Strafrecht, AT (2008), Rn. 432 ff. 11 1. Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) v. 25. 06. 1969 (BGBl. I, S. 645), in Kraft getreten am 01. 09. 1969 bzw. am 01. 04. 1970, sowie das 2. Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) v. 04. 07. 1969 (BGBl. I, S. 717), gemäß dem Gesetz über das Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 30. 07. 1973 (BGBl. I, S. 909) in Kraft getreten am 01. 01. 1975, – mit Ausnahme der Regelungen über die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt. 12 Eine entsprechende Gesetzesrevision forderten bzw. fordern schon seit langem etwa: Dreher, FS Heinitz, 1972, S. 207 (227); Roxin (Fn. 5), § 14 Rn. 52 ff.; jüngst wieder Hirsch, FS Schroeder, 2006, S. 223 (239); NK-StGB/Paeffgen, 3. Aufl. 2010, Vor § 32 Rn. 123. 13 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 1991, S. 472 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. 1997, S. 175 ff., 184 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, Kap. 5, 2 (S. 191 ff.); Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, § 11 Rn. 470 und passim; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 3. Aufl. 2005, S. 116 f.
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Regelungen zu ihrer Bewältigung: die in § 16 und § 17, den Tatbestandsirrtum und den Verbots- (und als dogmatischen Spezialfall zu diesem: den Erlaubnis-)irrtum. Nun zählen positivistische Argumente heute – unter der alles strukturelle Argumentieren zermalmenden Herrschaft des „Verhältnismäßigkeits-Satzes“ – gemeinhin nicht mehr viel.14 Nimmt man sie, ausnahmsweise aber doch ernst, so bleibt einem, m. E., nichts anderes übrig, als anzuerkennen: Der Gesetzgeber hat – ,dummerweise‘ – im Allgemeinen Teil nur zwei Typen von Irrtum geregelt: den Tatbestandsirrtum, § 16, und den Verbotsirrtum, § 17. Wenn man aber in § 16 nur die Irrtümer in Bezug auf die unrechtsbegründenden Umstände geregelt sieht,15 so muß man mittels einer Analogie zu der Anwendung von § 16 auf den Erlaubnistatbestand-Irrtum gelangen; so in der Tat auch die Mehrheit der Anhänger der eingeschränkten oder der rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie. Für eine Analogie ist aber, wie gesagt, nur dann Raum, wenn eine Regelungslücke besteht. Sie besteht aber infolge der Existenz des § 17 nicht!?16 Zwar wollte der Gesetzgeber die Frage zur weiteren Diskussion noch offen halten.17 Aber durch die legiferierte Stufung der Irrtümer § 16 und § 17 als Teilmenge und Menge ist für diese Intention – objektiv – kein (mit den Rechts- und Methoden-Vorgaben vereinbarer, „rechter“ = rechtskonformer) Raum geblieben. Wenn aber die mittlerweile ganz vorherrschende Sicht (richtigerweise) vermeint, es handele sich eben gerade nicht um einen unmittelbaren Anwendungsfall von § 16,18 so bleibt dunkel, wie sie dann zu dem „Lückenschluß“ bei einer inexistenten „Lücke“ methodisch gelangt.19 Lesen kann man dazu bezeichnenderweise fast nichts.20 Es dürfte auch ziemlich schwer fallen, über diese Hürde
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Nur ganz gelegentlich, wenn auch in jüngerer Zeit mal wieder öfter, besinnt sich das BVerfG dieses in den Lehrbüchern so gerne und so dick herausgestrichenen Prinzips der Gesetzes-Bestimmtheit, vgl. in jüngerer Zeit: BVerfGE 105, 135 ff. (= NJW 2002, 1779 = StV 2002, 247) (§ 43a StGB); zur Grundproblematik: Paeffgen, StraFo 2007, 442 ff. 15 So etwa Grünwald, Noll-GS, 1984, S. 183 (187); SK-StGB/Rudolphi (37. EL, 2002), § 16 Rn. 12 f. (= SK-StGB/Rudolphi/Stein [125. EL, 2010], § 16 Rn. 12 f.). 16 Vgl. Paeffgen, Arm. Kaufmann-GS, 1989, S. 399 (409 f.); – tendenziell ähnl., aber modifizierend, Heuchemer, Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 275 ff., 292 ff., 334 ff. (die Argumentation hegelianisch unterlegend); Vgl. jetzt ders., JuS 2012, 795 ff. 17 Vgl. BT-Drucks. V/4095 S. 9. 18 Exemplarisch: BeckOK-StGB/Momsen, Stand 15. 06. 2012, § 32 Rn. 53 f. (beim „echten“ = vermeidbaren Irrtum); Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 5), Vor § 32 Rn. 21); Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 41. Aufl. 2011, Rn. 478 f. – Partiell a.A: Herzberg, JA 1989, 294 (295 f.); ders., FS Stree/Wessels, 1993, S. 203 (217 f.); MK-StGB/Schlehofer, 2. Aufl. 2012,Vor § 32 Rn. 89, 92; Schünemann/Greco, GA 2006, 777 ff.: Ausschluß des für die Strafrechtswidrigkeit notwendigen Verhaltensunwertes (beim unvermeidbaren Irrtum). BeckOK-StGB/Momsen, Stand 15. 06. 2012, § 32 Rn. 47 sieht darin eine Art ,unechten‘ Erlaubnistatbestands-Irrtum. 19 Nicht immer, wenn man eine entsprechende Regel vermißt, liegt eine „Lücke“ im Sinn der Auslegungslehre vor. 20 Allenfalls den Verweis darauf, daß der Gesetzgeber die Frage zur weiteren Diskussion noch offen halten wollte, BT-Drucks. V/4095 S. 9 – Nur, dafür hat er mit der Gesetzes-
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hinwegzukommen, – um das mindeste zu sagen.21 So erscheint es mir kennzeichnend, daß ein so subtiler Dogmatiker (und Teilnehmer der ausführlichen Diskussionen in der Großen Strafrechtskommission) wie Gallas22 den Erlaubnistatbestand-Irrtum einen Verbotsirrtum (wenn auch einen besonderer Art) nennt.23 Der zweite Aspekt ist der Vorwurf des Verstoßes gegen die Gesetze der Logik.24 Das ist fraglos ein schwerwiegender Vorwurf.25 Puppe hat ihn in ihrem fulminanten Beitrag zur Lackner-Festschrift ausgeführt.26 Schon anderweitig habe ich dem entgegengehalten,27 es werde dabei ausgeblendet, daß dies eine saldierende Betrachtung der beiden Tatbestands- (bzw. Rechtfertigungs-Tatbestands-)Hälften zugrunde lege.28 Diese Aufteilung ist aber eine methodologisch-technische, – und keineswegs dem geltenden Recht inhärent. Tatsächlich sind die Merkmale des Erlaubnistatbestandes in ihrer subjektiven und objektiven Dimension eng verwoben. Denn die „Vorstellung von rechtfertigenden Tatsachen“ schließt eben nicht die Strafbarkeit aus, sondern ist nur notwendiger Bestandteil eines hinreichenden Gesamt-Gefüges: dem Vorliegen von objektiven und darauf bezogenen/aufruhenden subjektiven Erlaubnistatbestands-Merkmalen. Deshalb erscheint auch Puppes Kernvorwurf zirkulär, eine zwischen objektiven und subjektiven Sachverhalten changierende alternative Strafbarkeitsbedingung (für die allfällige Bestrafung aus dem Vorsatzdelikt) sei vor dem Hintergrund „unseres allgemeinen Verständnis(ses) von der Struktur des Unrechts“ inakzeptabel: Denn der Einwand setzt eben die (hier abgelehnten) Prämissen der Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand voraus: Was auf Tatbestandsebene
Ausformulierung die Tür zugeschlagen. Deswegen überzeugen mich die Ausführungen von Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 116 ff. nicht. 21 M.E. handelt es sich um eine kategorial endgültige, unüberwindbare Barriere, die der h. M. mit ihrer Anwendung des § 16 entgegensteht, selbst wenn einem die Lösung materiell noch so sachgerecht erschiene, – was sie m. E. aber auch nicht ist. Dazu sogleich. – Daß manche Anhänger der rechtsfolgeneinschränkenden Schuldtheorie es als ein Problem der Strafzumessung kategorisieren, bei der man, scheint’s, ohnehin (nahezu – bis an die Willkürgrenze) alles darf, und sich um verfassungsrechtliche Vorgaben nicht sonderlich zu scheren braucht, ist dann eigentlich nur ein „Taschenspielertrick“. – A.A., u. a.: Fischer (Fn. 6), StGB, § 16 Rn. 23 ff.; BeckOK-StGB/Momsen, Stand 15. 06. 2012, § 32 Rn. 53. 22 Gallas, FS Bockelmann, 1979, S. 155 (169). 23 So schon NK-StGB/Paeffgen (Fn. 2),Vor § 32 Rn. 118. 24 So namentlich Puppe (Fn. 5), Strafrecht, AT, § 13 Rn. 24; NK-StGB/Puppe (Fn. 4), § 16 Rn. 130 f.; dies., FS Herzberg, 2008, S. 275 (286 f.); dies., FS Lackner, 1987, S. 199 (210). 25 Wenngleich nicht verholen werden soll, welch schönes Bonmot Krauß vom Altmeister des juristischen Scharfsinns, Karl Engisch, kolportiert hat: „Suchen Sie im Recht nie nach logischen Fehlern. Wenn Sie in einem Urteil, beim Gesetzgeber oder gar einem Ihrer Kollegen einen logischen Fehler finden, liegt das zumeist an Ihnen“, Krauß, FS Puppe, 2011, S. 635 (636, nach Fn. 7). 26 Puppe, FS Lackner, 1987, S. 199 (235 ff.); knapper: dies. (Fn. 5), Strafrecht, AT, § 13 Rn. 16 ff. 27 NK-StGB/Paeffgen (Fn. 2),Vor § 32 Rn. 111. 28 Dagegen bereits ausführlich NK-StGB/Paeffgen (Fn. 2), Vor § 32 Rn. 88, 90.
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anstößig ist, nämlich eine solche changierende alternative Strafbarkeitsbedingung,29 ist nun einmal zwingend und plausibel für denjenigen, der kumulativ eine objektive und subjektive Dimension der Rechtfertigung fordert, für den es also so etwas wie eine isolierte objektive, subjektive oder objektiv-subjektive Teilrechtfertigung gar nicht gibt.30 Erlaubnissätze sind ebenso Rechtssätze wie Straftatbestände, und sie entfalten ihre Wirkung nur, wenn kumulativ alle ihre Voraussetzungen erfüllt sind.31 Neuerdings gesteht Puppe zu, daß eine strenge Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand und damit Unrechtsbegründung „nicht durchführbar ist“ (!),32 so daß sie die eigenen Prämissen ihres Angriffs gegen die strenge Schuldtheorie in der Sache – m. E. – abschwächt. Mit dem logischen Einwand verwoben ist der methodologisch-materielle der den § 16 anwendenden Lehren, es gebe kein Handlungsunrecht, wenn der im Erlaubnistatbestand-Irrtum Handelnde unvermeidbar geirrt habe. Der vermeidbare Irrtum sei hingegen typisches Fahrlässigkeits-Unrecht.33 – Der Einwand, den etwa Frisch34 der hiesigen Sicht entgegenhält, es würden unzulässig Tatbestands-Vorsatz und VorsatzUnrecht gleichgesetzt, birgt aus meiner Sicht jedoch gleichfalls eine petitio principii: In ihm liegt, will mir scheinen, im Grunde ein Rückfall in die Argumentation der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen.35 Zumindest im letztgenannten Fall liegt Vorsatz-Unrecht eben auch vor, wenn und soweit ich vorsätzlich und ob29
Vgl. hierzu auch Rath, Gesinnungsstrafrecht, 2002, passim, bzgl. der (leider in der Rechtsprechung des BGH mehr und mehr auszumachenden) Tendenz der „Versubjektivierung von Merkmalen des objektiven Tatbestandes“, die er zutreffend (im Untertitel seiner Diss.) als „Dekonstruktion des Kriminalunrechtsbegriffs“ beschreibt – aber eben auf Tatbestandsebene! 30 Dagegen für die h. M. nochmals prägnant etwa Streng, FS Otto, 2007, 481: „Festzuhalten bleibt, daß das isolierte Vorliegen des subjektiven Rechtfertigungselements zu einer Art ,Teilrechtfertigung‘ des Täters führt, die nach überzeugender h. M. für ihn immerhin die Vorsatzstrafbarkeit ausschließt.“ Oder: Hruschka, FS Roxin, 2001, S. 441 (450 f.). 31 Vgl. dagegen Puppes Ansicht in FS Stree/Wessels, 1993, S. 183 (201): „Wenn es so etwas wie eine objektive Rechtfertigung überhaupt geben soll [Anm. Paeffgen: Nach Ansicht der strengen Schuldtheorie gibt es das eben nicht, nur objektive Elemente einer Gesamtrechtfertigung!], so muß ihr auch die Wirkung zugestanden werden, das objektive Unrecht der Tatbestandsverwirklichung zu beseitigen. Wenn es so etwas wie subjektive Rechtfertigungserfordernisse gibt, so muß ihre Erfüllung genügen, das subjektive Unrecht des Vorsatzdelikts auszuschließen.“ Vgl. i.Ü. NK-StGB/Puppe, 4. Aufl. 2013, § 16 Rn. 122 (127 ff.); dies. (Fn. 20), Kleine Schule, S. 156 ff. 32 Puppe, FS Otto, 2007, S. 389 (402) (mit dem durchaus zweifelhaften Axiom, die Strafbarkeit eines Täters könne nicht davon abhängen, daß die objektiven Voraussetzungen der Rechtfertigung gegeben seien. Wieso soll etwas beim „Erfolg“ möglich sein – und bei dem (u. a.) Rechtfertigungs-Erfolg nicht?); vgl. aber auch dies. (Fn. 20), Kleine Schule, S. 158 ff., 161. 33 Kuhlen, Unterscheidung von vorsatzausschließendem … Irrtum, 1987, S. 307 ff.; Puppe, JZ 1989, 728 (730); dies., FS Stree/Wessels, 1993, S. 181 (191 f.); Roxin (Fn. 5), § 14 Rn. 64. 34 Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung … III, 1991, S. 217 (271). 35 Gegen sie: NK-StGB/Paeffgen (Fn. 2), Vor § 32 Rn. 16 ff., 104. In der Sache auch Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 429 ff.
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jektiv unrechtmäßig fremde Rechtssphären in Mitleidenschaft ziehe, sofern und soweit ich, lediglich vermeidbar irrig, von einer Rechtfertigungs-Situation ausgehe. Der materielle Haupteinwand, und gleichsam der Exorzismus gegen die das „Teufelswerk“ der strengen Schuldtheorie vertretenden Autoren, liegt freilich in der vermeintlichen Unbilligkeit jener Konzeption, die verbreitet tief empfunden wird. Denn nicht selten wird ihr (gleichsam „ansonsten“) der Vorzug der System-Stimmigkeit bescheinigt.36 Zumeist sind die dabei vorgetragenen Gefühls-Argumente von eigentlich durchsichtiger Schlichtheit: „Aber Soldaten sind keine Mörder!“. Wieso aber Polizisten oder Strafrichter, weniger offensiv, keineswegs als „Freiheitsberauber“ mißverstanden werden, wieso Chirurgen und andere Ärzte gerade auch von der h.M. als (gegebenenfalls gerechtfertigte) Körperverletzer, aber eben nicht als „Messerstecher“ eingestuft werden, bleibt merkwürdigerweise unerörtert. Gern genutzt als Probiersteine für die vorgebliche unerträgliche Unbilligkeit sind überhaupt Ärzte-Fälle. Aber auch hier bleibt nur zu konstatieren: Auch der „sorgfaltgemäße“, d. h. der lex artis entsprechende Eingriff ohne Einwilligung ist sub specie der Sorgfalt in Bezug auf die (in ihrer Reichweite durch den Patienten selbst zu definierende) Körperintegrität eben nicht „sorgfältig“. Deswegen muß ihn dieser Patient auch nicht von Rechts wegen hinnehmen; vielmehr handelt es sich um eine Güter-Einbuße als Folge einer tatbestandsmäßig-vorsätzlichen Körperverletzung.37 – Oder: Wieso es unbillig sein soll, den Arzt, der frivol leichtfertig die Patienten verwechselt oder das falsche Bein amputiert, wegen vorsätzlicher Körperverletzung haften zu lassen, wieso man einen Polizisten straffrei ausgehen lassen soll, der einen steckbrieflich gesuchten dunkelhäutigen Hünen festnehmen soll und einen – um es zu karikieren – einen zwergwüchsigen Albino inhaftiert, harrt immer noch der Aufklärung.38 – Die h.M. gewährt in einer Vielzahl von Fällen, in denen es keine Fahrlässigkeits-Tatbestände gibt, eine – mir nach wie vor schwer nachvollziehbar erscheinende – Straffreiheit qua
36 Gallas, Niederschriften Bd. 2, 1958, S. 41 (42); Herdegen, FS BGH, 1975, S. 195 (206); Krümpelmann, ZStW-Beiheft 1978, 6 (48 o.); Langer, GA 1976, 193 (211 f.). Tentativ auch BeckOK-StGB/Momsen, Stand 15. 06. 2012, § 32 Rn. 53 a.E. 37 Dazu ausführlich NK-StGB/Paeffgen (Fn. 2), § 228 Rn. 113. 38 Ausführlich dazu schon Hirsch, Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960, S. 319 ff., 332 ff., 336 ff.; Paeffgen, Verrat, 1978, S. 95 ff. und jetzt erneut Heuchemer, Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 82 ff., 292 ff. – Nach LK-StGB/Rönnau, 12. Aufl. 2006, vor § 32 Rn. 96 wird gegen den obigen Text eingewandt, daß die Probleme, die die genannten Fälle aufwürfen, tiefer lägen, nämlich in der gesetzlichen Regelung des Tatumstandsirrtums. Daß der unbefriedigend ist, will ich gerne zugestehen. Das Problem liegt aber in der Folgerung, die man aus diesem Befund zieht: Rönnau kapriziert sich auf die vorgebliche Strukturähnlichkeit des Tatbestandsirrtums mit dem Erlaubnis-Tatbestandsirrtum. Genau die bestreite ich. Aber unabhängig davon: Wenn man, wie Rönnau (unter Verweis auf Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 8/5a f und die Behandlung des Mannesmann Falles, BGH NJW 2006, 522; Jakobs, FS Dahs, 2005 S. 49 [62 f.]; ders., NStZ 2005, 276 [278]), eine Lösung als schlecht erkannt hat, wieso sollte ich deren Negativ-Bilanz auch noch auf andere Fälle ausdehnen?! Wenn ich mich von der vermeintlichen Fessel der vermeintlichen Strukturähnlichkeit freimache, liegt das Vernünftige doch ausgesprochen nahe!?
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(vermeintlicher) „Gesetzesauslegung“.39 – Daß entgegen dem Wortlaut des § 17 S. 2, die Strafmilderung eine obligatorische sein muß, ist unter den Anhängern der strengen Schuldtheorie überwiegend nicht angezweifelt worden.40 – Einzuräumen bleibt lediglich die Spannung, die in das gleitende System des § 17 S. 2 durch die Mindeststrafrahmen hineingetragen werden.41 Dieses Manko ist fraglos mißlich – und schreit förmlich nach dem Gesetzgeber. Ob dies aber gewichtig genug ist, um die Argumentations-Brüche (vgl. auch noch das Folgende sub B.) und Unbilligkeiten der h.M. aufzuwiegen, muß bezweifelt werden. – Immerhin räumt Jakobs42 ein, daß dann, wenn es eine unbegrenzte Durchbrechung der Mindest-Strafrahmen gesetzlich gäbe, der Weg über § 17 S. 2 vorzugswürdig wäre.43 – Platt gesprochen: Es besteht kein erkennbarer Grund, den wissentlich fremde Rechtssphären überschreitenden Akteur zu privilegieren, der erkennbare Defizite an der Rechtfertigungssituation übergeht.44 Anders liegen vorderhand die Dinge bei dem unvermeidbaren Erlaubnistatbestand-Irrtum. Denn dort ist in der Tat kein Handlungs-Unwert-Rest im oben bezeichneten (formal-saldierenden) Sinne festzustellen. Stellte man, etwa mit der extrem-finalistischen Unrechtslehre Zielinskis,45 nun ausschließlich auf die Handlungsunwerte ab, so wäre dessen Konsequenz: notwendiger Unrechts-Ausschluß unvermeidlich. – Bezeichnenderweise folgt aber die hM Zielinski in dessen Grundkonzeption gerade nicht.46 Sie erkennt – konstruktiv selten erläutert – die (mehr oder minder) gleichberechtigte, jedenfalls eigenständige Stellung des Erfolgs-Unwertes bei der UnrechtsBegründung an. Dann aber ist es verwunderlich, wie das auf der Tatbestands-Ebene als unrechtmäßig Deklarierte auf einmal über die Tatsache der subj. Unvermeidbar-
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Ablehnend deshalb auch Krümpelmann, ZStW-Beiheft 1978, 6 (48 o.); LK-StGB/ Schroeder, 11. Auflage 1994, § 16 Rn. 52. 40 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, § 22 III 1f (S. 169); Paeffgen, Verrat, 1978, S. 131 f.; a.A.: Hirsch, Lehre, 1960, S. 332 ff.; Heuchemer, Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 323: Lösung einer nur fakultativen Milderung erscheine unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht korrekturbedürftig. 41 Vgl. dazu auch NK-StGB/Paeffgen (Fn. 2),Vor § 32 Rn. 105. 42 Jakobs (Fn. 38), Strafrecht, AT, 11/57. 43 Wie hier, aus neuerer Zeit, etwa Gössel, FS Triffterer, 1996, S. 93 (98); Heuchemer, Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 221 (grds. zustimmend): Die strenge Schuldtheorie habe maßgebliche Gegenargumente der h. L. falsifiziert und erfasse sachgerecht unverzeihliche Irrtümer; eine direkte Herleitung über § 17 sei allerdings nicht möglich, da keine vollständige Gleichstellung des Erlaubnistatbestandsirrtums mit dem Verbotsirrtum möglich sei; S. 322, 330: Die fakultative Eröffnung des Sonderstrafrahmens nach § 49 Abs. 1 sei bereits flexibel genug, um Feindifferenzierungen auf der Rechtsfolgenseite vorzunehmen. Dies sei auch gesetzesnah, weil schon § 17 S. 2 für den Regelfall des durch Normirrtum bedingten Verbotsirrtums auf § 49 Abs. 1 verweise. 44 A.A. aber etwa Krey (Fn. 5), Rn. 523; Krey/Esser (Fn. 5), Rn. 743. 45 Zielinski, Handlungsunwert, 1973, S. 268 ff. 46 Vgl. etwa Dreher, FS Heinitz, 1972, S. 207 (224 f.); Schünemann, FS Schaffstein, 1975, S. 159 (171 ff.); JA 1975, 511 f.; Stratenwerth, FS Schaffstein, 1975, S. 177 (185 ff., 190 ff.).
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keit der Fehleinschätzung zu etwas Nicht-Unrechtmäßigem werden kann.47 In der Tat: Den agierenden, in einem nicht vermeidbaren Erlaubnistatbestand-Irrtum Befangenen trifft individuell kein Unrechts- und folglich auch kein Schuld-Vorwurf. Doch, wenn man auf beide Seiten des polaren Verhältnisses blickt, so bleibt auf der Seite der von der fraglichen Handlung Betroffenen ein individuelles Opfer übrig, das durch einen finalen Eingriff von einer dritten Person in seinen Rechtsgüter-Kreis beeinträchtigt wird. Ihm wird – seitens der h.M. – durch die Feststellung des mangelnden Handlungsunwertes auf der Seite des Eingreifenden seiner Rechts-Behauptung genommen, – zumindest wird er in der Verteidigung seiner Rechte beschränkt: Die Notwehr-Befugnis wird ihm damit abgeschnitten. Nun möchte eine Vielzahl von Interpreten den Anwendungsbereich von § 32 ohnehin zurückgedrängt sehen.48 Aber auch diese Restriktion bleibt problematisch, dringt doch ein fremder Mensch final in die Güter-Sphäre eines anderen ein.49 Das Risiko, sich über die subjektiven Einsichten und Befindlichkeiten beim Eindringenden zu orientieren, wird bei der solchermaßen herrschenden Sicht vom Zuständigkeits-Bereich des Akteurs auf den des Opfers des Eingriffs überwälzt. Das mag man fraglos so machen können, – und macht der Gesetzgeber bisweilen auch, wenn er das für sachgerecht hält!50 47 Vgl. jüngst Hirsch, FS Schroeder, 2006, 223 (232): „Beim Erlaubnissachverhaltsirrtum ist die Frage der Pflichtwidrigkeit gar nicht mehr offen.“ (…) „Der Täter handelt vielmehr rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes nicht erfüllt sind. Der Irrtum betrifft nur seine Fähigkeit, dies zu erkennen.“. 48 Z.T. stützt man sich dabei auf vermeintlich aus der EMRK folgende Beschränkungen, dagegen SK-StPO/Paeffgen, 4. Aufl. 2012, Art. 2 EMRK Rn. 20 ff.; z. T. knüpft man an „Vorverschuldensaspekte“ an, dagegen NK-StGB/Paeffgen (Fn. 2),Vor § 32 Rn. 145 ff.; z. T. hat man sich – mittels des Passepartouts der „sozialethischen Einschränkungen“ – ganz herrschender Weise ein Schlupfloch für alle „störenden“ Fälle geschaffen, dagegen NK-StGB/ Paeffgen (Fn. 2),Vor § 32 Rn. 150 ff. und – ausführlich: van Rienen, Die sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts, 2008, S. 138 (141 ff. u. passim). – Besonders verfehlt: BGHSt 42, 97 ff. (= NJW 1996, 2315 = StV 1997, 296) (Bahnabteil-Fall) (m. krit. Anm. Krack, JR 1996, 468 ff.; aber zust. Bespr. Kühl, StV 1997, 298 f.), in dem der BGH aus nicht wirklich rechtswidrigem, sondern allenfalls sozial-provokativem Verhalten eine § 32-Einschränkung (recte: Versagung) destillierte. 49 Siehe auch Erb, FS Gössel, 2002, S. 217 (218 f.) sowie ausführlich MK-StGB/Erb (Fn. 5), § 32 Rn. 41 ff., der zwar grundsätzlich einen Handlungsunwert für den „rechtswidrigen Angriff“ in § 32 Abs. 2 fordern will, hingegen beim Erlaubnistatumstandsirrtum wegen des „gezielten Übergriffs“ auf die Rechtssphäre eines anderen darauf verzichtet, – also, wie hier befürwortet, argumentiert. Demgegenüber will Streng, FS Otto, 2007, S. 469 (484) (ebenso: Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 5), § 17 Rn. 17; Hirsch, FS Dreher, 1977, S. 211 (225); Roxin (Fn. 5), § 15 Rn. 15; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 32 Rn. 21; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 6), § 9 Rn. 70; vgl. auch BGH NJW 1989, 2479 [m. krit. Anm. Eue, JZ 1990, 765 ff.]) dem Angegriffenen mittels des § 34 helfen. Das gibt diesem materiell „Steine statt Brot“, insbesondere in Fällen, in denen das verteidigte Gut das vom Notständler attackierte Gut nicht überwiegt oder er sonst der „Schneidigkeit“ des Notwehrrechts verlustig geht. 50 Nämlich bei denjenigen Rechtfertigungsgründen, die auf der Urteilsbasis eines sorgfältigen Maßstabs-Homunculus aufruhen und nicht auf einer Ex-post-Analyse der situativen Faktoren, Vgl. dazu etwa die von Puppe (Fn. 5), Strafrecht, AT, § 13 Rn. 10 „prozedurale
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Wenn der Gesetzgeber sich dazu jedoch nicht geäußert hat, bleibt eine derartige Ausblendung der Erfolgs-Dimension sehr problematisch. Zarterweise verzichten die meisten Autoren, die i.S.d. h.M. argumentieren, darauf, sich offen aus dem selbst verursachten Sumpf dadurch herauszuziehen, daß sie bekennen, wie sie das Dilemma auflösen: durch Kreisel-Regreß-Ausfall! Denn auch für das Opfer des Putativnotwehrers und konsequenterweise – gleichfalls – Pseudonotwehrer springt die (i. d. R.: endgültige51) Folgenlosigkeit qua § 16-Anwendung aus dem Kasten: Auch ihm stünde, dank der herrschenden Argumentation zur Putativnotwehr, gleichermaßen eine „Rechtfertigung“ zur Seite – entgegen dem gern, und auch in jenen Lehrwerken – bemühten Axiom: Gegen gerechtfertigtes Tun gibt es keine Notwehr!?.52 Kein Problem verursacht hingegen der Einwand von Puppe, den sie mittels eines Falles von Doppelirrtum glaubt, erheben zu können: Wenn der Täter im unvermeidbaren Erlaubnistatbestand-Irrtum handele, gleichwohl aber die Anforderungen des Rechts für schärfer halte, als sie normativ – „in Wirklichkeit“ – seien, so meint sie, müsse die strenge Schuldtheorie wegen vorsätzlicher Tat strafen, da das Unrechtsbewußtsein nicht fehle.53 Aber das dünkt mich, i.E. falsch zu sein (bei unvermeidbarem Verbotsirrtum schreibt § 17 S. 1 die Straflosigkeit vor) – und in der Begründung ebenfalls. Denn der zweite Irrtum ist wahndeliktisch, das vermeintliche Unrechtsbewußtsein ruht auf keinem normativen Unrecht auf – und kann folglich auch keinerlei Strafbarkeit begründen. Der mangelnde Handlungsunwert in diesen Fällen wirklicher Unvermeidbarkeit soll gar nicht bestritten werden. Es bleibt aber zum einen der Umstand, daß die Rechtsgüter gefährdende Aktion aus dem Verantwortungsbereich des (irrenden) Handelnden herrührt, also normativ aus dessen Zuständigkeitsbereich kommt. Normativierend betrachtet – i.S. eines Diskurses über Verantwortlichkeiten – bleibt er damit für diese Wirkung „zuständig“ (wenn der Gesetzgeber nichts Gegenteiliges positiviert), ähnlich einem Zustandsstörer im Polizeirecht.54 Zudem ist für das Opfer der Rechtfertigungsgründe“ genannten Erlaubnissätze; Vgl. auch NK-StGB/Paeffgen (Fn. 2), Vor § 32 Rn. 81. 51 Denn Fälle, in denen das Opfer (Pseudoangreifer) der eingebildeten Notwehr die vorgebliche gerechtfertigte „Unvorsätzlichkeit“ der Putativnotwehr erkennt und mit seiner eigenen „Verteidigung“ seinerseits wieder „fahrlässig“ agiert, dürften in aller Regel professoraler Fabulier-Lust entspringen. 52 I. E. wie hier, trotz anderer Ausgangspositionen: Jescheck/Weigend (Fn. 6), § 32 II 1; MK-StGB/Erb (Fn. 5), § 32 Rn. 60 f. 53 NK-StGB/Puppe, 1. Aufl., § 16 Rn. 145. Anders jetzt NK-StGB/Puppe, 4. Aufl. 2013, § 16 Rn. 129, wo stärker auf die (angebliche) Fahrlässigkeits-Struktur des üblichen Erlaubnistatbestand-Irrtums hingewiesen wird. Tendenziell ebenso jetzt auch Hirsch, FS Schroeder, 2006, S. 223 (235 ff.). 54 Zustimmend Heuchemer, Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 239 ff.; MK-StGB/Erb (Fn. 5), § 32 Rn. 46. – In der Sache ebenso Hirsch, FS Schroeder, 2006, S. 223 (232). – Man könnte diesen Konflikt fraglos auch anders auflösen. Aber solange es keine gesetzliche Regelung gibt, erscheint mir der negatorische Ansatz, der hier befürwortet wird, der rationalste.
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Rechtsguts-Einbuße i. d. R. nicht erkennbar, ob und wieso der Akteur kein Handlungsunrecht verwirklicht hat. Und schließlich ist die Frage vorliegenden oder mangelnden Handlungsunrechts auch noch eine solche der Beweisbarkeit im allfälligen Prozeß. Da das Orientierungs- wie das Beweis-Risiko aber nicht dem Opfer auferlegt werden sollte, bleibt hier ein Rechtseinbuße, die er nicht hinzunehmen brauchen sollte, ergo ein „Unrecht“, – jedenfalls in der Form eines Erfolgsunwertes als Resultat (i. d. R.: gezielten) menschlichen Verhaltens. Dieses Unrecht ist dem Verursacher nicht vorwerfbar, aber es bleibt ihm als Verhalten – in dem genannten Umfang – zurechen-, wenn auch nicht (vorwerf-)bar. Es liegt eben ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vor.55 Sieht man genauer hin, wendet sich das Argument von der „Billigkeit“ eher gegen die h.M.: Im Fall des unvermeidbaren Irrtums, namentlich in bedrängter Situation, in der man in Windeseile Entscheidungen von erheblicher Tragweite (z. B.: Waffeneinsatz) treffen muß, ist das Ergebnis der strengen Schuldtheorie methodologisch kein anderes als das h.M. Aber in den gar nicht so selten Fällen, in denen es an einem „helfenden“ Fahrlässigkeits-Tatbestand fehlt oder in dem die Einlassung, es habe eine Putativ-Rechtfertigung vorgelegen, stark nach Schutzbehauptung „riecht“,56 scheint sich mir das Billigkeits-Argument offen gegen die h.M. zu sprechen: Die strenge Schuldtheorie bietet die ganze Graduierbarkeit des Sanktions-Kanons bis hin zum Absehen von Strafe, die h.M. bietet nur eines: das (strafrechtlich) reaktive Nichts. Nun bin ich zwar der Letzte, der von der Verhängung von Kriminalstrafen das „Genesen der Welt“ erwartete. Aber namentlich unter dem Aspekt von Gleichbehandlung scheint mir die selektive Nachsicht mit Pseudo-Notwehrern und Co. doch hochgradig irritierend.
II. Exemplifikation Sehen wir uns unter diesem Aspekt auch einmal eine relativ junge Entscheidung des 2. Senates an, die publizistisch höchste Wellen schlug: das Hells-Angel-Judikat.57 Tendenziell insoweit ähnlich Pawlik, GA 2003, 12 (13 f.) (wenn auch für den Defensivnotstand). 55 So auch NK-StGB/Paeffgen (Fn. 2), Vor § 32 Rn. 117. 56 Wobei den interessierten Leser von Urteilsgründen (oder auch von Prozeßberichten seriöser Zeitungen) bisweilen doch staunen macht, was für Einlassungen von Gerichten als letztlich qua in dubio pro reo für nicht überwindlich gehalten werden. 57 BGH, Urteil v. 02. 11. 2011 – 2 StR 375/11, BeckRS 2012, 00743 = HRRS 2012 Nr. 153 = JR 2012, 207 = NStZ 2012, 272 = StV 2012, 332. Zu den Reaktionen von Zeitungen und Öffentlichkeit auf das Urteil vgl. etwa: „Polizistenmord: Empörung über Freispruch für HellsAngels-Rocker“, Berliner Morgenpost v. 05. 11. 2011, abrufbar unter http://www.morgenpost. de/printarchiv/panorama/article1816968/Polizistenmord-Empoerung-ueber-Freispruch-fuerHells-Angels-Rocker.html; „BGH lässt Polizisten-Killer laufen“, Bild v. 03. 11. 2011 (http:// www.bild.de/news/inland/hells-angels/freispruch-nach-todesschuss-auf-elite-polizist-20804084. bild.html); BGH spricht Hells Angel frei, FAZ v. 03. 11. 2011 (http://www.faz.net/aktuell/ge
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Der Sachverhalt ist kurz folgender: Der Angeklagte, Mitglied der Rockergruppe „Hells Angels“, rechnete aufgrund gewisser, ihm glaubhaft erscheinender Vorinformationen, mit einem Anschlag auf sein Leben seitens der konkurrierenden Rockergruppe „Bandidos“. Denn ein „Bandido“-Mitglied war zuvor erschossen worden. Eines Morgens um 6:00 Uhr versuchte ein Sondereinsatzkommando der Polizei, gewaltsam, in seine Wohnung einzudringen, um eine Durchsuchung wegen mutmaßlicher räuberischer Erpressung im Zuhältermilieu durchzuführen. Der Angeklagte glaubte, es handele sich um den erwarteten Racheakt der „Bandidos“. Er machte die Beleuchtung vor seiner Haustür an und forderte die vor der Tür stehenden vermeintlichen „Bandidos“, in Wahrheit Polizeibeamten, die sich freilich akustisch nicht als solche zu erkennen gegeben hatten, auf zu verschwinden. Er gab zwei Schüsse durch eine Tür ab. Dabei wurde ein Polizeibeamter tödlich verletzt. Als der Angeklagte seinen Irrtum bemerkte, ließ er sich widerstandslos festnehmen. Das LG Koblenz hat auf Totschlag erkannt. Es verneinte sowohl die Voraussetzungen einer Notwehrlage als auch die einer Putativnotwehr; denn auch wenn eine Notwehrlage bestanden hätte, hätte der Angeklagte nicht sofort auf die Angreifer feuern dürfen, sondern hätte zunächst einen Warnschuß abgeben müssen. Der 2. Strafsenat des BGH bejaht hingegen die Voraussetzungen einer Putativnotwehr. Mangels genauerer Detail-Kenntnis muß die Frage, ob der Aufbruch der Tür durch ein SEK durch den Straftatverdacht und die Ermittlungsergebnisse als gerechtfertigt angesehen werden darf, offen gelassen werden.58 Selbst wenn man hier tatsächlich einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff unterstellte, müßte die Frage der Erforderlichkeit der Abwehrmaßnahme in gleicher Weise beantwortet werden, wie sie sich im Rahmen einer allfälligen echten wie einer Putativnotwehr stellt, – nämlich als durch die Brille des vermeintlichen Notwehrers, wenn auch normativ gefiltert, zu betrachten.59 sellschaft/polizist-erschossen-bgh-spricht-hells-angel-frei-11516279.html); Eppelsheim, „Ein Freibrief“, FAZ v. 06. 11. 2011, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ge richtsurteil-einfreibrief-11518822.html. 58 Bedenken insoweit etwa bei: BeckRS 2012, 00743, Rn. 19, 25 = HRRS 2012 Nr. 153, 30, 37. 59 Denn hier sei erneut darauf hingewiesen, daß es eben nicht, wie dies in der Praxis vielfach zu lesen ist, allein darauf ankommt, ob der Pseudonotwehrer dies für sich so gesehen hat, – bzw. ihm dies nicht widerlegt werden konnte –, sondern ob er dies auch so sehen durfte, sprich, ob die Erforderlichkeitsbeurteilung, die dieser (nicht widerleglich) anstellt hatte, auch durch die Brille eines normativen Maßstabsbeurteilers („besonnener Drittbeobachter“, Roxin (Fn. 5), § 15 Rn. 46 [ggfls. unter Einbeziehung von „Sonderwissen“ des Agierenden]), auf der Kenntnisbasis des Betroffenen, als erforderlich angesehen werden durfte. Dieser Punkt, der in Rechtsprechung und Literatur verbreitet anerkannt ist, so die ganz h. M.: BGH NJW 1969, 802; BSG JZ 2000, 97; Bockelmann, FS Dreher, 1977, S. 235 (247); Jescheck/Weigend (Fn. 6), § 32 II 2b; NK-StGB/Herzog (Fn. 5), § 32 Rn. 60; Roxin (Fn. 5), § 15 Rn. 46; Welzel (Fn. 40), § 14 II 2 (S. 86), unterscheidet jedenfalls schon einmal in einem zentralen Punkt den Erlaubnis-Tatbestandsirrtum von dem schlichten Tatbestandsirrtum. Denn dort ist der Grund, warum jemand das Tatbestandsmerkmal verkennt, für die Frage der Vorsätzlichkeit egal – bis an die Grenze, daß die behauptete Weltwahrnehmung vom Gericht nicht geglaubt wird.
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Betrachten wir also das vorgebliche Bild, das sich der Angeklagte nach vom BGH gefilterter Beweisaufnahme vom Tatgeschehen machte: Er wähnte – in der Sache durchaus zutreffend –, wie er beim Herabsteigen von dem Schlaftrakt seines Hauses gehört hatte, mehrere Personen vor seiner Tür, die versuchten, diese ,aufzusprengen‘.60 Er hatte sich, in Erwartung eines Angriffs, eine achtschüssige, scharfe, geladene Pistole61 mitgenommen, die er schußbereit in der Hand hielt. Er dachte nun also, vor der Tür stünden mehrere „Bandidos“, die ihm nach dem Leben trachten. Zudem (oder müßte man nicht sagen: Gleichwohl?) macht er das Außenlicht seines Hauses an, was auch die SEK-Beamten bemerkt hatten.62 Fernerhin: Er spricht die vermeintlichen Rivalen an.63 Damit gab er seinen Standort für die mutmaßlichen Mörder zu erkennen. Er hatte zwar erfahren, daß einer der „Bandidos“, die nach ihm vorgeblich „fahndeten“, mit einer abgesägten Schrotflinte bewaffnet war. Und für deren Durchschlagskraft mag seine massive Haustür zu stabil gewesen sein. Aber was man sich in der Lage des Angeklagten unschwer hätte vorstellen können (und müssen), ist, daß unter den Rivalen vielleicht auch ein paar (weitere) Leute im Besitz einer Waffenbesitzkarte (und demzufolge etwas durchschlagskräftigerer Schießprügel) hätten sein können64 – gerade so, wie er selbst. Und eben solche für den Kampf um die Vorherrschaft in der Unterwelt lebenstüchtigen Gesellen hätten sich an seiner Tür zu schaffen gemacht haben können.
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Tatsächlich wurden wohl mit einem „hydraulischen Gerät“ (BGH BeckRS 2012, 00743, Rn. 8 = HRRS 2012 Nr. 153, Rn. 13) gearbeitet. Die Verlobte des Beschuldigten, die den Schlafenden überhaupt erst auf die Geräusche an der Tür aufmerksam gemacht hatte, „wies er an, ins Schlafzimmer zurückzugehen, die Tür zu schließen und mit dem Mobiltelefon ihre Mutter und seinen Bruder von dem – vermeintlichen – Überfall zu benachrichtigen.“, BGH BeckRS 2012, 00743, Rn. 9 = HRRS 2012 Nr. 153, Rn. 14. 61 In Deutschland haben Mitglieder solcher sogenannter „Rockerbanden“, die in Wahrheit u. a. die Türsteher- und Prostitutions-Szene in weiten Teilen des Landes beherrschen, gerne auch schon mal eine Waffenbesitzkarte für scharfe Pistolen, – so auch hier. Aber möglicherweise steht jemandem, der bei den „Hells Angels“ als der für die Disziplin und Ordnung zuständiger „Sergeant at Arms“ im „Chapter Bo.“ fungiert (BeckRS 2012, 00743 Rn. 2 = HRRS 2012 Nr. 153 Rn. 2), auch ordnungsbehördlich schon – gleichsam dienstgradmäßig – eine scharfe Waffe zu?! 62 Daß diese in diesem Augenblick nicht von ihrer ursprünglichen Planung, ihn, wohlmöglich im Bett schlafend, zu überraschen, abgelassen haben und nicht nunmehr zu einem offenen und angekündigten Verhalten übergegangen sind, erscheint als ein katastrophale Fehleinschätzung und -organisation bei dem Einsatz. – Davon, daß der für die Durchführung dieses konzeptionell wie in der Durchführung – um es euphemistisch zu formulieren: „abenteuerlichen“ Einsatzes Verantwortliche zur Verantwortung gezogen worden wäre, war freilich nirgends zu lesen! Wer sich hier (auch) falsch, katastrophal falsch, verhalten hat, liegt nach alledem m. E. auf der Hand. 63 Er wählte die sinnige Formulierung: „Verpißt Euch!“ Die Polizisten hatten diese Aufforderungen (unter ihren Schutzhelmen) akustisch aber nicht wahrgenommen, BeckRS 2012, 00743 Rn. 9 = HRRS 2012 Nr. 153 Rn. 14. 64 Vgl. Fn. 60.
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Unter solchen Prämissen ist ein Satz wie die vom Angeklagten gewählte Warnung beinahe selbstmörderisch kühn. Aber als die vermeintlichen „Bandidos“ seiner liebenswürdigen Aufforderung erstaunlicherweise nicht nachkamen, tat er das, was ein Mann in seiner Situation – nach Sicht des BGH – wohl tun mußte,65 – jedenfalls sanktionslos tun durfte: Er schoß zweimal durch die Tür. Der erste Schuß ging fehl, der zweite traf in Höhe von 121 cm den Polizisten, der mit dem Türöffnen befaßt war und wohl seitlich vor der Tür stand, durch die Öffnung von dessen Schutzpanzer am Oberarm in den Brustkorb ein und verletzte ihn tödlich.66 Soweit die – mir geboten erscheinenden – Ergänzungen des Sachverhaltes. Nun zu den Fragen der Geeignetheit und der Erforderlichkeit, – sei es nun faktisch-normativ, sei es durch die Brille des Beschuldigten betrachtet, also subjektiv-normativ: Da er wahrgenommen hatte, daß mehrere Personen sich an seiner Tür zu schaffen machten, denen er Tötungswillen unterstellt haben mochte, stellt sich die Frage, wieso zwei Schüsse in Bauch- und Brusthöhe eine „geeignete“ Abwehrhandlung gegen ein Mordkomplott sein sollten? Nachvollziehbar wäre derartiges – im äußersten Fall –, wenn er eine Maschinenpistole o. ä. gehabt hätte und allfällige weitere Eindringlinge hätte niedermähen können. Aber wieso mußte er nicht damit rechnen, daß die vorgeblichen „Bandidos“ nicht ihrerseits durch die Tür schießen, hinter der sie ja den zu Tötenden hören und den Mündungsknall lokalisieren konnten. D.h., selbst wenn er gehofft haben sollte, einen „Bandido“ niedergestreckt zu haben, wäre diese Form der Abwehr immer noch ungeeignet gewesen, den Angriff mehrerer mordwilliger Bewaffneter auf sich abzuwehren. Aber selbst wenn man diese Einschätzung nicht teilen sollte, – wenn man also eine (für möglich zu haltende tödliche) Schußverletzung eines der vor der Tür stehenden 65 Daß die Erörterung bisweilen ironisierenden Untertöne anzunehmen scheint, möge der Jubilar mir verzeihen: Ich halte die Art der Beweiswürdigung in diesem – in der Sache wahrhaft schrecklichen – Fall für so unglaublich, daß ich meine Irritation nur mühsam durch derartige Verfremdungen zu kaschieren vermag. 66 Erst jetzt rief ein anderer Beamter: „Sofort aufhören zu schießen! Hier ist die Polizei!“ Der Angeklagte legte daraufhin die Waffe weg, lief zum Fenster und fragte entrüstet: „Wie könnt ihr so was machen? Warum habt ihr nicht geklingelt?“ – van Rienen argwöhnt hier – fraglos nicht unplausibel – eine Verkettung von unglücklichen Umständen, die zu der tödlichen Form der Verletzung geführt haben mögen, ZIS 2012, 377 (381). Für das Sachproblem bleibt dies – bei einem mit Verletzungswillen (und Tötungs-Eventualdolus) abgefeuerten Schuß – solange belanglos, wie man nicht von einer abenteuerlichen Verkettung von Umständen sprechen kann. Daß eine solche Abnormität hier der Fall gewesen sein könnte, erscheint wiederum unplausibel. (Ad exemplum: Der von mir mit Tötungsvorsatz Angegangene stirbt nicht an der Schnittverletzung am Kopf, sondern wegen einer Infektion mit einem extrem seltenen Keim, der am verwandten Beil „klebte“ und um dessen Existenz ich nicht einmal gewußt habe. Kein – vernünftiger – Richter würde hier die [zureichende] „Kausalität“ [Zurechenbarkeit] wohl in Zweifel ziehen!) – Aber selbst wenn es rechtstatsächlich anders wäre, dann bliebe es noch bei einer Versuchs-Konstellation.
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Angreifers für normativ geeignet halten wollen sollte, den Angriff auf sein Leben zu beenden: Wieso war dann die tödliche Abwehr „erforderlich“ gewesen? Wieder sind wir bei dem Aspekt von eben: Wenn ich einen Angreifer niederschieße, bleiben immer noch die als vorhanden wahrgenommenen anderen!? Entweder setze ich darauf, daß sie, durch diesen Erfolg aufgestört, von ihrem Unterfangen ablassen,67 oder es stachelt erst recht deren Tötungswillen an. Im ersteren Fall bliebe aber doch zu fragen, wieso nicht auch ein Schuß in die Beine eine ähnliche Wirkung hätte zeitigen können?68 Im zweiten wäre die mangelnde Geeignetheit, jedenfalls Erforderlichkeit wohl offensichtlich. Nun mag man im ersten Fall einwenden: Er brauchte sich nicht auf eine unsicherere Methode der Abwehr einzulassen,69 sondern durfte zu einer effizienten greifen, – wenn denn keine gleicheffiziente, aber weniger invasive Methode zu Gebote stand. Doch da er die mehreren Angreifer nicht mit zwei Schüssen kampfunfähig machen konnte, wären Schüsse in Beinhöhe ebenso effizient (wie möglicherweise: ineffizient) gewesen. Sicher hätte der Beschuldigte keinen Warnschuß abgeben müssen, worüber sich der BGH bemerkenswert breit verhält.70 Über einen bloßen „Verletzungsschuß“ verliert er bezeichnenderweise kein Wort.71 Vor allem aber sind ein paar sachverhaltliche Details, die der BGH zwar mitteilt, die in seiner Subsumtion erstaunlicherweise gleichwohl keinerlei Rolle spielen: Zum einen die Anweisung an seine Verlobte, die Mutter und den Bruder anzurufen. Angesichts der schwachbrüstigen Personalausstattung vieler Polizeidienststellen mag man verstehen können, daß jemand, zumal ein „Hells Angel“, sich auf das rechtzeitige Eintreffen von polizeilicher Hilfe nicht verlassen mochte. Daß er die Polizei aber bei seinem Notruf völlig ausblendete – angesichts eines gemutmaßten Mordanschlags auf das eigene Leben – und daß er sogar von seiner Mutter scheint’s noch 67 Dies zu erwarten, wäre – bei der notorischen Brutalität, mit der die Auseinandersetzungen in diesem Milieu ausgefochten werden – eine völlig implausible „Schutzbehauptung“, die ein Richter, der nicht gerade ,den Hut mit dem Hammer aufsetzt‘, mit frohem Sinn in den Bereich der Fabel verweisen können sollte. 68 Zwar hat van Rienen mit Recht gegen die Realitätsferne des sog. „gezielten Beinschusses“ polemisiert, ausführlich van Rienen, Einschränkungen (2009), S. 307 ff.; ders. ZIS 2012, 377 (381). – Aber es erscheint schon noch als Unterschied, ob ich wenigstens im Beinbereich durch die Tür schieße – oder etwa in Brust- oder Kopfhöhe, – unbeschadet der Gefahr, daß auch ersteres zu tödlichen Querschlägern führen kann. 69 BeckRS 2012, 00743 Rn. 24 = HRRS 2012 Nr. 153 Rn. 35. Vgl. auch: „Grundsätzlich darf der Angegriffene das für ihn erreichbare Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt“, BGH NStZ-RR 2011, 238 (unter Verweis auf BGHSt 25, 299 [230]; NStZ 1996, 29). 70 Das war freilich maßgeblich dadurch bedingt, daß das LG Koblenz die Verurteilung ganz maßgeblich auf dieses Unterlassen gestützt hatte. 71 Man mag replizieren, daß ein Schuß in die Beine von einem durch die Tür verdeckten Angreifer unsicherer gewesen wäre als einer in den voluminöseren Bauch- oder Brustbereich. Aber auch hier gilt es zu bedenken, daß der Angeklagte, wahrscheinlich durch das Gewürge an und mit der Hydraulik, sein Opfer akustisch ziemlich genau lokalisiert hatte, – obwohl dieser seitlich zur Tür gestanden haben muß (weil er es sonst schwerlich mit seiner Kugel hätte in die Flanke getroffen haben können)!
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mehr Unterstützung als von der rheinland-pfälzischen Polizei erwartete, klingt mehr nach einer Erledigungsabsicht à la Italowestern. Auch zwei weitere Sachverhalts-Aspekte bleiben bemerkenswerterweise völlig unerörtert bei der Analyse des Vorstellungsbildes des Angeklagten: Als er aus der Schlafetage hinunter zur Haustür ging, machte er das Außenlicht an! Und: Gönnerhaft forderte er die vermeintlichen Mordbuben auf, ,sich zu verpissen‘! Auch wenn ich selbst weder tatsächlich noch angenommenerweise je in einer Situation gesteckt habe, in der man mir nach dem Leben getrachtet hat, – derartige Reaktionsweisen halte ich – sub specie § 32 – für ans Abwegige grenzend lebensfremd: Draußen stehen, wie ich wahrgenommen zu haben glaube, mehrere Brutalos, von denen ich zu wissen vermeine, daß sie mich liquidieren wollen, und werkeln an meiner Tür herum. Und ich weise sie dadurch, daß ich das Licht anmache, nicht nur darauf hin, daß es mit der heimlichen Ermordung nichts wird?! Mehr noch, ich fordere sie lauthals auf, abzuhauen, – obwohl ich dadurch meinen Standort hinter der Tür offenbare!? (Dabei ist stillschweigend mitgedacht, daß man von außen durch die Tür genauso gut nach innen schießen kann wie umgekehrt von drinnen nach draußen.72) Jedes „normale“, aber wirklich verteidigungswillige Opfer hätte sich in einer solchen Situation so positioniert, daß er (liegend oder sitzend aufgelegt, aber seinerseits in Deckung hinter einem Türrahmen, Schrank o. ä.) einen sicheren Schuß (oder eben auch mehrere) hätte placieren können, sobald die vermeintlichen Killer durch die Tür ins Haus einzudringen versucht hätten.73 Auch Hektik oder besondere Zeitnot, die üblicherweise bei einer Notwehr- und demzufolge auch bei einer Pseudonotwehrlage, die Reaktionsmöglichkeiten und vor allem eine (ex post: als sachgerecht einzustufende Ex-ante-)Planung und Mittelauswahl zu beeinträchtigen pflegt, lag hier erkennbar nicht vor, – angesichts der beherrschten Art, mit der der Angeklagte zu Werke ging: Weisung an seine Freundin, wer anzurufen sei, Sich-Bewaffnen, Treppe hinuntergehen und dabei Außenlicht anmachen, Aufforderung, zu verschwinden, – und erst dann: Schüsse durch die Tür! 72
Bekanntlich haben Türen für Kugeln keine osmotische Wirkung, d. h. sie sind – zumeist – nicht semipermeabel. Beiläufig: Mindestens durch den Mündungsknall verrät man für draußen Stehende auch (erneut) seinen ungefähren Standort!? van Rienen spricht immerhin das Problem des Mündungsblitzes an, was aber bei einer undurchsichtigen Tür, anders als der Knall, nicht gefährlich gewesen wäre, ZIS 2012, 377 (381). Daß die vermeintlichen Bandidos freilich Hörschutz tragen würden, konnte der Angeklagte schwerlich wissen – und damit in seinen „Schlachtplan“ ebenso wenig einrechnen. 73 Was einmal mehr den ganzen Dilettantismus des polizeilichen Vorgehens offenbart, – zumal, nachdem das Licht angemacht worden war. Es dürfte interessant sein, zu erfahren, was sich der Einsatzleiter dabei gedacht hat, den dreifachen Krach einer Riegelsprengung plus dem nachfolgend geplanten Aufstoßen der Tür selbst mittels einer Ramme in Kauf zu nehmen, um den Beschuldigten zwecks Durchsuchung zu überraschen?! Wenn der Beschuldigte für so hochgradig gefährlich eingeschätzt wurde (was allein als Legitimation für ein so abwegigaufwendiges Vorgehen vorstellbar wäre): Warum hat man dann die Tür nicht aufgesprengt? Das freilich hätte die Zweifelhaftigkeit des eingreifenden Vorgehens (sub specie einer durchzuführenden Durchsuchung wegen § 255!) noch augenfälliger gemacht!
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Der Fall „riecht“ geradezu danach, daß der Angeklagte, sei es im Vertrauen auf seine überragenden Schießkünste, sei es in einer, vielleicht aus Wut, Rachsucht und Angst oder sonstigen Gefühlen gleichermaßen gespeisten Verblendung glaubte, den „Bandidos“ eine Lektion erteilen zu müssen, die sie sich für immer merken würden. Aus meiner Sicht lagen jedenfalls starke Indizien für verschiedene, sehr andere normative Einschätzungen des Sachverhaltes vor: Zu denken wäre zum einen an einen Putativnotwehr-Exzeß,74 – wenn der Angeklagte nicht sogar gänzlich ohne75 die – m. E. erforderliche76 – Verteidigungsabsicht gehandelt hat. Und schließlich liegt auch ein Irrtum über die rechtlichen Grenzen der Notwehr, und somit ein Erlaubnisnormirrtum in der Form eines Verbotsirrtums, § 17, nicht wirklich fern. In jedem Fall ist das apodiktische Urteil, mit dem der Senat die Fahrlässigkeit verneint,77 nachgerade tollkühn – und jedenfalls aus meiner Laienperspektive nicht nachvollziehbar!78 Nun mag man dem hier Entwickelten entgegenhalten können: Sie kennen die Beweisaufnahme nicht! Das ist richtig, – aber die kannte der BGH auch nicht. Ich kenne allerdings überdies auch die Akten nicht, die immerhin der Berichterstatter und der Vorsitzende gekannt haben. Doch dann bleibt die Würdigung des – an sich ja erfreulich detailliert geschilderten – Sachverhaltes doch in den vorbenannten Punkten arg holzschnitthaft und wirft in zentralen, hier lediglich angerissenen, Fragen einige nicht gelöste Probleme auf. – Freilich muß einem Opponenten zu denken geben, daß nicht nur der dogmatisch profilierteste Strafsenat des BGH am Werke war, sondern auch zahlreiche Kollegen dieses Ergebnis nicht nur achselzuckend hingenom74
BGH bei Dallinger, MDR 1975, 366; (Holtz) MDR 1978, 985; NStZ 1987, 322. … oder allenfalls im Motivationsgefüge nachrangige Handlungstendenz … 76 Ein weiterer hochstreitiger Punkt in der Frage nach der Rechtfertigung im allgemeinen und speziell der Notwehr. Eine verbreitete Meinung begnügt sich mit der vom Notwehrer (praemissis praemittendis: vom Putativnotwehrer: vermeintlich) erkannten Notwehrlage (bei Einsatz der dann erforderlichen Abwehrmaßnahme): Frisch, FS Lackner, 1987, S. 113 (135 ff.); Frister (Fn. 5), 2012, 14/24 f.; Jakobs (Fn. 38), 11/21; Hruschka, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1997, S. 437 f.; Kindhäuser, Gefährdung, 1989, S. 114 f.; LK-StGB/Rönnau/Hohn, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 266; Meyer, GA 2003, 807 (821); MK-StGB/Erb (Fn. 5), § 32 Rn. 215; NK-StGB/Herzog (Fn. 5), § 32 Rn. 127, Puppe, Strafrecht, AT I, 2005, 26/5 Rn. 425; dies., FS Stree/Wessels, 1993, S. 184 ff.; Schönke/Schröder/Leckner/Perron (Fn. 49), StGB, § 32 Rn. 63; SK-StGB/Günther (31. Lfg., 1999), § 32 Rn. 132, 135 und Vor § 32 Rn. 87 ff. – Demgegenüber verlangte die Rechtsprechung bisher noch einen entsprechenden finalen Willen („Verteidigungsabsicht“): BGHSt 2, 114; 5, 245; BGH NStZ 2007, 325; BayObLG StV 1999, 147. Dem sekundieren einige Stimmen aus der Literatur: Fischer (Fn. 6), StGB, § 32 Rn. 25 f.; Jescheck/Weigend (Fn. 6), § 32 II 2a; Maurach/Zipf (Fn. 6), § 25 Rn. 26 ff.; NKStGB/Paeffgen (Fn. 2), Vor § 32 Rn. 85 ff., und Paeffgen, Verrat, 1979, S. 196 und passim. Differenzierend: Gallas, FS Bockelmann, 1979, S. 155 (172). 77 BeckRS 2012, 00743, = HRRS 2012 Nr. 153. 78 Dabei geht es erst in zweiter Linie um so problematische Anforderungen wie einen vorgreiflichen Beinschuß ö.ä. geht, dagegen – jedenfalls als absoltes Vorrang-Erfordernis – bereits treffend van Rienen, Einschränkungen, 2009, S. 307 ff.; ders. ZIS 2012, 377 (381). 75
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men, sondern ausdrücklich, bisweilen stürmisch jubelnd, gebilligt haben.79 Doch auf meine oben aufgeworfenen Fragen habe ich nirgends – auch nur ansatzweise – Substanzielles an Widerlegungen oder Richtigstellungen gefunden.80 Und deswegen muß ich mich einstweilen an Schiller halten, der in seinem Tell wenigstens aufmunternd meinte: „Der Starke ist am mächtigsten allein“.81 Aber, vielleicht war das in meinem privaten Umfeld – wie auch in den Medien – zu vernehmende, weitgehend völlige82 Unverständnis für das BGH-Judikat als „Volkes Stimme“ doch in diesem Falle ausnahmsweise einmal näher an der „vox dei“,83 als man es gemeinhin – gerade auch unter vermeintlichen und tatsächlichen Fachleuten84 – zuzugestehen bereit ist? Medien und Volk mögen zwar juristisch „unbeleckt“ sein. Aber ein gewisses Gespür für das, was „billig und gerecht“ ist, ist manchmal doch verbreiteter, als das in ihrem Systemdenken verfangene Berufsjuristen zuzugestehen bereit sind. Doch sei dem, wie dem wolle85 : Das Sachproblem dürfte, wie ich hoffe, hinreichend deutlich geworden sein: Es finden sich zahlreiche Fälle, in denen die Einlassungen des Beschuldigten dem Gericht nicht widerlegbar erschienen, obwohl die Be79
So etwa die von mir wirklich geschätzten Mainzer Kollegen Erb und Hettinger in ihrer Replik (Offener Brief) auf den Innenminister des Landes Rheinland-Pfalz, Lewentz (lt. z. B. Berliner Morgenpost v. 05. 11. 2011, abrufbar unter http://www.morgenpost.de/printarchiv/ panorama/article1816968/Polizistenmord-Empoerung-ueber-Freispruch-fuer-Hells-Angels-Ro cker.html), Vgl. dazu den Text, der auf der Homepage von Herrn Hettinger abrufbar ist (http:// www.jura.uni-mainz.de/hettinger/). Daneben die dem BGH in der jeweiligen Zeitschrift zustimmenden Anmerkungen oder Besprechungen: BGH JR 2012, 207 (m.zust.Anm. Erb) = NStZ 2012, 272 (m.zust.Anm. Engländer) = StV 2012, 332 (m.zust.Anm. Mandla), u. m.zust.Bespr. van Rienen, ZIS 2012, 377 ff. Ferner etwa: Hecker, JuS 2012, 263 ff.; Rotsch, ZJS 2012, 109 ff. – Wenn man sich einer solchen Phalanx von Stimmen konfrontiert sieht, die, z. T. apodiktisch, das Gegenteil von dem für richtig erachten, was man selbst für sachgerecht zu halten glaubt, nähert man sich psychologisch leicht der Rolle des Falschfahrers auf der Autobahn, der auf die Radiodurchsage: „Vorsicht! Ein Falschfahrer kommt Ihnen auf der BAB X bei Y entgegen!“, genervt höhnt: „Einer? Hunderte!“ – Aber auch Mehrheiten können sich bekanntlich irren, wie uns das Deutsche Parlament nachgerade am laufenden Band, namentlich, aber nicht nur, im Bereich von Straf- und Strafprozeßrecht vor Augen führt. 80 Am detailliertesten setzt sich noch van Rienen in seinem Beitrag mit den wirklichen Hintergründen und dem – mutmaßlichen – Szenario auseinander, ZIS 2012, 377 (380 ff.). 81 Schiller, Wilhelm Tell, I, 3, 438. 82 … wenn auch sicher nicht empirisch repräsentativ festgestellt … 83 Und zwar nicht als „Gott des Gemetzels“, sondern als „dea“, nämlich Dike, der griechischen Göttin der Gerechtigkeit. Zwar bin ich kein Anhänger jener Sentenz. Aber angesichts nicht nur professoralen ,Pöbel-‘ und Medien-Bashings (wie man auf Neudeutsch zu sagen beliebt) sei an die Errungenschaft erinnert, als die das Geschworenen-Gerichts-System in der Geschichte – und auch heute noch in vielen Rechtssystemen – gefeiert wird. 84 Immerhin sieht van Rienen, ZIS 2012, 377 (383 ff.) wenigstens noch ein paar sachverhaltlich offene Fragen – und verwundert sich wenigsten als einer von wenigen darüber, daß der BGH die Fahrlässigkeit – ohne sonderliche Erläuterung –, dafür umso kategorischer, ausschließt. Zuvor allerdings schon Grischa Merkel, „Wider das Faustrecht“, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/bgh-urteilwider-das-faustrecht-11722637. html. 85 Es war, anders als im Faust II, Vers 11300, eben nicht: „doch so schön“!
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gleitumstände äußerst dubios sind, – und solche Fälle werden sich immer wieder einstellen. Die vermeintlich so billige eingeschränkte Schuldtheorie hat nur ein wirkliches Prä: Sie läßt die Putativgerechtfertigten, namentlich die eingebildeten Notwehrer,86 wahrhaft „billig“ davonkommen. Deswegen sei hier noch einmal eine Lanze für die strenge Schuldtheorie gebrochen.87 Eine, zugegebenermaßen, etwas konstruierte Fall-Abwandlung zur wahren HellsAngel-Konstellation mag das, was oben, bei Fn. 38 und 53, abstrakt umschrieben wurde, noch einmal konkreter beleuchten: Hätte der Angeklagte den Polizisten nicht einfach „umgenietet“, wie es im Fachjargon wohl heißt, sondern eine eigens für solche Fälle gedachte Falle ausgelöst, etwa ein Fangnetz aus Stahlseilen aus einem Dachvorsprung auf die Angreifer herabfallen lassen, aus dem diese sich nur mit fremder Hilfe und nach einiger Zeit hätten befreien können, – dann bliebe, die herrschende eingeschränkte Schuldtheorie zugrundegelegt, selbst bei der frivolst leichtgläubigen Annahme eine Notwehrlage die Maßnahme ohne jedwede strafrechtliche Konsequenzen für den Akteur. Denn da § 239 StGB nicht mit einem Fahrlässigkeits-Tatbestand „unterfangen“ ist, offenbarte sich die Billigkeits-Argumentation der h.M. in ihrer ganzen Schönheit.– Was daran besonders „gerecht“ sein soll, hat sich mir bis heute noch nicht erschlossen88.89 86
Was insofern besonders fragwürdig erscheint, als bei der vielzitierten Schneidigkeit der Notwehr die Folgen für die Pseudoangreifer nicht selten in schwerstwiegenden Verletzungen bestehen – bis, wie hier, in deren Tod!? 87 Wie meinte Camus so hintersinnig: „Man muß sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen!“, Camus, Der Mythos des Sisyphos (2004), S. 50 f. 88 Zu dem Problem des Erlaubnistatbestand-Irrtums bei fahrlässiger Deliktsverwirklichung Vgl. den Fall BGHSt 45, 378 ff. (Warenhausdetektiv stranguliert versehentlich einen Ladendieb infolge Irrtums über Erforderlichkeit der Nothilfe) (z. T. krit. besprochen von Börner, GA 2002, 276 ff. (der für Anwendung des § 17 optiert – und damit der Lösung der [von ihm gar nicht thematisierten] strengen Schuldtheorie folgt); Mitsch, JuS 2000, 848 ff. (für zweifache Fahrlässigkeitsprüfung); erhellend krit. zu dem Judikat und mit zutr. Kritik auch an Börner: Heuchemer, Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 337 ff. (und 69 ff.). – Hier versagt die h. M. nämlich vollends und muß sich mittels windiger Konstruktionen zu einer Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeitsdeliktes „retten“. 89 Der Einwand, daß das nämliche Ergebnis für den Angeklagten herausgekommen wäre, wäre der BGH – bei gleicher Sachverhalts-Würdigung – der strengen Schuldtheorie gefolgt (wegen verneinten Fahrlässigkeits-Vorwurfs), kann so nicht durchschlagen: Abgesehen von dem bereits gerügten – für den Außenstehenden schwerlich nachvollziehbaren – Fahrlässigkeits-Ausschluß wäre zu bedenken, daß nach bisher bei § 17 StGB praktizierter Rechtsprechung die Anforderungen an die Vermeidbarkeit durch den BGH erheblich höher geschraubt werden als bei der allgemeinen Fahrlässigkeit, BGHSt 4, 236 (237, 243) (= NJW 1953, 1151); BGHSt 21, 18 (20) (= NJW 1966, 842); OLG Frankfurt NStZ 2003, 263. – Ohne daß das die Obergerichte bisher sonderlich beeindruckt hätte, wird freilich in der Literatur – mit Recht – eine solche Differenzierung nahezu ausnahmslos abgelehnt, etwa: Jescheck/Weigend (Fn. 6), § 41 II 2 b; Kühl (Fn. 6), § 13 Rn. 61; LK-StGB/Schroeder (Fn. 39), § 17 Rn. 27; MK-StGB/ Joecks, 2. Aufl. 2011, § 17 Rn. 41; NK-StGB/Neumann, 4. Aufl. 2013, § 17 Rn. 60 und ders., BGH-FG IV (2000), S. 83 (100); Roos, Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums…, 2000, S. 155, 300; Roxin (Fn. 5), § 21 Rn. 53, und ders., FS Henkel, 1974, S. 171 (187); SSW-StGB/ Momsen, 2009, § 17 Rn. 11; SK-StGB/Rudolphi (37. EL, 2002), § 17 Rn. 30 a; Zabel, GA
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Die Rechtsfolgen der Meinungsdifferenz sollte man – selbst wenn man von der Frage nach dem klareren wie substrat-angemesseneren Unrechts- und Schuld-Konzept einmal absieht – keineswegs marginalisieren; darin weiß ich mich mit dem Jubilar wiederum einig.90 Darüber hinaus gilt für jene „herrschende“ Meinung jedoch ein Dictum von Neumann, das dieser in anderem Zusammenhang geäußert hat, in ganz besonderem Maße: „Ein Konsens, der von sich ausschließenden Argumenten getragen wird, ist wertlos“!91
III. Epilog Den Diskussionsfaden im Dissent wieder aufgenommen zu haben, nach mancher mündlicher Debatte seit seinem Lackner-Festschriften-Beitrag, wird mir der gewiegte Dogmatiker Frisch sicher nachsehen. Denn das zeichnet den Jubilar – unter anderem – aus: Das Ringen um die Sache – mit hoher Intelligenz, feinem Differenzierungsvermögen, zwar sine ira, aber sehr wohl cum studio, ja sogar: cupiditate (Leidenschaft). Daß er die Zunft noch mit manchem Beitrag bereichern möge – und vielleicht auch mit seinen lange geplanten Lehrwerken zum materiellen und formalen Recht –, das möchte ich ihm – und uns allen – wünschen. Vor allem aber möge ihm noch lange Gesundheit und Glück, an der Seite seiner geschätzten Gattin, beschieden sein!
2008, 33 (43); Zaczyk, JuS 1990, 889 (893). – Erst, wenn man sich in Karlsruhe zu dieser Sicht verstünde, resultierte aus der Replik wirklich ein Einwand. Dann gölte aber immer noch die vorstehende Duplik. 90 Richtig Frisch, in: Eser/Perron Rechtfertigung … III, 1991, S. 217 (254). Zust. NKStGB/Paeffgen (Fn. 2),Vor § 32 Rn. 119 und passim. 91 U. Neumann, GA 1985, 389 (401), – bezogen auf die sich widersprechenden Begründungen für die actio libera in causa.
Die Verknüpfung sorgfaltswidrigen Verhaltens mit der Rechtsgutsbeeinträchtigung in der Fahrlässigkeitstat – keine Frage der objektiven Zurechnung, sondern der Beurteilung nach dem Satz vom Grunde Von Karl Heinz Gössel Strafrechtliche Sanktionen fallen nicht vom Himmel, um ebenso zufällig wie willkürlich beliebige Gute oder Böse zu treffen; auch sie unterliegen den Gesetzen von Grund und Folge. Strafgesetze setzen Sanktionen als Folge von Straftaten, die wiederum durch u. a. in Straftatbeständen erfasste bestimmte Elemente begründet werden: z. B. durch auf menschliches Verhalten gegründete Rechtsgutsbeeinträchtigungen – und damit wirken auch diese Merkmale zugleich strafbegründend. Das gilt bekanntlich für alle Formen von Straftaten, also auch für Fahrlässigkeitstaten. Wolfgang Frisch hat sich (nicht nur) mit seiner zum Klassiker gewordenen Monographie über „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs“ um die Voraussetzungen der Tatbestandsverwirklichung verdient gemacht, so dass die ihm gewidmeten folgenden Überlegungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen fahrlässiger Straftaten auf sein Interesse hoffen.
A. Themenbegrenzung Die Voraussetzungen strafbarer fahrlässiger Taten werden bekanntlich immer noch außerordentlich streitig erörtert. Zu all diesen Streitfragen kann und soll hier nicht Stellung genommen werden: Die folgenden Überlegungen beschränken sich nur auf eine Streitfrage: die nach der Verknüpfung einer sorgfaltswidrigen Verhaltensweise mit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung als Voraussetzung der fahrlässigen Straftat. Ungeachtet aller insoweit bestehenden Streitfragen wird mit der h. L. im Folgenden sorgfaltswidriges Verhalten als notwendiges Element tatbestandlichen fahrlässigen Verhaltens1 vorausgesetzt, und unter rechtsgutsbeeinträchtigenden Taten werden sowohl Erfolgsdelikte als auch schlichte Tätigkeitsdelikte verstanden. 1 Ablehnend zu dieser Voraussetzung z. B. LK-StGB/Schroeder, 11. Aufl. 2003, § 16 Rn. 156 f.; MK-StGB/Duttge, 2. Aufl. 2011, § 15 Rn. 107, 136 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 24 Rn. 10, 12.
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Von dieser Basis aus soll der Frage nach dem Grund einer fahrlässigen Rechtsgutsbeeinträchtigung als Folge sorgfaltswidrigen Verhaltens nachgegangen werden.
B. Der Satz vom Grunde I. Die verschiedenen Arten von Gründen 1. In seiner Dissertation über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde aus dem Jahre 1891 hat Schopenhauer bekanntlich nachhaltig daran erinnert, dass jeglicher Gegenstand in mehrfacher Weise gegründet sein kann. Davon ausgehend,2 lassen sich unter zusätzlicher Berücksichtigung der Untersuchungen von Laun3 und Spendel4 fünf verschiedene Gründe strafrechtlicher Sanktionen oder sonstiger strafrechtlich bedeutsamer Gegenstände ausmachen: Real- und Erkenntnisgrund, Rechts- und Verpflichtungsgrund, schließlich Final- oder Zweckgrund5. a) Real- und Erkenntnisgrund existieren nur hinsichtlich bestimmt gearteter Gegenstände. Real gegründet sein kann nur ein Gegenstand, der auch real existiert: Ein erst geplantes, aber noch nicht gebautes Haus existiert noch nicht real und kann deshalb auch nicht real gegründet sein. Entsprechend wirkt der Erkenntnisgrund allein im Reich der Begriffe als ein Satz, durch den ein anderer erkannt wird: Aus den im Erkenntnisgrund gegebenen Prämissen folgt notwendig ein bestimmter Schluss6; der Erkenntnisgrund wird deshalb auch als „Ursache des Erkennens“, als logischer Grund eines Erkenntnisurteils bezeichnet7. b) Unter dem Finalgrund eines Gegenstandes ist das Ziel zu verstehen, zu dessen zukünftiger Erreichung dieser Gegenstand eingesetzt wird. Rechtsgrund eines Gegenstandes ist das Recht des Staates, diesen Gegenstand zu setzen und Verpflichtungs- oder auch Sollensgrund eines Gegenstandes ist jener, demzufolge dieser Gegenstand auch sein soll.
2 Auf eine Erörterung des Satzes im Grunde muss hier verzichtet werden, vgl. dazu Bendszeit, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, 1974, Stichwort: Grund. 3 Laun, Der Satz vom Grunde, 2. Auflage 1956. 4 Spendel, FS Rittler, 1957, S. 39. 5 Vgl. dazu Gössel, FS Pfeiffer, 1988, S. 3. 6 Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 1891, 8. Kapitel, § 49. 7 Specht, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1, Stichwort: causa cognoscendi.
Sorgfaltswidrigkeit als Grund der Rechtsgutsbeeinträchtigung
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II. Gründe für die Verknüpfung straftatbegründender Elemente mit der Straftat 1. Wird nach den Gründen für die straftatbegründende Wirkung von Elementen fahrlässigen Verhaltens (hier also: für die Verknüpfung sorgfaltswidrigen Verhaltens mit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung, s. o. A.) gefragt, so damit zugleich nach den Gründen für die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen für fahrlässige Rechtsgutsbeeinträchtigungen und nach deren Strafbarkeit. Die Strafbarkeit fahrlässiger Rechtsgutsbeeinträchtigungen und die deswegen verhängten strafrechtlichen Sanktionen haben denselben Sollens- oder Verpflichtungsgrund, das Gesetz: § 15 i.V.m. mit den jeweiligen, die Strafbarkeit anordnenden Vorschriften, etwa denen der Tatbestände der §§ 222, 229 StGB. Mit der Verknüpfung realen sorgfaltswidrig-fahrlässigen Verhaltens mit realen Rechtsgutsbeeinträchtigungen zur fahrlässigen Straftat bestimmt das Gesetz zugleich das reale sorgfaltswidrig-fahrlässige Verhalten zum Realgrund der realen Rechtsgutsbeeinträchtigung.8 Der Erkenntnisgrund dieser gesetzlichen Anordnung, also des Verpflichtungsgrundes für die Strafbarkeit fahrlässiger Taten, ist in jenen Gegenständen zu erblicken, aus denen der Gesetzgeber auf die Notwendigkeit geschlossen hat, auch die fahrlässige Straftat als sorgfaltswidrige Rechtsgutsbeeinträchtigung mit Strafe zu bedrohen. 2. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf die Bedeutung von Real-, Erkenntnis- und Sollensgrund für die Verknüpfung von sorgfaltswidrigem Verhalten und Rechtsgutsbeeinträchtigung. Deren Finalgrund als zukünftig zu erreichendes Ziel dieser Verknüpfung kann insoweit ebenso außer Betracht bleiben wie deren Rechtsgrund, unter dem das Recht des Staates zur Bewertung dieser Verknüpfung als Straftat- und damit Sanktionsvoraussetzung zu verstehen ist.9
C. Die Verknüpfung sorgfaltswidrigen Verhaltens mit der Rechtsgutsbeeinträchtigung als ein Grund-Folge-Verhältnis I. Von den Kausalitätslehren zur objektiven Zurechnung Wird der Ehemann neben dem Leichnam seiner in einer Blutlache liegenden Ehefrau mit einem blutigen Messer in der Hand angetroffen, wird kaum jemand zweifeln, den Tod der Ehefrau an das Verhalten des Ehemanns anknüpfen zu können – dann aber wohl doch, wenn eine Video-Aufzeichnung vom Tatort zur Tatzeit erkennen lässt, dass ein Dritter der Ehefrau die Halsschlagader mit einem Messer durchtrennt hat, das er in der Wunde stecken ließ, alsbald geflohen ist und kurz danach der Ehemann am Tatort erschien und das Messer aus der Wunde zog. Also lässt es die An8 9
Gössel, FS Pfeiffer, 1988, S. 3, 8 f. Vgl. dazu Gössel, FS Pfeiffer, 1988, S. 3 ff.
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wesenheit des Ehemanns zur Tatzeit am Tatort mit der Tatwaffe in der Hand nicht stets zu, den Tod der Ehefrau kausal auf das Verhalten des Ehemannes zurückzuführen und damit an dieses anzuknüpfen, will man nicht u. a. gegen das fundamentale Schuldprinzip verstoßen. 1. Äquivalent ursächliche Verknüpfung In diesem Fall kann also der Tod der Ehefrau nicht an das Verhalten des Ehemannes angeknüpft werden: Bei Gleichwertigkeit aller Bedingungen für einen Erfolg kann doch das Verhalten des Ehemannes hinweggedacht werden, ohne dass der Tod der Ehefrau entfällt: Die Anwendung der sog. Äquivalenztheorie10 führt hier zu Recht zur Verneinung eines von dieser Theorie verlangten kausalen Anknüpfungsverhältnisses. Gleichwohl kann diese Theorie schon deshalb nicht überzeugen, weil sie „bereits als kausal voraussetzt, was als kausal allererst erwiesen werden soll“11: „Nur wenn man bereits weiß, daß zwischen der Ursache und der Folge ein ursächlicher Zusammenhang besteht, läßt sich sagen, daß ohne diese Ursache auch die Folge nicht eingetreten wäre“12 – ein klassischer logisch fehlerhafter Zirkelschluss der Äquivalenztheorie, der zwangsläufig zu beliebigen Ergebnissen führen kann: Wird die Kausalität eines Ereignisses für eine Folge bereits vorausgesetzt, kann diese Theorie nahezu jedes beliebige Ereignis für eine beliebige Folge als ursächlich bestimmen mit der Konsequenz einer uferlosen Ausweitung13 der Kausalität, so dass die Bestimmung der Kausalität nach der Äquivalenztheorie schon wegen ihrer Beliebigkeit keine ausreichende Beschränkung der strafrechtlichen Haftung mehr erlaubt, die insbes. bei atypischen Kausalverläufen wie etwa bei „abnormer körperlicher oder geistiger Beschaffenheit des Opfers einer Körperverletzung“ oder „beim
10
In der Rechtsprechung nach wie vor Alleinherrscherin, vgl. z. B. nur BGH NJW 2004, 237, 238. 11 Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 14; abl. auch Koriath, Kausalität und objektive Zurechnung, 2007, S. 35: „Die Bedingungstheorie ist eine Schimäre, … Als Beitrag zur Bedeutung von Kausalität ist sie unbrauchbar“, s. ferner S. 113: „Das entscheidende Problem, warum einer Person der Erfolg vollständig zugerechnet wird, obwohl ihre rechtswidrige Handlung nur eine notwendige Bedingung ausmacht, bleibt ungelöst“. 12 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 7/9; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl. 1996, § 28 II 4. Der Zirkelschluss kann auch nicht durch eine Umformung der Formel der Äquivalenztheorie in einen „kontrafaktischen Konditionalsatz“: „Wenn der Täter sich nicht so verhalten hätte, dann wäre der Erfolg nicht eingetreten“ vermieden werden (so aber Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, S. 52 ff.) – auch dieser umgeformte Satz setzt voraus, dass man schon weiß, dass zwischen Ursache (Verhalten) und Erfolg ein ursächliches Verhältnis besteht. 13 So mit Recht SK-StGB/Rudolphi, Loseblattausgabe, 26. Lfg. (Juni 1997), vor § 1 Rn. 54; dieser Einwand lässt sich auch nicht mit einer Umformulierung dieser Klausel in eine „denkfunktionale Abhängigkeit“ (so Lampe, GedS. A. Kaufmann, S. 189, 209 ff.) ausräumen; gegen die Äquivalenztheorie zutr. auch Aichele, ZStw 123 (2011), 260 ff.
Sorgfaltswidrigkeit als Grund der Rechtsgutsbeeinträchtigung
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tödlichen Sichverschlucken des Unfallopfers im Krankenhaus“14 besonders dringlich erscheint. 2. Adäquat ursächliche Verknüpfung Das kausale Anknüpfungsverhältnis zwischen Täterverhalten und Rechtsgutsbeeinträchtigung sucht die sog. Adäquanztheorie u. a. dadurch neu zu bestimmen, dass sie nicht mehr von der Gleichwertigkeit aller Bedingungen für einen Erfolg ausging, sondern als ursächlich für diesen Erfolg nur diesem adäquate Ursachen zu bestimmen suchte. „Erforderlich“ ist demnach, dass „der Erfolgseintritt bei Vornahme der Handlung“ bei objektiv nachträglicher Prognose „bis zu einem gewissen, nicht zu hohen Grade wahrscheinlich gewesen ist“15 und deshalb „auch als ,gefährlich‘ in Richtung auf den betreffenden Erfolg bezeichnet werden kann“16 ; auf diese Weise können atypische Kausalverläufe ausgeschieden werden, also solche, die „auf einer ganz ungewöhnlichen Verkettung von Umständen“17 beruhen. Gleichwohl kann auch diese Lehre deshalb nicht überzeugen, weil sie auf einer unsicheren Prognose über ein bloß wahrscheinliches Geschehen beruht.18 3. Relevanztheorie und die Lehre von der objektiven Zurechnung Eine gleichsam mittlere Position bezieht die von Mezger entwickelte sog. Relevanztheorie, welche unter den nach der Äquivalenztheorie zu ermittelnden Ursachen nur diejenigen zurechnen will, die dem Sinn des jeweiligen Tatbestandes entsprechen.19 Diese Lehre dürfte als eine Vorform der heute in der Lehre zunehmend in die Defensive20 geratenen, aber noch vorherrschenden Theorie von der objektiven „Zurechnung zum objektiven Tatbestand“21 anzusehen sein, derzufolge ebenfalls zunächst die äquivalent kausalen Ursachen etwa einer Tötung zu ermitteln22 sind, aus 14
Jescheck/Weigend (Fn. 12), § 28 II 3. SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), vor § 1 Rn. 54. 16 Engisch (Fn. 11), S. 46. 17 Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 40. Aufl. 2010, Rn. 169. 18 Vgl. dazu z. B. SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), Vor § 1 Rn. 55. 19 Vgl. dazu z. B. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB, 28. Auflage 2010, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 90 ff.; SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), Vor § 1 Rn. 56. 20 Vgl. dazu F.-C. Schroeder, FS Szwarc, 2009, S. 273 ff.; Hilgendorf, FS U. Weber, 2004, S. 33, 43 ff.; krit ferner Radtke, FS Puppe, 2011, S. 831. 21 So Roxin (Fn. 1), § 10 Rn. 55, § 11 Rn. 43. Begründer dieser Lehre ist Honig, FS Frank I, S. 174, vgl. dazu z. B. Maiwald, FS Miyazawa, 1995, S. 465 ff. Zum Stand der Diskussion um die objektive Zurechnung in Taiwan s. Hsü, FS Roxin, 2001, S. 239. Krit. zur Lehre von der objektiven Zurechnung Sanchez-Ostiz, FS Roxin II, 2011, S. 361, 367, 374: Die objektive Zurechnung ist weder objektiv noch zurechnend. 22 Vgl. z. B. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 19), StGB, Vorbem. §§ 13 ff Rn. 72 ff.; SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), Vor § 1 Rn. 57; Jakobs (Fn. 12), 7/ 29; Roxin (Fn. 1), 15
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deren Menge in einem zweiten Schritt die je objektiv zurechenbaren Ursachen zu bestimmen sind: Als „objektiv zurechenbar“ soll in diesem Verfahren „ein durch menschliches Verhalten verursachter Unrechtserfolg nur dann“ angesehen werden, „wenn dieses Verhalten eine rechtlich mißbilligte23 Gefahr des Erfolgseintritts geschaffen und diese Gefahr sich auch tatsächlich in dem konkreten erfolgsverursachenden Geschehen realisiert hat“.24 Trotz der soeben erwähnten Anerkennung, die diese Auffassung in der Literatur gefunden hat, wird ihr doch nicht gefolgt25 werden können. a) Ebenso wie schon gegen die Relevanztheorie spricht auch gegen die Lehre von der objektiven Zurechnung die fehlende, allenfalls halbherzige Überwindung der Äquivalenztheorie.26 Werden nur äquivalent kausale Geschehnisse als taugliche Gegenstände einer objektiven Zurechnung anerkannt, so wird auf diese Weise der Hauptfehler der Äquivalenztheorie übernommen: Die äquivalente Kausalität dieser Gegenstände wird vorausgesetzt und damit beliebig, willkürlich bestimmt (s. o. 1.). b) In engem Zusammenhang mit ihrem Anspruch, „die allgemeinen objektiven Eigenschaften eines zurechenbaren Verhaltens“ zu bestimmen, unter denen die Kausalität nur eine bilde,27 steht der weitere zutreffende Einwand, diese Lehre fasse in Wahrheit heterogene Straftatmerkmale, „als Kaleidoskop von verschiedenartigen Tatbestandseinschränkungen“28 unter Vernachlässigung notwendiger Differenzie§ 11, 49; Kindhäuser, AT, 4. Aufl. 2009, § 11 Rn. 2 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 17), Rn. 179; Gropp, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2005; § 5 Rn. 40. 23 Zu den verschiedenen Bezeichnungen der rechtlichen Missbilligung s. Kühl, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 43 f. 24 MK-StGB/Freund, 2. Aufl. 2011, Vor §§ 13 ff. Rn. 181; SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), Vor § 1 Rn. 57; ebenso z. B. Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, Vor § 13 Rn. 25 f.; SSW-StGB/ Kudlich, 2009, Vor §§ 13 ff. Rn. 48 ff.; Roxin (Fn. 1), § 11, 49; Wessels/Beulke (Fn. 17), Rn. 179; Kühl (Fn. 23), § 4 Rn. 43 f.; Heinrich, FS Geppert, 2011, S. 171, 174 ff.; Reyes, ZStW 105 (1993), 108, 129 f.; zust. auch Duttge, FS Maiwald, 2010, S. 133, 152; vgl. ferner die Nachw. bei Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 19), StGB, Vor §§ 13 ff Rn. 91a. 25 Anders noch Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, AT 2, 7. Aufl. 1989, § 43 Rn. 80 ff. und Gössel z. B. JR 1997, 519, 520. Die Entwicklung von Rechtsprechung und in der Literatur seit diesen Äußerungen gibt jedoch Anlass, nunmehr andere Wege zu gehen. 26 Ebenso z. B. auch Schumann, Jura 2008, 408, 414; Aichele, ZStw 123 (2011) 260, 268 f., s. auch Fischer (Fn. 24), Vor § 13 Rn. 24. Gegen die von Frisch, FS Gössel, 2002, S. 51, 70 für die weitere Verwendung der Äquivalenztheorie vorgebrachten praktischen Gründe spricht m. E., dass von der Anwendung einer evident den Denkgesetzen widersprechenden Theorie (Zirkelschluss!) zwar die praktische Arbeit erleichternde willkürliche Ergebnisse erwartet werden können, nicht aber überzeugende brauchbare Lösungen. Wie hier auch Hilgendorf, FS U. Weber, 2004, S. 33, 36 ff., 48. Für das Ungenügen der Äquivalenztheorie in den Fällen der strafrechtlichen Produkthaftung jetzt sogar eine Stimme aus dem BGH: vgl. Jähnke, Jura 2010, 582, 584 ff. 27 Vgl. nur NK-StGB/Puppe, 3. Aufl. 2010, § 16 Rn. 9; Jakobs (Fn. 12), 7/4. Ähnlich Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 46; dagegen Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 67. 28 NK-StGB/Paeffgen, 3. Aufl. 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 25.
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rungen29 zu einer Sammelbezeichnung30 zusammen wie etwa die „Kausalität“31, die „Schaffung eines unerlaubten Risikos“32, die Sozialadäquanz33, die „einverständliche Fremdgefährdung“34, die „Sorgfaltspflichtverletzung“35, die „objektive Sorgfaltwidrigkeit“36 und deren ursächlichen Zusammenhang mit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung und auch den Schutzzweck der Norm37, die Erkennbarkeit und auch Vermeidbarkeit38 – sogar der systematische Standort der als „Pflichtwidrigkeit und Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ verstandenen objektiven Zurechnung im Bereich des Tatbestandes wird bestritten und deren Zuordnung zur Rechtswidrigkeitsebene verlangt39, dies zudem des normativen Charakters der objektiven Zurechnung wegen40. Die sich darin zeigende Unklarheit von Begriff, Inhalt und Umfang des Instituts der objektiven Zurechnung führt letztlich zu „einer allumfassenden Güter- und Interessenabwägung“, die „eines verbindlich vorgegebenen Abwägungsmaßstabes“41 entbehrt. So wird auch das Verdikt verständlich: „Die Lehre von der objektiven Zurechnung … hat sich als ungeeignet erwiesen,“ gerade neuere Fälle etwa der Produkthaftungsproblematik „wie Contergan, Lederspray, Holzschutzmittel oder de(n) spanische(n) Rapsölfall“42, „eindeutig und intersubjektiv nachvollziehbar zu lösen“43, weshalb „sie bislang in der Diskussion um die strafrechtliche Produkthaftung keine größere Rolle gespielt“ hat44 und zu Recht festgestellt wird: „Viele Probleme, die“ zur Lehre von der objektiven Zurechnung „führten“, sind „durch die Ent29 Vgl. dazu Frisch, FS Roxin, 2001, S. 213, 235: „Aufblähung der Erfolgszurechnung zu Lasten des tatbestandsmäßigen Verhaltens“. 30 Vgl. z. B. Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 60 f.; Frisch (Fn. 27), S. 31 f.; gegen ihn Schünemann, GA 1999, 207, 221, indessen deshalb zu Unrecht, weil er die Sorgfaltswidrigkeit einer Handlung mit der davon verschiedenen und hier entscheidenden Verknüpfung von Verhalten und Rechtsgutsbeeinträchtigung gleichsetzt und damit einen der beiden möglicherweise miteinander verknüpften Gegenstände mit der Verknüpfung selbst gleichsetzt: Die Bewertung eines Gegenstandes setzt dessen Existenz voraus, darf aber nicht mit diesem gleichgesetzt werden. Im Ergebnis wie Frisch auch Maiwald, FS Miyazawa, 1995, S. 465, 467 f. 31 Vgl. z. B. NK-StGB/Puppe (Fn. 27), § 16 Rn. 4; Lampe, GedS A. Kaufmann, S. 189. 32 NK-StGB/Puppe (Fn. 27), Vor §§ 13 ff. Rn. 154; Gonzales do Murillo, FS Roxin II, 2011, S. 345, 351. 33 Sanchez-Ostiz, FS Roxin II, 2011, S. 361, 368. 34 Hellmann, FS Roxin, 2001, S. 271. 35 NK-StGB/Puppe (Fn. 27), Vor §§ 13 ff. Rn. 154; Roxin (Fn. 1), § 24 Rn. 12. 36 Yamanaka, ZStW 102 (1990), 928, 944. 37 Vgl. z. B. Kahlo, FS Küper, 2007, S. 249, 252 f.; Stiebig, Festgabe Paulus, S. 151, 165. 38 Roxin (Fn. 1), § 24 Rn. 13. 39 Vgl. etwa Schlehofer, FS Puppe, 2011, S. 953, 964 f. 40 Bustos Ramírez, GedS A. Kaufmann, S. 213, 236. 41 Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 127 f. 42 Hilgendorf, FS U. Weber, 2004, S. 33, 34 f. 43 Hilgendorf, FS U. Weber, 2004, S. 33, 35. 44 Hilgendorf, FS U. Weber, 2004, S. 33, 48.
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wicklung des Strafrechts von einem rein kausalorientierten Verbrechensbegriff zu einem postfinalistischen Verbrechensbegriff überholt“, so dass diese Lehre ihre Berechtigung verloren hat45. Dabei werden selbst Widersprüche nicht vermieden: So wird zwar die objektive Zurechnung samt ihres Merkmals der Kausalität der Zurechnung „zum subjektiven Tatbestand“46 gegenübergestellt, dann aber doch, vom gleichen Autor, von „subjektiven, innerpsychischen Faktoren abhängig“ gemacht47 und eine „psychisch vermittelte Kausalität“ als „eine kausal zu bezeichnende notwendige Erfolgsbedingung“48 akzeptiert: ein Widerspruch, der auch mit der Verwandlung eines Sachproblems in ein methodologisches und so mit „der kriminalpolitischen Funktion des objektiven Tatbestandes“ deshalb nicht überwunden werden kann49, weil damit widersprüchlich die Gleichsetzung von Objektivem mit Subjektivem verlangt wird, also von einander sich gegenseitig ausschließenden Gegenständen50. Zeigt sich schon darin die Berechtigung der Charakterisierung der objektiven Zurechnung als einer unscharfen Globalbezeichnung,51 die notwendige Unterschiede verwischt, so ferner in der Ausdehnung auf überwiegend als selbständig angesehene Straftatmerkmale, wie etwa die Bestimmung der Täterschaft mit der soeben genannten Zurechnungsformel von der Zurechnung des Erfolgs „als Werk eines bestimmten Täters“52, aber auch durch die Einbeziehung von Rechtfertigungsgründen53, also von Elementen einer Straftatebene, die vom Tatbestand verschieden ist – auf diese Weise verliert das Tatbestandsmerkmal „Täterschaft“ durch seine Einordnung in das Merkmal der objektiven Zurechnung seine Selbständigkeit, wie aber zudem die Unterscheidung zwischen den je selbständigen Verbrechensmerkmalen der Tatbestandlichkeit und der Rechtswidrigkeit verloren geht. Insgesamt wird das Institut der objektiven Zurechnung damit zu einem unersättlichen Schwamm54, der Straftatmerkmale verschiedenster Art und Ebene aufsaugt, die Erkenntnisse der letzten ca. 100 Jahre zu Aufbau und Struktur der Straftat und 45
Schumann, Jura 2008, 408, 415. Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 46. 47 Roxin, GedS A. Kaufmann, S. 237, 250. 48 Roxin, FS Achenbach, 2011, S. 409, 421; krit. dazu schon Lampe, GedS A. Kaufmann, S. 189, 196. 49 Greco, ZStW 117 (2005), 519, 534, 553. 50 Zutr. verneint deshalb Sanchez-Ostiz, FS Roxin II, 2011, S. 361, 374 den objektiven Charakter der „objektiven Zurechnung“. 51 Hilgendorf, FS U. Weber, 2004, S. 33, 44: „Eine Art Rumpelkammer für ungelöste Tatbestands- und Rechtfertigungsprobleme“. 52 So Roxin (Fn. 1), § 10 Rn. 55; ferner z. B. SSW-StGB/Kudlich (Fn. 24), Vor §§ 13 ff. Rn. 50; Otto, Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2010, § 6 Rn. 12, § 10 Rn. 2; Wessels/Beulke (Fn. 17), Rn. 176; Hsü, FS Roxin, 2001. S. 239, 248. 53 Kretschmer, NStZ 2012, 177. 54 Vgl. dazu auch Schünemann, GA 1999, 207: „ein riesiger Krake mit zahllosen Tentakeln“. 46
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zur Bestimmung des Tatbestandes und seiner Merkmale mindestens teilweise wieder aufgibt und die Dogmatik so in die Zeit vor Beling zurückführt.55 Endlich dürfte die Erkenntnis, dass die Formel von der Schaffung eines rechtlich missbilligten Risikos (s. o. vor a)) „eine sachlich nichts Neues bringende Umformulierung“ des Merkmals der Sorgfaltswidrigkeit sei56, gegen die Anerkennung der Lehre von der objektiven Zurechnung sprechen. c) Vor allem aber spricht gegen diese Lehre, dass sie die Rechtswidrigkeit einer tatbestandlichen Rechtsgutsbeeinträchtigung mit deren Rechtswidrigkeit begründet, das zu Begründende damit zirkelschlüssig voraussetzt. Von einem extrasystematischen Standpunkt kann allein der Normverstoß ein vermeidbar rechtsgutsbeeinträchtigendes (also sowohl rechtsgutsgefährdendes als auch rechtsgutsverletzendes) menschliches Verhalten (und also nicht bloß eine Rechtsgutsbeeinträchtigung ursächlich hervorbringendes57) zu einem verbotenen und deshalb rechtswidrigen machen. Wird aber verbotenes Verhalten (rechtswidrige Gefahrsetzung) zur Voraussetzung eines von der Norm verbotenen Verhaltens,58 so wird verbotenes Verhalten zirkelschlüssig als Voraussetzung verbotenen Verhaltens59 verlangt: Die Rechtswidrigkeit wird zur Voraussetzung ihrer selbst60 und bringt sich damit selbst autonom hervor. Aber auch bei einer intrasystematischen Beurteilung kann die Lehre von der objektiven Zurechnung eine zirkelschlüssige Argumentation nicht vermeiden. Wird mit der Überschreitung eines erlaubten Risikos ein ebenfalls verbotenes Verhalten zur Voraussetzung einer „Zurechnung zum objektiven Tatbestand“61 gemacht, der aber selbst ein unrechtskonstituierendes Element62 bildet, so wird auch hier verbotenes Verhalten (rechtswidrige Gefahrsetzung) zur Voraussetzung verbotenen unrechtskonstituierenden Verhaltens gemacht – zu Recht bemerkt Hirsch dazu: „Das Verbotensein kann nicht Voraussetzung seiner selbst sein“63.
55 Vgl. Armin Kaufmann, FS Jescheck I, 1985, S. 251, 270: „Im Orkus der … Zurechnungslehre verschwänden … die Tatbestände selbst“. 56 Schünemann, GA 1999, 207, 217. 57 Deshalb lässt sich aus der von SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), Vor § 1 Rn. 57 vertretenen Auffassung nichts Gegenteiliges herleiten. 58 SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), Vor § 1 Rn. 57; Jakobs (Fn. 12), 7/78. 59 Auf einen anderen möglichen Fehlschluss weist Frisch (Fn. 27), S. 33 ff., 35 hin: „Die Schaffung einer mißbilligten Gefahr“ kann nicht zugleich „Moment des Verhaltensunrechts wie auch Voraussetzung der objektiven Zurechenbarkeit des Erfolgs im Erfolgsunrecht“ sein. 60 Ähnlich Frisch, FS Roxin, 2001, S. 213, 232: Fehlt es an einer „mißbilligten Gefahrenschaffung, … so fehlt es in Wahrheit schon an einem … verbotenen Verhalten“. 61 So Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 49. 62 So Roxin (Fn. 1), § 10 Rn. 88; ähnlich SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), Vor § 1 Rn. 57. 63 Hirsch, Strafrechtliche Probleme II, 2009, S. 205 (= FS Lenckner, 1998, S. 119), 205, 220; ähnlich auch Maiwald, FS Miyazawa, 1995, S. 465, 478 f.
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II. Kausalitätsbestimmung nach der Lehre vom sorgfaltsgemäßen Alternativverhalten 1. Inhalt und Ausgangsfälle Die Rechtsprechung hat die Strafbarkeit wegen einer Fahrlässigkeitstat von jeher von der äquivalenten Ursächlichkeit des sorgfaltswidrigen Verhaltens für die Rechtsgutsbeeinträchtigung abhängig gemacht und einen kausalen „Zusammenhang zwischen dem verkehrsrichtigen Verhalten“ und einer Rechtsgutsbeeinträchtigung verneint, „wenn der gleiche Erfolg auch bei verkehrsrichtigem Verhalten … eingetreten wäre oder … sich … nicht ausschließen läßt“64. Die Rechtsprechung geht zwar davon aus, dass „der Vorfall“ entscheide, „wie er sich wirklich abgespielt hat“, hält es dann aber doch für entscheidend, „wie der Sachverlauf gewesen wäre, wenn“ der Täter sorgfaltsgemäß gehandelt hätte,65 denkt deshalb zu dem tatsächlichen Geschehen ein sorgfaltsgemäßes Alternativverhalten hinzu und fragt sodann, ob auch dieses Alternativverhalten zur Rechtsgutsbeeinträchtigung geführt hätte oder nicht – und prüft dabei, „ob die verkehrswidrige positive Handlung hinweg- oder die unterlassene pflichtgemäße Handlung hinzugedacht werden kann, ohne dass auch der Erfolg entfiele“66. Dabei dürfe „von der konkreten Tatsituation nichts weggelassen, ihr nichts hinzugedacht und an ihr nichts verändert werden“, zu der demgemäß „nur solche Bedingungen zählen“ sollen, „deren Grund in diesem Tatgeschehen unmittelbar angelegt ist“ und der „konkreten Tatsituation zuzurechnen sind“, nicht aber etwa „völlig außerhalb des Tatgeschehens“ liegende Bedingungen, für deren Vorliegen „keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte bestanden“.67 Als Beispiel diene jenes wohl „berüchtigte“ oberlandesgerichtliche Urteil, demzufolge fahrlässige Tötung angenommen wurde, weil ein Kfz-Führer trotz „Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit“ am Unfallort wegen vorhergehenden zu schnellen Fahrens diesen „erst in einem Zeitpunkt“ erreichen „konnte, in dem der“ 64
BGHSt 48, 1, 4. RGSt 15, 151, 154; 63, 392, 393; i.Erg. ebenso BGHSt 33, 61, 65; 48, 1, 4; BGH NStZ 2011, 31 mit Bespr. Kahrs, NStZ 2011, 14 und Kühl, NJW 2010, 1092; ähnlich auch Lampe, GedS A. Kaufmann, S. 189, 203; Otto, GedS Schlüchter, S. 77, 96; Weber, FS Puppe, 2011, S. 1059. 66 BGHSt 11, 1, 7; 30, 228, 230; 33, 61, 65; 49, 1, 4; BGH NJW 2004, 237, 238; OLG Karlsruhe NJW 1958, 430, 431; teilweise zust. das Schrifttum, vgl. z. B. LK-StGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 15 Rn. 188; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn.19), StGB, § 15 Rn. 173 ff.; Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 88 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 17), Rn. 676 f.; Frisch (Fn. 27), S. 529 ff.; Kahlo, FS Küper, 2007, S. 249, 251 f.; differenzierend Schlüchter, JA 1984, 673, 680: entscheidend sei, ob das pflichtgemäße Alternativverhalten zu einem gleichartigen Erfolg – dann Verneinung des hier behandelten Zusammenhangs – geführt hätte oder nicht; ähnlich Jakobs, FS Lackner, 1987, S. 53, 56 ff.: Berücksichtigung hypothetischen – sorgfaltsgemäßen – Alternativverhaltens bei „äquivalente(m) Verlauf des identischen Risikos“, dagegen keine Berücksichtigung bei der „Konkurrenz mehrerer Risiken“ – insoweit freilich anders als Schlüchter. 67 BGHSt 49, 1, 4 mit weit. Nachw. 65
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bei dem Unfall Getötete „die Fahrbahn bereits verlassen hatte“.68 Gleiches wurde in den strukturell gleich liegenden Fällen angenommen, in denen der Fahrer innerhalb des Ortsbereichs noch vor dem Ortsendeschild seine Geschwindigkeit auf über 50 km/h steigerte und nach dem Ortsendeschild mit der nunmehr zulässigen Geschwindigkeit von 80 km/h einen Unfall verursachte69. 2. Einwendungen a) Diese Argumentation erscheint indessen schon deshalb nicht bedenkenfrei, weil sich die Rechtsprechung immer noch nicht von der Äquivalenztheorie lösen kann70 und deshalb ebenfalls zirkelschlüssig (s. o. I. 1.) zu beliebigen Ergebnissen kommt71, wie die soeben genannten Beispiele zeigen: So hätte sich der Unfall einmal auch dann vermeiden lassen, wenn der Kfz-Führer vor Erreichen des Unfallortes entweder noch schneller gefahren wäre und diesen folglich längst vor dem Unfallzeitpunkt verlassen hätte, zum anderen aber auch dann, wäre er verkehrsordnungswidrig unter Behinderung des Verkehrsflusses (§ 3 Abs. 2 StVO) zu langsam gefahren und er deshalb den Unfallort erst nach dem Unfallzeitpunkt erreicht hätte. Denkt man beide rechtswidrigen Alternativverhalten zu dem tatsächlichen Unfallgeschehen hinzu, wären ebenfalls Unfall wie Rechtsgutsbeeinträchtigungen entfallen72 – Ergebnisse, die zwar nicht als sinnvoll bezeichnet werden können, aber gleichwohl vom Standpunkt der Äquivalenztheorie unvermeidbar sind, auch dann, will man in diesen Fällen zur Bejahung fahrlässiger Rechtsgutsbeeinträchtigungen nur ein rechtmäßiges Alternativverhalten hinzudenken73, dessen alleinige Berücksichtigung mit der Formel der Äquivalenztheorie unvereinbar erscheint oder will man sonst die Formel der Äquivalenztheorie verbessern74. b) Der wesentliche Nachteil der Lehre vom sorgfaltsgemäßen oder rechtmäßigen Alternativverhalten dürfte darin liegen, dass sie es trotz ausdrücklichen Abstellens auf den tatsächlichen Geschehensablauf75 nahelegt, entgegen dem Schuldgrundsatz in Wahrheit nichtexistentes, nur hypothetisches Geschehen über die Strafbarkeit entscheiden zu lassen76 : Beurteilt man beim Hinzudenken eines rechtmäßigen hypothe-
68 OLG Karlsruhe NJW 1958, 430 mit Anm. Liebert, NJW 1958, 759 und Schmitt, DAR 1958, 259. 69 In einem ähnlichen Fall ebenso OLG Hamm VRS 61 (1981), 353. 70 So ausdrücklich BGHSt 49, 1, 3; BGH NJW 2004, 237, 238. 71 NK-StGB/Puppe (Fn. 27), Vor §§ 13 ff. Rn. 91; Puppe, ZStW 99 (1987) 595, 599. 72 Puppe, GA 1994, 297, 299. 73 Vgl. dazu z. B. Kindhäuser, GA 2012, 134, 138 f., 146. 74 Vgl. dazu Puppe, GA 1994, 297, 298 ff.; Kindhäuser, GA 2012, 134, 137 ff. 75 So die Rechtsprechung: z. B. BGHSt 33, 61, 64; 49, 1, 4. 76 Dagegen auch NK-StGB/Puppe (Fn. 27), Vor §§ 13 ff. Rn. 92; MK-StGB/Duttge (Fn.1), § 15 Rn. 162; Krümpelmann, FS Jescheck I , 1985, S. 313, 322; Puppe, ZStW 99 (1987) 595,
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tischen Alternativverhaltens die faktisch eingetretene Rechtsgutsbeeinträchtigung als hypothetisch nicht eingetreten und bejaht deshalb eine Fahrlässigkeitstat, so spricht einiges für die Vermutung, auf diese Weise werde die Strafbarkeit aus einem nicht existenten Sachverhalt77 hergeleitet. c) Darüber hinaus führt die Berücksichtigung sorgfaltsgemäßen Alternativverhaltens dann in Schwierigkeiten, wenn die „hypothetische Fragestellung keine sicheren Schlüsse zulässt“78. Die Lösung dieser Schwierigkeiten wird der Sache nach materiell-rechtlich auf einer Wahrscheinlichkeits-Skala zu finden gesucht, die durch die Endpunkte „Sicherheit“ bzw. „Unmöglichkeit“ des Erfolgseintritts auch bei pflichtgemäßem Verhalten79 begrenzt wird. aa) Die Rechtsprechung will die Kausalität nur dann verneinen, wenn der Erfolg bei (gedachter) Sorgfalt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden80 worden, „erheblich später oder in wesentlich geringerem Umfang eingetreten wäre“81 oder sich dies „aufgrund erheblicher Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen läßt“82. Umgekehrt soll der Zusammenhang nur dann verneint werden, wenn der Erfolg auch bei Sorgfalt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eingetreten83 wäre. Ganz außerhalb dieser Skala84 liegen diejenigen, welche die Kausalität selbst dann nicht immer bejahen wollen, wenn der Erfolg bei Sorgfaltswahrung sicher vermieden worden wäre85 (offenkundige Vermischung mit der Normzwecklehre) oder umgekehrt selbst dann bejahen wollen, wenn der Erfolg bei Sorgfalt sicher nicht vermieden86 worden wäre. bb) Die Mitte zwischen den Extremen der Skala halten diejenigen Autoren ein, die diese Vermeidbarkeitskausalität dann bejahen, wenn das objektiv sorgfaltswidrige 599; Ranft, NJW 1984, 1425, 1433; Spendel, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 183 und JuS 1964, 14 f. 77 Treffend Erb, Rechtmäßiges Alternativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 1991, S. 45: nur „gedachte Ereignisse und demnach Reserveursachen“, die – S. 290 – „im Strafrecht generell unbeachtlich“ seien. 78 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 19), StGB, § 15 Rn. 177. 79 Nachw. bei Ulsenheimer, JZ 1969, 365; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 19), StGB, § 15 Rn. 177 f. 80 RGSt 63, 211, 214 (Milzbrandfall). 81 BGH NStZ 1985, 26; ferner z. B. BayObLG VRS 58 (1980), 412, 414 mit weit. Nachw.; dieser Rechtsprechung folgen Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 136 mit weit. Nachw., Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968, S. 85, 90, Ulsenheimer, Das Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, 1965, S. 148 und JZ 1969, 364, 366 f., Wessels, JZ 1967, 449, 452 und v. Caemmerer, Schriften I , S. 441, 445 f. unter Vermengung mit der Schutzbereichstheorie. 82 BGHSt 49, 1, 4. 83 Walder, Zeitschr. des Bernischen Jur. Vereins, 1968, 161, 174 f., 177. 84 Instruktiv dazu Arthur Kaufmann, FS Jescheck I, 1985, S. 279 ff. 85 Gimbernat Ordeig, ZStW 80 (1968), 923. 86 Seebald, GA 1969, 193, 209, 213.
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Verhalten, das diesen Erfolg real herbeigeführt hat, das Risiko seines Eintretens gegenüber dem rechtmäßigen Alternativverhalten erhöht hat87 oder den Risikozusammenhang verneinen, wenn der Erfolg in der Hypothese eines rechtmäßigen Alternativverhaltens vom konkret eingetretenen wesentlich abweicht88. Diese Lehre wird teilweise sogar für notwendig erachtet, weil nur so die Mängel der Äquivalenztheorie vermieden werden89 könnten. Dieser Lehre kann jedoch schon deswegen nicht gefolgt90 werden, weil sie den vom Tatbestand geforderten Erfolgseintritt in diesem Zusammenhang91 unberücksichtigt lässt92, Verletzungsdelikte in Gefährdungsdelikte umwandelt93 und zudem wegen der nur hypothetischen Natur des Alternativverhaltens94, in Schwierigkeiten mit dem Grundsatz in dubio pro reo gerät95 – Mängel, die sich nicht dadurch heilen lassen, dass das ex ante sorgfaltsgemäße Verhalten ex post nur „noch als ein kriminalpolitisch sinnvolles Mittel“ dazu angesehen wird, die eingetretene Rechtsgutsbeeinträchtigung „zu verhindern“96.
87
Begründet von Roxin, ZStW 74 (1962) 411, 430 ff., ebenso Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 88 ff.; SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), Vor § 1 Rn. 65 ff.; Jescheck/Weigend (Fn. 12), § 55 II 2 b aa; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 139, im Anschl. vor allem an Roxin, ZStW 74 (1962), 411, 430 ff. und FS Honig, 1970, S. 133, 138 ff.; wohl überwiegende Auffassung, vgl. z. B. E. A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 27; Hauck, GA 2009, 280, 287 ff.; Rudolphi, JuS 1969, 559, 554; Schünemann, GedS Meurer, S. 37, 46; Stratenwerth, FS Gallas, 1973, S. 227; vgl. für das österreichische Strafrecht auch Kienapfel, Das erlaubte Risiko im Strafrecht, 1966, S. 103. 88 Schlüchter, JA 1984, 673, 678 ff. 89 Puppe, FS Roxin, 2001, S. 287. 90 Lampe hält diese Lehre für „unbegründbar“ (GedS A. Kaufmann, S. 189, 202); dagegen auch Frisch (Fn. 27), S. 543 ff., 561. Die Rechtsprechung – BGHSt 37, 106, 127, BGH NStZ 2011, 31 – ist ihr bisher nicht gefolgt. 91 Der allein auf das mit der Handlung verbundene Risiko abstellt, so dass die Überlegung, auf den Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg werde nicht verzichtet (so Kahlo, FS Küper, 2007, S. 249, 272), den Einwand einer Umwandlung des Deliktstypus durch die Risikoerhöhungslehre nicht ausräumt. 92 So ausdrücklich Otto; JuS 1974, 702, 708. 93 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 19), StGB, § 15 Rn. 179; MK-StGB/Duttge (Fn.1), § 15 Rn. 181; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, AT, 11. Aufl. 2003, § 14 Rn. 86 f.; Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 50; Erb (Fn. 76), S. 133 ff.; Ebert/Kühl, JA 1979, 561, 572; Otto, GedS Schlüchter, S. 77, 88; Ranft, NJW 1984, 1425, 1431. Vgl. dazu auch Schünemann, GedS Meurer, S. 37, 56 ff. 94 Und also entgegen Kahlo, FS Küper, 2007, S. 249, 272 gerade kein tatsächliches Geschehen. 95 Wie hier auch Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 19), StGB, § 15 Rn. 179; Wessels/Beulke (Fn. 17), Rn. 199; Freund (Fn. 92), § 2 Rn. 50; Dencker, JuS 1980, 210, 212; Toepel (Fn. 12), S. 165 ff.; Kindhäuser, ZStW 120 (2008), 481, 501 f.; vgl. auch Jakobs (Fn. 12), 7/103. Ausführlich zur Kritik der Risikoerhöhungslehre z. B. SK-StGB/Hoyer, Loseblattausgabe, 39. Lfg. (Juni 2004), Anhang § 16 Rn. 73 ff.; Hirsch, FS Lampe, 2003, S. 515, 531 f.; Schünemann, JA 1975, 649 ff.; Schlüchter, JA 1984, 673, 676; Arthur Kaufmann, FS Jescheck I, 1985, S. 273, 282. 96 Schünemann, GA 1999, 207, 226, dagegen zutr. Kahlo, FS Küper, 2007, S. 249, 259 ff.
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d) Deshalb kann auch der Lehre vom Ausschluss der objektiven Zurechnung bei einer bloßen Verringerung des Risikos oder der Gefahr einer Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht gefolgt97 werden: Der von dieser Lehre erstrebte Haftungsausschluss für fahrlässiges Verhalten dürfte sich dadurch erreichen lassen, dass gefahr- oder risikoverminderndes Verhalten als verkehrsüblich, sorgfaltsgemäß und damit tatbestandslos zu beurteilen ist. 3. Überwindung der Einwendungen Alle soeben unter 2. gegen die Berücksichtigung hypothetischen sorgfaltsgemäßen Alternativverhaltens vorgebrachten Einwendungen dürften aus einer gemeinsamen Basis erwachsen: dem Verständnis des Alternativverhaltens als einer gedachten Reserveursache, einer quasi-realen Erscheinung mit quasi-realen Folgen98 und damit einer quasi-materiell-rechtlichen Bedeutung, die über Strafbarkeit oder Straflosigkeit entscheidet – gibt man diese Grundlage auf, werden die Einwendungen gegenstandslos: das Alternativverhalten verliert die Eigenschaft einer Bedingung i. S. der Äquivalenztheorie, kann nicht materiell-rechtlich über die Strafbarkeit entscheiden und auch keine sicheren Schlüsse zulassen. Das Institut des sorgfaltsgemäßen oder rechtmäßigen Alternativverhaltens dürfte sich indessen auch anders als eine quasi-reale Erscheinung verstehen lassen: als eine widerlegbare Beweisregel oder -vermutung bei der richterlichen Überzeugungsbildung nach § 261 StPO99. So dürfte sich die Heranziehung eines nur gedachten hypothetischen Geschehens als ein sogar notwendiges Instrument begreifen lassen, die Verknüpfung zwischen sorgfaltswidrigem Verhalten und Rechtsgutsbeeinträchtigung als eines gesetzmäßigen Zusammenhangs im hier dargelegten Sinne (s.u. III. 3.) erkennen zu lassen: Anstelle des wirklichen sorgfaltswidrigen Verhaltens wird hypothetisch ein sorgfaltsgemäßes Verhalten unterstellt und sodann gefragt, ob die eingetretene Rechtsgutsbeeinträchtigung auch in diesem hypothetischen Fall eingetreten wäre – ist die Antwort ja, etwa dann, wenn der tödliche Unfall bei Einhaltung der in concreto weit überschrittenen vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit entfallen wäre, so besteht eine widerlegbare Vermutung dafür, dass die eingetretene Rechtsgutsbeeinträchtigung ursächlich durch die Sorgfaltswidrigkeit herbeigeführt wurde, widerlegbar z. B. in den genannten Fällen sorgfaltswidrigen Verhaltens, in denen das Hinzudenken eines sorgfaltsgemäßen Verhaltens offensichtlich zu Unrecht dazu führte, strafbares Verhalten zu bejahen (s. o. vor 2.).
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Abl., wenngleich aus anderen Gründen, Kindhäuser, GA 2012, 134, 145; abl. auch Sousa Mendes, GA 2011, 557, 576: „Die Risikoverringerung ist in Wahrheit kein materielles Kriterium“. 98 So z. B. Erb (Fn. 76), S. 53. 99 Vgl. z. B. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 261 Rn. 2a, 23.
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III. Die Verknüpfung eines Realgrundes mit seiner realen Folge 1. Zwischenergebnis „Die Welt ist alles, was der Fall ist“100 – was wirklich101 ist, was als Bestehen von Sachverhalten, einer „Verbindung von Gegenständen“102 Tatsache103 ist, nicht, was, als gedacht, der Fall sein könnte, nicht das Produkt menschlicher Vorstellungen104. „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge“,105 und „die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt, was der Fall ist und auch, was alles nicht der Fall ist“106. Die Straftat ist als Tat historisches Geschehen, Teil der Welt, der Lebenswirklichkeit und etwas, was der Fall ist: Tatsache, der nichts als möglich Gedachtes hinzugefügt werden darf107, das als Gedachtes eben nur möglich, nicht wirklich und damit nicht der Fall ist und außerhalb dessen bleibt, das Art. 103 Abs. 2 GG als Tat erfasst. Von diesem Geschehen darf auch nichts hinweggedacht werden: Als Gedachtes ist es nicht der Fall und kann die Tat als das, was der Fall ist, nicht verändern. Schon deshalb hat sich die Äquivalenztheorie als unübersteigbares Hindernis auf dem bisher beschrittenen Weg der Suche nach dem Verhältnis zwischen Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung erwiesen, dies aber zudem wegen ihrer logischen Fehlerhaftigkeit, die zwar niemand mehr bestreitet, aber auch kaum jemals daran hindert, sie gleichwohl anzuwenden. Erst die Beseitigung dieses Hindernisses, also die Entsorgung der Äquivalenztheorie, macht den Weg frei zum Ziel der Erkenntnis des Verknüpfungsverhältnisses zwischen Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung108 – ein Weg, der weniger auf das von der objektiven Zurechnung verlangte Merkmal der Risikoverwirklichung (s. o. I. 3.109) abstellt, sondern (sogleich u. 2. ff.) noch bezeichnet werden muss. 2. Die Täterhandlung als Realgrund der Rechtsgutsbeeinträchtigung Wird ein Verknüpfungsverhältnis zwischen Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung gesucht, so wird ein Grund-Folge-Verhältnis gesucht (s. dazu o. B. I. und II.). Das, was im Strafrecht als Handlung oder als Rechtsgutsbeeinträchtigung bewertet 100
Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 2.022. 102 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 2.01. 103 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 2. 104 Vgl. z. B. Gössel, FS Miyazawa, 1995, S. 317 ff. und FS Küper, 2007, S. 83 f. 105 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1.1. 106 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1.12. 107 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 2.0123: „Wenn ich den Gegenstand kenne, so kenne ich auch sämtliche Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten. … Es kann nicht nachträglich eine neue Möglichkeit gefunden werden“. 108 NK-StGB/Puppe (Fn. 27), Vor §§ 13 ff. Rn. 102. 109 s. dazu auch Frisch (Fn. 27), S. 520 ff., 525. 101
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wird, ist jeweils ein tatsächlicher Sachverhalt, kürzer: eine Summe von Tatsachen – wird aber nach dem Grund einer Tatsache als Grund einer anderen gefragt, wird nach dem Realgrund110 der zu begründenden Tatsache gefragt, der selbst etwa auf einen Sollensgrund gegründet sein (so die in den gesetzlichen Tatbeständen angeordnete Verknüpfung von Tathandlung und dem Erfolg der Rechtsgutsbeeinträchtigung, s. dazu o. B. I. 1. a)) oder der Erreichung eines bestimmten Zwecks (Zweckgrund) dienen kann. Deshalb bemühen sich die folgenden Ausführungen um eine nähere Bestimmung jenes real begründenden Verhältnisses, welches zwischen einer vermeidbar-sorgfaltswidrigen Handlung und einer tatbestandsmäßigen Rechtsgutsbeeinträchtigung besteht (s. o. A.). 3. Das Realgrundverhältnis als gesetzmäßiger Zusammenhang Die nähere Bestimmung dieses Verhältnisses bereitet wegen ihrer nur teilweisen sinnlichen Wahrnehmbarkeit Schwierigkeiten. Wahrnehmbar sind lediglich zwei zeitlich aufeinanderfolgende faktische Ereignisse, die normativ als vermeidbar-sorgfaltswidrige Handlung und als Rechtsgutsbeeinträchtigung bewertet werden (s. o. A.): das in einem Straftatbestand als Rechtsgutsbeeinträchtigung normierte faktische Geschehen (Verletzung eines Menschen) und jene faktischen Sachverhalte, die als Handlung (Führen eines Kfz) und als deren sorgfaltswidrige Vornahme (Fahren in fahruntüchtigem alkoholisierten Zustand) bewertet werden. Das beide tatsächlichen Ereignisse miteinander verknüpfende Verhältnis ist indessen faktisch nicht feststellbar, weil sinnlich unerfahrbar – lediglich die zeitliche Aufeinanderfolge dieser Ereignisse kann gehört oder gesehen werden, die aber darüber hinaus keine Aussagen zu deren etwaiger Verknüpfung erlaubt, so dass schon deshalb die Suche nach einer messbaren realen „Wirkkraft“, welche die beiden aufeinander folgenden Ereignisse „ursächlich“ oder „kausal“ miteinander verknüpfen könnte, ergebnislos111 bleiben muss. Aussagen über das (Nicht)Bestehen einer derartigen Verknüpfung haben keine Tatsachen zum Gegenstand, sondern relationale objektive Zusammenhänge, die auch als gesetzliche bezeichnet werden112 können und nur als Urteil113 möglich sind. Und diese Zusammenhänge konnten bereits o. 2. näher bestimmt werden: Weil beide miteinander zu verknüpfenden Elemente real existierende Gegenstände sind, stehen sie zueinander im Verhältnis eines Realgrundes zu seiner realen
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Schopenhauer (Fn. 6), 4. Kap., § 20, S. 47, ferner §§ 17, 18, S. 41 f.; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 84. 111 Roxin, FS Achenbach, 2011, S. 409, 412; treffend schon Lampe, GedS A. Kaufmann, S. 189, 197. A.A. Erb (Fn. 76), S. 53. 112 Vgl. dazu Kaulbach in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3 1974, Stichwort Gesetz, S. 479 ff., 501. Wie hier auch SK-StGB/Hoyer (Fn. 94), Anhang § 16 Rn. 64; Hilgendorf, FS U. Weber, 2004, S. 33, 36 f.: „regelmäßiger Zusammenhang“, s. auch S. 48. 113 Jescheck/Weigend (Fn. 12), § 28 II 4; Engisch (Fn. 11), S. 21, 24 f.
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Folge:114 Eine vermeidbar-sorgfaltswidrige Handlung ist Realgrund einer Rechtsgutsbeeinträchtigung (z. B. Verletzung eines Menschen), die in zweifacher Weise real begründet wird: einmal allein durch das bloße Handlungsgeschehen (z. B. Führen eines Kfz) aufgrund realgesetzlicher (naturgesetzlicher oder sonstiger allgemein anerkannter) Zusammenhänge (s. dazu sogleich unter IV.), zum anderen durch dessen im Hinblick auf fremde Rechtsgüter sorgfaltswidrige (z. B. Fahren in fahruntüchtigem Zustand) Vornahme derart, dass die tatbestandliche Rechtsgutsbeeinträchtigung als das Ergebnis der Sorgfaltswidrigkeit zu beurteilen ist, weil sich die Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens in der Rechtsgutsbeeinträchtigung verwirklicht115 (finaler gesetzlicher Schutzzweckzusammenhang, s.u. V.); erst das Zusammentreffen beider gesetzlicher Zusammenhänge lässt die vermeidbar-sorgfaltswidrige Handlung zum Realgrund der Rechtsgutsbeeinträchtigung werden. Das tatbestandsmäßige Realgrundverhältnis ist folglich in zwei Schritten zu ermitteln.
IV. Realgrundverhältnis aufgrund realgesetzlicher Zusammenhänge 1. In einem ersten Schritt ist festzustellen, ob eine Rechtsgutsbeeinträchtigung durch Naturgesetze, offenkundige oder sonst allgemein anerkannte Erfahrungssätze, z. B. technische Regeln, oder sonst durch wissenschaftliche Erkenntnisse (hier als Realgesetze116 verstanden) retrospektiv117 jederzeit nachprüfbar die reale Folge einer bestimmten Handlung ist – und damit nicht auf einer objektiv-nachträglichen Prognose beruht. Ob der Tod eines im Wasser Treibenden durch Ertrinken oder durch Einwirken fremder Gewalt (etwa Messerstiche oder Schussverletzungen) eingetreten ist, lässt sich durch Anwendung von Naturgesetzen, aber auch von biologischen, medizinischen oder sonstigen allgemein anerkannten Regeln feststellen. Gleiches gilt etwa für die Feststellung von Unfallursachen im Straßenverkehr: durch die an den betei114
Gössel, FS Pfeiffer, 1988, S. 3, 8 f. H. L., Vgl. z. B. BGHSt 11, 1, 7; 24, 31, 34; 33, 61, 65; OLG Hamburg DAR 1972, 188; OLG Karlsruhe GA 1970, 313 m. weit. Nachw.; NK-StGB/Puppe (Fn. 27), Vor §§ 13 ff. Rn. 226; SSW-StGB/Kudlich (Fn. 24), Vor §§ 13 ff. Rn. 55; ferner. z. B. Jescheck/Weigend (Fn. 12), § 55 II 2; Welzel (Fn. 80), S. 135; Wessels/Beulke (Fn. 17), Rn. 664; Stratenwerth/ Kuhlen, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2011, § 15 Rn. 24; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 19), StGB, § 15 Rn. 157; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 145 Rn. 41 mit zahlr. Nachw. aus der Rspr.; Schlüchter, JA 1984, 673; a.A. naturgemäß die Auffassung, die schon auf das Merkmal des sorgfaltswidrigen Verhaltens verzichtet, s. LK-StGB/Schroeder (Fn. 1), § 16 Rn. 188 ff.; Schmidhäuser, FS Schaffstein, 1975, S. 129, 157; krit. Küper, FS Lackner, 1987, S. 247 ff. mangels ausreichender Begründung und Klärung dieser Fahrlässigkeitsvoraussetzung. 116 Vgl. Hilgendorf, FS U. Weber, 2004, S. 33, 39: „Empirische Gesetzmäßigkeiten“, ebenso auch Jura 1995, 514. 117 Schulz, FS Lackner, 1987, S. 39, 42 ff. 115
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ligten Kfz z. B. durch Augenschein und Messung festgestellten Schäden oder die Geschwindigkeit eines Kfz im Augenblick des Zusammenstoßes unter Anwendung physikalischer Gesetze etwa durch die Messung der Bremsspuren etc. 2. Dem steht nicht entgegen, dass angesichts des beschränkten menschlichen Kausalwissens sichere wissenschaftliche Erkenntnisse auch über Naturgesetze fehlen können oder nicht sicher feststellbar sind. Sind sichere Kenntnisse auch häufig genug nicht allgemein anerkannt oder sonst umstritten, so führt dies doch nicht zwangsläufig zur Kapitulation vor der Beschränktheit menschlichen Wissens und zu unerträglichen Freisprüchen nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“:118 hat doch der Richter über die objektive Feststellbarkeit, häufig nach Anhörung von Sachverständigen, nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung (§ 261 StPO) zu entscheiden, zu deren Bildung „ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit“ genügt119 und „keine absolute, von niemandem anzweifelbare Gewißheit“ verlangt120 und also auf die von der Rechtsprechung bemühte Skala zwischen dem „nicht ausschließbarem“ Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung und deren „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ (s. o. II. 2. c) bb)) nicht zurückgegriffen zu werden braucht. Deshalb auch ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass Rechtsgutsverletzungen auch dann als reale Folgen einer bestimmten Handlung festgestellt werden können, „wenn offenbleibt“, welche konkrete Substanz eines bestimmten Produkts körperliche Schäden hervorgerufen hat, „aber andere in Betracht kommende Schadensursachen auszuschließen sind“121 – und ebenso „kann der Tatrichter aufgrund einer Bewertung aller relevanten Indizien und der wissenschaftlichen Meinungen rechtsfehlerfrei zu der Überzeugung gelangen“, dass eine Handlung „in bestimmten Fällen zu Gesundheitsschäden geführt hat“122. Soweit allerdings solche Erkenntnisse fehlen oder sonst eine Überzeugungsbildung mit ausreichender Sicherheit darüber nicht möglich ist, dass eine Rechtsgutsbeeinträchtigung als reale Folge einer bestimmten Handlung festgestellt werden kann, muss der Richter freisprechen.
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Vgl. dazu SK-StGB/Rudolphi (Fn. 13), Vor § 1 Rn. 42b ff. Meyer-Goßner (Fn. 98), StPO, § 261 Rn. 2. 120 BGHSt 41, 206, 214 (Holzschutzmittelfall) mit krit. Anm. Puppe, JZ 1996, 318 ff. Krit. dazu auch Volk, NStZ 1996, 105, ferner Hoyer, GA 1996, 160. 121 BGHSt 37, 106, Lederspray-Fall. 122 BGHSt 41, 206, 215 f., Holzschutzmittel-Fall. 119
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V. Realgrundverhältnis aufgrund finalgesetzlichen Schutzzweckzusammenhangs 1. Überblick Zur Bewertung einer Handlung als Realgrund einer Rechtsgutsbeeinträchtigung reicht indessen ein bloßer realgesetzlicher Zusammenhang nicht aus. Auch wenn etwa Naturgesetze oder wissenschaftliche Erkenntnisse es erlauben, einen nachprüfbaren realen Zusammenhang zwischen einer Handlung und einer Rechtsgutsbeeinträchtigung festzustellen, kann gleichwohl der Charakter dieser Rechtsgutsbeeinträchtigung als einer auf den Realgrund einer bestimmten Handlung real gegründeten Folge deshalb verneint werden, weil diese Handlung keiner der zur Vermeidung des je beeinträchtigten Rechtsguts dienenden und damit dessen Schutz bezweckenden Sorgfaltsregeln widerspricht, sich also die Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens in der Rechtsgutsbeeinträchtigung mangels finalen Schutzzweckzusammenhangs nicht real verwirklicht hat (s.o III. 3.). a) Tatbestandslos sind damit alle rechtsgutsbeeinträchtigenden Handlungen, die schon nicht als sorgfaltswidrig bewertet werden können. So fehlt es an einem sorgfaltswidrigen faktischen Geschehen etwa dann, wenn einem sich einschränkungslos verkehrsgerecht verhaltenden Kfz-Führer ein Betrunkener unvorhersehbar vor den Wagen springt und sich dabei erheblich verletzt. In diesem Fall ist ein nachprüfbar feststellbarer realer Zusammenhang zwischen dem Führen eines Kfz und den von dem Betrunkenen erlittenen Verletzungen nicht zu leugnen, weshalb diese Verletzungen zwar als reale Folgen des Führens eines Kfz anzuerkennen sind, nicht aber als Folge eines – fehlenden – faktisch sorgfaltswidrigen Verhaltens des betreffenden Fahrzeuglenkers, der deshalb keine tatbestandliche fahrlässige Körperverletzung verwirklicht hat. Auch kann die Handlung eines Chirurgen durch Anwendung medizinischer oder biologischer Erkenntnisse als die Versteifung des operierten Gelenks real begründend festgestellt werden – auch hier aber bleibt zudem zu prüfen, ob die eingetretene Versteifung die Verwirklichung eines sorgfaltswidrigen Verhaltens darstellt. Auch in den Fällen sog. Gefahr- oder Risikoverringerung entfällt mit der Sorgfaltswidrigkeit ein realgesetzlicher Zusammenhang zwischen Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung. b) Zur endgültigen Bejahung eines Realgrundverhältnisses ist deshalb in einem zweiten Schritt festzustellen, ob die Nichteinhaltung der verkehrsüblichen Sorgfalt gerade die tatsächlich eingetretene Rechtsgutsbeeinträchtigung zu vermeiden bezweckte123. Dabei ist zu beachten, dass die jeweilige Sorgfaltsregel zugleich als Erkenntnisgrund des Sollensgrundes der Realgründe (s. o. B. II. 1.) fungiert: Der Erkenntnisgrund (sorgfaltswidriges Verhalten liegt vor, s. o. B. I. 1.) lässt den Schluss auf den Sollensgrund (Gesetz) zu, der zugleich bestimmt, welche realen Sachverhalte 123 Hanau, Die Kausalität als Pflichtwidrigkeit, 1971, S. 68, 90; ebenso BayObLG VRS 71 (1986), 68; OLG Hamm VRS 60 (1981), 38 und VRS 61 (1981), 353.
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als Realgründe für die Beeinträchtigung der von ihr geschützten Rechtsgüter dienen sollen: Die Verletzung solcher Sorgfaltsregeln, welche den Schutz anderer als der beeinträchtigten Rechtsgüter bezwecken, schließt ein Realgrundverhältnis zwischen dem konkreten faktisch sorgfaltswidrigen Verhalten und der verwirklichten Rechtsgutsbeeinträchtigung aus. Deshalb muss stets geprüft werden, welche Rechtsgüter die je verletzte Sorgfaltsregel zu wahren bezweckt. Zielt diese Regel auf den Schutz des beeinträchtigten Rechtsguts, besteht zwischen der sorgfaltswidrigen Handlungsvornahme (z. B. Führen eines Kfz mit einer Blutalkoholkonzentration von 2,5 Promille) und der Rechtsgutsbeeinträchtigung (Verletzung eines Menschen) ein relationaler objektiver und damit gesetzlicher Zusammenhang (s. o. III. 3.), der mit einer aus dem Zivilrecht übernommenen Formel124 als finaler Schutzzweckzusammenhang125 bezeichnet werden kann und der zusammen mit einem realgesetzlichen Zusammenhang die sorgfaltswidrige Handlung als Realgrund der Rechtsgutsbeeinträchtigung zu bewerten erlaubt. 2. Sachliche Beschränkungen des Schutzzweckzusammenhangs Sachliche Beschränkungen ergeben sich daraus, dass Sorgfaltsregeln nicht etwa alle denkbaren Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu vermeiden bezwecken, sondern nur bestimmte Rechtsgüter vor bestimmten Beeinträchtigungen schützen wollen. Von Bedeutung sind solche Beschränkungen vor allem in den Bereichen des Straßenverkehrs, der ärztlichen Heilbehandlung, des Arbeitsschutzes und bei zusätzlichem Handeln Dritter. a) Die Vorschriften über die Teilnahme am Straßenverkehr dienen der Verkehrssicherheit und damit dem Schutz wichtiger Rechtsgüter wie z. B. Leben und Gesundheit gerade vor den unmittelbaren Gefahren des Straßenverkehrs.126 Diese Sorgfaltsregeln dienen damit nicht dem Schutz von Rechtsgutsbeeinträchtigungen, die unabhängig von den Gefahren des Straßenverkehrs eintreten, wie etwa denen, die sich aus einer besonderen gesundheitlichen Konstitution ergeben. Erleidet der Lenker eines Lkw aufgrund eines grob verkehrswidrigen Überholmanövers eines Pkw-Fahrers einen tödlichen Schock, so besteht zwischen dem Tod des Lkw-Fahrers und der Handlung des Pkw-Führers kein finaler gesetzlicher Schutzzweckzusam124 BGHZ 27, 137; BGH JZ 69, 702; v. Caemmerer, Ges. Schriften, Band 1, 1968, S. 395 ff., 411; Stoll, Kausalzusammenhang und Normzweck im Deliktsrecht, 1968, S. 13 ff. 125 Zur Lehre vom Schutzzweck der Norm vgl. z. B. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 19), StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 95 ff.; NK-StGB/Puppe (Fn. 27), Vor §§ 13 ff. Rn. 226 ff; MK-StGB/Duttge (Fn.1), § 15 Rn. 183; Lackner/Kühl (Fn. 114), StGB, § 15 Rn. 43; Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 92), § 14 Rn. 88 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 17), Rn. 674 ff.; Burgstaller (Fn. 86), S. 98 und FS Jescheck I , 1985, S. 357, 362 ff.; Ulsenheimer (Fn. 80), S. 146: „Schutzwirkung“; Hardwig, JZ 1968, 290 f.; Roxin, FS Gallas, 1973, S. 241; ähnlich Krümpelmann, FS Bockelmann, 1979, S. 443 ff., insbes. 453 ff. mit zahlr. Beispielen aus der Praxis. 126 Näheres dazu bei Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirklichung im Verkehrsstrafrecht, 1984.
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menhang: Die Verhinderung von Beeinträchtigungen von Leib oder Leben durch psychische Erregung wird von den Verkehrsregeln grundsätzlich nicht bezweckt, es sei denn, diese Erregung führt zu einem verkehrswidrigen Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer (etwa zu einem Fehlverhalten eines Kfz-Führers, der von einem nachfolgenden Pkw durch zu dichtes Auffahren zum Verlassen der Überholspur genötigt wird). Das sorgfaltswidrige Verhalten muss sich überdies in der eingetretenen Rechtsgutsbeeinträchtigung verwirklicht haben. Nicht jedes sorgfaltswidrige Verhalten in Bezug auf beeinträchtigte Rechtsgüter kann zur Bejahung des Schutzzweckzusammenhangs führen: dann etwa nicht, wenn der Fahrer eines Kfz zwar entgegen §§ 315c, 316 StGB in wegen Trunkenheit fahruntüchtigem Zustand fährt, der Unfall aber allein auf die ölverschmierte Fahrbahn127, das Versagen der Bremsen, das Platzen eines Reifens oder das Brechen der Lenkung zurückzuführen ist (etwas anderes gilt natürlich dann, wenn die Trunkenheit gerade die fehlerhafte Reaktion des Fahrers auf die genannten äußeren Umstände in ihrer rechtsgutsbeeinträchtigenden Wirkung herbeigeführt hat). Die Regeln über die Einhaltung eines Seitenabstandes zu anderen Verkehrsteilnehmern, etwa zwischen Lastwagen und Radler, bezwecken die Vermeidung solcher Rechtsgutsbeeinträchtigungen, die sich gerade aus der Missachtung dieser Regel ergeben, nicht aber, dass ein betrunkener Radler in einen überholenden Lastwagen hineinfährt, der den gebotenen Seitenabstand nicht einhält128. b) Gewerberechtliche Vorschriften über die Desinfektion von Arbeitsmaterialien (so etwa im berühmten Milzbrandfall, in dem Arbeiter einer Pinselfabrik damit beschäftigt wurden, mit Milzbrandbazillen behaftete chinesische Ziegenhaare zu verarbeiten129) dienen dem Schutz der mit der Be- oder Verarbeitung Beauftragten vor Beeinträchtigung von Leben und Gesundheit: die unterlassene Desinfektion bildet folglich den Realgrund (sowohl realgesetzlich als auch nach dem Schutzzweckzusammenhang, s. o. IV. 1.) für tödliche oder die Gesundheit beeinträchtigende Infektionen. c) Auch die Regeln über die Ausübung der ärztlichen Heilbehandlung dienen dem Schutz der Patienten vor Beeinträchtigungen von Gesundheit und Leben. Unterlässt ein Arzt eine medizinisch notwendige Diagnose einer tatsächlich bestehenden Bauchfellentzündung seiner Patientin, die er trotz Vorliegens schwerwiegender Indizien für deren Vorliegen bei Beharren auf eigener fälschlicher Beurteilung des Krankheitszustandes nicht erkennt, so verstößt er in schwerwiegender Weise gegen die Regeln der ärztlichen Kunst und handelt deshalb sorgfaltswidrig in Bezug auf das Leben der Patientin. Tritt deren Tod nach biologischen und medizinischen gesicherten Erfahrungssätzen als reale Folge dieser Entzündung ein, so 127 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 19), StGB, § 15 Rn. 174; zust. Maiwald, FS Dreher, 1977, S. 437, 443 f. 128 BGHSt 11, 1, 5. 129 RGSt 63, 211.
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verwirklicht sich überdies die Sorgfaltswidrigkeit im Tod der Patientin als ebenfalls reale Folge des sorgfaltswidrigen Verhaltens, und zwar ohne Rücksicht darauf, dass die Patientin bei rechtzeitiger sorgfaltsgemäßer Behandlung nur einen Tag überlebt hätte130. Verstirbt eine Patientin an einer „typischerweise bei großen Bauchoperationen“ auftretenden Entzündung, so beruht der Tod nicht auf der fehlenden ärztlichen Aufklärung der Patientin über die beabsichtigte und durchgeführte ungewöhnliche Behandlung der Entzündung mit Zitronensaft, wenn diese Behandlung nach ärztlichem Erfahrungswissen nicht zum Tode geführt hat131. d) Beim Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung aufgrund eines der sorgfaltswidrigen Primärhandlung nachfolgenden erneuten Fehlverhaltens Dritter132 oder des Verletzten selbst ist die Frage des Schutzzweckzusammenhangs von besonderer Bedeutung. So bezweckt die Einhaltung der im Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt nicht den Schutz der körperlichen Integrität vor ärztlichen Fehldiagnosen, Fehltherapien, ärztlichen Kunstfehlern133 und auch nicht vor fehlerhaftem Verhalten des Opfers selbst134 – dann aber doch, wenn die beim Unfall erlittenen Verletzungen sich trotz Einhaltung der Regeln der ärztlichen Kunst als tödlich erweisen, etwa bei einer Tetanusinfektion als Unfallfolge, die trotz rechtzeitiger Behandlung zum Tode führte135 oder bei einer tödlichen Infektion als Folge einer gefährlichen Körperverletzung136 und auch beim Eintritt tödlicher Komplikationen „bei der Behandlung schwerer und schwerster Unfallverletzungen“137 wie etwa bei einer durch Bettlägerigkeit eingetretenen Lungenentzündung des Unfallgeschädigten138. Ebenso scheidet Sorgfaltswidrigkeit in Bezug auf Rechtsgüter anderer regelmäßig dann aus, wenn ein Dritter die Verwirklichung einer Erstgefahr dadurch verhindert, dass dieser Dritte selbst, zusätzlich zum Verhalten des Ersthandelnden, sorgfaltswidrig in Bezug auf Rechtsgüter anderer handelt und dadurch fremde Rechtsgü130
BGH NStZ 1981, 218 mit zutr. Anm. Wolfslast; Wachsmuth/Schreiber, NJW 1982, 2094; zu Unrecht abl. Ulsenheimer, Arzt und Krankenhaus, 1982, S. 66. 131 BGH NJW 2011, 1088; in seinem Besprechungsaufsatz zu dieser Entscheidung führt Widmaier indessen die fehlende Tatbestandlichkeit erst auf den fehlenden Schutzzweckzusammnehnag zurück (FS Roxin II, 2011, S. 439). 132 Vgl. dazu die von Roxin, FS Gallas, 1973, S. 241, 253 ff. herausgestellten Fälle der sog. „Folgeschäden“. 133 Entgegen OLG Celle NJW 1958, 271 gilt dies auch für nicht schwerwiegende Kunstfehler. 134 Im Ergebnis ebenso Burgstaller, FS Jescheck I, 1985, S. 357, 362 ff., der allerdings den hier behandelten Zusammenhang bei „in Bezug auf den Enderfolg“ vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Fehlverhalten des Opfers und dann – S. 361 – verneint, wenn der Erfolgseintritt „völlig außerhalb des Rahmens der gewöhnlichen Erfahrung liegt“. 135 OLG Düsseldorf JMBINRW 1958,140; OLG Celle VRS 33 (1967), 114. 136 BGH bei Dallinger MDR 1971, 17; OLG Köln NJW 1956,1848. 137 OLG Hamm NJW 1973, 1422; dazu Otto, JuS 1974, 702. 138 BGH VRS 20 (1961), 278.
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ter beeinträchtigt. Stirbt z. B. ein Unfallopfer nicht an den Folgen der durch den Unfall erlittenen Verletzungen, sondern deshalb, weil er sich bei der ersten Nahrungsaufnahme im Krankenhaus „verschluckt“ und deshalb eine zum Tode führende Lungenentzündung erleidet, so liegt der Tod außerhalb des Schutzbereichs der vom Unfallverursacher verletzten Verkehrsregel139. 3. Örtliche und zeitliche Beschränkungen des Schutzzweckzusammenhangs Die sachliche Begrenzung des finalen Zusammenhangs wird durch eine solche in zeitlicher wie auch räumlicher Hinsicht ergänzt140. So dienen in vielen Fällen, so vor allem im Straßenverkehr, nicht aber z. B. bei der Errichtung von Bauwerken (§ 319 StGB!), die Sorgfaltspflichten nur der Vermeidung von Rechtsgutsbeeinträchtigungen während der Zeit und auch am Ort der Vornahme der betreffenden Handlung. a) So verhält sich z. B. der Täter frühestens in dem Augenblick sorgfaltswidrig, in dem die konkrete kritische Verkehrslage141 eintritt, „die unmittelbar zu dem schädlichen Erfolg geführt hat“142. Wer im öffentlichen Straßenverkehr eine Höchstgeschwindigkeitsgrenze überschreitet, handelt zwar sorgfaltswidrig, aber nur in Bezug auf die Rechtsgüter derjenigen, die am Ort und während der Zeit der Geschwindigkeitsüberschreitung davon betroffen sind, etwa Leib oder Leben ihm entgegenkommender oder von ihm überholter anderer Verkehrsteilnehmer – bleiben diese indessen gänzlich unbeeinträchtigt, verwirklicht sich das sorgfaltswidrige Verhalten der Geschwindigkeitsüberschreitung nicht in der Beeinträchtigung der Rechtsgüter, deren Schutz die Vorschrift über die Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit (§ 3 Abs. 3 StVO) dient. Dies wurde in dem o. II. 1. erwähnten oberlandesgerichtlichen Urteil nicht beachtet, in der sorgfaltswidriges Verhalten durch Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auch in Bezug auf Leib und Leben eines Verkehrsteilnehmers angenommen wurde, der von einem Kfz-Führer nach Abschluss der Geschwindigkeitsüberschreitung und nunmehr trotz Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit getötet wurde: bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit am Ort und während der Zeit der Geschwindigkeitsüberschreitung wäre der Kfz-Führer am Unfallort noch nicht eingetroffen.143 Diese Entscheidung lässt außer Acht, dass die Vorschriften über die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht „das ungehinderte Fort- oder Weiterkommen“ anderer Verkehrsteilnehmer bezwecken, sondern deren „Schutz vor den Gefahren hoher Ge139
Vgl. OLG Stuttgart JR 1982, 419. Ebenso für das österreichische Strafrecht Kienapfel (Fn. 86), S. 102. 141 Krit. zu diesem Begriff – beliebige Manipulierbarkeit – Krümpelmann, FS Lackner, 1987, S. 289, 294 ff. 142 BGHSt 24, 31, 34 mit zahlr. weit. Nachw. aus der Rspr.; ferner z. B. BGHSt 33, 61; BGH VRS 54 (1978), 436; OLG Celle VersR 1965, 961. 143 OLG Karlsruhe NJW 1958, 430 mit Anm. Liebert, NJW 1958, 759 und Schmitt, DAR 1958, 259. 140
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schwindigkeiten“144, die sich in dem tödlichen Unfall gerade nicht verwirklicht haben und somit nicht erlauben, das Verhalten des Kfz-Lenkers am Unfallort als sorgfaltswidrig und als Realgrund der tödlichen Verletzung zu bewerten. b) Wer in einer Kfz-Werkstätte eine brennende Zigarre in der Nähe explosiver Stoffe ablegt, handelt zwar sorgfaltswidrig in Bezug auf das hier gefährdete Eigentum, nicht aber in Bezug auf den anschließenden Waldbrand, den ein Kollege verursacht, der diese Zigarre heimlich wegnimmt, damit einen Spaziergang in den nahegelegenen Staatsforst macht und dort den noch glimmenden Rest wegwirft: Der Waldbrand kann auf die sorgfaltswidrige Behandlung der Zigarre durch den Ersthandelnden nicht real gegründet werden, weil die Vorschriften über den Umgang mit explosiven Stoffen in einer Kfz-Werkstatt nicht die Verhütung von Waldbränden durch selbständiges sorgfaltswidriges Handeln Dritter bezwecken145 und sich deshalb die Sorgfaltswidrigkeit des faktisch-realen Geschehens (Ablegen einer brennenden Zigarre in der Nähe explosiver Stoffe) nicht in dem als Rechtsgutsbeeinträchtigung beurteilten faktischen Geschehen (Waldbrand) verwirklicht hat.
D. Fazit 1. Die Frage nach der Verknüpfung sorgfaltswidrigen Verhaltens mit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung kann weder durch die bekannten Kausalitätstheorien beantwortet werden noch durch die Lehre von der objektiven Zurechnung (s. o. C. I.). 2. Stattdessen ist zu fragen, ob sorgfaltswidriges Verhalten den Realgrund einer Rechtsgutsbeeinträchtigung bildet (s. o. C. III.). 3. Sorgfaltswidriges Verhalten ist nur dann Realgrund einer Rechtsgutsbeeinträchtigung, wenn diese mit dem Verhalten realgesetzlich verknüpft ist (s. o. C. IV.) und der Schutzzweck der Sorgfaltsregel beeinträchtigt (s. o. C. V.) ist.
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BGHSt 33, 61, 65. I.Erg. ebenso in einem ähnlichen Fall OLG Schleswig NStZ1982, 116.
Zu einem Zusammenstoß gehören zwei Überlegungen zum Zusammentreffen mehrerer Sorgfaltspflichtverletzungen bei Unfällen im Straßenverkehr Von Ingeborg Puppe
I. Einleitung Das Problem der Doppel- oder Mehrfachkausalität, auch alternative, manchmal auch kumulative Kausalität genannt, wird in der deutschen Lehrbuchliteratur ausschließlich an folgendem Fall diskutiert: Die Köchin und die Zofe, die beide aus verschiedenen Gründen Interesse am Tod ihrer Herrin haben, geben unabhängig voneinander je eine tödliche Dosis des gleichen Gifts in das für die Herrin zubereitete Essen. Diese stirbt nach dem Genuss der gesamten Essensportion mit beiden Giftdosen.1 Dieser Beispielsfall hat den didaktischen Vorzug der Simplizität, wirkt aber doch ein wenig lächerlich und suggeriert die Vorstellung, es handele sich hier um sog. Lehrbuchkriminalität, d. h. um ein lebensfremdes Kathederproblem, an dem manche Professoren ihren Scharfsinn wetzen, das aber praktisch so bedeutungslos ist, dass man es getrost vernachlässigen kann. Solche lebensfremden Beispiele sind nicht geeignet, die schöne und bequeme Formel von der condicio-sine-qua-non und deren Anwendung durch die Wegdenkmethode der präsumtiv kausalen Handlung zu desavouieren, obwohl sie mit Hilfe dieser Formel nicht gelöst werden können.2 Das Problem der Doppelkausalität wird also für praktisch vernachlässigbar gehalten. Nichts ist verkehrter als dies. Es tritt zwar selten in der simplen Form des Doppelgiftmordfalles auf, dafür umso häufiger in der Form der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen. Dies gilt insbesondere für den Straßenverkehr, denn zu einem Zusammenstoß gehören zwei. Bei den meisten Kollisionen im Straßenverkehr und auch bei vielen anderen Unfällen haben mehrere Beteiligte einen Fehler begangen, sodass das Problem auftritt, wie man die Zurechnung des Erfolges zur Sorgfaltspflichtwidrigkeit des einen Beteiligten begründen kann, wenn sowohl diese als auch die Sorgfaltspflichtverletzung des anderen Beteiligten jeweils ausreichen, 1
Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 13, 25; LK-StGB/Walter, 12. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 77; Kindhäuser, GA 2012, 134 ff.; Rotsch, FS Roxin, 2012, S. 377 ff.; Wessels/ Beulke, Strafrecht, AT, 41. Aufl. 2011, Rn. 157; auch Frisch, FS Gössel, 2002, S. 51 (55). 2 Puppe, ZIS 2012, 267 (269 f.); a. A. Kindhäuser, GA 2012, 134 ff.
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um den Unfall zu erklären. Die condicio-sine-qua-non-Formel führt in solchen Fällen dazu, dass keiner der Beteiligten verantwortlich gemacht werden kann.3 Es gibt in der Rechtsprechung eine Reihe von Entscheidungen, in denen das Phänomen der Doppelkausalität nicht erkannt worden ist und deshalb entweder einer der Beteiligten, nämlich der Überlebende, von der Verantwortung freigesprochen worden ist4 oder die Gerichte in dem intuitiven Gefühl, dass er nicht mit der Verteidigung gehört werden darf, dass der andere sich auch sorgfaltswidrig verhalten habe, zu abenteuerlichen Konstruktionen gegriffen haben, um diese Verteidigung zu konterkarieren. In anderen Fallkonstellationen haben sich dann diese abenteuerlichen Konstruktionen verhängnisvoll strafbarkeitsbegründend ausgewirkt; dies soll im Folgenden dargelegt werden.
II. Die Entscheidung BGHSt 24, 31 Dem Angeklagten war die fahrlässige Tötung eines Motorradfahrers während einer Trunkenheitsfahrt vorgeworfen worden. Er befuhr eine Schnellstraße mit der an sich zulässigen Geschwindigkeit von 120 km/h. Er verteidigte sich damit, dass der Motorradfahrer ihn derart knapp geschnitten habe, dass er auch im nüchternen Zustand den Unfall nicht durch Bremsen oder Ausweichen hätte verhindern können. Diese Begründung für die Ablehnung der Verantwortlichkeit des Angeklagten für den Tod des Zweiradfahrers wollte der BGH nicht gelten lassen. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass er im Ergebnis damit Recht hat. Aber auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des BGH ist das nicht zu begründen, denn der Angeklagte konnte sich auf eine Voraussetzung der Erfolgszurechnung berufen, die der BGH in seiner berühmten Entscheidung BGHSt 11, 1 selbst entwickelt hatte und die in der Literatur weitgehend auf Zustimmung gestoßen war. Der BGH spricht von dem Erfordernis der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung,5 während die Literatur es vorzieht, von einem Erfordernis der Realisierung der unerlaubten Gefahr im Erfolg zu sprechen.6 In der Sache besteht aber Einigkeit. Dem Täter soll der Erfolg nur dann zugerechnet werden, wenn er ihn durch sorgfaltsgemäßes Verhalten hätte vermeiden können.7 Geht man von der mangels Unfallzeugen nicht widerlegbaren Einlassung des Angeklagten aus, dass der Motorradfahrer ihn so knapp geschnitten habe, dass er auch bei nüchterner Verfassung den Unfall nicht durch Bremsen oder Ausweichen hätte verhindern können, so ist dieses Erfordernis der Vermeidbarkeit im vorliegen3 Puppe, JuS 1982, 660 (664); dies., ZStW 99 (1987), 595 (605); Jakobs, FS Lackner, 1987, S. 53 (65). 4 Vgl. außer BGHSt 11, 1; etwa BGH VRS 13, 220 (221); 20, 229; 21, 341 (342); 23, 369 (370 f.); 25, 262 (263). 5 BGHSt 11, 1 (7); 33, 61 (63); 49, 1 (4 ff.) mit Anm. Puppe, NStZ 2004, 555. 6 Honig, FG Frank, 1930, 174; Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 44; Frisch, JuS 2011, 19 ff. 7 Schönke/Schröder/Lenckner-Eisele, StGB, 28. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 93; Kindhäuser, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, § 33 Rn. 34; Wessels/Beulke (Fn. 1), Rn. 197; Kühl, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 58.
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den Fall nicht erfüllt. Danach hätte der Angeklagte freigesprochen werden müssen, und in der Tat wird dies in der Literatur auch gefordert.8 Um die Vermeidbarkeit des Unfalls durch sorgfaltsgemäßes Täterverhalten zu begründen stellt nun der BGH die folgende Überlegung an: „Der ursächliche Zusammenhang zwischen einem verkehrswidrigen Verhalten des Angeklagten und der Tötung des von ihm angefahrenen Zweiradfahrers entfiele nur dann, wenn der gleiche Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten eingetreten wäre. […] Dabei hat die Prüfung der Ursächlichkeit eines verkehrswidrigen Verhaltens erst mit dem Eintritt der konkreten kritischen Verkehrssituation einzusetzen, die unmittelbar zu dem schädigenden Erfolg geführt hat. […] Die Frage, welches Verhalten des Täters verkehrsgerecht gewesen wäre, ist demnach im Hinblick auf die Verkehrswidrigkeit zu beantworten, die als unmittelbare Ursache in Betracht kommt, während im übrigen von dem tatsächlichen Geschehensablauf auszugehen ist. Nach diesen Grundsätzen kann bei der Frage nach der Ursächlichkeit des Verhaltens des Angeklagten für den Tod des Zweiradfahrers nicht darauf abgestellt werden, ob er den Zweiradfahrer auch angefahren hätte, wenn er bei der Einhaltung der für einen nüchternen Fahrer nicht zu beanstandenden Geschwindigkeit von 100 bis 120 km/h selbst nüchtern gewesen wäre. Auszugehen ist vielmehr von der Grundregel des § 9 Abs 1 Satz 1 StVO, wonach der Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit so einzurichten hat, dass er jederzeit in der Lage ist, seinen Verpflichtungen im Verkehr genüge zu leisten, und dass er das Fahrzeug nötigenfalls rechtzeitig anhalten kann. […] Er (der Angeklagte) war zwar unbedingt fahruntüchtig und handelte der Vorschrift des § 316 StGB zuwider, wenn er überhaupt am Verkehr teilnahm. Tat er das aber doch, so durfte er die sich schon aus seiner Fahruntüchtigkeit ergebenden abstrakten Gefahren nicht noch dadurch steigern, dass er übermäßig schnell fuhr. Er […] durfte nur so schnell fahren, dass er auch bei Berücksichtigung seiner durch den erheblichen Alkoholgenuss verminderten Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit seinen Verpflichtungen im Verkehr noch nachkommen konnte. Dass der Angeklagte bei einem Blutalkoholgehalt von 1,9 % unbedingt fahruntüchtig war und darum überhaupt nicht am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen durfte (§ 316 StGB), muss bei der Entscheidung über die Ursächlichkeit seines tatsächlichen Fahrverhaltens für den Tod des Zweiradfahrers außer Betracht bleiben.“9
Der BGH sieht nun die Gefahr, dass sich ein Trunkenheitsfahrer, der wegen seiner Trunkenheit langsam gefahren ist, darauf berufen könnte, er habe diese Pflicht, seine Geschwindigkeit den Umständen anzupassen, ja erfüllt und sei deshalb für den dennoch geschehenen Unfall nicht verantwortlich. Dem beugt das Gericht mit der folgenden Argumentation vor: „Wenn ein angetrunkener Fahrer auch bei verlangsamter Geschwindigkeit wegen seiner alkoholbedingt beeinträchtigten Reaktionsfähigkeit einen Unfall verursacht, so folgt daraus nur, dass er bei seinem Zustand immer noch zu schnell gefahren ist.“10
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Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 102; Kindhäuser (Fn. 7), § 33 Rn. 44; Otto, Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2004, § 10 Rn. 21 f.; Kühl (Fn. 7), § 17 Rn. 63; Wessels/Beulke (Fn. 1), Rn. 680; Freund, JuS 1990, 213 (215). 9 BGHSt 24, 31 (34). 10 BGHSt 24, 31 (37).
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Aus der Tatsache, dass ein Unfall geschehen ist, wird auf die Sorgfaltspflichtverletzung eines Beteiligten geschlossen. Es wird dem Fahrer also nicht zugutegehalten, dass er seine Fahruntüchtigkeit durch Herabsetzung seiner Geschwindigkeit ausgleichen könnte, obwohl ihm eben dies geboten sein sollte.
III. Analyse der Argumentation der Entscheidung Gegen diese Argumentationsweise sind zwei Einwände zu erheben, der erste ist normlogischer, der zweite zurechnungstheoretischer Natur. Ein Satz der Normenlogik lautet: Was verboten ist, ist nicht erlaubt. Hat also eine Rechtsordnung ein bestimmtes Verhalten allgemein verboten, so ist es ihr logisch nicht mehr möglich, irgendwelche Normen darüber aufzustellen, wie ein solches Verhalten hätte ausgeführt werden sollen. Deshalb kann der BGH mit vollem Recht behaupten, dass jede Geschwindigkeit, die der angetrunkene Fahrer fahren könnte, zu schnell wäre. Die einzig zulässige Geschwindigkeit für einen angetrunkenen Fahrer beträgt null. Nach der herrschenden Lehre und Rechtsprechung, wonach der Erfolg dem Täter dann zuzurechnen ist, wenn er bei sorgfaltsgemäßem Verhalten nicht eingetreten wäre, ergibt sich also, dass der Täter für den Zusammenstoß mit dem Motorradfahrer deshalb verantwortlich ist, weil dieser nicht hätte stattfinden können, wenn der Täter überhaupt nicht Auto gefahren wäre. Danach wäre dem Täter jeder Unfall zuzurechnen, das erlaubte Risiko der Teilnahme am Straßenverkehr käme ihm also nicht zugute. Deshalb kann die Frage, von der die herrschende Lehre die Zurechnung des Erfolges abhängig macht, nicht richtig sein. Es geht nicht darum, ob der Täter den Unfall bei sorgfältigem Verhalten vermieden hätte, sondern darum, ob er ihn durch sein unsorgfältiges Verhalten verursacht hat. Es genügt nicht, dass der Täter durch seine Handlung, beispielsweise das Autofahren, den Unfall mitverursacht hat, es müssen vielmehr gerade diejenigen Eigenschaften seines Verhaltens in der Kausalerklärung des Unfalls notwendig sein, die dieses Verhalten sorgfaltswidrig machen.11 Es müsste also als notwendiger Bestandteil in der Kausalerklärung des Unfalls nicht nur die Tatsache vorkommen, dass der Angeklagte an der Unfallstelle mit seinem Auto fuhr, als der Zweiradfahrer die Fahrbahn wechselte und dass er mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h fuhr, sondern auch die Tatsache, dass er dabei fahruntüchtig war. Aber eben diese Tatsache wird für die Kausalerklärung des Unfalls nicht gebraucht, wenn der andere seine Fahrbahn so knapp geschnitten hat, dass auch ein nüchterner Fahrer den Unfall nicht mehr durch Bremsen oder Ausweichen hätte verhindern können. Nun kann man eine Normwidrigkeit freilich noch steigern. Man kann also sagen, dass ein Trunkenheitsfahrer die Verkehrsregeln umso krasser übertritt, je schneller er fährt. Aber auch in dieser gesteigerten Normverletzung kommt die Trunkenheit 11 Puppe, ZStW 99 (1987), 595 (599 ff.); dies., Jura 1997, 408 (513 ff.); dies., Strafrecht, AT/1, 1. Aufl. 2002, § 3 Rn. 6; Jakobs (Fn. 6), 7/78; ders., System der strafrechtlichen Zurechnung (2012), S. 39; Kindhäuser, GA 2007, 447 (464).
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immer noch als notwendiges Element vor. Es verhält sich eben nicht so, wie der BGH es darstellt, dass der Angeklagte zwei verschiedene Normen verletzt hat, die unabhängig voneinander je ein unerlaubtes Risiko begründen, erstens die Norm, nüchtern zu fahren, und zweitens die Norm, langsamer zu fahren.12 Denn selbst wenn eine Norm des Inhalts etwa aus § 3 StVO ableitbar wäre, die Fahrgeschwindigkeit der Fahruntüchtigkeit anzupassen, so enthielte diese Norm doch die Bedingung, dass der Normadressat fahruntüchtig ist. Also müsste in der kausalen Erklärung des Unfalls nach wie vor auch die Fahruntüchtigkeit des Kraftfahrers vorkommen.13 Das ist nun aber nicht der Fall. Die Verhaltensnorm für einen angetrunkenen Kraftfahrer in der Situation des Täters, von der der BGH ausgeht, ist also nicht geeignet, dessen Verantwortlichkeit für den Unfall zu begründen, weil nicht alle Eigenschaften des Verhaltens, die nach dieser Norm die Sorgfaltswidrigkeit ausmachen, im Kausalverlauf zum Unfall vorkommen, sofern dieser auch bei Nüchternheit des Täters geschehen wäre.
IV. Kritik des Vermeidbarkeitsprinzips Das vom BGH in BGHSt 11, 1 entwickelte Prinzip der von ihm sog. Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung beziehungsweise das Vermeidbarkeitsprinzip leuchtet unmittelbar ein. Nur wenn das Verhalten des Täters beziehungsweise dessen sorgfaltswidrige Eigenschaften notwendige Bedingungen für den Eintritt des Erfolges waren, hätte dessen Ausbleiben allein von seinem Verhalten abgehangen.14 Die Konsequenz des Vermeidbarkeitserfordernisses ist es aber, dass beim Zusammentreffen mehrerer Handlungen beziehungsweise mehrerer Sorgfaltspflichtverletzungen, die jede für sich ausreichen, den Erfolg herbeizuführen, jeder der Beteiligten sich mit der Sorgfaltspflichtverletzung des anderen entlasten könnte.15 Denn in solchen Fällen hätte keiner der Beteiligten allein durch Unterlassen seiner Handlung oder durch Beachtung der für ihn geltenden Sorgfaltspflichten den Erfolg vermeiden können. Genauso ist der Angeklagte in unserem Fall verfahren: Er beruft sich zu seiner Entlastung auf die (in dubio pro reo zu unterstellende) Sorgfaltspflichtverletzung des anderen Beteiligten, weil diese ausreicht, den Unfall zu erklären, auch wenn man das Verhalten des Täters durch ein sorgfaltsgemäßes, nämlich durch Fahren in nüchternem Zustand, ersetzt. Um zu verhindern, dass mehrere, die durch sorgfaltswidriges Verhalten an einem Unfallgeschehen beteiligt sind, sich gegenseitig dergestalt entlasten, dass am Ende keiner für den Erfolg verantwortlich ist, müssen wir also das 12
So aber BGHSt 24, 31 (36); vgl. OLG Köln VRS 64, 254 mit abl. Bespr. Puppe (Fn. 11), § 3 Rn. 7 ff. 13 NK-StGB/Puppe, 3. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 215; dies. (Fn. 11), § 3 Rn. 24; dies., NStZ 1997, 388 (390). 14 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 28. Aufl. 2010, § 15 Rn. 174 ff.; LK-StGB/ Walter (Fn. 1), Vor § 13 Rn. 99; LK-StGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 15 Rn. 182 ff.; Kindhäuser (Fn. 7), § 33 Rn. 38. 15 NK-StGB/Puppe (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 202, 217 f; dies., ZStW 99 (1987), 595 (596, 605 ff.); Jakobs (Fn. 6), § 7 Rn. 75.
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Erfordernis der Vermeidbarkeit in bestimmter Weise abschwächen. Es muss genügen, dass der Unfall vermieden worden wäre, wenn sich alle Beteiligten sorgfaltsgemäß verhalten hätten.16 Aber damit allein ist das Vermeidbarkeitserfordernis beziehungsweise die condicio-sine-qua-non-Formel nicht zu ersetzen, denn damit wird keine Beziehung zwischen der Sorgfaltswidrigkeit des einzelnen Beteiligten und dem Erfolg hergestellt. Nehmen wir als Beispiel den Fall BGHSt 11, 1, der den Anlass zur Entwicklung des Erfordernisses der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung gegeben hat. In diesem Fall war der überholte Radfahrer nicht etwa unter die Vorderräder der Zugmaschine, sondern unter das rechte Hinterrad des Anhängers geraten. Der Überholvorgang war also im Gange und fast beendet, als der Radfahrer stürzte.17 Als Ursachen dieses Unfalls kommen in Betracht die Trunkenheit des Radfahrers, die ihn unsicher machte, aber auch die Tatsache, dass der Lastzug ihn in einem Abstand von nur 75 cm statt der vorgeschriebenen 2 m überholte. Die Zurechnung des Unfalls zu beiden Beteiligten wäre unproblematisch, wenn die sorgfaltswidrigen Verhaltensweisen beider Beteiligter zur Erklärung des Unfalls notwendig wären. Der Fall könnte aber auch so liegen, dass allein die Trunkenheit des Radfahrers ausreichend ist, seinen Sturz vor die Hinterräder zu erklären, oder so, dass der knappe Abstand von 75 cm ausreichte, den Unfall zu erklären, auch wenn man die Trunkenheit des Radfahrers nicht angibt. Die herrschende Lehre würde auf einen solchen Fall die sog. Alternativenformel anwenden: Von mehreren Verhaltensweisen, die alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfiele, ist jede kausal.18 Diese Formel würde im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis führen, dass beide für den Unfall verantwortlich wären. Es macht nun aber stutzig, dass der BGH sie auf diesen Fall nicht angewandt, sie nicht einmal in Erwägung gezogen hat, sondern gemäß der condicio-Formel bzw. der Vermeidbarkeitstheorie den angeklagten Lastzugfahrer mit der Verteidigung gehört hat, er hätte den Radfahrer (sicher oder möglicherweise) auch dann überfahren, wenn er den vorgeschriebenen Abstand von 2 m eingehalten hätte, weil dieser angetrunken war. 16
NK-StGB/Puppe (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 202; dies., ZStW 99 (1987), 595 (605 ff.); Kindhäuser (Fn. 7), § 33 Rn. 41; Jakobs, FS Lackner, 1987, S. 53 (65). 17 Angesichts dieses Sachverhalts scheinen die Gründe, aus denen das Schöffengericht die Ursächlichkeit des geringen Überholabstands für den Unfall bezweifelt, und die der BGH als rechtsfehlerfrei anerkennt, wenig plausibel. Es sei wahrscheinlich, dass der Radfahrer wegen seiner Trunkenheit das Motorengeräusch des LKW erst spät bemerkt und dann aus Schreck, wie es nach den Darlegungen eines Sachverständigen für angetrunkene Radfahrer typisch ist, sein Rad nach links in die Fahrbahn des LKW gezogen habe, vgl. BGHSt 11, 1 (5). Dann wäre er wohl unter die Vorderräder, allenfalls noch die Hinterräder der Zugmaschine geraten. 18 Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn. 11; Kühl (Fn. 7), § 4 Rn. 19; Kindhäuser (Fn. 7), § 10 Rn. 34; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, AT, 11. Aufl. 2003, § 14 Rn. 41; Maurach/Zipf, Strafrecht, AT/1, 10. Aufl. 2009, § 18 Rn. 56; kritisch Schönke/ Schröder/Lenckner-Eisele (Fn. 7), Vor § 13 Rn. 74, 82; MK-StGB/Freund, 2. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn. 311; Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 13; vernichtende Kritik bei Frisch, FS Gössel, 2002, S. 51 (56).
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Die Alternativenformel enthält außer der Bedingung, dass die mehreren Verhaltensweisen nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfiele, auch die Bedingung, dass jede dieser Verhaltensweisen hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Damit widerspricht sie direkt der conditio-sinequa-non-Formel, wonach unter dieser Voraussetzung die Kausalität, beziehungsweise die Zurechnung des Erfolges zu der wegdenkbaren Handlung oder der wegdenkbaren Sorgfaltspflichtverletzung ausgeschlossen ist. Auf dieses Element der sog. Alternativenformel kann auch nicht verzichtet werden. Würde man darauf verzichten, so könnte man jede beliebige Tatsache dadurch zur Ursache erklären, dass man sie in Verbindung mit einer anderen Tatsache hinwegdenkt, die eine notwendige Bedingung des Erfolges ist.19 Ein solcher Widerspruch zwischen zwei Regeln zur Bestimmung von Kausalität beziehungsweise Realisierung des unerlaubten Risikos wäre dadurch zu beheben, dass man Metaregeln darüber angibt, wann die Lehre von der notwendigen Bedingung anzuwenden ist und wann die von der alternativen Kausalität. Da aber die herrschende Lehre solche Bedingungen nicht angibt, geschieht es, dass die Rechtsprechung in einem Fall, in dem die Lehre von der alternativen Kausalität zur Bejahung der Verursachung durch beide Beteiligte kommt, einen von ihnen freispricht, indem sie die Formel von der notwendigen Bedingung anwendet. Das geschieht in der Praxis insbesondere dann, wenn der andere Beteiligte dem Unfall zum Opfer gefallen ist.20 Man beruhigt sich dann damit, den Schaden ihm allein anzulasten, denn einen Toten muss man ja nicht bestrafen.21 Man kann mit Hilfe der Alternativenformel das Ergebnis nur dann begründen, wenn man bereits zuvor weiß, dass ein Fall der sog. alternativen Kausalität vorliegt und welche Kausalfaktoren im Sinne der Alternativenformel kumulativ und alternativ hinwegzudenken sind.22 Sind dies mehr als zwei Kausalfaktoren, so kann man die Alternativenformel nur so anwenden, dass man jedem einzelnen Kausalfaktor die Gesamtheit aller anderen Faktoren, die er ersetzen kann, gegenüberstellt.23 Die Alternativenformel ist also keine taugliche Methode, einen Fall von Mehrfachkausalität zu erkennen.24 Auch die Formel der einfachen Kausalität, wonach eine Handlung eine Ursache ist, wenn sie nicht 19 Puppe, GA 2010, 551 (554); dies., Kleine Schule des juristischen Denkens, 2. Aufl. 2011, S. 177. 20 Vgl. außer BGHSt 11, 1 etwa BGH VRS 13, 220 (221); 20, 229; 21, 341 (342); 23, 369 (370 f); 25, 262 (263); BGHSt 33, 61. 21 In der Entscheidung BGHSt 30, 228 (231) wird die Schlechterstellung des Opfers im Vergleich zu anderen Unfallbeteiligten mit folgenden Worten sogar für legitim erklärt: „In allen Anwendungsfällen dieser Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof ausschließlich auf das Verhalten des Täters und seines Opfers abgestellt. Er hat die Pflichtwidrigkeit des Täters stets nur dann als nicht kausal behandelt, wenn (…) bei verkehrsgerechtem Verhalten des Täters das fehlerhafte Verkehrsverhalten des Opfers zu dem gleichen Erfolg geführt hätte“. 22 Frisch, FS Gössel, 2002, S. 52 (56); Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (870) = Analysen (2006), 101 (114). 23 NK-StGB/Puppe (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 92; dies., ZStW 92 (1980), 863 (878) = Analysen (2006), 101 (114). 24 Frisch, FS Gössel, 2002, S. 51 (55 f.); NK-StGB/Puppe (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 92.
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hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele, hat keinen Erkenntniswert, weil diese Frage nicht ohne allgemeine Gesetze beantwortbar ist.25 Bei der Alternativenformel kommt nun hinzu, dass sie nicht einmal richtig formuliert werden kann, wenn man nicht weiß, welche und wie viele Kausalfaktoren im Einzelfall dergestalt miteinander konkurrieren, dass sie gegeneinander austauschbar sind. Sie taugt allenfalls dazu, einen Fall von Mehrfachkausalität darzustellen, nachdem man ihn auf andere Weise erkannt hat. Vor allem aber hat die herrschende Lehre mit der Anerkennung der sog. Alternativenformel das Vermeidbarkeitsprinzip in der Sache aufgegeben.26
V. Die Ermittlung der Kausalität von Handlungen und der Kausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen Indem wir die Frage beantworten, wie wir die Kausalität einer Handlung oder einer Sorgfaltspflichtverletzung im Einzelfall ermitteln, wenn wir sie noch nicht kennen, beantworten wir auch die Frage, welche logische Beziehung zwischen einer kausalen Handlung beziehungsweise deren sorgfaltswidrigen Eigenschaften und dem Erfolg besteht. Dabei gehen wir von allgemeinen Gesetzen der Naturwissenschaft oder der sonstigen Erfahrung aus, den sog. Kausalgesetzen.27 Eine Handlung ist dann die Ursache eines Erfolges, wenn es allgemeine Gesetze gibt, die eine hinreichende Mindestbedingung des Erfolges angeben, diese hinreichende Bedingung wahr ist und die Handlung einer ihrer notwendigen Bestandteile ist. Man muss die Handlung also nicht aus der Welt hinwegdenken, um ihre Kausalität für den Erfolg festzustellen, sondern lediglich aus einer bereits projektierten kausalen Erklärung des Erfolges, in dem die Handlung auftaucht.28 Ein Fall von Mehrfachkausalität von Handlungen liegt dann vor, wenn es mehrere solcher wahren und hinreichenden Mindestbedingungen des Erfolges gibt, sodass in jeder von ihnen eine andere Hand25 Schönke/Schröder/Lenckner-Eisele (Fn. 7), StGB, Vor § 13 Rn. 74; SK-StGB/Rudolphi, 8. Aufl. 2011, Vor § 1 Rn. 40 ff.; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, Vor § 13 Rn. 21 f.; Jakobs (Fn. 6), § 7 Rn. 9 ff.; Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 12; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2011, § 8 Rn. 18; Kindhäuser (Fn. 7), § 10 Rn. 11; so schon Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 14 ff.; Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 207 ff.; E. A. Wolff, Die Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 11; a.A. Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, S. 52 ff.; Frisch, FS Maiwald, 2010, S. 239 (259 f.); Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009, S. 84. 26 NK-StGB/Puppe (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 92; dies., GA 2010, 551 (554); dies., ZStW 92 (1980), 863 (878) = Analysen (2006), 101 (104); Neumann, GA 2008, 463 (464); Jescheck/ Weigend, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 1996, § 28 II 4; Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 13; Schönke/ Schröder/Lenckner-Eisele (Fn. 7), StGB, Vor § 13 Rn. 74, 82; MK-StGB/Freund (Fn. 18), Vor § 13 Rn. 311 ff. 27 Engisch (Fn. 25), S. 21 ff. 28 Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (875 ff.) = Analysen (2006), 101 (111 ff.); dies., SchwZStR 107, Nr. 1, 151 (Fn. 39); Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 83 ff.; Montañés, FS Roxin, 2001, S. 307 (313 f.).
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lung als notwendiger Bestandteil vorkommt. Diese hinreichenden Bedingungen werden stets eine Reihe identischer Elemente aufweisen.29 Wir haben bisher die Kausalität von Handlungen erläutert, nicht die von Sorgfaltspflichtverletzungen. Eine Sorgfaltspflichtverletzung ist dann kausal für einen Erfolg, wenn diejenigen Eigenschaften der Handlung, die mit der Sorgfaltspflicht unvereinbar sind, in einer wahren hinreichenden Mindestbedingung des Erfolges vorkommen. Kommen die sorgfaltswidrigen Eigenschaften des Täterverhaltens in der hinreichenden Bedingung des Unfalls nicht als notwendige Bestandteile vor, so hat sich das unerlaubte Risiko, das der Täter geschaffen hat, im Kausalverlauf zum Unfall nicht realisiert.30 Um dies festzustellen, müssen wir die sorgfaltswidrigen Eigenschaften von der Handlung trennen. Im einfachsten Fall geschieht das dadurch, dass wir sie unbestimmt lassen, also die Handlung in dieser Hinsicht nicht beschreiben. Wenn im Fall BGHSt 11, 1 der zu knappe Überholabstand von 75 cm auch hinreicht, einen nüchternen Fahrer zu Fall zu bringen, so können wir den Unfall des angetrunkenen Radfahrers allein mit dem Fehlverhalten des Lastzugfahrers erklären, ohne über die Trunkenheit des Radfahrers eine Angabe zu machen.31
VI. Das Problem der Risikotrennung bei mehreren Sorgfaltspflichtverletzungen verschiedener Unfallbeteiligter Aber zu einem Zusammenstoß gehören zwei. Also brauchen wir die Fahrweise beider, um zu erklären, dass sie sich überhaupt begegnet sind. Besteht nun aber die Sorgfaltspflichtverletzung des anderen Beteiligten nicht in seinem Zustand oder dem seines Fahrzeugs, sondern in seiner Fahrweise, so können wir den Zusammenstoß nicht erklären, ohne Angaben über diese Fahrweise zu machen. Stellen wir uns vor, nicht der Radfahrer, sondern dessen im Kindersitz mitfahrendes Kleinkind wäre bei dem Sturz des Radfahrers unter die Räder des Anhängers zu Tode gekommen und man hätte nun die Verantwortung des angetrunkenen Radfahrers zu klären. Hier können wir das wirkliche Verhalten des Unfallgegners, Überholen im Abstand von 75 cm, nicht in die Erklärung einsetzen, weil es den Unfall ja schon ohne ein Fehlverhalten des Radfahrers hinreichend erklärt. Wir können aber auch den Überholabstand nicht unbestimmt lassen, denn beispielsweise bei einem Überholen im Abstand von 3 m wäre auch ein angetrunkener Radfahrer nicht zu Schaden gekom29 Jäger, FS Maiwald, 2010, S. 345 (360) und Kindhäuser, GA 2012, 134 (140) wenden dagegen ein, dass es verschiedene Bedingungen mit gemeinsamen Elementen nicht geben könne. Verfolgt man die ursächlichen Bedingungen der verschiedensten Erfolge nur weit genug zurück, so haben alle gemeinsame Elemente. 30 NK-StGB/Puppe (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 206, 214; dies., ZStW 99 (1987), 595 (599 ff.); dies. (Fn. 11), § 3 Rn. 6; zust. Kindhäuser, GA 2007, 447 (467); siehe auch Jakobs, FS Lackner, 1987, S. 53 (59 f.); ders. (Fn. 6), § 7 Rn. 78. 31 Puppe, FS Roxin, 2001, S. 287 (291 f.).
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men. Wir müssen dasjenige Verhalten des Lastzugfahrers einsetzen, das ihm gerade noch erlaubt war, also das Überholen in einem Abstand von 1, 50 m bis 2 m. Denn ab dieser Grenze beginnt die Alleinverantwortung des Überholten für das Risiko des Überholvorgangs. Sofern nun dessen Fehlverhalten, hier die Trunkenheit des Radfahrers, den Unfall ebenfalls hinreichend erklärt, ohne dabei die Sorgfaltswidrigkeit des Lastzugfahrers in Anspruch zu nehmen, liegt ein Fall der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen vor. Ein Fall der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen ist also gegeben, wenn das Verhalten eines der Beteiligten den Unfall kausal erklärt, wenn man die sorgfaltswidrigen Eigenschaften des Verhaltens des anderen Beteiligten entweder unbestimmt lässt oder durch sorgfaltsgemäße Eigenschaften ersetzt.32 Man kann das Ergebnis also durch eine Art Alternativenformel darstellen. Die Sorgfaltspflichtverletzungen beider Beteiligter sind nicht kumulativ hinwegzudenken, also durch sorgfaltsgemäßes Verhalten beider zu ersetzen, wohl aber alternativ. Nur ist diese Alternativenformel eben nicht geeignet, eine Konstellation der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen zu entdecken, wenn man sie nicht ohnehin schon kennt. Diese Methode der Risikotrennung ist nicht anwendbar, wenn die Sorgfaltspflicht des einen Beteiligten bereits eine Sorgfaltspflichtverletzung des Anderen zur Voraussetzung hat. Denn dann würde dessen Sorgfaltspflicht verschwinden, wenn man sich das Verhalten des Anderen als ein pflichtgemäßes vorstellt. Besteht zum Beispiel die Pflichtverletzung des Angeklagten darin, aus Unaufmerksamkeit zu spät gebremst zu haben und hat der Andere ihn so knapp geschnitten, dass er auch bei rechtzeitigem Bremsen den Zusammenstoß nicht verhindert hätte, so ergibt es keinen Sinn zu fragen, ob er ihn durch rechtzeitiges Bremsen verhindert hätte wenn der Andere seine Bahn in zulässigem Abstand gekreuzt hätte. Denn dann hätte er nicht bremsen müssen. Eine hinreichende Erfolgsbedingung, in der sein zu spätes Bremsen als notwendiger Bestandteil vorkommt, erhält man nur dadurch, dass man sich die Pflichtverletzung des Anderen weniger krass vorstellt. Das ist zulässig, denn wenn der Grundsatz gilt, dass sich niemand, der für einen Unfall kausal ist und sich pflichtwidrig verhalten hat, mit der Pflichtverletzung des Anderen entlasten kann, so sollte er sich auch nicht mit dem Ausmaß dieser Pflichtverletzung entlasten können. Nach dieser Regel ist auch die Verantwortlichkeit des Trunkenheitsfahrers im Fall BGHSt 24, 31 zu begründen. Er hätte bei Fahrtüchtigkeit den Unfall verhindern können, wenn der Motorradfahrer ihn weniger knapp geschnitten hätte. Denn das Nüchternheitsgebot gilt zwar unabhängig davon, ob der Fahrer in eine kritische Situation gerät, aber der Sinn und Zweck dieses Gebots besteht darin, die Fähigkeit des Kraftfahrers sicherzustellen, auf eine kritische Situation pflichtgemäß zu reagieren. Dasselbe gilt für das Verbot, mit unzureichenden Bremsen oder Reifen oder zu schnell zu fahren. Für all diese Sorgfaltsnormen gilt, dass man ihnen die faktische Grundlage entzöge, wenn man die Verantwortlichkeit für die Folgen normwidrigen Verhaltens davon abhängig machen würde, dass der Täter durch normgemäßes Verhalten den 32
NK-StGB/Puppe (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 217 f.; dies. (Fn. 11), § 3 Rn. 16.
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Unfall verhindert hätte, wenn auch der andere Beteiligte sich normgemäß verhalten hätte. Damit erledigen sich nicht nur Beweisprobleme – was ja nicht unbedingt gegen eine Theorie spricht – wie sie etwa dann auftreten, wenn einer der Beteiligten bei dem Unfall ums Leben gekommen ist. Der andere hat nicht mehr die Möglichkeit, eine Mitverantwortung damit zu bestreiten, dass er dem Gericht eine Version des Falles vorlegt, in der die Pflichtverletzung des tödlich Verunglückten so krass war, dass der Angeklagte den Unfall auch bei sorgfältigem Verhalten nicht hätte vermeiden können. Es wird auch eine Frage gegenstandslos, die die Gerichte in Verkehrssachen zeitweise intensiv beschäftigt hat: Kann die Verantwortlichkeit eines der Beteiligten damit begründet werden, dass, sofern er sich sorgfaltsgemäß verhalten hätte, der andere dem Zusammenstoß dadurch entgangen wäre, dass er auf seiner Bahn noch eine kurze Strecke weitergekommen wäre, ehe der Angeklagte mit seinem Fahrzeug dessen Fahrbahn kreuzte?33 Die Frage ist zu verneinen, denn ob dies der Fall ist oder ob vielleicht sogar umgekehrt eine Kollision gerade dadurch ermöglicht wird, dass einer der Verkehrsteilnehmer seine Sorgfaltspflicht einhält, während der andere dem Zusammenstoß entgangen wäre, wenn er sie verletzt hätte, hängt von unbeherrschbaren Zufällen des Einzelfalles ab.34 Aber dieses Argument wird nur geltend gemacht, um die Verteidigung des Angeklagten zu widerlegen, er hätte angesichts der Krassheit der Sorgfaltspflichtverletzung des anderen Beteiligten den Unfall auch dann nicht mehr durch Bremsen oder Ausweichen verhindern können, wenn er vorschriftsmäßig gefahren wäre. Wie oben gezeigt ist aber diese Verteidigung beim Zusammentreffen mehrerer Sorgfaltspflichtverletzungen verschiedener Beteiligter im Kausalverlauf zu einer Kollision grundsätzlich nicht akzeptabel. Niemand kann sich gegen den Vorwurf, durch sein sorgfaltswidriges Verhalten einen Unfall mitverursacht zu haben, auf die Sorgfaltspflichtverletzung des anderen oder deren Ausmaß berufen.
VII. Zur Reduktion von Komplexität Während also die Entscheidung BGHSt 24, 31 im Ergebnis richtig ist, aber eine unstimmige Begründung dafür angibt, die sich in anderen Fällen verhängnisvoll auswirkt,35 ist die Entscheidung BGHSt 11, 1 im Ergebnis falsch, weil das Gericht das 33
Dafür BGHSt 33, 61; dagegen BGH VRS 20, 129. Puppe (Fn. 11), § 4 Rn. 41 ff.; dies., FS Bemmann, 1997, S. 227 (233 ff.); dies., ZStW 99 (1987), 595 (612 ff.), zust. Jakobs (Fn. 6), § 7 Rn. 81 (dort Fn. 131 j). 35 Dazu außer dem im folgenden Text noch zu besprechenden Fall OLG Köln VRS 64, 257, etwa den Fall Bay OblG VRS 87, 121. Der wegen Alkoholgenusses fahruntüchtige Angeklagte fuhr mit seinem Pkw auf einer Autobahn mit der zulässigen Geschwindigkeit von 160 km/h. Ein überholendes Kraftfahrzeug touchierte seinen Wagen und brachte ihn dadurch ins Schleudern. Er geriet auf die Gegenfahrbahn und kollidierte mit einem entgegenkommenden Kraftfahrzeug, wodurch seine Beifahrerin tödlich verletzt wurde. Nach dem Urteil des Sachverständigen hätte auch ein nüchterner Fahrer das Fahrzeug nicht mehr unter Kontrolle bringen können. Deshalb sprach das Gericht den Angeklagten vom Vorwurf des § 315c frei, 34
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Phänomen der Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen nicht erkannt hat. Sie hat aber in ihrer Begründung einen großen dogmatischen Fortschritt gebracht, indem sie das Erfordernis der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung, d. h. der sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Handlung entdeckt bzw. aufgestellt hat. Bevor diese Entscheidung erging, versuchte die Strafrechtsdogmatik und auch die Praxis, dem Bedürfnis, eine Beziehung nicht nur zwischen der sorgfaltswidrigen Handlung und dem Erfolg, sondern gerade zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung und dem Erfolg dadurch herzustellen, dass sie die sorgfaltswidrige und kausale Handlung des Täters in die Unterlassung einer sorgfaltsgemäßen Handlung umgedeutet hat. Damit konnte die Zurechnung des Erfolges statt von der Kausalität der von dem Täter tatsächlich vorgenommenen Handlung von der Quasikausalität der Unterlassung einer sorgfaltsgemäßen Handlung abhängig gemacht werden. An die Stelle der Übergabe nicht desinfizierter Ziegenhaare an die Fabrikarbeiterinnen trat als Anklagevorwurf die Unterlassung der Desinfektion der Ziegenhaare. Nun konnte man die Frage formulieren, ob die Arbeiterinnen nicht erkrankt wären, wenn der Fabrikant für die Desinfektion der Ziegenhaare gesorgt hätte, ehe er sie ihnen übergab.36 Eine solche Umdeutung einer Handlung mit sorgfaltswidrigen Eigenschaften in eine Unterlassung einer sorgfaltsgemäßen Handlung ist natürlich anfechtbar37 und wäre nur dann geeignet, die Strafbarkeit des Täters zu begründen, wenn dieser ein Garant wäre. Die Erkenntnis des BGH, dass es für die Zurechnung eines Erfolges zu einer sorgfaltswidrigen Handlung nicht genügt, dass die Handlung erstens kausal für den Erfolg und zweitens sorgfaltswidrig war, dass es vielmehr erforderlich ist, dass gerade die sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Täterhandlung für den Erfolg kausal sind, macht diese Umdeutung nun überflüssig.38 Aber unsere Untersuchung der Entscheidung BGHSt 24, 31 hat gezeigt, dass diese Erkenntnis bei einem Zusammentreffen mehrerer Sorgfaltspflichtverletzungen verschiedener Täter in einem Kausalverlauf zu recht komplizierten Überlegungen nötigen kann, um die Zurechnung des Erfolges zu beiden beteiligten Tätern zu begründen. Diese Überlegungen sind noch weit komplizierter als die, zu denen uns das Phänomen der Mehrfachkausalität von Handlungen zwingt. „Bedarf es für die Zweweil seine Trunkenheit nicht ursächlich für die konkrete Gefahr gewesen sei, die sich dann im Unfall realisiert hat. Trotzdem verurteilte es ihn nach § 222, weil er, um seine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit zu kompensieren, statt 160 höchstens 130 km/h hätte fahren dürfen. Bei dieser Geschwindigkeit wäre es entweder überhaupt nicht zum Schleudern gekommen oder der Zusammenstoß mit dem entgegenkommenden Fahrzeug wäre weniger heftig ausgefallen. Dieses Argumentationsmuster haben wir im Text widerlegt. Da im vorliegenden Fall auch keine andere Begründung für die Zurechnung des Erfolges zum Verhalten des Angeklagten in Betracht kommt, insbesondere keine Mehrfachkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen, ist auch das Ergebnis, die Verurteilung des Angeklagten nach § 222, unrichtig. 36 RGSt 63, 211 (213); Jähnke, FS Schlüchter, 2002, S. 99 (101); Mezger, Strafrecht, AT, 9. Aufl. 1960, Rn. 67; Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 18), § 15 Rn. 27. 37 NK-StGB/Wohlers, 3. Aufl. 2010, § 13 Rn. 6; Engisch, FS Gallas, 1973, S. 163 (184 ff., 187); Struensee, FS Stree/Wessels, 1993, S. 133 (154 ff.). 38 Puppe, FS Roxin, 2001, S. 287 f.; dies. (Fn. 11), § 3 Rn. 19.
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cke der Praxis somit einer Umschreibung der Kausalität, die rechtspraktisch leichter umzusetzen ist und doch den Anforderungen der praktischen Vernunft genügt“?39 Rechtspraktisch leichter umsetzbar als die hier angestellten Überlegungen wäre der Verzicht auf das Erfordernis der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung i.S. von BGHSt 11, 1. Man würde also zu einem Rechtszustand zurückkehren, nach dem es für die Zurechnung des Erfolges zweier unabhängig voneinander bestehender Voraussetzungen bedarf, erstens der Kausalität der Handlung, zweitens der Sorgfaltswidrigkeit der Handlung. Die bisherigen Ausführungen sind geeignet, den Eindruck zu erwecken, dass dies „praktischer Vernunft“ entspräche, denn wir haben unsere komplizierten Überlegungen zur Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen nur gebraucht, um zu verhindern, dass das Erfordernis der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung in bestimmten Fällen die Zurechnung zu beiden Unfallbeteiligten ausschließt. Aber dieser Eindruck täuscht, was zum Beispiel die folgende Entscheidung des OLG Köln belegt. Der Angeklagte hatte die Sorgfaltspflichtverletzung begangen, mit überalterten, zum Teil schon beschädigten Reifen zu fahren. Einer der Hinterreifen platzte, sodass der Wagen ins Schleudern geriet und mit einem entgegenkommenden PKW zusammenstieß. Das Landgericht hatte den Angeklagten mit der Begründung freigesprochen, es sei nicht auszuschließen, dass das Platzen des Reifens dadurch verursacht worden ist, dass ein spitzer Gegenstand in ihn eingedrungen ist. Unter dieser Voraussetzung wäre der Reifen auch dann geplatzt, wenn er technisch einwandfrei gewesen wäre. Das OLG Köln hob das Urteil mit der folgenden Begründung auf: „Vorliegend hat der Angeklagte in zweierlei Weise gegen die StVO verstoßen. Einmal, weil er abgefahrene Reifen benutzt hat, zum anderen, weil er darüber hinaus mit Rücksicht auf den schlechten Zustand der Reifen zu schnell gefahren ist (§ 3 StVO). Unter diesen Umständen durfte sich die Strafkammer nicht mit der Feststellung begnügen, dass Eindringen des Fremdkörpers hätte sich in gleicher Weise auf einen technisch einwandfreien Reifen ausgewirkt, der Einstich mit dem spitzen Gegenstand hätte ebenso bei einem neuwertigen Reifen zu einer schlagartigen Entlüftung führen können. Dieser Vergleich reicht für eine Verneinung der Kausalität des Fehlverhaltens des Angeklagten für den Unfall nicht aus. Vielmehr hätte die Strafkammer hier zunächst prüfen und klären müssen, welche Geschwindigkeit – wenn der Angeklagte schon mit abgefahrenen Reifen fuhr – noch angemessen war. Nur wenn sich hierbei herausgestellt hätte, dass es zu dem Unfall auch bei einer mit Rücksicht auf den schlechten Zustand der Reifen angemessenen Geschwindigkeit gekommen wäre, würde die Ursächlichkeit des verbotswidrigen Reifenzustandes entfallen.“40
Es handelt sich um das gleiche Argumentationsmuster wie in der Entscheidung BGHSt 24, 31, auf die sich das OLG Köln später auch beruft. Wir haben es oben analysiert und widerlegt. Der Denkfehler tritt hier in besonders krasser Form auf: Die Kausalität des schlechten Reifenzustandes für den Unfall wird damit begründet, dass die wegen des schlechten Reifenzustandes zu hohe Geschwindigkeit des Angeklagten kausal für den Unfall war. Aber selbst wenn es nach § 3 StVO eine zulässige 39 40
Frisch, FS Maiwald, 2010, S. 239 (253). OLG Köln VRS 64, 257 (258).
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Höchstgeschwindigkeit für einen Fahrer mit überalterten Reifen gäbe, wäre diese ihm doch nur unter der Bedingung geboten, dass seine Reifen überaltert waren. Deswegen müsste in der kausalen Erklärung des Unfalls nicht nur die Höhe der Geschwindigkeit, sondern auch die Überalterung der Reifen vorkommen.41 Ist aber die Vermutung richtig, dass der Reifen durch das Eindringen eines spitzen Gegenstandes zum Platzen gebracht wurde, so kommt dessen Überalterung in keiner wahren kausalen Erklärung des Unfalls vor. Würden wir nun zur Vereinfachung der Lehre von der Kausalität und der objektiven Zurechnung auf das Erfordernis der Kausalität der sorgfaltswidrigen Eigenschaften des Täterverhaltens hier verzichten, so hätten wir keine Schwierigkeiten, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass das OLG Köln offenbar für richtig hält. Der Angeklagte ist mit abgefahrenen Reifen gefahren. Er hätte das nicht tun dürfen. Er ist durch sein Fahren kausal für den Unfall geworden, denn zu einem Zusammenstoß gehören zwei. Das ist bestes versari in re illicita. Wer unter Bedingungen ein Kraftfahrzeug führt, unter denen er dieses Kraftfahrzeug nicht hätte führen dürfen, ist für jeden Unfall verantwortlich, in den das Kraftfahrzeug verwickelt wird. Es ist also ein Gebot nicht nur der theoretischen sondern vor allem der „praktischen Vernunft“, dass wir uns den geistigen Anstrengungen unterziehen, die die Lehre von der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung von uns fordert. Es ist nun die Aufgabe einer Rechtswissenschaft, der Praxis komplizierte Gedankengänge abzunehmen, indem sie aus diesen komplizierten Gedankengängen einfach handhabbare Regeln ableitet, die der Praktiker anwenden kann, indem er sich auf die Erkenntnisse der Wissenschaft stützt, ohne sie selbst entwickeln zu müssen. Beispielsweise die Lösung des Gremienproblems mithilfe der Lehre von der Ursache als notwendigem Bestandteil einer Mindestbedingung des Erfolges wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur nicht deshalb verworfen, weil sie falsch sei, sondern weil sie zu schwierig sei.42 Ob dieses Urteil über die Fassungskraft des Verstandes eines durchschnittlichen Rechtsanwenders richtig ist, sei hier dahingestellt. Denn zur Lösung des Gremienproblems lässt sich aus der Lehre vom notwendigen Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung die folgende Regel ableiten: Jeder, der in einem Gremium seine Stimme für einen Beschluss abgibt, der wirksam zustande kommt, ist für dessen Zustandekommen ursächlich, gleichgültig, wie hoch die Mehrheit ist, mit der der Beschluss gefasst worden ist.43 Eine einfachere Regel zur Begründung von Kausalität lässt sich kaum denken. Die Anwendungsregeln, die aus dem Erfordernis der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung für die Fälle des Zusammentreffens mehrerer Sorgfaltspflichtver41
Puppe (Fn. 11), § 3 Rn. 11 f. Vgl. dazu Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 18), § 14 Rn. 8; Kühl (Fn. 7), § 4 Rn. 9; Wessels/ Beulke (Fn. 1), Rn. 159; Hilgendorf, JZ 1997, 611; MK-StGB/Freund (Fn. 18), Vor § 13 Rn. 333, 347; Greco, ZIS 2011, 674 (686): „So elegant, wie diese Lehre ist, so schwierig ist sie auch“; zur gleichen Meinung von Roxin: Puppe, GA 2004, 129 (142 f.). 43 NK-StGB/Puppe (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 108; dies., JR 1992, 30 (32); dies. (Fn. 11), § 2 Rn. 13. 42
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letzungen in einem Kausalverlauf ableitbar sind, sind nicht ganz so einfach. Zunächst gelten sie nur für den Fall, dass die Kausalität der zusammentreffenden Handlungen als solcher für den Unfall feststeht. Sie gelten also nicht für den Fall der sog. überholenden Kausalität. Wir benötigen also zur Erklärung des Unfalls irgendeine Beschreibung der Handlung des anderen Beteiligten. Benötigen wir für die Erklärung des Unfalls die sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Handlungen beider Beteiligter, so ist der Fall unproblematisch, sog. kumulative Kausalität beider Sorgfaltspflichtverletzungen. Ist die Sorgfaltspflichtverletzung je eines der Beteiligten so gravierend, dass sie ohne die Sorgfaltspflichtverletzung des anderen hinreicht, den Erfolg zu erklären, aber nicht ohne dessen Handlung, so kann man dies nur herausfinden und auch darstellen, indem man die Handlung des anderen Beteiligten im Bezug auf ihre sorgfaltspflichtwidrigen Eigenschaften unbestimmt lässt oder, falls das nicht genügt, mit sorgfaltsgemäßen Eigenschaften versieht, sog. alternative Kausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen. Ist der Unfall auf diese Weise durch die sorgfaltswidrige Eigenschaft des Verhaltens eines der Beteiligten allein zu erklären, so hat dieser Täter den Unfall, wie das Gesetz sich ausdrückt, „durch Fahrlässigkeit“ verursacht. Auch diese Regel ist einfach. Ist es aber deshalb nicht möglich, die Kollision auf diese Weise zu erklären, weil sich die Verkehrsteilnehmer gar nicht begegnet wären, wenn sich der Andere verkehrsgerecht verhalten hätte, so ist die Verantwortlichkeit des einen Beteiligten dadurch zu begründen, dass man an die Stelle einer krassen Sorgfaltspflichtverletzung des anderen eine weniger krasse setzt. Wer durch ein sorgfaltswidriges Verhalten für eine Kollision kausal geworden ist, kann sich nicht damit entlasten, dass diese wegen der Sorgfaltswidrigkeit des anderen unvermeidbar gewesen sei. Er kann sich auch nicht damit entlasten, dass der Zusammenstoß wegen der Krassheit der Sorgfaltspflichtverletzung des anderen unvermeidbar gewesen sei. Das gilt insbesondere für diejenigen Sorgfaltspflichten, deren Zweck darin besteht, den Normadressaten zu befähigen, in einer kritischen Verkehrslage effektiver auf ein Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer zu reagieren. Wer in fahruntüchtigem Zustand ein Kraftfahrzeug führt, ein mit mangelhaften Reifen oder Bremsen versehenes Kraftfahrzeug führt, eine Geschwindigkeitsbegrenzung überschreitet oder aus Unaufmerksamkeit auf die kritische Situation nicht optimal reagiert, kann die Verantwortung für einen Unfall nicht mit der Begründung zurückweisen, der andere Beteiligte habe ihn so knapp geschnitten, dass er den Unfall auch bei Einhaltung dieser Sorgfaltspflichten nicht hätte verhindern können. Das ist eine einfache Anwendungsregel, die sich aus unseren komplizierten Überlegungen zur Kausalität verschiedener Sorgfaltspflichtwidrigkeiten der an einer Kollision Beteiligten ableiten lässt. Der Verkehrsrichter kann sie in der Praxis anwenden, ohne die ihr zugrunde liegenden „komplizierten“ Überlegungen selbst entwickeln zu müssen. Sie führt in allen in Fußnote 19 aufgeführten Fällen zur Verantwortlichkeit beider Unfallbeteiligter.
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Ingeborg Puppe
VIII. Schlussbemerkung In seinem Beitrag zur Festschrift für Gössel hat Frisch die condicio-sine-qua-nonFormel gegen den Vorwurf, sie gebe keine Methode zur Feststellung von Kausalität an, damit verteidigt, dass es ein Missverständnis sei, die Formel als eine solche Methode aufzufassen. Sie sei keine Anweisung zur Feststellung von Kausalität, sondern eine „normativ fundierte, begrifflich definitorische Aussage zur Kausalität“.44 Sie besage, dass alle Bedingungen eines Erfolges gleichwertig sind.45 Unleugbar stellt die Äquivalenztheorie der Kausalität einen großen Fortschritt im Vergleich zu den vorhergegangenen Versuchen dar, unter allen Bedingungen eines Erfolgseintritts bestimmte als die Ursachen von vornherein vor anderen, den sog. bloßen Bedingungen, auszuzeichnen, etwa nach dem Kriterium der Unmittelbarkeit, des Überwiegens oder der Auffälligkeit. Auch darin ist Frisch zuzustimmen, dass wir im Recht nicht einen Kausalbegriff einfach übernehmen können, wie ihn etwa die Naturwissenschaft oder die Philosophie entwickelt haben, ohne diesen normativ zu rechtfertigen. Jeder im Recht verwendete Begriff ist ein Begriff „im Rechtssinne“, denn er bedarf der normativen Rechtfertigung im Kontext der Funktion, die er erfüllen soll. Für den Begriff der notwendigen Bedingung bietet sich die Rechtfertigung an, dass eine Person nur dann wegen ihres Fehlverhaltens für einen Erfolg verantwortlich gemacht werden dürfe, wenn es von ihrem Fehlverhalten allein abgehangen hat, dass der Erfolg vermieden wird.46 Dieser Gedanke, so überzeugend er auf den ersten Blick ist, hat sich als undurchführbar erwiesen aus dem normativen Grund, dass er zu der unerträglichen Konsequenz führen würde, dass mehrere Pflichtverletzer sich gegenseitig von der Verantwortung für den Schaden entlasten. Deshalb soll auf die Fälle der Mehrfachkausalität nicht die condicio-sine-qua-non-Formel, sondern die Alternativenformel angewandt werden. Auch diese hat Frisch gegen den Vorwurf verteidigt, sie gebe keine Methode an, das alternative Verhältnis der konkurrierenden Ursachen festzustellen, wenn man es nicht ohnehin schon kennt. Auch die Alternativenformel sei keine Methode zur Feststellung alternativer Kausalität, sondern eine normative Klarstellung und Ergänzung der condicio-Formel.47 Aber abgesehen davon, dass allgemeine Regeln darüber fehlen, wann man die condicio-sine-qua-non-Formel anwenden soll und wann die Alternativenformel, was die praktische Konsequenz hatte, dass in Fällen von sog. alternativer Kausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen einer der Beteiligten unter Anwendung der condicio-sine-qua-non-Formel freigesprochen wurde, ändert dies nichts daran, dass die condicio-sine-qua-non-Formel und die Alternativenformel einander direkt widersprechen. Die herrschende Lehre nimmt diesen Widerspruch hin und verlässt sich darauf, dass man schon intuitiv erkennen werde, ob ein Fall von Einfachkausalität oder von Mehrfachkausalität vorliege, ob man also im Einzelfall die Kausalität mit der condicio-Formel oder mit 44
Frisch, FS Gössel, 2002, S. 51 (60). Frisch, FS Gössel, 2002, S. 51 (60 f.). 46 Frisch, FS Gössel, 2002, S. 51 (56 f.). 47 Frisch, FS Gössel, 2002, S. 51 (62).
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der Alternativenformel feststellen und begründen soll.48 Für eine Methode zur Feststellung eines Sachverhalts ist es schon verheerend genug, wenn sie einander widersprechende Verfahren enthält und am Ende auf die vormethodische Intuition angewiesen ist. Aber man kann dies immerhin noch als eine sehr unvollkommene, unvollständige und in hohem Grade verbesserungswürdige Methode akzeptieren. Wenn man aber mit Frisch die condicio-sine-qua-non-Formel nicht als Methode der Feststellung von Kausalität auffasst, sondern als normative Grundregel der Bestimmung von Kausalität als Grundlage der Zurechnung eines Erfolges zu einer Handlung, so kann man eine normative Klarstellung, die dieser Regel direkt widerspricht, weil sie Zurechnung auch und gerade dann bejaht, wenn die Handlung des Täters keine notwendige Bedingung für den Erfolg war, nicht akzeptieren.
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Näher dazu Puppe, GA 2010, 551 (554); NK-StGB/Puppe (Fn. 13), Vor § 13 Rn. 93.
Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen? Begründbarkeit und Grenzen Von Roland Hefendehl
A. Eine Annäherung Der Topos der objektiven Zurechnung scheint eine geradezu unbändige Kraft zu haben. Kaum ist ein Feld von ihm befruchtet worden, eröffnet sich ein neues. Während es einige Zeit so schien, als habe sich der Fokus eher auf die unendlichen Weiten des Besonderen Teils gerichtet, etwa und insbesondere auf den Betrugstatbestand,1 gehört doch auch die klassischerweise zweite Stufe des Verbrechensaufbaus, die Rechtswidrigkeit, zu einer aktuell nicht unbedeutenden Spielwiese. Nachdem Lothar Kuhlen passenderweise in der ersten Festschrift für Claus Roxin vor mehr als zehn Jahren die objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen intensiv erörtert hatte2 und darauf verweisen konnte, dass davor im Wesentlichen nur Ingeborg Puppe für dieses Thema stand,3 geschah einige Jahre jedenfalls nicht extrem viel. Die insbesondere für das Arztstrafrecht bedeutsame „hypothetische Einwilligung“ hielt aber die Thematik in der Diskussion, und so findet man bis in die jüngste Zeit immer wieder Beiträge, die Sympathie für eine Heranziehung der Thesen zur objektiven Zurechnung bei der Rechtswidrigkeit hegen.4 Die andere Perspektive in diesem Kontext ist auf die Fragestellung gerichtet, ob nicht die Rechtfertigungsgründe selbst bereits in der objektiven Zurechnung in dem Sinne aufgehen, dass sie als deren Ausprägungen zu verstehen sind. Ist also beispielsweise die Einwilligung nicht besser im Kontext der freiverantwortlichen Selbstgefährdung als einer Ausprägung des Zurechnungsausschlusses aufgehoben?5 So kommt Christian Jäger zu dem Ergebnis, dass „all jene Erlaubnissätze als zurech1 Vgl. zu den zahlreichen Beiträgen aus diesem Bereich nur Harbort, Die Bedeutung der objektiven Zurechnung beim Betrug, 2010; Rengier, FS Roxin, 2001, S. 811, 821 ff.; Gaede, FS Roxin II, 2011, S. 967 ff. 2 Kuhlen, FS Roxin, 2001, S. 331 ff.; vgl. ferner ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 431 ff. sowie ders., JR 2004, 227 ff.; weiter ausdifferenzierend dann in seinem Fahrwasser Dreher, Objektive Erfolgszurechnung bei Rechtfertigungsgründen, 2003. 3 Puppe, JZ 1989, 728. 4 Vgl. jüngst wieder Kretschmer, NStZ 2012, 177. 5 Jäger, Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006, S. 9.
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nungsausschließende zu betrachten sind, die wertungsmäßig allein auf dem Prinzip des Verantwortungsausschlusses beruhen. Dagegen sind diejenigen Erlaubnissätze, die zumindest auch dem Abwägungsprinzip unterliegen, als Rechtfertigungsgründe zu betrachten.“6 Eher in die entgegengesetzte Richtung scheint Wolfgang Frisch zu gehen, der sich seit langer Zeit intensiv mit der objektiven Zurechnung und eben auch deren Grenzen befasst.7 So ist es ihm ein besonderes Anliegen, die Rolle des tatbestandsmäßigen Verhaltens zu stärken und nicht voreilig hier anzusiedelnde Fragestellungen an die objektive Zurechnung zu delegieren.8 Für die folgenden schwerpunktmäßig um den Pflichtwidrigkeitszusammenhang bzw. das rechtmäßige Alternativverhalten kreisenden Überlegungen sollen diese eher makro-dogmatischen Fragestellungen nicht im Vordergrund stehen: So verweist Frisch als Skeptiker des Instituts der objektiven Zurechnung darauf, dass die Fälle des Erfolgseintritts auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten zur „eigentlichen Erfolgszurechnung“ und nicht zum tatbestandsmäßigen Verhalten gehörten.9 Und Jäger, der nach dem Gesagten grundsätzlich für eine Ausweitung des Instituts der objektiven Zurechnung steht, gelangt bei der hypothetischen Einwilligung zu dem Ergebnis, dass sie weder im Rahmen der Zurechnung noch als Rechtfertigungsgrund ihren Platz habe und vollständig abzulehnen sei, weil die im Tatzeitpunkt gültige Verantwortungsverteilung nicht nachträglich durch hypothetische Überlegungen korrigiert werden könne.10 – Es kann also im Folgenden bei der schlichten Frage verbleiben, ob die Lehre von der objektiven Zurechnung die Reichweite von Rechtfertigungsgründen beeinflusst.
B. Die Ausgangskonstellation Als Ausgangspunkt mag der folgende vereinfachte Sachverhalt dienen, der einer Entscheidung des LG München zugrunde lag11 und von Puppe in einem Besprechungsaufsatz aufgegriffen wurde:12 Der angeklagte A war von B soeben bestohlen worden. Um ihn aufzuhalten, rief A dem B nach: „Halt oder ich schieße!“ Er zielte sodann auf die Beine im unteren Bereich des etwa 20 m entfernt in unmittelbarer Höhe einer Straßenlaterne befindlichen B und gab einen Schuss ab, um ihn, der 6
Jäger (Fn. 5), S. 21. Ihm sei dieser Beitrag mit Dank und in Freude gewidmet: Dank für wissenschaftlichen Rat schon zu Beginn meines Weges und Freude über die gemeinsame Zeit an der Freiburger Fakultät. 8 So etwa Frisch, JuS 2011, 205, 210 f. 9 Frisch, JuS 2011, 205, 210. 10 Jäger (Fn. 5), S. 25. 11 LG München I NJW 1988, 1860. 12 Puppe, JZ 1989, 728. 7
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auf den Warnruf hin nicht stehengeblieben war, an der weiteren Flucht zu hindern. B wurde in die Wade getroffen, entkam jedoch. A ist wegen einer vollendeten Körperverletzung verurteilt worden. Eine Rechtfertigung nach § 32 StGB wurde ihm mangels Erforderlichkeit versagt, weil er vor dem Gebrauch der Schusswaffe diesen nicht nur hätte ankündigen, sondern zudem einen Warnschuss hätte absetzen müssen.13 Friedrich-Christian Schroeder verweist in seiner Anmerkung darauf, dass ein Warnschuss erst recht nicht gereicht hätte, den B aufzuhalten. Der Schuss in das Bein sei also – „objektiv gesehen“ –14 erforderlich gewesen. Eine Strafbarkeit wegen Vollendung scheide somit aus.15 Auch Puppe zweifelt an, dem Notwehrtäter den Erfolg nur deshalb zuzurechnen, weil er eine Maßnahme zum Schutz des Angreifers unterlassen habe, die ohnehin wirkungslos gewesen wäre. Das Gericht argumentiere kurz gesagt wie folgt: Der Schuss auf die Beine sei rechtswidrig gewesen, weil ohne vorherigen Warnschuss abgegeben. Also hafte der Täter für jeden Erfolg, den er durch diese rechtswidrige Handlung verursacht habe. Für Puppe ist dies klassisches versari in re illicita. Die Eigenschaft des unterbliebenen Warnschusses wäre nur dann notwendiger Bestandteil der kausalen Erklärung der Verletzung, wenn ein solcher Warnschuss den Flüchtling zum Stehen veranlasst und so eine weitere Abwehr durch einen gezielten Schuss überflüssig gemacht hätte. Es werde Zeit, dass der Lehre von der objektiven Zurechnung auch in der Rechtfertigungs- und Vorsatzdogmatik Rechnung getragen werde.16 Lasse sich nachweisen, dass der Täter zumindest die Umstände erkannt habe, die einen gezielten Schuss als nicht erforderlich disqualifizierten, sei wegen Versuchs zu bestrafen.17 Diese Ausgangskonstellation soll im Folgenden mit der in den letzten 15 Jahren weit intensiver diskutierten, weil praxisrelevanteren (und zudem von einer machtvollen Lobby begleiteten) Konstellation der hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht kontrastiert werden, ohne dass dieses Feld an dieser Stelle auch nur annähernd aufgearbeitet werden könnte.18 Hier ist über die Strafbarkeit des eine Operation 13 Dieses Erfordernis entspricht dabei durchaus der herrschenden Auffassung; vgl. BGH NStZ 2001, 530; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 32 Rn. 34. 14 Diese „Objektivität“ wird allerdings im Hinblick auf die einzunehmende Perspektive noch zu hinterfragen sein; vgl. u. C. II. 1. 15 Anm. Schroeder, JZ 1988, 567, 568. 16 Puppe, JZ 1989, 728, 729; und dies, obwohl Puppe grundsätzlich gerade als Kritikerin des Instituts der objektiven Zurechnung anzusehen ist und eher auf ein Kausalmodell setzt; vgl. etwa Puppe, ZStW 99 (1987), 595 ff.; dies., GA 1994, 297 ff.; NK-StGB/Puppe, 3. Aufl. 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 80 ff., 209 ff. 17 Puppe, JZ 1989, 728, 730. 18 Die Literatur ist mittlerweile fast uferlos geworden; vgl. nur aus jüngerer Zeit Albrecht, Die „hypothetische Einwilligung“ im Strafrecht, 2010; Edlbauer, Die hypothetische Einwilligung als arztstrafrechtliches Haftungskorrektiv, 2009; Eisele, FS Strätz, 2009, S. 162 ff.; Jansen, ZIS 2011, 482 ff.; Mitsch, JZ 2005, 279 ff.; Schwartz, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, 2009; Wiesner, Die hypothetische Einwilligung im Medizinstrafrecht, 2010.
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durchführenden und zuvor nicht ordnungsgemäß aufklärenden Arztes zu entscheiden, wenn sich nach Maßgabe des Grundsatzes in dubio pro reo nicht ausschließen lässt, dass der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt hätte.19 – Für diesen Fall nimmt die Rechtsprechung den im Vergleich zum LG München entgegengesetzten Standpunkt ein und gelangt zu dem Ergebnis, eine vorsätzliche vollendete Körperverletzung komme nicht in Betracht. Kuhlen hat die erste Entscheidung aus dem Jahr 1996 im oben erwähnten Festschriftbeitrag aufgegriffen und sie dogmatisch durch den Hinweis unterminiert, der BGH habe – ohne es explizit auszusprechen – die Kriterien der objektiven Zurechnung angewandt, genauer des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bzw. des pflichtgemäßen Alternativverhaltens. Denn wenn der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt hätte, verwirkliche sich nicht das Risiko der mangelnden Aufklärung. Eine Rechtfertigung bleibe somit also immer dann möglich, wenn sich der Rechtfertigungsmangel nicht im Gesamtunrechtserfolg realisiere.20 Offen bleibt bei einem derartigen Gedankengang freilich die zentrale Frage, ob die Kriterien der objektiven Zurechnung ihren legitimen Einsatzbereich auch im Bereich der Rechtfertigung finden sollten. Dies ist vom BGH im Fall der hypothetischen Einwilligung konkludent behauptet und vom LG München konkludent verneint worden, was schlicht als Zeichen zu werten ist, den Bereich der Konkludenz verlassen zu müssen, um Klarheit zu erlangen.
C. Die objektive Zurechnung im Kontext der Rechtfertigungsgründe I. Grundlagen und These Die objektive Zurechnung in seiner heutigen Gestalt ist ein Produkt des von Roxin entwickelten kriminalpolitisch-funktionalen Strafrechtssystems. Die hierdurch geprägte Unrechtskonzeption basiert wiederum auf der staatstheoretisch begründeten Aufgabe des Strafrechts, die allein im subsidiären Rechtsgüterschutz zu sehen ist. Kausalität und Finalität verlieren ihre Dominanz. Die Rechtsordnung hat sich darauf zu fokussieren, die Schaffung unerlaubter Risiken für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter zu verbieten und die Verwirklichung solcher Risiken in einem rechtsgutsverletzenden Erfolg dem Täter als tatbestandsmäßige Handlung zuzurechnen.21 Vor diesem Hintergrund erscheint es auf den ersten Blick nur konsequent, die Lehre von der objektiven Zurechnung auf die Rechtfertigungsgründe zu übertragen. Denn Tatbestand und Rechtswidrigkeit ergeben erst zusammen das Unrecht. Roxin 19
BGH NStZ 1996, 34; BGH JZ 2004, 799; BGH NStZ 2012, 205. Kuhlen, FS Roxin, 2001, S. 331, 341 ff. 21 Roxin, GA 2011, 678, 681; zu einer Auseinandersetzung mit den Kritikern der objektiven Zurechnung vgl. ders., FS Maiwald, 2010, S. 715, 724 ff. 20
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sympathisiert denn auch mit den oben skizzierten Überlegungen von Puppe und Kuhlen, fordert aber sowohl in seinem Lehrbuch22 als auch noch fünf Jahre später in Goltdammer’s Archiv23 eine weitere bzw. umfassende Ausarbeitung als „Aufgabe der Zukunft“. – Derartige eher zu einer Daueraufgabe mutierenden Forderungen gibt es im Strafrecht einige, so beispielsweise im Kontext des Interventionsrechts24 oder der personalen Vermögenslehre.25 Sie deuten regelmäßig an, dass es bei der Umsetzung ein wenig „hakt“. II. Die Maßgeblichkeit der Rechtfertigungshandlung 1. Die zumindest dem Grunde nach propagierte Ausweitung der Lehre von der objektiven Zurechnung hat sich insbesondere der Frage zu stellen, wie der jedenfalls bislang ganz unstreitige Grundsatz hierzu passt, wonach bei einem Rechtfertigungsgrund allein auf die Rechtfertigungshandlung abzustellen ist. Während beim Tatbestand eines Erfolgsdelikts das Kriterium der objektiven Zurechnung unabdingbar ist, um den Unrechtstatbestand zu spezifizieren, spielt die Relation von Handlung und Erfolg bei den Rechtfertigungsgründen gerade keine Rolle. Auf den Fall der Notwehr übertragen: Es kommt allein auf die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung an. Wenn insoweit ergänzend regelmäßig davon gesprochen wird, der Erforderlichkeit des Abwehrerfolges bedürfe es nicht,26 so ist dies bereits missverständlich formuliert: Denn es gibt für den sich Verteidigenden keine zwei unterschiedlichen Situationen, hinsichtlich derer er sich auch unterschiedlich entscheiden könnte. Er muss eben diejenige Handlung wählen, die einerseits zur Abwehr des Angriffs geeignet ist und andererseits das mildeste Gegenmittel darstellt. Wenn er diese Voraussetzung beachtet, spielt es für die Notwehr keine Rolle, dass eine notwendigerweise riskante Abwehrhandlung zu Auswirkungen führt, die der sich Verteidigende nicht einmal in Erwägung gezogen hatte. Grundlegend ist insoweit die Entscheidung des BGH aus dem 27. Band: Der Angeklagte wollte in Nothilfe dem Angreifer mit dem Pistolenknauf auf die Schulter schlagen, damit dieser von seinem Chef ablasse. Beim zweiten Schlag löste sich ein Schuss, der den Angreifer in die linke Schläfe traf und ihn schwer verletzte.27 Nichts anderes ist mit der Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, dass sich die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung nach einem objektiven
22
Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 115. Roxin, GA 2011, 678, 684. 24 Vgl. etwa Lüderssen, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 241, 308 ff.; aber auch bereits Hassemer, ZRP 1992, 378, 383 sieben Jahre zuvor. 25 LK-StGB/Lackner, 10. Aufl. 1979, § 263 Rn. 124 sowie D. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht und Vermögensschutz, 1990, S. 127 f., also 11 Jahre später. 26 Vgl. etwa Schönke/Schröder/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 32 Rn. 38. 27 BGHSt 27, 313; vgl. weitere Beispiele etwa bei Schönke/Schröder/Perron (Fn. 26), § 32 Rn. 38. 23
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ex ante-Urteil bestimme.28 Eine dem Grunde nach objektive Betrachtungsweise – von der Schroeder in der oben zitierten Anmerkung auszugehen scheint –29 gibt es gerade bei prognostischen Sachverhalten nicht. 2. Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr kennt also keinen in jedem Fall zuzurechnenden Erfolg, über den die Grundprinzipien des Notwehrrechts überhaupt erst erkennbar würden. Bei exakter Bestimmung der vom Verteidigungswillen getragenen Notwehrhandlung spielt es für den Rechtfertigungsgrund weder eine Rolle, welche für den Angreifer negativen Folgen sich hieraus ergeben, noch ist natürlich der Umstand erheblich, ob die Verteidigungshandlung zum Erfolg führt oder nicht. III. Die Kompensation über hypothetische Erwägungen und deren Probleme 1. Damit scheint einer der konstituierenden Bausteine der objektiven Zurechnung schlicht zu fehlen, womit sich die Folgefrage stellt, wem oder wohin die Komponente der Rechtfertigungshandlung überhaupt zugerechnet werden soll. Offensichtlich möchte man dieses Manko dadurch ausgleichen, dass man einer nicht erforderlichen Rechtfertigungshandlung hypothetisch eine erforderliche gegenüberstellt und die Frage nach den Auswirkungen stellt. Auf unsere Ausgangskonstellation übertragen: Was wäre also geschehen, wenn vorher ein Warnschuss abgegeben worden wäre bzw. der Arzt ausdrücklich um Einwilligung ersucht hätte? Wenn der jeweilige Rechtsgutsträger – der vom Schuss Getroffene bzw. der Patient – nicht anders agiert hätte, wird die objektive Zurechnung auf dieser Ebene als unterbrochen angesehen. 2. Dieser Perspektivenwechsel bei der Analyse der objektiven Zurechnung weg von der Frage, in welchem Verhältnis Risikoschaffung und Risikoverwirklichung stehen, hat auch in der Tatbestandslehre unter der Bezeichnung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bzw. des pflichtgemäßen Alternativverhaltens sein Vorbild. Hier wird herkömmlicherweise die Frage gestellt, ob sich das durch das pflichtwidrige Täterverhalten begründete Risiko auch dann im Erfolg niederschlägt, wenn dieser bei einem pflichtgemäßen Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gleichfalls eingetreten wäre.30 Wie man an dieser Überlegung erkennt, bleibt aber der Erfolgsbezug in dieser Variante bei der hypothetischen Überlegung erhalten, während er auf der Ebene der Rechtswidrigkeit gerade nicht hergestellt wird. 3. Auch Jäger sieht, bezogen auf die hypothetische Einwilligung, keine Vergleichbarkeit der Situation auf der Tatbestandsebene und derjenigen auf der Ebene der Rechtswidrigkeit, indem er auf zu unterscheidende Perspektiven abhebt: In den Fäl28 Kühl, Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2012, § 7 Rn. 107 m.w.N.; Roxin (Fn. 22), § 15 Rn. 46; Schwartz (Fn. 18), S. 24. 29 Anm. Schroeder, JZ 1988, 567, 568. 30 Vgl. etwa Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 42. Aufl. 2012, Rn. 197.
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len des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs fehle eine nachweisbare Verantwortlichkeit des Täters im Tatzeitpunkt in den Konstellationen, in denen der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Dagegen begründe die Einwilligung eine Verantwortungsübernahme durch das Opfer, die in den Fällen einer unterbliebenen Einwilligung im Tatzeitpunkt gerade nicht gegeben sei. Die Verantwortlichkeit verbleibe daher beim Täter.31 4. a) Ein weiteres Bedenken gegen die Übertragbarkeit der Fallgruppe des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bzw. des pflichtgemäßen Alternativverhaltens auf die Ebene der Rechtswidrigkeit kommt hinzu. Auf der Tatbestandsebene ist der sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang als eine Domäne der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit anzusehen, wofür paradigmatisch der Radfahrerfall32 steht: Hier ging es um die Frage, ob dem Lastwagenfahrer L der Tod des von ihm mit zu geringem Sicherheitsabstand überholten Radfahrers R auch dann zuzurechnen ist, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass auch bei pflichtgemäßem Verhalten des L der Tod des R wegen dessen alkoholbedingt unsicherer Fahrweise nicht hätte vermieden werden können. Bereits diese Problematik wirft erhebliche Friktionen auf, denen in einem rechtsgüterschützenden Strafrecht angemessener mit der Risikoerhöhungslehre begegnet werden sollte. So besteht kein Anlass, dem Täter das Risiko abzunehmen und ihn freizusprechen, wenn der Erfolg als Auswirkung der im Überholen liegenden Gefahr eintritt.33 b) In den Rechtfertigungsfällen geht es hingegen primär um eine Strafbarkeit wegen eines Vorsatzdelikts,34 bei der nicht etwa die naturwissenschaftliche Analyse in Rede steht, was bei einem leicht abweichenden Überholvorgang wahrscheinlich oder höchstwahrscheinlich geschehen wäre,35 sondern die Frage zu entscheiden ist, wie der Rechtsgutsträger in bewusster Weise unter anderen Bedingungen entschieden hätte. Ob man eine solche selbst bei einer Beteuerung des Betroffenen wird zufriedenstellend in dem Sinne beantworten können, er hätte sich nicht anders verhalten, erscheint zweifelhaft. So hat Puppe zutreffend ausgeführt, dass die Frage, wie sich der Patient bei angemessener Aufklärung entschieden hätte, prinzipiell unbeantwortbar und damit „sinnlos“ bzw. „unsinnig“ sei.36 31 Jäger (Fn. 5), S. 25 f.; vgl. auch Puppe, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2011, § 11 Rn. 22: „Es gibt keine Rechtfertigung kraft hypothetischer Einwilligung.“ 32 BGHSt 11, 1. 33 Vgl. hierzu nur Roxin (Fn. 22), § 11 Rn. 88 ff.; zur Risikoerhöhungslehre vgl. ferner die Nachweise bei Kühl (Fn. 28), § 17 Rn. 52 Fn. 124. 34 Vgl. auch Schwartz (Fn. 18), S. 180: Der Zurechnungsausschluss über rechtmäßiges Alternativverhalten sei in der Praxis fast ausschließlich im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte von Bedeutung. 35 Vgl. Schwartz (Fn. 18), S. 47. 36 Puppe, GA 2003, 764, 769; dies., JR 1994, 515 f.; dies. (Fn. 31), § 11 Rn. 12; Zweifel auch bei Gropp, FS Schroeder, 2006, S. 197, 200; die Replik von Kuhlen (JR 2004, 227, 228) ist eher auf die Wortwahl der Kritik bezogen und vermag die von Puppe formulierten Bedenken nicht auszuräumen; krit. ferner etwa Paeffgen, FS Rudolphi, 2004, S. 187, 208.
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Soll das Strafrecht von seiner Idee her im Sinne der negativen Generalprävention handlungsleitend wirken, muss der Handelnde zum Zeitpunkt der potenziellen Tathandlung wissen, ob und inwieweit er sich strafrechtlich relevant verhält.37 Sowohl beim fliehenden Dieb als auch beim Patienten kann er aber bei Abgabe des Schusses bzw. Vornahme der Operation keine Kenntnis davon haben, ob der Dieb einen Warnschuss ignoriert oder der Patient bei einer Befragung eingewilligt hätte. Denn dies ließe sich erst im Wege einer nach dem Gesagten gerade nicht durchführbaren Rückschau ermitteln. IV. Vorläufiges Ergebnis Diese Bedenken gegen die Ausweitung der Lehre von der objektiven Zurechnung auf die handlungsorientierten Rechtfertigungsgründe sprechen dafür, mangels eines Nichtvorliegens der Rechtfertigungsvoraussetzungen eine Vollendungsstrafbarkeit anzunehmen und damit dem LG München im Notwehrfall Recht zu geben. Fast scheint es also so, als habe Wolfgang Frisch vorschnell seine grundlegende Theorie vom tatbestandsmäßigen Verhalten38 im Falle des rechtmäßigen Alternativverhaltens relativiert, wenn auch er hier von einem Problem der objektiven Zurechnung ausgeht.39 Nach dem Gesagten spricht viel dafür, bei der Übertragung dieser Fallgruppe auf die Ebene der Rechtswidrigkeit gerade an das tatbestandsmäßige Verhalten anzuknüpfen und für die objektive Zurechnung kein Anwendungsfeld zu eröffnen. Wenn die Vertreter der Übertragbarkeit der Lehre von der objektiven Zurechnung nun umgekehrt eine Vollendungsstrafbarkeit ablehnen, aber einen Versuch bejahen wollen,40 so erscheint dies aus der Perspektive eines dreistufigen Verbrechensaufbaus allenfalls vom Ergebnis her überzeugend, nicht aber dogmatisch stringent begründbar.41 Zudem wird auf tatsächlicher Ebene der Arzt ja in der Regel gerade darauf vertrauen, dass der Patient ohnehin eingewilligt hätte, weil eine Verweigerung der Einwilligung objektiv unvernünftig gewesen wäre. Dann aber würde es auch an einem für den Versuch notwendigen Körperverletzungsvorsatz fehlen.42 Im Notwehrfall wäre zu ermitteln, ob der den Warnschuss Unterlassende sich von einem solchen zumindest eine kleine Chance versprochen hätte, den Fliehenden aufzuhalten. 37
Vgl. auch Schwartz (Fn. 18) S. 235 ff. m.w.N.; vgl. auch Anm. Schröder, JR 1961, 189. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988; ders., FS Roxin, 2001, S. 213, 231 ff.; ders., GA 2003, 719, 733 ff. 39 Vgl. den Hinweis oben in Fn. 9. 40 Diese Forderung wird freilich regelmäßig nur diffus erhoben; vgl. etwa LK-StGB/Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 230: Möglich sei allenfalls eine Bestrafung wegen Versuchs; Kuhlen, FS Roxin, 2001, S. 331, 340 Fn. 56: „[…] und deshalb allenfalls das Unrecht eines Versuchs begründet.“ Ferner ders., JR 2004, 227, 229; Dreher (Fn. 2), S. 69. 41 Vgl. auch Schwartz (Fn. 18), S. 28: „Es überrascht […], dass Kuhlen völlig selbstverständlich von der Möglichkeit einer Versuchsstrafbarkeit ausgeht.“ 42 Jäger (Fn. 5), S. 26. 38
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D. Die Konsequenzen eines zweistufigen Verbrechensaufbaus Ohne dass die genannten Befürworter der Übernahme der Lehre von der objektiven Zurechnung auch auf die Rechtswidrigkeitsebene dies ausdrücklich thematisieren würden, könnte die einen zweistufigen Verbrechensaufbau propagierende Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen nun gerade deren Position entscheidend bestärken. Es soll daher im Folgenden der dogmatische Gedankengang bei Annahme dieses Verbrechensmodells nachgezeichnet werden. Zunächst sei dabei noch einmal in wenigen Sätzen ausgeführt, warum die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen auf gute Gründe verweisen kann. I. Die Grundzüge der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen Ausgangspunkt eines zweistufigen Verbrechensmodells ist die Sichtweise, dass die unrechtsbegründenden Merkmale des Tatbestandes und die unrechtsausschließenden Merkmale der Rechtfertigungsgründe erst zusammen und einander ergänzend ein abschließendes Urteil über das Unrecht der Tat zuließen.43 Die propagierte Differenz zwischen einer tatbestandslosen und einer gerechtfertigten Handlung besitze in einem dem Rechtsgüterschutz verschriebenen Strafrecht keinen Stellenwert. Jeweils fehle es an der Sozialschädlichkeit.44 Die Tatbestandsmäßigkeit und das Fehlen von Rechtfertigungsgründen seien deshalb lediglich pragmatische Ausdifferenzierungen der Wertungsebene „strafrechtsspezifisches Unrecht“. In einem zweckrationalen Strafrechtssystem sei es schlicht deplatziert, wenn man dem Unrechtstatbestand eine eigene rechtliche Sinneinheit unabhängig von einer gegebenen Rechtfertigungslage zuspreche.45 Unabhängig von diesen Ableitungen aus einem kriminalpolitisch-funktionalen Strafrechtssystem – die allerdings von Roxin nur bereichsweise geteilt werden –46 werden der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen auch dogmatische Vorzüge zugeschrieben. Erst sie erkläre schlüssig, warum es Irrtumsregeln über Tatumstandsirrtümer (§ 16 StGB) und Irrtumsregeln auf der Schuldebene gebe (§§ 17, 35 Abs. 2 StGB), nicht aber solche auf der Ebene der Rechtfertigung. Vertrete man einen zweistufigen Verbrechensaufbau, so vermeide man nicht überzeugende dogmatische Friktionen47 wie die Vorsatzschuld beim Erlaubnistatbestandsirrtum. Dieser lasse schlicht das Vorsatzunrecht entfallen.48 Auch die Lösung beim Handeln in einer 43
Roxin (Fn. 22), § 10 Rn. 13; Schünemann, GA 1985, 341, 347. Schünemann, GA 1985, 341, 349. 45 Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1, 57 f.; so etwa auch Dreher (Fn. 2), S. 42 f., ohne für die vorliegende Problematik hieraus aber Konsequenzen zu ziehen. 46 Vgl. Roxin (Fn. 22), § 10 Rn. 19 ff. 47 Vgl. hierzu Schünemann, GA 1985, 341, 350. 48 Schünemann, GA 1985, 341, 349, auch zu den insoweit vorgebrachten Gegenargumenten, die sich auf eine nicht hinreichende Strafbarkeit des Teilnehmers beziehen. 44
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Rechtfertigungslage, ohne dass das subjektive Rechtfertigungselement gegeben sei, nämlich über die Versuchsstrafbarkeit, ergebe sich stringent nur aus der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, indem der Indiztatbestand und die Rechtfertigungsgründe dem gleichen Beziehungswert, der strafrechtsspezifischen Sozialschädlichkeit, zugeordnet würden.49 Die gegen eine solche Verbrechenskonstruktion angeführten Argumente verweisen auf unterschiedliche kriminalpolitische Funktionen der Verbrechensstufen von Tatbestand und Rechtswidrigkeit,50 müssen sich aber der Krücke der Differenzierung von allgemeiner und konkreter Sozialschädlichkeit bedienen. Im Ergebnis schwingt dabei stets das Argument Welzels mit, die Tötung einer Mücke sei eben etwas anderes als die gerechtfertigte Tötung eines Menschen,51 was sich aus der Perspektive des strafrechtsspezifischen Unrechts aber gerade bezweifeln lässt. Zudem wird gegen die zweistufige Konzeption die Systematik des Strafgesetzbuchs ins Feld geführt, das zwischen Tat und Rechtfertigung trenne.52 Neben den Protagonisten und den Kritikern lassen sich schließlich diejenigen ausmachen, die zwar den Tatbestand und die Rechtswidrigkeit zu einer Wertungsstufe verschmelzen, die Konsequenzen der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen aber vermeiden wollen.53 II. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen und die objektive Zurechnung Möglicherweise ist die nunmehr noch einmal knapp umrissene Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen auch bei der hier im Zentrum der Überlegungen stehenden Fragestellung allein in der Lage, die Lehre von der objektiven Zurechnung dogmatisch stringent zu implementieren. 1. Der Gedankengang sähe wie folgt aus: Über die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen wird das Fehlen von Rechtfertigungsgründen zum Bestandteil der tatbestandlichen Handlung. Auf diese Weise erhält sie einen Anknüpfungspunkt im tatbestandlichen Erfolg, so dass die dargelegten gegen eine Implementierung der objektiven Zurechnung sprechenden Argumente (s. o. C. II.) entfallen. Das zweistufige Verbrechensmodell konsequent angewendet, würde der Straftatbestand der Körperverletzung also lauten: „Wer einen Menschen durch eine nicht gerechtfertigte Handlung verletzt, wird bestraft.“ Für die objektive Zurechnung hieße dies, dass die nicht gerechtfertigte Handlung eine rechtlich relevante Gefahr geschaffen haben müsste, die sich im tatbestandlichen Erfolg realisiert hat. Eine gerechtfer49
Schünemann, GA 1985, 341, 373 f.; so auch Kühl (Fn. 28), § 6 Rn. 16. Roxin (Fn. 22), § 10 Rn. 19 ff. 51 Welzel, ZStW 67 (1955), 196, 211. 52 Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 26), StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 18. 53 Vgl. etwa LK-StGB/Rönnau (Fn. 40), Vor § 32 Rn. 15 ff. 50
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tigte Handlung wiederum würde als normativ relevante Gefahr ausscheiden, weil sie nur ein erlaubtes Risiko setzen würde. Die Nicht-Rechtfertigung muss also ein konstitutives Tatbestandselement sein. In unseren Fällen der Ausgangskonstellation würde sich aber nicht die nicht-gerechtfertigte Handlung realisieren, weil die alternative gerechtfertigte Handlung denselben Erfolg bewirken würde. Die Nicht-Rechtfertigung wäre also nicht konstitutiv, sondern alternativ, und vermag keine Zurechnung zu begründen. 2. Entfällt somit die objektive Zurechnung, kommt es für die Strafbarkeit wegen eines Versuchs darauf an, ob der Täter die Zurechenbarkeit des Erfolges zumindest für möglich hielt oder aber darauf vertraute, dass das Nichteinhalten der negativen Tatbestandsvoraussetzung keine Ergebnisrelevanz haben würde.
E. Die Bewertung der Differenz Damit führt die Untersuchung zu dem vielleicht überraschenden Befund, dass sich je nach Konzeption des Verbrechensbegriffs unterschiedliche Ergebnisse einstellen. Bislang hatte man eher das Gefühl, als würde es sich abgesehen vom Weg der Begründung eher um ein häufig so apostrophiertes dogmatisches Glasperlenspiel handeln.54 Folgt man einem dreistufigen Verbrechensaufbau in dogmatisch stringenter Weise, so findet die objektive Zurechnung keinen Platz und bleibt es bei einer Bestrafung wegen eines vollendeten Vorsatzdelikts, folgt man dem zweistufigen Aufbau, wird die Implementierung der objektiven Zurechnung möglich und kommt es allenfalls zu einer Versuchsstrafbarkeit. Es mutet fast kurios an, wenn die den letzteren Ansatz befürwortenden Autoren den Zusammenhang mit der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen nicht selbst herstellen. So verweist Joachim Kretschmer in seinem Beitrag über die „Rechtfertigungsgründe als Topos der objektiven Zurechnung“ zutreffend darauf, dass es am tatbestandlichen Vorsatz fehle, wenn der Täter irrtümlich Umstände annehme, bei deren Voraussetzung die objektive Zurechnung ausgeschlossen sei. Wenn er dann die Konstellation eines Erlaubnistatbestandsirrtums, in der der Handelnde irrtümlich von einer Einwilligung ausgeht, als Irrtum auf der Zurechnungsebene tituliert und § 16 StGB direkt anwendet,55 so folgt er eben schlicht der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, ohne dies auszusprechen. Nicht anders agiert der BGH mit der Anerkennung der Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung (insbesondere) im Arztstrafrecht. Vermutlich würde er heftig erschrecken, wenn ihm eines Tages auffiele, nun plötzlich ketzerische Ideen aus
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Vgl. auch den Untertitel des Sammelbandes von Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie – Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, 2003. 55 Kretschmer, NStZ 2012, 177, 183.
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der Alchemistenstube der Literatur zu vertreten, die er bislang nicht einmal für erwähnenswert gehalten hatte. Doch sind die Unterschiede wirklich so gravierend, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen? Die Öffnung für die objektive Zurechnung ist in den beschriebenen Fällen deshalb äußerst beschränkt zu halten, weil wir es – wie ausgeführt – mit bewussten Entscheidungen des Handelnden gegen Risikomaximen zu tun haben, die sich nur in evidenten Fällen als nicht rechtsgutsrelevant erweisen werden. Der Nothelfer verzichtet sehenden Auges auf einen Warnschuss, der Arzt auf die Einholung einer Einwilligung. Die Körperverletzung ist das Resultat der Verletzung dieser Risikomaxime, was durch die von Puppe zutreffend als sinnlos bezeichnete Frage, wie sich der Verletzte bei ordnungsgemäßer Warnung bzw. ordnungsgemäßer Aufklärung denn verhalten hätte, nicht wieder in Frage gestellt werden kann. Auch Routinen helfen hier nicht weiter, weil es für Entscheidungen des Menschen in Extremsituationen keine solchen gibt. Die Risikoverwirklichung ist also nur ausnahmsweise in den Fällen ausgeschlossen, in denen sich das Fehlverhalten mit Sicherheit nicht ausgewirkt hat. So propagiert Roxin mit guten Gründen, dass schon dann wegen vollendeter Tat bestraft werden sollte, wenn der Warnschuss nur eine reelle Chance der Vermeidung einer Körperverletzung geschaffen oder die Aufklärung nur möglicherweise zur Einwilligungsverweigerung geführt hätte.56 Selbst wenn man dies nicht nachweisen könnte, müsste noch immer der Vorsatz in den Konstellationen geprüft werden, in denen der Handelnde zumindest ein entsprechendes Risiko angenommen hat. Die Differenz zwischen dem drei- und dem zweistufigen Verbrechensaufbau wäre also bei diesem die objektive Zurechnung zurechtstutzenden Ansatz kleiner als zunächst angenommen.
F. Resümee Damit hat sich einmal mehr ganz im Sinne von Wolfgang Frisch gezeigt, dass die objektive Zurechnung zwar ein ebenso unabdingbares wie faszinierendes strafrechtsbegrenzendes Institut in einem funktional-kriminalpolitischen Strafrechtssystem darstellt, aber für jedes Anwendungsfeld der kritischen Revision bedarf: Sei es, dass man das Erfolgselement für irrelevant erachtet, sei es, dass man die objektive Zurechnung um die Lehre von der Risikoerhöhung ergänzt. Ansonsten ist man gerade im Arztstrafrecht schnell bei einem wohlfeilen Verteidigungselement, bei dem sich der Arzt ein weiteres Mal die Definitionsmacht „zum Besten“ des Patienten zuschreibt.
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Roxin (Fn. 22), § 14 Rn. 115.
Über Gegenwärtigkeit Von Friedrich Dencker
I. Einleitung Die folgenden Überlegungen gelten einem eher wenig diskutierten Merkmal von Rechtfertigungsgründen;1 es erscheint in §§ 32, 34 StGB und 904 BGB in dem Wort „gegenwärtig“. Ein verwandtes temporales Element findet sich in §§ 127 StPO, 859 II BGB als „frische Tat“ sowie in § 859 III BGB in der Wendung „sofort nach der Entziehung“. Soweit über diese Gegenwärtigkeit diskutiert wird, geht es meist entweder um den Versuch, deren zeitliche Anfangs- und Endpunkte genau zu bestimmen, sozusagen um die Details der Grenzziehung; oder aber es geht darum, die als sachlich fragwürdig empfundene Beschränkung der Rechtfertigung auf den durch dieses Merkmal zeitlich eingegrenzten Bereich aufzuheben. Die Versuche einer genaueren Beschreibung dieser Grenzen sollen hier nicht behandelt werden: Ob etwa erst das „unmittelbare Ansetzen“ zur Verletzungshandlung den gegenwärtigen Angriff im Sinne des § 32 StGB ausmacht oder auch schon das Stadium sozusagen unmittelbar vor dem unmittelbaren Ansetzen,2 ist in Anbetracht der mit dem Wort „unmittelbar“ immer einhergehenden Unschärfe3 eine Frage, der nachzugehen sich mit dem Ziel einer abstrakt-generellen Antwort4 kaum lohnen dürfte. Für das Folgende sei daher akzeptiert, dass die Grenzen zu noch nicht und nicht mehr Gegenwärtigem im Detail etwas unscharf bleiben, dass sie jedoch „unmittelbar“ vor und nach dem jeweils maßgeblichen Ereignis (Schadenseintritt, Tatvollendung usw.) zu ziehen sind. Das erscheint im Hinblick auf § 32 StGB weitgehend unproblematisch; „Präventivnotwehr“ oder „notwehrähnliche Lage“ werden ganz überwiegend nicht als Rechtfertigungsfälle des § 32 StGB anerkannt.5 Anders scheint das auf den ersten 1 Auf das wortgleiche Merkmal in §§ 177, 249 ff. StGB kann nur am Rande eingegangen werden (s.u., bei Fn. 36). 2 Vgl. zum Streit über „enge“ oder „erweiterte Versuchslösung“ SK-StGB/Günther, 8. Aufl. (Stand 1999), Rn. 9 f.; Kühl, Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2012, S. 144 f., jeweils m.w.N. 3 Dazu treffend Weyers, JZ 1991, 999 ff. 4 Anders mag das dort liegen, wo von einer gesicherten Kasuistik zu § 22 StGB ausgegangen werden kann. 5 Fischer, StGB, 59. Aufl. 2011, § 32 Rn. 19 f.; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 32 Rn. 4; Schönke/Schröder/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 32 Rn. 16 f.; LK-StGB/Rönnau/
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Blick im Rahmen des § 34 StGB zu liegen, hier wird der Begriff der Gegenwärtigkeit anders verstanden – auch Fälle außerhalb einer akut zugespitzten Lage sollen einer Rechtfertigung gemäß § 34 StGB zugänglich sein. Der Frage, ob das richtig ist, soll die folgende Skizze im Wesentlichen gelten. Sie greift dabei auch auf Material zurück, das bei § 35 StGB anstelle von § 34 StGB eingestellt werden kann. Dafür spricht nicht nur, dass in den Kommentierungen des Merkmals „gegenwärtig“ durchweg von einer der Normen auf die andere verwiesen wird,6 sondern auch, dass vielfach umstritten ist, ob bestimmte Fallkonstellationen nach der einen oder anderen Norm zu entscheiden sind.7
II. Notwehrlage und „Dauergefahr“ 1. Die Definitionen des Merkmals in §§ 32 und 34 StGB Begonnen sei mit geläufigen Beschreibungen des Merkmals der Gegenwärtigkeit. Im Rahmen von § 32 StGB wird als gegenwärtig ein Angriff verstanden, der unmittelbar bevorsteht, stattfindet oder noch nicht beendet ist.8 Was immer hierzu im Detail unklar sein mag, klar und im Ergebnis ganz unumstritten ist danach jedenfalls eine Beschränkung der Notwehrbefugnis auf den Zeitraum der durch den Angriff zugespitzten Lage. Ganz anders wird das dem Wortlaut nach identische Merkmal im Rahmen von § 34 StGB verstanden. Nicht nur in dem Zeitraum unmittelbar um den drohenden Verlust des Erhaltungsgutes herum soll die Gefahr für dieses gegenwärtig sein, sondern u. U. schon lange vor diesem. Die Rede davon, das Merkmal sei hier „weiter“ zu verstehen,9 trifft gleichwohl nicht den Kern dieser (ganz herrschenden) Auffassung. Sie stellt nämlich nicht auf die Notlage als durch dieses Adjektiv näher beschrieben ab, sondern auf die Notwendigkeit der Rettungshandlung. Diese sei ihr zeitlicher Hohn, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 105; MK-StGB/Erb, 2. Aufl. 2011, § 32 Rn. 105; NK-StGB/ Herzog, 3. Aufl. 2010, § 32 Rn. 32; Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2009, S. 107 f.; Frister, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, S. 203 f.; Heinrich, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2012, S. 146; Kühl (Fn. 2), S. 145; Rengier, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2012, S. 146; Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, S. 668; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2004, S. 66; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 41. Aufl. 2011, S. 121. 6 Vgl. nur Fischer (Fn. 5), StGB, § 34 Rn. 2; SK-StGB/Günther (Fn. 2), § 34 Rn. 25 mit inzwischen allerdings ins Leere gehender Verweisung; LK-StGB/Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 35 Rn. 29. 7 So ist z. B. beim „Spanner-Fall“ (BGH NJW 1979, 2053 f.) umstritten ob sich Straflosigkeit aus § 35 (so der BGH) oder aus § 34 StGB ergebe (so etwa Roxin [Fn. 5], S. 765). Die Tötung eines „Familientyrannen“ kann entgegen BGHSt 48, 255 ff. laut MK-StGB/Erb (Fn. 5), § 34 Rn. 170, nach dieser Norm gerechtfertigt, nicht nur gemäß § 35 StGB entschuldigt sein. 8 Z. B. MK-StGB/Erb (Fn. 5), § 32 Rn. 104; Wessels/Beulke (Fn. 5), S. 120. 9 Z. B. Otto, Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2004, S. 141; Heinrich (Fn. 5), S. 184; Wessels/Beulke (Fn. 5), S. 112.
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Bezug; wenn die Abwendung der Gefahr nicht mehr aufgeschoben werden könne, sei die Gefahr gegenwärtig. Das wesentliche Ergebnis dessen liest sich auch so: Gegenwärtig im Sinne von § 34 StGB seien auch „Dauergefahren“.10 Dieser Ausdruck bezeichnet drei typologisch unterscheidbare Arten von Fällen: Zum einen eine Situation eines jederzeit möglichen Schadenseintrittes, von dem aber nicht erkennbar ist, wann, ja wohl noch nicht einmal, ob er eintritt; man könnte hier von echten Dauergefahren sprechen. Als Beispiel dafür mag das Schwert dienen, das der Legende nach nur an einem Rosshaar aufgehängt über dem Höfling Damokles geschwebt haben soll; als Fall aus der Rechtsprechung sei der des einsturzgefährdeten Hauses11 genannt. Als zweite Fallmenge gibt es die von RG und BGH straffrei gestellten Fälle von Falschaussagen wegen einer Bedrohung des Zeugen12 mit schlimmen Folgen; auf sie soll gesondert kurz unter II, 3 eingegangen werden. Die dritte Fallgruppe könnte man zwar auch als Wiederkehrgefahren bezeichnen; das trifft die Fallmenge aber nicht genau genug. Diese wird besser mit dem Wort Wiederkehrangriffe gekennzeichnet; denn jedenfalls geht es in der bisherigen Diskussion immer um Sachverhalte, in denen gegenwärtige rechtswidrige Angriffe zur Zeit ihrer Gegenwärtigkeit nicht abgewehrt werden können, aber in der Zukunft der Erfahrung nach erneut zu erwarten sind. Beispiele sind die immer wieder vorkommenden gewalttätigen „Haus(oder „Familien“-)tyrannen“13 sowie der viel diskutierte „Spanner-Fall“14des BGH. (Die theoretisch auch diskutable Konstellation etwa von einem morschen Bauwerk in unregelmäßigen Abständen immer wieder herabstürzender Mauerbrocken als „Wiederkehrgefahr“ lohnt nicht eine besondere Erwähnung neben der ersten Fallgruppe; die vorstellbare Konstellation immer wieder aggressiv agierender Tiere, etwa bissiger Hunde, würde sprachlich ebenfalls vom Wort Wiederkehrangriffe mit umschrieben, auch wenn die bei der Formulierung naheliegende Notwehr-Assoziation nicht zuträfe.) Im Hinblick allein auf die Fälle echter Dauergefahren davon zu sprechen, die Gegenwärtigkeit sei im Rahmen von § 34 StGB „weiter“ zu verstehen als in demjenigen des § 32 StGB, wäre schlicht unzutreffend: Wenn das schädigende Ereignis jederzeit eintreten kann, dann ist die entsprechende Gefahr auch jederzeit gegenwärtig. Das „weitere“ Verständnis der Gegenwärtigkeit bei § 34 StGB kann sich also allenfalls auf den Bereich der Falschaussagefälle und der Wiederkehrangriffe beziehen. Hier stimmen die Verständnisse nun tatsächlich nicht überein. Denn die Gefahren, die durch die jeweiligen rechtswidrigen Angriffe eines „ Spanners“, „Haustyrannen“, eines „Stalkers“15 oder auch eines Drohenden im Hintergrund einer Zeugenaussage 10
Z. B. Wessels/Beulke (Fn. 5), S. 112; Lackner/Kühl (Fn. 5), StGB, § 34 Rn. 2. RGSt 59, 69 ff. 12 BGHSt 5, 371 ff. mit Nachweisen zur Rechtsprechung des RG. 13 BGHSt 48, 255 ff.; RGSt 60, 318 ff. 14 s. Fn. 7. 15 Der Fall müsste nach der Einführung des § 238 StGB mitdiskutiert werden.
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begründet werden, können, soweit sie im Sinne von § 32 StGB gegenwärtig sind, auch nach Maßgabe dieser Vorschrift abgewehrt werden. Soll eine gegenwärtige Gefahr auch in den Zeiträumen davor oder dazwischen gegeben sein, muss der Begriff entweder der Gefahr oder ihrer Gegenwärtigkeit tatsächlich anders verstanden werden. Um den Begriff der Gefahr kann es jedenfalls dann nicht gehen, wenn man ihn im üblichen Verständnis durch die konkrete Wahrscheinlichkeit des schädigenden Ereignisses definiert; denn dieses kann wiederum erst durch den befürchteten je nächsten rechtswidrigen Angriff eintreten. Von dem schlafenden Haustyrannen, dem flüchtenden Spanner oder dem (nicht im Gerichtssaal anwesenden) den Zeugen bedrohenden Nötiger16 geht gerade keine Gefahr aus. Die von ihnen drohenden Gefahren könnte man also außerhalb der Zeit ihrer im Sinne von § 32 StGB gegenwärtigen Angriffe nur dann als gegenwärtig bezeichnen, wenn man den Menschen als Gefahr bezeichnet, von dessen freiem Entschluss es abhängt, ob (und ggfs. wann) er angreift. Dass es nicht angeht, die Existenz eines Menschen von Rechts wegen als dauerhafte Gefahrenquelle zu kategorisieren, es sei denn im Ausnahmefall durch richterliche Entscheidung, sollte klar sein. Das „weitere“ Verständnis der Gegenwärtigkeit kann es danach eigentlich nicht in dem Sinne geben, dass diese eine Eigenschaft der Gefahr bezeichnet. Es erscheint also eher richtig, wenn Küper das übliche Verständnis der Gegenwärtigkeit im Rahmen des § 34 StGB als „temporale Erforderlichkeit“17 zusammenfasst und bei dieser Auslegung dem Merkmal attestiert, es enthalte „nur eine eigentlich überflüssige Klarstellung“ dieser Seite der Erforderlichkeit.18 Man könnte das aber auch krasser ausdrücken: Diese bisher behandelte Auffassung versteht die Gegenwärtigkeit gar nicht „weiter“, sie definiert das Merkmal weg. Zwar wird teilweise versucht, dem zu entgehen, indem zu dieser „temporalen Erforderlichkeit“ erklärend geäußert wird, nach ihr sei die Notstandshandlung nur (oder: erst) gerechtfertigt, wenn sie schon notwendig sei, um den Schaden zu verhindern; es gehe um den Zwang zur Entscheidung und die Notwendigkeit zu „sofortigem Handeln“.19 Indes trifft das auf das Fallmaterial nur sehr begrenzt zu, welches unter dem Wort „Dauergefahr“ abgehandelt wird. Zumindest beim Falltyp der Tötung des sog. Haustyrannen wird keineswegs ernst gemacht mit einer solchen Forderung, die darauf hinauslaufen müsste, etwa zu untersuchen, ob der im Schlaf erschla16 Ob die Drohung ein Notwehrrecht für den Bedrohten auslöst ist umstritten; zum Streitstand s. Schönke/Schröder/Perron (Fn. 5), StGB, § 32 Rn. 18; auf diese Frage kann nicht insgesamt eingegangen werden. 17 Küper, FS Rudolphi, 2004, S. 151 ff, 153. In der Sache bereits ebenso Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 82; Suppert, Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen Lage“, 1973, S. 370. 18 Küper, FS Rudolphi, 2004, S. 154. 19 BGHSt 48, 255 ff., 259; Kühl (Fn. 2), S. 144 f. m.w.N.; Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 170 spricht davon, das Verhalten des Täters müsse sich „auch in zeitlicher Hinsicht … als alternativenlos darstellen.“
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gene Wüterich sich kurz vor dem Aufwachen befand oder noch im geraume Zeit andauernden Tiefschlaf.20 Auch in den Falschaussagefällen würden für die Zeugen stets Aufschubmöglichkeiten bestehen, sei es die Bitte um Terminsverschiebung oder eine Pause, sei es eine Krankmeldung oder das schlichte Verlassen der Sitzung, hielte man denn nicht etwa die Rechtsfolgen des schlichten Fernbleibens vom Termin bereits für so wenig zumutbar, dass sie eine Falschaussage als entschuldigt nahelegen. Der wahre Gehalt dieser „temporalen Erforderlichkeit“ dürfte also ehrlicher zu beschreiben sein mit: (nicht weiter eingegrenzte!) Zeit, in welcher der nächste zu erwartende rechtswidrige Angriff sicher abgewendet werden kann. 2. Vergleich von Begründung und Andauern einer Gefahrenlage Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass bei der echten Dauergefahr ein wirklich von demjenigen zu § 32 StGB abweichendes Verständnis der Gegenwärtigkeit nicht vorliegt – diese kann im Hinblick auf die Gefahr ebenso als deren zeitliches Attribut verstanden werden wie bei § 32 StGB als das des Angriffs. Gleichwohl lohnt sich ein kurzer Vergleich der jeweiligen Rechtfertigungslagen. Zur Verdeutlichung diene ein der Damokles-Geschichte nachgebildeter Fall. Wenn ein Bösewicht über dem Haupte eines gelähmten oder sonst fortbewegungsunfähigen Menschen ein Schwert an einem dünnen Faden aufhängt, so ist zwar die Notstandsgefahr schon zu Beginn dieser Handlung gegenwärtig. Aber es würde wohl kaum daran gezweifelt werden, dass diese Aktion, dieses Verbringen in eine Gefahr, auch ein rechtswidriger Angriff ist, der durch Notwehr/Nothilfe abgewehrt werden darf. Nicht anders dürfte das liegen beim – allerdings schwer vorstellbaren – Fall des Verbringens einer Person in den Zugriffsbereich einer gewalttätigen Person nach Art eines „Haustyrannen“ oder beim Versetzen eines Zeugen in Angst. Die Begründung einer solchen Gefahrenlage also kann ein rechtswidriger Angriff sein. Das Opfer oder ein Dritter dürfte den Angreifer durch Drohen mit einer Schusswaffe, notfalls auch durch einen Schuss ins Bein nötigen, von einem solchen Angriff abzustehen. Dieser aber ist abgeschlossen, wenn die Gefahrenlage etabliert ist. Danach würde sich für das Opfer oder auch für Dritte im Hinblick auf § 32 StGB die eventuelle Nötigung des vormaligen Angreifers zum Entschärfen der Gefahr, also etwa zum Wegnehmen des Schwertes, ebenso als fragwürdig darstellen wie eine Beendung der Gefahr auf Kosten eines Eingriffs in Rechte des vormaligen Angreifers. In Frage käme allenfalls Notwehr gegen das Unterlassen der Gefahrbeseitigung, und es ist umstritten, ob ein Unterlassen ein Angriff sein und es demgemäß Notwehr gegen Unterlassen geben kann.21 Ohne diese Frage hier abschließend zu beantworten lässt sich immerhin die Notwehr dann ausschließen, wenn die entsprechende Handlung nach § 34 StGB nicht gerechtfertigt werden kann, z. B. weil ein Dritter bereit ist, 20
Zu den Einzelheiten s. u., III. 3. Streitstand bei Schönke/Schröder/Perron (Fn. 5), StGB, § 32 Rn. 10 f., sowie bei Schumann, FS Dencker, 2012, S. 287 ff. 21
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das Opfer aus der Gefahrenlage zu bringen.22 Nach dem Abschluss des rechtswidrigen Verbringens in die Gefahr also kann Notwehr nicht mehr angenommen werden. Zugespitzt formulierend ließe sich also sagen, die Notwehrlage verwandle sich23 in eine Notstandslage, wenn das Verbringen in eine Gefahrenlage abgeschlossen sei. Soweit eine Notstandslage auch bei den anderen Fällen sogenannter Dauergefahren für die Phase nach der rechtswidrigen Handlung oder vor deren Beginn angenommen wird, findet sich außer der Behauptung, auch während dieser Zeit „dauere“ die Gefahr an, als Begründung nur der Hinweis, anders als bei der „schneidigen“ Notwehr verbleibe ja noch die umfassende Abwägung als Korrektiv.24 Das indes ist nicht als Argument für das Weginterpretieren eines einschränkenden gesetzlichen Merkmals tauglich; denn es besagt in der Sache nur, dass der Interpret auch ohne die Unterordnung unter den Gesetzestext alles richtig machen könne. Im Hinblick auf die ohnehin schon weiten Spielräume, die § 34 StGB der Auslegung lässt, ist das besonders fragwürdig. Es soll daher ungeachtet seiner weitgehenden Akzeptanz in Frage gestellt werden. 3. Gegenwärtigkeit der Gefahr vor erst befürchteten Angriffen? Das sprachliche In-eins-Setzen jederzeit schadensträchtiger echter Dauergefahren mit Wiederkehrangriffen und der Bedrohung von Zeugen unter der exakt nur für die ersteren zutreffende Bezeichnung „Dauergefahr“ hat zu einer Tradition beigetragen, die das Merkmal im Bereich der §§ 34, 35 StGB übergeht. Das Argument, der Gesetzgeber habe diese Tradition mit dem Erlass des § 34 StGB sanktioniert, ist nicht nur in seiner treffend entlarvenden Formulierung durch Schroeder erkennbar schwach, der Gesetzgeber habe die entsprechende alte Rechtsprechung „gedankenlos“ übernommen.25 Es setzt sich vor allem auch mit der Gesetzgebungsgeschichte nicht hinreichend auseinander; denn ein Gesetzentwurf, der konsequent das Merk-
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Vgl. Schumann, FS Dencker, 2012, S. 300. Es sei denn, man sieht in jeder Notwehr- zugleich eine subsidiäre Notstandslage; darauf kann hier nicht eingegangen werden. (Zur Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen allgemein s. Roxin (Fn. 5), S. 619 ff.; MK-StGB/Schlehofer, 2. Aufl. 2011, vor § 32 Rn. 219). 24 Einigermaßen deutlich noch Schroeder, JuS 1980, 336 ff., 341; meist wird das indirekt gesagt, indem eine präventive Notwehr unter Hinweis auf die „Schneidigkeit“ des Notwehrrechts abgelehnt und statt dessen für entsprechende Fälle auf § 34 verwiesen wird, etwa bei Hirsch in seiner Anm. zur „Spanner“-Entscheidung des BGH in JR 1980, 115 ff., 116; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 5), StGB, § 32 Rn. 17; Rengier (Fn. 5), S. 146, der dazu auch noch Bedenken im Hinblick auf den „Wortlaut“ des § 32 geltend macht – apart, bedenkt man denjenigen des § 34 StGB. 25 Schroeder, JuS 1980, 339; in der Tat findet sich in den Gesetzgebungsmaterialien aller Entwürfe für eine Reform des StGB keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit des Merkmals. Als tatsächlich übernommen lässt sich daher mit Sicherheit nur der Gesetzestext ermitteln. 23
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mal der Gegenwärtigkeit bei dem rechtfertigenden Notstand weglassen wollte,26 ist gerade nicht Gesetz geworden. Es ist auch nicht so, dass die entsprechende Tradition zu Gewohnheitsrecht erstarkt sei. Dagegen spricht bereits die Tatsache, dass Fälle von Handlungen gegen „Wiederkehrangreifer“ nie einhellig beurteilt worden sind. Selbst die im Ergebnis von der h. A. gebilligte Straflosigkeit wird ganz (erheblich!) unterschiedlich auf §§ 34, 35 oder auch 32 StGB gestützt.27 Darüber hinaus ist der entsprechenden Rechtsprechung frühzeitig deutlich und mit Gründen widersprochen worden, die nie widerlegt worden und die der Wiederholung wert sind. Hellmuth Mayer28 hat dem RG vorgehalten, es habe die zu Naturgefahren entwickelte Figur ohne Berechtigung auf die „Tötung gefährlicher Menschen“ übertragen bzw. die „Existenz eines Menschen“ als Gefahr gewertet.29 Speziell zum Bereich falscher Aussagen als im „Dauernotstand“ straflos hat er mit Recht auch im Ergebnis gegen das RG Stellung bezogen: Die Unannehmlichkeiten und Ängste zu bestehen, die aus der Abgabe einer pflichtgemäß wahren Aussage resultieren können, sei schlicht allgemeine Staatsbürgerpflicht.30 Dem kann nur beigepflichtet werden, zumal die Weiterungen nie recht bedacht worden sein dürften, die sich aus der Annahme der Straflosigkeit wegen Bedrohung für den Fall einer wahren Aussage im Hinblick auf andere Bereiche ergeben – etwa für den mit Drohungen zur Rechtsbeugung bewegten Richter,31 für den zur Falschbeurkundung im Amt gedrängten Amtsträger des Einwohnermeldeamtes usw. Der jeweils drohende Hintermann könnte sich die Motivierung des Opfers ja sogar noch dadurch erleichtern, dass er diesem ein Gutachten vorlegt, nach welchem Straflosigkeit laut Rechtsprechung und Literatur die Folge der Fügsamkeit sei.32 Nein, die Straffreiheit wegen Nötigungsnotstandes ist hier33 nicht akzeptabel. Jedenfalls also gibt es gute Argumente dafür, das Wortlautargument Mayers gegen diese Rechtsprechung ernst zu nehmen, das inzwischen ganz unbefangen als Verständnis des Wortes gegenwärtig in § 34, 35 StGB verwendet wird: Die Auslegung des RG verschiebe es entgegen dem Gesetz von der Gefahr auf die Erforderlichkeit ihrer Abwendung. 26 27
fälle. 28
§ 10 des Entwurfes Baumann, 1963. Zu §§ 34, 35 s. Fn. 7; zu § 32 vgl. NK-StGB/Herzog (Fn. 5), § 32 Rn. 30 für Extrem-
H. Mayer, Anm. zu RGSt 66, 223, in JW 1932, 2291 ff. H. Mayer, wie Fn. 28, S. 2291. 30 H. Mayer, wie Fn. 28, S. 2294. 31 Den allerdings Krey/Esser, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2012, S. 243 f. tatsächlich straffrei sein lassen wollen, was aber den Satz im Text nicht in Frage stellt. 32 Darauf weist in der Sache ebenso bereits H. Mayer, JW 1932, 2294 und JW 1932, 3068 f. hin. 33 Anders bei einer wirklich gegenwärtigen Gefahr, etwa, wenn der Drohende mit geladener Schusswaffe im Gerichtssaal säße. 29
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Es gibt aber auch systematische Argumente gegen diese Auslegung. Bei einigermaßen unbefangener Betrachtung lässt sich die Verwandtschaft der „Gegenwärtigkeit“ mit anderen temporal formulierten Regelungen kaum bestreiten, mit den Merkmalen „auf frischer Tat betroffen oder verfolgt“ in §§ 127 I StPO, 859 II BGB und „sofort nach der Entziehung“ in § 859 III BGB. Mit der Erforderlichkeit haben diese Regelungen eindeutig nichts zu tun. Soweit es um die Wiedererlangung des Besitzes geht, muss zwar die Anwendung der Gewalt nach § 859 BGB erforderlich sein, dies kann sie aber in genau gleicher Weise auch in einem Zeitraum nach der Frische der Tat sein: Wer dem flüchtenden Dieb seines Fahrrades34 dieses „sofort“ nach der Tat wieder wegnehmen darf, für den mag es einige Tage später für die Wiedererlangung des Besitzes genauso erforderlich sein, Gewalt anzuwenden. Er darf es dann aber genauso wenig gemäß § 859 BGB wie nach § 32 StGB und genauso wenig, wie ein Bürger eine Woche nach der Tat den Fahrraddieb festnehmen darf, den er bei der Tat beobachtet hat und in dieser Situation gemäß § 127 StPO vorläufig hätte festnehmen dürfen. Aber nicht nur für die im letzten Absatz genannten Normen gilt, dass das temporale Element eine nicht auf die Erforderlichkeit zur Erreichung des jeweils legitimen Zweckes allein beziehbare Funktion hat; auch im Rahmen des § 34 StGB gilt für den Zeitraum nach einer aktuellen Krise nichts anderes. Wem eine Sache von bedeutendem Wert entwendet wird, der mag während der Tat auch nach Notstandsregeln gerechtfertigt eine geringwertige Sache eines Dritten zerstören, wenn er damit sich den Besitz erhalten kann. Am nächsten Tag aber darf er nicht einmal in das Haus des Diebes eindringen, geschweige denn zu diesem Zweck auf die Sache eines Dritten zugreifen, entdeckt er dort seine Sache und will sie sich sichern; das gilt auch dann, wenn die nun gegenwärtige Gefahr besteht, dass der Dieb sie alsbald unauffindbar verbringt. Auch für den Notstand hat das Merkmal der Gegenwärtigkeit also eine jedenfalls begrenzende Funktion jenseits der Erforderlichkeit. Um sie zu ergründen, ist die kaum gestellte Frage danach zu klären, was der Gesetzgeber mit der zeitlichen Begrenzung von Rechtfertigungssituationen bezweckt hat.
III. Zur ratio der Gegenwärtigkeitserfordernisse 1. Stand der Ansichten Die herrschende Auffassung hat naturgemäß Schwierigkeiten mit der Erklärung eines Merkmals, welches sie für eigentlich überflüssig hält. So findet sich denn auch in der Literatur dazu nur andeutungsweise etwas. Zum einen wird auf die Rechtsprechung zur Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben in §§ 249, 255 StGB verwiesen.35 Dazu mag, ohne dass das hier vertieft werden kann, genügen, 34
Die Wahl gerade dieses Beispiels ist der Wahlheimat des Autors geschuldet. Das findet sich etwa andeutungsweise bei Kühl (Fn. 2), S. 256, wo auf Judikate zu diesen Normen verwiesen wird. 35
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dass diese Rechtsprechung, weil sie ein Merkmal zu Lasten von Angeklagten umdefiniert, noch weniger richtig sein kann als die zu §§ 34, 35 StGB.36 Weiterhin wird vorgebracht, das Adjektiv gegenwärtig sei neben den Begriffen des Angriffs und der Gefahr überflüssig, weil diesen Worten der Gegenwartsbezug immanent sei.37 Aber das ist eine verengte Sicht dieser Wörter – es ist sprachlich in keiner Weise paradox, von vergangenen oder zukünftigen Angriffen oder Gefahren zu sprechen. Als Funktion wird dem Merkmal teilweise die Aufgabe zugeschrieben, die Menge von Irrtümern bei der Annahme einer Gefahr oder einer anderen Rechtfertigungssituation zu reduzieren.38 Aber das ist wenig überzeugend. Bei der echten Dauergefahr fallen Gefahr und Gegenwärtigkeit zeitlich zusammen; die Begrenzung der Notstandseingriffe auf die akute Krise leistet also keine Eingrenzung auf Situationen, die weniger irrtumsanfällig sind. Zu den Haustyrannen- und den Falschaussagefällen wird das Element der „temporalen Erforderlichkeit“, wie bereits gezeigt, nicht ernst genommen, und bei ihnen ist eine irrtumsmindernde Potenz des Merkmals natürlich schon deshalb nicht vorhanden, weil es letztlich übergangen wird. Was den Zeitraum am Ende der Krise betrifft, also die Phase der Beendung des Angriffs oder der Frische der Tat, so ist kaum plausibel, dass Irrtümer während einer typischerweise eher turbulenten und emotionsgeladenen Situation seltener vorkommen als danach. (Speziell zu § 127 StPO sei der Hinweis darauf erlaubt, dass im Zentrum der Diskussion ganz unbeschadet der Frische der Tat die Frage des einschlägigen Irrtumsrisikos beim Verdacht steht.39) Einleuchtender als das Abstellen auf Irrtümer – für die es ja im Übrigen eigene Regeln gibt! – ist der Ansatz von Jakobs, der dem Merkmal die Aufgabe zuweist, die Kompetenzen zu rechtlich organisierter staatlicher Schadens- und Deliktsverhütung von der Befugnis zur aktuellen privaten Schutztätigkeit zu sondern.40 Das ist im Ansatz plausibel, jedoch zum einen unbefriedigend im Hinblick darauf, warum das Gesetz für einen solchen Zweck ausgerechnet zu diesem zeitlichen Ele-
36
Zutreffend Schünemann, JA 1980, 349 ff., 351. So in der Sache Roxin, Gedächtnisschrift für Tjong, 1985, S. 140 ff., 141; Müller, FS Schroeder, 2006, S. 323, Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, AT, 11. Aufl. 2003, S. 374 meinen, gegenwärtige Gefahr sei ein „pleonastischer Ausdruck“. Nach v. Bressendorf, Notwehr und notwehrähnliche Lage im Straßenverkehr, 1990, soll dem „Begriff der Gefahr“ ohnehin „ein gewisses Moment der Latenz“ innewohnen (S. 180 f. m.w.N.). 38 Ludwig, „Gegenwärtiger Angriff“, „drohende“ und „gegenwärtige Gefahr“ im Notwehrund Notstandsrecht, 1991, S. 86, 187, 190; Freund (Fn. 5), S. 108; Frister (Fn. 5), S. 203; indirekt Pawlik (Fn. 19), S. 314/315; zur „frischen Tat“ des § 127 StPO deutlich Roxin (Fn. 5), S. 142. (In der Praxis dürfte es allerdings nicht so sehr um die Verringerung von des Täters Irrtumsrisiko gehen, sondern mehr um die Vermeidung irrtumsbedingter Freisprüche!) 39 Vgl. nur Wessels/Beulke (Fn. 5), S. 130/131; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 127 Rn. 4. 40 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, S. 389 und 417; ausführlich dazu Pawlik (Fn. 19), S. 218 ff. 37
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ment greift. Zum anderen erscheint der Ansatz bei der Kompetenzwahrung in einer Hinsicht zumindest ergänzungsbedürftig. Begonnen sei mit letzterem. Die Kompetenz des Staates z. B. zur geregelten Verwendung von Steuergeldern und zur rechtlichen Regelung der Daseinsvorsorge darf nicht durch private Zugriffe zugunsten als übergeordnet eingestufter Interessen unter Berufung auf Notrechte unterlaufen werden. Das ist ebenso richtig wie die dazu gehörende Klarstellung, dass nicht nur die Vornahme sondern auch die Verweigerung41 von irgendwelchen Schutzoder Förderungshandlungen seitens der zuständigen staatlichen Instanzen im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Interessenwahrung durch Annahme einer privaten „Not“-Kompetenz – jedenfalls außerhalb einer akuten Krisensituation – ausschließt. Es dürfte aber auch im Sinne von Jakobs’ Sicht die weitere Klarstellung sein, dass ebenso die definitiv erfolglos gebliebene Wahrnehmung der staatlichen Kompetenzen die Annahme privater Gewalterlaubnisse ausschließen kann. So wird dem bestohlenen Eigentümer auch noch so wertvoller Sachen nicht erlaubt sein können, am Ende aller vergeblichen ZPO-gemäßen Vollstreckungsversuche zu privater Gewalt zu greifen, auch nicht mit Mitteln, die ohne weiteres erlaubt gewesen wären, um den flüchtenden Dieb bei noch frischer Tat, also vor der Sicherung der Beute, zum Anhalten zu nötigen. Zur Bekanntgabe des Verbleibs der Beute darf der Bestohlene nicht einmal mit geringerem Gewalteinsatz nötigen,42 obwohl das (Unterlassungs-)Verhalten des Diebes auch immer noch rechtswidrig und u. U. die Gewaltanwendung das einzige Mittel zur Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes ist. Das dürfte kaum zu bezweifeln sein; es ist eben das Abstellen auf die Gegenwärtigkeit im Gesetz nicht „überflüssig“. Das gilt auch im Rahmen des § 34 StGB – insofern bilde man sich nur einen entsprechenden Fall des Versagens geregelter Staatstätigkeit und privater Rückführungsmaßnahmen, die noch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit lägen. Das gleiche Ergebnis ließe sich zu § 34 StGB natürlich auch durch sehr allgemeine Erwägungen im Rahmen der Interessenabwägung erreichen43 – aber es müsste erst begründet werden, dass und warum das methodisch den besseren Weg darstellen würde als das Ernstnehmen des Gesetzestextes, der Gegenwärtigkeit der Notlage erfordert. Das Gesetz statuiert damit eine Zeitbegrenzung, die keineswegs leerläuft und auch bei § 34 StGB jedenfalls dort nur im Sinne einer „frischen Tat“ verstanden werden kann, wo es um die Grenze einer noch gegenwärtigen Gefahr geht. Mit dem Abstellen auf die Kompetenzwahrung ist ein plausibler Sachgrund für die Gegenwärtigkeit gegeben, wenn man dieses Kompetenzargument so versteht, dass es nicht nur um die Kompetenzausübung geht, sondern auch darum, dass 41 Jakobs (Fn. 40), S. 427 f. (mit berechtigter Ablehnung von BGHSt 12, 300 ff.); Pawlik (Fn. 19), S. 218 ff. 42 Ebenso wenig dürfte er in andere Rechte des vormaligen Diebes eingreifen, um sich sein Eigentum zurück zu verschaffen, also etwa private Hausdurchsuchungen, Abhörmaßnahmen o. ä. unternehmen. 43 s. dazu das Beispiel im Text unten, IV. 2.
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deren eventuelle Vergeblichkeit zu akzeptieren ist. Was damit nicht erklärt ist, ist das Abstellen gerade auf dieses zeitliche Element als Mittel zur Begrenzung privater Gewalterlaubnisse zugunsten der Durchsetzung staatlicher Kompetenz. Immerhin hätte der Gesetzgeber auch eine einschränkende Klausel mit einem solchen Kompetenzvorbehalt statt der temporalen Merkmale in die betreffenden Normen aufnehmen können, wäre es nur darum gegangen. Es bleibt also zu fragen, warum das Gesetz nicht diese Regelungstechnik gewählt hat, sondern auf die Gegenwärtigkeit abstellt.
2. Die Eindruckskraft des akuten Versagens von Regeln Zu § 127 StPO findet sich geläufig der Ausdruck „Flagranzfestnahme“,44 zur „Frische der Tat“ spricht Jakobs von der „Eindruckskraft des Rechtsbruchs“,45 und zu § 32 StGB soll nach ihm „die Drastik des aktuellen Angriffs“ den Verzicht auf Verhältnismäßigkeit rechtfertigen.46 Es liegt nahe, bei solchen Beobachtungen anzusetzen, will man dem telos dieser zeitlichen Begrenzungen in den Gesetzen näher kommen. (Dass die „Drastik“ manches Angriffs, z. B. beim Fotografieren oder anderen Eingriffen in Persönlichkeits- oder auch Vermögensrechte, weniger emotionale „Eindruckskraft“ entwickeln wird als etwa körperliche Attacken, kann man dabei vernachlässigen; denn meist wird es auch nicht zu privater Gewalt kommen, wenn es an einer solchen Eindruckskraft fehlt. Gesetzgebung jedenfalls kann von solchen Typizitätserwägungen ausgehen und dürfte es auch getan haben.) Die Erlaubnis (oder, im Falle des § 35 StGB: generelle Straffreistellung) von Übergriffen aller Bürger in sonst verbotene Bereiche, meistens in die Rechte anderer Bürger, muss auf eng umgrenzte Ausnahmesituationen begrenzt sein; private Gewalt – so seien solche Übergriffe im Weiteren genannt – ist selbstverständlich prinzipiell rechtlich missbilligt. Das ist für den Bürger im Recht auch kein Problem, es dürfte im Allgemeinen sogar von ihm gefordert werden. Denn Recht soll auch Sicherheit vor solchen Übergriffen gewähren, und es leistet das auch meistens. Dass aber das Recht in seiner Schutzaufgabe gelegentlich versagen kann, weiß nicht nur jeder, es wird als unvermeidbares Faktum auch akzeptiert; davon muss nicht nur, sondern kann auch jedenfalls ein Gesetzgeber ausgehen. Das Opfer eines Taschendiebstahls wird sich darüber ärgern, gar wütend sein, es wird aber nicht wegen des Erlebens der Begrenztheit der Wirksamkeit von Recht an diesem irre werden oder das Recht zu privater Gewalt einfordern. Der Zivilrichter, der dem Kläger in dessen Sprache verständlich erklärt, dass und warum er an der Beweislast scheitert, kann auf dessen Verständnis auch dann rechnen, wenn das Urteil den endgültigen Rechtsverlust besiegelt. Michael Kohlhaas ist weder ein Normalfall, noch wäre er als Leitbild einer Gesetzgebung denkbar. So wird auch allgemeine Akzeptanz dafür existieren oder immerhin angenommen werden können, dass im Einzelfall ein Dieb nicht gefasst wird oder dass ein 44
Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, S. 254. Jakobs (Fn. 40), S. 460. 46 Jakobs (Fn. 40), S. 389. 45
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Tötungsdelikt trotz aller Mühen nicht aufgeklärt werden kann, ohne dass das bereits etwa die Gefahr des Einreißens von Selbstjustiz begründete.47 Ganz anders aber könnte ein Verlust an Loyalität zu einem Recht zu befürchten sein, das vom Bürger auch flagrante delicto verlangen würde, sehenden Auges den Verbrecher in die faktische Straflosigkeit entkommen zu lassen, weil auch hier unverbrüchlich das Verbot privater Gewalt durchgehalten würde. § 127 StPO kann als „Ventil“ für solche vom Gesetzgeber befürchteten Negativentwicklungen gedeutet werden, ein Ventil , das aber nur geöffnet ist für die in solchen „eindruckskräftigen“ Situationen vermuteten Emotionen der rechtstreuen Bürger, nicht etwa für eine auch in kühlem Kopf vorgenommene Anwendung privater Gewalt als selbsternannter Hilfspolizist, erkenne er den bei der Tat Entkommenen eine Woche später noch so sicher wieder. Ganz entsprechende Überlegungen lassen sich hinter den Entscheidungen des Gesetzgebers zur Gegenwärtigkeit in §§ 32 StGB, 859 BGB vermuten. So wie der Fahrraddieb bei frischer Tat, aber nicht am nächsten Tag vorläufig festgenommen werden darf, bedeute das auch den ganz wahrscheinlichen Verlust der Bestrafungsmöglichkeit, so ist auch die gewaltsame Rückeroberung des gestohlenen Fahrrades auf den Zeitraum der Flagranz, der „Drastik“ des aktuellen Angriffs beschränkt, koste das auch wahrscheinlich endgültig den Besitz. Nicht anders ist es mit der zeitlichen Beschränkung der Notstandserlaubnis zum geringfügigen Eingriff in das Eigentum eines Unbeteiligten, um den gerade zur Flucht mit der Beute aufbrechenden Dieb an dieser zu hindern. Außerhalb der zeitlich eng definierten Situation der akuten Krise ist das prinzipielle Verbot privater Gewalt vorrangig. Man mag das so beschreiben, dass als ratio dieser Merkmale eine Vermutung des Gesetzgebers über eine generalisierbare psychische Ausnahmesituation besteht, der er Raum gibt, aber nur begrenzt – begrenzt auf den Zeitabschnitt, in dem das jeweilige Ereignis geschieht und damit auch psychisch in besonderer Weise „präsent“ ist. Das mag zwar insofern verwundern, als wir heute die Berücksichtigung solcher psychischen Vorgänge wohl eher bei der Schuld einordnen würden, aber das ist natürlich kein Ansatz für Zweifel an der Gültigkeit gesetzlicher Regelungen. Solche Zweifel müssten andere Gründe angeben können oder dartun, dass man das Gesetz schlicht außer Acht lassen dürfte. Letzteres wird jedenfalls nicht offen vertreten, und andere Gründe sind nicht ersichtlich. Dann aber sind für die Auslegung die erkennbaren Vorstellungen zu respektieren, die den Gesetzgeber zum Erlass der Norm bewegt haben, selbst wenn man sie in ihrer empirischen Richtigkeit anzweifeln würde. Fraglich erscheint danach lediglich noch, ob die Dinge im Rahmen des § 34 StGB anders liegen könnten, weil hier das Prinzip Abwägung zu dominieren scheint. Der 47
Ganz problematisch und jedenfalls nicht wörtlich zu nehmen ist es daher, wenn Renzikowski, Notwehr und Notstand, 1994, S. 237 die Pflicht des Bürgers zur Rechtsbefolgung nur solange annimmt, wie der Staat wirksame Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung stelle, und (S. 232) ihm sogar die Legitimation abspricht, wenn er seinen Bürgern die Selbstverteidigung untersage, wo er selbst keinen Schutz biete.
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umfassenden Abwägung aller Interessen als einem sehr intellektuellen Vorgang scheint die Berücksichtigung solcher nur psychischen, nicht rational erscheinenden Vorgänge fremd. Aber die Erlaubnis zum bei einer solchen Abwägung an sich vernünftig erscheinenden Eingriff in die Rechte Anderer hängt nach dem Gesetz von der Gegenwärtigkeit der Gefahr ab, nicht etwa nur vom größeren „Gewicht“ des Erhaltungsgutes.48 Für die Zeit nach dem Ende einer Augenblicksgefahr ist das ja auch zu § 34 nicht im Streite. Geht man also davon aus, dass als ratio der gesetzgeberischen Begrenzung der Erlaubnisse privater Gewalt die Annahme des Gesetzgebers zu sehen ist, das Beharren auf deren prinzipiellem Verbot sei – nur! – für den Bereich des aktuellen Versagens geordneter staatlicher Rechtsdurchsetzung um der Akzeptanz des Rechts willen aufzugeben, bleibt zu fragen, welche Konsequenzen daraus gezogen werden können.
IV. Folgerungen Es geht in dieser kurzen Skizze darum, ein zu selten als bedeutsam wahrgenommenes Merkmal der fachlichen Aufmerksamkeit ein wenig mehr zu empfehlen, und um viel mehr kann es schon aus Raumgründen nicht gehen. Ein paar Ableitungen aber lassen sich aus den bisherigen Überlegungen doch ziehen. 1. Zur Notwehr Es ist bereits auf den Streit kurz hingewiesen worden, ob auch ein Unterlassen als Angriff im Sinne von § 32 StGB angesehen werden kann. Zu dem Streitstand insgesamt kann hier nur auf den nach Ansicht des Verfassers dieser Zeilen weitgehend überzeugenden Aufsatz von Schumann49 hingewiesen werden, der diese Möglichkeit insgesamt verneint. Aus den gesicherten Befunden zur zeitlichen Begrenzung der Notwehr auf den Zeitraum bis längstens zur Beendung der Tat lässt sich zu diesem Streit eines jedenfalls sicher ableiten: Der Ausschluss der Notwehr gegen Diebstahl nach der Beutesicherung heißt auch, dass jedenfalls gegen das auch danach ja garantenpflichtwidrige Unterlassen der Rückgabe eine Notwehr nicht erlaubt sein kann. Auf der anderen Seite lässt sich auch gegen die generelle Verneinung von Notwehr gegen Unterlassungen mit eben der Zulässigkeit der Notwehr bis zur Beendung des Angriffs argumentieren. Jedenfalls ist ein Fallbereich denkbar, in welchem die endgültige Sicherung etwa der Diebesbeute nicht mehr von weiterem Tun des Diebes abhängt, sondern von Unterlassen – etwa vom Anhalten eines Fahrzeuges. Hier muss Notwehr möglich sein, ohne die Fallvarianten hier durchgehen zu können. (An48
Zu Recht weist Pawlik (Fn. 19), S. 137, darauf hin, dass die Gegenwärtigkeit als Voraussetzung der Abwägung selbst nicht als Größe in diese einzustellen ist. 49 Schumann, FS Dencker, 2012, S. 287 ff.; der Vorbehalt im Text ergibt sich aus dessen nächstem Absatz.
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ders wäre das nur, beschränkte man wegen ihrer Schneidigkeit die Notwehr auf die Phase bis zum Abschluss des Angriffsverhaltens.50 Das wiederum dürfte im Hinblick auf Fälle nicht akzeptabel sein, in denen die Abwehr des Verhaltenserfolges zwangsläufig mit einem erheblichen Rechtsverlust auf Seiten des Angreifers verbunden ist, der nach Notstandsgrundsätzen nicht zu rechtfertigen ist. So läge es etwa, wenn das Attentatsopfer der Gefahr durch die in sein Zimmer geworfene entsicherte Handgranate nur dadurch entgehen kann, dass es diese aus dem Fenster vor die Füße des Täters wirft oder wenn es dem Täter einer Giftbeibringung mit Gewalt das Gegengift entreißt, auch falls dieser es selber braucht.) Indes ist diese Notwehrlage jedenfalls alsbald nach der Vollendung vorbei. (Nur) Aus diesem Grunde ist es richtig, dass eine zwangsweise Organentnahme beim vormaligen Täter einer Körperverletzung zum Zwecke einer Transplantation auf das Opfer51 rechtlich ausgeschlossen ist, drohe diesem auch der Tod wegen Versagens der bei der Verletzung zerstörten Nieren; denn das ist praktisch in der Phase der noch frischen Tat nicht möglich.52 2. Private „Umverteilungsmaßnahmen“ Unter dieser Überschrift handelt Pawlik in seiner Monographie zum rechtfertigenden Notstand eine Problematik ab, die er anhand eines Beispiels53 verdeutlicht, wie es ähnlich auch schon Joerden gebildet hatte.54 In der Fassung Pawliks möchte ein Auszubildender einer Bank das Elend der Dritten Welt durch Geld lindern, das er anders nicht beschaffen kann als durch einen Griff in die Kasse der Bank. Durch seine
50 So Frister, GA 1988, S. 290 ff., 302, 306 f., Kühl (Fn. 2), S. 148/149; beide würden eventuell – das lässt sich ihren Texten nicht klar entnehmen – den im Text folgenden Beispielsfall ergebnisgleich über defensiven Notstand lösen; deutlich so Renzikowski (Fn. 47), der sich bei S. 288 ihnen anschließt und bei S. 269 die Tötung des „Familientyrannen“ so rechtfertigt. Indes ist nicht deutlich, welchen Gewinn diese Verschiebung erbringen würde, ganz abgesehen von der – hier nicht zu klärenden, m. E. aber zu verneinenden – Frage, ob die vorsätzliche Tötung eines Menschen überhaupt durch Notstand gerechtfertigt werden kann. 51 Von Engisch, Der Chirurg, 1967, S. 252 ff., 254 als einziger rechtfertigungsfähiger Fall einer Lebendtransplantation neben dem der Einwilligung immerhin erwogen; abgelehnt von Rüping, GA 1978, 129 ff., 133 sowie v. Bubnoff, GA 1968, 65 ff., 69/70. 52 Jakobs (Fn. 40), S. 390/1 schließt die zwangsweise Organentnahme auch für einen solchen Fall mit der Begründung aus, dabei würde es sich bereits um eine Schadensersatzproblematik handeln, nicht mehr um Abwehr des Angriffs; sachlich ebenso Pawlik (Fn. 19), S. 314, der darin ein Beispiel nicht von den Notrechten gedeckter „Naturalrestitution“ sieht. Das aber trägt nicht, denn auch eine Besitzkehr erzwingt „Ersatz“ des bereits eingetretenen Besitzschadens bzw. „restituiert“ den Besitz. Die notwendige Grenzziehung zwischen gerechtfertigter Abwehr, Besitzkehr und noch zulässiger Notstandshandlung nach einem ersten Schadensstadium einerseits und unzulässiger Restitution andererseits leistet eben die Gegenwärtigkeit. 53 Pawlik (Fn. 19), S. 221 ff. 54 Joerden, GA 1991, 411 ff., 424.
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Spende dieses Geldes an eine Hilfsorganisation können zwei Kinder gerettet werden, die sonst sicher verhungert wären. Dass dieses Verhalten ungeachtet des Rechtsgutsgefälles zwischen Eingriffsgut und Erhaltungsgut nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt werden kann ist klar. Pawlik wie Joerden erzielen dieses Ergebnis über die Interessenabwägung, Joerden sogar mit der Aussage, dieses zwingende Ergebnis lasse sich mit dem Text dieses Gesetzes nicht anders erzielen.55 Indes bietet sich dafür die Gegenwärtigkeit an. Man muss dafür nicht auf ein Verständnis dieses Merkmals als auch örtlich eingrenzend zurückgreifen,56 obwohl darin durchaus in Fällen wie diesem das Fehlen des Elements von „Flagranz“57eines planwidrigen Versagens der regulären staatlichen Tätigkeit eingefangen würde. Denn um diese „Eindruckskraft“ der Gefahrensituation geht es bei der Gegenwärtigkeit der Gefahr, nicht um alle möglichen, noch so schwerwiegenden Gefahrenzustände. Die Gegenwärtigkeit begründet sozusagen die Rettungszuständigkeit des Handelnden; die Gefahr muss für ihn – nach objektivem Urteil – die Eindruckskraft haben, welche allein die private Gewalterlaubnis begründen kann. Das ist bei aller fernen Not, sei es eine allgemeine oder individuelle, nicht der Fall. 3. Wiederkehrangriffe und Präventivnotwehr Betrachtet man, wie rigoros die Begrenzung des gerechtfertigten Handelns auf die akut zugespitzte Lage nicht nur im Rahmen der §§ 32 StGB, 127 StPO, 859 BGB sondern auch bei der Augenblicksgefahr beim Notstand ist, müssen Zweifel an der Verträglichkeit der Rechtsprechung und der ganz überwiegenden Literatur zu den Wiederkehrangriffen als angeblichen Dauergefahren bestehen. Bereits in der ersten Familientyrannenentscheidung58 befand sich der dann Getötete im Bett und spielte – aktuell friedlich – mit seinem Hund.59 Bei den dann erfolgenden Schüssen des Sohnes bestand keine „Flagranz“-Situation. Auch in BGHSt 48, 255 ff. wird erstaunlich unkritisch aus dem LG-Urteil übernommen, der im Schlaf Erschossene habe sein Opfer zuvor auch „aus dem Schlaf heraus“ misshandelt, und es sei „mit seinem Erwachen und der sofortigen Aufnahme weiteren Streits“ zu rechnen gewesen.60 Auch hier hätte sich die Angeklagte – in einem solchen Falle – mit der schussbereiten Tatwaffe in der Hand in einer durchaus komfortablen Notwehrlage befunden! Soweit die Rechtsprechung auf den Zwang zu „sofortigem Handeln“ abstellt, ist sie also jedenfalls insoweit wenig überzeugend. 55
Joerden, wie Fn. 54, S. 424. So noch v. Olshausen, StGB, von der 1. Aufl., 1880, Anm. 5 zu § 52 bis zur 10. Aufl. (Bd. 1), 1916, Anm. 10 zu § 52; auch Niethammer blieb als Bearbeiter noch in der 11. Aufl., 1927, dabei (ebenda). 57 s. oben, bei Fn. 44. 58 RGSt 60, 318 ff. 59 RGSt 60, 318, ff., 320. 60 BGHSt 48, 255 ff., 259. 56
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Als Folge dessen ist es möglich, dass der jeweilige Wiederkehrangreifer jedenfalls im Grundsatz zu jedem Zeitpunkt zwischen seinen Angriffen im Sinne des § 32 StGB Opfer einer Notstandstötung werden kann. Schroeders – wenngleich in Distanzierung signalisierende Anführungsstriche gesetzte – Formulierung, durch diese Judikatur werde er auch außerhalb seiner aggressiven Einzelakte „zum Abschuss freigegeben“,61 trifft durchaus den Kern und einen erheblichen Ansatz zur Kritik an ihr. Die Vorstellung etwa, der Familientyrann, der zwar regelmäßig Gewalt gegen seine Familie verübt, das aber verlässlich stets nur am Wochenende, könne auch an jedem anderen Wochentag getötet werden, auch etwa während er gerade irgendwo seiner Arbeit nachgeht, ist unerträglich. Das aber ist die Konsequenz der h. A., nimmt man ihre Annahme ernst, ein solcher Tyrann sei eine dauernde Gefahr, und zieht ihre nicht wirklich ernst genommene Forderung nach einem „Zwang zu sofortigem Handeln“ ab.62 Folgt man ihr demnach nicht, besteht also auf der Einhaltung der nach dem Gesetz engen zeitlichen Begrenzung privater Gewalt, kann es allerdings sowohl bei Wiederkehrangriffen wie bei den diskutierten Fällen von Präventivnotwehr63 eine „Verteidigungslücke“64 geben. Ob eine solche „Lücke“ sich tatsächlich so sehr von demjenigen Zustand unterscheidet, den der erfolgreich um sein Recht gebrachte Bürger nach dem vergeblichen Ausschöpfen aller Rechtsmittel zu dulden hat, kann hier nur in Frage gestellt, nicht beantwortet werden. Eine solche angenommene „Lücke“ zu schließen aber ist nicht Sache der Rechtsanwendung, sondern wäre eine des Gesetzgebers. Denn für eine Begründung von Straffreiheit etwa durch eine Analogie zugunsten der Täter ist eine analog anzuwendende Norm oder auch Normenmehrheit nicht in Sicht. Hält man also, was hier nicht ausgeschlossen werden soll, die ganze Härte des Gesetzes für falsch, so liegt, um einen in diesem Zusammenhang viel zitierten65 Ausdruck von Frisch aufzugreifen, der „Entscheidungszwang“66 beim Gesetzgeber.
61 Schroeder, FS Lackner, 1987, S. 665 ff., 672. Auch Roxin, FS Jescheck, 1985, S. 459 ff., 482 weist darauf hin – erkennbar als argumentum ad absurdum. 62 Als Mindestforderung, sei es an den Gesetzgeber, sei es an die angeblich das Gesetz auslegende Rechtsprechung, ist also zu verlangen, dass in Fällen von Wiederkehrangriffen neben der Feststellung „habituellen Handelns“ (Köhler, Strafrecht, AT, 1996, S. 289) eine Eingrenzung auf die zeitliche „Frische“ des letzten Angriffs vorgenommen wird. 63 Gleichgültig, ob man diese als Unterfall des § 34 StGB ansieht oder als Fall eines per analogiam gebildeten eigenen Rechtfertigungsgrundes. 64 Jakobs (Fn. 40), S. 391. 65 Z. B. Rudolphi, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 371 ff., 384; Pawlik (Fn. 19), S. 177. 66 Frisch, Vorsatz und Risiko, 1984, S. 428.
Zur Genese der Formel „das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ Von Urs Kindhäuser
I. Problemstellung Mit der Charakterisierung des Notwehrrechts als „schneidig“ und „scharf“ bringt die gängige Doktrin pointiert zum Ausdruck, dass sie die Befugnis zur Vornahme der Verteidigungshandlung (grundsätzlich) nicht für an eine relative Gleichwertigkeit des verteidigten und des angegriffenen Gutes gebunden hält; dem Wortlaut der Vorschrift des § 32 StGB sei jedenfalls unmittelbar kein Erfordernis einer Güterproportionalität zu entnehmen.1 Notwehr sei auch dann erlaubt, wenn sich der dem Angreifer zugefügte Schaden in keinem angemessenen Verhältnis zu der durch die Verteidigung zu verhindernden Schädigung bewege, sofern kein Mittel zur Verfügung stehe, um den Angriff bei gleicher Effizienz in weniger gravierender Weise niederzuschlagen. Mangels zu beachtender Güterproportionalität sei daher auch die Tötung eines Angreifers zum Schutze von Sachwerten dem Grunde nach zulässig. Da § 32 Abs. 2 StGB seinem Wortlaut nach zudem zur Abwendung des Angriffs ermächtigt und nicht etwa nur Verletzungen durch reine Schutzmaßnamen gestattet, wird von der h.M. der rechtfertigende Grund der Notwehrerlaubnis nicht allein im Güterschutz gesehen; bisweilen wird sogar der Gedanke des Güterschutzes für unbeachtlich erklärt.2 Auch (oder nur) stecke hinter der Erlaubnis zu einer vom Verhältnismäßigkeitsprinzip gelösten Trutzwehr der Zweck, mit der Abwendung des Angriffs die Rechtsordnung zu verteidigen. Eingekleidet wird diese als „überindividualistisch“ bezeichnete Konzeption in das Schlagwort, „das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“.3
1 Vgl. nur E 1962, BT-Drucks. IV/650, 157: Notwehr als für den „Einzelnen schneidiges und in der Rechtsüberzeugung des Volkes verwurzeltes Schutzrecht“; BGHSt 24, 356 (359); LK-StGB/Rönnau/Hohn, 11. Aufl. 2006, § 32 Rn. 2, 66 mwN. 2 So etwa Schmidhäuser, FS Honig, 1970, S. 185 (193 f.); ders., GA 1991, 97 (121 ff.). 3 Zu ausführlichen Darstellungen vgl. nur Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, S. 9 ff.; Haas, Notwehr und Nothilfe, 1978, S. 143 ff., 171 ff.; Kühl, JuS 1993, 177 ff.; Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 76 ff.; Wagner, Individualistische oder überindividualistische Notwehrbegründung, 1984, S. 21 ff.
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Die Argumentation, die zugunsten dieser Anreicherung des „individualistischen“ Schutzzwecks mit einer „überindividualistischen“ Zielrichtung angeführt wird, lautet im Wesentlichen: Ginge es nur um die Unversehrtheit des angegriffenen Gutes, so seien Maßnahmen reiner Sicherung – bis hin zur Flucht – gegebenenfalls effizienter als die gewaltsame Abwehr mit möglichem ungewissen Ausgang. Dass Trutzwehr stets und ungeachtet einer Obliegenheit zur Inanspruchnahme hoheitlicher Hilfe erlaubt sei, erkläre sich nur aus dem Prinzip, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen brauche, dass also neben dem Schutz des gefährdeten Gutes auch die Rechtsordnung in der Notwehrlage hic et nunc verteidigt werde.4 „Schneidig“ ist das Notwehrrecht nach der – allerdings nicht selten in Frage gestellten5 – vorherrschenden Auffassung noch in einer anderen Hinsicht: Der die Notwehrlage auslösende Angriff müsse zwar von einem Menschen stammen und ggf. auch Handlungsqualität aufweisen, brauche aber nur rechtswidrig und nicht auch „schuldhaft“ zu sein. Demnach kommen etwa auch Kinder, Geisteskranke, Betrunkene oder aus anderen Gründen unzurechnungsfähig Handelnde als „Angreifer“ im Sinne des Notwehrtatbestands grundsätzlich in Betracht.6 Das Unbehagen an der so interpretierten „Schneidigkeit“ der Notwehrbefugnis lässt sich seit der Geburt dieses Rechtfertigungsgrundes heutiger Prägung im preußStGB an vielerlei Stellungnahmen und Reformvorschlägen ablesen, die in der unbeschränkten Weite teils einen rechtshistorisch inadäquaten Fremdkörper, teils eine ungerechte „Totschlagsnorm“ sahen.7 Bemühungen, der Notwehrvorschrift in der heutigen Gestalt Grenzen zu ziehen, reichen vom sog. Radbruch-Entwurf von 19228 über den Rückgriff auf das gesunde Volksempfinden in der nationalsozialistischen Zeit (im Entwurf 1936)9 bis zu den heute weithin anerkannten sozialethischen Schranken.10 Doch diese Grenzen sind an die Notwehrbefugnis von außen herangetragen worden und stehen deshalb auch mehr oder weniger im Verdacht, mit dem Analogiever-
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Vgl nur Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 2. Hierzu Bernsmann, ZStW 104 (1992), 290 ff.; Schroeder, FS Maurach, 1972, S. 127 ff. 6 Vgl. Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 10 mit umf. Nachw. 7 So Geyer, in: Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, 1877, S. 94; vgl. auch Geyer, GS 1873, 1 (14): „Als ob ein besonderer Muth dazu gehörte, einem mit der gestohlenen Sache fliehenden Dieb eine Kugel in den Leib zu jagen! Um ein solches Heldenstück zu vollführen bedarf es keiner Idealität und keiner Poesie des Charakters, sondern einer Gesinnung, welcher die Seligkeit des Habens höher steht als ein Menschenleben.“ 8 Hierzu Schubert/Regge, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, I. Abt., Bd. 1, 1995, S. 147. 9 Hierzu Schubert/Regge (Fn. 8), II. Abt., Bd. 1, 1. Teil, 1988, S. 412, 2. Teil, 1990, S. 1, 28; vgl. auch Klee, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1935, S. 75 ff. 10 Überblick bei Fasten, Die Grenzen der Notwehr im Wandel der Zeit, 2011, S. 63 ff.; Grünewald, ZStW 122 (2010), 51 (67 ff.). 5
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bot zu kollidieren.11 Da berechtigte Notwehr gegen befugt ausgeübte Notwehr nicht möglich ist, berührt jede Ausweitung oder Restriktion der Befugnis auf Seiten des Verteidigers die (im Regelfall strafrechtlich relevante) Rechtsposition des Angreifers mit umgekehrtem Vorzeichen. Sozialethische Grenzen mögen zwar ein hilfreiches Vehikel sein, um eklatanten Fällen inadäquater Notwehrausübung die Berechtigung zu versagen, sie verdeutlichen aber nur, dass die Begründung der Notwehr selbst in manchen Bereichen auf schwachem Fundament steht. Die Notwehrbefugnis scheint mehr zu erlauben, als ihr rechtlich gesicherter Boden zu (er)tragen vermag. Das verwundert umso mehr, als es gerade die Rechtsbewährung sein soll, die der Notwehr ihre „Schneidigkeit“ verleiht. Denn die Rechtsordnung soll ja unter Missachtung eines ihrer elementaren Prinzipien verteidigt werden dürfen; das hier verdrängte Gebot der Verhältnismäßigkeit ist eines der Fundamente des Rechtsstaats. Angesichts dieser dogmatischen Unsicherheit mag es lohnen, einen genaueren Blick auf die Genese der Formel zu werfen, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen brauche. Obgleich diese Formel Ausdruck nachgerade einer analytischen Selbstverständlichkeit zu sein scheint, die der Notwehr vermeintlich den Charakter eines fundamentalen Rechtsprinzips,12 wenn nicht sogar naturrechtliche Dignität13 verleiht, ist sie alles andere als klar. Um welches Recht soll es sich hier handeln, das sich dem Unrecht entgegenstellt – das Recht seiner Idee nach, die Rechtsordnung oder das in concreto tangierte subjektive Recht? Und welches Unrecht greift hier an: Erfolgsunrecht, Handlungsunrecht oder zurechenbare Pflichtwidrigkeit? Albert Friedrich Berner selbst, auf den die Formel zurückgeht, wollte mit ihr eine in das System der Notrechte eingepasste und insoweit eher restriktive Konzeption der Notwehr zum Ausdruck bringen, die wenig mit einer schneidigen Totschlagsnorm14 zu tun hat.
II. Notwehr als rechtliche Konfliktlösung 1. Dass Berner schwerlich als Gewährsmann einer überindividualistischen Konzeption herhalten kann, lässt sich bereits dem Satz entnehmen, aus dem das gängige Zitat herausgeschnitten ist: „Wenn der Grund des Nothwehrrechtes darin liegt, daß 11
Vgl. nur Bülte, GA 2011, 145 (161 ff.). Nach NK-StGB/Herzog, 3. Aufl. 2010, § 32 Rn. 1, ist § 32 die kodifizierte Fassung dieses „althergebrachten Rechtsgrundsatzes“; für Maurach/Zipf, Strafrecht, AT I, 8. Aufl. 1992, § 26 Rn. 11, ist die Notwehr „der eindeutigste, handgreiflichste Fall eines Rechtfertigungsgrundes“. 13 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S. 336 f.; für Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht systematisch dargestellt, Bd. I, 1881, S. 477, ist die Notwehr ein angeborenes Urrecht des Menschen; ähnlich v. Jhering, Der Kampf ums Recht, 4. Aufl. 1874, S. 90; Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, S. 733, begreift die Notwehr als ein „allgemeines Recht aller“, das bereits „vor dem Staate“ bestanden habe; mit dem Staat sei nur ein neues Subjekt dieses Rechtes erwachsen. 14 Ohnehin kritisierte der an Hegel orientierte Berner ganz entschieden die Todesstrafe, vgl. Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 6. Aufl. 1872, S. 232 ff. 12
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das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht: so resultirt hieraus offenbar nicht blos ein Notwehrrecht für sich selbst, sondern auch für jeden Fremden, dessen Recht angegriffen wird. […] Es ist das bedrohte Recht, welches zu vertheidigen ein Jeder das Recht hat.“15 Und Berner fährt fort: „Was diejenige Person anbelangt, gegen die man sich vertheidigt: so kann hier gar kein Unterschied zugelassen, gar kein Ansehen der Person anerkannt werden. Gegen Jeden, der mein Recht angreift, repellirt dies Recht durch meine Fäuste.“16 Ersichtlich ist hier nicht die Rede von „dem“ Recht im Allgemeinen oder gar von einer Verteidigung der Rechtsordnung insgesamt, sondern nur vom Schutz der konkreten Rechtsposition, welcher der Angriff gilt. Die Notwehrdogmatik hat Berner vor allem zweierlei zu verdanken, zum einen eine klärende Abgrenzung zum (aggressiven) Notstand, zum anderen den gewichtigen Versuch, die Struktur der Notwehr rein rechtlich (und damit etwa frei von psychologisierenden Elementen wie dem Selbsterhaltungswillen) zu durchdenken. Zur Grenzziehung zwischen Notstand und Notwehr trägt Berner zunächst den Gedanken bei, dass die Notwehr der Abwendung von Unrecht (durch ein denkendes und damit zurechnungsfähiges Wesen) dient, während beim Notstand Rechte kollidieren. Er bringt die Differenz auf die Formel: „Im Nothstande steht dem Rechte ein anderes Recht, in der Nothwehr aber das Unrecht gegenüber“.17 Das soll heißen: „Es ist bei einem Nothrechte ein höheres Recht, vorzugsweise das Leben, das sich auf Kosten eines geringeren Rechtes zu erhalten sucht. Es ist in der Nothwehr das angegriffene Recht, welches sich gegen das angreifende Unrecht behaupten will.“18 Berner begreift jedoch nicht nur, wie diese Definition zeigt, die Notwehrsituation als einen Angriff auf ein konkretes Recht, sondern er will diesen Konflikt auch mit Hilfe rechtlicher Regeln beheben. Das dogmatische Potenzial, das in diesem Vorgehen steckt, ist beträchtlich; es eröffnet die Berücksichtigung allgemeiner Rechtsprinzipien bei der Lösung der notwehrspezifischen Güterkollision. Die Position Berners, der zufolge die Notwehrsituation als ein rein rechtlich zu bewertender Konflikt zu behandeln ist, dessen Lösung in der Erlaubnis zur effizienten Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs besteht, bedarf der Abgrenzung gegenüber zwei konkurrierenden Lehrmeinungen seiner Zeit. Der eine Ansatz entspricht einem naturrechtlichen Verständnis, das in seinen Wurzeln zu Hobbes reicht und den Notwehrkonflikt in den „Naturzustand“ verlagert. Der andere Ansatz geht auf eine (Fehl-)Deutung der Konzeption Hegels zurück und begreift die Notwehr als Verteidigungspflicht zur Vernichtung des Unrechts. 2. In seinem Argumentationsgang skizziert Berner bei der Darstellung der erstgenannten Gegenauffassung zunächst eine Begründung der Notwehr auf dem Boden der Sozialvertragslehre, derzufolge sich die Bürger jeder Gewalt – auch jener zum 15
Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 547 (562). Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 547 (562). 17 Berner, Lehrbuch des Strafrechts, 18. Aufl. 1898, S. 107. 18 Berner (Fn. 17); ders., Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 554, im Anschluss an Abegg. 16
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Schutz der eigenen Rechte – begeben. Der Verzicht steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass der Staat den Schutz ausüben will und kann. „Wo nun der Staat das Recht nicht mehr zu schützen vermag, da fällt der Grund hinweg, weshalb der Bürger sich des eigenmächtigen Rechtsschutzes begeben hat, und mit dem Grunde – auch das Begründete. Somit lebt das natürliche Recht auf eigenmächtigen Rechtsschutz überall wieder auf, wo der Staat nicht zu schützen im Stande ist.“19 „Denn“, so ist bei Thomas Hobbes zu lesen, „das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anderes dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden.“20 Doch welche Befugnisse entstehen bzw. leben wieder auf, wenn staatlicher Schutz nicht erreichbar ist? Eine Antwort könnte sich prima facie bei Feuerbach finden lassen, der die Notwehr in ähnlicher Weise zu begründen versucht: „[…] ein rechtswidriger Angriff begründet das Recht der Vertheidigung und hebt unmittelbar in dem Angreifer jedes Recht auf, dessen Verletzung nothwendige Bedingung zur Erhaltung der eigenen Rechte des Angegriffenen ist. Weil aber der Staatsbürger sein Recht auf Privatgewalt nothwendig dem Staate übertragen hat, so setzt die Rechtmäßigkeit der Selbstvertheidigung im Staate, ausser den Gründen zur Vertheidigung überhaupt, einen Fall voraus, auf welchen sich die Entäusserung der Privatgewalt an den Staat nicht erstrecken konnte. Dieser Fall ist, wo die öffentliche Macht nicht schützen kann.“21 Hieraus schließt Pawlik, dass Feuerbach die Notwehr als einen Zustand suspendierter Rechtlichkeit begreife.22 In der Konsequenz sprenge die einmal akzeptierte hobbesianische Begründungslogik sämtliche normativen Residuen auf; im Naturzustand mache der Angegriffene nämlich nicht etwa sein Notwehrrecht geltend, sondern sein normativ wertloses Recht auf alles. Und dieses Recht auf alles teile er mit dem Angreifer, so dass beide Konfliktparteien ihrer Rechte verlustig gingen. In einer hobbesianisch inspirierten Notwehrkonzeption werde Rechtlichkeit nicht bestätigt oder wiederhergestellt, sondern insgesamt eskamotiert.23 Diese Folgerungen lassen sich jedoch schwerlich aus Feuerbachs Text ableiten.24 Denn Feuerbach spricht von der Rechtmäßigkeit der Notwehr im Staat, nicht im Naturzustand. Ferner zeigt er die Bedingungen auf – u. a. Schädigung eines unersetzlichen Gutes oder unwiederbringlicher Verlust, kein milderes Verteidigungsmittel –, in deren Grenzen die Ausübung der Notwehr rechtlich sei.25 Sodann wären seine Ausführungen über die Rechtswidrigkeit des Exzesses bei Überschreitung der gesetzli19
Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, S. 555 f. Hobbes, in: Fetscher (Hrsg.), Leviathan, 1984, 21. Kap. S. 171. 21 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 11. Aufl. 1832, § 36. 22 Pawlik, ZStW 114 (2002), 259 (279). 23 Pawlik, ZStW 114 (2002), 259 (280 f.). 24 Köstlin, System des deutschen Strafrechts, Abt. I, AT, 1855, S. 76, jedenfalls, den Pawlik zustimmend heranzieht, unterstellt Feuerbach keine solch radikale Position. 25 Feuerbach (Fn. 21), § 38. 20
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chen Grenzen der Notwehrausübung unverständlich,26 wenn die Notwehr ein Kampf im Naturzustand ohne (positiv-)rechtliche Schranken wäre. Schließlich kann auch aus der Formulierung, dass das Recht der Verteidigung unmittelbar in dem Angreifer jedes Recht aufhebe, nicht auf dessen Rechtlosstellung geschlossen werden. Feuerbach muss vielmehr die Notwehr seinem Verständnis des Verbrechens als Rechtsverletzung27 anpassen: Damit die Verteidigung nicht rechtswidrig ist, darf in ihr keine Rechtsverletzung des Angreifers liegen. Insoweit begibt sich der Angreifer durch die von ihm ausgehende Gefährdung der Rechte des Angegriffenen genau der Rechte – und nicht mehr und nicht weniger –, in die der Angegriffene zur wirksamen Verteidigung eingreifen muss. Wäre Feuerbach – modern gesprochen – von kollidierenden Rechtsgütern statt von kollidierenden Rechten ausgegangen, wäre bei ihm von einem Güter- und nicht von einem Rechtsverlust des Angreifers die Rede gewesen. Die Ansicht, im Falle der Notwehr sei für den Angegriffenen der Staat nicht mehr vorhanden, kann zwar kaum Feuerbach zugeschrieben werden kann, ist aber gleichwohl vertreten worden, etwa von Grävell: „Indem der Mensch sich unter den Schutz der Staatsgewalt begiebt, entsagt er dem eigenen Richteramte, das ihm aus natürlichem Recht zusteht, und erwartet allen Schutz vom Staate, in so weit er von diesem geschützt werden kann. In so fern aber der Schutz des Staats nicht zu erhalten ist, hört factisch und von selbst das ganze Rechtsverhältnis des Staats eben so auf, wie es von selbst entsteht. Der Schutzlose tritt in den Stand der Natur zurück, und ist vollkommen berechtigt, sich selbst durch eigne Kraft und Gewalt so lange zu vertheidigen, bis der Staat ihm wieder zu Hülfe kommen kann. Nach dem Rechte der Natur aber ist Jedermann bekanntlich befugt, jedwede Verletzung seines Rechtszustandes durch Gewalt abzutreiben, und er ist darüber ein eigner und alleiniger Richter, wie und auf welche Weise solches am sichersten geschehen könne, jedoch unter der Einschränkung, daß er nicht größere Gewalt gegen den anderen brauche, als zur Abwendung des Schadens erforderlich ist. Innerhalb dieser Gränze aber ist ihm jedes Mittel für seinen Zweck gestattet“.28 Treffend fasst Köstlin den entscheidenden Schwachpunkt dieser Überlegungen in einem Satz zusammen: Werde „die Notwehr nicht als Recht, sondern nur als faktische Gewalt legitimiert“, so käme, „da die Aufhebung des Rechtszustandes vorausgesetzt wird, dieselbe Betrachtung dem ungerechten Angreifer zu gut, falls er die größere physische Macht hätte.“29 Für Berner jedenfalls steht außer Frage, dass auch in der Notwehrsituation die Möglichkeit der Koexistenz, auf 26
Feuerbach (Fn. 21), § 39. Vgl. insoweit auch die kritische Note von Mittermaier zu § 36 in der 14. Auflage des Lehrbuchs von 1847. 28 Grävell, Neues Archiv des Criminalrechts, III, 1820, 189 (280 f.); in diesem Sinne versteht Welcker, in: Rotteck/Welcker (Hrsg.), Staatslexikon, 1841, Bd. 11, S. 649 f., die Notwehr als „allgemeines natürliches Freiheitsrecht, nicht etwa als eine vom Staat geschaffene Erfindung“; vgl. auch Marezoll, Das gemeine deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren deutschen Strafgesetzgebungen, 2. Aufl. 1847, § 25 S. 83. 29 Köstlin (Fn. 24), S. 76. Zur „Totschlagsmoral“ eines so verstandenen „Naturrechts“ vgl. auch Fries, Philosophische Rechtslehre, 1803, S. 26. 27
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welcher der Rechtszustand beruht, nicht aufgehoben werden darf, Notwehr vielmehr Rechtsausübung ist.30 3. Berner wendet sich aber auch gegen die Auffassung, wonach das Unrecht das Unvernünftige schlechthin ist und daher von der Vernunft – dem Recht – vernichtet oder jedenfalls beherrscht werden soll, Notwehr gegen einen vernunftwidrigen Angriff mithin notwendig sei.31 Denn wenn man ein Gut in sittlicher Weise verschenken kann, so Berner, dann kann man es sich auch in sittlicher Weise nehmen lassen. Notwehr sei daher keine Pflicht, sondern nur ein Recht des Bürgers. Es sei nicht erkennbar, wann die Vernichtung des Unvernünftigen beendet sein solle. Auch der fliehende Dieb, der die Beute zurückgelassen habe, müsse verfolgt werden, wenn er anderenfalls straflos bliebe. Und wenn in der (erfolgreichen) Notwehr bereits die Vernichtung des Unvernünftigen liege, so dürfte der im Wege der Notwehr verletzte Angreifer nicht mehr bestraft werden.32 Berner verwirft diese Ansicht, weil sie nicht zwischen dem sich gegen das Unrecht erhaltenden (verteidigenden) und dem das Unrecht vernichtenden Recht unterscheide, sieht jedoch die Notwehr gleichwohl darin begründet, dass „das Unrecht das Nichtige, das Recht hingegen das Substantielle sei“.33 „Es wäre Unrecht, wenn das Recht dem Unrecht weichen müßte; es würde aber ohne die Befugnis des eigenmächtigen Schutzes in demjenigen Falle weichen müssen, wo der Staat nicht schützt.“34 Hinter diesen Überlegungen steckt erkennbar Hegels Gegenüberstellung von der Wirklichkeit des staatlichen Rechts und der Unwirklichkeit des Unrechts. Unrecht ist hiernach Schein, der zwar in sich nichtig und wesenlos ist, aber gleichwohl ein Dasein hat und deshalb der Negation durch Aufzeigen seiner ontologischen Inadäquanz gegenüber der Wirklichkeit des Rechts bedarf.35 Die Notwehr wird von Berner – wie auch von anderen Hegelianern36 – als eine Form der Negation von Unrecht angesehen, aber dies heißt eben auch und gerade, dass die Verteidigung keineswegs als bloß faktisch zu realisierende Abwehr missverstanden werden darf, sondern die von einer rechtserheblichen Negation zu erwartende Qualität aufweisen muss. Sie ist Gewalt, durch die nach Form und Inhalt Recht ausgedrückt und verwirklicht wird. Wenn man sein Recht, um mit Berner zu sprechen, in sittlicher Weise verschenken und sich nehmen lassen kann, so darf man es freilich auch nur in sittlicher Weise verteidigen. 30
Vgl Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 556, 569 ff.; ders. (Fn. 17), S. 108 f. Insoweit wäre auch die gesetzliche Formulierung von der „gebotenen Notwehr“ wörtlich zu nehmen. 32 Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 557. 33 Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 557. 34 Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 557 f. 35 Hegel, in: Moldenhauer/Michel (Hrsg.), Werke, Bd. 7, 1986, § 97. 36 Vgl. nur Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, S. 169; Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, 6. Aufl. 1857, S. 41; Köstlin (Fn. 24), S. 75 f.; Levita, Das Recht der Nothwehr, 1856, S. 18 f., 105. 31
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Jenseits Hegelscher Metaphysik dürfte in der Qualifizierung der Verteidigung als Ausdruck normativer Negation von Unrecht die dogmatisch maßgebliche Basis für eine dem Stand der Rechtsentwicklung anzupassende Deutung der Notwehr liegen. Notwehr lässt sich als Form der Rechtsausübung nur unter Berücksichtigung ihrer rechtlichen Dimension adäquat erfassen. Wie Strafe in ihrer rechtlichen Dimension nicht Rache oder Genugtuung, sondern rechtsförmig gebundene Restitution von gebrochenem Recht ist, so ist Notwehr rechtsförmig gebundene Verteidigung von Recht, und zwar eines konkret angegriffenen Rechts. Berners Konzeption ist daher nicht in dem Sinne überindividualistisch, dass sie die Notwehr als eine Verteidigung der Rechtsordnung interpretierte.
III. Die Bewertung der beiden Seiten des Konflikts 1. Dass Berner gleichwohl als Gewährsmann einer überindividualistischen Notwehrbegründung (miss)verstanden werden kann, liegt an seiner rigoros ungleichen Bewertung der beiden Seiten des Konflikts. Da er nur dem Recht substantielle Existenz zuspricht, muss er lediglich den Notstand nach materialen Bewertungskriterien lösen: Vorrang hat das gewichtigere Recht. Bei der Notwehr stellt sich ihm aber unter Zugrundelegung der Hegelschen Negationsontologie die Bewertungsfrage nicht mehr: Der Angriff hat als Unrecht keine (Daseins)Berechtigung und ist damit ein Nichts, das dem angegriffenen Recht zu weichen hat, gleich welches Gewicht dieses Recht auch immer hat. Als Recht hat das angegriffene Recht per se Substanz im Gegensatz zu dem Nichts des Angriffs, mit der Konsequenz, dass jedes Recht – und Berner wird nicht müde, dies zu betonen – auch notwehrfähig ist.37 Ob das Gut, das Gegenstand des Rechts ist, individueller oder kollektiver Natur ist, ob es unersetzlich, höchstpersönlich oder übertragbar ist – als dies spielt für ihn keine Rolle. Und auf der Gegenseite ist der durch die Verteidigung angerichtete Schaden ohne Belang, denn nicht die Güter stehen sich gegenüber, sondern die Substanz des verteidigten Rechts und das Nichts des angreifenden Unrechts – hier gibt es nichts abzuwägen.38 2. Wie schon der Hinweis auf Feuerbach zeigte, hat auch die Strafrechtsdoktrin in der Nachfolge Kants keinen Blick für das Gewicht der kollidierenden Güter, wenn auch aus anderen Gründen. Die formale Schwarzweißmalerei resultiert hier nicht aus einer Negationsmetaphysik, sondern aus der radikalen Reduktion des Rechts auf die Aufgabe, negative Freiheit zu sichern.39 Da Kant schon ein Recht auf Notstandseingriffe verwirft, dem Rechtsgedanken also das Moment der Solidarität völlig 37
Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 562 ff.; ders. (Fn. 17), S. 110 ff. Ob dies, was Pawlik (ZStW 114 (2002), 259 [290 ff.]) bestreitet, eine Konsequenz aus Hegels eigenem Verständnis der Notwehr ist, mag hier dahinstehen. Denn in die strafrechtliche Notwehrdogmatik hat Hegels Denken über die Hegelianer Eingang gefunden, die der Hegelschen Ontologie die völlige Irrelevanz einer Güterabwägung entnahmen. 39 Zur bekannten Kritik aus Hegels Sicht vgl. Hegel (Fn. 35), § 29 A S. 80 f. 38
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entzieht,40 kann er erst recht die Notwehr nicht durch eine „Anempfehlung der Mäßigung“ begrenzt sehen; diese gehöre vielmehr „nur zur Ethik“.41 Der Begriff des subjektiven Rechts42 ist nach Kant analytisch mit der Befugnis verknüpft, „den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen“.43 Sofern sich eine Person44 im Recht befindet, also ihre Willkür in Einklang mit dem Verallgemeinerungsprinzip des Rechtsgesetzes ausübt, darf ihre Behinderung durch Willkür, die dem universalistischen Maßstab nicht entspricht, als Unrecht mit Zwang – und das heißt: gewaltsam – zurückgewiesen werden. Aus diesem Ansatz ergibt sich allerdings nicht mehr und nicht weniger als die Rechtfertigung von Zwang zur Sicherung rechtlich begründeter Freiheit.45 Für unsere Thematik lässt sich daraus allenfalls ableiten, dass die Notwehrlage als Störung des Rechtsverhältnisses zwischen Angreifer und Angegriffenem zu verstehen ist und die Ausübung von Notwehr damit der äußeren Restitution des rechtmäßigen Zustands dient.46 Ferner wird mit der Verteidigung des angegriffenen Rechts auch dessen Geltung als Recht gesichert, womit in der Konsequenz wiederum jedes Recht per se notwehrfähig ist. Unter welchen Bedingungen dem Einzelnen eine Notwehrbefugnis zusteht und in welchem Umfang er sie ausüben darf, lässt sich nur aus praktischen und systematischen Erwägungen mit Blick auf die Rechtslehre Kants insgesamt erschließen. Zunächst ergibt sich aus dem Entscheidungs- und Exekutionsvorrang des Staates47 eine prinzipielle Subsidiarität privater Notwehrbefugnis. Sodann muss die Verteidigungshandlung den Anforderungen eines universalisierbaren Maßstabs standhalten, sich also auf das zur effizienten Herstellung des Rechtszustandes Notwendige beschränken. Keinesfalls lässt sich der kantischen Position dagegen das Erfordernis bloßer Gütersicherung entnehmen. Schon ein Ausweichen wäre ja eine Einengung berechtigter Willkür, zu welcher der Angegriffene nicht gezwungen werden darf.48 Ferner 40 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe Band VI, § B zur „Einleitung in die Rechtslehre“, S. 230. 41 Kant (Fn. 40), Anhang II zur „Einleitung in die Rechtslehre“, S. 235. Die zitierte Stelle sollte freilich nur mit großer Vorsicht zur Basis einer allgemeinen kantischen Lehre der Notrechte gemacht werden: Kant diskutiert sowohl beim Notstand als auch bei der Notwehr nur Lebensgefahren, und in diesen Fällen wird man auch nach heutigem Verständnis weder eine Notstandsrecht noch eine Beschränkung der Notwehr bejahen. 42 Zur Deutung des Rechts als subjektives Recht (als legitimen Anspruch) Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 1990, S. 140. 43 Kant (Fn. 40), § D zur „Einleitung in die Rechtslehre“, S. 231. 44 Hierzu Kant (Fn. 40), S. 223. 45 Die maßgebliche Stelle lautet wörtlich: „[…] wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d.i. recht“, Kant (Fn. 40), § D zur „Einleitung in die Rechtslehre“, S. 231. 46 Pawlik, ZStW 114 (2002), 271. 47 Kant (Fn. 40), § D zur „Einleitung in die Rechtslehre“, §§ 44 f., S. 312 f. 48 Hierzu Pawlik, ZStW 114 (2002), 273 mwN.
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lässt die formale Bezugnahme auf das Recht keine Gewichtung nach seinem Gegenstand zu; in der Notwehrsituation stehen sich nur Recht und Unrecht gegenüber, wobei weder das Recht noch das Unrecht bewertende Differenzierungen zulassen. Welche Konsequenzen lassen sich aus diesen Prämissen ziehen? Auf den Zusammenhang zwischen der Zwangsbefugnis kraft Innehabens eines subjektiven Rechts und der Notwehrbefugnis haben sich Autoren in der mehr oder weniger engen Nachfolge Kants berufen, um sich gegen eine Berücksichtigung des Gewichts der kollidierenden Güter auszusprechen. Beispielhaft hierfür ist der Argumentationsgang im Naturrechtslehrbuch des Kantianers v. Gros, der zunächst festhält, dass mit einem Recht seinem Begriffe nach immer auch eine Befugnis zu zwingen verbunden sei.49 Demnach ist Zwang „rechtmäßig, wenn derselbe zum Schutz der Rechte nothwendig ist. Soweit der Grund reicht, reicht auch das Begründete; der Beleidigte darf daher gegen seinen Beleidiger in jedem Fall soviel, aber auch nur so viel Zwang gebrauchen, als zum Schutz des verletzten oder angegriffenen Rechts nothwenig ist.“50 Daraus folgert Gros, dass es „auf eine Proportion zwischen der Größe des Guts, welches geschützt werden soll, und der Größe des Uebels, welches dem Beleidiger zugefügt wird“, nicht ankomme – „abgesehen von Gründen der Moral und der Klugheit“. Denn die Befugnis zum Zwang stehe „dem Berechtigten zu, um sein Recht als Recht zu schützen“; mithin könne „der Grad des zuzufügenden Zwanges nicht von der Materie des Rechts abhängen.“ In diesem Sinne könne „man sagen: das Recht des Beleidigten ist unendlich (jus belli est infinitum)“.51 Was in Kants Darlegungen fehlt – der Schritt von der begrifflichen Verbindung von Recht und Zwangsbefugnis zur Notwehrbefugnis der angegriffenen Person selbst –, liefert Gros auf dem Boden der Sozialvertragslehre: „Durch den Staatsvertrag hat jeder Bürger sich des Rechts der Selbstvertheidigung begeben, und den Schutz seiner Rechte an die Staatsgewalt übertragen. Nur unter Umständen, wo die öffentliche Macht nicht wirken kann, um einem Bürger gegen widerrechtlichen Angriff Hülfe zu verschaffen, tritt das Recht der Selbsthülfe (unter dem Namen des Rechts der Nothwehr) wieder ein.“52 Es mag erstaunen, dass in diesem Zusammenhang die Frage, in welchem Maße der Angreifer für sein gefährdendes Verhalten verantwortlich ist, für den Verlust seines Rechts, durch die Verteidigung nicht seinerseits verletzt zu werden, keine Rolle zu spielen scheint. Jedenfalls beruht die wohl „schneidigste“ Notwehrkonzeption überhaupt auf dem Gedanken der Verteidigung des angegriffenen subjektiven Rechts, hat also, wenn man so will, eine „individualistische“ Begründung.53 49
Gros, Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft oder des Naturrechts, 6. Aufl. 1841, § 29. 50 Gros (Fn. 49), § 95. 51 Gros (Fn. 49), § 96. 52 Gros (Fn. 49), § 312. 53 Ob damit Kant selbst adäquat interpretiert wird, mag dahinstehen. Pawlik, ZStW 114 (2002), 275 f., leitet aus der Zurechnungslehre Kants durchaus plausibel ab, dass Zwangs-
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3. Besonders deutlich kommen die geistigen Strömungen der Zeit, nach denen die Position des Angreifers als quantité négligeable eingestuft wird, in der Notwehrkonzeption von Levita zum Ausdruck, der zugleich auch die weitere dogmatische Entwicklung entscheidend geprägt haben dürfte. Levita klärt zunächst das häufig im Unklaren gelassene Verhältnis von Staat und Einzelnem bei der Verteidigung von Rechten: Beide seien „Werkzeuge, durch welche das Recht seine Anerkennung durchsetzt“; beide seien aber auch „zu diesem Zwecke in gleicher Weise nothwendig“.54 Die primäre Zuständigkeit zur Sicherung von Rechten liege beim Staat; sofern dieser jedoch von zukünftigem Unrecht nichts wisse, müsse es „im Staat und durch den Staat eine Reaction geben“, anderenfalls werde Unrecht zu Recht. Diese Reaktion erfolgt „durch die persönliche Kraft des Individuums zu ihrem eigenen Schutze und damit zur Durchsetzung des Rechtes selbst gegen das Unrecht“.55 Der Einzelne tue dies „kraft seines ursprünglichen Vertheidigungsrechtes“, welches der Staat da anerkennt oder anerkennen müsse, „wo seine schützende Gewalt dem Unrecht zu begegnen nicht imstande ist.“ Daraus folgert Levita: „Die Nothwehr ist demnach das dem Individuum gegen drohendes, durch die Macht des Staates nicht abwendbares Unrecht zu seinem eigenen oder dem Schutz eines Dritten zustehende Recht der Vertheidigung“.56 In Übereinstimmung mit den Hegelianern57 deutet auch Levita die Notwehr nicht als Kollision von Rechten gleicher oder verschiedener Stärke, wie beim Notstand. Von einer Kollision könne nämlich „da nicht geredet werden, wo das Recht dem Unrecht sich entgegenstellt.“ Denn das Unrecht sei, „weil das Recht absolut unaufhebbar (sei), an sich nichtig“ und müsse „in seiner Nichtigkeit manifestirt werden. Hierin, in dieser Nichtigkeit des Unrechts, welches zwar eine äußerliche Existenz, aber eine in sich nichtige“ habe, wurzele „das Recht des Staates zu strafen, das Recht des Einzelnen zur Nothwehr“.58 Mit der These, dass sich staatlicher Strafanspruch und privates Notwehrrecht aus derselben Quelle speisten, muss Levita freilich eine Antwort auf die heikle Frage geben, warum Strafe strengen Maßstäben – vor allem dem Schuldgrundsatz und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip – unterliegt, während die Notwehrbefugnis „unmaßnahmen (ohne Güterproportionalität) nur gegen verantwortlich handelnde Angreifer unbeschränkt zulässig seien. 54 Levita (Fn. 36), S. 18. 55 Levita (Fn. 36), S. 18; zu einer neueren Variante des Subsidiaritätsgedankens Renzikowski (Fn. 3), S. 237. 56 Levita (Fn. 36), S. 18 f.; ähnlich die Argumentation zur Notwehr bei Glaser, Gesammelte kleinere Schriften über Strafrecht, Civil- und Strafprocess, 1868, S. 199 ff. Das Erfordernis der Subsidiarität gehörte (vor allem in den Schriften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) nicht selten zu den Definitionsmerkmalen der Notwehr, vgl. nur Bauer, Grundlinien des philosophischen Criminalrechts, 1825, § 18; ders., Lehrbuch des Naturrechts, 3. Aufl. 1825, § 242; Marezoll (Fn. 28), § 25 S. 83. 57 Levita sieht sich vor allem Köstlin verpflichtet, (Fn. 36), S. 19 Fn. 23. 58 Levita (Fn. 36), S. 17 f.
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endlich“ und an keine Proportion gebunden sein soll. Die Begründung fällt dürftig aus: Notwehr „ist nicht Strafe, weil sie von einem Individuum ausgeht, und als Vertheidigung gegen ein erst drohendes, mithin maßloses Unrecht nicht an das Princip der Wiedervergeltung gebunden sein kann“.59 Als weiteres Argument wird angeführt, dass die Bedrohung durch den Angriff nicht wie die Verletzung bereits eine Wirkung habe, sondern nur auf die Möglichkeit einer Wirkung gerichtet sei, so dass es bei ihr nicht auf die innere Beschaffenheit der Handlung selbst, sondern bloß auf ihre äußere Gestalt ankomme.60 Demnach dürften bei der Notwehr zum Aufweis der Nichtigkeit des rechtswidrigen Angriffs Mittel – wie Körperverletzung oder gar Tötung – ergriffen werden, die jedenfalls nach heutiger Rechtslage als strafende Sanktion zur Bewährung von Normgeltung von vornherein ausscheiden. Im Übrigen müsste nach dieser Logik der Versuch (erheblich) härter bestraft werden als die Vollendung, wenn die Reaktion zum Aufweis der Nichtigkeit von Unrecht bei einer potenziellen Verletzung schärfer ausfallen dürfte als die Reaktion bei einer eingetretenen Schädigung. Wenig plausibel erscheint es auch, aus dem Umstand, dass eine Verletzung möglich ist, auf die mangelnde Messbarkeit des drohenden Unrechts zu schließen; das Ausmaß drohender Schäden samt entsprechender Verantwortung lässt sich durchaus prognostizieren. Bei der Strafe wird der Zusammenhang zwischen dem Unrecht der Straftat und dem Übel der Strafe durch die symbolische Erklärung vermittelt, dass der deliktische Eingriff in die Freiheit anderer ausgeglichen werden soll durch Freiheitsentzug oder den Entzug der im Geld verkörperten Chance auf freie Entfaltung. Wird dagegen Notwehr durch eine Verletzung oder gar Tötung des Angreifers ausgeübt, kann hierin keine Manifestation der mangelnden Daseinsberechtigung des Angriffs gesehen werden. Dem Zusammenhang fehlt jede symbolische Bedeutung. Aus der zutreffenden Einsicht, dass das Wiedervergeltungsprinzip auf die Notwehr nicht anwendbar ist, ergibt sich somit nicht nur das Fehlen61 eines Strafe und Notwehr verknüpfenden Bandes, sondern auch die Notwendigkeit einer Begründung dafür, dass der Angreifer nicht nur die gewaltsame Abwehr seiner verbotenen Handlung, sondern auch eine – gegebenenfalls bis zur Existenzvernichtung reichende – Einbuße an Gütern hinzunehmen haben soll, sofern sein Verhalten nicht anderweitig unterbunden werden kann.62 Eine solche Begründung liefert Levita nicht. Die Anerkennung des Rechts der Persönlichkeit des Angegriffenen, anderweitig nicht zu vermeidendes Unrecht von 59
Levita (Fn. 36), S. 19; zur Kritik solcher Argumente vgl. auch Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, 1985, S. 164 f. 60 Levita (Fn. 36), S. 19 Fn. 22. 61 Wenn man von der formalen Gemeinsamkeit absieht, dass sich beide Reaktionen auf rechtswidriges Verhalten beziehen. 62 Eine einsame Gegenposition findet sich bei Krug, Naturrechtliche Abhandlungen oder Beiträge zur natürlichen Rechtswissenschaft, 1811, S. 31: Sofern nicht die Vernichtung allen Rechts drohe, dürfe der Angegriffene dem Angreifer auch nicht „eine solche Gewalt entgegensetzen dürfen, welche alles Recht auf Seiten des Beleidigers vernichten würde“.
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sich abzuwehren, verlangt seiner Ansicht nach eine Notwehrbefugnis, die nicht durch die Berücksichtigung der Belange des Angreifers eingeschränkt werden dürfe. Allerdings propagiert er keineswegs „die Gestattung einer unbedingten Willkühr, die den Angegriffenen zum Herrn über Leben und Tod seines Angreifers machte“.63 Vielmehr zieht er die Folgerung aus seiner Prämisse, dass die Notwehrbefugnis ein notwendig vom Staat anzuerkennendes Recht sei, dass der Verteidiger für den Staat wahrnehme. Da der „Staat nichts anderes wolle als Herrschaft des Rechts“, erteile er „dem einzelnen in seinem Rechte Angegriffenen die Befugnis“, „für den Staat und im Namen des Staats sein angegriffenes Recht da geltend zu machen, wo sich der Staat außer der Lage befinde, mit der Kraft des Gesetzes dieses selbst zu thun“.64 „Im Drange der Gefahr“ sind demnach keineswegs „der Staat und seine Gesetze suspendirt“, „so daß nun die Herrschaft der rohen physischen Kraft begönne, oder daß der Angreifer dem Angegriffenen gegenüber völlig rechtlos würde, oder dass dem Benöthigten das, was er immer thue, nicht zugerechnet werden dürfte“.65 Demnach muss die notwendige Schranke der Aufgabe entnommen werden, die der Angegriffene für den Staat wahrnimmt: die Gefahrenabwehr. Alleinige Schranke der Notwehr – sofern man dies „Schranke“ nennen möchte – ergibt sich damit für Levita aus ihrem Zweck. Der Angegriffene erhält die Notwehrbefugnis für die Zeit und zu dem Zweck der Abwehr der vom Verteidiger ausgehenden Gefahr. Eine Schranke findet die Notwehr in den Worten Levitas einzig darin, „daß die Gewalt zum Zwecke der Vertheidigung angewendet werden, daß sie im Verhältnis stehen muß, nicht zum Werthe des bedrohten Gutes, sondern zur Größe der Gefahr, nämlich der Möglichkeit, die ruhige Innehabung eines Rechtes zu verlieren. Da die Persönlichkeit nicht das kleinste Recht einem widerrechlichen Angriffe gegenüber aufzugeben genöthigt ist, so rechtfertigt die Gefahr des Verlustes des kleinsten Gutes das höchste Maß angewendeter Gewalt, wenn nur das bedrohte Gut mit geringerer Gewalt nicht erhalten werden konnte; dagegen entschuldigt die Gefahr für das höchste Gut nicht die geringste Gewalt über das Maß hinaus, welches von der Rettung desselben gefordert war“.66
IV. Notwehrrecht und Angriffsunrecht 1. Eine für die gesamte Notwehrdogmatik entscheidende Frage lautet nun, unter welchen Voraussetzungen der Angriff als Unrecht und damit als Nullum bei der Lösung der Güterkollision anzusehen ist. Berners Antwort liegt auf der Hand: Der Angriff muss den Anspruch erheben, rechtserheblich zu sein, sich also auf dem norma63
Levita (Fn. 36), S. 242. Levita (Fn. 36), S. 18. 65 Levita (Fn. 36), S. 242 f. 66 Levita (Fn. 36), S. 243 f. Maßstab für die Beurteilung der Gefahr ist hierbei die subjektive Einschätzung des Angegriffenen. 64
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tiven Niveau von Recht bewegen, sonst bedarf es nicht seiner Zurückweisung als Unrecht. Oder, wie sich sagen ließe: Die Notwehr ist Ausübung von Recht gegen die Ausübung von Unrecht. Naturwüchsige Gefahren dagegen, die sich allein in der faktischen Welt auswirken, sollen nach Berner einen Notstand auslösen.67 Damit sind die Notrechte in zwei klar voneinander abgegrenzte Bereiche aufgeteilt: Gefahren durch Natur darf nach Maßgabe der Regeln des Notstands begegnet werden, Gefahren durch Rechtsanmaßung dürfen durch die Rechtsverteidigung der Notwehr beseitigt werden. In den Worten Berners: „Rechtsnoth und Naturnoth, das ist der Gegensatz, in dem das Unterscheidungsmerkmal von Nothwehr und Nothstand enthalten liegt“.68 Daraus ergeben sich für die Notwehr zwei gewichtige Folgerungen: Zum einen geht es bei der Notwehr nicht um die Erhaltung von Gütern oder von Freiheit in einem vorrechtlichen Sinne, sondern um die Erhaltung von Positionen, wie sie dem Angegriffenen von Rechts wegen zustehen. Berner macht dies deutlich, wenn er ausführt, „daß Kinder gegen ihre Eltern, Lehrlinge gegen ihre Meister, Unterthanen gegen ihre Obrigkeit, gegen Gerichts- und Polizeibeamte, keine Notwehr haben, so lange die Angreifenden sich innerhalb der ihnen durch das Gesetz gezogenen Grenzlinien halten“.69 Notwehr wendet sich gegen Unrecht im Sinne der Überschreitung einer rechtlichen Grenze durch den Angreifer. Insoweit erscheint es durchaus möglich, bei der Ziehung der rechtlichen Grenzlinien einen Teil der sog. sozialethischen Einschränkungen der Notwehr zu berücksichtigen. Das Rechtsprinzip der Mindestsolidarität70 könnte etwa immanent die Befugnis aufheben, Bagatellbeeinträchtigungen und Belästigungen durch leichte Überschreitungen des sozial Üblichen mit massiv schädigenden Eingriffen in die Güter des Angreifers abzuwehren. Zum anderen gelten für die Notwehr, modern gesprochen, die Kriterien der objektiven Zurechnung: Zur Lösung des spezifischen Konflikts sind die Verantwortungsbereiche des Angreifers und der angegriffenen Rechtsposition voneinander abzuschichten. Bedeutsam ist insbesondere die Begrenzung der Notwehr durch das von Berner aufgestellte Erfordernis der Verantwortlichkeit des Angreifers für das Unrecht seines Verhaltens, also durch das Erfordernis, dass es sich bei dem Angriff um Unrecht handelt, das zur Schuld zurechenbar sein muss. In die Formel, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen brauche, hat ihr Vater also mehr hineingesteckt, als sie auf den ersten Blick vermuten lässt. Es geht für Berner bei der Notwehr nicht nur um die Kollision von Recht und Unrecht, sondern auch 67
Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 552. Zur Streitfrage des Erfordernisses eines zu verantwortenden rechtswidrigen Angriffs, allerdings ohne Bezugnahme auf die Positionen der Hegelianer vgl. auch Bitzilekis, Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts, 1984, S. 108 ff. 68 Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 552. 69 Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, 558. 70 Solidarische Rücksichtnahme dürfte ein selbstverständlicher Bestandteil heutiger Rechtsanforderungen sein, vgl. hierzu nur Kargl, ZStW 110 (1998), 38 (63); Kratzsch, JuS 1975, 435 ff.; Maurach/Zipf (Fn. 12), § 26 Rn. 37.
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um die Bestimmung der Zuständigkeit für diesen Konflikt, von der wiederum dessen Lösung abhängen soll. Allerdings arbeitet Berner die doppelte Funktion des Unrechtsbegriffs terminologisch nicht klar heraus, weil er die Notwehr in zwei miteinander unverträglichen Weisen gegenüber dem Notstand abgrenzt. Zum einen definiert er den Notstand als Kollision von Rechten (im Unterschied zum Gegensatzpaar Recht/Unrecht bei der Notwehr), zum anderen grenzt er den Notstand gegenüber der Notwehr durch die Differenzierung zwischen Naturnot und Rechtsnot ab.71 Doch offensichtlich handelt es sich bei der erstgenannten Notstandslage um die Voraussetzungen eines rechtfertigenden aggressiven Notstands, während sich die Gegenüberstellung von Natur und Recht auf den defensiven Notstand bezieht. Damit lassen sich die Befugnisse dessen, der sich einem Eingriff in seine Rechtspositionen ausgesetzt sieht, in drei Gruppen unterteilen: (1) Zum Schutze einer nicht anders abwendbaren Gefahr für (erheblich) höherrangige Rechte müssen Eingriffe in eigene Rechte geduldet werden (aggressiver Notstand). (2) Unrechtmäßige Eingriffe in eigene Rechte durch zurechnungsfähige Personen können, soweit erforderlich, auch dann abgewehrt werden, wenn (erheblich) höherrangige Rechte des Angreifers verletzt werden (Notwehr). (3) Eingriffe in eigene Rechte durch faktische Gefahren, die nicht von zurechnungsfähigen Personen ausgehen, erlauben mangels Unrecht keine Notwehr; sie berechtigen, falls ihnen nicht anders zu entgehen ist, zu Defensivmaßnahmen, durch die jedoch keine (erheblich) höherrangigen Rechte verletzt werden dürfen (defensiver Notstand).72 2. Dass sich Berners Lehre formal nicht durchgesetzt hat – in der Sache ist sie durch die Anerkennung sozialethischer Restriktionen der Notwehr freilich Allgemeingut –, dürfte vor allem auf zwei miteinander zusammenhängenden Gründen beruhen. Zunächst versperrt die Beschränkung des Unrechtsbegriffs auf schuldhafte Widerrechtlichkeit eine sachgemäße Differenzierung von Unrecht und Schuld, die es erlaubt, auch die Angriffe von Tieren und Kindern als rechtswidrig auszuweisen. Dies wiederum führt – mangels einer ausgearbeiteten und allgemein anerkannten Doktrin für den defensiven Notstand – zu der Annahme, dass die Angriffe von Tieren und Kindern mangels Widerrechtlichkeit zu dulden seien, wenn keine Notwehrbefugnis bestehe. Diese Konsequenz wurde wiederum, was durchaus verständlich ist, weitgehend für inakzeptabel gehalten.73
71
Vgl. Berner, Archiv des Criminalrechts NF, 1848, einerseits 554, andererseits 552 f. Die Positionen (1) und (2) ergeben sich explizit aus Berners Text, die Position (3) erschließt sich indirekt aus dem Argumentationszusammenhang. Zu einer klaren Konturierung der Positionen im heutigen System der Notrechte vgl. Pawlik, GA 2003, 12 (14 ff.). 73 Beispielhaft hierfür Oetker, in: Birkmeyer (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, AT II, 1908, S. 264. 72
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Insoweit hat Berner sogar Widerspruch von Hegels Bannerträger Köstlin geerntet: Obgleich dieser (an anderer Stelle) betont, dass das Recht überhaupt nur durch einen zurechnungsfähig Handelnden verletzt werden könne,74 hat er bei der Notwehr keine Bedenken, die Möglichkeit einer Rechtsverletzung durch den Angriff eines Unzurechnungsfähigen zu bejahen.75 Auch Levita, der auf der einen Seite die Notwehrbefugnis im Sinne Hegels mit der Nichtigkeit des Unrechts begründet, spricht sich zugleich mit Vehemenz für eine Befugnis zugunsten der Notwehr gegenüber Unzurechnungsfähigen aus.76 Levitas Argumentation greift wiederum Binding mit polemischer Schärfe auf und schüttet gleich das Kind mit dem Bade aus: Mit dem engen Unrechtsbegriff Berners wird zudem noch dessen Einsicht, dass die Notwehrbefugnis auch von der Zuständigkeit des Angreifers für den Konflikt abhängt, preisgegeben und muss heute wieder mühsam durch sozialethische Einschränkungen von außen an die Notwehr herangetragen werden. Binding wendet sich jedoch nicht nur gegen die „ganz verworren gedachte ,Nichtigkeit‘“,77 die ja bei Berner die Verantwortung für den Angriff begründet, sondern spricht sich sogar gegen die Notwendigkeit der Rechtswidrigkeit des Angriffs aus. Für die Abwehrbefugnis soll es genügen, wenn die drohende Rechtsbeeinträchtigung vom Berechtigten nicht hingenommen werden muss.78 Beispielhaft erwähnt Binding zwar nur den rechtmäßigen Angriff eines feindlichen Soldaten, betont aber die Möglichkeit der Notwehr gegen einen rechtmäßigen Angriff innerhalb desselben Gemeinwesens.79 Jedenfalls erstreckt Binding damit die Notwehr auf die Konstellationen des defensiven Notstands80 und packt auch Tiergefahren in den Begriff des Angriffs.81 Für den Angreifer gilt nach diesem Verständnis gewissermaßen das Prinzip des versari in re illicita mit unbeschränkter Eigenverantwortlichkeit für die Folgen seines verbotenen Verhaltens. Dieses Handeln auf eigene Gefahr setzt noch nicht einmal Verschulden und Vorhersehbarkeit voraus.82 Während der Angegriffene – von Rechts 74
Köstlin (Fn. 24), S. 133 f. Köstlin (Fn. 24), S. 85 f. mit S. 75, und zwar ohne nähere Begründung. Allerdings verlangt Köstlin für die Notwehrbefugnis, dass Flucht- oder Schutzmöglichkeiten nicht gegeben sind, (Fn. 24), S. 85 f., 88. Marezoll wiederum (Das gemeine deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren deutschen Strafgesetzgebungen, 3. Aufl. 1856, § 25, S. 86 ff.) schließt zwar einen Angriff bei Unzurechnungsfähigkeit nicht aus, fordert aber die Unmöglichkeit staatlicher Hilfe und den Verlust unersetzlicher Güter. 76 Levita (Fn. 36), S. 185 f. mit Fn. 22. 77 Binding (Fn. 13), S. 737. 78 Binding (Fn. 13), S. 740. 79 Binding (Fn. 13), S. 740. 80 Grundlegende Kritik hieran bereits bei Löffler, ZStW 21 (1901), 537 ff. 81 Binding (Fn. 13), S. 736; so auch noch Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, § 53 Anm. I 2 b. 82 So ausdrücklich auch Levita (Fn. 36), S. 243; Grolman, Ueber die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung nebst einer Entwicklung der Lehre von dem Maasstabe 75
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wegen83 – nicht die geringste Einbuße an seinen Gütern hinzunehmen braucht, hat nach diesem Notwehrverständnis der Angreifer für die Dauer seines rechtswidrigen Verhaltens jegliche zur Abwehr erforderliche Schädigung seiner Güter hinzunehmen. Damit hat sich die Notwehr zu einem ubiquitären Verteidigungsrecht ohne immanente Grenzen gegen jegliche Gefahr, sofern diese nicht vom Berechtigten zu dulden ist, entwickelt, eine Form der Rechtsbewährung, die mit Berners Konzeption nur noch durch die Floskel, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen brauche, verbunden ist. 3. Aus heutiger Sicht fällt es jedoch nicht schwer, Berners Ansatz einer Beschränkung der Notwehr durch das Erfordernis der Zuständigkeit des Angreifers für den Konflikt in teilweise anderer Begrifflichkeit zu rekonstruieren. Die Begründung könnte wie folgt lauten: Ein Vergleich mit den Regelungen des aggressiven und defensiven Notstands zeigt, dass die weitergehenden Befugnisse bei der Notwehr – wie etwas das hier fehlende Ausweicherfordernis – insbesondere an die Voraussetzung des rechtswidrigen Angriffs gebunden sind. Erschöpfte sich die Rechtswidrigkeit des Angriffs in bloß drohendem Erfolgsunrecht, so wäre kein Unterschied zwischen defensivem Notstand und Notwehr auszumachen. Denn nach Maßgabe einer Bewertungsnorm ist der (drohende) Biss eines Hundes nicht weniger „rechtswidrig“ als der Stich mit einem Messer. Als rein kausales Faktum ist die Bewegung des Tieres nicht weniger dem Recht zuwiderlaufend als die Bewegung des Messerstechers. Will man also mit der Definition des Angriffs als „menschliches Verhalten“ Spezifisches zum Ausdruck bringen, so muss dies auch den maßgeblichen Unterschied des menschlichen zum tierischen Verhalten unter der Beschreibung einer Handlung erfassen, scil die intentionale Vermeidbarkeit des Stiches. Vermeidbarkeit setzt wiederum Motivationsfähigkeit voraus: Als vermeidbar kann nur eine Bewegung angesehen werden, wenn der sich Bewegende willensgesteuert eine Verhaltensalternative hätte ergreifen können, die genau die Veränderung in der Welt nicht bedingt hätte, welche durch die tatsächliche Bewegung bedingt wurde. Vermeidbar ist ein Verhalten nur bei Unterstellung eines entsprechenden Vermeidemotivs. Das maßgebliche Motiv wiederum, dessentwegen der Angreifer als Mensch – und das heißt: als Adressat rechtlicher Normen und nicht als bloße Natur – den Angriff hatte vermeiden können und müssen, ist dessen Bewertung als rechtswidrig. Von einem rechtswidrigen Angriff kann folglich nur dann gesprochen werden, wenn der Angreifende als fähig anzusehen ist, den Angriff wegen seiner Rechtswidrigkeit zugunsten einer rechtmäßigen Alternative zu unterlassen. Motivationsfähigkeit im Sinne normativer Steuerbarkeit ist das strafrechtliche Zurechnungskriterium der Schuld, freilich nur dann, wenn das zu vermeidende Verhalten die Merkmale eines Deliktstatbestands verwirklicht. Dies erfordert der notwehrrelevante der Strafen und der juridischen Imputation, 1799, S. 27, verlangt für den Angriff nur, dass „schon die physischen Kräfte des Gefahr Drohenden in Thätigkeit gesetzt worden sind“. 83 Dass aus ethischen Überlegungen oder Klugheit Einschränkungen der Notwehr zumindest anzuempfehlen seien, ist freilich für die Zeitgenossen opinio communis, vgl. die Nachweise bei Kühl, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, S. 313 (337 ff.).
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Angriff nicht. Insoweit ließe sich der Angriff als quasi-schuldhaftes Verhalten bezeichnen.84 Das gängige Gegenargument, Notwehrvoraussetzung sei dem Wortlaut des Gesetzes nach nur ein rechtswidriger Angriff, verfängt jedenfalls schon deshalb nicht, weil es über die Qualität des Merkmals „Angriff“ nichts aussagt.85 Damit ist auch eine Begründung dafür gegeben, warum die Notwehrbefugnis weiter reicht als das Notstandsrecht, obgleich doch die Lage, in der sich der Angegriffene befindet, dieselbe ist, „ob er“, wie Hälschner es formuliert, „von einem Zurechnungsunfähigen oder in rechtswidriger Weise von einem Zurechnungsfähigen bedroht wird“.86 Denn im ersten Fall, so führt Hälschner aus, handelt es sich „um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Jemand den ihm zufällig drohenden Schaden auf einen Anderen, Unschuldigen abwälzen dürfe, im letzteren Falle darum, unter welchen Bedingungen der rechtswidrige Angriff durch Beschädigung des Angreifers abgewehrt werden darf, zwei sehr verschiedene und gewiss verschieden zu beantwortende Fragen“.87
84 Vgl. zu einer Einschränkung der Notwehrbefugnis in dieser Richtung auch u. a. Engländer (Fn. 3), S. 253 ff.; Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2009, § 3 Rn. 98; Graf zu Dohna, Die Rechtswidrigkeit als allgemeingültiges Merkmal im Tatbestande strafbarer Handlungen, 1905, S. 131; Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 139 ff.; Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 12/16 ff.; Neumann (Fn. 59), S. 166 ff.; Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 20; Pawlik, GA 2003, 14 f.; Renzikowski (Fn. 3), S. 279 ff.; Stammler, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Nothstandes unter Berücksichtigung der Quellen des früheren gemeinen Rechts und der modernen Gesetzgebung, 1878, S. 2; kritische Darstellung bei Felber, Die Rechtswidrigkeit des Angriffs in den Notwehrbestimmungen, 1979, S. 62 ff. 85 Beling, Grundzüge des Strafrechts, 10. Aufl. 1928, S. 36, wendet gegen das Wortlautargument ein, dass die der Notwehr eigentümliche Beiseitestellung jeder Güterabwägung nur bei schuldhaften Angriffen begreiflich erscheine. 86 Hälschner (Fn. 13), S. 480. 87 Hälschner (Fn. 13), S. 480 mit Fn. 1.
Zur Entwicklung der Notwehrlehre in der japanischen Judikatur Der Streit um den Fall der selbst herbeigeführten Notwehrlage Von Keiichi Yamanaka
I. Einführung In Deutschland galt und gilt noch immer in einer – allerdings etwas abgemilderten Form – ein Sprichwort zur Notwehr: „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“1. Es bringt den Grundsatz zum Ausdruck, dass ein schneidiger Gegenangriff gegen einen rechtswidrigen Angriff erlaubt sein soll. Aber die Überlegungen, die für eine einschränkende Auslegung dieses Grundsatzes sprechen, und zwar z. B. nach Maßgabe der jeweiligen Situation von Verteidiger oder Angreifer und auch nach der Proportionalität zwischen den verteidigten und den angegriffenen Gütern, haben sich seit Ende der 19. Jahrhunderts allmählich durchgesetzt. Diese Tendenz zur einschränkenden Auslegung des Notwehrrechts ist sowohl eine erkennbare Entwicklung in der Praxis als auch ein Modethema in der Diskussion der deutschen Strafrechtsdogmatik in der letzten Hälfte der 1970er Jahren geworden2. Die Entwicklung der Notwehrlehre in Japan war von dieser Tendenz in Deutschland nicht unabhängig. Aber diese Tendenz entstand in Japan noch etwas früher: Schon am Beginn der modernen Strafrechtsgesetzgebung in Japan, also am Ende des 19. Jahrhunderts, wurde die Notwehr nur in einer eingeschränkten Form anerkannt. Deswegen zeigte die Tendenz, die sich bezüglich der Notwehr in Japan etwa seit der Mitte der 1970er Jahren entwickelte, ein ganz entgegengesetztes Bild: Die Lockerung der Notwehreinschränkung. Jene einschränkende Tendenz beherrschte die Praxis und auch die Wissenschaft noch bis zur Mitte der 1970er Jahre. Es galt die These: In der Praxis wird die Notwehr in Japan nicht als Rechtfertigungsgrund, sondern als Schuldausschließungsgrund verstanden. Von der Funktion des Notwehrrechts als eines Mittels zur „Rechtsbewäh1
Das Sprichwort stammt von Berner, Albert Friedrich; vgl. ders., Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 5. Aufl., S. 144; vgl. RG 21, 168 (170). 2 Ich habe schon früher eine Monographie über die Notwehr veröffentlicht, in der die sozialethischen Einschränkungen der Notwehr in Deutschland und auch die theoretische Begründung der Notwehr in Deutschland und in Japan behandelt wird (vgl. Yamanaka, Keiichi, Seitoboei no Genkai (Grenzen der Notwehr), 1984, insbes. S. 11 ff., 169 ff., 243 ff., 283 ff.).
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rung“ war in der Notwehrdiskussion in Japan bis zum Beginn der 1980er Jahre noch keine Rede3. Dieser Beitrag hat das Ziel, einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Notwehrlehre in der japanischen Judikatur und Wissenschaft zu geben, in der sich die allgemeinen Gedanken zur Notwehr in jeglicher Gesellschaft widerspiegeln. Da diese Gedanken zur Notwehr in den „Rechtsüberzeugungen des Volkes“ wurzeln, erscheint es wichtig, diesen Hintergrund bei der Verständigung über ein Rechtsinstitut und die diesbezügliche Gesetzesauslegung in einem Land zu berücksichtigen.
II. Entwicklung der Notwehrlehre in Gesetzgebung und Wissenschaft 1. Die Vorschrift über die Notwehr im alten StGB § 36 Abs. 1 des geltenden japanischen StGB von 1907 regelt im siebten Kapitel seines Allgemeinen Teils die Notwehr wie folgt: „Eine Handlung, die unvermeidlich ist, um das eigene oder ein fremdes Recht gegen eine unmittelbar drohende unberechtigte Schädigung zu schützen, ist nicht strafbar.“4 In der vorangehenden Zeit fand sich im Allgemeinen Teil des StGB allerdings keine Norm zur Notwehr. Die Geschichte der Notwehrklausel im modernen japanischen StGB5 begann mit der folgenden Formulierung in § 314 des alten StGB von 1880: „Wer die Gewalttätigkeiten, die Tötung oder die Körperverletzung unvermeidlicher Weise durchgeführt hat, um seinen Leib oder sein Leben zu schützen, wird nicht als Straftäter angesehen, unabhängig davon, ob er die Tat für sich oder einen anderen begangen hat, es sei denn, dass er durch eine ungerechtfertigte Handlung die Gewalttätigkeiten selbst herbeigeführt hat“. Charakteristisch für dieses alte StGB war, dass die Notwehrklausel nicht im Allgemeinen Teil, sondern im Besonderen Teil platziert wurde: Sie war im dritten Abschnitt zu „Strafmilderung und Straftatausschließung“ des ersten Kapitels über „Straftaten gegen den menschlichen Körper“ geregelt. § 315 des alten StGB normierte, dass bei demjenigen, der zur Abwehr eines Angriffs auf 3
Zur Rechtsbewährung als einem Grund der Notwehr vgl. Yamanaka (Fn. 2), S. 23 ff. Der Absatz 2 betrifft den Notwehrexzess: „Bei Begehung einer das Maß der Abwehr überschreitenden Handlung kann nach den Umständen des Falles Strafmilderung oder Straffreiheit eintreten.“ Ich habe hier den Begriff „unmittelbar drohend“ verwendet. Er bedeutet inhaltlich fast dasselbe wie der Begriff „gegenwärtig“ in § 32 Abs. 2 des deutschen StGB. Das japanische Gesetz verwendet übrigens insoweit zwei verschiedene Begriffe bei der Notwehr einerseits („unmittelbar drohend“) und beim Notstand andererseits (bei diesem heißt es in § 37 jStGB, dass die Gefahr „gegenwärtig“ sein muss). 5 Das alte japanische StGB von 1880 stand unter dem Einfluss des französischen code pénal. Fast dieselben Vorschriften bezüglich der Notwehr finden sich schon in den §§ 350 und 351 des „Entwurfs zum japanischen StGB“ (1876 – 1877). Vgl. Nippon Keiho Soan Kaigi Hikki (Stenographie zum Entwurf des japanischen StGB bei der gesetzgeberischen Beratung), Universitätsverlag Waseda, 1976, Teilband 1, S. 5 ff.; Teilband 3, S. 1708 ff. 4
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sein Vermögen, zur Abwehr eines Raubes oder einer Verletzung des Hausfriedens eine Körperverletzung oder Tötung begangen hat, die „Straftat“ ausgeschlossen wird. In § 315 des alten StGB findet sich zudem eine Vorschrift für den „Notwehrexzess“. Was die Auslegung von § 314 des alten StGB betrifft, so ging es u. a. um den Sinn des Wortes „ungerechtfertigte Handlung“. Es dürfte klar sein, dass sich dieses Wort auf eine selbst herbeigeführte Notwehrlage bezog, die durch eben diese ungerechtfertigte Handlung bewirkt wurde. Umstritten war jedoch, ob hier nur eine „absichtliche Handlung“ oder auch eine „fahrlässige Handlung“ zur Herbeiführung der Notwehrlage gemeint war.6 Außerdem ist im Hinblick auf die Vorschrift des § 314 noch Folgendes hervorzuheben: Im „Dritten Abschnitt“ des damaligen StGB sind die Umstände geregelt, die nicht nur einen „Straftat-Ausschluss“ bezüglich einer Körperverletzung oder Tötung, sondern auch eine „Strafmilderung“7 zur Folge haben können. 2. Die Notwehrklauseln in den Entwürfen des StGB Im Entwurf für das reformierte StGB von 1890 wurden die Notwehrvorschriften im vierten Kapitel des Ersten Buches („Allgemeiner Teil“) unter der Überschrift „Gründe für die Strafbefreiung oder Strafmilderung“ eingeordnet. In seinem § 71 wurde Folgendes normiert: „Ein Handeln, das zur Abwehr von unmittelbar drohenden Gewalttätigkeiten unvermeidlich war, um seinen Leib oder sein Vermögen zu schützen, wird nicht als Straftat angesehen“. In § 73 wurde der Fall der „selbst herbeigeführten Notwehr“ wie folgt geregelt: „Die letzten beiden Paragraphen werden auf denjenigen, der die Gewalttätigkeiten oder Beleidigungen durch seine ungerechtfertigte Handlung selbst herbeigeführt hat, nicht angewandt“. „Dabei kann die Strafe aber gemildert8 oder auch ermäßigt werden“. Im Entwurf zum reformierten StGB von 1901 tauchte schon fast dieselbe Fassung wie in dem danach in Kraft getretenen geltenden StGB in dessen § 46 Abs. 1 auf. Dort fand sich allerdings keine Klausel für die selbst herbeigeführte Notwehrlage mehr. Allgemein gesagt, stand dieser Entwurf schon mehr unter dem Einfluss des 6
Vgl. Yamanaka (Fn. 2), S. 170 ff. Als Übersetzung des japanischen Wortes „Yujo“ habe ich hier das deutsche Wort „Strafmilderung“ verwendet. Manchmal verwendet das Gesetz dieses Wort gleichbedeutend mit dem Wort „Entschuldigung“. Aber manchmal verwendet das Gesetz auch beide Begriffe klar differenziert: § 80 Abs. 2 regelt z. B. die verminderte Zurechnungsfähigkeit bei demjenigen, der zwischen 12 und 16 Jahren alt ist, mit der Rechtsfolge: „Seine Straftat ist entschuldigt und die eigentliche Strafe wird um zwei Stufen gemildert“. Es ist klar, dass die „Entschuldigung“ hier jedenfalls keine „Schuldausschließung“ bedeutet. 8 Hier habe ich das japanische Wort „Yujo“ wieder mit „Milderung“ übersetzt, weil das Objekt des Satzes nicht eine Straftat, sondern die „Strafe“ ist. Das Wort „Yujo“ wird heute nicht mehr häufig verwendet. Aber es bedeutet normalerweise „Entschuldigung“. 7
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deutschen StGB von 1871, während der Entwurf von 1890 noch unter dem Einfluss des französischen code pénal gestanden hatte. 3. Die Auslegung der Regelung zur selbst herbeigeführten Notwehrlage in den frühen Kodifikationen Dass die Klausel für die selbst herbeigeführte Notwehrlage bei der Schaffung des jetzt geltenden StGB gestrichen wurde, hat auch im Wege eines argumentum e contrario die These hervorgebracht, dass das geltende StGB nicht den Zweck habe, das Notwehrrecht bei einer selbst herbeigeführten Notwehrlage einzuschränken9. Die Streichung des Satzes über die selbst herbeigeführte Notwehrlage hat auch noch eine Nebenwirkung mit sich gebracht: Die Bezeichnungen für dieses Geschehen sind unterschiedlich geworden. So wurden allmählich die Ausdrücke „provozierte Notwehr“ oder „Notwehrprovokation“ verwendet. Das bedeutet auch, dass man zwischen absichtlichen, vorsätzlichen und fahrlässigen Provokationen zu unterscheiden begann. Die Theorie, nach der eine provozierte Notwehr wegen des Rechtsmissbrauches kein Rechtfertigungsgrund sein kann, entsprach der überwiegenden Meinung vor dem Zweiten Weltkrieg. Aber dabei war nur der Fall der absichtlichen Provokation gemeint, bei der der Verteidiger unter dem Vorwand der Notwehr den Gegner misshandeln oder töten will. Motoji, der damals ein umfangreiches Lehrbuch des Strafrechts verfasst hat, formulierte dies wie folgt: „Es ist auch ein gutes Beispiel für einen Rechtsmissbrauch, wenn ein Täter den Anschein der Notwehr erzeugt, in Wirklichkeit jedoch die Körperverletzung oder Tötung seines Gegners verwirklichen will, indem er vorsätzlich die Gelegenheit dazu heraufbeschwört und dann eine Straftat begeht.“10 Durch die Streichung der klaren Regelung zur selbst herbeigeführten Notwehrlage entwickelten sich Theorien, die begründen wollten, weshalb die Notwehr in solchen Fällen keine rechtfertigende Wirkung hat. Unter ihnen gab es die „Theorie der Rechtswidrigkeit aus einer Gesamtbetrachtung“11. Diese Theorie ähnelte der Theorie der „actio illicita in causa“ in Deutschland. Ein Autor, der diese Theorie vertrat, hat 9 Makino hat z. B. Folgendes dazu geschrieben: „Während das geltende StGB dann kein Notwehrrecht einräumt, wenn man selbst durch eine ungerechtfertigte Handlung eine ungerechtfertigte Beschädigungshandlung eines anderen herbeiführt, gibt es im neuen StGB keine solche Einschränkung.“ Vgl. Makino, Eiichi, Kaisei Keiho Tugi (Grundriss des reformierten StGB), 1907, S. 74. Aber er hat die Einschränkungsmöglichkeit im Wege der Auslegung nicht ausgeschlossen. Später hat Makino die absichtliche Notwehrprovokation als Rechtsmissbrauch interpretiert. 10 Motoji, Shinguma, Nippon Keihoron (Japanische Strafrechtslehre), Bd. 1, (AT), 1908, S. 328; auch vgl. Makino, Kaitei Nippon Keiho (Revidiertes Japanisches Strafrecht), 1932, S. 316. 11 Ich bezeichne hier alle Theorien als solche einer Gesamtbetrachtung der Rechtswidrigkeit, nach denen das Unrecht in der Provokationshandlung als Ursache festgestellt werden kann. Vgl. Yamanaka (Fn.2), S. 186 ff.
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sich dabei auf seine Theorie der „Relativität der Rechtswidrigkeit“ gestützt. Nach seiner Ansicht ist eine Handlung, die unterschiedliche juristische Bedeutungen hat, kumulativ nach den unterschiedlichen normativen Kriterien zu bewerten. Wenn die Notwehrlage durch den Verteidiger selbst herbeigeführt wurde, ist er deshalb für das Ergebnis der Verteidigung insgesamt noch im Rahmen einer Vorsatzoder Fahrlässigkeitshaftung verantwortlich.12 Im Übrigen wurde auch die Theorie13, nach der bei der Herbeiführung der Notwehrlage durch den Verteidiger selbst die Notwendigkeit der Verteidigung zu verneinen ist, schon seit der Zeit des alten StGB vertreten. 4. Die Diskussion zur „Angemessenheit“ der Verteidigungshandlung Die Notwehreinschränkung lässt sich auch im Hinblick auf die Verteidigungshandlung durchführen. In § 36 Abs. 1 des japanischen StGB geht es dabei um die Auslegung des Wortes „unvermeidlich“, durch das die Verteidigungshandlung gekennzeichnet wird. Ob das Notwehrrecht als weit oder als eng anerkannt ist, hängt offenkundig von der Auslegung des Begriffs der „Unvermeidlichkeit“ ab. Das gilt auch für die Problematik der selbst herbeigeführten Notwehrlage, weil Lehrmeinungen, nach denen es sich bei ihr um ein Problem der „Angemessenheit“ handelt, seit dem Zweiten Weltkrieg vermehrt auftreten. Unter ihnen gibt es freilich auch die Meinung, die bei der selbst herbeigeführten Notwehrlage das Notwehrrecht nicht formell verneint, sondern sie nur bei der Beurteilung der Angemessenheit dahingehend berücksichtigt, ob sie einen Notwehrexzess betrifft. a) Erforderlichkeit und Angemessenheit Was die Auslegung des Wortes der „Unvermeidlichkeit“ betrifft, so interpretiert die heute herrschende Meinung diesen Begriff als „Erforderlichkeit“ und „Angemessenheit“ der Verteidigungshandlung. Aber die Interpretation war nicht von Anfang an so. b) Die Auslegung der „unvermeidlichen“ Handlung „Unvermeidlichkeit“ bedeutete zuerst „Erforderlichkeit“. Der Inhalt der Erforderlichkeit ist indes nicht eindeutig. Die eigentliche Bedeutung dieser Voraussetzung liegt darin, dass die Verteidigungshandlung erforderlich sein muss, um den Angriff des Täters zu verhindern. Es gab aber auch Meinungen, die die „Unvermeidlichkeit“ z. B. als „Fehlen anderer Methoden zur Abwehr“ oder als „einziges Mittel der Ab-
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Miyamoto, Hidenaga, Keiho Taiko (Grundriss des Strafrechts) AT, 1932, S. 55, 58, 97. Er bezeichnet sie als „Relativitätstheorie“. 13 Katsumoto, Kanzaburo, Keiho Setsugi (Analytische Erklärung des Strafrechts), 1900, S. 110. Vgl. auch ders., Keiho Yoron (Schwerpunkte des Strafrechts) (AT), 1913, S. 240 ff.
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wehr“14 oder als „das relative Mindestmaß der Abwehr“15 interpretierten. Heute hat die „Unvermeidlichkeit“ der Abwehrhandlung auch noch einen anderen Begriffsinhalt: die „Angemessenheit“. c) Die Auslegung der „Erforderlichkeit“ Die Verteidigungshandlung war im alten StGB schon gesetzlich auf „Tötung oder Körperverletzung“ begrenzt. Das zu beschützende Interesse, das angegriffen wird, ist auch gesetzlich auf „Leben und Leib“ beschränkt (§ 314 alt. StGB). § 316 des alten StGB war die Vorschrift für den Notwehrexzess. Die Voraussetzung war, dass die Verteidigungshandlung für den Schutz des Körpers oder Vermögens „nicht unvermeidlich“ ist.16 Die Rechtsfolge ist „Milderung“ der Strafe. Was die Auslegung der „Unvermeidlichkeit“ anbelangt, so gab es bezüglich dieser Voraussetzung damals zwei Interpretationen: zum einen als „Erforderlichkeit“17, aber zum anderen als „Dringlichkeit“18. Im Gesetzgebungsverfahren des geltenden StGB wurde die „Unvermeidlichkeit“ als „Erforderlichkeit“ interpretiert und so verstanden, dass sie mit der „Größe des eintretenden Schadens“ nichts zu tun hat. Auch wenn man z. B. den anderen, der nur ein Bekleidungsstück stehlen will, verletzt oder tötet, um sich vor dem Verlust zu schützen, ist dies erlaubt, wenn diese Abwehrhandlung zum Schutz der Kleidung erforderlich ist. Sie ist nach dieser Auslegung „unvermeidlich“ gewesen.19 Diese Meinung war damals die am meisten verbreitete und herrschende.20 Die „Unvermeidlichkeit“ meinte die Erforderlichkeit, sie umfasste keine Beurteilung der „Verhältnismäßigkeit des entstandenen Schadens“. Die „Angemessenheitsklausel“ war etwa bis 1926 in der japanischen Strafrechtswissenschaft nicht allgemein bekannt. Damals scheint die Voraussetzung der „Verhältnismäßigkeit“ noch nicht bewusst diskutiert worden zu sein. Aber im Jahre 1929 14 Miyagi, Kozo, Keiho Seigi (Richtige Erklärung des Strafrechts) Bd. 2, 1892, S. 686; Okada, Astaro, Nippon Keihouron (Lehre des japanischen Strafrechts), (ergänzte und revidierte Auflage), AT, 1894, S. 341 ff. 15 Dazu vgl. auch Yamanaka (Fn. 2), S. 243 ff. 16 Auch das „Vermögen“ kann nach § 315 des alten StGB geschützt werden. Deswegen hat das Gesetz selbst anerkannt, dass man eine Körperverletzung oder Tötung vornehmen darf, um das Vermögen zu schützen. Verhältnismäßigkeit scheint dabei schon gesetzlich nicht gefordert zu sein. 17 Okada, Asataro (Fn. 14), S. 336. 18 Egi, Chu, Genko Keiho Genron (Grundsatz des geltenden Strafrechts), Revidierte Auflage, 1894, S. 189. Diese Meinung hat allerdings die beiden unterschiedlichen Begriffe „Dringlichkeit“ und „Unvermeidlichkeit“ miteinander vermengt. 19 Kuratomi/Hiranuma/Hanai (Hrsg.), Keiho Enkaku Soran (Die gesamten Materialien zur Strafrechtsentwicklung), 1923, S. 883. 20 Makino (Fn. 8), S. 73; Motoji (Fn. 10), Bd. 2, 1929, S. 1084; ders. (Fn. 10), Bd. 1, 1908, S. 350.
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schrieb der damals bekannte Strafrechtler Takigawa in seinem Lehrbuch21, dass die „unvermeidliche Handlung“ die Bedeutung eines Nicht-Überschreitens der Grenze der Erforderlichkeit habe. Das lässt sich so verstehen, dass er die „Verhältnismäßigkeit des Schadens“ schon im Rahmen der „Erforderlichkeit“ berücksichtigt hat. Dabei ist zu beachten, dass es damals schon die Meinung gab, nach der die Erforderlichkeit materiell „Angemessenheit“ bedeutet. d) Die Einführung der „Angemessenheit“ als Notwehreinschränkung Die Wende zur Einführung der Angemessenheitsanforderung an die Abwehrhandlung bei der Notwehr kam im Jahre 1926: In diesem Jahr hat einerseits das „Außerordentliche Gesetzgebungskomitee“ den Artikel 23 des „Grundrisses der Strafrechtsreform“ beschlossen. Dort wurde die Richtung zur Reform der Notwehrklausel aufgezeigt: „Die Vorschrift ist so umzugestalten, dass anstatt der Erforderlichkeit die Angemessenheit als Anforderung bezüglich der Abwehrhandlung bzw. Abwendungshandlung eingeführt wird.“ Dieser Artikel 23 stand ersichtlich unter dem Einfluss des Entwurfs zur Strafrechtsreform von 1925 (§ 21) in Deutschland. Interessant ist, dass im „Vorbereitungsentwurf der Strafrechtsreform“22 von 1927 in § 18 das Wort „Unvermeidlichkeit“ gestrichen wurde. In § 21 wurde Folgendes geregelt: „§ 18 ist nicht anzuwenden, es sei denn, die Handlung ist im Lichte der jeweiligen Umstände als angemessen anzusehen.“23 Andererseits hat das japanische RG in seinem Urteil vom 28. 05. 192624 wie folgt entschieden: „Es ist geboten, dass man den Angriff nur mit der je nach den Umständen angemessenen Methode abwehrt. Denn die Verteidigungshandlung des Angeklagten lässt sich nicht als unvermeidlich zum Selbstschutz vor dem Angriff des X beurteilen, wenn sie nach den Umständen nicht angemessen ist“. Ein wichtiger Impuls zur Einführung der „Angemessenheit“ in die Notwehrdogmatik wurde durch die wissenschaftlichen Leistungen von Makino gegeben. Er hat die Arbeit an der Strafrechtsreform in Deutschland verfolgt und wissenschaftlich darüber publiziert. In seinem Aufsatz von 1932 behandelte er die Problematik der „Angemessenheit der Abwehr“ und meinte: „Es hat einerseits praktische Vorzüge, aber andererseits auch theoretische Wirkung, die Notwehr durch ,Angemessenheit‘ zu regulieren“. Dass Makino den Sinn der Angemessenheitsklausel herausgestellt hat, war wichtig. Nach Makino ist die Notwehr einzuschränken, weil es nicht richtig wäre, dass man auch bei einem geringfügigen Angriff die Tötung des Angreifers erlaubt. Die Beurteilung der Angemessenheit richtet sich nach dem Kriterium eines 21
Takigawa, Yukitoki, Keiho Kogi (Vorlesung des Strafrechts), 1926, in seinem Sammelband Bd. 1, S. 273. 22 Auf Japanisch: „Keiho Kaisei Yobi Soan“. 23 Im § 13 des Vorbereitungsentwurfs („Junbi Soan“ auf Japanisch) von 1961 wurde der Wortlaut „Unvermeidlichkeit“ wieder eingeführt. 24 Taishinin Hanrei Shui (Nachlese der Entscheidungen des RG) Bd. 1, Strafsache S. 53.
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rationalen durchschnittlichen Menschen, während es sich bei der Beurteilung der Erforderlichkeit um eine objektive und nachträgliche Beurteilung handelt. Das ist eine Beurteilung der sozialen Gerechtigkeit. Nach Makino ist die Angemessenheit im Grunde nichts anderes als die „Anwendung der Idee der Rechtswidrigkeit einer Handlung im Allgemeinen“, die aus dem „allgemeinen Grundsatz der guten Sitten“ besteht. Im Hintergrund der Einschränkungskonzeption stand der Gedanke, dass auch die Idee des Rechtsmissbrauchs im Rahmen des Notwehrrechts der staatlichen Ordnung bzw. dem öffentlichen Frieden untergeordnet werden sollte. Nach Makino muss auch das Notwehrrecht durch den Gedanken des „Kulturstaates“ eingeschränkt werden, so wie der Rechtsstaat durch den Kulturstaat überwunden werden muss. Die Einschränkung durch einen allgemeinen Begriff wie die guten Sitten bedeutet allerdings dogmatisch die Abkehr von der grammatischen Auslegung. Nach Makino bedeutet die Auslegung der Unvermeidlichkeit einerseits durchaus „Erforderlichkeit“, aber andererseits noch ein anderes einschränkendes Prinzip, und zwar eine Einschränkung durch ein allgemeines Prinzip der Rechtfertigung, das heißt den Grundsatz, dass das Recht sich immer im Rahmen der guten Sitten bewegen muss.25 In der späteren Zeit ist diese gegensätzliche Kombination zwischen der Strenge der grammatischen Auslegung und ihrer Einschränkung durch das allgemeine Prinzip zerbrochen. Als Erster hat Ono in seinem Lehrbuch von 193226 dieses allgemeine Prinzip der Angemessenheit zu einem Auslegungselement der „Unvermeidlichkeit“ erhoben. Später, noch in der Zeit bis zum Ende des Krieges, hat Ono jedoch die beiden Merkmale „Erforderlichkeit“ und „Angemessenheit“ kritisiert. Sie seien beide als Auslegung der „Unvermeidlichkeit“ wegen ihrer liberalistischen Tendenz nicht richtig, sie müssten vielmehr durch Begriffe, die eine „gesamte sittliche Beurteilung“ darstellen können, ersetzt werden.27 Für Ono war damals die sittliche Beurteilung wichtiger als ein bürgerlicher Gedanke wie der einer Abwägung von Rechtsgütern.28 Abgesehen von der sittlichen Beurteilung war die Meinung, wonach die Angemessenheit nicht aus § 36, sondern „übergesetzlich“ aus dem Grundgedanken eines Rechtfertigungsgrundes überhaupt oder auch nur des Notwehrrechts abgeleitet werden sollte, die herrschende Meinung noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit der letzten Hälfte der 1950er Jahren haben die meisten in den Strafrechts-Lehrbüchern vertretenen Lehrmeinungen allmählich die „Angemessenheit“ als eine grammatische Interpretation der „Unvermeidlichkeit“ aufgefasst. 25
Makino, Eiichi, (Fn. 9), 1932, S. 328. Ono, Seiichiro, Keiho Kogi (Vorlesung des Strafrechts), AT, 1932. 27 Ono, Seiichiro, Keiho Kogi, (Revidierte Aufl.), 1945, S. 134. 28 Ono hat dies damals in einer Monographie über die „Selbstbewusste Entwicklung des japanischen Rechts“ (1942) zu einem Motto der Rechtswissenschaft erklärt. Er ist damit von den rationalen europäischen Gedanken abgewichen und hat ein eigenes Rechtsdenken aus dem traditionellen japanischen Rechtsdenken heraus entwickelt. Dazu vgl. Yamanaka, „Ideengeschichte der Strafrechtstheorie von Nakayama“, in: Hanzai to Keibatsu (Verbrechen und Strafe), Nr. 22, 2012 (erscheint demnächst). 26
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III. Einschränkung der Notwehr durch die Rechtsprechung 1. Frühe Entscheidungen zur selbst herbeigeführten Notwehrlage Auf eine Straftat, die noch in der Zeit des alten StGB begangen wurde, hat das Gericht nach § 6 des geltenden StGB29 die mildere Strafe angewendet, d. h. im Rahmen der Notwehr § 36 Abs. 1 des alten StGB, der keine wörtliche Einschränkung in Bezug auf solche Verteidigungshandlungen aufwies, die nicht „durch eine ungerechtfertigte Handlung“ herbeigeführt wurden. a) Urteil des Appellationsgerichts Nagasaki von 190830 Sachverhalt: Am Abend des 24. Juli 190831 waren A und B jeweils mit einem Stockdegen und einem Messer zum Ort des Zweikampfs gegangen, um sich mit einem Gegner X zu duellieren. Dort befand sich aber schon die Gruppe von X mit etwa 10 Personen. A und B erkannten, dass sie zahlenmäßig unterlegen waren. Als sie sich zurückziehen wollten, verfolgten und kreisten die Gegner sie beide ein und wollten sie verletzen. A und B töteten einen ihrer Gegner und verletzten drei andere. Urteil: Die Tat wurde vor dem Inkrafttreten des geltenden (neuen) StGB begangen. Im alten StGB war geregelt: „Bezüglich einer selbst herbeigeführten Notwehrlage erleidet das Notwehrrecht eine Ausnahme: Es findet keine Anwendung, wenn der Verteidiger durch eine ungerechtfertigte Handlung die Gewalttätigkeiten gegen ihn selbst herbeigeführt hat“. Im Gegensatz dazu gibt es eine solche Einschränkung im geltenden StGB nicht. In dem Urteil wurde das mildere (hier: das geltende) Gesetz angewandt und die beiden Angeklagten wurden wegen Notwehr freigesprochen. b) Urteil des RG von 191432 Der Sachverhalt lautete wie folgt: Das Opfer hat den Angeklagten am Hals gedrosselt. Dagegen hat dieser mit einem Essstäbchen kraftvoll unter das Auge des Opfers gestochen. Das Gericht konnte nicht feststellen, dass das Opfer zuerst angegriffen hatte. Ferner hat es nebenbei ausgeführt: „Eine Bejahung von Notwehr wird nicht 29 § 6 des geltenden StGB schreibt vor: „Wenn ein Gesetz, das nach Begehung der Tat in Kraft getreten ist, die Strafandrohung geändert hat, wird die jeweils mildere Strafe angewandt“. Durch den Begriff einer Änderung der Strafandrohung wird nach herrschender Meinung auch eine Tatbestandsänderung erfasst. 30 Urteil des Appellationsgerichts Nagasaki vom18. 11. 1908, Horitsu Shinbun 535, 22. 31 Das geltende StGB ist erst am 1. Oktober dieses Jahres (2012) in Kraft getreten. 32 Urteil des RG vom 25. 09. 1914, Keiroku 20, 1648.
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dadurch gehindert, dass der Verteidiger durch eine ungerechtfertigte Handlung den Angriff herbeigeführt hat.“ Die beiden Entscheidungen sind ersichtlich der Meinung, dass die Einschränkung der Notwehr durch die Streichung der Regelung zur selbst herbeigeführten Notwehrlage aufgehoben wurde. Aber bemerkenswert ist, dass diese Meinung in der Judikatur nicht lange aufrecht erhalten blieb. c) Urteil des Appellationsgerichts Osaka von 192533 Sachverhalt: A wies den Angeklagten X darauf hin, dass er den Begleiter B von A zu begrüßen habe. Aber X reagierte darauf nicht. Der A warf daraufhin auf den betrunkenen X ein Sake-Schälchen. Dadurch entwickelte sich ein verbaler Streit. Der X schlug inzwischen auch auf den A ein. Der Begleiter B hatte sich geärgert und zunächst den Ort verlassen, war aber mit einem Küchenmesser zurückgekommen und hatte dann damit den X gestochen. Der Angeklagte X reagierte darauf und erstach den B mit einem Dolch. Das LG Kyoto hat das Notwehrrecht des Angeklagten bejaht und ihn vom Vorwurf einer Körperverletzung mit Todesfolge freigesprochen. Demgegenüber hat das Appellationsgericht Osaka wie folgt entschieden. Urteil: Es ist klar, dass der Angeklagte die Rückkehr des B vorhersehen konnte. Der Angeklagte hat auf den Angriff des B gewartet. Sogar hat bei diesem Fall die Gewaltausübung des Angeklagten gegen den A den Angriff des B herbeigeführt. Deswegen war die Abwehr durch den Angeklagten rechtswidrig. Mit diesem Urteil hat das Gericht demnach die bisherige Einschränkung der Notwehr bei einer selbst herbeigeführten Notwehrlage ohne ausführliche Begründung auch in das geltende StGB stillschweigend wieder eingeführt. Die Rechtsprechung hat dann eine neue Perspektive der Notwehreinschränkung entdeckt, wie sie in der „Rechtsüberzeugung der japanischen Volkes“ verwurzelt sei. Weder der gesetzliche Wortlaut noch eine analytische und theoretische Begründung der Notwehreinschränkung wurde hier herangezogen, sondern ein neuer Grundgedanke zur pauschalen Einschränkung der Notwehr bei einer Kette sich abwechselnder Angriffe und Abwehrhandlungen. 2. Prügelei und Notwehr a) Historischer Sinn des „Grundsatzes der Bestrafung beider Parteien bei einem Streit“ Die Rechtsprechung hat seit den 1930er Jahren eine neue geschichtlich-traditionelle Rechtsüberzeugung zum Zweck der Notwehreinschränkung entwickelt. Dies 33
Urteil des Appellationsgerichts Osaka vom 22. 10. 1925, Horitsu Shinbun 2479, 14.
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war der „Grundsatz der Bestrafung beider Parteien bei einem Streit“.34 Es war dabei unerheblich, ob die beiden Parteien des Streites nach diesem Grundsatz tatsächlich angeklagt und bestraft wurden. Wichtig war, dass eine Behauptung von Notwehr durch den Angeklagten nach diesem Grundsatz in der Rechtsprechung abgelehnt wurde. Dieser Grundsatz wurde in Japan im 15. Jahrhundert (im Mittelalter) als Lösungskriterium eines Streites zwischen Samurai-Familien entwickelt35. Es war der Grundsatz, nach dem beide Parteien des Streites ohne Rücksicht auf die Gründe, also von ihrer Rechtmäßigkeit unabhängig, zur Verantwortung gezogen werden mussten. Der Grundsatz wurde zu folgendem Zweck entwickelt: Im Mittelalter war die Strafgewalt des Staates schwach. Die Lösung von Streitigkeiten musste von der privaten Rache abhängig sein. Die soziale Unsicherheit verbreitete sich im Spätmittelalter und deshalb beabsichtigte man, die Konfliktlösung nicht durch einen Prozess, sondern durch Selbsthilfe mittels Gewaltausübung der Parteien zu bewirken. Der Machthaber stand vor der Aufgabe, seine Macht zu zeigen, indem er den privaten Kampf verbot und durch seine Intervention die Konflikte löste. Dafür wollte er als eine schnelle und einfache Methode zur Streitlösung den „Grundsatz der Bestrafung beider Parteien bei einem Streit“ verwenden. Die Rechtsprechung hat an diesen mittelalterlichen Grundsatz angeknüpft: b) Entscheidungen, die sich auf den Grundsatz berufen Das Urteil des RG von 1932 war die erste bekannte Entscheidung zu diesem Grundsatz36. Es erinnert uns an den Gedanken der „Bestrafung beider Parteien bei einem Streit“, der seit alten Zeiten eine Norm für die Konfliktlösung beim Streit war. Nach ihm gab es keine Möglichkeit, die Idee der „Notwehr“ auf einen wechselseitigen Streit, also eine Prügelei, anzuwenden. Sachverhalt: Der Angeklagte war Schüler einer Mittelschule. Er geriet mit seinem Schulkameraden A in Streit und beschimpfte den A. Nach einigen Tagen provozierte ihn der A. Der Angeklagte zeigte, einen Dolch mit der Spitze nach unten haltend, vor 34 Auf Japanisch: „Kenka Ryoseibai“. „Kenka“ bedeutet heute Streitigkeiten im weiteren Sinne. Im weitesten Sinne enthält es auch die Begriffe „Zwist“ oder „Beschimpfung“. Hier aber bedeutet es im engeren Sinne die gewalttätige „Prügelei“. „Kenka“ bedeutete im Mittelalter „Streitigkeiten“ oder „Konflikt“ einschließlich eines „Prozesses“. „Ryo“ bedeutet „beide“, hier „beide Parteien“. „Seibai“ bedeutete eigentlich „Bestrafung mit dem Tode“, aber im weiteren Sinne „Bestrafung“ bzw. „Aburteilung“. 35 Der „Grundsatz der Bestrafung beider Parteien bei einem Streit“ lässt sich seit 1400 in fast allen Gebieten Japans finden. Vgl. dazu Shimizu, Katsuyuki, Kenka Ryoseibaiho no Tanjo (Die Entstehung der Bestrafung beider Parteien bei einem Streit), 2006, S. 131. Aber er kann zum ersten Mal klar in der Geschichte urkundlich erst im Jahre 1526 nachgewiesen werden, und zwar in einem Satz in Artikel 8 von „Imagawa-Kanamokuroku“. Auch dazu vgl. Shimizu, a.a.O., S. 4 ff., 178 ff. 36 Urteil des RG vom 25. 07. 1932, Keishu 11, 1.
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ihn und sagte: „Wenn Du mich stechen willst, mach es doch“. Daraufhin beleidigte der A ihn, indem er sagte: „Was willst du denn damit schon anfangen?“ Der Angeklagte stach daraufhin erzürnt mit dem Dolch in die Brust von A und tötete ihn. Urteil: „Die Kampfhandlung des Kämpfers bei einem sog. Streit hat den Charakter, dass jeder Kämpfer jeweils gegen seinen Gegner zugleich Angriff und Abwehr nacheinander und wiederholt ausübt. Deswegen versteht man dieses Geschehen nicht so, dass nur der eine als ungerechtfertigt und der andere als (gerechtfertigter) Verteidiger angesehen wird. Deshalb bleibt bei solchen Streitigkeiten kein Raum mehr dafür, die Regeln zur Notwehr nach § 36 StGB auf die Handlungen beider Kämpfer anzuwenden. Hierin ist der Grund dafür zu finden, warum die beiden Handlungen der Kämpfer jeweils nicht den Charakter der Rechtfertigung haben und die beiden Kämpfer bestraft werden müssen, wie uns das Sprichwort von der ,Bestrafung beider Parteien bei einem Streit‘ schon seit alten Zeiten sagt.“ Als Ergebnis stellt das Urteil fest: „Die Handlung des Angeklagten ist nichts anderes als eine Angriffshandlung bei einem sog. Streitkampf. Sie sollte also nicht als eine Notwehrhandlung verstanden werden.“ 3. Die Entwicklung der Rechtsprechung nach dem Zweiten Weltkrieg Dieser Grundsatz blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg in der Judikatur präsent. Aber er wurde relativiert. a) Urteil des OGH von 1948 Die höchstrichterliche Entscheidung37, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal mit diesem Problem befasste, erschien im Jahre 1948. Der Sachverhalt dieses Falls war folgendermaßen: Der Angeklagte hatte mit dem Opfer einen verbalen Streit. Dieser entwickelte sich zu einer Prügelei. Der Angeklagte wurde geschlagen und mit dem Fuß gestoßen. Der Angeklagte drang darauf entrüstet mit seinem Dolch auf den Gegner ein und schnitt ihn in den rechten Oberarm. Das Opfer starb wegen der dadurch bewirkten Blutung. Das Urteil verneinte ein Notwehrrecht des Angeklagten: „Der sog. Streit, bei dem man gegeneinander Gewalt ausübt, ist eine Kette von kontinuierlichen Kampfhandlungen von beiden Kämpfern, die nacheinander Angriffs- und Abwehrhandlungen wiederholen. Deshalb gibt es den Fall, in dem aus der Sicht des gesamten Geschehens bei diesen Kämpfen kein Raum mehr dafür bleibt, die Regeln der Notwehr nach § 36 StGB anzuwenden.“ Das gilt auch für diesen Fall. Dieses Urteil bestätigte lediglich die ständige Rechtsprechung.
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Urteil des OGH (Großer Senat) vom 07. 07. 1948, Keishu 2, 8, 793.
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b) Urteil des OGH von 1957 Aber in seinem Urteil von 195738 hat der OGH ein Urteil der zweiten Instanz, das die Notwehr wegen der Streitigkeiten verneint hatte, verworfen. Er analysierte die Auslegung nach dem „Grundsatz der Bestrafung beider Parteien“ wie folgt: „Dieser Grundsatz hat einen zweifachen Sinn: Erstens hat er den Sinn, dass die Streitigkeiten bei der Rechtsbeurteilung aus einer Gesamtansicht in Betracht gezogen werden müssen. … Zweitens hat er aber auch den Sinn, dass es bei einem Streit Fälle gibt, in denen die Notwehr zubilligt werden kann“. Das Urteil hat demnach den Sinn dieses Grundsatzes in ein Verhältnis von Grundsatz und Ausnahme „relativiert“. Damit hat das Urteil einen Weg auch zur Berücksichtigung des Notwehrexzesses bei solchen Streitigkeiten eröffnet. c) Erwartung des Angriffs und unmittelbares Drohen Die Rechtsprechung wollte allerdings nicht immer mit diesem Grundsatz die Fälle von Streitigkeiten pauschal lösen. Ein wichtiges anderes Mittel zur Notwehreinschränkung war für die Rechtsprechung ihre Grundthese, dass es kein „unmittelbares Drohen“ (eines Angriffs) gibt, wenn der Angriff schon vorher erwartet werden kann. Das RG39 hat in einem Fall die Notwehr verneint, in dem „der Täter von Anfang an den Streit erwartet hatte und mit der Absicht, den Gegner anzugreifen und zu töten, mit einer Waffe in dessen Wohnung eingetreten war und nach einem Wortwechsel, als der Gegner ihn schlug, diesen abwehrte“. Ferner hat das RG auch in einem anderen Fall die Notwehr verneint, als zwei Personen sich später an einem zuvor erwarteten Angriff des ersten Angreifers beteiligten. Denn der Angriff von den beiden Teilnehmern habe keinen neuen ungerechtfertigten Angriff gebildet.40 Der OGH hat diese Ansicht nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Bezug auf eine Abwehrhandlung bei einer Prügelei übernommen. Der Angeklagte habe sich nicht nur immer gegen den Angriff seiner Gegner verteidigt, sondern er habe schon zuvor den Kampf erwartet und sei trotzdem den Gegnern entgegengetreten. Deswegen sei der Angriff von den Gegnern nicht als „unmittelbar drohender ungerechtfertigter Angriff“ zu verstehen.41 Aber es wurden durchaus auch Zweifel gegenüber dieser Ansicht der Rechtsprechung geäußert, und zwar dahingehend, ob die Pflicht zum Ausweichen mit Selbstverständlichkeit in jedem Fall entsteht, in dem der Angriff erwartet werden kann.
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Urteil des OGH vom 22. 01. 1957, Keishu 11, 1, 31. Urteil des RG vom 14. 10. 1933, Keishu 12, 1776. 40 Urteil des RG vom 28. 05. 1943, Keishu 2, 187. 41 Urteil des OGH vom 25. 11. 1949, Keishu 3, 11, 1801; ebenso Urteil des OGH vom 25. 10. 1955, Keishu 9, 11, 2295. 39
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d) Absicht zum aktiven Angriff und unmittelbares Drohen Zu einer Wende in der ständigen Rechtsprechung kam es im Jahre 1971, als im Gegensatz zum Urteil des OG, das ein unmittelbares Drohen wegen der „Erwartung des Angriffs“ verneint hatte42, der OGH das „unmittelbare Drohen“ wie folgt definierte: „Unmittelbares Drohen im Sinne des § 36 StGB bedeutet entweder eine Situation, in der die Rechtsgutsverletzung gegenwärtig ist, oder einen Zustand, in dem sie unmittelbar bevorsteht. An dem unmittelbaren Drohen fehlt es auch dann nicht ohne Weiteres, wenn der Angriff vorher erwartet wurde.“43 Zu einer noch dramatischeren Wende kam es im Jahre 1977. Der OGH44 gab seine ständige Rechtsprechung auf und entwickelte einen neuen Grundsatz, obwohl die zweite Instanz in dem betreffenden Fall, in dem der Täter einen zweiten Angriff ersichtlich erwartet hatte, das unmittelbare Drohen (des Angriffs) verneint hatte. Sachverhalt: Eine Studentengruppe aus der Studentenbewegung hatte den Angriff einer anderen Studentengruppe vorausgesehen und hatte mit der Absicht, gemeinsam gegen die Gegner vorzugehen, Waffen wie Kanthölzer, Holzschwerter und Eisenrohre usw. zurechtgelegt und beim Angriff der herandrängenden Gegner, etwa 10 Studenten, damit mehrmals heftig zurückgeschlagen. Urteil: „Der Grund, warum der § 36 StGB das unmittelbare Drohen des Angriffs voraussetzt, liegt nicht darin, dass er die Pflicht aufbürden will, den erwarteten Angriff zu vermeiden. Deshalb ist es angemessen, dass das unmittelbare Drohen des Angriffs auch dann nicht mit Notwendigkeit entfällt, wenn der Angriff von dem Verteidiger als zwangsläufig oder sogar als fast sicher vorausgesehen wird“. Jedoch „wird die Anforderung des unmittelbaren Drohens des Angriffs dann nicht mehr erfüllt, wenn der Täter nicht bloß dabei bleibt, den erwarteten Angriff nicht zu vermeiden, sondern dem Angriff mit der Absicht begegnet, die Gelegenheit dazu zu nutzen, seinerseits aktiv den Gegner anzugreifen.“ Mit dieser Entscheidung lässt sich auch eine Begründung dafür geben, weshalb die Notwehr mangels unmittelbaren Drohens des Angriffs versagt wird, wenn der Verteidiger eine solche Absicht bei einer selbst herbeigeführten Notwehrlage hatte. Diese sog. „Absicht zum aktiven Angriff“ muss nicht bei der Verteidigungshandlung gegeben sein, sondern schon vor der Angriffshandlung des Angreifers gebildet worden sein, weil es rational unerklärbar wäre, wenn die Absicht erst bei der Abwehrhandlung, die offensichtlich nach dem Angriff des Angreifers durchgeführt wird, das unmittelbare Drohen des Angriffs in Wegfall brächte, das eigentlich schon vor der Abwehrhandlung entstanden ist. Wenn man diese logische Widersprüchlichkeit vermeiden will, muss man die Absicht zum aktiven Angriff zeitlich schon vor dem Angriff des Angreifers feststellen können. Aber dann entsteht wiederum eine neue Frage, und zwar, ob die bloß „subjektive Absicht“ das objektive unmittelbare 42
Urteil des OG Tokyo vom 24. 11. 1970, Tokyo Jiho 21, 11, 405. Urteil des OGH vom 16. 11. 1971, Keishu 25, 8, 996. 44 Beschluss des OGH vom 21. 07. 1977, Keishu 31, 4, 747.
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Drohen des Angriffs überhaupt beeinflussen kann. Deswegen gibt es in der Wissenschaft nicht wenig Kritik an dieser Konstruktion. Die Ansicht, die die Rechtsprechung unterstützt, erklärt die Richtigkeit der Judikatur wie folgt: In materieller Hinsicht bedeute die „Absicht zum aktiven Angriff“ nicht eine rein subjektive Absicht, sondern die objektive Situation des Angegriffenen vor dem Angriff des Angreifers. Derjenige, der die Absicht zum aktiven Angriff hat, habe sich schon vorher ausreichend auf den Angriff vorbereitet. Denn er habe sich objektiv schon zum Gegenangriff vorbereitet. Diese Vorbereitung des Gegenangriffs könne das „unmittelbare Drohen“ des Angriffs in Wegfall bringen. Aber natürlich ist es nicht unproblematisch, ob diese Erklärung wirklich überzeugend ist. e) Ausweichmöglichkeit und unmittelbares Drohen Es gibt noch einen anderen Ansatz der Rechtsprechung zur Problematik um das „unmittelbare Drohen“. So gibt es eine Reihe von Entscheidungen, die das unmittelbare Drohen dann verneinen, wenn es eine vorherige Möglichkeit des Angegriffenen gibt, dem Angriff auszuweichen. Sie fragt danach, ob es dann einen zeitlichen Spielraum gibt, in dem die geeignete Abwehrmethode gegen den Angriff ergriffen werden kann, wenn der Angriff vorhersehbar ist. Es gibt Entscheidungen unterer Instanzen, in denen das unmittelbare Drohen dann verneint wird, wenn man sich in einer Situation befindet, in der man dem Angriff ausweichen kann, wenn man es denn will.45 Freilich gibt es auch eine Entscheidung, wonach das unmittelbare Drohen nicht verneint werden kann, auch wenn es eine Ausweichmöglichkeit gibt.46 Der OGH hat dann diese uneinheitliche Rechtsprechung beendet47 und wie folgt entschieden: Während das OG das unmittelbare Drohen wegen der Ausweichmöglichkeit und der Möglichkeit, einen Dritten, der daneben stand, um Hilfe zu bitten, verneint habe, geht es bei der Lösung des Problems, „ob es die zur Verfügung stehenden Mittel, um dem Angriff gegen das Rechtsgut zu entgehen, gibt, nicht um das unmittelbare Drohen des Angriffs, sondern vielmehr um die Unvermeidlichkeit der Abwehrhandlung.“ f) Verteidigungswille Was den „Verteidigungswillen“ anbelangt, so ist in der Lehre zwischen zwei Theorien zu unterscheiden. Die eine Theorie hält den Verteidigungswillen für erforderlich, die andere dagegen nicht. Die herrschende Meinung unterstützt die erste Theorie. Auch das Verständnis des Inhalts des Verteidigungswillens ist strittig. Ob die „Kenntnis der Verteidigungssituation“ ausreichend ist oder ob zusätzlich der „Zweck oder die Motivation einer Verteidigung“ gegeben sein muss, ist umstritten: 45
Urteil des OG Hiroshima vom 26. 06. 1950, Koken Sokuho 1, 51; Urteil des OG Tokyo vom 19. 04. 1958, Koko Jiho 9, 4, 112; Urteil des LG Osaka vom 8. 11. 1968, Hanrei Times 233, 193. 46 Urteil des OG Nagoya vom 6. 06. 1960, Kokeishu 13, 4, 354. 47 Urteil des OGH vom 16. 11. 1971, Keishu 25, 8, 996.
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Ein Gegenangriff, der in Raserei und mit Wut durchgeführt wird, ist nach dem ersten Verständnis nicht mit Verteidigungswillen begangen. Ob ein Gegenangriff mit Verteidigungswillen auch bei zusätzlichem Angriffswillen noch innerhalb der Grenzen eines Verteidigungswillens verbleibt, oder ob ein ausschließlicher Verteidigungswille erforderlich ist, ist ebenfalls umstritten. Der OGH hat mit seinem Urteil von 197148 den Verteidigungswillen allerdings nicht verneint, obwohl die Verteidigungshandlung mit Wut durchgeführt wurde. Der Sachverhalt sah folgendermaßen aus: Der Angeklagte, der in einem billigen Gasthaus übernachtet hatte, bekam Streit mit einem Gast A. Als er danach einmal aus dem Gasthaus herausgegangen war und nun zum Gasthaus zurückkommen wollte, um sich bei A zu entschuldigen, wurde er von A heftig mit einer Faust geschlagen. Dabei erinnerte er sich an ein Messer, das er vorher auf die Wandleiste gelegt hatte, und nahm es auf. Er stach mit dem Messer in die linke Brustseite des auf ihn einschlagenden A und brachte ihn damit zu Tode. Der OGH hat das Urteil des OG49 aufgehoben. Nach dem OGH sei das unmittelbare Drohen des Angriffs nicht ohne Weiteres wegen der Vorhersehbarkeit des Angriffs zu verneinen. Es lasse sich auch nicht schließen, dass es wegen der mit Wut durchgeführten Verteidigungshandlung am Verteidigungswillen fehlt. „Für die Abwehrhandlung im Sinne des § 36 StGB ist eine Abwehrhandlung mit Verteidigungswillen erforderlich, aber das ist nicht einfach so zu interpretieren, dass es an dem Verteidigungswillen fehlt, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angriff des Gegners mit Wut oder Raserei zum Gegenangriff übergegangen ist.“ Der Angeklagte war unter die Wandleiste getrieben worden, hatte sich dort an das Messer erinnert und es in diesem Augenblick in die Hand genommen. Deshalb sei es angemessen, festzustellen, dass sein Gegenangriff mit Verteidigungswillen durchgeführt wurde. Danach hat der OGH in einem Urteil von 197550 den Verteidigungswillen auch dann bejaht, wenn der Angeklagte gleichzeitig auch mit Angriffsabsicht gegenüber dem Angreifer gehandelt hat. Er hat sogar in seinem Urteil von 198551 in einem Fall den Verteidigungswillen bejaht, in dem der Täter zugleich auch mit Hass und Wut gegenüber dem Angreifer gehandelt hat und auch mit Angriffsabsicht zur Tat geschritten ist. g) Resultate Die Rechtsprechung hat seit dem Inkrafttreten des geltenden StGB trotz der Streichung der Ausnahmevorschrift für die selbst herbeigeführte Notwehrlage die Notwehr einschränkend interpretiert. Dabei wurde zunächst die Notwehrklausel so ausgelegt, als ob jene Ausnahmevorschrift noch vorhanden wäre. Dann bezog sich die 48
Urteil des OGH vom 16. 11. 1971, Keishu 25, 8, 996. Urteil des OG Tokyo vom 24. 11. 1970, Tokyo Kokeijiho 21, 11, 405. 50 Urteil des OGH vom 28. 11. 1975, Keishu 29, 10, 983. 51 Urteil des OGH vom 12. 09. 1985, Keishu 39, 6, 275.
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Rechtsprechung auf das alte Sprichwort „Grundsatz der Bestrafung beider Parteien bei einem Streit“. Für diese Notwehreinschränkungen brauchte man weder eine Analyse der Kette der Ereignisse zwischen den beiden Streitparteien noch eine theoretische Begründung. Auf der anderen Seite hat die Rechtsprechung auch Theorien entwickelt, nach denen man die Erfüllung der einzelnen Anforderungen der Notwehr verneinen kann, und zwar im Hinblick auf „unmittelbares Drohen“, „Angemessenheit“ und „Verteidigungswille“. Als Grund für die Einschränkung der Notwehr bei der selbst herbeigeführten Notwehrlage wurden eine oder mehrere dieser Anforderungen in die Argumentation eingeführt.
IV. Tendenzen zur Rationalität bei den Einschränkungsgründen in der Rechtsprechung 1. Entscheidungen, die das unmittelbare Drohen und die Unvermeidlichkeit wegen der selbst herbeigeführten Notwehrlage verneinen Das OG Tokyo52 hat zuerst in einem Fall das unmittelbare Drohen wegen der selbst herbeigeführten Notwehrlage verneint, in dem das gesamte Geschehen damit anfing, dass der Angeklagte einen Arm des Opfers (S) ergriff. Urteil: Die Handlung des Angeklagten betrifft den Tatbestand der Ausübung von Gewalttätigkeiten (§ 208 StGB). „Als der Angeklagte mit der Gewaltausübung gegen den S begann und sie fortsetzte, hat der S ein wenig zu stark mit seiner bloßen Hand zurückgeschlagen, um dem Angriff zu entkommen. Es ist jedoch klar, dass es sich um eine solche Situation handelte, in der der Gegenangriff dann sofort beendet werden würde, wenn der Angeklagte nur mit seinen ungerechtfertigten Gewalttätigkeiten aufgehört hätte. Bei diesem Fall lässt sich nicht anerkennen, dass die Handlung, die von dem Angeklagten gegen S erneut ausgeübt wurde, als ,unvermeidliche‘ Handlung zur Abwehr angesehen werden kann. Sogar fehlt es dabei auch an dem unmittelbaren Drohen des Angriffs, weil der Gegenangriff durch den S von dem Angeklagten selbst rechtswidrig herbeigeführt wurde und sogar innerhalb des in der Regel voraussehbaren Bereiches blieb“.
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Urteil des OG Tokyo vom 07. 02. 1996, Hanrei Jiho 1508, 145.
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2. Entscheidungen, die aus mehreren Gründen die Notwehr einschränken Unter den Entscheidungen der Rechtsprechung gibt es solche, die mangels mehrerer die Notwehr einschränkender Gründe die Notwehr bejaht haben.53 Sachverhalt: Der Angeklagte ist nach dem Ende eines Streites mit dem Opfer (A) zunächst einmal nach Hause zurückgegangen. Er hatte jedoch Angst vor der Rache des A. Deswegen ist er das nächste Mal mit einem Küchenmesser bewaffnet ausgegangen. Als er nun aber auf der Straße den A traf, blieb im selben Augenblick stehen. Der A ist in diesem Moment seinerseits mit einem Küchenmesser auf den Angeklagten losgegangen. Als der Angeklagte seinen Körper nach rechts zur Seite kippen wollte, um der Attacke auszuweichen, wurde er in seinen Hals geschnitten. Der A wollte weiter – das Küchenmesser schwingend – auf ihn einstechen. Der Angeklagte dachte, wenn er nichts unternähme, würde er getötet werden. Er nahm deshalb unverzüglich das Küchenmesser in die linke Hand, um sich zu wehren. Er stach wenigstens mit Eventualvorsatz einmal in den Bauch des A. A kam dadurch zu Tode. Urteil: „In diesem Fall hatte der Angeklagte keine Absicht zum aktiven Angriff; er befand sich aber in einer selbst herbeigeführten Notwehrlage. An dem unmittelbaren Drohen fehlt es deswegen jedoch nicht. Weil der Gegenangriff, der nur eine niedrige Wahrscheinlichkeit hatte, von ihm nicht erwartet werden konnte, fehlt es auch nicht an der Angemessenheit als einer Anforderung der Verteidigungshandlung. Deswegen ist Notwehr anzuerkennen“. Das OG Hiroshima54 hat sich auch auf mehrere Gründe berufen. Sachverhalt: Auf einer engen Straße fuhren der Wagen des Angeklagten und der des Opfers (A), jeweils aus der anderen Richtung kommend, nah aneinander vorbei. Dabei stieg der Angeklagte aus seinem Wagen aus und steckte seine Hand durch das Fenster in den Wagen von A hinein und störte dessen Lenkung. Der A stieg dann auch aus seinem Wagen aus, schwenkte einen Regenschirm über seinem Kopf und kam dem Angeklagten nahe. Beide wollten nun einander den Regenschirm wegnehmen. Gerade nachdem der Angeklagte ihn weggenommen hatte, stach die Spitze des Regenschirms in die rechte Halsseite des A, der nachher wegen der entstandenen Blutung verstarb. Urteil: „Wenn man den Fall mit seinem gesamten Geschehen inklusive der Vorund Nachgeschichte in Betracht zieht, hat der Angeklagte von seiner Seite aus provokative Handlungen unternommen, obwohl ein Angriff des Opfers erwartet werden konnte. Als das Opfer mit seinem Angriff anfing, hat er sofort mit der Absicht zum aktiven Angriff eingegriffen. Deswegen ist der Schlag des Opfers von dem Angeklagten trotz der Vorhersehbarkeit selbst herbeigeführt worden. In diesem Fall fehlt es daher an dem unmittelbaren Drohen des Angriffs“. 53 54
Urteil des LG Tokyo vom 12. 03. 1996, Hanrei Jiho 1599, 149. Urteil des OG Hiroshima vom 22. 12. 2003, LEX/DB.
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3. Der Beschluss des OGH bezüglich der selbst herbeigeführten Notwehrlage Kürzlich hat der OGH in einem Beschluss55 von 2008 die Notwehr gerade aus dem Grund verneint, dass eine „Selbst-Herbeiführung der Notwehrlage“ gegeben sei. Das heißt: Man braucht nicht mehr die unklare Gemengelage der verschiedenen Anforderungen, die die Notwehr einschränken können, um die Notwehr zu verneinen. Sachverhalt: Als der 51 Jahre alte A, auf seinem gerade von ihm angehaltenen Fahrrad sitzend, Abfälle auf den Schuttabladeplatz an der Straße warf, kam der 41 Jahre alte Angeklagte X vorbei. Da er den A für verdächtig hielt, sprach er ihn an. Dadurch entstanden zwischen beiden verbale Streitigkeiten. Der X schlug plötzlich mit seiner Faust einmal auf die linke Wange des A und verließ den Ort des Geschehens dann sofort. Der A verfolgte den X mit dem Ruf „Warte!“ mit dem Fahrrad. Als der A ihn erreicht hatte, fuhr er, seinen rechten Arm horizontal ausgestreckt, mit dem Rad von hinten kommend gegen den X und schlug stark auf dessen oberen Rücken oder Hals. Der X fiel durch die Attacke des A nach vorne. Aber im Aufstehen, nahm er aus seiner Bekleidung einen Sonderpolizeiknüppel, den er zum Selbstschutz bei sich trug. Er hat damit das Gesicht und die linke Hand des A, gegen den er sich verteidigen wollte, mehrmals geschlagen. Damit fügte er ihm Körperverletzungen in Form einer Gesichtswunde und eines Knochenbruchs von zwei Fingern der linken Hand zu. Beschluss: „Der Angeklagte hat gegen den A Gewalt ausgeübt, bevor er von A angegriffen worden war. Der Angriff des A gehörte qua Kontinuität und Einheitlichkeit zu dem durch die Gewalttätigkeiten des Angeklagten hervorgerufenen, an dem in der Nähe liegenden Ort entstandenen Geschehen. Da der Angeklagte durch seine ungerechtfertigte Tat den Angriff selbst herbeigeführt hat, wurde die Körperverletzungshandlung in diesem Fall nicht in einer Lage begangen, in der der Gegenangriff gerechtfertigt wäre, insofern als der Angriff des A die Gewalttätigkeiten des Angeklagten nicht unverhältnismäßig stark überwog.“ Nach diesem Beschluss des OGH ist die Notwehr wegen Selbst-Herbeiführung der Notwehrlage unter folgenden Voraussetzungen zu verneinen: Erstens muss der Verteidiger vor dem Angriff Gewalt ausgeübt haben, zweitens muss der Angriff durch die Handlung des Verteidigers „veranlasst“ worden sein, drittens muss „zeitliche und räumliche Nähe“ bzw. „Kontinuität oder Einheitlichkeit“ zwischen Veranlassungshandlung und Verteidigungshandlung gegeben sein. Dazu, was diese Anforderungen im Einzelnen bedeuten, sind unterschiedliche Auslegungen möglich. Aber es erscheint mir folgerichtig zu sein, wenn man diesen Beschluss so interpretieren würde, dass er der sog. Theorie der actio illicita in causa folgt. Diese Interpretation wird durch die Anforderung der Kontinuität und Einheitlichkeit begründet. Der Beschluss hat die „Unrechtmäßigkeit“ der Veranlassungshandlung zwar nicht erwähnt.
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Beschluss des OGH vom 20. 05. 2008, Keishu 62, 6, 1986.
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Aber er scheint die Rechtswidrigkeit der gesamten Handlungen des Verteidigers aus jener der Provokationshandlung abzuleiten.
V. Fazit Der „Grundsatz der Bestrafung beider Parteien bei einem Streit“ hat in der Zeit der unterentwickelten öffentlichen Staatsmacht die Funktion gehabt, dass sich das Recht auf die Lösung der Streitigkeiten durch den Machthaber konzentrierte, indem es die private Gewaltübung von vornherein verbot, und das im Gegensatz dazu, dass in dieser Zeit die Privatrache, also die Selbsthilfe, das einzige Mittel zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit war.56 Im japanischen Mittelalter war das Ehrgefühl bzw. Selbstbewusstsein des Volkes sehr stark und dies waren die Hauptursachen der Streitigkeiten.57 Der obige Grundsatz hatte daher den Zweck, diesen Konflikten vorzubeugen. Darin spiegelte sich die Idee wider, den „Frieden“ der „Gerechtigkeit“ vorzuziehen, also die Idee, dass derjenige, der die Streitigkeiten verursacht hat, ohne Rücksicht auf seine Berechtigung dazu, zu bestrafen ist. In den Entscheidungen vor dem Zweiten Weltkrieg berief man sich seit etwa den 1930er Jahren auf den oben genannten Grundsatz, als ob er der Grundgedanke der Notwehr bei Streitigkeiten gewesen wäre. Diese Grundgedanken lassen sich darin erkennen, dass die Rechtsprechung nicht nur wegen der Selbst-Herbeiführung der Notwehrlage, sondern auch wegen der Vorhersehbarkeit des Angriffs oder auch wegen der Möglichkeit, dem Angriff zu entkommen, das „unmittelbare Drohen“ des Angriffs verneinte. Auch bei der Auslegung der „Unvermeidlichkeit“ der Verteidigungshandlung wurde etwa seit dieser Zeit die Anforderung der „Angemessenheit“ in den Begriff hineingelesen. Die Rechtsprechung hat seit etwa den 1970er Jahren diese einschränkenden Grundgedanken zur Notwehr etwas ausgeglichen. Als einer der Grundgedanken der Notwehr wurde in der japanischen Dogmatik am Anfang der 1980er Jahre die „Rechtsbewährung“ eingeführt,58 was sich heute schon in den Lehrbüchern durchgesetzt hat. Damit hat eine ausführliche Analyse der Falltypologie begonnen. Die letzten Entscheidungen erscheinen noch unter dem starken Einfluss des eingeschränkten Notwehrrechts zu stehen. Dass die Selbst-Herbeiführung der Notwehrlage neuerdings nach dem OGH als eine selbstständige Anforderung der Notwehreinschränkung behandelt wird, lässt sich als ein weiterer positiver Schritt bewerten. Aber noch ist es notwendig, um die Tendenz zur Rationalität in der Judikatur weiter voranzubringen, eine präzise Analyse der Provokationshandlungen durchzuführen, z. B.
56
Vgl. Shimizu (Fn. 35), S. 104 ff. Vgl. Shimizu (Fn. 35), S. 12 ff. 58 Zu der Literatur, die diesen Grundgedanken zum ersten Mal ausführlich begründet hat, vgl. Yamanaka (Fn. 2), S. 23 ff. 57
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auch mit einer Differenzierung zwischen absichtlichen, vorsätzlichen und fahrlässigen Provokationen.59 Das Notwehrrecht in Japan sollte daher meines Erachtens heute noch stärker durch den Gedanken der „Rechtsbewährung“ gestützt werden. Denn eine extrem pazifistische Lösung führt zur Ungerechtigkeit.
59
Zu einzelnen Fallgruppen vgl. schon Yamanaka (Fn. 2), S. 293 ff.
Überlegungen zu einem agnostischen Begriff der Schuldfähigkeit Von Helmut Frister
I. Einführung Im Oktober 2011 hielt Wolfgang Frisch im Rahmen eines Seminars an der Universidad Autónoma de Madrid einen Vortrag „Zur Zukunft des Schuldstrafrechts“. Er verteidigte in diesem Vortrag das Schuldstrafrecht gegen die These, es sei durch die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung überholt.1 Das Schuldstrafrecht – so der Kern seiner Überlegungen – beruhe auf einer normativen Entscheidung in einer Situation des non liquet. Da die Willensfreiheit des Menschen bis heute weder zu beweisen noch zu widerlegen sei, müsse die Entscheidung zwischen unserem heutigen Schuldstrafrecht und einem reinen Präventionsstrafrecht danach getroffen werden, durch welches dieser beiden Modelle die Freiheiten und Rechte der Menschen insgesamt besser zur Geltung gebracht würden. Hier aber erweise sich das Schuldstrafrecht als eindeutig überlegen. Es führe – wie Frisch eindrucksvoll begründete – in der Tendenz zu einer humaneren und milderen Bestrafung, habe generalpräventiv die bessere Wirkung, stoße auf höhere Akzeptanz und harmonisiere besser mit den sonstigen Vorgaben des Rechts, insbes. dem Menschenbild des Grundgesetzes. Diese normative Begründung des Schuldstrafrechts kann zu Recht auf ein hohes Maß an Zustimmung hoffen. Sie enthebt jedoch – wie Frisch in der Diskussion seines Vortrags ohne weiteres einräumte – die Strafrechtswissenschaft nicht der Verpflichtung, zu erklären, wie das Schuldstrafrecht zwischen der schuldhaften und der schuldlosen Begehung einer rechtswidrigen Tat unterscheidet, ohne auf die nach der Prämisse dieser Begründung schon generell nicht nachweisbare und damit erst Recht im Einzelfall nicht feststellbare Willensfreiheit Bezug zu nehmen. Wenn die Strafrechtswissenschaft der neurowissenschaftlichen Kritik am Schuldstrafrecht entgegenhält, dass sich die Straftheorie schon lange vor der aktuellen Diskussion von der Vorstellung einer empirisch festzustellenden Willensfreiheit verabschiedet habe, 1 Einen sehr guten Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der durch Erkenntnisse der Neurowissenschaften entfachten Diskussion geben Lindemann, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, 2010, S. 245 ff. und NK-StGB/Schild, 3. Aufl. 2010, § 20 Rn. 11 ff. beide mit zahlreichen Nachweisen; zu den neurowissenschaftlichen und philosophischen Grundlagen besonders instruktiv R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, 2008, S. 7 ff.
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dann muss sie diese agnostische Position in der Zurechnungsdogmatik auch durchhalten, also ihre Zurechnungsbegriffe so formulieren, dass zur Subsumtion unter diese Begriffe nicht festgestellt werden muss, ob der Wille des Straftäters frei war oder nicht. Erstaunlicherweise wird dieser Zusammenhang zwischen Straftheorie und Zurechnungsdogmatik in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion vielfach ignoriert. Die in der Diskussion um die Legitimation des Strafrechts schon fast triviale Erkenntnis, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht auf ein psychologisch zu verstehendes Anderswollenkönnen gegründet werden kann, ist in der strafrechtlichen Zurechnungsdogmatik merkwürdig folgenlos geblieben. Insbes. bei der Definition der Schuldfähigkeit operieren – wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird – Rechtsprechung und Lehre in weiten Teilen noch immer mit Begriffen, die mehr oder weniger offen auf ein solches Anderswollenkönnen Bezug nehmen. Sie provozieren damit den Einwand, dass die straftheoretische Distanzierung von der Vorstellung einer empirischen Willensfreiheit nicht ernst gemeint sein könne, da jedenfalls die Anwendung eines Schuldstrafrechts ungeachtet aller gegenteiligen Beteuerungen i. Erg. doch eine solche Willensfreiheit voraussetze. Zu widerlegen ist dieser Einwand nur durch eine konsequent agnostische, d. h. weder explizit noch implizit auf ein Anderswollenkönnen Bezug nehmende Begriffsbestimmung der Schuldfähigkeit. Dazu sind in der aktuellen Diskussion von Herzberg2 und R. Merkel3 interessante Vorschläge unterbreitet worden. Ich möchte in meinem Beitrag diese und einige schon etwa ältere, nach wie vor aktuelle Konzeptionen kritisch würdigen (unter III.), meine eigene, bereits vor der durch die Erkenntnisse der Hirnforschung ausgelösten Debatte entwickelte4 Lösung verteidigen (unter IV. und V.) sowie zum Abschluss kurz auf Konsequenzen für die Legitimation des Strafrechts eingehen (unter VI.). Zunächst aber ist näher darzulegen, dass und in welcher Weise mit dem traditionellen Verständnis der Schuldfähigkeit auf die Vorstellung eines indeterministischen Anderswollenkönnens Bezug genommen wird (unter II.).
II. Die indeterministische Prämisse im herkömmlichen Verständnis der Schuldfähigkeit Die traditionelle Auffassung definiert die Schuldfähigkeit in Anlehnung an die Formulierung der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften bekanntlich mit den Begriffen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Zwar regeln die §§ 20, 21 StGB nur 2
Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, passim; ders., FS Achenbach, 2011, S. 157 ff.; ders., ZStW 124 (2012), 12 ff. 3 R. Merkel (Fn. 1), S. 110 ff.; ders., FS Roxin, 2011, S. 737 ff. 4 Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“ – zugleich eine Analyse des Verhältnisses von Schuld und positiver Generalprävention, 1993, S. 118 ff.
Überlegungen zu einem agnostischen Begriff der Schuldfähigkeit
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den Ausschluss bzw. die Verminderung der Schuldfähigkeit wegen seelischer Störungen. Aber aus beiden Regelungen wird im Umkehrschluss abgeleitet, dass das Gesetz unter Schuldfähigkeit die Fähigkeit versteht, das Unrecht der Tat einzusehen (sog. Einsichtsfähigkeit) und gemäß dieser Einsicht zu handeln (sog. Steuerungsfähigkeit). In der Regelung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Jugendlicher wird diese in den §§ 20, 21 StGB negativ umschriebene Begriffsbestimmung der Schuldfähigkeit positiv formuliert. Nach § 3 JGG hängt die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Jugendlichen davon ab, dass er reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Entgegen einer in der Literatur mitunter anzutreffenden Auffassung5 enthält diese traditionelle Begriffsbestimmung der Schuldfähigkeit nicht schon deshalb eine indeterministische Prämisse, weil sie auf Fähigkeiten des Menschen abstellt, etwas zu erkennen oder zu tun, was er tatsächlich nicht erkannt bzw. nicht getan hat. Der Begriff der Fähigkeit ist keineswegs notwendigerweise indeterministischer Natur. Von einer Fähigkeit sprechen wir immer dann, wenn wir zum Ausdruck bringen wollen, dass es allein von der Motivation eines Menschen abhängt, ob er eine bestimmte Leistung erbringt oder nicht. Auf die Frage, ob der Mensch auch eine andere Motivation haben, also etwas anderes wollen könnte, kommt es dabei gar nicht an.6 So lässt sich insbes. die schon für die Verwirklichung eines Straftatbestands erforderliche Handlungsfähigkeit ohne weiteres als motivatorisch gesteuerte Disposition definieren. Usain Bolt ist fähig, die 100 m unter 10 Sekunden zu laufen, weil er die 100 m unter 10 Sekunden läuft, sobald er entsprechend motiviert ist. Aus welchem Grund er diese Motivation hat oder auch einmal nicht hat, wird mit dem Begriff der Handlungsfähigkeit nicht thematisiert. Auch kognitive Fähigkeiten wie Wahrnehmungsfähigkeit, Erinnerungsfähigkeit oder Urteilsfähigkeit lassen sich als motivatorisch gesteuerte Dispositionen definieren. Allerdings ist die mit kognitiven Fähigkeiten in Bezug genommene motivatorische Steuerung etwas anders geartet als bei der Handlungsfähigkeit. Kognitive Anstrengungen werden durch eine auf den zu erfassenden Sachverhalt konzentrierte Aufmerksamkeit, eine noch nicht auf ein bestimmtes Ergebnis festgelegte Motivation zu dessen richtigen Erfassung gesteuert. Dementsprechend bezeichnet eine kognitive Fähigkeit die Eigenschaft eines Menschen, einen Sachverhalt zutreffend zu erfassen, wenn er sich auf dessen Erfassung konzentriert, er ihn richtig erfassen will. Aus welchem Grund der Mensch sich um die betreffende Erkenntnis bemüht oder auch nicht bemüht, wird aber durch eine kognitive Fähigkeit ebenfalls nicht thematisiert. Deshalb beinhaltet auch die Fähigkeit zur Erkenntnis der tatsächlichen Folgen und der rechtlichen Bewertung einer Handlung keinerlei indeterministische Prämisse, so dass sowohl die Fahrlässigkeit als auch die Vermeidbarkeit eines Verbotsirr-
5 Vgl. etwa Dreher, Die Willensfreiheit, 1987, S. 23 ff.; und neuerdings wieder Herzberg, ZStW 124 (2012), 12 (27 ff.). 6 Vgl. dazu im Einzelnen Frister (Fn. 4), S. 100 ff. m.N.
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tums ungeachtet aller sonstigen Schwierigkeiten bei der Bestimmung dieser Begriffe insoweit keine Probleme aufwerfen.7 Die indeterministische Problematik der traditionellen Begriffsbestimmung der Schuldfähigkeit liegt nicht in der Verwendung des Begriffs der Fähigkeit, sondern in dem Gegenstand, auf den sich die Steuerungsfähigkeit bezieht. Die gesetzliche Umschreibung der Steuerungsfähigkeit verschleiert diese Problematik allerdings durch eine dem Gesetzgeber von Anfang an bewusste8 Falschbezeichnung. Das Gesetz spricht von der Fähigkeit, gemäß der Einsicht in das Unrecht zu „handeln“, obwohl die Steuerungsfähigkeit nicht die bereits für die Verwirklichung des Straftatbestandes erforderliche Handlungsfähigkeit, d. h. nicht die physischen Voraussetzungen für eine rechtmäßige Handlung, sondern die psychischen Voraussetzungen für die Bildung eines auf eine rechtmäßige Handlung gerichteten Willens thematisieren soll. Erst mit der Korrektur dieser Falschbezeichnung wird die indeterministische Problematik des Begriffs der Steuerungsfähigkeit offenbar. Diese erweist sich dann als Fähigkeit des rechtswidrig handelnden Täters, einen rechtmäßigen, der Einsicht in das Unrecht entsprechenden Willen zu bilden. Die traditionelle Begriffsbestimmung der Schuldfähigkeit versucht – auch wenn dies nur selten ausformuliert und konsequent zu Ende gedacht wird – diese Fähigkeit ebenfalls als motivatorisch gesteuerte Disposition zu definieren. Sie begreift die Motivation eines Menschen wiederum als motivatorisch gesteuert und versteht dementsprechend die Steuerungsfähigkeit als Fähigkeit, einen auf die Bildung eines Willens gerichteten Willen, also gewissermaßen einen Willen zweiter Ordnung gegen innere Widerstände durchzusetzen. Ein Täter sei steuerungsfähig, wenn sein „Hemmungsvermögen“ oder seine „Willenskraft“ ausreichten, einen Willen zur Bildung eines auf die Beachtung des Rechts gerichteten Willen gegen die auf die Begehung der Straftat gerichteten Antriebe durchzusetzen.9 Wäre dieses Modell des Willensbildungspro7 Entgegen der Auffassung von Herzberg, ZStW 124 (2012), 12 (60 ff.), sind diese Zurechnungsbegriffe deshalb anders als die Schuldfähigkeit auch ohne Umdeutung mit einer agnostischen Grundposition in Einklang zu bringen. 8 Um die Steuerungsfähigkeit von der bloßen Handlungsfähigkeit zu unterscheiden, hatte der Entwurf von 1913 die im Gegenentwurf von 1911 vorgeschlagene, dem heutigen Gesetz entsprechende Formulierung zunächst durch die Fähigkeit, „seinen Willen gemäß dieser Einsicht zu bestimmen“ ersetzt (§ 20 E 1913). Dieser Formulierung wurde jedoch entgegengehalten, sie enthalte ebenso wie die im RStGB von 1871 verwendete Formulierung der „freien Willensbestimmung“ i. Erg. doch wieder eine Stellungnahme für den Indeterminismus, weil ein Determinist mit der Fähigkeit, seinen Willen gemäß der Einsicht in das Unrecht zu bestimmen, nichts anfangen könne (Gleispach, in: Der Deutsche Strafgesetzentwurf, 1921, S. 7, 11). Bei den weiteren Reformberatungen kehrte man deshalb wieder zu der Formulierung des Gegenentwurfs von 1911 zurück, d. h. man nahm die falsche Bezeichnung als Handlungsfähigkeit bewusst in Kauf, weil es nicht gelang, die tatsächlich gemeinte Willensbildungsfähigkeit begrifflich von einer indeterministischen Willensfreiheit abzuheben. 9 Bereits die noch zur ursprünglichen gesetzlichen Definition der Schuldfähigkeit mit dem Begriff der „freien Willensbestimmung“ ergangene Rspr. des Reichsgerichts ging von einer derartigen Vorstellung der Willenssteuerung aus (z. B. RGSt 57, 76 f.; 63, 46 [48]; 67, 149 f.). In der Rspr. des Bundesgerichtshofs ist diese Vorstellung vor allem in der Entscheidung
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zesses tragfähig, so ließe sich die Steuerungsfähigkeit in der Tat von der indeterministischen Vorstellung eines Anderswollenkönnens unterscheiden, weil es für ihr Vorliegen nicht darauf ankäme, dass ein Straftäter auch den Willen zur Bildung eines auf die Beachtung des Rechts gerichteten Willen haben konnte. Obwohl das geschilderte Modell des Willensbildungsprozesses bei seiner Ausformulierung recht gekünstelt erscheint und bei entsprechender Fortsetzung in einen infiniten Regress führen würde, kommt es unseren alltagstheoretischen Vorstellungen durchaus entgegen. Dies erklärt sich daraus, dass es auf der historisch noch immer wirkungsmächtigen Vorstellung eines Kampfes der Vernunft mit den Trieben beruht.10 Der auf die Bildung eines Willens gerichtete Wille zweiter Ordnung ist nach dieser Vorstellung die Vernunft des Menschen, die im Willensbildungsprozess gegen widerstrebende Triebe durchzusetzen ist. Die Wissenschaft hat sich von derartigen Modellvorstellungen allerdings schon seit langem und zu Recht verabschiedet.11 Die Psychologie spricht dem Menschen zwar durchaus die Fähigkeit zu einer Kontrolle von Antriebserlebnissen zu und kann diese Kontrolle inzwischen sogar in bestimmten Hirnregionen lokalisieren.12 Aber diese Kontrolle erfolgt allein in der Weise, dass neben dem jeweiligen Antrieb auch andere Präferenzen der Person in den Willensbildungsprozess mit einbezogen werden. Eine Aufteilung der in den Willensbildungsprozess eingehenden Beweggründe in Vernunftgründe, die einen Willen zur Bildung eines bestimmten Willens konstituieren, und Triebe, die von diesem Willen zweiter Ordnung zur Bildung des von ihm angestrebten Willens zu überwinden sind, ist damit selbstverständlich nicht verbunden. Die Undurchführbarkeit einer derartigen Aufteilung zeigt bereits die Überlegung, dass sich jeder im Willensbildungsprozess auftretende Entscheidungskonflikt zu einem Problem der Durchsetzung eines durch Vernunftgründe bestimmten „eigentlichen Willens“ gegen einen widerstrebenden Antrieb umformulieren lässt. Gewinnstreben, Geltungssucht, Rache, Hass und andere gängige Motive für die Begehung von Straftaten kann man ebenso gut als den „eigentlichen Willen“ des Täters mitbestimmende wie als ihm entgegengesetzte, durch den Einsatz von „Hemmungsvermögen“ oder „Willenskraft“ zu unterdrückende oder auch möglicherweise nicht mehr zu unterdrückende Antriebe ansehen. Gibt es aber keine sachliche Grundlage dafür, die Beweggründe menschlichen Handelns in den Willen zur Willensbildung bestimmende und durch diesen Willen zu überwindende Antriebe aufzuteilen, so kann der Willensbildungsprozess selbst nicht mehr als motivatorisch gesteuert begriffen werden. Dementsprechend lässt sich eine Fähigkeit zur Bildung eines der EinBGHSt 14, 30 (32 f.) explizit zum Ausdruck gebracht worden, deren Formulierungen die Rspr. zum Begriff der Steuerungsfähigkeit bis heute prägen. 10 Vgl. zu den weit zurückreichenden geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser Vorstellung Schopenhauer, in: ders. (Hrsg.), Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Aufl. 1860, S. 103 (151 ff.). 11 Vgl. dazu im Einzelnen Frister (Fn. 4), S. 108 ff. m.N. 12 Vgl. für einen Überblick über den derzeitigen Forschungsstand Heckhausen/Heckhausen, Motivation und Handeln, 4. Aufl. 2010, S. 263 ff. m.w.N.
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sicht in das Unrecht entsprechenden Willens nicht als motivatorisch gesteuerte Disposition begreifen. Als Zwischenergebnis ist damit festzustellen, dass die traditionelle Begriffsbestimmung der Schuldfähigkeit auf einer verfehlten Analogie zwischen dem Willensbildungsprozess und dem Prozess der Handlungssteuerung beruht. Während sich die Handlungsfähigkeit und auch kognitive Fähigkeiten als motivatorisch gesteuerte Dispositionen ohne indeterministische Prämisse erfassen lassen, ist eine solche Begriffsbestimmung bei einer als Fähigkeit zur Bildung eines rechtmäßigen Willens begriffenen Steuerungsfähigkeit nicht möglich. Die Fähigkeit eines rechtswidrig handelnden Täters, einen auf die Beachtung des Rechts gerichteten Willen zu bilden, ist identisch mit einem indeterministischen Anderswollenkönnen. Solange die Strafrechtswissenschaft die Schuldfähigkeit des Täters mit einem solchen Begriff definiert, muss sie sich zu Recht vorhalten lassen, ungeachtet aller gegenteiligen straftheoretischen Beteuerungen i. Erg. doch die Willensfreiheit im Sinne eines Anderswollenkönnens vorauszusetzen, so dass eine agnostische Straftheorie die Schuldfähigkeit in anderer Weise deuten muss.
III. Agnostische (oder deterministische) Deutungen der Schuldfähigkeit 1. Schuldunfähigkeit als Motivation durch bestimmte psychische Störungen (Herzberg) Zur Lösung des Problems hat Herzberg eine neue Lesart der gesetzlichen Regelung der Schuldfähigkeit vorgeschlagen.13 Sie knüpft daran an, dass nach dem Wortlaut des § 20 StGB der Täter nur schuldunfähig ist, wenn seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit gerade wegen einer der im Gesetz genannten seelischen Störungen ausgeschlossen ist. Aufgrund dieses Gesetzeswortlauts sei die traditionelle Vorstellung, die Schuldfähigkeit werde durch die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit konstituiert, schon im Ansatz verfehlt. Bei unbefangener Lektüre des § 20 StGB komme es für die Entscheidung über die Schuldfähigkeit lediglich darauf an, aus welchem Grund die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen sei.14 Der Ausschluss als solcher sei gar nicht zu subsumieren, sondern werde im Gesetz vorausgesetzt.15 Es gehe zu Recht davon aus, dass ein Mensch niemals einen anderen Willen bilden konnte, als er tatsächlich gebildet hat, und deshalb nicht nur der schuldunfähige, sondern jeder Straftäter bei der Begehung seiner Tat einsichts- oder steuerungsunfähig war. 13
Erstmals und am ausführlichsten begründet in seiner Monographie Willensfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, S. 104 ff.; vgl. ferner seine Beiträge in FS Achenbach, 2011, S. 157 (170 ff.); sowie ZStW 124 (2012), 12 (23 ff.). 14 Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf (Fn. 2), S. 105 f. 15 Herzberg, FS Achenbach (2011), S. 157 (172).
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I. Erg. komme es deshalb für die Entscheidung über die Schuldfähigkeit allein darauf an, ob und inwieweit der Täter durch eine der in §§ 20, 21 StGB genannten seelischen Störungen zur Begehung seiner Tat motiviert worden sei. Beruhe die Tat allein auf einer dieser Störungen, so sei der Täter schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB, lasse sie sich nicht allein, aber immerhin noch „zu einem erheblichen Teil auf die seelische Störung zurückführen“, so sei der Täter vermindert schuldfähig im Sinne des § 21 StGB.16 Obwohl die Regelung der Verantwortlichkeit Jugendlicher in § 3 JGG die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit positiv formuliere, lasse auch sie sich in entsprechender Weise deuten.17 Ein Jugendlicher sei strafrechtlich nicht verantwortlich, wenn das Fehlen der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit auf noch fehlender sittlicher oder geistiger Reife beruhe. Herzberg selbst geht davon aus, dass seine neue Lesart mit dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung der Schuldfähigkeit sogar besser zu vereinbaren sei als die traditionelle Deutung.18 Dies ist jedoch insofern nicht richtig, als es nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht darauf ankommt, ob der Täter wegen einer seelischen Störung gehandelt, sondern darauf, ob wegen einer seelischen Störung seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen bzw. vermindert war. Wenn – wie Herzberg annimmt – auch ein seelisch kerngesunder Straftäter bei der Begehung seiner Tat stets einsichts- oder steuerungsunfähig ist, dann kann eine seelische Störung zwar der Grund für die Begehung einer Straftat sein, aber niemals der Grund dafür, dass bei Begehung dieser Tat die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen oder gar vermindert war. Insbes. das sich bei dieser Lesart ergebende widersprüchliche Konstrukt der Verminderung angeblich im Gesetz bereits als nicht existent vorausgesetzter Fähigkeiten macht deutlich, dass Herzberg mit seiner Konzeption den Wortlaut der gesetzlichen Schuldfähigkeitsregelungen nicht etwa besonders ernst nimmt, sondern ihn wegen der indeterministischen Natur der Steuerungsfähigkeit i. Erg. korrigiert. Das bedeutet allerdings nicht, dass seine Konzeption nicht gleichwohl tragfähig sein könnte. Soweit der Wortlaut der gesetzlichen Regelung eine indeterministische Prämisse beinhaltet, muss er für die notwendige agnostische Definition der Schuldfähigkeit so oder so korrigiert werden. Insofern kommt es für die Beurteilung des von Herzberg vorgeschlagenen Verzichts auf die Merkmale der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit weniger auf dessen Vereinbarkeit mit dem Wortlaut des Gesetzes als auf die Frage an, ob es möglich ist, allein anhand der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB eine tragfähige Entscheidung über die Schuldfähigkeit zu treffen. Dies allerdings stellt schon Herzberg selbst implizit in Frage, indem er die mit dem Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ vollzogene Auswei16
Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf (Fn. 2), S. 113. Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf (Fn. 2), S. 111 f. 18 Vgl. etwa Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf (Fn. 2), S. 107 f.; ders., FS Achenbach, 2011, S. 157 (172); ders., ZStW 124 (2012), 12 (24 f.); ähnlich die Einschätzung von R. Merkel, FS Roxin, 2011, S. 737 (741): Es handele sich um eine „mit dem Wortlaut des § 20 StGB ohne weiteres verträgliche Auslegung“. 17
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tung der Schuldunfähigkeit auf andere als „krankhafte seelische Störungen“ als inkonsequent kritisiert.19 Damit werde die Schuldunfähigkeit auf seelische Zustände ausgedehnt, die zum Charakter eines Menschen gehörten und für die er deshalb einzustehen habe. In der Tat hat das – unsäglich formulierte20 – Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ bei der gesetzlichen Aufzählung der die Schuldfähigkeit in Frage stellenden seelischen Störungen eine Auffangfunktion. Es soll „jenen unbestimmten Rest abnormer seelischer Phänomene“ erfassen, der von den anderen Merkmalen nicht abgedeckt wird, und damit dafür Sorge tragen, dass die Regelung des § 20 StGB das Schuldprinzip konsequent verwirklicht, d. h. alle Fälle von Schuldunfähigkeit lückenlos erfasst. Damit sind i. Erg. alle psychischen Störungen „andere seelische Abartigkeiten“ im Sinne der §§ 20, 21 StGB, so dass bei dem vorgeschlagenen Verzicht auf eine Subsumtion unter die gesetzlichen Merkmale der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit die notwendige Begrenzung nur noch über die „Schwere“ der Störung erfolgen könnte. Ohne einen in den Eingangsmerkmalen der §§ 20, 21 StGB nicht enthaltenen allgemeinen Begriff der Schuldfähigkeit ließe sich diese Schwere aber allenfalls nach medizinischen Kriterien bemessen und wäre damit für sich genommen sicherlich nicht dazu geeignet, Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit zu begründen. I. Erg. zeigt sich damit, dass eine tragfähige Entscheidung über die Schuldfähigkeit nicht allein anhand der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB getroffen werden kann, sondern einen allgemeinen Begriff der Schuldfähigkeit voraussetzt, der mit den gesetzlichen Merkmalen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zwar nicht richtig bezeichnet ist, auf den in der Sache aber nicht verzichtet werden kann. Letztlich rekurriert auch Herzberg auf einen solch allgemeinen Begriff, indem er – wie vor ihm schon Schopenhauer21 und in der Strafrechtswissenschaft insbes. A. Merkel22 und Engisch23 – die Schuld als Charakterschuld begreift24 und den entscheidenden Unterschied zwischen einem schuldfähigen und einem nicht schuldfähigen Straftäter darin sieht, dass ersterer durch sein „inneres Wesen“, letzterer hingegen durch nicht zu seinem „inneren Wesen“ gehörende Faktoren zur Tat motiviert worden sei.25 Dies wäre jedoch nur dann eine tragfähige Lösung, wenn sich das „innere Wesen“ eines Menschen von nicht zu ihm gehörenden psychischen Faktoren abgrenzen ließe. Was Herzberg hierzu ausführt, entspricht dem somatischen Krankheitsbegriff des Psychiaters Kurt Schneider26, der die (missglückte) Formulierung der Eingangs19
Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf (Fn. 2), S. 116 ff. Vgl. die Kritik bei NK-StGB/Schild (Fn. 1), § 20 Rn. 71 m.w.N. 21 Schopenhauer, Preisschrift „Über die Freiheit des Willens“, 2. Aufl. 1860, S. 93 ff. 22 A. Merkel, Die Lehre von Verbrechen und Strafe, 1912, S. 89 ff. 23 Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit, 2. Aufl. 1965, S. 46 ff. 24 Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf (Fn. 2), S. 95 ff. 25 Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf (Fn. 2), S. 113 ff. 26 Schneider, Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit, 1948, S. 5 ff.
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merkmale der §§ 20, 21 StGB maßgeblich geprägt hat,27 und vermag i. Erg. nicht zu überzeugen.28 Eine seelische Störung soll zum „inneren Wesen“ eines Menschen gehören, wenn sie nicht auf einen nachweisbaren oder postulierbaren hirnpathologischen Zustand oder Vorgang zurückgehe.29 Eine derartige Unterscheidung lässt sich im Lichte der neueren Erkenntnisse der Hirnforschung nicht mehr aufrechterhalten. Die Neurowissenschaften haben zwar nicht die Willensfreiheit experimentell widerlegt,30 aber sie haben mit Hilfe moderner Bildgebungsverfahren veranschaulicht, dass die Psyche des Menschen und damit auch sein „inneres Wesen“ insgesamt hirnphysiologisch vermittelt ist. Dementsprechend ist auch eine psychische Störung ohne korrelierende physiologische Vorgänge oder Zustände im Gehirn gar nicht denkbar, weshalb der Krankheitsbegriff Kurt Schneiders in der Psychiatrie heute zu Recht als überholt gilt.31 2. Schuldfähigkeit als Zuschreibung nach Maßgabe des Strafbedürfnisses (Jakobs) Wenn die gesetzlichen Merkmale der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei einem wörtlichen Verständnis keinen tragfähigen Begriff der Schuldfähigkeit beschreiben, zugleich aber bei der Anwendung des Gesetzes auf einen solchen Begriff nicht verzichtet werden kann, bleibt nur die Möglichkeit, die gesetzliche Beschreibung der Schuldfähigkeit umzudeuten, d. h. die Begriffe Einsichts- und Steuerungsfähigkeit als Synonym für ein anderes Kriterium zu verstehen, anhand dessen die Entscheidung über die Schuldfähigkeit zu treffen ist und auch tatsächlich getroffen wird. Eine besonders radikale Form einer solchen Umdeutung scheint die von Günther Jakobs entwickelte Konzeption zu ermöglichen, die strafrechtliche Schuld insgesamt als Zuschreibung nach dem Maß des jeweiligen Präventionsinteresses zu verstehen.32 Die schwierige Frage, welche psychische Konstitution die Schuldfähigkeit 27
Vgl. dazu die Darstellung bei NK-StGB/Schild (Fn. 1), § 20 Rn. 23 f. Vgl. zur Kritik auch R. Merkel, FS Roxin, 2011, S. 747 ff., der die Abgrenzung „Krankheit vs. Charakter“ zu Recht als „bei weitem zu grob“ erachtet, um der Unterscheidung „schuldunfähig vs. schuldfähig“ eine tragfähige Grundlage zu geben. 29 Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf (Fn. 2), S. 114 und 116 ff. 30 Vgl. zur erkenntnistheoretischen Naivität eines solchen Unterfangens immer noch lesenswert Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), 505 ff., der die bis heute verbreitete Aussage, die Willensfreiheit sei „nicht beweisbar“, zu Recht als „ein unausrottbares Mißverständnis“ kritisiert und präzise herausarbeitet, dass das Problem der Willensfreiheit nicht in der Unmöglichkeit der Feststellung eines bestimmten psychischen Sachverhalts, sondern darin begründet liegt, dass wir schon gar keinen psychischen Sachverhalt angeben können, dessen Vorliegen die Willensfreiheit beweisen (oder widerlegen) würde. 31 Vgl. dazu näher Schneider/Frister/Olzen, Begutachtung psychischer Störungen, 2. Aufl. 2010, S. 127 f. 32 Vgl. zu dieser erstmals in dem 1976 veröffentlichen Vortrag „Schuld und Prävention“ vorgestellten und seitdem vielen weiterer Veröffentlichungen fortentwickelten Konzeption zusammenfassend Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 17/18 ff. 28
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des Menschen begründet, scheint sich für diese Konzeption gar nicht zu stellen, weil auch die Schuldfähigkeit für sie nur ein Synonym dafür ist, dass die Bestrafung der betreffenden Person zur Erhaltung der Normanerkennung notwendig ist. Bei näherer Überlegung zeigt sich allerdings rasch, dass selbst bei dieser zweckbestimmten Deutung des strafrechtlichen Schuldbegriffs die Schuldfähigkeit nicht als eine im Einzelfall nach Maßgabe des jeweiligen Strafbedürfnisses erfolgende, von der psychischen Konstitution der Person unabhängige Zuschreibung begriffen werden kann. Weil das Bedürfnis nach der die Normgeltung bestätigenden Bestrafung nur entsteht, wenn und soweit der Straftäter die Kompetenz hat, „Normgeltung zu desavouieren“33, und diese Kompetenz voraussetzt, dass er als selbstbestimmungsfähig begriffen wird, werden die Menschen in dem der Erhaltung der Normgeltung dienenden Strafrecht – entgegen dem bekannten Wort von Friedrich Nietzsche34 – nicht als frei gedacht, um bestraft werden zu können, sondern sie werden bestraft, weil ihr als frei gedachtes Verhalten die Normgeltung beeinträchtigt. Wenn aber das Bedürfnis nach der die Normgeltung bestätigenden Bestrafung erst die Folge der Zuerkennung von Selbstbestimmungsfähigkeit und damit Schuldfähigkeit ist, dann kann diese Zuerkennung nicht ihrerseits nach Maßgabe dieses Bedürfnisses vorgenommen werden.35 Die geläufige Bezeichnung der Schuldfähigkeit als „Zuschreibung“36 leistet dementsprechend keinen Beitrag zu der für die Anwendung des Schuldstrafrechts unumgänglichen agnostischen Begriffsbestimmung der Schuldfähigkeit. Eine solche Bezeichnung mag in Anbetracht der Tatsache, dass es ein psychologisches Anderswollenkönnen des Menschen nicht gibt, ihre Berechtigung haben. Sie entbindet aber in keiner Weise von der Notwendigkeit, ein psychisches Substrat der Schuldfähigkeit zu bestimmen, d. h. den psychischen Sachverhalt zu beschreiben, bei dessen Vorliegen Schuldfähigkeit „zuzuschreiben“ ist und auch tatsächlich „zugeschrieben“ wird. Das zu lösende Problem haben die Motive zum Strafgesetzbuch von 1871 zutreffend mit den Worten umschrieben, der Begriff der Schuldfähigkeit müsse den „normalen Zustand geistiger Gesundheit (erfassen), dem die Rechtsanschauung des Volkes die strafrechtliche Verantwortlichkeit tatsächlich zuschreibt“.37 3. Schuldfähigkeit als normative Ansprechbarkeit (Roxin, Merkel) Soweit sich die strafrechtswissenschaftliche Diskussion darum bemüht, diesen Zustand ohne indeterministische Prämisse zu beschreiben, wird der Begriff der Fä33
So die bekannte Formulierung von Jakobs (Fn. 32), 18/1. Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, 1889, S. 48. 35 Vgl. dazu näher Frister (Fn. 4), S. 120 f. mit Fn. 70. 36 Vgl. z. B. Jakobs (Fn. 32), 17/23. 37 Vgl. bei Brinkmann, Die Begriffsbestimmung der Zurechnungsfähigkeit, 1935, S. 60. 34
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higkeit zu einer der Einsicht in das Unrecht entsprechenden Willensbildung zumeist durch die Begriffe „normative Ansprechbarkeit“38 bzw. „Motivierbarkeit durch Normen“39 ersetzt. Ein derartiger Lösungsvorschlag findet sich insbes. bei Roxin, dessen Ansatz unlängst von R. Merkel in einem Festschriftbeitrag näher ausgearbeitet und verteidigt worden ist.40 Roxin betont ausdrücklich, dass die normative Ansprechbarkeit im Gegensatz zur Willensfreiheit ein erfahrungswissenschaftlicher Befund sei.41 Jeder voll zurechnungsfähige Erwachsene erlebe es tagtäglich, dass er sein Verhalten an Normen orientiere und könne gegebenenfalls selbst beobachten, wie diese normative Ansprechbarkeit unter dem Einfluss des Alkohols oder hochgradiger Affekte nachlasse. Dementsprechend halte er sich zu Recht für normativ ansprechbar, ohne damit die völlige Freiheit seines Willens vorauszusetzen.42 Diese Überlegungen verdienen insoweit Zustimmung, als sie davon ausgehen, dass es eine u. a. unter dem Einfluss des Alkohols oder hochgradiger Affekte nachlassende reale psychische Konstitution gibt, bei deren Vorliegen sich die Menschen Selbstbestimmungsfähigkeit und damit auch Schuldfähigkeit zuerkennen. Richtig ist auch, dass diese psychische Konstitution Einfluss darauf haben kann, ob und inwieweit die Menschen normgemäß handeln. Aber dies bedeutet noch nicht, dass diese psychische Konstitution mit einer normativen Ansprechbarkeit der Menschen gleichzusetzen wäre. Alkohol oder hochgradige Affekte begünstigen schließlich nicht nur die Begehung von Straftaten, sondern führen generell zu einem Verlust an Besonnenheit, der auch außerhalb des (straf-)rechtlich geregelten Bereichs die Fähigkeit der Menschen beeinträchtigt, ihre Angelegenheiten verständig zu regeln. Dementsprechend ist allgemein anerkannt, dass Alkohol und hochgradige Affekte nicht nur die Schuldfähigkeit, sondern z. B. auch die Geschäfts-, Testier- oder Einwilligungsfähigkeit beeinträchtigen können. Um beurteilen zu können, ob die Bestimmung der Schuldfähigkeit als normative Ansprechbarkeit i. Erg. tragfähig ist, muss der sachliche Gehalt dieses Begriffs präzise bestimmt und dabei insbes. von dem traditionellen – wie gezeigt indeterministischen – Verständnis der Steuerungsfähigkeit abgegrenzt werden. Sobald die Tatsache, dass ein schuldfähiger Straftäter sich i. Erg. nicht durch die Norm hat motivieren lassen, auf einen entgegenstehenden Willen, d. h. darauf zurückführt wird, dass er sich nicht durch die Norm motivieren lassen wollte, unterscheidet sich der Begriff der normativen Ansprechbarkeit nicht mehr von dem der Fähigkeit zu einer der Norm gemäßen Willensbildung. Ein im Gegensatz zur Willensfreiheit „erfahrungswissenschaftlicher Befund“ kann die normative Ansprechbarkeit nur sein, wenn bei 38
Dieser insbes. von Roxin verwendete Begriff findet sich zuerst bei Noll, FS H. Mayer, 1966, S. 219. 39 So z. B. die Formulierung bei Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn. 26; für weitere Formulierungsvarianten vgl. Frister (Fn. 4), S. 118 m.N. 40 R. Merkel, FS Roxin, 2011, S. 737 ff. 41 Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 36. 42 Roxin (Fn. 41), § 19 Rn. 38.
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ihrer Definition auf die Vorstellung eines Willens zur Bildung eines auf die Beachtung der Norm gerichteten Willens (vgl. unter II.) konsequent verzichtet, sie also nicht als Fähigkeit verstanden wird, sich durch die Norm motivieren zu lassen43, sondern als Eigenschaft, durch die Norm motiviert zu werden. Ein derartiges Verständnis der Schuldfähigkeit steht zunächst vor dem Problem, erklären zu müssen, in welchem Sinne ein Mensch, der eine Straftat begangen und somit i. Erg. gerade nicht durch die Norm motiviert worden ist, eine derartige Eigenschaft überhaupt haben kann. R. Merkel löst dieses bei Roxin offen gebliebene Problem, indem er die normative Ansprechbarkeit als Eigenschaft des Täters versteht, „in allerlei sonstigen Situationen seines Lebens“ durch die von ihm übertretene Norm motiviert zu werden.44 Ein solches Verständnis entspreche der Bedeutung, die Dispositionsprädikaten auch ansonsten zukomme. Wenn ein Glas auf den Boden falle und dort wider Erwarten nicht zerbreche, ändere dies nichts daran, dass es auch im Zeitpunkt des Falles zerbrechlich gewesen sei. Die Disposition der Zerbrechlichkeit besage nicht, dass das Glas jedes Mal zerbricht, wenn es zu Boden fällt, sondern bedeute nur, dass es bei einem solchen Fall regelmäßig oder typischerweise zerbreche. Dementsprechend besage auch die Disposition der normativen Ansprechbarkeit nicht, dass ein Straftäter sich stets für die Beachtung der von ihm übertretenen Norm entscheide, sondern bringe nur zum Ausdruck, dass er sich „in allerlei sonstigen Situationen seines Lebens“ so entschieden habe und entscheiden werde. R. Merkel ist zuzugestehen, dass er mit diesen Überlegungen eine widerspruchsfreie Konstruktion des Begriffs der normativen Ansprechbarkeit ermöglicht, die diesen Begriff von der Idee der Willensfreiheit unterscheidet. Jedoch wird mit dieser Konstruktion die reale psychische Konstitution, bei deren Vorliegen sich die Menschen Schuldfähigkeit zuerkennen, nicht richtig beschrieben.45 Dies wird deutlich, sobald man nicht nur die Normen des Kernstrafrechts wie etwa das Tötungs- oder Köperverletzungsverbot, sondern auch weniger selbstverständliche und in der Gesellschaft umstrittene Normen in den Blick nimmt. Die Eigenschaft, durch eine solche Norm nicht motiviert zu werden, sie also nicht nur im Einzelfall, sondern bei jeder sich im Leben bietenden Gelegenheit zu missachten, ist ganz eindeutig kein hinreichender Grund, einem Menschen den „normalen Zustand geistiger Gesund-
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So z. B. die Formulierung bei Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, AT, 11. Aufl. 2003, § 19 Rn. 1 Fn. 1. 44 R. Merkel, FS Roxin, 2011, S. 747 (753 f.). 45 Es sei ausdrücklich angemerkt, dass sich dieses Urteil nur auf Merkels Konstruktion der normativen Ansprechbarkeit, nicht aber auf seine interessanten Ausführungen zu den von ihm als Voraussetzung normativer Ansprechbarkeit beschriebenen Elemente der „Rezeptivität“ und „Reaktivität“ (vgl. FS Roxin, 2011, S. 747 [754 ff.]) bezieht. Diese lassen sich – ohne dass dies im Rahmen dieses Beitrags näher ausgeführt werden könnte – zumindest z. T. auch als Voraussetzung der Fähigkeit zu einem verständigen Entscheidungsprozess verstehen und damit in den unter IV. vorgestellten Begriff der Schuldfähigkeit integrieren.
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heit“ abzusprechen, „dem die Rechtsanschauung des Volkes die strafrechtliche Verantwortlichkeit tatsächlich zuschreibt“. Dies sei am Beispiel des umstrittenen, aber im Embryonenschutzgesetz noch immer enthaltenen Verbots der Eizellspende veranschaulicht. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 u. 2, Abs. 2 EschG i.V.m. § 9 Abs. 2 S. 2 StGB macht sich ein deutscher Reproduktionsmediziner bereits strafbar, wenn er durch eine im Inland vorgenommene Handlung an einer im Ausland zugelassenen Eizellspende teilnimmt. Wäre die Schuldfähigkeit wirklich die Eigenschaft, jedenfalls „in allerlei sonstigen Situationen“ durch die übertretene Norm motiviert zu werden, so müsste jeder Reproduktionsmediziner, der in bewusster Missachtung des im Embryonenschutzgesetz enthaltenen Verbots systematisch und bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Patientinnen für eine Eizellspende nach Spanien vermittelt oder für eine dort erfolgende Eizellspende in Deutschland erforderliche Voruntersuchungen durchführt, als schuldunfähig angesehen werden. Eine solche Konsequenz würde wahrscheinlich auch R. Merkel nicht ziehen wollen, aber sie ist begrifflich zwingend, wenn man die Schuldfähigkeit als Eigenschaft missversteht, durch die Normen des jeweils geltenden Rechts motiviert zu werden. Ein solches Verständnis der Schuldfähigkeit ist aber nicht etwa nur im Hinblick auf weniger selbstverständliche und in der Gesellschaft umstrittene Normen, sondern generell, d. h. auch für die Normen des sogenannten Kernstrafrechts nicht tragfähig. Zwar wird insbes. die systematische Missachtung besonders grundlegender Normen des Strafrechts häufig auf eine fehlende oder verminderte Schuldfähigkeit hindeuten. Aber dies rechtfertigt es nicht, die Eigenschaft, nicht durch eine besonders grundlegende Norm nicht motiviert zu werden, mit Schuldunfähigkeit gleichzusetzen. Für eine pluralistische Gesellschaft sind alle Normen das Ergebnis eines gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses, an dem die Menschen unabhängig davon Anteil haben, ob sie das Ergebnis dieses Prozesses als richtig anerkennen oder nicht. Deshalb können und dürfen in einer solchen Gesellschaft auch die Normen des Kernstrafrechts nicht in der Weise verabsolutiert werden, dass jedem, der sie systematisch missachtet, der „normale Zustand geistiger Gesundheit“ abgesprochen wird. I. Erg. steht man damit bei der Konkretisierung der normativen Ansprechbarkeit vor der Wahl zwischen Scylla und Charybdis. Wird die normative Ansprechbarkeit als eine motivatorische gesteuerte Disposition, d. h. als Fähigkeit verstanden, sich durch die Norm motivieren zu lassen, so unterscheidet sie sich nicht von der Fähigkeit zu einer der Einsicht in das Unrecht entsprechenden Willensbildung und ist damit gerade kein von der Willensfreiheit zu unterscheidender „erfahrungswissenschaftlicher Befund“. Versteht man sie hingegen als nicht motivatorisch gesteuerte Disposition, d. h. als Eigenschaft, durch die Norm motiviert zu werden, so erhält man einen Begriff der Schuldfähigkeit, der sich zwar von der Willensfreiheit unterscheidet, aber mit den Grundannahmen einer pluralistischen Gesellschaft nicht vereinbar ist und die Aufgabe der Beschreibung des „normalen Zustand(s) geistiger Ge-
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sundheit, dem die Rechtsanschauung des Volkes die strafrechtliche Verantwortlichkeit tatsächlich zuschreibt“, eindeutig verfehlt.
IV. Schuldfähigkeit als Fähigkeit zu einem rationalen Entscheidungsprozess Der auch in dem Begriff der normativen Ansprechbarkeit noch enthaltene Kardinalfehler der traditionellen Begriffsbestimmung der Schuldfähigkeit ist im Rahmen der vorstehenden Kritik bereits angedeutet worden. Er besteht darin, dass die Schuldfähigkeit als Fähigkeit verstanden wird, die rechtlich gebotene, d. h. i. Erg. richtige Entscheidung zu treffen. Die Untauglichkeit einer derartigen Begriffsbestimmung liegt auf der Hand, sobald man andere Erscheinungsformen rechtlicher Selbstbestimmungsfähigkeit in den Blick nimmt, bei denen es eine i. Erg. richtige Entscheidung nicht gibt, weil der Inhalt der Entscheidung gerade der Selbstbestimmung des Entscheidenden überlassen sein soll. Die Testierfähigkeit z. B. ist selbstverständlich nicht die Fähigkeit, den Richtigen als Erben einzusetzen, sondern kann nur als Fähigkeit verstanden werden, auf Grund einer verständigen Abwägung des Für und Wider der in Betracht kommenden Gesichtspunkte,46 d. h. auf eine hinreichend vernünftige Art und Weise über die Erbeinsetzung zu entscheiden.47 Entsprechendes gilt für die Geschäftsfähigkeit, die Prozessfähigkeit, die Einwilligungsfähigkeit, etc. Schon weil die psychischen Voraussetzungen rechtlicher Selbstbestimmungsfähigkeit schwerlich davon abhängen können, ob die Rechtsordnung den Inhalt einer Entscheidung vorschreibt oder der Selbstbestimmung des Einzelnen überlässt, liegt es nahe, die Schuldfähigkeit als strafrechtliche Erscheinungsform der Selbstbestimmungsfähigkeit in gleicher Weise zu bestimmen, also nicht nach den Ursachen für die rechtswidrige Entscheidung des Täters zu fragen, sondern darauf abzustellen, ob und inwieweit der Täter auf vernünftige Art und Weise über die Begehung der Straftat entscheiden konnte. Die Schuldfähigkeit ist danach keine motivatorisch oder nicht motivatorisch gesteuerte Disposition zu einer normbestimmten Entscheidung, sondern die Fähigkeit, sich auf hinreichend verständige und deshalb für die Normgeltung relevante Art und Weise für oder gegen die Beachtung der Norm zu entscheiden. 46 Vgl. etwa die auf die Geschäftsfähigkeit bezogenen Formulierungen in BGH NJW 1953, 1342; 1970, 1680 (1681); FamRZ 1984, 1003. 47 Das Gesetz definiert die Testierfähigkeit in § 2229 Abs. 4 BGB als Fähigkeit, die Bedeutung der abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Diese Definition orientiert sich zwar formal an der gesetzlichen Definition der Schuldfähigkeit, hat aber insofern einen ganz anderen Inhalt, als sie naturgemäß keinen Maßstab für die Richtigkeit der zu treffenden Entscheidung vorgibt. Dementsprechend kann – anders als bei der Schuldfähigkeit – niemand auch nur auf den Gedanken kommen, die Testierfähigkeit von der Antwort auf die Frage abhängig zu machen, aus welchem Grund der Handelnde nicht die i. Erg. richtige Entscheidung getroffen hat.
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Ein solches Verständnis der Schuldfähigkeit ist straftheoretisch ein „alter Hut“. Es entspricht sowohl Hegels Einordnung der Zurechnungsfähigkeit als Teilaspekt einer umfassenden rechtlichen Handlungsfähigkeit48 als auch Jakobs’ Deutung der Schuldfähigkeit als „Kompetenz, Normgeltung zu desavouieren“49. Jedoch hat die Strafrechtswissenschaft aus diesen straftheoretischen Überlegungen kaum einmal50 die notwendigen Konsequenzen für die Bestimmung der psychischen Voraussetzungen der Schuldfähigkeit gezogen. Insbes. seit der durch den normativen Schuldbegriff erfolgten Einordnung der Zurechnungsfähigkeit in die Schuld51 fragt sie ganz überwiegend mehr oder weniger explizit danach, ob oder inwiefern der Täter daran gehindert war, sich i. Erg. rechtmäßig zu entscheiden,52 anstatt allein die Modalität des Entscheidungsprozesses in den Blick zu nehmen und auf dieser Grundlage einen zumindest theoretisch tragfähigen agnostischen Begriff der Schuldfähigkeit zu bestimmen. Für eine derartige Begriffsbestimmung muss zunächst der Begriff der Verständigkeit eines Entscheidungsprozesses näher konkretisiert werden. Die Verständigkeit oder Rationalität von Entscheidungsprozessen hängt davon ab, wie umfassend die Grundlage der getroffenen Entscheidung ist, d. h. in welchem Ausmaß Gründe und Gegengründe in dem Entscheidungsprozess berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden. Dementsprechend ist das psychische Substrat der Schuldfähigkeit die Fähigkeit zu einer Abwägung der für und gegen die Begehung der betreffenden Straftat sprechenden Gründe. Schuldfähigkeit setzt nicht voraus, dass der Täter eine solche Abwägung tatsächlich vorgenommen hat, wohl aber, dass er über die Fähigkeit dazu verfügte, d. h. es kommt für die Schuldfähigkeit darauf an, auf welche Art und Weise der Täter über die Begehung der Straftat entschieden hätte, wenn er seine Aufmerksamkeit auf die zu treffende Entscheidung konzentriert hätte, d. h. es ihm besonders wichtig gewesen wäre, die für ihn richtige Entscheidung zu treffen.53
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Vgl. dazu Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820, § 100 u. §§ 113 ff. (insb. § 120); Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, §§ 79 f.; Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 18. Aufl. 1898, § 62; Köstlin, System des Deutschen Strafrechts, 1855, Bd. 1, §§ 49 u. 56; sowie die Darstellung bei Jakobs (Fn. 32), 6/3 ff. m.w.N. 49 Jakobs (Fn. 32), 18/1. 50 Eine bemerkenswerte Ausnahme sind die Ausführungen von A. Merkel (Fn. 22), S. 67. 51 Vgl. zu den inhaltlichen Auswirkungen dieser systematischen Verschiebung Frister (Fn. 4), S. 121 ff. m.N. 52 Symptomatisch dafür ist, dass selbst Jakobs ungeachtet seines straftheoretisch geprägten Verständnisses der Schuldfähigkeit als „Kompetenz, Normgeltung zu desavouieren“ bei der konkreten Beschreibung der Voraussetzungen der Schuldfähigkeit auf die „(Vermutung einer) Determination zur Tat“ und den Gedanken der Motivierbarkeit durch die Norm zurückgreift ([Fn. 32], 18/4 u. 5). 53 Die motivatorische Steuerung des Willensbildungsprozesses entspricht in ihrer Struktur der unter II. beschriebenen motivatorischen Steuerung von Erkenntnisprozessen (vgl. dazu näher Frister (Fn. 4), S. 102 f. u. 126).
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Mit dieser Skizzierung54 der psychischen Grundlage der Schuldfähigkeit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, zu welchem Ausmaß an Rationalität der Täter fähig sein muss, um als schuldfähig zu gelten. Dieses Ausmaß lässt sich nicht begrifflich definieren, sondern nur vergleichend in Relation zu dem Niveau bestimmen, das einem erwachsenen Menschen in unserer Gesellschaft im Allgemeinen erreichbar ist. Der Täter ist erst dann als schuldunfähig anzusehen, wenn seine Fähigkeit, die für und gegen die Begehung der Straftat sprechenden Gesichtspunkte zu erfassen und gegeneinander abzuwägen, in seiner Struktur grundlegend gestört oder so undifferenziert ist, dass der ihm mögliche Entscheidungsprozess mit dem eines normalen Erwachsenen nicht mehr vergleichbar ist. Über die Vergleichbarkeit hat dabei – schon weil nicht nur das Ausmaß der psychischen Fähigkeiten des Täters zu bestimmen, sondern auch das für die Schuldfähigkeit erforderliche Rationalitätsniveau zu konkretisieren ist – nicht der Sachverständige, sondern der Richter zu entscheiden.55 Es liegt auf der Hand, dass dieser Maßstab sehr vage ist und damit selbst eine explizite Beurteilung der Schuldfähigkeit auf der Grundlage der vorstehend skizzierten Konzeption in der Praxis nur sehr begrenzt objektivierbar wäre. Dementsprechend ist dieser Konzeption auch mit einem gewissen Recht entgegengehalten worden, dass sie den Begriff der Schuldfähigkeit nicht präzise bestimme.56 Jedoch kann ein Begriff nicht präziser sein als der von ihm zu beschreibende Gegenstand. Da die Fähigkeit zu einem rationalen Entscheidungsprozess nun einmal ein quantitatives, aber ziffernmäßig nicht zu erfassenden Phänomen ist, lässt sich die auf dem Ausmaß dieser Fähigkeit beruhende Selbstbestimmungsfähigkeit der Natur der Sache nach nicht randscharf bestimmen. Die Unschärfe des Begriffs bildet – wie bei anderen quantitativen, aber ziffernmäßig nicht zu erfassenden Phänomenen57 – nur die Unschärfe des Gegenstands selbst ab und erscheint mir daher nicht geeignet, einen durchgreifenden Einwand gegen die vorgestellte Konzeption zu begründen.
V. Auflösung dogmatischer Scheinprobleme Obwohl die Beurteilung der Schuldfähigkeit der Natur der Sache nach nur begrenzt objektivierbar ist, sollte man den dogmatischen Wert einer richtigen Begriffsbestimmung nicht unterschätzen. Nicht nur für die Strafrechtswissenschaft, sondern 54
Vgl. für eine eingehendere Darstellung Frister (Fn. 4), S. 126 ff. Zu den Konsequenzen für die Aufgabenverteilung zwischen Richter und Sachverständigen vgl. im einzelnen Frister (Fn. 4), S. 179 ff. 56 Vgl. etwa Roxin (Fn. 41), § 19 Rn. 38. 57 Man denke z. B. an die Abgrenzung zwischen Versuch und Vorbereitungshandlung. Da die Nähe zu der tatbestandsmäßigen Handlung nicht ziffernmäßig zu erfassen ist, lässt sich diese Abgrenzung nicht begrifflich exakt definieren, sondern nur von Fall zu Fall in einem analogischen Verfahren näher konkretisieren (vgl. Frister, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, 23. Kap. Rn. 38). 55
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auch für die Praxis wäre es bereits ein Vorteil, wenn die Begriffsbestimmung zumindest den Gegenstand der Schuldfähigkeitsentscheidung zutreffend erfassen und so ein wenig Klarheit darüber gewonnen würde, was die Praxis bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit tut.58 Darüber hinaus lösen sich durch das Verständnis der Schuldfähigkeit als strafrechtlicher Erscheinungsform der Fähigkeit zu einer hinreichend rationalen Entscheidungsfindung Scheinprobleme auf, die sich aus der traditionellen (Fehl-)Konstruktion der Schuldfähigkeit ergeben und die zu Verwirrung und zum Teil sogar zu Fehlern bei der Rechtssetzung und Rechtsanwendung geführt haben. 1. Die Konstruktion verminderter Schuldfähigkeit Das Paradebeispiel für ein solches Scheinproblem ist die verminderte Schuldfähigkeit. Der insoweit bestehende Widerstreit zwischen unserem intuitiven Wissen und der überkommenen Konstruktion der Schuldfähigkeit ist in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu literarischem Ruhm gelangt59 und von August Geyer vor nunmehr 135 Jahren mit der schönen Formulierung auf den Begriff gebracht worden, die Existenz einer verminderten Schuldfähigkeit werde „fortwährend aus theoretischen Grillen bestritten und fortwährend in der Praxis anerkannt“.60 Schon Feuerbach hat bekanntlich ausgeführt, dass „eine Freiheit, die dem Grade nach geschwächt, vermindert ist, ein gerader Widerspruch, ein viereckiger Zirkel oder ein rundes Viereck ist“,61 und in der Folgezeit ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die Fähigkeit zu einer rechtmäßigen Willensentscheidung nur entweder bestehen oder nicht bestehen, aber nicht im Wortsinne vermindert sein
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Da der Begriff der Steuerungsfähigkeit keinen fassbaren Inhalt hat, kann die gesetzliche Definition der Schuldfähigkeit in der Rspr. nur als Begründungskonvention gehandhabt werden. Dementsprechend entscheidet derzeit nicht etwa die Subsumtion unter die Begriffe Einsichts- und Steuerungsfähigkeit darüber, ob der Täter als schuldfähig angesehen wird, sondern die nach unbewussten Kriterien intuitiv getroffene Entscheidung über die Schuldfähigkeit bestimmt, ob der Täter als einsichts- und steuerungsfähig definiert wird (vgl. Frister (Fn. 57), 18. Kap. Rn. 11; insoweit zustimmend R. Merkel, FS Roxin, 2011, S. 737 [759 f.]). 59 „Bezeichnend für diese Unglücklichen ist es, dass sie nicht nur eine minderwertige Gesundheit, sondern auch eine minderwertige Krankheit haben. Die Natur hat eine merkwürdige Vorliebe dafür, solche Personen in Hülle und Fülle hervorzubringen; natura non fecit saltus, sie macht keinen Sprung, sie liebt die Übergänge und hält auch im Großen die Welt in einem Übergangszustand zwischen Schwachsinn und Gesundheit. Aber die Jurisprudenz nimmt nicht Notiz davon. Sie sagt: non datur tertium sive medium inter duo contradictoria, zu deutsch: der Mensch ist entweder imstande rechtswidrig zu handeln, oder er ist es nicht, denn zwischen zwei Gegensätzen gibt es nichts Drittes und Mittleres“; vgl. zu diesem Zitat und den juristischen Elementen im Werk von Robert Musil Müller-Dietz, FS Leferenz, 1983, S. 353 ff.; ders., NJW 1992, 1276 (1280 f.). 60 Geyer, in: Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, Bd. 4, 1877, S. 97 (101). 61 Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, 1799, Teil 2, S. 389.
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kann.62 So heißt es etwa bei Armin Kaufmann: „Einen Graben von bestimmter Breite kann man überspringen oder man kann es nicht, tertium non datur“.63 Dementsprechend kann die Verminderung der Schuldfähigkeit auf der Basis des überkommenen Verständnisses nur in der Notwendigkeit einer besonderen „Willensanstrengung“, d. h. darin gesehen werden, dass der Täter sein „Hemmungsvermögen“ in besonderer Weise hätte anspannen müssen, um einen rechtmäßigen Willen zu bilden.64 Dies provoziert jedoch nicht nur die Frage, ob die Schuld etwa eines Mordes wirklich deshalb in erheblichem Umfang gemindert sein kann, weil die Unterdrückung der auf die Begehung der Tat gerichteten Antriebe den Täter „angestrengt hätte“, sondern verleitet auch zu der Fehlvorstellung, die Entscheidung über die Verminderung der Schuldfähigkeit könne in stärkerem Maße als die Entscheidung über die Schuldunfähigkeit normativiert,65 d. h. insbes. davon abhängig gemacht werden, ob und inwieweit der Täter z. B. aufgrund eines Vorverschuldens oder spezifischer Gefahrtragungspflichten in besonderer Weise zu einer rechtmäßigen Willensbildung verpflichtet war.66 Auf der Grundlage der hier vorgestellten Konzeption erklärt sich die Existenz der verminderten Schuldfähigkeit dagegen zwanglos daraus, dass die rationale Entscheidungsfindung ein quantitatives Phänomen ist. Die Schuldfähigkeit ist vermindert, wenn das vom Täter zu erreichende Rationalitätsniveau mit dem von einem normalen Erwachsenen zu erreichenden Niveau zwar noch vergleichbar ist, aber schon deutlich hinter diesem zurückbleibt. In einem solchen Fall hat der Täter eine geringere „Kompetenz, Normgeltung zu desavouieren“,67 d. h. die von ihm begangene Tat stellt in geringerem Maße die Normgeltung in Frage als die Straftat eines normalen Erwachsenen. Die sich daraus ergebende Schuldminderung ist einer Normativierung ebenso wenig zugänglich wie der sich aus der Schuldunfähigkeit ergebende Ausschluss der Schuld,68 so dass für die verminderte Schuldfähigkeit richterweise nicht nur eine fakultative, sondern eine obligatorische Strafmilderung vorgesehen werden müsste.
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Vgl. die Darstellung und die Nachweise bei Rautenberg, Verminderte Schuldfähigkeit, 1984, S. 33 ff. 63 Armin Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 319 (330 f.). 64 Vgl. dazu etwa Armin Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 319 (330 f.). 65 Vgl. für eine solche Normativierung etwa konsequenterweise Jakobs (Fn. 32), 17/58 u. 69. 66 Das nationalsozialistische Rechtsdenken erachtete alle „chronisch oder habituell Minderwertigen“ als zu besonderen Anstrengungen verpflichtet, was schließlich zu der Forderung führte, die verminderte Schuldfähigkeit gänzlich abzuschaffen (vgl. dazu die Darstellung und die Nachweise bei Rautenberg (Fn. 62), S. 118 ff.; sowie Frister (Fn. 4), S. 194 f.). 67 Vgl. zur Quantifizierbarkeit dieser Kompetenz Frister (Fn. 4), S. 190 f. 68 Vgl. dazu näher Frister (Fn. 4), S. 194 ff.
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2. Das Verhältnis zwischen Schuldfähigkeit und Unrechtsbewusstsein Als ein weiteres, sich aus der traditionellen (Fehl-)Konstruktion der Schuldfähigkeit ergebendes Scheinproblem sei noch kurz auf das Verhältnis zwischen Schuldfähigkeit und Unrechtsbewusstsein eingegangen. Auch die Diskussion dieses Verhältnisses ist durch einen Widerstreit zwischen intuitivem Vorverständnis und begrifflicher Konstruktion gekennzeichnet. Der in der älteren Literatur vorherrschenden69 und auch in der Systematik der gesetzlichen Regelung70 noch zum Ausdruck kommenden Intuition, dass Schuldfähigkeit und potentielles Unrechtsbewusstsein zwei voneinander unabhängige Schuldvoraussetzungen sind, so dass z. B. auch Kinder, die bereits wissen, dass Diebstahl verboten ist, bezüglich dieses Verbots noch „einsichtsunfähig“ sein können, steht die Überlegung entgegen, dass die Einsichtsfähigkeit begrifflich die Möglichkeit der Unrechtseinsicht thematisiert und damit die Schuldfähigkeitsbestimmungen in ihrem ersten Teil lediglich den Fall eines auf einer psychischen Störung bzw. fehlender geistiger Reife ruhenden Verbotsirrtums regeln. Aufgrund dieser Überlegung sehen sich Rechtsprechung und herrschende Lehre dazu gezwungen, die Bestimmungen über die Schuldfähigkeit mit der Regelung des Verbotsirrtums zu harmonisieren, was insbes. im Bereich der verminderten Schuldfähigkeit nicht bruchlos möglich ist.71 Die heute herrschende Meinung löst die auftretenden Ungereimtheiten zugunsten der Verbotsirrtumsregelung des § 17 StGB auf und erachtet eine verminderte Einsichtsfähigkeit entgegen der in § 21 StGB getroffenen Regelung für unerheblich, wenn der Täter mit Unrechtsbewusstsein gehandelt hat.72 Damit wird nicht nur die gesetzliche Regelung der Einsichtsfähigkeit jeglicher eigenständiger Bedeutung beraubt, sondern auch einem Täter, der sowohl einem Verbotsirrtum erlegen ist als auch vermindert schuldfähig war, die Möglichkeit einer doppelten Strafmilderung nach § 17 StGB und § 21 StGB zu Unrecht versagt.
69 Die ältere Lehre unterschied zwischen der Schuldfähigkeit als „genereller“ oder „existentieller“ Voraussetzung und dem potentiellen Unrechtsbewusstsein als „besonderem“ oder „konkretem“ Element der Schuld (so z. B. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 157; vgl. zur Kritik dieser begrifflichen Unterscheidung allerdings bereits Arm. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 319, 322. 70 Vgl. zu der von Ratlosigkeit geprägten Diskussion des Verhältnisses zwischen Einsichtsfähigkeit und Unrechtsbewusstsein im Gesetzgebungsverfahren NK-StGB/Schild (Fn. 1), § 20 Rn. 25 m.N. 71 Während nach § 17 S. 2 StGB die Möglichkeit der Strafmilderung davon abhängt, dass der Täter kein Unrechtsbewusstsein hatte, ohne dass es darauf ankäme, ob ihm dessen Erlangung erschwert war oder nicht, setzt nach dem Wortlaut des § 21 StGB die Strafmilderung gerade umgekehrt eine (erhebliche) Verminderung der Einsichtsfähigkeit, d. h. nach herkömmlicher Vorstellung eine (erhebliche) Erschwerung der Unrechtseinsicht voraus, ohne dass es darauf ankäme, ob der Täter das Unrechtsbewusstsein tatsächlich erlangt hat oder nicht. 72 BGHSt 21, 27 (28); 34, 22 (25); Roxin (Fn. 41), § 20 Rn. 35 m.w.N.; kritisch NK-StGB/ Schild (Fn. 1), § 20 Rn. 62 f.
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Das Verständnis der Schuldfähigkeit als Fähigkeit zu einer hinreichend rationalen Entscheidungsfindung bestätigt hingegen die ursprüngliche Intuition, dass Schuldfähigkeit und potentielles Unrechtsbewusstsein zwei voneinander unabhängige Schuldvoraussetzungen sind.73 Nur weil ein Kind bereits weiß, dass Diebstahl verboten ist, verfügt es noch nicht über die notwendigen intellektuellen Fähigkeiten, um selbst in hinreichend rationaler Art und Weise über das Diebstahlsverbot zu urteilen. Wenn man die Einsichtsfähigkeit als Bezeichnung für die intellektuellen und die Steuerungsfähigkeit als Bezeichnung für die sonstigen psychischen Voraussetzungen eines hinreichend rationalen Entscheidungsprozesses versteht74, ist es daher durchaus denkbar, dass ein mit Unrechtsbewusstsein handelnder Täter vermindert einsichtsfähig oder sogar einsichtsunfähig ist. Da die Regelungen über die Schuldfähigkeit und über den Verbotsirrtum einen ganz unterschiedlichen Gegenstand haben, sind sie zwanglos nebeneinander anwendbar, ohne dass insoweit die Notwendigkeit einer Harmonisierung bestünde.75
VI. Zur agnostischen Legitimation des Strafrechts Ich hoffe, mit der Beschreibung der Schuldfähigkeit als Fähigkeit zu einem rationalen Entscheidungsprozess einen Weg aufgezeigt zu haben, wie die Strafrechtswissenschaft der Notwendigkeit Rechnung tragen kann, den Begriff der Schuldfähigkeit agnostisch, d. h. ohne Bezugnahme auf ein psychologisches Anderswollenkönnen zu bestimmen. Es bleibt die Frage, warum der Umstand, dass der Täter zu einem hinreichenden rationalen Entscheidungsprozess in der Lage war, es rechtfertigen soll, ihm eine i. Erg. falsche Entscheidung zum Vorwurf zu machen, wenn wir doch davon ausgehen müssen, dass sowohl die Entscheidung über den Gebrauch der Fähigkeit zu einer hinreichend rationalen Entscheidungsfindung als auch die auf diesem Wege getroffene Entscheidung selbst stets einen hinreichenden Grund haben und deshalb der Täter sich ungeachtet dieser Fähigkeit i. Erg. nicht anders hätte entscheiden können. Auf diese Frage gibt es m. E. keine wirklich befriedigende Antwort.76 Um die Verantwortlichkeit des Menschen für eine Entscheidung theoretisch zu begründen, muss diese Entscheidung als frei gedacht werden. Noch immer gerne übersehen wird jedoch, dass sie ebenso als durch die Identität des Menschen bestimmt gedacht werden muss,77 so dass i. Erg. nicht nur der empirische Determinismus, sondern ebenso ein 73
Vgl. dazu näher Frister (Fn. 4), S. 203 ff. Vgl. zu dieser Auslegung Frister (Fn. 4), S. 171 f.; ders. (Fn. 57), 18. Kap. Rn. 14. 75 So i. Erg. auch NK-StGB/Schild (Fn. 1), § 20 Rn. 64. 76 Ebenso i. Erg. R. Merkel (Fn. 1), S. 133 ff.; vgl. aber auch NK-StGB/Schild (Fn. 1), § 20 Rn. 9 ff. m.w.N. 77 Darauf hat bereits Bockelmann (ZStW 75 [1963], 372 [385 f.]; ders., ZStW 77 [1965], 253 ff.) eingehend hingewiesen; vgl. ferner R. Merkel (Fn. 1), S. 29 m.w.N. in Fn. 36; sowie Herzberg, ZStW 124 (2012), 12 (59). 74
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empirischer Indeterminismus die Idee menschlicher Verantwortlichkeit nicht begründen kann. Die in dieser Idee vorausgesetzte freie und zugleich vom Menschen bestimmte Entscheidung ist für unser theoretisches Denken in jedem Fall eine contradictio in adjecto: eine Entscheidung ist nur dann eine Entscheidung des Menschen, wenn sie durch dessen Identität bestimmt, also nicht frei ist, und sie ist umgekehrt nur dann eine freie Entscheidung, wenn sie nicht durch die Identität des Menschen bestimmt, also keine Entscheidung dieses Menschen ist.78 Ungeachtet der fehlenden theoretischen Begründung der Idee menschlicher Verantwortlichkeit halte ich es jedoch weder für wünschenswert noch überhaupt für möglich, auf ein mit der Erhebung eines Schuldvorwurfs verbundenes Strafrecht zu verzichten. Zur Erhaltung der Normgeltung müssen Normverstöße auch unabhängig von einer mit Maßregeln der Besserung und Sicherung abzuwehrenden Wiederholungsgefahr geahndet werden.79 Dies aber kann schon deshalb nicht durch eine „Strafe ohne Vorwurf“80 geschehen, weil die Zuerkennung der Kompetenz, Normgeltung in Abrede zu stellen, und die Erhebung eines Vorwurfs in unserem sozialen Erleben in gleicher Weise aus der Deutung eines Verhaltens als selbstbestimmt resultieren und insofern Kehrseiten der gleichen Medaille sind.81 Da wir jedem, den wir als Kommunikationspartner ernst nehmen, sein falsches Verhalten auch zum Vorwurf machen, ist ein Strafrecht, das die Straftat gerade aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung als ernstzunehmender Normwiderspruch ahndet, notwendigerweise auch mit der Erhebung eines Schuldvorwurfs verbunden. Der ausdrückliche Verzicht auf die Erhebung eines solchen Vorwurfs käme einer unbeachtlichen protestatio facto contraria gleich. Obwohl sich die Idee menschlicher Verantwortlichkeit theoretisch nicht begründen lässt, ist sie letztlich für das gesamte soziale Erleben des Menschen konstitutiv. Die sich von der natürlichen Umwelt abhebende soziale Welt entsteht erst dadurch, dass die Menschen sich gegenseitig als „ichgleiche Quelle originären Erlebens und Handelns“ wahrnehmen,82 d. h. ihr Handeln als selbstbestimmt deuten und ihm damit sowohl kommunikative Bedeutung verleihen als auch es sich gegebenenfalls gegen78
Frister (Fn. 4), S. 24; ebenso das Resümee von R. Merkels eingehender Kritik an den verschiedenen indeterministischen Ansätzen zur Deutung von Freiheit und Verantwortlichkeit ([Fn. 1], S. 78 f.). 79 Vgl. statt vieler R. Merkel (Fn. 1), S. 125 ff. m.w.N. 80 So bereits der programmatische Titel eines Aufsatzes von Ellscheid/Hassemer, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar abweichendes Verhalten, Bd. II, 1975, S. 266 ff.; vgl. auch G. Merkel, FS Herzberg, 2008, S. 3 (30 ff.). 81 Die Deutung eines Verhaltens als selbstbestimmt führt zu zwei in gewisser Weise ambivalenten Reaktionen: Sie hat einerseits zur Folge, dass die eigenen gegenteiligen Überzeugungen an der durch dieses Verhalten symbolisierten Aussage gemessen, diese Aussage also als Normwiderspruch ernst genommen wird, und bewirkt andererseits, dass auch umgekehrt diese Aussage an den eigenen gegenteiligen Überzeugungen gemessen und damit der betreffenden Person zum Vorwurf gemacht wird (vgl. dazu Frister (Fn. 4), S. 65 ff.; ders. (Fn. 57), 3. Kap. Rn. 3). 82 Luhmann, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2008, S. 32.
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seitig zum Vorwurf machen. Schon weil das Strafrecht ein Teil dieser sozialen Welt ist, werden wir uns zur Legitimation der strafrechtlichen Zurechnung und des mit dieser Zurechnung untrennbar verbundenen Schuldvorwurfs wohl oder übel mit der Fähigkeit zu einem hinreichend rationalen Entscheidungsprozess begnügen müssen, die nicht erst im Recht, sondern auch und vor allem in unserem sozialen Erleben die Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen begründet.
Strafrechtliche Schuld im demokratischen Rechtsstaat Von Bernardo Feijoo Sánchez*
I. Einleitung Ein Beitrag zu Ehren von Prof. Frisch hat den Vorteil, dass er erlaubt, sämtliche Themen, die im Zusammenhang mit den Grundlagen des Strafrechts oder der Verbrechenslehre stehen, zu behandeln. Man findet immer relevante und inspirierende Beiträge des hier Geehrten. Bei früheren Gelegenheiten habe ich ausdrücklich den Einfluss der Werke von Prof. Frisch hinsichtlich des objektiven Tatbestands, der Erfolgszurechnung, des Vorsatzes, der Strafzumessung und der Grundlagen der Maßnahmen der Besserung und Sicherung gewürdigt. Zu diesem besonderen Anlass habe ich ein Thema gewählt, bei dem sich Überlegungen zu den Grundlagen des Strafrechts mit dem dogmatischen Aufbau der Verbrechenstheorie vermischen: die Begründung der strafrechtlichen Schuld. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass ich im Sommer 2010 einen Forschungsaufenthalt zu diesem Thema am Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht in Freiburg genossen habe. Anlass hierfür war die Kritik an den Grundlagen des Schuldstrafrechts von einigen Neurowissenschaftlern und Psychologen wie Roth, Singer oder Prinz. Zudem hatte ich in diesem Jahr einen wunderbaren Beitrag von Prof. Frisch zu demselben Thema mit dem Titel „Zur Zukunft des Schuldstrafrechts. Schuldstrafrecht und Neurowissenschaften“ übersetzt. In dieser Arbeit begnügt sich der Geehrte nicht damit, schlüssig die Vorteile eines Schuldstrafrechts (nicht nur aus einer garantieorientierten Perspektive und vom kriminalpolitischen Standpunkt aus, sondern auch auf der Grundlage der Überzeugung, dass das Schuldstrafrecht eine größere präventive Wirkung entfaltet als eine rein instrumentelle Prävention) gegenüber einem rein präventiven Strafrecht, das einige Wissenschaftler zu befürworten scheinen, zu belegen.1 Darüber hinaus setzt er sich mit den Legitimationsgrundlagen eines solchen Schuldstrafrechts im Rahmen einiger „Überlegungen zu einer diskurstheoretischen Fundierung des Schuldstrafrechts“ auseinander. Prof. Frisch beurteilt die „Fähigkeit zu richtigem Entscheiden“ als eine „zugeschriebene Fähigkeit“: „Die Fähigkeit, auf die sich die am Rechtsdiskurs beteiligten Vernünftigen als personale Voraussetzung für * Deutsche Fassung von Anneke Petzsche. Meinem lieben Freund Prof. Dr. Manuel Cancio Meliá danke ich herzlich für die Revision des Textes. 1 Siehe zuvor schon Frisch, FS Maiwald, 2010, S. 244 ff.
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den Eintritt der normstabilisierenden Rechtsfolge vernünftigerweise allein verständigen könnten, ist gar nicht eine empirisch nachgewiesene Willensfreiheit, gegen die einige Hirnforscher die Empirie ins Feld führen, sondern von vornherein nur eine auf Selbsterfahrung gegründete zugeschriebene Fähigkeit“. Auf diese Weise wird das Schuldstrafrecht letztlich als „Ausdruck vernünftiger Selbstgesetzgebung“ legitimiert. Ich stimme mit Prof. Frisch (dahingehend) überein, dass seine Position „in der Sache letztlich übereinstimmend“ mit Ideen zu den Grundlagen der Schuld ausgehend von der „Freiheit zu selbstbestimmtem Handeln und Schuld“ als Begriffe der „sozialen Welt“, nicht der „Welt der Natur“ ist, die ich (bereits) zuvor vertreten hatte. Ausgehend von demselben Ansatz wie Prof. Frisch, dass das Schuldstrafrecht gegenüber (allen) anderen Alternativen vorzugswürdig ist, wenn man von einer nicht rein instrumentellen Sicht des Menschen und der sozialen Beziehungen ausgeht, soll dieser Beitrag über die Grundlage und Legitimation der Schuld in einem Strafmodell, das an der positiven Generalprävention2 in einer Weise orientiert ist, die mit den Erkenntnissen der Wissenschaft und insbesondere der Neurowissenschaften übereinstimmt, nachdenken. Dieses Projekt geht von zwei Prämissen aus: Erstens, dass die Schuld nicht nur die präventiven Bedürfnisse begrenzt, sondern auch die normative Grundlage für die Verhängung einer an der Generalprävention ausgerichteten Strafe bildet. Eine – gut gemeinte – Beschränkung der Schuld auf die Begrenzungsfunktion im Hinblick auf die Prävention bleibt unvollständig. Schuld ist nicht nur eine Grenze für die Instrumentalisierung, sondern auch die Voraussetzung dafür, dass ein bestimmter Bürger eine – (rechtlich) begründete oder gerechtfertigte – Strafe erleidet. Die Lehre hat wiederholt aufgezeigt: Wenn es der Schuld an der Wirkung als Legitimationsgrundlage fehlt, bietet sie auch keinen begrenzenden Maßstab für die Prävention.3 Zweitens wird nach einer Grundlage gesucht, von der sich alle spezifischen rechtlich anerkannten Ausschlüsse der Schuld ableiten lassen: die Schuldunfähigkeit, die unvermeidbare Nichtkenntnis der Rechtswidrigkeit und die Unzumutbarkeit. Bei aller Anerkennung der Bedeutung der Pionierarbeit Roxins für die moderne Diskussion über die Begründung der Schuld, mit der Schaffung der Konstruktion einer auf der Prävention gründenden Schuldtheorie, nach der die Strafe nicht nur davon abhängt, ob der Täter anders hätte handeln können oder nicht, sondern besonders davon, ob die Gesellschaft ohne eine präventive Strafe zu verhängen hätte reagieren können: nicht allen seinen Schlussfolgerungen ist aber zuzustimmen.4 2
Zu meiner Konzeption der positiven Generalprävention, FS Jakobs, 2007, S. 75 ff. Statt Vieler, Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 17/33; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 26. Aufl. 2001, vor § 13 ff. Rn. 109 a. 4 Die Schuld wird von Roxin – worin ihm einige seiner Schüler wie Schünemann oder Wolter folgen – als notwendige aber unzureichende Voraussetzung der Strafe angesehen. Folglich muss die Strafe auch aus einer spezialpräventiven und generalpräventiven Sicht begründet sein (Strafrecht, AT, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 51 ff.). Mit dieser zweiten Frage befasst sich die weiteste dogmatische Kategorie der Verantwortung (Strafrecht, AT, § 19 Rn. 3 ff.; FS Kaiser, S. 894 ff.). Diese systematische Kategorie erlaubt eine doppelte Begrenzung der Verhängung einer Strafe für ein Unrecht: durch die Schuld als Möglichkeit anders zu handeln und durch die präventiven Notwendigkeiten. Die Verantwortung besteht so aus heterogenen Ele3
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II. Die Freiheit zu selbstbestimmtem Handeln als „zugeschriebene Fähigkeit“ Wie der Geehrte argumentiert, hat Schuld immer etwas mit einer gewissen Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu tun, was die Anerkennung einer gewissen Freiheit impliziert. Jedoch handelt es sich bei der Schuld nicht um eine empirische Tatsache, sondern um etwas, das zugerechnet oder zugeschrieben wird.5 Mithin stimmt Prof. Frisch mit jenen Theorien der strafrechtlichen Zurechnung überein, die von einer kommunikativen Sicht der sozialen Beziehungen ausgehen und behaupten, dass man die Grundlagen des Schuldstrafrechts nicht auf ein vor-rechtliches und transzendentales Konzept der Freiheit bauen kann, das mit der Ordnung verknüpft ist und seine Wurzeln und Begründung in dem Individuum und seinem Selbstbewusstsein hat6. Die Idee des „Selbstwiderspruchs“ oder der „Selbstkorrumpierung“ als Grundlage einer gerechten Strafe wurde überzeugend abgelehnt, und zwar unabhängig davon, ob man von einer funktionalen Theorie ausgeht oder mehr der Diskursethik zugetan ist. Die Schuld hat nichts mit Selbstbestimmung in einem metaphysischen oder transzendentalen Sinne zu tun, sondern mit einem historischen Prozess der sozialen und rechtlichen Anerkennung der Handlungsfreiheit. In einer post-metaphysischen Gesellschaft kann man nicht mehr so tun, als entspräche die intersubjektive der subjektiven Vernunft7. Die wichtigste Konsequenz dieses Ausgangspunkts ist, dass die Gründe, aus denen das Subjekt die Regeln einhält8, in einem demokratischen menten – Schuld und präventive Notwendigkeit, die sich gegenseitig begrenzen. In dieses Spannungsverhältnis der beiden Elemente wird vertraut, um die Grenzen eines rechtsstaatlichen Strafrechts nicht zu verlassen. 5 Günther, in: Prittwitz/Manoledakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, 2000, S. 30 ff.; ders., Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, S. 73, 248; Kindhäuser, in: Harald Koch (Hrsg.), Herausforderung an das Recht, Alte Antworten auf neue Fragen?, S. 79 ff.; ders., FS Hassemer, 2010, S. 761 ff. 6 Gegen die theoretischen Voraussetzungen von Autoren wie Köhler oder Zaczyk, die argumentieren, dass die Schuld sich nur aus einer subjektiven Perspektive heraus bestimmten lässt, so dass das Entscheidende bei der Beschreibung eines Handelns als Straftat ist, dass der Täter sich selbst mit der rechtlichen Ordnung verbunden sieht, Günther, in: Brunkhorst/Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, 1999, S. 90 ff.; ders., in: Smith/Margalit (Hrsg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, 1997, S. 69 ff.; Jakobs, Schuldprinzip, 1993, S. 28 f.; Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 703 ff., 716; ders., FS Schroeder, 2006, S. 87 f. In einer eklektischen Position Frisch, in: Schünemann/v. Hirsch/Jareborg, Positive Generalprävention, 1998, S. 139 ff. 7 „Doch in einer pluralistische Gesellschaft, in der die Geltungsgründe von Normen nicht rein subjektiv fundiert sein können, besteht zwischen der sittlichen Selbstbestimmung einer Person und dem rechtlichen Sollen keine prästabilierte Harmonie“ (Kindhäuser, FS Schroeder, 2006, S. 88). 8 Günther, in: Byrd (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 94, S. 151; ders., in: Schünemann/v. Hirsch/Jareborg, Positive Generalprävention, 1998, S. 167; ders., in: Siller/Keller (Hrsg.), Rechtsphilosophische Kontroversen, 1999, S. 142 ff.; Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, S. 76; Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 706; ders., FS Schroeder, 2006, S. 87 f.; ders., FS Hassemer, 2010, S. 769. Zaczyk, in: Neumann/Schulz, Verantwortung in Recht und Moral, (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 74), Stuttgart, 2000,
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Staat gleichgültig sind und dass die Schuld nicht als „performativer Widerspruch“ oder als „transzendentalpragmatischer Widerspruch“ definiert werden kann. Es ist nicht der Täter, der durch seine Vernunftsmaximen bestimmt, wann er schuldig ist, sondern es ist die Gesellschaft, die festlegt, wann eine Kommunikation nicht mehr als gültig akzeptiert werden kann, weil sie die unabdingbaren Elemente oder Fundamente des gesellschaftlichen Lebens in Frage stellt. Eine Perspektive, die zu stark auf die moralisch-individualistische Philosophie zentriert ist, und so die Idee der Schuld als soziales Konstrukt beiseite lässt, kann keinen adäquaten Ausgangspunkt für die Begründung der Schuld bieten. Es stellt aber auch keinen gültigen Ausgangspunkt dar, von der subjektiven Perspektive der ersten Person (was man als introspektive Beobachtung bezeichnet) auszugehen. Von einer pragmatischeren und phänomenologischen Perspektive ausgehend haben einige Autoren auf die allgemeine Existenz eines Gefühls, einer Erfahrung oder eines Freiheitsbewusstseins Bezug genommen, auf die unser tägliches Leben und die persönlichen Beziehungen aufbauten9. So bleibt die Grundlage der Schuld mit der Freiheit verbunden. Und zwar nicht, weil die Menschen wirklich frei wären, sondern weil sie frei sind, da sie sich frei fühlen; anders gesagt entspräche so die Grundlage der Schuld einem weit verbreiteten (Freiheits-)Gefühl. Da es unmöglich ist festzustellen, ob der Täter in dem konkreten Fall die Möglichkeit gehabt hätte, anders zu handeln, schlagen Autoren wie Burkhardt vor, den Vorwurf der Schuld auf die interne Perspektive zu stützen. So wäre entscheidend festzustellen, ob der Täter im Moment der Tatbegehung von der Möglichkeit des Andershandelnkönnens ausgegangen ist. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, wäre nach Burkhardt die Dritte-Personen-Perspektive unerheblich. Dieser Autor argumentiert, dass die Erfahrung, anders handeln zu können, und die daraus folgende Freiheit der HandS. 113, hat versucht diese Idee zu widerlegen, indem er argumentiert, dass, wenn wir von der juristischen Schuld sprechen, dem Recht die äußerliche Respektierung der Normen unabhängig von der Vernunft der Motive genügt. Dennoch haben diese Autoren bei Sachverhalten ein Problem, bei denen das Legale nicht subjektiv als vernünftig angesehen werden kann. Wenn das Entscheidende für die Schuld die Selbstbestimmung ist und dass der Täter sich für die Unrechtsmaxime entscheidet, sollte dies von Bedeutung sein, selbst wenn die Unrechtsmaxime mit dem Legalen übereinstimmt. 9 Repräsentativ Burkhardt, FS Lenckner, 1998, S. 3 ff.; ders., Und Sie bewegt uns doch: die Willensfreiheit, Bildgebende Verfahren der Hirnforschung, Das Magazín 2/2003 (online http://www.wz.nrw.de/magazin/magazine.asp), 22 ff.; ders., in: Tröger (Hrsg.), Wie frei ist unser Wille?, 2007, S. 97 ff.; ders., FS Maiwald, 2010, S. 79 ff. Näher Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009, S. 5 ff.; Hirsch, ZIS 2/2010, 65 ff. Kritisch gegenüber dieser Perspektive: Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 118 ff.; Roth/Merkel, in: Grün/Friedmann/Roth (Hrsg.), Entmoralisierung des Rechts, 2008, S. 65 ff.; Rath, Aufweis der Realität der Willensfreiheit. Eine retorsive Reflexion zur Möglichkeit von Verantwortlichkeit in Ethik und (Straf-)Recht, 2009, S. 43; Seelmann, in: Senn/Puskás (Hrsg.), Gehirnforschung und rechtliche Verantwortung (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 111), 2006, S. 98; Jakobs, ZStW 117 (2005), 265, Fn. 56. Burkhardt antwortet Merkel ausführlich in FS Maiwald, S. 96 ff. und Merkel/Roth in S. 99 ff.
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lung im praktischen Denken wurzelt, das vom theoretisch-wissenschaftlichen Denken zu unterscheiden ist. Nimmt man aber an, dass die Freiheit ein allgemeines Gefühl ist, so ist es kein Gefühl, das zu 100 % geteilt wird. Zwar gibt es Studien, die in unserem kulturellen Umfeld durchgeführt wurden und besagen, dass 90 oder 95 % der Bevölkerung das Gefühl haben, dass das Universum indeterminiert sei, sie einen freien Willen besitzen und dass sie dieser Umstand für ihr Handeln moralisch verantwortlich macht, so ist doch das Gefühl der Freiheit kulturell bedingt. Vor diesem Hintergrund müssten wir annehmen, dass eine Minderheit der Bevölkerung sich schuldlos bestraft sieht, einfach aufgrund einer weiten „Weltanschauung“ und dass man nur legitim gegenüber denjenigen von Schuld sprechen kann, die die Freiheit des Menschen als verbindliches Prinzip verstehen. Dass jedoch die Schuld damit nichts zu tun hat, zeigt die Tatsache, dass niemand dadurch entlastet würde, dass er beweist, nicht das Gefühl von Freiheit mit der Bevölkerungsmehrheit zu teilen. Darüber hinaus geht diese Perspektive von einem fehlerhaften Ansatz aus, indem sie einen Zusammenhang zwischen Wahrheit und subjektiven Empfindungen behauptet. Dass das Gehirn durch seine kognitiven Mittel eine bestimmte Wahrnehmung von sich selbst hat, bedeutet nicht, dass seine Intentionen immer in Übereinstimmung mit der Realität sind, selbst wenn das Gehirn sicherlich einen evolutionären Erfolg darstellt. Um Schuld in einer modernen Gesellschaft zu begründen, ist es notwendig – oder zumindest muss man in der Lage sein, mit der wissenschaftlichen Hypothese zu arbeiten –, dass die Empfindung oder Erfahrung tatsächlich von einem wirklich freien Willen begleitet werden. Neurologische Experimente haben gezeigt, dass bestimmte Stimulationen von Teilen des Gehirns subjektive, außerkörperliche Erfahrungen produzieren können, von denen wir wissen, dass sie objektiv falsch sind. Mithin können die Menschen Empfindungen haben, wohl wissend, dass sie nicht mehr sind als das: Empfindungen, die sich durch verschiedene Gründe erklären lassen (biologisch-evolutionäre, kulturelle usw.). Dass es sich dabei um Sinneseindrücke handelt, die viele Leute so empfinden und die in ihrer subjektiven Empfindung Teil ihrer Realität darstellen, ist keine ausreichende Grundlage, um soziale Prozesse der Schuld zu konstruieren, da diese Prozesse die eigene subjektive Erfahrung übersteigen. Das Gehirn „betrügt uns“ ständig. Die Begründungsansätze, die sich auf die Erste-Person-Perspektive beziehen, haben die von den Neurowissenschaftlern stammende Kritik nicht überzeugend überwinden können. Diese arbeiten mit der Dritte-Person-Perspektive, die die einzig gültige im Rahmen sozialer Systeme darstellt10. Die Neurowissenschaft hat gezeigt, dass
10 Siehe u. a. Roth/Merkel (Fn. 9), S. 63; dies., in: Hirnforschung-Chancen und Risiken für das Recht, 2008, S. 28 f.; Prinz, in: Senn/Puskás (Hrsg.), Gehirnforschung und rechtliche Verantwortung (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 111), 2006, S. 29 ff.; Singer, in: Duncker (Hrsg.), Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, 2006, S. 129 ff. Grundlegend zu den unlösbaren Problemen, die daraus folgen, die Schuld mit der subjektiven Erfahrung zu begründen, Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Per-
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es gerade unsere „Blindheit“ gegenüber bestimmten Phänomenen ist, die auf das Gefühl, dass alles von unserem freien Willen und Bewusstsein abhängt, zurückgeht. Es läuft darauf hinaus, dass wir die Unwissenheit bezüglich dessen, was uns bestimmt, Freiheit nennen. Wenn die Prozesse, die unser Verhalten prädisponieren, unbewusst geschehen, schafft es den Anschein, dass es diesen Verhaltensweisen an einer Veranlassung mangelt und daher schreiben wir unserem Willen die Natur einer „freien Ursache“ ohne Vergangenheit zu. Die Neurowissenschaften haben die geniale Intuition von Spinoza bestätigt, dass unser Gefühl von Freiheit nicht mehr als die Unkenntnis der Mechanismen ist, die uns bestimmen. Ohne zu leugnen, dass das Gefühl der Freiheit, wie jedes Phänomen des Bewusstseins, nur aus der Ich-Perspektive zugänglich ist, und dass die Menschen ihre Bestimmungsprozesse nicht „sehen“ können, folgt daraus nicht, dass eine „Beobachtung zweiter Ordnung“ nicht möglich wäre, wie etwa eine Fremdbeobachtung, die erfasst, wie die Wahrnehmung anderer Individuen stattfindet (einschließlich dessen, was diese nicht wahrnehmen können). Die Beobachtung zweiter Ordnung hat Zugang zu den Gründen, die bestimmen, warum das beobachtete Subjekt sieht, was es sieht und ebenfalls zu den Gründen, warum es nicht sehen kann, was es nicht sieht. Die Neurowissenschaft hat brillante „Beobachtungen zweiter Ordnung“ der Funktionsweise des Gehirns und der mentalen Prozesse der Menschen gemacht, die uns, die wir in der Erste-Person-Perspektive blind sind, das eigene Verhalten erklären. Es ist aber nicht möglich hier weiter ins Detail zu gehen. Worauf es ankommt, ist, dass das vorhandene Wissen bezüglich der Funktionsweise des Gehirns jede Möglichkeit verhindert, eine Begründung der Schuld allein in der Ich-Perspektive zu suchen. Die Schlussfolgerung, die sich aus diesen Überlegungen ziehen lässt, ist dass die rechtliche Schuld nicht allein ein Problem des persönlichen Selbstbildes ist und daher die Feststellung von Schuld unabhängig von den subjektiven Empfindungen des Verurteilten ist. Der Schuldige wird unabhängig davon bestraft, ob er sich frei in seinem Handeln fühlt, während der Schizophrene, der einen wahnhaften Blick auf die Realität hat, schuldlos ist, selbst wenn er in der absoluten Überzeugung, er sei frei, handelt und sich selbst Vorgänge zuschreibt, die er nicht kausal hervorgerufen hat. In demselben Sinne muss man jene Fälle beurteilen, in denen durch Laborexperimente das Verhalten einer Person durch Stimulation ihres Gehirns (z. B. durch magnetische Impulse) beeinflusst wird, oder durch Hypnose, die das Gefühl erhält, frei zu handeln (Selbst-zuschreibung). Das persönliche Gefühl von Freiheit kann Gültigkeit für rein moralische Prozesse der Selbstzurechnung oder des Selbstvorwurfs haben, aber nicht, wenn Dritte oder ein sozialen Systems die Zuschreibung durchführen, mit dem Ziel, bestimmte unabdingbare Handlungsnormen zu stabilisieren. Die Schuld hat mit der Ausgestaltung des zwischenmenschlichen Umgangs zu tun und die Strafe ist eine soziale Institution, nicht eine rein persönliche Empfindung. Abschließend spektive des Schuldprinzips. Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht, 2006, S. 39 ff., 321 ff., 335 ff., 343 und passim.
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lässt sich festhalten, dass das Entscheidende für die rechtlichen Wirkungen nicht die Ich-Perspektive ist. Ausgehend von diesen kritischen Überlegungen lassen sich die Gründe besser verstehen, warum die wissenschaftliche Debatte (um dieses Thema) in den letzten Jahren erneuert wurde und warum sie größtenteils von Theorien bestimmt wurde, die aus Beiträgen der Sozialphilosophie und -wissenschaft stammen wie die funktionale Schuldtheorie oder die Begründungen, die sich auf den ethischen Diskurs beziehen. Beide Perspektiven, die einen entscheidenden Einfluss auf den aktuellen Stand der Diskussion gehabt haben, stimmen dahingehend überein, dass die Straftat und die Strafe ein soziales Phänomen darstellen und daher der Prozess der strafrechtlichen Zuschreibung ein kommunikativer Prozess ist.
III. Schuld als Kommunikation 1. Die funktionalen Theorien der Schuld: Schuld und Prävention Die funktionalen Theorien, die auf Jakobs’ Konstruktion11 aufbauen, haben den großen Verdienst geleistet, dass sie deutlich gemacht haben, dass das Schuldurteil nicht von den naturalistischen Merkmalen der Handlung (Wissen, Motivation, etc.) abhängt, sondern von der kommunikativen Relevanz, die eine Gesellschaft Handlungsmerkmalen zuschreibt. Nach der funktionalen Theorie hängt die strafrechtliche Zurechnung nicht von der Intensität der Emotionen wie dem Überlebensinstinkt, der Wut, Angst oder Hass oder solchen, die in bestimmten Überzeugungen des Täters wurzeln, ab, sondern davon, dass es für die strafrechtliche Behandlung dieser mentalen Zustände auf das funktional zum Erhalt der normativen Struktur der Gesellschaft Notwendige ankommt. Im Bezug auf die im vorherigen Abschnitt beschriebenen Theorien, argumentiert Jakobs „ohne Bezug auf eine konkrete Gesellschaft bleibt der Schuldbegriff unterbestimmt. Er leistet nichts, sondern camoufliert 11
Siehe u. a., Jakobs, ZStW 101 (1989), 516 ff.; ders. (Fn. 3), 17/3, 18 ff.; ders. (Fn. 6), S. 26 ff. Die grundlegende Idee von Jakobs’ funktionalem Schuldbegriff ist die Abhängigkeit des Schuldbegriffs von der Aufgabe die er – je nach Strafzweck und Verfassung der Gesellschaft unterschiedlich – zu erledigen hat. Ähnlich Achenbach, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 135 ff. Von einer andere Perspektive der Generalprävention, siehe auch Haffke, GA 1978, 45; ders., in: Hassemer/Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Band III (Strafrecht), 1978, S. 165 ff.; Streng, ZStW 92 (1980), 637 ff., 679 ff.; ders., ZStW 101 (1989), 273 ff., insb. 283 ff.; ders., in: Frisch/v. Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität. Normative und empirische Aspekte einer tatproportionalen Strafzumessung, 2003, S. 131; MK-StGB/Streng, 2003, § 20 Rn. 21 ff. Sie haben ein funktionales Konzept der Schuld entwickelt, das sich mehr an den sozialpsychologischen Wurzeln der Schuld orientiert. Über die Unterschiede von seiner Position zu Jakobs Streng, in: Frisch/v. Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität. Normative und empirische Aspekte einer tatproportionalen Strafzumessung, S. 138, Fn. 39 und MK-StGB/Streng, § 20 Rn. 22.
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nur“12. Aus diesem Grund haben die funktionalen Theorien erlaubt, ein viel besseres Verständnis hinsichtlich der normativen Gründe zu entwickeln, die den traditionellen Ursachen der Entschuldigung zugrunde liegen, wie zum Beispiel dem entschuldigenden Notstand. Der Bezug auf präventive Elemente, der durch Roxin in den frühen siebziger Jahren skizziert wurde, ist durch Jakobs Modell in der Form radikalisiert worden, dass die Schuld und ihr Maßstab in ihrer ursprünglichen Formulierung in Schuld und Prävention mit den präventiven Bedürfnissen fest verknüpft wurden13. Nach dieser Pionierarbeit liegt die Schuld dort, wo die Gesellschaft keine Alternative oder kein funktionales Äquivalent zur Strafe findet oder, anders formuliert, die Schuld ist die Summe der Voraussetzungen, unter denen es unmöglich ist, ein fehlgeleitetes Verhalten ohne eine formelle Reaktion zu begreifen. Diese Idee, nach der Schuld dort festgestellt wird, wo es die präventive Notwendigkeit oder die Stabilisierung einer bestimmten Ordnung bedarf und in dem Maße, in dem die Gesellschaft nicht über eine funktionale Alternative verfügt, lässt zu sehr das Problem der individuellen Verantwortung für die Erosion der Rechtsordnung beiseite14. Das Fehlen von funktionalen Alternativen zur Strafe dient nicht als normatives Äquivalent zur Selbstbestimmung. Wenn das Individuum nicht für das begangene Unrecht verantwortlich ist, besteht die Notwendigkeit der normativen Stabilisierung nicht, unabhängig davon, ob die Gesellschaft über funktionale Alternativen verfügt oder nicht (über die sie normalerweise zumindest mit den Maßregeln der Besserung und Sicherung zur Unschädlichmachung verfügt). Wenn das Subjekt schuldig erklärt wird, ist die Existenz von Alternativen (wie z. B. eine effektive Behandlung) irrelevant für die Wirkung des Schuldausspruchs. So wird es wahrgenommen als handle es sich in Wahrheit nicht darum, dass keine Schuld existiert, wo es keine alternative Reaktion gibt, sondern vielmehr, dass es keine alternative Erklärung der Normbrechung als die Verantwortung des Brechenden gibt. Es handelt sich auch nicht darum, Alternativen zur Strafe als Sanktion zu bewerten, sondern darum, Alternativen zur Erklärung des Geschehenen basierend auf der Eigenverantwortung zu beurteilen. Ohne einen Bezug zur persönlichen Verantwortung ist es unmöglich zu erklären, welche Lösungen für den Konflikt ein funktionales Äquivalent darstellen können. Es existiert keine Schuld, wenn in der Erklärung des Unrechts die Eigenverantwortung keine Rolle spielt und man die Schuld feststellt, wenn hinsichtlich des Unrechts keine alternative Erklärung als die Eigenverantwortung existiert. Die funktionale Theorie hat richtigerweise konstatiert, dass der Inhalt der Schuld nicht von den Zwecken des Strafrechts zu trennen ist und hat die Frage nach der Schuld als eine Frage der Zuschreibung von Zuständigkeiten identifiziert. Es ist jedoch nicht 12
Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 63. Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 8 f., 14, 17, 31 ff. Jüngst Jakobs (Fn. 12), S. 62, mit Fn. 130. 14 Gegen die Begründung der Schuld und der Voraussetzungen für den Ausschluss von Schuld aus einer rein präventiven Perspektive heraus, Frisch (Fn. 6), S. 135 f. 13
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vollständig gelungen, die materielle Grundlage für diese Zuschreibung auszumachen. Dass es sich in vielen Fällen um eine richtige Beschreibung handelt, bedeutet nicht, dass die Abwesenheit von einem funktionalen Äquivalent eine annehmbare normative Grundlage darstellt. Ich gebe ein einfaches Beispiel. Wenn es klar ist, dass eine Person eine strafbare Handlung aufgrund einer Psychose oder einer pädophilen Neigung begangen hat, die aus einem Trauma oder einem Gehirntumor resultiert, so würde sie nicht schuldig gesprochen werden, unabhängig davon, ob eine Behandlung existiert oder nicht – ob zum Beispiel der Tumor entfernt werden kann oder nicht. Wenn die Schuld ausschließlich als eine Ableitung aus der positiven Generalprävention definiert wird, so ist sie darauf beschränkt, zu begründen, warum bestimmte Bürger einen Preis für ihren Genuss der Freiheit zahlen müssen und das zu rechtfertigen, was Jakobs als „dezentrale Verwaltung“ bezeichnet15. Aber damit beschränkt sich das Konzept der Verantwortung darauf, ein relatives Konzept für denjenigen zu sein, der die aus Sicht der positiven Generalprävention notwendigen Kosten trägt. Allerdings gelingt es den radikalsten Formulierungen der funktionalen Theorie nicht, eine materiell befriedigende Antwort zu finden, da die Strafe eine Sanktion mit rückwirkendem Charakter ist, die verlangt, dass die Strafe hinsichtlich der Verantwortung für die Tat angemessen ist. Der Täter ist das unentbehrliche „Fahrzeug“ zur Demonstration der Stabilisierung des Rechtssystems. Der Schuldspruch bedeutet, dass die strafrechtlich relevante Handlung nicht nur als Zufall oder als Laune des Schicksals betrachtet wird, sondern als ein Werk oder Ausdruck einer Person (es gibt keine gültigen Alternativerklärungen).16 Der wichtigste Einwand gegenüber den funktionalen Theorien ist, dass sie normative Kriterien der Legitimation der Strafe gegenüber dem Bürger, der eine Strafe für seine Verantwortlichkeit für ein bestimmtes Handeln erleidet, zu sehr außer Acht lassen.17 Jakobs hat sicherlich seit 1995 bedeutende Beiträge dazu geleistet, die Einwände zu überwinden, dass sein funktionales Schuldkonzept nicht mit dem rechtsstaatlichen Konzept der Person vereinbar sei18. Wie sich aus seinem Werk „Norm, Person, Gesellschaft“ herauslesen lässt, fügt Jakobs funktionale Theorie zu seinen zwei wesentlichen Ausgangspunkten – die funktionale Konzeption von Gesellschaft und Norm (als kontrafaktische Erwartung) – das Konzept der Person hinzu. Und das tut er vor allem unter Bezugnahme auf die Theorie der Anerkennung von Hegel, als dem ersten großen Versuch der westlichen Philosophie – mit Erlaubnis des appré15
Siehe seine bekannte Parabel der Monarchen in (Fn. 6), S. 34 f. Jakobs (Fn. 12), S. 59 ff. 17 Jakobs (Fn. 12), S. 61. 18 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 707 ff.; Neumann, in: Schünemann/v. Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, S. 149; Schneider, Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus, 2004, S. 15 f. Aktuell hat Kindhäuser, FS Schroeder, S. 88 f., argumentiert, dass Jakobs Konzept der Person als „normatives Konstrukt“ „jedoch eine formale Betrachtung [ist], welche die Rolle des Einzelnen nur verkürzt erfasst“. 16
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cier mutuellment von Rousseau – nicht nur ein normatives Konzept (homo noumenon als Gegenteil von homo phaenomenon) zu kreieren, sondern auch ein intersubjektives oder soziales Konzept. Die Bezugnahmen auf den Begriff der Person haben in der Arbeit von Jakobs die Bedeutung des Funktional-deskriptiven, das auf der Existenz funktioneller Alternativen zur Strafe basiert, verwässert. Dies zeigt, dass man, um herauszufinden, ob eine Gesellschaft über alternative Strategien zu Schuld und Strafe verfügt, um den Bruch normativer Erwartungen zu begegnen, nicht darauf verzichten kann, die Beziehung zwischen dem Individuen und der Rechtsordnung (der Status des Bürgers) in einer bestimmen Gesellschaft zu definieren. Es ist anzuerkennen, dass Jakobs nach der Radikalisierung seiner ursprünglichen Formulierungen, das Konzept der Person im Recht – das Individuum als Adressat kommunikativ vermittelter Rechte und Pflichten – im Zentrum der Debatte über die Schuld platziert hat19. Die funktionale Sicht hat trotzdem aufgrund ihrer hohen Ebene der Abstraktion, nicht die Möglichkeit tiefergehend zu diskutieren, welche Rolle die politische Gestaltung einer bestimmten Gesellschaft und der Legitimationskontext für die Begründung der Schuld spielen. Es werden die Legitimationskriterien der geltenden Ordnung in dem Maße, in dem die Beziehung des Individuums mit der Ordnung und darüber mit der Begründung von Schuld verknüpft ist, nicht ausreichend berücksichtigt. Obwohl Jakobs selbst es nicht versäumt hat, einige allgemeine Verweise zu der Schuld im materiellen Sinn, als Geschehen mit kommunikativen Inhalt ausgehend von legitimen Normen20, vorzunehmen, ist es Verdienst der auf dem ethischen Diskurs basierenden Konzepte, diese Frage ausgiebig behandelt zu haben. 2. Die auf dem ethischen Diskurs basierende Schuld: Schuld und kommunikative Freiheit Die auf dem ethischen Diskurs basierenden Begründungen erschienen in der wissenschaftlichen Diskussion als die Frage bereits durch die Präventivtheorien und die funktionalen Schuldtheorien umformuliert worden war. Es sticht in der aktuellen wissenschaftlichen Betrachtung der Suche nach einer auf der kommunikativen Vernunft basierenden Begründung Klaus Günther21 hervor, obwohl auch andere Autoren mit ähnlichen Positionen wie Kindhäuser22 oder Neumann23 existieren. 19 Jakobs (Fn. 8), S. 112, 125 und passim; ders., ZStW 117 (2005), 247 ff. Sehr näher Pawlik, Person, Subjekt, Bürger. Zur Legitimation von Strafe, 2004, S. 75 ff., 82 ff., 97. 20 Jakobs (Fn. 6), S. 26 ff. In seinem abschließenden Fazit behauptet er: „Materielle Schuld ist die Rechtsuntreue gegenüber legitimen Normen“ (S. 35). Aktuell, System der strafrechtlichen Zurechnung, S. 61 („Die Kriterien richten sich, sofern Strafrecht ein zweckvolles Unternehmen sein soll, danach ob ,Strafe sein muss‘, um die Normgeltung zu erhalten, oder verzichtbar ist, und zwar in einer konkreten Gesellschaft mit einer legitimen Verfassung“). Zu der Bedeutung dieser Änderung des Diskurses zu Beginn der 90er Jahre hinsichtlich des originalen Konzepts von 1976 in Schuld und Prävention, Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (Fn. 5), S. 51 f. 21 Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (Fn. 5), S. 71 ff., 245 ff. Zu der Begründung seines Konzept aus der Diskursethik heraus, Günther, in: Schünemann/v. Hirsch/Jare-
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Die Diskursethik verlässt die Ebene der Abstraktion der funktionalen Schuldtheorie und arbeitet mit Konzepten der Person und der Schuld, die ausschließlich für ein demokratisches System der Freiheiten Gültigkeit haben. Der große Erfolg der diskursiven Theorien war, die politische Dimension des Schuldgrundsatzes ans Licht zu bringen. Allerdings und in dem Bewusstsein der starken Vereinfachung einer sehr komplexen Theorie, kann man hinsichtlich der Begründung von Schuld basierend auf kommunikativer Freiheit (einem nicht transzendentalen Begriff von Freiheit) das Gegenteil als bei den funktionalen Theorie einwenden: letztlich übertreiben sie die politische Dimension der Schuld. Günther oder Kindhäuser argumentieren, dass es nur in einem demokratischen System möglich ist, rechtmäßig von Schuld zu sprechen, da in undemokratischen Systemen keine Möglichkeit besteht, an dem Rechtsetzungsprozess teilzunehmen24. Aus dieser Aussage folgen ernsthafte Probleme, die Schuld jener Individuen zu begründen, die wie etwa Ausländer, die sich auf dem nationalen Territorium befinden, nicht an der Entwicklung der Normen oder an den politischen Prozessen teilgenommen haben25 oder für Fälle der extraterborg, Positive Generalprävention (Fn. 8), S. 156 ff., insb. S. 169 ff.; ders., in: Prittwitz/Manoledakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende (Fn. 5), S. 35 ff., 38 ff.; ders., in: Brunkhorst/Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik (Fn. 6), S. 83 ff.; ders., in: Smith/Margalit (Hrsg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie (Fn. 6), S. 65 f. Hinsichtlich der Legitimation des Strafrechts argumentiert dieser Autor, dass eine Parallelität zwischen dem Bürger als Verfasser der Norm und als Normadressat besteht (S. 248 ff.). Diese Idee wird unter ein Konzept der deliberativen Person gefasst und, was hier von Interesse ist, dies bedeutet eine Begründung der Schuld dieser deliberativen Person als Person im Recht (S. 253 ff.). Seine Einwände hinsichtlich der funktionalen Schuldtheorien formulierend: Günther, in: Smith/Margalit (Hrsg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie (Fn. 6), S. 64 f. 22 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701 und passim, sucht eine Antwort auf das Problem der materiellen strafrechtlichen Schuld zwischen Funktionalismus (Jakobs) und dem subjektiven Vernunftliberalismus (Köhler) als gegensätzliche Begründungspole. Er versteht beide Alternativen als unzureichend, da sie entweder auf den subjektiv begründeten Schuldvorwurf (Jakobs) oder auf das Neutralitätsgebot des Rechts in einer modernen Gesellschaft verzichtet, das nur die Legalität garantiert, nicht aber die Moral. Aktuell Kindhäuser, FS Schroeder, S. 85 ff.; ders., FS Hassemer, S. 770 ff.; ders., Strafrecht, AT, 2008, § 21 Rn. 9. 23 Günther zeigt die Übereinstimmungen von beiden auf in Schuld und kommunikative Freiheit (Fn. 5), S. 74 f. 24 Günther, in: Brunkhorst/Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik (Fn. 6), S. 83 ff., 100; Kindhäuser, FS Schroeder, S. 90 f.; ders., FS Hassemer, S. 774. 25 Der Versuch von Kindhäuser, FS Schroeder, S. 91 und FS Hassemer, S. 774, diese Einwände durch die Bezugnahme auf die Möglichkeit der Ausübung von Rechten wie der Meinungsäußerungsfreiheit zu umgehen (Deutsche und Ausländer haben „gleichermaßen das Recht, ihre Meinung frei zu äußern, zu demonstrieren, Vereine und Interessengruppen zu bilden, in Presse und Rundfunk ihre Belange zu artikulieren, sich in Parteien und Gewerkschaften zu organisieren und viele weitere Möglichkeiten, im öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess Stellung zu nehmen“), ist unzureichend. Wenn nicht dieselben Möglichkeiten der Teilnahme bestehen, kann die Verantwortung innerhalb dieser Theorie nicht
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ritorialen Anwendung von Strafrecht, die es erlauben, eine Strafe gegenüber Personen zu verhängen, die nicht die Möglichkeit hatten, an dem Verfahren für die Schaffung von Strafnormen teilzunehmen. Die Probleme weiten sich auf Situationen der sozialen Exklusion aus, die eine demokratische Teilhabe tatsächlich unmöglich machen. Dies alles würde zu dem Ergebnis führen, dass die Mehrheit der Gefängnisinsassen in Westeuropa eine Freiheitsstrafe aus Gründen erleidet, die nichts mit ihrer Schuld zu tun haben. Selbst wenn man von den Problemen absieht, die sich daraus ergeben, dass die gegenwärtigen politischen Systeme mehr Parteikratien als Demokratien sind26, erlauben die in der Diskursethik basierenden Theorien keinen legitimen Schuldspruch denjenigen gegenüber, die kein Recht oder keine Möglichkeit hatten, sich an den politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Dadurch bleiben große Teile der verhängten Sanktionen auf Maßnahmen reduziert, die generalpräventive Bedürfnisse ohne Schuld erfüllen, d. h. rein instrumentelle Strafen darstellen. Es handelt sich dabei nur um ein Symptom eines genetischen Problems der Diskurstheorien: sie berücksichtigen nicht ausreichend, dass die Schuld, wie die Präventionstheorien und insbesondere die funktionale Theorie hervorheben, eine Dimension als Strategie zur Normenstabilisierung hat. Wie bereits mehrfach von Prof. Frisch aufgezeigt, wirkt diese Strategie nicht immer zum Nachteil des Täters, denn die Strafe kann in einigen Fällen als gerecht aber aus präventiver Sicht als unnötig angesehen werden, insbesondere im Bereich der Entschuldigungsgründe27. Es existiert ein wahrer Kern der präventiven Ansätze: die Schuld hat etwas mit der normativen Stabilisierung als grundlegende Funktion des Strafrechts zu tun und materiell ist Schuld die persönliche Verantwortung für die Erosion einer solchen Stabilität. Schuld ist im Wesentlichen kein „Selbstwiderspruch“ als Bürger oder deliberative Person, sondern vielmehr ein „Widerspruch“ zu unverzichtbaren Elementen des sozialen Lebens. Mit der diskursiven Begründung, die sich in der Definition der Person in ihrer Doppelrolle als Adressat der Norm und Bürger mit dem Recht auf Teilnahme in politischen Entscheidungsprozessen, aus denen demokratisch legitimierte Normen entstehen (Normautor), ergibt, werden nicht alle Dimensionen der strafrechtlichen Schuld ausreichend miteinbezogen. Das Individuum wird nicht nur als „free rider“ bestraft, der seine Rolle nicht erfüllt28, sondern im Wesentlichen um der kommunikativen Schädlichkeit, die sich aus seinem Verhalten für die Normativität ergibt, entgegenzuwirken. Während die funktionale Schuldtheorie zu viel Gewicht auf die präventiven Aspekte zu Lasten der demokratischen Legitimierung der individuellen Verant-
dieselbe sein. Es handelt sich dabei um eine zu schwache Voraussetzung, um von Schuld im materiellen Sinne sprechen zu können. 26 Pawlik, in: Joerden/Wittmann (Hrsg.), Recht und Politik, (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 93), 2004, 131 f. 27 Hinsichtlich der Gewissenstäter Frisch, FS Gimbernat Ordeig, S. 917 f., übereinstimmend mit Roxin. 28 Kindhäuser, FS Schroeder, S. 89 f. kritisiert Jakobs gerade dafür, diese Aspekte nicht hinreichend zu berücksichtigen.
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wortung legt, so sind die Probleme der diskursiven Theorien gegenteilig29. Ihnen fehlt eine Verknüpfung von Schuld und der normativen Stabilisierungsfunktion. Die funktionale Theorie hat klargestellt, dass Delinquenten aufgrund ihrer Teilnahme an einem laufenden Prozess der Normerosion durch das Begehen von Handlungen großer sozialer Schädlichkeit verantwortlich sind, obwohl nicht ausreichend begründet ist, welches die persönliche Grundlage dieser Verantwortung ist. Fragen wie nach der Ermittlung von Grenzen der Schuldfähigkeit können nur durch Bezugnahme auf die Notwendigkeit der normativen Stabilität beantwortet werden, sodass das bestehende Wissen über eine psychische Erkrankungen (der Ausbruch paranoider Schizophrenie) die Strafe als Instrument der normativen Stabilisierung in etwas Unnötiges umwandelt. Dies zeigt, dass die Grenzen der Schuld nicht in einen öffentlichen Diskurs unter der direkten Beteiligung der Bürger bestimmt werden. Dies geschieht nur durch die Anerkennung der Schuldausschließungsgründe in den Gesetzbüchern, das heißt, mit der Schaffung der Grundlagen eines Schuldstrafrechts. Die minimale und maximale Reichweite dieser Ausschlüsse (Unzurechnungsfähigkeit, unvermeidbarer Verbotsoder Gebotsirrtümer, Unzumutbarkeit) wird in einem hoch spezialisierten juristischen Diskurs festgelegt, in dem sowohl die Notwendigkeit der Normstabilisierung als auch die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen (in einer Gesellschaft, in der Gewalt etwas außergewöhnlich ist, ist es einfacher, eine unangemessene Reaktion des Opfers der Gewalttätigkeit, in Kauf zu nehmen). An diesem Punkt lässt sich die funktionale Theorie aus der rein dogmatischen Perspektive fruchtbarer machen als die Diskurstheorie30. Diese bietet keine dogmatisch befriedigenden Antworten auf die Frage nach dem Schaffen von Grenzen der Schuld derer, die an dem Diskurs teilhaben. Der beste Beweis dafür ist, dass ähnliche Lösungen sich in Rechtsordnung finden, in denen die politischen und legitimatorischen Grundlagen nicht zusammenfallen (z. B. in Bezug auf die Relevanz von bestimmten psychischen Anomalien). Wenngleich die strafrechtliche Schuld eine Konstruktion ist, die von dem jeweiligen Gesellschaftsmodell abhängt, so sind in einem demokratischen Rechtsstaat nicht nur diejenigen schuldig, die an den demokratischen Prozessen der Normbildung teilnehmen können. Jedem, dem die normative Stabilisierung, die eine Rechts29
Dies steht im Zusammenhang mit der – meiner Meinung nach fehlerhaften – Idee von Günther (Feijoo Sánchez, Retribución y prevención general, (Vergeltung und Generalprävention), 2007, S. 542 ff.; Kühl, FS Eser, S. 159 f.), dass nur der Schuldspruch und nicht das auferlegte Übel kommunikative Bedeutung hat, dargelegt in Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 40 f. und weiterentwickelt in FS Lüderssen, S. 215 ff., und gefolgt in der Doktorarbeit seiner Schülerin Schork, Ausgesprochen schuldig. Dogmatische und metadogmatische Untersuchungen zum Schuldspruch, 2005, S. 104 ff., 178 ff., 212. 30 Über die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Entwicklung des Strafrechts, Frisch, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, S. 169 ff. Siehe auch Frisch, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 156 ff., insb. 168 ff.
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ordnung bietet, zugutekommt, kann schuldig erklärt werden im Sinne der Verantwortlichkeit für die Erosion seiner faktischen Geltung als soziale Realität. Ausländer oder Personen, die nicht in vollem Umfang an den besagten demokratischen Verfahren teilnehmen können oder von ihnen ausgeschlossen sind, werden gerecht behandelt, wenn sie verantwortlich gemacht werden für die Erosion der Strafnormen, die ihnen einen gleichwertigen Schutz wie den Bürgern mit Teilhaberecht gewähren. Ein wichtiger Aspekt, auf den die Anhänger eines Diskurs-Modells bestehen, um Schuld zu begründen, ist, dass in einem demokratischen System die Verantwortung mit einem „Neutralitätsgebot“ verknüpft ist. Sonst würde der Wesensgehalt der Grundrechte, wie die Meinungsfreiheit, nicht respektiert. Die Rechtsordnung eines demokratischen Systems kann nicht erwarten, dass die Bürger persönliche Treue gegenüber den Normen beweisen, sondern lediglich, dass ihr Handeln keine Missachtung derselben darstellt. In einem demokratischen System hat der Bürger die Freiheit zu entscheiden, ob er sich den Normen entsprechend verhält und aus welchen Gründen er dies tut. Seine Gründe und Motive sind seine persönliche Angelegenheit und deshalb für den Rechtsstaat irrelevant (zynische Motive sind gültig)31. Die Ordnung eines freiheitlichen Systems kann nicht von den Bürgern verlangen, dass sie die Normen als richtig erachten, sondern muss dem Bürger die Möglichkeit zugestehen, intern oder ausdrücklich die Norm als eine valide und legitime Norm abzulehnen. In diesem Sinne hat der Bürger jedes Recht an Verfahren oder öffentliche Debatten teilzunehmen oder diese zu initiieren, um eine Norm wieder aufzuheben oder diese als illegitim erklären zu lassen. Was nicht als gültige Option erachtet werden kann, – wenn es nicht der konkreten Norm oder dem demokratischen Freiheitssystem an faktischer und effektiver Geltung mangelt – ist eine Handlung, die die Norm verletzten würde, durchzuführen. Die „Leistung“, die ein demokratisches System von Freiheiten mit sich bringt oder einfordert, besteht nicht in der internen Zustimmung zu der Norm, da dies der Privatsphäre zuzuordnen ist, sondern darin zu verhindern, sie durch eine verletzende Handlung nicht anzuerkennen. Das heißt, derjenige, der eine Norm innerlich nicht anerkennt, sollte das Unrecht (die Verletzung der Norm) – durch welche Strategie auch immer – verhindern. Eine demokratische Ordnung, die die Räume privater Freiheit seiner Bürger anerkennt, kann nur das äußerliche Anerkennen der Norm verlangen. In Fällen, in denen das Fehlen dieser äußerlichen Anerkennung, die Geltung der wesentlichen und unverzichtbaren Regeln des Zusammenlebens betroffen hat, muss der schuldige Täter eine Strafe erleiden, die die kommunikative Dimension seines Handelns ausgleicht, da es nicht ausreicht den Täter dazu zu zwingen, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Dies bedeutet je31 Günther, in: Byrd (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 94 (Fn. 8), S. 148 ff.; ders., in: Smith/Margalit (Hrsg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie (Fn. 6), S. 72 ff.; ders., Schuld und kommunikative Freiheit (Fn. 5), S. 251 f.; Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701 ff.; ders., FS Schroeder, S. 87 ff.; ders., Strafrecht, AT (Fn. 22), § 21 Rn. 10. In einem ähnlichen Sinne hat Pawlik (Fn. 19), S. 84 f., dieses Problem behandelt, aufzeigend, dass es in einem säkularisierten Staat nicht möglich ist, jemanden rechtlich zur Treue zu verpflichten.
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doch nicht, dass seine Schuld als Normadressat mit dem Änderungsbestreben hinsichtlich der Norm durch undemokratische Prozesse zusammenhängt. 3. Fazit In Übereinstimmung mit dem bisher dargestellten ist die strafrechtliche Schuld eine Kommunikation der fehlenden Anerkennung der Norm durch ihre Übertretung. Diese Definition besteht aus mehreren Elementen: a) sie hat ihren Ursprung in der sozialen oder interpersonalen Anerkennung einer gewissen Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die auch eine Anerkennung der Freiheit bedeutet, b) die Missbilligung, die der Schuldspruch beinhaltet, hängt mit der Verantwortung für das begangene Unrecht zusammen, was bedeutet, dass der Täter für die Entstehung einer Situation verantwortlich ist, die die Normstabilität beeinträchtigt; das Objekt der Verantwortung ist der gesellschaftliche Schaden: die Erosion der wesentlichen und unverzichtbaren Normen; c) die Verantwortung für die Erosion der Norm muss die „demokratische Bindung“ des Einzelnen an die Rechtsordnung als rein persönliche Angelegenheit respektieren. Ich denke, dass ich bisher vollkommen mit dem Geehrten übereinstimme. Ich werde versuchen als Abschluss die Grundlagen einer kommunikativen Schuldtheorie mit diesen Elementen zu entwerfen.
IV. Was wollen wir damit aussagen, wenn wir jemanden einer Straftat schuldig erklären? Wenn ein Gericht die Schuld einer Person feststellt, besagt dies nicht, dass diese Person anders hätte handeln können, sondern dass die Gesellschaft keine andere Möglichkeit hat, den Konflikt zu lösen. Damit gründet sich die Schuld nicht auf dem Vorwurf gegenüber dem Täter, dass er hätte anders handeln können, oder dass er sich für das Unrecht entschieden habe, obwohl er sich richtig habe verhalten können. Die Neurowissenschaft hat diese Frage absolut deutlich gemacht. Nicht so sehr, weil es Experimente wie von Libet gibt, die die Existenz der Willensfreiheit widerlegt haben32, sondern weil die Erkenntnisse, die wir aus den Prozessen des Gehirns erlangen, es erschweren, von dieser Prämisse auszugehen (es besteht keine Trennung zwischen Geist und Gehirn und unser bewusstes Handeln repräsentiert nur einen Bruchteil unserer Gehirnaktivität). Unabhängig davon, dass aus einigen Experimenten voreilige Schlüsse gezogen wurden, ist die Lehre sich dessen bewusst, dass unüberwindliche Hürden dafür bestehen, solche Aussagen in einem Satz ohne schlechtes Gewissen zu formulieren.33 Genau dies ist der Ursprung der präventiven
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Frisch, Zur Zukunft des Schuldstrafrechts, Abschnitt III. Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 2. Aufl. 1970, S. 23 ff.; Merkel, FS Roxin, S. 760 f. 33
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Theorien, die zu der aktuellen Debatte über die Grundlagen der Schuld geführt haben und die von der Möglichkeit, anders zu handeln als „normative Setzung“34 ausgehen. Vor diesem Hintergrund besteht kein Problem darin, dass die funktionale Theorie von Jakobs weiterhin von Schuld spricht, in dem Sinne, dass das Entscheidende die Freiheit zur Selbstverwaltung ist, die das Rechtssystem den Personen allgemein zugesteht35. Dem Rechtssystem ist die individuelle Freiheit in dem Moment der Tatbegehung gleichgültig. Das Problem entsteht für die Diskurstheorien, wenn sie weiterhin behaupten zu bestätigen, dass „materielle Schuld – in einer demokratisch verfassten Gesellschaft – ein Defizit an hinreichender Rechtstreue ist, die von einer Rechtsperson bei der Befolgung von Normen erwartet wird“36. Im Allgemeinen entsteht dieses Problem bei allen Theorien, die die Verknüpfung der Tatschuld und der Fähigkeit der Selbstbestimmung nicht vollkommen aufgeben wollen. Meine These ist es, dass es trotz der vorhandenen Kenntnisse weiterhin möglich ist, von der persönlichen Verantwortung für eine konkrete Tat zu sprechen, ohne dabei die Idee der Selbstbestimmung aufzugeben. Der Verweis auf die Möglichkeit, anders handeln zu können, ist nicht der einzige Begründungsweg der auf Selbstbestimmung und Freiheit basierenden Schuld. Autonomie bedeutet nicht, die Möglichkeit in einem konkreten Moment anders handeln zu können, sondern sie existiert, wenn das Verhalten eigenen Regeln unterliegt. Dies bedeutet im Falle von Personen, dass – auch rechtsverletzende – Handlungen durch Motive, Gründe und Werte, die zu einem Individuum gehören, bestimmt werden, und dass sich die Schuld normativ begründen lässt, wenn man das Individuum für die Faktoren, die es bestimmen oder die sein Handeln erklären, verantwortlich machen kann. Diese „Zugehörigkeit“ hat weder eine vor-gesellschaftliche Natur noch ist sie eine biologische Tatsache. Nur wenn die Neurowissenschaften uns einer Begründung dieser Art berauben, können wir nicht mehr über die persönliche Verantwortung für die Straftat sprechen und müssten die Tatschuld als Basis des Strafrechts aufgeben. Aber die Neurowissenschaft beraubt uns nicht nur einer solchen Begründung, sondern bietet zudem auch Unterstützung. Ein absolut freier Wille ohne Kontrolle würde es nicht zulassen, dass das Individuum einen eigenen Entschluss fasst in der Weise, dass dies die Begründung der Schuld verhindern würde. Alles würde vom Zufall abhängen und die strafrechtliche Schuld wäre nicht mehr als ein von Pech begleitetes Lotteriespiel und der Mensch nicht mehr als das Spielzeug einer launischen Willensfreiheit. Ein freier Wille, der als vollkommen willkürlich betrachtet wird, bestimmt nichts und verbleibt zu allen Zeiten einem unbeweglichen Motor ähnlich, der eine vollkommen neue Kausalkette in Gang setzen kann und bei der es sich um einen Wil-
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Roxin, Strafrecht, AT (Fn. 4), § 19 Rn. 36 ff. Jakobs, in: Henrich (Hrsg.), Aspekte der Freiheit, 1982, S. 69 ff.; ders. (Fn. 6), S. 34; ders., ZStW 117 (2005), 247 ff., insb. 259 ff.; ders., in: Schleim/Spranger/Walter (Hrsg.), Von der Neuroethik zum Neurorecht?, 2009, S. 243 ff. 36 Kindhäuser, FS Schroeder, S. 91 und Strafrecht, AT (Fn. 22), § 21 Rn. 6. 35
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len ohne Kontrolle und ohne Besitzer handelt, der keine Form der Verantwortung rechtfertigen könnte. Mehr Zufälligkeit bedeutet keine größere Freiheit. Die relevante Entscheidung für das Recht, die Entscheidung, wo das „Ich“ beginnt – d. h. die Autonomie – ist eine Entscheidung der Gesellschaft. Es handelt sich um eine durch biologische Faktoren und die menschliche Natur beeinflusste Entscheidung, aber die Bestimmungslinie der Autonomie ist eine herkömmlicher Entscheidung, die nicht davon abhängt, ob man ein „Ich“ im Gehirn findet. Wir erlernen dieses Selbstbild in solch frühen Phasen des gesellschaftlichen Prozesses, dass die Strafrechtswissenschaft diese Frage nur wenig thematisiert hat. Daher sollte die Selbstbestimmung nicht mit „Willensfreiheit“ verwechselt werden, sondern sollte mit der gesellschaftlich zugewiesene Fähigkeit der Selbstbestimmung identifiziert werden, auf der die entsprechenden Strukturen der Schuld bauen. Die Selbstbestimmung von der wir Juristen sprechen ist nicht mehr als ein gesellschaftliches Konstrukt. Dies hat mit dem philosophischen Begriff der „Theorie der Anerkennung“37 zu tun. Wie wir gesehen haben, sollte man diese Theorie nicht aus einer rein subjektiven Perspektive verstehen – unabhängig davon, ob die Wurzeln der philosophischen Tradition der Theorie der Anerkennung zwischen Gleichen mit einem transzendentalen Idealismus im Sinne Kants zusammentrifft (von der ausgehend zum Beispiel Fichte seine Theorie der „Ichs“ entworfen hat38) – damit für sie die aktuelle Debatte der Schuld fruchtbar gemacht werden kann. Mit dieser Perspektive wurzelt die Begründung der Schuld nicht in dem Erfordernis eines anderen Verhaltens aufgrund der Möglichkeit anders zu handeln, sondern in der Tatsache, dass es dem begangenen Unrecht an einer anderen Erklärung für die Gesellschaft mangelt als das Fehlen rechtlicher Minimalbereitschaft, deren Gewährleistung durch jeden Bürger unabdingbar ist. Diese Haltung zur Rechtsordnung wird von dem Individuum im Laufe der Jahre geschaffen. Die neurologischen Prozesse sind unter anderem durch die eigene Geschichte des Individuums und seiner Persönlichkeitsentwicklung bestimmt. Die rechtliche Haltung des Individuums ist das Ergebnis eines langen Prozesses, in dem menschliche Verhaltensweisen Schritt für Schritt bestimmt werden und sich ständig verschiedene Faktoren verflechten39. Es 37 Aus verschiedenen Perspektiven Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 1994, der sich auf die Position Hegels in den Schriften der Universität Jena konzentriert; Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung. Zur Rechtfertigung von Strafe, 1999, S. 98 ff.; Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1991, S. 26 ff.; Luf, in: Schild (Hrsg.), Anerkennung. Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs, 2000, S. 73 ff.; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention. Studien zu einer Theorie der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts, 1998, S. 253 ff., insb. S. 294 ff.; Pawlik (Fn. 19), S. 75 ff., mit einer anderen Linie als Honneth; Schild, in: ders. (Hrsg.), Anerkennung. Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs, 2000, S. 37 ff.; Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 1979, S. 53 f., 86 ff. 38 Köhler, in: Schild (Hrsg.), Anerkennung. Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs, 2000, S. 91 ff.; Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, 1981, S. 14 ff. 39 Pauen/Roth, Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, 2008, S. 10, 99 ff. und passim.
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gibt zwei Möglichkeiten der Kontrolle von Handlungen, die eine bewusst, die andere unbewusst. Die unbewusste Handlung kann aber zum Teil durch die bewusste kontrolliert werden. Die Kindheit und Jugend des Menschen währen eine lange Zeit, weil es so lange dauert, die unbewussten Prozesse in unserem Gehirn zu entwickeln und zu trainieren, und in diesem unbewussten Raum des Gehirns eine Form der Kontrolle zu erlangen, die mehr oder weniger zuverlässig erlaubt, entsprechend bewussten Zielen und Absichten zu handeln. Es handelt sich um eine langsame Schulung, die in einem Prozess der Übertragung von Teilen der bewussten Kontrolle auf einen unbewussten „Diener“ besteht, aber in jedem Fall kein Aufgeben oder Übertragen der bewussten Kontrolle auf unbewussten Kräfte ist, die schließlich schwere Verhaltensstörungen im Menschen verursachen würde. Die unbewussten Prozesse stören die bewussten nicht, im Gegenteil, sie erweitern deren Aktionsfeld, so dass der Grad der persönlichen Verantwortung für ein Handeln nicht durch die Existenz einer unbewussten Realisierung verringert wird, solange es sich nicht um etwas Pathologisches handelt. Die Beziehung zwischen bewussten und unbewussten Prozessen ist nur ein Beispiel für die seltsamen Formen der funktionalen Kooperation, die das Ergebnis eines evolutionären Prozesses sind. Diese kooperativen Wechselwirkungen sind auch fruchtbar und wirkungsvoll im Rahmen sozialer Beziehungen. Moralische und soziale Verhaltensweisen sind eine Gesamtheit von Fähigkeiten, die durch wiederholtes Schulen über einen längeren Zeitraum erlangt werden, die von bewusst ausgedrückten Gründen und Prinzipien geleitet werden, und selbst wenn dem nicht so ist, findet sich seine Natur tief in dem kognitiven Unbewusstsein verwurzelt. Deshalb ist die gesellschaftlich anerkannte Freiheit nicht die fiktive Fähigkeit in einem Moment das Handeln zu steuern, sondern hat mit einer langfristigen Freiheit zu tun (die freie Entfaltung der Persönlichkeit). Dieser gesamte Prozess führt dazu, dass bestimmte Optionen unbewusst durch eine Veranlagung, die mit zuvor erworbenen emotionalen Faktoren zusammenhängt, geprägt werden. Dies bedeutet nicht, dass das Individuum für seine Persönlichkeit oder seinen Charakter, die er im Laufe der Zeit entwickelt hat, verantwortlich gemacht wird, sondern dass die beschriebenen Prozesse erlauben den Grund zu untermauern, aus dem die Bürger für ihr Handeln – als Ausdruck von Freiheit – verantwortlich gemacht werden. In einem demokratischen System muss man die Schuld nicht in einem Moment suchen, der vor der Begehung der Tat liegt oder im Bezug auf die Art, wie eine Person ihr Leben, ihren Charakter und ihre Persönlichkeit gestaltet hat. Die individuelle Biographie ist eine rein persönliche Angelegenheit, die nur zum Gegenstand des Verfahrens werden kann, wenn der Angeklagte sich auf diese beruft, um seine ganz oder teilweise bestehende Schuldunfähigkeit bezüglich des Geschehenen zu rechtfertigen. In einem Beitrag dieser Art ist eine stärkere Vertiefung nicht möglich. Worauf es hinsichtlich der Grundlagen der Schuld ankommt, ist, dass die kulturellen Prozesse und die Prozesse der Sozialisation dazu führen, dass man sich eine gewisse Geneigtheit zur normativen Erfüllung aneignet. Im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaats ist die einzig relevante Bereitschaft, die, sich den Regeln entsprechend zu verhalten. Schuld kann daher seine Grundlage nicht in dem Charakter oder der Persön-
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lichkeit des Täters, die sich in der Straftat äußert, haben (was dazu führen würde, dass moralisch verwerflichste oder grausamste Täter die höhere Strafen erhielten), sondern nur in der rechtlichen Haltung zum Tatzeitpunkt. Letztendlich existiert Schuld, wenn sich das Unrecht durch eine defekte persönliche Disposition erklärt, für die der Handelnde verantwortlich ist. So gäbe es Schuld weder, wenn das Unrecht trotz einer adäquaten rechtlichen Haltung begangen wurde (unvermeidbarer Verbotsirrtum), noch wenn der Täter für seine fehlende rechtliche Haltung nicht verantwortlich gemacht werden kann (bei schwerer psychischer Krankheit). Wenn die Verletzung der Norm ihren Ursprung in einer fehlenden minimalen und unerlässlichen Haltung zur Rechtsordnung hat und man diese aus anderen Gründen dem Straftäter nicht zur Last legen kann (unerwartete und zufällige Notstandsituationen) so existiert Schuld. Aus diesem Grund befreien zum Beispiel Probleme oder Motivationsblockaden im Zeitpunkt der Deliktsbegehung, die darauf zurückzuführen sind, dass die Person sich an einen gewalttätigen Lebenswandel gewöhnt hat oder das Verbrechen zu seinem Beruf gemacht hat, nicht von der Schuld, unabhängig davon, ob der Täter in der konkreten Situation hätte anders handeln können oder nicht40. Wenn der Täter nicht für seine defizitäre rechtliche Haltung verantwortlich gemacht werden kann oder das Unrecht trotz der richtigen Haltung des Täters zur Rechtsordnung begangen wurde, gibt es – nach der entworfenen kommunikativen Schuldtheorie – keine fehlerhafte Kommunikation, die es zu beantworten gilt (selbst wenn eine faktische schmerzliche Verletzung existiert). Die Notwendigkeit der Normstabilisierung besteht nicht und daher würde die Strafe ihre generalpräventive Funktion nicht erfüllen. Das heißt, dass der Bürger eine ungerechte Behandlung erleiden würde und die Strafe verfassungsrechtlich unzulässig wäre. In einem demokratischen Rechtsstaat führt die Anerkennung der Würde, der Autonomie und der freien Entfaltung der Persönlichkeit dazu, dass das Fehlen von alternativen Erklärungen des Unrechts keine andere Erklärung als die Verantwortung des Begehenden zulässt. Es handelt sich dabei nicht nur um eine reine Fiktion oder eine normative Annahme, sondern ist die Konsequenz seiner Anerkennung als Bürger. Sind streng normativen Kriterien, die es uns erlauben das Niveau der durchsetzbaren rechtlichen Haltung festzulegen (es handelt sich dabei ohne Zweifel um einen wandelbaren Maßstab) wie in den Fälle, in denen der Täter nicht für die defizitäre Haltung zur Rechtsordnung, die sich in seinem Handeln manifestiert, verantwortlich ist. Ich schließe mit einem konkreten Beispiel ab, von dem ich glaube, dass es erlaubt, die hier präsentierten Ideen zu illustrieren. Die neuen neurologischen Techniken erlauben es uns, bestimmte psychische Erkrankungen besser zu verstehen, die nicht intellektuelle Kapazität sondern emotionale Aspekte beeinträchtigen. Sicher wird uns dies erlauben, andere alternative Erklärungen für die persönliche Verantwortung in bestimmten Fällen (z. B. in gewissen Fällen der Psychopathie) zu finden, was sich durch die Gerichte auf die Ebene der Schuldfähigkeit (Unzurechnungsfähigkeit) 40
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übertragen wird. Dies zeigt uns, dass die Verurteilung auf der Unwissenheit oder der fehlenden Feststellung von alternativen Erklärungen zur Schuld beruht; d. h. das wofür ein Individuum in einem demokratischen Rechtsstaat allein verantwortlich ist: seine Bereitschaft, das Gesetz zu befolgen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Gesellschaft andere Straftäter ungerecht behandelt hätte, die sie zuvor für schuldig befunden hat, wegen der damals fehlenden Kenntnis um eine Alternative zu ihrer Verantwortlichkeit. Das Rechtssystem als menschliches Werk kann dem Bürger nur garantieren, dass seine Schuld in Übereinstimmung mit dem besten verfügbaren Wissen beurteilt wird. Mehr kann nicht getan werden, aber es sollte unser „schlechtes Gewissen“ erregen, anzunehmen oder sich dessen bewusst zu sein, dass unsere fehlende Kenntnis dazu führen kann – und mit Sicherheit bereits dazu geführt hat –, dass wir jemand schuldig gesprochen haben, der zukünftig nur als jemand behandelt werden wird, der das Unglück gehabt hat, an einer Krankheit zu leiden, die ihn dazu gebracht hat, eine Straftat zu begehen. Dies ist keine Schlussfolgerung, zu der ich alleine gelangt wäre: dies ist eine der vielen Ideen, die dem Glück entstammen, mit Prof. Frisch viele wertvolle Stunden des Gesprächs genossen zu haben.
Psychopathie und Strafrecht: einige Prolegomena Von Manuel Cancio Meliá Wolfgang Frisch hat in seiner bisherigen strafrechtswissenschaftlichen Tätigkeit wahrhaft fast kein Minenfeld der Grundlagen der Strafrechtswissenschaft ausgelassen. Es ist also einfach, für einen zu seinen Ehren herausgegebenen Band einen passenden Gegenstand zu finden: Bei beinahe allen großen Themen hat Frisch bereits, wie ein dogmatischer Winkelried, das Terrain für weitere Entwicklungen geebnet, indem er in seiner eigentümlichen Weise – breit angelegt und detailverliebt einerseits, andererseits (deshalb Winkelried) direkt, mit offenem Visier auf die Probleme hinzusteuernd und sehr frühzeitig – das Problem monographisch behandelt und so den später Dazukommenden die Dinge wesentlich erleichtert hat. Viele Strafrechtler haben so grundlegende Arbeiten Frischs – man denke nur an den objektiven Tatbestand und an den Vorsatzbegriff – als Ansatzpunkt ihrer Untersuchungen wählen können, so dass man ihn den Vater mehrerer Großdiskussionen nennen kann. Zu diesem Publikum Frischs gehören natürlich viele Strafrechtler in vielen Ländern. Wenn man aber zuzüglich zum gedruckten Frisch auch den Diskutanden (und Pädogogen!) Frisch öfter als Denkhilfe und Ideenlieferanten zu genießen Gelegenheit hatte, weiß man, dass die Literaturliste des verehrten Jubilars nur einen Bruchteil des bislang eingehend Bearbeiteten darstellt. An Frisch kann man also fast immer anschließen, und auch hier soll ein Muster wiederholt warden, das die Arbeit des Autors dieses Beitrages wesentlich – und aus hiesiger Perspektive – zum Guten geprägt hat: Frisch zeigt den Weg. Vielleicht heißt von Frisch lernen nicht siegen lernen, jedenfalls aber bedeutet es denken lernen.
I. Ausgangspunkt: neurowissenschaftliche Kenntnisse und Strafrecht 1. Wie bekannt haben in den letzten Jahren die Fortschritte in den Neurowissenschaften – bzw. einige von einigen Neurowissenschaftlern aus jenen gezogene Schlüsse – eine intensive moralphilosophische und strafrechtliche Diskussion ausgelöst. Unser Jubilar identifiziert den Anspruch dieser Gehirnforscher, „… durch neue empirische Erkenntnisse Licht in das bisherige Dunkel [des Strafrechts] zu brin-
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gen“.1 Hassemer2 hat die Lage jüngst mit dem Bild umschrieben, dass von den Neurowissenschaften Sirenenklänge erschallen, die den Gesellschaftswissenschaftlern allgemein und insbesondere den Strafrechtlern zurufen, es sei die Stunde gekommen, alles zu überdenken. „Alles“ bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das, was wir heute als Eckstein eines jeden legitimen Strafrechtsystems behaupten: der Schuldbegriff, genauer, die Grundlagen dieses Begriffes. Angesichts des grundsätzlichen Charakters des Programms stellt sich beim Strafrechtler ein gewisses déjà-vu-Gefühl ein, wenn er an den Versuch der Scuola Positiva vor hundert Jahren denkt, die schwarzen Roben des Strafrechts durch die weißen Kittel der Wissenschaft zu ersetzen. In der Tat: Einige der Protagonisten der Gehirnforschung, und auch einige Strafrechtler, sind davon überzeugt, dass die Erkenntnisse, die die letzten Jahre über die Funktionen des Gehirns und insbesondere über die neuronale Substanz von Entscheidungsprozessen gebracht haben, aufzeigen, dass unsere Grundannahmen zur strafrechtlichen Haftung verfehlt seien.3 Die Sirenenklänge wären demnach nur ein Auftakt zu einem historischen Paradigmenwechsel, der die gesellschaftliche Sicht auf den Begriff der Verantwortung ändern und demzufolge auch die gegenwärtige Gestalt des Gesamtsystems der Reaktion auf abweichendes Verhalten für immer umbilden und das Strafrecht, so wie es wir kennen, abschaffen werde.4 Vereinfacht zusammengefasst: Der strafrechtliche Schuldbegriff gründet nach herrschender Lehre auf dem Gedanken, dass dem Täter, der für seine Tat verantwortlich gemacht, für schuldig gehalten wird, sein Verhalten vorzuwerfen ist, weil er anders handeln konnte. So handelt zum Beispiel nach der Formulierung von Artikel 20 des spanischen Código penal – die eine gemeinsame Auffassung in vielen Rechtsordnungen des sog. kontinentaleuropäischen Rechtskreises wiedergibt – der Täter dann ohne Schuld, wenn er „die Rechtswidrigkeit der Tat nicht einsehen oder nicht nach dieser Einsicht“ handeln konnte. Da er – in der berühmten Formulierung des Bundesgerichtshofes5 – sich für das Recht und gegen das Unrecht entscheiden konnte, kann der Schuldvorwurf legitimerweise erhoben werden. Es handelt sich also um einen gemischten Begriff: (normativer) Vorwurf gründet auf (faktischer) individueller Fähigkeit. Wenn nun die neuesten gehirnwissenschaftlichen Untersuchungen in der Tat aufzeigten, dass alle menschlichen Entscheidungsprozesse in Wirklichkeit nicht auf der von uns als „ich“ erlebten, bewussten Ebene, sondern davor, unbewusst, vollzogen 1
Frisch, „Zur Zukunft des Schuldstrafrechts. Schuldstrafrecht und Neurowissenschaften“ (Manuskript); spanische Übersetzung im Druck für Feijoo Sánchez (Hrsg.), Derecho penal y neurociencias (Verlag Civitas), S. 4. 2 InDret (www.indret.com) 2/2011, S. 1. 3 s. die Darstellung bei Frisch (Fn. 1), S. 3 ff. 4 s. nur Merkel/Roth, „Bestrafung oder Therapie? Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Sanktion unter Berücksichtigung der Hirnforschung“, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich (Hrsg.), Hirnforschung – Chancen und Risiken für das Recht. Recht, Ethik, Naturwissenschaften, 2008, S. 21 ff., 27 ff., 32 ff., 43 ff. 5 BGHSt 2, 194 ff., 200 f.
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werden, wir also nicht das tun, was wir wollen, sondern dasjenige wollen, was wir tun (Prinz6), wäre nach Ansicht einiger Stimmen in der Diskussion die Grundlage unseres Schuldverständnisses – Entscheidungsfreiheit, Vorwurf, Schuld – als Aberglauben entlarvt, und wir müssten alle umdenken: Weg von Schuld und Strafe und hin zu Gefährlichkeit und Behandlung. Wie die meisten (vor allem, aber nicht nur strafrechtswissenschaftliche) Wortmeldungen zur Frage (freilich mit vielen unterschiedlichen Begründungen) unterstreichen, wird diese big issue oft weit überzogen dargestellt.7 Kein fundamentaler Umschwung im Verständnis von Verhalten und Verantwortung steht jetzt aus, in der Formulierung Strengs8, kein worst-case-scenario ist am strafrechtlichen Horizont auszumachen: Fast alle Autoren sind sich einig, dass die neuen gehirnwissenschaftlichen Erkenntnisse die Grundlagen des Strafrechts unberührt lassen, und insbesondere die Fundamente des Schuldbegriffes nicht zu unterminieren vermögen.9 Dies beruht aus hiesiger Perspektive auf der Tatsache, dass zwar der herkömmliche Schuldbegriff des Anders-handeln-könnens in Erklärungsnot kommen kann, wenn bewiesen werden sollte10, dass es gar keine freie Entscheidung gibt. Die Frage ist aber, ob dieser Begriff in Wirklichkeit unsere Zurechnungspraxis zutreffend beschreibt.11 Folgt man z. B. wie hier dem von Jakobs entwickelten funktionalen Schuldbegriff, wird also der Zurechnungsprozess aus der Perspektive seiner gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet, finden die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, die unser „alles“ in Frage stellen, auf einer anderen Ebene statt: Der Kontext gesellschaftlicher Verantwortungszuschreibung wird gar nicht erreicht, wie Jakobs schon vor einigen Jahren festgestellt hat.12 Ein solcher Schuldbegriff ist gegen die
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s. z. B. http://www.zeit.de/zeit-wissen/2011/06/Entscheidungsfreiheit. s. die kritische Würdigung Frischs (Fn. 1), S. 3 ff., nach der insbesondere in Frage zu stellen ist, ob die Annahme, Schuldstrafrecht sei eine Anmaßung gegenüber Schwachen, die stets mit stärkeren Einschnitten der Rechte der Betroffenen als eine rein spezialpräventiv orientierte Behandlungsstrategie einhergehe, zu verstehen sei. (15 ff.). 8 „Schuldbegriff und Hirnforschung“, FS Jakobs, 2007, S. 675 ff., 691. 9 Vgl. Frisch (Fn. 1), S. 7 f., 9 ff., 22 ff. m.w.N., 29 ff. 10 Wobei fraglich ist, ob die vorliegenden Experimente, die auf sehr einfache und moralisch irrelevante Handlungen bezogen sind, auf komplexere, normative Entscheidungen überhaupt anwendbar sind; vgl. nur Frisch (Fn. 1), S. 5 ff., 8 f. 11 Insbesondere ist fraglich, ob die Weltenveränderer aus den Neurowissenschaften den differenzierenden heutigen Schuldbegriff richtig deuten; vgl. Frisch (Fn. 1), S. 9 ff., 13 ff., 15 ff. 12 s. „Strafrechtliche Schuld ohne Willensfreiheit?“, in: Henrich (Hrsg.), Aspekte der Freiheit, 1982, S. 69 ff.; Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 17/23 ff.; Das Schuldprinzip, 1993, passim; ZStW 117 (2005), S. 247 ff.; „Strafrechtliche Schuld als gesellschaftliche Konstruktion. Ein Beitrag zum Verhältnis von Hirnforschung und Strafrechtswissenschaft“, in: St. Schleim u. a. (Hrsg.), Von der Neuroethik zum Neurorecht?, 2009, S. 243 ff.; „Strafrechtliche Schuld und ,Willensfreiheit‘“, im Druck für Feijoo (Fn. 1). 7
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Fundamentalkritik aus den Neurowissenschaften immun.13 Aber auch eine diskurstheoretische Fundierung von Schuld – wie sie der verehrte Jubilar vorzieht – weiß, dass Schuld eine zugeschriebene Fähigkeit zur richtigen Entscheidung seitens der Gleichen (der potentiell Schuldigen) zur notwendigen Voraussetzung hat.14 Aus dieser Perspektive kann man denken, dass hier der Berg gekreißt hat, der wirkliche Hauptgefahrenherd für ein rationales Strafrecht – eine irrationale Spirale der faktischen Prävention15 – aber nicht identifiziert wird. 2. Trotz dieser Position zu der Grundfrage Freiheit, Gehirnfunktion und Schuld ist es aber offensichtlich, dass unsere Gesellschaft nicht im Gegensatz zur Wissenschaft leben kann. Auch wenn kein Paradigmenwechsel festzustellen ist, gibt es gute Gründe, anzunehmen, dass die Erkenntnisse der Neurowissenschaften für einige Sachverhaltsgruppen die Begründung für einen Wechsel aus der Welt des Vorwurfs in diejenige der Geisteskrankheit liefern. Meines Erachtens könnte – wenn und soweit die Fortschritte in den Diagnosemethoden bis hin zu sicherer Feststellung gelangen – schwere Psychopathie ein solcher Fall sein. Im Folgenden soll nun eine laienhafte, kurze Zusammenfassung des heutigen Standards bei der Beschreibung der Psychopathie versucht und darüber spekuliert werden, welche Auswirkungen die neuen bildgebenden Verfahren der Gehirnforschung zeitigen könnten (unten II.). Auf dieser Grundlage kann dann die hier zu vertretende These formuliert werden: Zumindest in einigen Fällen wird schwere Psychopathie die Zurechenbarkeit in näherer Zukunft ausschließen (unten III.).
II. Psychopathie 1. Wie bekannt gehört die Psychopathie16 nicht zum harten Kern der Geisteskrankheiten oder -anomalien, die von der medizinischen Wissenschaft eingehend erforscht und vollständig beschrieben worden sind; dies ist auch daran abzulesen, dass das Krankheitsbild als solches noch nicht in den medizinischen Kanon des DSM-IV aufgenommen worden ist. Was heute als Psychopathie verstanden wird, war stets das Bild des Bösen: Menschen, die ohne Mitleid, ja ohne jede erkennbare Gefühlsregung, und aus nichtigen Gründen, schwerste Straftaten begehen. Erst seit ungefähr drei Jahrzehnten wird dieses Persönlichkeitsbildetwas genauer erfasst: Mit der vom Psychologen Hare geschaffenen sogenannten psychopathy checklist – revised (PCL13
Dieses Adjektiv verwendet Roth, „Delincuentes violentos: ¿seres malvados o enfermos mentales?“ (Gewaltstraftäter – böse oder psychisch kranke Menschen?), im Druck für: Demetrio Crespo (Hrsg.), Neurociencias y Derecho penal (Verlag BdF). 14 Frisch (Fn. 1), S. 29 ff., 31 f. 15 Hierzu nur Frisch, GA 2009, S. 385 ff., 388 ff.; ders. (Fn. 1), S. 18, 33. 16 Vgl. zum Folgenden nur die Darstellung Roths (Fn. 13), insbesondere auch differenzierend zwischen Psychopathie und anderen Persönlichkeitsstörungen; zum Einfluss der neuesten neurowissenschaftlichen Forschungen, auch unter Nutzung von bildgebenden Verfahren s. nur Anderson/Kiehl, Trends in Cognitive Sciences 16 (2012), S. 52 ff.
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R) ist es möglich, ein exakteres Bild von der Psychopathie zu umreißen. Diese neue Definition und Diagnostik ist aber im Strafverfahren bislang irrelevant geblieben – zu Recht, ist festzustellen, denn die Unschärfe des ganzen Verfahrens (es geht um 20 Indizien, die das Verhalten des Betreffenden und dadurch seine Persönlichkeitsstruktur beschreiben, durch einen erfahrenen Therapeuten erfragt werden müssen und zusammengerechnet zu einer graduellen Skala führen) rückt die Beschreibung und Diagnose aus der Perspektive eines Juristen eher in den Bereich der Literatur als in denjenigen gerichtlich verwendbarer Begriffe17: Es handelt sich um eine diffizile Außensicht – über das Verhalten wird auf das Vorliegen von Psychopathie geschlossen. Psychopathie besteht in ihrem Erscheinungsbild vor allem in einem vollständigen Fehlen von Empathie, die den Psychopathen zu einer besonderen emotionellen Disposition führt, die öfter als „moralische Farbenblindheit” beschrieben wird: keinerlei Hemmungen hindern oder erschweren ein gesellschaftlich abweichendes Verhalten. Es kann hier natürlich nicht um eine Darstellung des Meinungsstandes zur Psychopathie gehen. Zum Konsens zur Definition scheint jedenfalls erstens zu gehören, dass es sich hierbei um ein graduelles Phänomen handelt. Zweitens gibt es nach weit überwiegender Ansicht keine Behandlungsmöglichkeiten; es wird sogar davon ausgegangen, dass ein Behandlungsversuch kontraproduktiv sein kann, weil der Behandelte dadurch nur neue Verdeckungsstrategien lerne. Drittens sind die Gründe für diese anormale Disposition der Persönlichkeit unklar; die überwiegende Meinung befürwortet einen multifaktoriellen Erklärungsansatz, bei dem sowohl angeborene Elemente als auch Geschehnisse in der Lebensgeschichte des Betreffenden, insbesondere in früher Kindheit, zum tragen kommen, so dass einige Autoren davon ausgehen, es könne zwischen primärer und sekundärer Psychopathie unterschieden werden.18 Des Weiteren scheint es, dass die Psychopathie eine anthropologische Konstante ist: In allen geschichtlichen Perioden, Völkergruppen und Kulturen ist ein gleicher Prozentsatz (zwischen 0,5 bis 1,5 %) der Bevölkerung psychopathisch, wobei die herrschende Ansicht davon ausgeht – aus Gründen, die „immer noch ein Geheimnis darstellen“19 –, dass es sich um ein beinahe ausschließlich männliches Phänomen handelt.20 Psychopathen weisen insgesamt eine Tendenz zur Delinquenz (und insbesondere auch zu Gewalttaten) auf, die eindeutig über dem Durchschnitt liegt – Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 15 und 25 % der Strafgefangenen als Psychopathen einzuordnen sind. 2. Nun treten aber – im allgemeinen Schwall neuer Hirnforschung – auch für die Psychopathie neue Diagnose- und Erkenntnismethoden auf den Plan, die nicht mehr das Individuum befragen oder sein Verhalten bewerten müssen, sondern sein Gehirn 17
s. nur die Darstellung von Müller, NStZ 2011, S. 665 ff. Vgl. nur Anderson/Kiehl, Trends in Cognitive Sciences 16 (2012), S. 53. 19 Kiehl/Buckholtz, Scientific American, sept./oct. 2010, S. 27. 20 Vgl. diesbezüglich die Untersuchung zu der Entwicklung von männlichen und weiblichen Heranwachsenden durch Dadds, Journal of Child Psychology and Psychiatry 50 (2009), S. 599 ff. 18
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unmittelbar beobachten, wie insbesondere das sogenannte fMRI (functional magnetic resonance imaging)-Gehirnbild, das auch in anderen Bereichen der Neurowissenschaften als eine Art Königsweg gehandelt wird.21 Mit Hilfe dieser Technik wird die hemodynamische Aktivität des Gehirns gemessen. Es handelt sich also nicht um eine „Fotografie“ der Gehirnfunktion selbst, sondern einer ihrer Folgen, das heißt, einer bestimmten, verstärkten Blutzufuhr, die einem bestimmten Sauerstoffverbrauch entspricht und so auf neuronelle Aktivität hinweist. Um diese Messung durchzuführen, wird das Gehirn in ca. 130.000 Würfel von ungefähr 3 mm Seitenlänge aufgeteilt – Voxels genannt – und für jeden dieser Würfel zweimal das BOLD-Signal (blood oxygen level determination) gemessen: Einmal im Ruhezustand, ein zweites Mal bei der Durchführung der Testaufgabe durch die untersuchte Person (wie z. B. bei der Betrachtung eines Bildes). Der Rechner bestimmt für jeden Voxel getrennt, ob ein relevanter Unterschied bei Blut/Sauerstoffzufuhr – und dementsprechend bei der neuronalen Aktivität – zwischen Ruhezustand und Aufgabenbewältigung festgestellt werden kann. Aus diesen Daten wird ein tridimensionales Gehirnbild zusammengestellt, das durch graphische Hervorhebung der festgestellten Unterschiede Schlüsse auf die funktionale Morphologie des Gehirns zulässt. So öffnet sich zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit eine Tür, durch die das Denken quasi direkt beobachtet werden kann. Dies ist auch für die Psychopathie bedeutsam: Statt das Phänomen an den Auswirkungen zu betrachten, von außen, nach Maßgabe des Verhaltens des betreffenden Menschen, oder von anderen Indizien zu seiner Persönlichkeitsstruktur her, können durch die Beobachtung der Gehirnfunktion anatomisch-funktionale Unterschiede zwischen Psychopathen und Nichtpsychopathen eruiert werden. Die mit dieser Methode angestellten Studien – die gegenwärtig in einem nicht anders als rasend zu bezeichnenden Tempo durchgeführt werden – haben im Wesentlichen zu zwei Hypothesen geführt, worauf Psychopathie zurückzuführen ist: Einerseits vertreten einige Autoren die Ansicht, dass es sich um morphologische Unterschiede im neuronalen Verarbeitungssystem von Emotionen handelt (Admygdala und paralymbisches System22), andererseits, es gehe um eine besondere Ausgestaltung der den Erregungs-/Aufmerksamkeitszyklus steuernden Gehirnstrukturen23. Dem Laien fallen jedenfalls sofort die Parallelen zwischen den psychopathischen Anomalien und den Untersuchungen zu Personen, die einen Schaden im ventromedialen präfrontalen Kortex erlitten haben24, auf, wie beim wohl berühmtesten Fall der Neurologie, dem im 19. Jahrhundert in den USA geschehenen Unfall des Phineas Gage. 21 Vgl. zu dem Ziel, „Gedankenlesen“ möglich zu machen nur Greely, Cortex 47 (2011), S. 1254 f.; Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, Zur Zulässigkeit der Glaubwürdigkeitsbegutachtung im Strafverfahren mittels hirnbildgebender Verfahren, 2010. 22 Anderson/Kiehl, Trends in Cognitive Sciences 16 (2012), S. 57. 23 Journal of Abnormal Psychology 118 (2009), S. 229 ff. 24 s. z. B. die vergleichende Untersuchung von Koenigs/Kruepke, Neuropsychologia 48 (2010), S. 2198 ff.
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Diese Technik darf aber nicht überbewertet werden; sie ist noch weit davon entfernt – wie auch die entschiedensten Vertreter dieser Forschungsrichtung eingestehen25 – sichere und reproduzierbare Ergebnisse zu liefern und deshalb Rückschlüsse auf die funktionale Gehirnanatomie zuzulassen. Zunächst ist festzustellen, dass obwohl dem Laien scheinen mag, dass 130.000 Voxels von 3 mm Seitenlänge eine sehr hohe Auflösung bringen, es sich immer noch um ein sehr weit geknüpftes Netz handelt: In jedem dieser Voxels sind zwischen 300.000 und drei Millionen Neuronen, 100 km neuronaler Verbindungen und 27.000 Millionen von Synapsen enthalten. Zweitens ist bei der Versuchsaufstellung entscheidend, wie die Relevanzschwelle der hemodynamischen Aktivität definiert wird. In diesem Zusammenhang ist ein Artikel berühmt geworden, in dem eine Gruppe von Neurowissenschaftlern unter Leitung von Benett die Ergebnisse eines mittels fMRI durchgeführten, den üblichen Parametern entsprechenden Experiments mitteilen26: In diesem Versuch wurde dem Probanden eine Reihe von Fotografien von Menschen gezeigt, die diverse Emotionszustände in ihrem Gesichtsausdruck zeigten, um die verschiedenen neuronalen Aktivitätsniveaus aufzuzeigen. Der Proband wies in der Tat – wie bei vielen anderen ähnlichen Experimenten – signifikante Unterschiede in seiner Gehirnaktivität auf, je nachdem, welches Bild er betrachtete. Dies ist ziemlich erstaunlich, da es sich beim Probanden um einen toten nordatlantischen Lachs aus dem Fischgeschäft handelte.27 So ist also festzustellen, dass die Versuchsanordnung bei der Bestimmung der Relevanzschwelle noch einer allgemeingültigen Norm bedarf. Abgesehen von solchen Späßen, die die gegenwärtige Unsicherheit der Methode klar aufzeigen, gibt es aber Neurowissenschaftler, die spezifisch davon überzeugt sind, dass diese neuen Instrumente eine präzise Bestimmung der neurophysiologischen Grundlagen der Psychopathie ermöglichen werden. Soweit ersichtlich wird derzeit der ambitionierteste Versuch in diese Richtung von Kiehl im Gliedstaat der USA New Mexico durchgeführt28 : Mit Hilfe eines mobilen fMRI-Gerätes in einem Lastwagen wird nun zum ersten Male eine beträchtliche Gruppe von durch traditionelle Methoden diagnostizierten Psychopathen, die in Gefängnissen des Bundesstaates eine Freiheitsstrafe verbüßen, auch gehirnanatomisch untersucht, mit dem Ziel, eine aussagekräftige Datenbank (von ca. tausend Individuen) zu erstellen. Nur mit einer viel breiteren Kenntnis der gehirnanatomischen Daten kann zu einer sicheren Diagnostik fortgeschritten werden. Für den weiteren Gang der hier anzustellenden Überlegungen soll nun davon ausgegangen werden, dass eine neue, gehirnorientierte, sichere und allgemein anerkannte Diagnosemethode für die Psychopathie bereits existiert. Zusammengefasst lässt sich Psychopathie als grundsätzliche Empathieunfähigkeit definieren, die wiederum 25
Anderson/Kiehl, Trends in Cognitive Sciences 16 (2012), S. 58. Journal for Serendipitous and Unexpected Results, 2010. 1(1): S. 1 – 5. 27 Das Magazin Der Spiegel wählte für seinen Artikel hierzu den Titel „Großhirnvodoo“ (Nr. 18/2011, 2. 5. 2011, S. 120 ff.). 28 s. die Information in http://www.unm.edu/~psych/faculty/lg_kiehl.html. 26
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zu einer fundamentalen Schwäche bei moralischer Reflexion – genauer, bei der emotionalen Verarbeitung von Überlegungen zu Gut und Böse – führt. Es geht nicht darum, dass die Betroffenen kognitiv nicht in der Lage wären, zu erkennen, was verboten ist, oder dass sie besondere Schwierigkeiten bei der Impulskontrolle aufwiesen. Das Problem ist, dass ihnen die Frage nach der moralischen Richtigkeit eines Verhaltens aus Prinzip und radikal gleichgültig ist, da sie derjenigen „normalen“ neuronalen Strukturen entbehren, die bei der überwältigenden Mehrheit einer jeder menschlichen Bevölkerung die emotionale Verarbeitung solcher Fragen übernehmen.
III. Psychopathie und Zurechenbarkeit: einige Hypothesen Mit dem bislang dargelegten wird schon klar, welche grundsätzlich Frage sich eröffnet: mad or bad? Einige Autoren haben schon die Ansicht geäußert, auf diese seit jeher mit bad beantwortete Frage könne und müsse nun mit mad geantwortet werden. So hat Litton argumentiert – unter Bezugnahme auf die englischsprachige Literatur auf den Gebieten der Psychologie und Moralphilosophie –, die Charakteristika der Psychopathie müssten zu dem Schluss führen, dass davon Betroffene als „irrationale Agenten“ zu betrachten seien, da sie keine Werte zu verinnerlichen in der Lage seien, so dass es nicht möglich sei, ihnen gegenüber einen moralischen Vorwurf zu erheben.29 Zeitgleich veröffentlichte der Jurist und Psychologe Morse – in Auseinandersetzung mit derselben Literatur – eine Abhandlung, in der er die Überzeugung vertritt, Psychopathen seien aufgrund ihrer fehlenden Empathie nicht als Personen anzusehen, denen gegenüber die Formulierung eines Vorwurfes möglich sei, so dass sie weder moralisch noch juristisch für verantwortlich gehalten werden könnten.30 Auch in den hier im Folgenden anzustellenden Überlegungen wird dieses Ergebnis – freilich mit einer spezifisch strafrechtlichen, auf unsere (kontinentale) Diskussion bezogenen Argumentation – erreicht werden. 1. Schon lange vor den Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte und Jahre, so scheint es, wurde innerhalb der verschiedenen Formen der Soziopathie die Gruppe der Psychopathen individualisiert: als das Böse schlechthin. Menschen, die grundlegende gesellschaftliche (und strafrechtliche) Verbote ohne Gefühle, ohne Mitleid und ohne einen Affekt, der ihr Verhalten verständlich machen könnte, brechen, die mit einer widerwärtigen Kälte ihr Eigeninteresse verfolgen. Auch aus der strafrechtlichen Perspektive führt Psychopathie bislang keineswegs zu einer Strafmilderung oder gar zu einem Strafausschluss: Keine kognitiven Anomalien sind auszumachen (diese Täter sehen einwandfrei das Unrecht ihrer Tat ein) und die Betroffenen weisen auch keine spezifischen Schwierigkeiten bei der Impulskontrolle auf (sie können nach ihrer Einsicht in das Unrecht handeln, wenn sie wollen; viele Psychopathen 29 30
Rutgers Law Journal 39 (2008), S. 349 ff., 375 ff., 383 ff. Neuroethics 2008, S. 205 ff., 211 f.
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sind keineswegs impulsiv veranlagt). Dies entspricht auch der Handhabung der Praxis – obwohl zu berücksichtigen ist, dass die zu verschiedenen Zeitpunkten verwandten Psychopathiebegriffe deutlich untereinander abwichen –; so schließt zum Beispiel das US-amerikanische Model Penal Code (1962) ausdrücklich31 eine Berücksichtigung von Psychopathie aus, und auch die spanische Rechtsprechung ist über eine episodisch gebliebene Strafmilderung in wenigen Fällen nicht hinausgekommen. Doch ist einmal die neurophysiologische Grundlage der Psychopathie präzise identifiziert, wird der Ursprung des abweichenden Verhaltens erklärbar, so stellt sich die alte Frage – tout comprendre, c’est tout pardonner? – auf eine neue Weise. 2. Bei erstem Anschein könnte man daran denken, die Psychopathie als einen jener Fälle anzusehen, bei dem Schuld als Ausdruck des Charakters des Täters zu verstehen sei, als „Ausfluss seiner Persönlichkeit“, in der klassischen Formulierung zu Dohnas32. Es ist die Wesensart des Psychopathen, die ihn dazu führt, die anderen radikal nicht zu berücksichtigen, deren Interessen nicht wahrzunehmen und wegen Nichtigkeiten sich abweichend zu verhalten oder Verbrechen zu begehen. Bei allen Kautelen scheint es aber angesichts der neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, dass die andere Alternative – der Schuldausschluss – zumindest zu überdenken ist. Nach dem funktionalen Schuldbegriff lehrt die Betrachtung der Grundlagen der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung, dass die Schuld eine Größe darstellt, die von außen zugeschrieben wird, sich aus den Bedürfnissen der positiven Generalprävention ergibt: Schuld bedeutet, dass der Normbruch – mangels einer alternativen Erklärung – dem Täter zugeschrieben wird. Folge davon ist die Auferlegung einer Strafe als Instrument der kontrafaktischen Normstabilisierung. Zusammengefasst: In einer entzauberten, zur Materie degradierten Welt ist es notwendig, die Erklärung sozialer Konflikte entweder bei dem Handelnden oder bei anderen Faktoren zu lozieren, um die gesellschaftliche Norm trotz ihres Bruches zu stabilisieren. Dabei ist es entscheidend, ob eine andere Erklärungsmöglichkeit als die Zurechnung zum Täter verfügbar und praktikabel ist. Geht man von diesem, von Jakobs33 entwickelten funktionalen Schuldbegriff aus, wird Schuld also durch die durch sie erfüllte Funktion definiert. Diese Funktion besteht darin, eine defekte Motivation des Täters als Grund des Konflikts zu verarbeiten. Der Normbruch wird durch fehlende Beachtung der Rechtsordnung durch den Täter erklärt. Wann geschieht dies, ist Schuld gegeben? Wann kann der Täter distanziert werden? Für welche Faktoren ist der Täter zuständig, für welche nicht? Die Antworten auf diese Fragestellung hängen von der Verfassung der Gesellschaft ab. Dies wird vielleicht deutlicher, wenn kurz ein Vergleich unseres Schuldstrafrechts mit den Re31
American Law Institute, Model Penal Code, Sec. 4.01(2). ZStW 66 (1954), S. 505 ff., 508. 33 Zum neuesten Stand: Die staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004; Cancio Meliá/ Feijoo Sánchez: „¿Prevenir riesgos o confirmar normas? La teoría funcional de la pena de Günther Jakobs“, in: Jakobs, La pena estatal: significado y finalidad, 2006, S. 15 ff. 32
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aktionsmechanismen anderer Gesellschaftssysteme auf soziale Störungen angestellt wird. Ethnologie und Geschichte informieren darüber, dass in verschiedenen menschlichen Gruppen, die in einer mythischen Welt leben oder lebten, die Zuschreibungsmechanismen für individuelle Haftung keines wirklichen Zurechnungsvorgangs bedürfen, sondern in unseren Augen Zufallsmechanismen genügen lassen. So wurde noch Ende des 19. Jahrhunderts bei einigen australischen Aboriginesgruppen – nach dem Bericht Fauconnets34 – die gewaltsame Tötung eines Gruppenmitglieds folgendermaßen verarbeitet: Die Krieger beobachten das frische Grab des Toten, und in der Richtung, in die die erste Ameise es überquert, stürmen sie los; der Erste, den sie treffen, haftet für den Tod – entweder wird er erschlagen oder nimmt die Persönlichkeit des Toten an. Auch unter den Guayaquí in Paraguay – wie Clastres35 noch vor einigen Jahrzehnten beobachtete – wurden als störend wahrgenommene Geschehnisse – z. B., der Tod durch einen Jaguar oder einen Blitz – durch die Tötung eines anderen, aufgrund von äußerst komplexen Verwandtschaftsverhältnissen identifizierten Gruppenmitglieds durch einen ebenfalls rituell bestimmten Krieger bereinigt – alles, um der Welt ihr Gleichgewicht zurückzugeben. Einen Schritt weiter hin zu etwas, was wir heute „Zurechnung“ nennen können, bringt die Erfolgshaftung, wie sie Jakobs meisterhaft in seinem „Schuldprinzip“ beschrieben hat. Hier muss zumindest ein Kausalzusammenhang vorliegen, um den Schuldigen zu bestimmen. Das Schicksal wird durch Verursachung bestimmt: In der Tragödie des Sophokles bedauert Oedipus die Erfüllung des Orakels – Tötung des Vaters, Geschlechtsverkehr mit der Mutter – wie man eine Krankheit bedauern kann, lehnt sich aber keinesfalls dagegen auf. Das Geschehene konstituiert die Handelnden, es gibt ein objektiv – durch die Götter – bestimmtes Schicksal. Unmöglich, sich einzulassen: das Geschehene war mir unvermeidlich. Es waren oder sind Menschen wie wir, die sich so verhielten oder verhalten. Es geht nicht darum, dass wir mehr wissen oder intelligenter sind – es ist die Gesellschaftsstruktur, die sich geändert hat. Nach der „Entzauberung der Welt“ (Weber) ergibt die Wirklichkeit keinen eigenen Sinn mehr und wird zu einer toten, durch unsere Handlungen beherrschbaren Masse. Hieraus – aus einer veränderten Gesellschaftsstruktur, und nicht etwa als Folge eines selbstgesetzlichen „Fortschritts der Vernunft“ – ergibt sich die Notwendigkeit, menschlichen „Willen“ als Ursprung des Konflikts auszumachen.36 Wie stets ist es nicht dasjenige, was die Handlungsfähigkeit am Stärksten beeinträchtigt, was Haftung ausschließt, sondern was (gesell34 „Warum es die Institution ,Verantwortlichkeit‘ gibt“, in: Lüderssen/Sack, Abweichendes Verhalten II, 1975, S. 293 ff., 302 (deutsche Teilübersetzung von: La responsabilité, 1920). 35 Crónica de los indios guayaquís, 1998 (spanische Übersetzung von Chronique des indiens guayaki, 1972). 36 Hierzu, aus einer anderen Perspektive, Cancio Meliá, „¿Crisis del lado subjetivo del hecho?“, in: López Barja de Quiroga/Zugaldía Espinar (Hrsg.), Dogmática y Ley Penal, 2004, S. 57 ff.
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schaftlich) vom Täter distanziert werden kann. Die Zuschreibung von „Willen“ ist für die Funktion einer entzauberten und deshalb von Individuen bevölkerten Welt unerlässlich. Was in den Bereich dieses „Willens“ gehört und was nicht, hängt dementsprechend von normativen, aus der Gesellschaftsstruktur sich ergebenden Gründen ab – heute wie gestern wie morgen. Dies verhält sich auch dort nicht anders, wo innerhalb des Schuldbegriffs nach herkömmlicher Ansicht die stärksten Bande zu bestimmten bio-psychologischen Daten bestehen, bei der Zurechenbarkeit. Wird das Anders-handeln-können als psychische Tatsache verstanden, so entspricht diese Theorie nicht der wirklichen gesellschaftlichen Praxis, denn hier sind zahlreiche normative Filter festzustellen, die die angeblich ausschlaggebenden individuell-faktischen Gegebenheiten bei der Anerkennung von Unzurechenbarkeit überlagern. Beispielshaft: Im Jahre 1963 wurde in Spanien – noch während der national-katholischen Diktatur – die traditionelle, einschneidende und asymmetrische Strafmilderung für bestimmte Fälle von Ehegattentötung (wenn der Ehemann seine Ehefrau beim Ehebruch antraf) aufgehoben. Dies war nicht darauf zurückzuführen, dass die mit dem Verrat beim Mann eingehenden Emotionen in ihrer Intensität variiert hätten, sondern ergibt sich daraus, dass die patriarchale Struktur, die den Frauen lediglich einen Platz zwischen den Besitztümern des Gatten zuwies, damals bereits in Veränderung begriffen war, so dass auch der Wertüberbau, der die gewaltsame Handlung des Betrogenen rechtfertigte – Dutzende von Tangos sind dem Thema gewidmet – abgebaut wurde. Verfolgt man die weitere Entwicklung, so stellt man fest, dass die heutige spanische Rechtsprechung in diesen Fällen nicht mehr einmal die allgemeine Strafmilderung aus Affekt – in Art. 21.3 des Código penal37 – anwendet, und zwar mit der ausdrücklichen Begründung, dass der in solchen Sachverhalten geschlechtsspezifischer Gewalt und Beherrschung beim betrogenen Mann entstehende Zorn einer gesellschaftlich nicht akzeptierten Beziehungsstruktur entspricht und deshalb nicht zu berücksichtigen sei.38 Diese Überlagerung des angeblich Faktisch-biologischen durch Normatives zeigt, dass die Definition der Schuldkategorien aus ihrer Funktion zu bestimmen ist. Mit einem anderen Beispiel: Es gibt keine Hinweise darauf, dass Alkohol bei Litauern anders als bei Bürgern anderer Länder auf ihre kognitiven und volitiven Fähigkeiten wirkt. Im litauischen Strafgesetzbuch wird aber Alkoholgenuss zur Tatzeit grundsätzlich als Strafschärfungsgrund angesehen.39 Was anders ist, lässt sich vermuten, sind die sozialen Regeln für den Konsum von Alkohol zwischen nebelverhangenen 37 Hierzu Cancio Meliá, „Partial Defences Due to Loss of Control and Diminished Responsibility under Spanish Criminal Law“, in: Bohlander/Reed (Hrsg.), Loss of Control and Diminished Responsibility: Domestic, Comparative and International Perspectives, 2011, S. 341 ff. 38 So heißt es in einem solchen Fall z. B. in dem Urteil 242/2010 des Tribunal Supremo (27. 04. 2010) nach Darlegung der Voraussetzungen der Strafmilderung abschließend: „Zudem dürfen diese Stimuli nach Maßgabe der das gesellschaftliche Leben leitenden sozio-kulturellen Normen nicht als verwerflich erscheinen.“ 39 Art. 48.12 lit. StGB.
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baltischen Birkenwäldern und in der Sonne des Mittelmeers, so dass es hier eher möglich ist, das rauschbedingte Fehlen von Handlungskontrolle vom Täter zu distanzieren. Entscheidend ist nicht die Intensität des Reizes, sondern die Zuständigkeit dafür; und diese wiederum wird nach Maßgabe der Bedürfnisse des sozialen Systems bestimmt. 3. Was bringen diese kurzen allgemeinen Überlegungen für unser Problem, die nun erlangte Kenntnis von den neurophysiologischen Grundlagen der Psychopathie und ihre mögliche Auswirkungen auf die strafrechtliche Zurechenbarkeit? Zunächst muss davon ausgegangen werden, dass eine Gesellschaft wie unsere – kurz: kolonisiert vom Weltbild der Naturwissenschaften – einem neuen Verständnis der Gehirnfunktion nicht gleichgültig gegenüberstehen kann, genausowenig, wie eine neue Erkenntnis auf dem Gebiet der allgemeinen Physik unbeachtet bleiben könnte (man male sich nur aus, was für den Tatbestand der Körperverletzung folgen würde, wenn schließlich – entgegen dem derzeitigen Stand der Forschung – feststünde, dass elektromagnetische Kraftfelder, wie sie von Mobiltelefonnetzen erzeugt werden, doch gesundheitsschädlich sein können). Eine strukturelle Kopplung zwischen Wissenschaft und Rechtssystem muss also bestehen.40 Aus dieser Sicht ist das passionierte Plädoyer gegen jede strafmildernde oder gar -aufhebende Berücksichtigung der Psychopathie, das jüngst die US-Amerikaner Erickson und Vitacco vorgelegt haben41, sicher rebus sic stantibus zutreffend: Ihrer Ansicht nach ist Psychopathie eher eine moralische als eine geistige Störung, da sie eben nicht in der Lage sei, die Qualität des Psychopathen als rationalem Agenten in Frage zu stellen; dieser versteht das Verbot und könnte sich danach richten. Mehr noch: Wie diese Autoren ausführen, trifft das sogar seit dem 12. Jahrhundert zu; in der Tat, „contemporary social standards hold psychopaths as the most quintessentially blameworthy agents“42. Worum es aber geht ist nicht, ob das bislang richtig war, sondern ob die neue Erkenntnis zur grundlegenden (neurostrukturellen) Andersartigkeit der Psychopathenhirne die bisherige gesellschaftliche Position zu ändern vermag. Für die Erklärung der Unzurechenbarkeit ist es nicht notwendig – wie diese Autoren am Beispiel der Psychosen darlegen – Mitleid dem Betreffenden gegenüber entwickeln zu können. Es reicht hin, wenn die Überzeugung besteht, dass er kein Gleicher ist – wie unsympathisch das Krankheitsbild und seine Träger auch sein sollten. Lässt sich ein Bewertungswechsel in Sachen Psychopathie begründen und/oder hervorsagen? Wäre es möglich, dass die neuen Erkenntnisse dazu führen, dass abweichendes Verhalten nun dem „es“ – einer bestimmten Gehirnstruktur – und nicht mehr „ihm“, dem Täter, zugerechnet wird? Aus der hier eingenommenen Per40
Feijoo Sánchez, InDret 2/2011, S. 20. „Predators and Punishment“, im Druck für Psychology, Public Policy and Law; veröffentlicht SSRN: http://ssrn.com/abstract=1856293 (abgerufen: 28. 06. 2011). 42 A.a.O. S. 21. 41
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spektive hat Psychopathie eine grundlegend andere Bedeutung als andere Dispositionen, die abweichendes Verhalten wahrscheinlicher machen (und ebenfalls individuell unvermeidbar sind), wie zum Beispiel die deutlich erhöhte Tendenz bestimmter junger Männer zu Gewalttaten, oder entsprechende Neigungen, die sich mit negativen Erfahrungen in frühester Jugend erklären lassen. Zumindest zwei Gründe sprechen für einen Schuldausschluss bei Psychopathie. Erstens ist hier ein viel grundlegenderes Substrat als das der Impulskontrolle betroffen. Wie gesagt sind viele Psychopathen nicht besonders impulsiv. Es geht vielmehr um das für unsere Spezies entscheidende emotionale Verstehen des Daseins der anderen: Das fehlt den von Psychopathie Betroffenen. Bei entsprechender Sozialisierung, gesellschaftlichem „Erfolg“ und fehlenden Gewaltimpulsen, wie immer betont wird, sind auch gesellschaftlich hervorragende, bestens eingegliederte Psychopathen anzutreffen – als Kriegshelden oder Leiter von großen Wirtschaftsunternehmen. Bedeutet das, dass sich Psychopathen auch bestens an Normen halten können und deshalb nicht entlastet werden sollten? Aus hiesiger Perspektive ist die Frage zu verneinen. Es ist zwar richtig, dass Psychopathie auf Verstehen der Norm und Impulskontrolle keinen Einfluss nimmt. Was betroffen ist, ist quasi der emotionale Teil der Normbefolgung. Ob der Stein Psychopath auf der Ebene seines Lebenswegs beim abweichenden oder beim perfekt sozialisierten Verhalten landet, wird jedenfalls nicht von derjenigen neuronalen Struktur bestimmt, die bei Nichtpsychopathen diesen Teil (Gewissensbisse; Reue; Mitleid) der Verarbeitung von Entscheidungen entscheidend prägt. Kurz: Psychopathen fehlt ein entscheidender Motor zur Normbefolgung. Dieser Umstand, einmal erkannt und messbar gemacht, kann nicht mehr eskamotiert werden. Die Fähigkeit zu Empathie und zum sittlichen Empfinden um Gut und Böse, einmal als neuronale Struktur definiert, kann schlicht unzureichend ausgebildet sein, um dem allgemeinen Standard von „Normalität“ auf diesem Gebiet zu genügen. Diese Fähigkeit definiert alle als Gleiche, stellt quasi ein konstitutives Element unserer Spezies dar – oder wäre eine aus lauter Psychopathen bestehende menschliche Gesellschaft über die Steinzeit hinausgekommen? Richtig, wie Erickson und Vitacco ausführen, „the law does not speak about brains but people“43 ; aber um people zu definieren, können wir es uns nicht leisten, auf wissenschaftliche Erkenntnis zu deren brains zu verzichten. Und wenn diese eine vorher unerklärliche Störung – das Böse – nun zu einer Hypofunktion einer bestimmten neuronalen Struktur umdefiniert, die ihrerseits ein spezifisches Unvermögen, von Normen emotional angesprochen zu werden, mit sich bringt, so eröffnet dies mit Sicherheit die Tür zu einer alternativen Verarbeitung zu „Schuld“. Zweitens – und dies stellt eine notwendige Bedingung dar – ist die Unzurechenbarkeitslösung möglich, weil es sich um eine definierte und kleine Gruppe handelt. Es handelt sich um kein ubiquitäres, sondern um ein hochspezifisches und dünn gestreutes Phänomen. Es ist also nicht ersichtlich, warum die von diesen Tätern begangenen Taten nicht durch eine Sicherungsmaßregel verarbeitet werden könnten. Die 43
A.a.O. S. 25.
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von Erickson und Vitacco befürchtete Schwächung der „expressiven Kraft“ der Strafe durch die Anerkennung von Psychopathie als Unzurechenbarkeitsgrund fände nur statt, solange die Betroffenen von den Bürgern noch als Gleiche wahrgenommen werden. Sobald ihre Einschätzung als psychisch Kranke die gesellschaftliche Definition wird, ist kein solcher Erosionseffekt vorherzusehen. Die Schuldinhalte sind nicht in eherne Lettern gegossen, sondern geschichtlich kontingente Größen. Es scheint also anhand der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich, von Psychopathie betroffene Menschen von ihrem Verhalten zu distanzieren, und dieses auf ihre (gehirnanatomisch bedingte) Unfähigkeit, den Normbruch zu fühlen, zurückzuführen. Sie sind nicht wie die anderen, sie sind anderen Menschen nicht gleich. Wenn man denkt – in Worten Ericksons und Vitaccos44 –, dass „psychopaths presumably obey the law for the same reason most other people do: they understand that the law is fundamentally about regulating conduct“, so ist man noch nicht über den berühmten Hund Hegels, den erhobenen Stock und das Polizeirecht hinausgelangt und beim spannenden Teil der Straftheorien noch nicht angekommen. Auch hier zeigt sich, dass der größte Expansionsherd für das Strafrecht nicht durch ein moralisierendes Schuldstrafrecht, sondern – wie vom verehrten Jubilar jüngst gezeigt45 – durch eine Degradierung des Strafrechts zu einem Instrument faktischer Prävention geschaffen wird.46 4. Der Beitrag schließt mit einem Problem, das mit der eben angestellten Überlegung zu verknüpfen ist: Sollte sich die vorhin formulierte Prognose nach Überwindung aller noch ausstehenden Schwierigkeiten – sowohl auf wissenschaftlich-medizinischer als auch auf strafrechtstechnischer Ebene – bewahrheiten und Psychopathie zurechenbarkeitsrelevant werden, stellt sich die Frage des Anwendungsbereichs. Das hier Ausgeführte passt für die Straftaten des Kernstrafrechts – oder der mala in se –, bei denen die spezifische Unfähigkeit der Psychopathen durch den unmittelbaren Bezug zu persönlichen Rechtsgütern besonders zum Tragen kommt. Anders mag es sich aber in weiten Teilen des expandierten, verwaltungshörigen Strafrechts, mala prohibita, verhalten. Bei einem regulatory offense nach US-Strafrecht – das bereits in einem unachtsamen Ausfüllen eines Formulars bestehen kann – oder bei einer fahrlässigen Geldwäsche nach spanischem Strafrecht ist nicht deutlich, inwiefern Empathie bzw. Gewissen zur Normbefolgung beitragen.
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A.a.O. S. 19. Frisch, GA 2009, S. 385 ff., 388 ff.; ders. (Fn. 1), S. 18, 33. 46 Es scheint deshalb wahrscheinlich, dass ein Ausschluss von Psychopathen aus dem Gebiet des Strafrechts (da viele Taten von Psychopathen das verzerrte, Punitivismus hervorbringende Kriminalitätsbild der Bevölkerung mitprägen) einen positiven Beitrag zur kriminalpolitischen Lage darstellen könnte – wenn Gefährlichkeit dort loziert wird, wo sie hingehört (bei den Maßregeln der Sicherung), braucht das Strafrecht keine feindstrafrechtlichen Mischformen wie die Sicherungsverwahrung in Deutschland oder extrem lange Freiheitsstrafen in Spanien. 45
Vorverschulden und Rechtsmissbrauch Von Harro Otto
I. Vorverschulden und Vor-Verantwortlichkeit Mit dem Stichwort Vorverschulden werden zum einen Problemkonstellationen bezeichnet, in denen sich die Frage stellt, ob der Täter, der im Augenblick der Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Erfolges schuldunfähig war, gleichwohl bestraft werden kann, weil er die Schuldunfähigkeit aufgrund seines vorangegangenen Verhaltens selbst bewirkt hat. Der Begriff wird zum anderen allerdings auch ausgedehnt auf entsprechende Problemstellungen auf der Ebene des Tatbestandes und der der Rechtswidrigkeit. Sachlich genauer wäre es daher, von Vor-Verantwortlichkeit1 zu sprechen, jedoch hat sich diese Bezeichnung nicht gegen die schlagwortartige Kennzeichnung der Problemkonstellationen als Fälle des Vorverschuldens durchsetzen können, deshalb findet sie auch hier Verwendung. Trotz der einheitlichen Kennzeichnung der einzelnen Problemstellungen, gehen die Lösungsvorschläge im Hinblick auf die unterschiedlichen Fallgestaltungen weit auseinander. Es wird zwar z. T. auf Parallelen zwischen Fällen der selbstverschuldeten Schuldunfähigkeit, der selbstverschuldeten Handlungsunfähigkeit, des Verbotsirrtums und der vom Täter verursachten Notstandslage hingewiesen, doch wird die Tragfähigkeit dieser Parallelen in gleichem Maße bestritten, so dass von übergreifend gleichgerichteten Problemlösungen keine Rede sein kann. Die im Jahre 1989 von Stratenwerth geäußerte Vermutung, dass „die einzelnen Elemente einer ,Theorie‘ des Vorverschuldens längst vorhanden und nur noch aufeinander abzustimmen, also unter einen Hut zu bringen sind“2, hat sich bisher nicht bestätigt. Zustimmung hat zwar der von ihm unter Anlehnung an Armin Kaufmann formulierte Grundgedanke einer Lehre vom Vorverschulden gefunden, „daß strafrechtlich sanktionierte Pflichten … rückläufig durchaus die Verpflichtung einschließen, einen Zustand zu bewahren oder herzustellen, in dem man fähig ist, sie zu erfüllen“3. Die von ihm vorgeschlagene Regel für die Zurechnung strafrechtlich relevanten Verhaltens zur Schuld, „daß der Täter (auch dann) wegen eines Vorsatzdelikts, das er im Zustand 1
Vgl. Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 418. Stratenwerth, GedS Armin Kaufmann, 1989, S. 485. 3 Stratenwerth, GedS Armin Kaufmann, 499.
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der ausgeschlossenen Schuld begeht, haftbar wäre, wenn er diesen Zustand in vermeidbarer Weise herbeigeführt hat und dabei zumindest voraussehen konnte, daß er in ihm möglicherweise ein solches Delikt begehen werde“4, ist nicht allgemein akzeptiert worden. Wenn dennoch hier der Versuch gewagt wird, einer Lehre vom Vorverschulden näher zu kommen, so deshalb, weil Wolfgang Frisch, der sehr verehrte Jubilar, gleichfalls im Jahre 1989 in einer tiefgründigen Arbeit über verschuldete Affekttaten5 die „Schuldvoraussetzungen des Vorverhaltens“ in überzeugender Weise geklärt hat, so dass sich die Frage geradezu aufdrängt, wieweit diese Überlegungen auf andere typische Konstellationen des Vorverschuldens übertragbar sind.
II. Einzelne Konstellationen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung 1. Der verschuldete Affekt a) Der verschuldete Affekt in der Rechtsprechung des BGH Anerkannt ist heute, dass Schuldunfähigkeit in hochgradigen Affekten begründet sein kann. Der BGH hat diesen Sachverhalt im Leitsatz der Entscheidung BGHSt 11, 20 dahin zusammengefasst: „Eine Bewusstseinsstörung im Sinne des § 51 StGB (heute § 20 StGB) kann bei einem in äußerster Erregung handelnden Täter auch dann gegeben sein, wenn er an keiner Krankheit leidet und sein Affektzustand auch nicht von sonstigen Ausfallerscheinungen (wie z. B. Schlaftrunkenheit, Hypnose, Fieber oder ähnlichen Mängeln) begleitet ist.“6 Umstritten ist aber, ob die Exkulpation dann ausgeschlossen ist, wenn der Täter den Affekt verschuldet hat. Der BGH geht davon aus, dass eine Strafmilderung in den Fällen des § 21 StGB nur dann versagt werden darf, „wenn der Täter unter den konkreten Umständen den Affektaufbau verhindern konnte und die Folgen des Affektdurchbruchs für ihn vorhersehbar waren“7. Im Schrifttum wird diese Begrenzung der Exkulpation unterschiedlich beurteilt. 4
Stratenwerth, GedS Armin Kaufmann, 495. Frisch, Grundprobleme der Bestrafung „verschuldeter“ Affekttaten, ZStW 101 (1989), 538 ff. 6 Zur Lit. vgl. mit eingehenden Nachweisen Behrendt, Affekt und Vorverschulden, 1983, S. 15; Krümpelmann, FS Welzel, 1999, 275 ff.; Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 14; Rudolphi, FS Henkel, 1974, 205 f. 7 BGHSt 35, 143. – Zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. Frisch, ZStW 101 (1989), 543 ff.; Roxin (Fn. 6), § 20 Rn. 15. – In der Rechtsprechung sind Tendenzen erkennbar, die Frage des Vorverschuldens für die Exkulpation als irrelevant anzusehen; vgl. Theune, NStZ 1999, 275 ff. Nicht erkennbar ist aber, ob damit dem Affekt grundsätzlich schuldausschließende Wirkung beigemessen oder lediglich auf die Zurechnungsgrundsätze der actio libera in causa zurückgegriffen werden soll. 5
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b) Weitergehende Einschränkungen der Exkulpation Eine weitergehende Einschränkung der Exkulpation fordern Jähnke8 und Schöch9. Sie halten die Vorhersehbarkeit der Folgen des Affekts durch den Täter nicht für notwendig, sondern fordern allein ein Verschulden des Täters an der Entstehung des Affekts, weil nach ihrer Auffassung ein Vorverschulden unmittelbar die Voraussetzungen des § 20 StGB ausschließt. Sie gehen davon aus, dass es rechtsdogmatisch nicht zu begründen sei, dass der Täter vorsätzlich eine Straftat begehe, wenn er sie fahrlässig nicht vorhergesehen habe. – Zu fragen ist aber, ob das Ergebnis rechtsdogmatisch mehr überzeugt, wenn sogar auf die Vorhersehbarkeit verzichtet wird, oder ob es nicht sachgerechter wäre, über die Vorhersehbarkeit der Tat im Zeitpunkt der Affektgenese hinaus, für eine Bestrafung aus einem Vorsatzdelikt die Voraussicht des Affekts zu fordern.10 c) Der Vergleich mit anderen entschuldigenden Sachverhalten Soweit die Auffassung des BGH geteilt wird, verweisen die Autoren darauf, dass das Gesetz auch in anderen Fällen, die mit bestimmten Defektzuständen oder Situationen an sich verbundene Exkulpation oder Privilegierung versage, wenn der Täter den entsprechenden Zustand oder die Situation verschuldet hat, bzw. deren Eintritt vermeiden konnte. Genannt werden § 17 StGB11, § 35 Abs. 1 S. 2 StGB12 und § 213 StGB13. Deren Regelungsinhalt ist jedoch mit der Situation des Affekts nicht vergleichbar. aa) Der vermeidbare Verbotsirrtum, § 17 StGB Nach § 17 S. 1 StGB schließt nur der unvermeidbare Verbotsirrtum die Schuld aus. Der vermeidbare Verbotsirrtum führt hingegen zu einer Strafmilderung, nicht aber zur Versagung der Milderung14. Darüber hinaus geht es beim Affekt in der Regel um die Steuerungsfähigkeit, nicht aber um die Einsichtsfähigkeit, und § 20 StGB schließt keineswegs nur bei unvermeidbarer Steuerungsunfähigkeit die Schuldfähigkeit aus. Schließlich aber beruht die strengere Bestrafung des Täters gemäß § 17 StGB auf der zum Tatvorsatz hinzukommenden Rechtsfahrlässigkeit,
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LK-StGB/Jähnke, 11. Aufl. 1992 ff., § 20 Rn. 62. LK-StGB/Schöch, 12. Aufl. 2006 ff., § 20 Rn. 148. 10 Dazu weiter unten f) sowie unten IV. 4. 11 Vgl. Geilen, FS Maurach, 1972, 173 ff.; Krümpelmann, GA 1983, 355 f.; Rudolphi, FS Henkel, 199 ff.; Stratenwerth, GedS Armin Kaufmann, 486 ff.; Ziegert, Vorsatz, Schuld und Vorverschulden, 1987, S. 189 ff. 12 Vgl. Witter, KrimGF 5 (1962), 95 f. 13 Vgl. Lange, FS Bockelmann, 1979, S. 275. 14 Vgl. Frisch, ZStW 101 (1989), 560. 9
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während das fahrlässige Vorverschulden des Affekttäters in den Bereich der Tatfahrlässigkeit gehört.15 bb) Der selbstverschuldete Entschuldigungsnotstand, § 35 Abs. 1 S. 2 StGB Noch problematischer ist der Versuch, die Regelung des entschuldigenden Notstands, § 35 StGB, auf die Situation des Affekts zu übertragen. Zwar erscheint es nach dem Wortlaut des Gesetzes eindeutig, dass der Gesetzgeber § 35 Abs. 1 S. 1 StGB als Schuldausschließungsgrund konzipiert hat: „handelt ohne Schuld“. Der Anschein trügt jedoch, denn wenn der Täter in der Notstandssituation schuldlos ist, weil er normativ nicht mehr ansprechbar ist und nicht anders handeln kann, so liegt ein Fall des § 20 StGB vor. § 35 StGB ist in dieser Situation überflüssig. Damit wird offenbar, dass der in § 35 StGB geregelte Verzicht auf die Erhebung eines strafrechtlichen Schuldvorwurfs gegenüber einem Täter, der durchaus schuldfähig ist, nicht vergleichbar ist mit der Nichtberücksichtigung der fehlenden Schuldfähigkeit eines Täters, der wegen dieses Fehlens im Zeitpunkt der Tatverwirklichung ohne Schuld gehandelt hat.16 Der Grund der Strafbefreiung liegt im Fehlen einer präventiven Bestrafungsnotwendigkeit, da wegen der außergewöhnlichen Umstände in denen sich der Notstandstäter befindet, eine Motivationswirkung der Norm auch bei Androhung von Strafe häufig nicht zu erwarten ist, ein generalpräventives Bedürfnis der Abschreckung anderer wegen der Seltenheit der Situation kaum besteht, und der Täter spezialpräventiver Einwirkung nicht bedarf.17 Es ist daher nicht der Gedanke fehlender Schuld, der in der Regelung des § 35 StGB Beachtung findet, sondern der der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens.18 § 35 StGB beschreibt nicht eine Situation, in der die Schuld des Täters ausgeschlossen ist, sondern eine Situation, in der der Täter aufgrund einer besonderen Konfliktlage trotz rechtswidrigen Verhaltens die „Nachsicht der Rechtsordnung“19 findet.20
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Dazu Behrendt (Fn. 6), S. 59 ff.; Frisch, ZStW 101 (1989), 561 ff.; Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, 1985, S. 242 ff.; Otto, Jura 1992, 329; Schönke/Schröder/ Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 15; Roxin (Fn. 6), § 20 Rn. 17. 16 Vgl. Frisch, ZStW 101 (1989), 560 f. 17 Roxin (Fn. 6), § 22 Rn. 6. 18 Neumann (Fn. 15), S. 246; Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2004, § 14 Rn. 1; Roxin, FS Lackner, 1987, 311. 19 Schröder, SchwZStr 76, 4. 20 Vgl. auch Amelung, JZ 1982, 621 f.; Jescheck/Weigend, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 1996, § 43 II; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 35 ff.; Otto (Fn. 18), § 14 Rn. 1; Vogler, GA 1969, 104.
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cc) Der minder schwere Fall des Totschlags, § 213 In gleicher Weise fallen die Regelungsbereiche des § 213 StGB und die der §§ 20, 21 StGB auseinander. Die in § 213 StGB vorgesehene Privilegierung beruht auf der Verständlichkeit des Affekts als einer nachvollziehbaren Reaktion auf die vorangegangene Provokation. Es geht hier um „die Dimension der Bewertung, nicht der Bemessung des Affekts“.21 Dieser Gedanke trägt aber bei einer selbstverschuldeten Beleidigung oder Kränkung nicht.22 Der „gerechte Zorn“ verliert seine Basis. d) Die Lösung über die actio libera in omittendo Entschieden abgelehnt wird ein fahrlässiges Vorverhalten als Voraussetzung der Haftung aus einer vorsätzlichen Affekttat von Behrendt.23 Er sucht die Lösung in der Konstruktion der actio libera in omittendo und geht davon aus, dass dann, wenn der Täter in der Phase sich aufladender Spannungen, die sich in destruktive Vorstellungen umsetzen, seine destruktiven Strebungen nicht mehr zügeln kann, ein Unterlassungsdelikt vorliegt. Die Erfolgsabwendungspflicht sieht er in einem vorangegangenen gefährlichen Tun begründet.24 Diese Konstruktion ist jedoch erheblichen Einwendungen ausgesetzt, denn wenn der Täter in der Situation des unmittelbar bevorstehenden Affekts und der konkreten Gefahr des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges keine wirksamen Gegenmaßnahmen trifft und durch positives Tun den Tatbestand der Affekttat verwirklicht, so kann dieses Tun nicht in ein Unterlassen umgedeutet werden.25 e) Die überwiegende Auffassung in der Literatur Die überwiegende Meinung in der Literatur sieht es als unvereinbar mit dem Tatschuldprinzip an, dem Täter, dessen Steuerungsfähigkeit zur Zeit der Tat ausgeschlossen war, die im Gesetz vorgesehene Exkulpation zu versagen, weil der Affekt selbst verschuldet war.26 Sie zieht aber daraus nicht die Konsequenz, den Täter trotz verschuldeten Affekts zu exkulpieren, sondern behandelt die Situation des verschul-
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Neumann (Fn. 15), S. 253. Frisch, ZStW 101 (1989), 559 f. 23 Behrendt (Fn. 6), S.68. 24 Behrendt (Fn. 6), S. 73 ff., 77 ff. 25 Dazu auch Roxin (Fn. 6), § 20 Rn. 19. 26 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, AT, 11. Aufl. 2003, § 19 Rn. 14; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 20 Rn. 34; Haas, FS Krey, 2010, S. 143; Jescheck/Weigend (Fn. 20), § 40 III 2 b; Kindhäuser, Strafrecht, AT, 4. Aufl. 2010, § 20 Rn. 13; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 20 Rn. 7; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 15), StGB, § 20 Rn. 16b; Roxin (Fn. 6), § 20 Rn. 16 ff.; MK-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 84; Theune, NStZ 1999, 276. 22
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deten Affekts als eine Fallgruppe der actio libera in causa27 und bestimmt die strafrechtliche Verantwortung des Täters nach den Grundsätzen dieser Konstruktion; dazu weiter unter 2. f) Der Lösungsvorschlag von Wolfgang Frisch Wolfgang Frisch gesteht dem BGH zu, dass Vorhersehbarkeit der im Affekt begangenen Tat und Vermeidbarkeit des Affektzustandes als Schuldform dort genügen können, wo es um die Kompensation von Defiziten geht, die darin gründen, dass die affektive Störung dem Täter im Tatzeitpunkt die Fähigkeit genommen oder geschmälert hat, das den rechtlichen Anforderungen entsprechende Verhalten zu erkennen und zu realisieren.28 Das sei letztlich der Bereich fahrlässiger Deliktsverwirklichung. Wo es sich dagegen bei den später im Affekt begangenen Taten um Vorsatzdelikte handele, wendet er ein, dass hier bloße Vorhersehbarkeit der im Affekt begangenen Tat sowie die Vermeidbarkeit der Tat zum Ausschluss der Exkulpation nicht genügen könnten. Er legt dar, dass die Vorhersehbarkeit der Tat nichts weiter beschreibe, als das Mindesterfordernis planmäßiger Tatvermeidung im Vorfeld. Sie vermittele weder die qualifizierte Vermeidemacht, wegen deren Nichtausnutzung dem Vorsatztäter der qualifizierte Schuldvorwurf gemacht wird, noch nenne sie jenen psychischen Zustand, bei dessen Gegebensein das Handeln des Täters als Entscheidung gegen das Gut oder die tatbestandsrelevanten Verhaltensnormen angesehen werden kann. Sie sei damit nicht geeignet, einen der eigentlichen Tatbestandsverwirklichung vorgelagerten Schuldvorwurf zu begründen, der die Schulddefizite im Zeitpunkt der Tatbestandsverwirklichung kompensieren könne.29 Daher erscheint es ihm allein angemessen, den Täter als Vorsatztäter zu behandeln, wenn die deutlichen Defizite der Vorsatzschuld im Tatzeitpunkt durch ein qualitativ und strukturell vergleichbares Verschulden im Vorfeld kompensiert werden, bzw. wenn man dem Täter die Berufung auf diese Defekte mit Blick auf die Nichtausnutzung vergleichbarer Vermeidemacht im Vorfeld selbst getroffener Entscheidungen gerechterweise abschneiden könne.30 Davon könne aber nur die Rede sein, wenn der Täter zum einen im Zustand noch uneingeschränkter Schuldfähigkeit wirklich gesehen hat, dass es im Gefolge des von ihm realisierten Verhaltens zu der später begangenen Affekttat kommen könnte, und wenn er sich zum anderen selbst in den etwa später entstehenden Situationen als nur noch beschränkt normorientierungsfähiges Individuum erkennt, d. h. auch den bevorstehenden Eintritt des entsprechenden Erregungszustandes und dessen Auswirkungen erfasst hat.31 – Dem ist nichts hinzuzufügen, denn der Unterschied im Vorwurf, der den Vorsatztäter im Gegensatz zum Fahrlässigkeitstäter trifft, und 27
Vgl. die Angaben in Fn. 26. Frisch, ZStW 101 (1989), 569. 29 Frisch, ZStW 101 (1989), 569 f. 30 Frisch, ZStW 101 (1989), 571 f. 31 Frisch, ZStW 101 (1989), 572 f.; dazu auch Behrendt (Fn. 6), S.68 ff.; MK-StGB/Streng (Fn. 26), § 20 Rn. 141. 28
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der darin begründet ist, dass der Vorsatztäter sich bewusst gegen das geschützte Rechtsgut oder für die tatbestandsrelevante Verhaltensweise entscheidet,32 d. h. dass er eine Entscheidung für die Verwirklichung von Unrecht trifft,33 während der Fahrlässigkeitstäter die Verwirklichung des Unrechts nur hätte vorhersehen können, kann nicht dadurch beseitigt werden, dass der im Affekt schuldunfähige und zunächst nicht strafbare Täter die Affekttat hätte vorhersehen können. – Es ist in der Tat „rechtsdogmatisch nicht zu begründen, dass der Täter eine vorsätzliche Straftat begehe, wenn er sie fahrlässig nicht vorhersieht“34. Die „konkreten Umstände“35, die die relevante Situation erfassen, in der es auf das Bewusstsein des Täters, dass es zu der späteren Affekttat kommen kann, und dass er zu diesem Zeitpunkt nur noch beschränkt normorientierungsfähig sein werde, erkennt Wolfgang Frisch in dem vor der Tatbestandsverwirklichung liegenden Verhalten, „das unmittelbar die Gefahr der Auslösung eines – die Steuerungsfähigkeit ausschließenden oder erheblich vermindernden – und darüber vermittelt die konkrete Gefahr des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges in sich birgt“. Bei unterlassendem Vorverhalten kommt es darauf an, dass das Nichtergreifen bestimmter Maßnahmen gefährlich ist, weil es einer entsprechenden Gefahr nicht wehrt, die bei Nichthandeln im Weiteren unbeherrschbar zu werden droht36. – Damit wird der für die Bestimmung der Irrelevanz des Affekts relevante Zeitraum sachlich überzeugend und zugleich anschaulich beschrieben. Wolfgang Frisch kommt zu dem Ergebnis, dass dann, wenn man die zur Tatvermeidung bestehenden Verhaltensanforderungen im Vorfeld auf den dem Affekteintritt unmittelbar vorgelagerten Bereich beschränkt, sich das diesen Anforderungen widersprechende Verhalten zwanglos bereits als Teil einer in der eigentlichen Tatbestandsverwirklichung kulminierenden und durch sie charakterisierten Tatbegehung begreifen lässt.37 Das legitimiere es, für jene „Begehung der Tat“, deren Bestrafung nach § 20 StGB Schuldfähigkeit voraussetzt, auch schon das Verhalten ausreichen zu
32 Dazu Frisch, GedS Armin Kaufmann, 1989, 324 f.; ders., Vorsatz und Risiko, 1983, S. 46 ff., 102 ff. – Im Übrigen vgl. Heinrich, Rechtsgutszugriff und Entscheidungsträgerschaft, 2002, S. 131 ff., 139; Kühl, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2008, § 5 Rn. 28, 34; Puppe, GA 1990, 157; Roxin (Fn. 6), § 12 Rn. 101; Schönke/Schröder/ Sternberg-Lieben, StGB, 28. Auflage 2010, § 15 Rn. 39; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT I, 5. Aufl. 2004, § 8 Rn. 66; Weigend, ZStW 93 (1981), 690. 33 Dazu Hassemer, GedS Armin Kaufmann, 1989, S. 295 ff., 309; Otto (Fn. 18), § 7 Rn. 64. 34 LK-StGB/Jähnke (Fn. 8), § 20 Rn. 62; LK-StGB/Schöch (Fn. 9), § 20 Rn. 148. 35 BGHSt 35, 143. 36 Frisch, ZStW 101 (1989), 586; vgl. auch MK-StGB/Streng (Fn. 26), § 20 Rn. 84. – Zu den Entstehungsphasen des Affekts vgl. auch Behrendt (Fn. 6), S. 23 ff.; Rasch, NJW 1980, 1309 ff.; Roxin (Fn. 6), § 20 Rn. 18. 37 Frisch, ZStW 101 (1989), 609.
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lassen, das zu unterlassen oder zu modifizieren der Täter im Interesse der Vermeidung des Affekts gehalten ist.38 Diese in sich geschlossene Lösung unter Erweiterung des herkömmlich im Vorsatzbereich anerkannten Tatbegriffs entspricht parallelen Vorschlägen bei der actio libera in causa; dazu weiter unter 2. b). 2. Die vom Täter verantwortlich herbeigeführte Schuldunfähigkeit; actio libera in causa Hat der Täter in schuldfähigem Zustand vorsätzlich oder fahrlässig seine Schuldunfähigkeit herbeigeführt und verwirklicht er in diesem Zustand ein fahrlässiges oder vorsätzliches Delikt, so soll er wegen dieses Delikts bestraft werden können, obwohl er im Zeitpunkt der Tatbestandsverwirklichung schuldunfähig war. Die strafrechtliche Verantwortung soll sich hier nach den Grundsätzen der actio libera in causa bestimmen: „Die Tat ist unfrei in ihrem Vollzug, aber frei in ihrer Ursache“.39 Soweit diese Konstruktion nicht gänzlich abgelehnt wird,40 besteht zwischen ihren Vertretern weitgehend Einigkeit darüber, dass die Bestrafung aus einem Vorsatzdelikt einen sog. Doppelvorsatz im Zeitpunkt der vollen oder verminderten Schuldfähigkeit erfordert. Der Täter muss sich in noch schuldfähigem Zustand zu der Ausführung einer bestimmten Tat, die er im Defektzustand tatsächlich begeht, mindestens im Sinne des bedingten Vorsatzes entschlossen haben und sich der konkreten Gefahr bewusst gewesen sein, dass der Defektzustand durch sein Verhalten herbeigeführt wird.41 – Jenseits dieser Gemeinsamkeit sind Konstruktion und rechtliche Grundlage der actio libera in causa jedoch umstritten. Der Meinungsstreit hat sich inzwischen verfestigt, die Argumente für und gegen die einzelnen Konstruktionen sind ausgetauscht.
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Frisch, ZStW 101 (1989), 668. Kühl (Fn. 32), § 11 Rn. 6 m. N. 40 Vgl. Hettinger, Die „actio libera in causa“: Strafbarkeit wegen Begehungstat trotz Schuldunfähigkeit?, 1988, S. 437 ff.; ders., FS Geerds, 1995, S. 637, 654; Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 397; Leupold, Die Tathandlung der reinen Erfolgsdelikte und das Tatbestandsmodell der „alic“ im Licht verfassungsrechtlicher Schranken, 2005, S. 194 f.; Paeffgen, ZStW 97 (1985), 522 ff.; Salger/Mutzbauer, NStZ 1993, 565; Sydow, Die actio libera in causa nach dem Rechtsprechungswandel des Bundesgerichtshofs, 2002, S. 78 ff., 164. 41 BGHSt 2, 14, 17; 17, 333, 334 f.; Kühl (Fn. 32), § 11 Rn. 19; Otto (Fn. 18), § 13 Rn. 28; ders., Jura 1986, 431; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 15), StGB, § 20 Rn. 36; Puppe, JuS 1980, 348 f.; Roxin (Fn. 6), § 20 Rn. 67; LK-StGB/Schöch (Fn. 9), § 20 Rn. 202; Wessels/ Beulke, Strafrecht, AT, 40. Aufl. 2010, Rn. 417. – A.A. Cramer, JZ 1968, 273 ff.; Hruschka, JuS 1968, 558; LK-StGB/Jähnke (Fn. 8), § 20 Rn. 82; Kölbel, GA 2005, 55; Neumann (Fn. 15), S. 28 ff. 39
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a) Das Tatbestandsmodell Nach dem Tatbestandsmodell knüpft die Zurechnung an das den Schuldausschluss herbeiführende Verhalten an. Dieses Verhalten, z. B. das Berauschen, wird bereits als der Beginn des relevanten Tatbestandsverhaltens interpretiert, weil darauf abgestellt wird, dass die in causa freie Handlung den Beginn der geplanten Tat, und zwar den Versuch dieser Tat, darstellt,42 oder aber der Täter mit ihr das unerlaubte Risiko begründet hat, das er selbst mit sich als nicht mehr verantwortliches Werkzeug anschließend als mittelbarer Täter verwirklicht.43 Soweit die Prämisse des Tatbestandsmodells nach allgemeinen Grundsätzen im konkreten Fall zutrifft, dass die „in causa“ freie Handlung den Versuch der geplanten Tat darstellt, ist gegen das Ergebnis, der Zurechnung des Erfolges der geplanten Tat, nichts einzuwenden. Dazu bedarf es aber keiner besonderen Konstruktion. Da der Täter aufgrund eines schuldhaft gebildeten Tatvorsatzes zur Tatausführung angesetzt hat, greifen die Regeln über die Zurechnung abweichender Kausalverläufe ein. Danach ist die Bestrafung wegen des vollendeten vorsätzlichen Delikts möglich, wenn die Abweichung des realen vom geplanten Kausalverlauf als unerheblich bewertet werden kann, weil sich die Abweichung in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren gehalten hat und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigt.44 Ist nach den allgemeinen Regeln zur Abgrenzung von Vorbereitungshandlung und Versuch hingegen im Vorverhalten, z. B. im Sichbetrinken des Täters in schuldfähigem Zustand, noch kein Versuch der späteren Tat begründet, so vermag das Abstellen auf das Ingangsetzen des Geschehensablaufs durch das Sichbetrinken den Beginn der strafbaren Tat nicht zu kennzeichnen. Unabhängig davon, ob der Versuchsbeginn nach der Zwischenakttheorie, der Sphärentheorie oder der Gefährdungstheorie bestimmt wird,45 lässt sich aber im Regelfall das Sichbetrinken des Täters, der erst später einen bestimmten Tatbestand verwirklichen will, nicht als Versuchsbeginn erfassen.46 Auch der Verweis auf die mit42 Dazu BGHSt 17, 333, 334 f.; Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 26), § 19 Rn. 35 ff.; Krause, Jura 1980, 169 ff.; Maurach/Zipf, Strafrecht, AT 1, 8. Aufl. 1992, § 36 Rn. 54; Puppe, JuS 1980, 346 ff.; Roxin, FS Lackner, 311 ff.; ders. (Fn.6), § 20 Rn. 60 f.; Gutschet, Die Erfolgszurechnung im Falle mittelbarer Rechtsgutsverletzung, 2010, S. 193 ff. 43 Dazu Hirsch, JR 1997, 392 f.; ders., FS Geppert, 2011, 236 ff.; Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 17/64; Puppe, FS Küper, 2007, 453 f.; Roxin, FS Lackner, 314 ff.; ders. (Fn. 6), § 20 Rn. 61; Schlüchter, FS Hirsch, 1999, 354 f. – Für unmittelbare Täterschaft: Schild, FS Triffterer, 1996, S. 206; Spendel, JR 1977, 133 f. 44 Dazu BGHSt 7, 325; 23, 133; BGHSt NStZ 1998, 30 f.; BGH NStZ 2003, 535 f.; Hettinger (Fn. 40), S. 199 ff.; LK-StGB/Jähnke (Fn. 8), § 20 Rn. 75, 81; Lackner/Kühl (Fn. 26), StGB, § 20 Rn. 16; LK-StGB/Schöch (Fn. 9), § 20 Rn. 197, 205. 45 Im Einzelnen dazu Otto (Fn. 18), § 18 Rn. 22 ff. 46 Dazu vgl. auch Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 26), § 26 Rn. 53; Jerouschek, FS Hirsch, 1999, S. 246; Kühl (Fn. 32), § 11 Rn. 13; Küper, FS Leferenz, 1987, S. 589; Neumann
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telbare Täterschaft führt nicht weiter. Diese bleibt mehr Bild als Konstruktion, denn bei Begehung der Tat durch den Täter als Werkzeug seiner selbst ist augenfällig, dass die Beherrschung eines Schuldunfähigen durch einen „anderen“, nämlich einen zu diesem Zeitpunkt auch Schuldunfähigen mit den Grundlagen der Konstruktion der mittelbaren Täterschaft nicht in Einklang zu bringen ist, da die Herrschaft des Schuldunfähigen mit Eintritt der Schuldunfähigkeit und damit vor dem Zeitpunkt der Tatbegehung schon beendet ist.47 b) Das Tatbestandsausdehnungsmodell Die Vertreter des Tatbestandsausdehnungsmodells gehen im Ergebnis einen Schritt über die Versuchslösung des Tatbestandsmodells hinaus, indem sie offen Vorbereitungshandlungen in den Tatbegriff des § 20 StGB einbeziehen.48 – Das ist in sich schlüssig, denn die Aufnahme von Vorbereitungshandlungen in den Tatbegriff hat im Strafgesetzbuch durchaus Niederschlag gefunden. Beim Vorsatzdelikt steht diesem Einbezug jedoch die Regelung des § 22 StGB entgegen, der bestimmt, dass der strafbare Teil der Tat erst mit dem Versuch beginnt. c) Das Ausnahmemodell Die Vertreter des Ausnahmemodells sehen die beim Täter bei der Verwirklichung des Tatbestandes fehlende Schuld durch das schuldhafte Vorverhalten als ausgeglichen an. Dabei geht es ihnen nicht um eine Vorverlagerung des Schuldvorwurfs, sondern darum, dem Täter die Berufung auf § 20 StGB zu versagen, weil er aufgrund seines Vorverhaltens sowohl für den Defekt als auch für die später im Affekt begangene Tat verantwortlich ist.49
(Fn. 15), S. 33 f.; Otto (Fn. 18), § 13 Rn. 22; ders., FG BGH, 2000, S. 124; Schweinberger, JuS 2006, 509; Streng, JZ 2000, 21. 47 Dazu eingehender Hettinger (Fn. 40), S. 407 ff.; Jerouschek, FS Hirsch, 250; Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 420; Küper, FS Leferenz, 590; Neumann (Fn. 15), S. 34 f.; ders., FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 585; Otto (Fn. 18), § 13 Rn. 23; ders., FG BGH, 124; Paeffgen, ZStW 97 (1985), 517 ff.; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 15), StGB, § 20 Rn. 35; Streng, JZ 2000, 21. 48 Im Einzelnen zu den unterschiedlichen Begründungen: Herzberg, FS Spendel, 1992, S. 207 ff.; Jerouschek, JuS 1997, 388 f.; Lampe, JbRSoz 14 (1989), 292; Spendel, FS Hirsch, 1999, S. 380 ff.; Streng, ZStW 101 (1989), 310 ff.; ders., JuS 2001, 542 ff.; MK-StGB/Streng (Fn. 26), § 20 Rn. 128 ff. – Krit. Neumann, FS Arthur Kaufmann, 587 f.; Satzger, JA 2006, 515. 49 Dazu mit unterschiedlichen Akzentuierungen: Hruschka, JuS 1968, 558; ders., JZ 1989, 310 ff.; ders., JZ 1996, 64 ff.; LK-StGB/Jähnke (Fn. 8), § 20 Rn. 78; ders., FS BGH 2000, 403 ff.; Jescheck/Weigend (Fn. 20), § 40 VI 1; Krey Strafrecht, AT 1., 2. Aufl. 2004, Rn. 672 ff.; Kühl (Fn. 32), § 11 Rn. 9; Küper, FS Leferenz, 573 ff., 592; Neumann (Fn. 15), S.44 f.; ders., StV 1997, 25; Otto, Jura 1986, 429 ff., ders., FG BGH, 125 ff.; ders. (Fn. 18), § 13 Rn. 24 ff.; Streng, JZ 2000, 25; Wessels/Beulke (Fn. 41), Rn. 415.
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Diese Konstruktion wird zum einen als gewohnheitsrechtlich gerechtfertigte Ausnahme von dem Grundsatz des § 20 StGB, dass der Täter „bei Begehung der Tat“ schuldig sein muss, anerkannt, zum anderen aber auf die Geltung allgemeiner Zurechnungsregeln zurückgeführt, die durchaus im StGB nachweisbar, nicht aber in allen Einzelheiten ausformuliert sind. Die Kritik gegen die gewohnheitsrechtliche Begründung des Ausnahmemodells hat der BGH dahin zusammengefasst: „Das Ausnahmemodell ist mit dem eindeutigen Wortlaut des § 20 StGB, nach dem die Schuldfähigkeit, bei Begehung der Tat vorliegen muss, nicht in Einklang zu bringen. Aus diesem Grunde kann die actio libera in causa auch nicht als richterliche Ausnahme von dem Koinzidenzprinzip (…) oder als Gewohnheitsrecht (…) anerkannt werden“.50 – Dem kann im Hinblick auf die gewohnheitsrechtliche Geltung der Konstruktion nur zugestimmt werden,51 denn hier geht es nicht um eine gewohnheitsrechtlich zu begründende Ausnahmeregelung, sondern um die Reichweite von Zurechnungsregeln, die im Recht, und auch im Strafrecht anerkannt sind; dazu weiter unter IV. 2. – 3. 3. Die vom Täter verantwortlich herbeigeführte Handlungsunfähigkeit Die Grundsätze der actio libera in causa, die für die vorsätzlich herbeigeführte Schuldunfähigkeit entwickelt worden sind, werden weithin auf die Situation übertragen, dass der Täter vorsätzlich darauf hinwirkt, dass sein unmittelbar zu einem tatbestandsmäßigen Erfolg führendes Verhalten keine Handlungsqualität aufweist, obwohl er sich der Gefahr der Rechtsgutsbeeinträchtigung im Defektzustand bewusst ist. Das nicht von einem natürlichen Handlungswillen getragene Verhalten wird damit nach den gleichen Grundsätzen beurteilt wie das schuldunfähig verwirklichte Verhalten.52 Diese Übertragung der Grundsätze der actio libera in causa auf die Fälle des Ausschlusses der Handlungsqualität des Verhaltens ist angemessen, da die Problemkonstellationen einander entsprechen. 50 BGHSt 42, 235, 241. – Dazu auch Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, Rn. 177; Krause, Jura 1980, 172; Mack, Trunkenheit und Obliegenheit, 2008, S. 106 f.; Rath, JuS 1995, 411; Roxin (Fn. 6), § 20 Rn. 58; ders., FS Lackner, 309; Salger/Mutzbauer, NStZ 1993, 565; MK-StGB/Schmitz, 2. Aufl. 2011, § 1 Rn. 25. 51 Vgl. z. B. LK-StGB/Jähnke (Fn. 8), § 20 Rn. 76; Kölbel, GA 2005, 40 f.; Kühl (Fn. 32), § 11 Rn. 9; Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 421; Otto, Jura 1986, 430 f.; ders. (Fn. 18), § 13 Rn. 26; LK-StGB/Schöch (Fn. 9), § 20 Rn. 194; Schweinberger, JuS 2006, 511. 52 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 26), § 19 Rn. 36; LK-StGB/Jähnke (Fn. 8), § 20 Rn. 76; Krause, FS Mayer, 1966, S. 308 ff.; Maurach, JuS 1961, 373 f.; Maurach/Zipf (Fn. 42), § 36 Rn. 55; Neumann (Fn. 15), S. 45; Otto, Jura 1986, 434; Schönke/Schröder/ Perron (Fn. 15), StGB, § 20 Rn. 34; Puppe, JuS 1980, 347; Gutschet, Erfolgszurechnung, S. 32 f. – Anders Hruschka, SchwZStr 90, 76; Jakobs (Fn. 43), 17/57 Fn. 106; Schmidhäuser, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1975, 10/25.
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4. Die von einem Handlungspflichtigen herbeigeführte Handlungsunmöglichkeit; omissio libera in causa Voraussetzung der Strafbarkeit aus einem Unterlassungsdelikt ist die Möglichkeit des Täters, das pflichtgemäße Verhalten zu erbringen. Das pflichtgemäße Sollen setzt Können, d. h. Handlungsmöglichkeit in physisch-realer Hinsicht voraus. Hat sich der Täter allerdings vorsätzlich in einem dem tatbestandsmäßigem Unterlassungszeitraum vorgelagerten Stadium durch aktives Tun oder durch Unterlassen außerstande gesetzt, das pflichtgemäße Verhalten zu erbringen, so soll er nach überwiegender Meinung gleichwohl wegen eines Unterlassungsdelikts bestraft werden können.53 Obwohl durchaus auf die Parallelen zur actio libera in causa hingewiesen wird,54 ist die omissio libera in causa nicht annähernd so umstritten wie die actio libera in causa. Überwiegend wird dem Täter die Verletzung eines aus der Handlungspflicht abgeleiteten Verbots vorgeworfen, „sich zur Erfüllung dieses Gebots unfähig zu machen oder sich ihm auf andere Weise zu entziehen“.55 Hruschka versagt dem Täter die Berufung auf die Handlungsunfähigkeit, indem er ihm eine obliegenheitswidrig nicht vermiedene aber vermeidbare Unmöglichkeit der Handlungsvornahme vorwirft,56 Struensee schlägt eine erweiterte Auslegung der der Unterlassungsstrafbarkeit immanenten Handlungsmöglichkeit vor, die bereits dann gegeben sein soll, wenn ihr Nichtvorliegen zur Disposition des Pflichtigen steht,57 und Behrendt plädiert auch hier für sein Unterlassungsmodell nach vorangegangenem gefährlichen Tun, zu dem bereits oben Stellung genommen wurde.58 Auch wenn die Angemessenheit des jeweiligen Ergebnisses durchaus akzeptiert werden kann, so bleibt doch die Frage, warum das aus der Handlungspflicht abgeleitete Verbot, sich zur Erfüllung dieses Gebots unfähig zu machen, bzw. die entspre53 Für Strafbarkeit wegen aktiven Tuns aber Jakobs (Fn. 43), 7/69; Meyer-Bahlburg, GA 1968, 53. – Dagegen eingehend Roxin, AT II, 2003, § 31 Rn. 103 ff. 54 Vgl. z. B. Dehne-Niemann, GA 2009, 151; Maurach, JZ 1961, 377; Satzger, Jura 2006, 517. – Baier, GA 1999, 279, geht davon aus, dass beide Konstruktionen die gleichen Wurzeln haben. Konsequent prüft er die Berechtigung der omissio libera in causa nach den Kriterien der actio libera in causa und lehnt sie ab. 55 OLG Karlsruhe NStZ-RR 2001, 57; dazu auch Bertel, JZ 1965, 55; Dehne-Niemann, GA 2009, 151; Kühl (Fn. 32), § 18 Rn. 22; Roxin (Fn. 53), § 31 Rn. 106; Satzger, Jura 2006, 513; Stoffers, Die Formel „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen im Strafrecht, 1992, S. 335 f. – Im Übrigen vgl. Schönke/Schröder/Bosch, StGB, Vor § 13 Rn. 144; Kindhäuser (Fn. 26), § 13 Rn. 83; Lackner/Kühl (Fn. 26), StGB, § 13 Rn. 3; Otto (Fn. 18), § 9 Rn. 11; Walter, ZStW 116 (2004), 568 f.; Winter, Der Abbruch rettender Kausalität, 2000, S. 132. – Ablehnend Baier, GA 1999, 283; Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 122 ff.; NK-StGB/Wohlers, 3. Aufl. 2010, § 13 Rn. 13. 56 Hruschka, FS Bockelmann, 1979, S. 423 ff. 57 Struensee, FS Stree/Wessels, 1993, S. 151. 58 Behrendt (Fn. 6), S. 74 ff., 90; dazu oben unter II. 1. d).
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chende Obliegenheit oder die immanente Handlungsmöglichkeit, über deren Disposition der Verpflichtete im Vorfeld disponierte, hier offenbar problemlos auf den Bereich des Vorverhaltens ausgedehnt werden darf, während die Berechtigung dieser Ausdehnung des Tatbegriffs durch das Tatbestandsausdehnungsmodell im Rahmen der actio libera in causa mit Verve bestritten wird.
III. Die rechtswidrig und schuldhaft herbeigeführte Notwehrlage 1. Die Absichtsprovokation Von einer Absichtsprovokation ist die Rede, wenn jemand einen anderen zu einem Angriff provoziert, um ihn unter dem Schutz der Notwehr schädigen zu können. Die h. M. versagt dem Absichtsprovokateur grundsätzlich die Berufung auf das Notwehrrecht wegen eines Rechtsmissbrauchs und bestraft den Angegriffenen wegen vorsätzlicher Schädigung des Angreifers.59 Andere schränken das Notwehrrecht unter sozialethischen Aspekten ein60 oder lassen das Notwehrrecht zwar bestehen, bestrafen den Provokateur aber wegen der schuldhaften Herbeiführung der Notlage als vorsätzlichen Täter des von ihm verursachten Erfolgs,61 während die Gegenmeinung auch dem Absichtsprovokateur das volle Notwehrrecht erhalten will.62 a) Die grundsätzliche Versagung der Notwehr aa) Die zunächst beeindruckend einheitliche h. M. erweist sich bei näherer Betrachtung keineswegs als geschlossen in der Bestimmung der hier relevanten Situation. Zunächst wird nämlich danach differenziert, ob das provozierende Verhalten ein rechtmäßiges oder rechtswidriges war. „Solange sich der spätere Angreifer vor dem Angriff rechtmäßig verhalten hat, besteht kein Anlass, ihm in der Notwehrsituation das Recht zur erforderlichen Verteidigung zu nehmen“.63 Nicht der Provokateur ver59 Vgl. z. B. Berz, JuS 1984, 340; Fischer, StGB, § 32 Rn. 42; Geilen, Jura 1981, 372; Hirsch, FG BGH, 2000, 202; Jäger (Fn. 50), Rn. 122; Krey (Fn. 49), Rn. 510; Kühl (Fn. 32), § 15 Rn. 228 ff.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 32), § 9 Rn. 84; Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 65. 60 Vgl. Jescheck/Weigend (Fn. 20), § 32 III 3 a; Kuhlen, GA 2008, 290; Schönke/Schröder/ Perron (Fn. 15), StGB, § 32 Rn. 57; LK-StGB/Rönnau/Hohn, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 252. 61 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 26), § 17 Rn. 17 ff.; Mitsch, Rechtfertigung und Opferverhalten, 2003, S. 397 ff; Schmidhäuser, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1984, 6/83. 62 Vgl. Bockelmann, FS Honig, 1970, S. 28 ff., 31; Hassemer, FS Bockelmann, 1979, S. 243; Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 1981, S. 130; Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 111 ff., 302 ff.; LK-StGB/Spendel, 11. Aufl. 1992, § 32 Rn. 281 ff. 63 Kühl (Fn. 32), § 7 Rn. 215; vgl. auch Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2009, § 13 Rn. 117; Jäger (Fn. 50), Rn. 122; Otto (Fn. 18), § 8 Rn. 87, 93; ders., FS Würtenberger, 1977, S. 145; Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 65; LK-StGB/Rönnau/Hohn (Fn. 60), § 32 Rn. 253.
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hält sich hier rechtswidrig, sondern der provozierte Angreifer, „der als erster den Boden des Rechts durch seinen rechtswidrigen Angriff verlässt“64. Unproblematisch ist allerdings die Beurteilung des Provokateurs, der durch rechtswidriges Verhalten einen anderen in Schädigungsabsicht zu einem Angriff provoziert, indem er ihn selbst rechtswidrig angreift oder ihm einen rechtswidrigen Angriff vortäuscht. – Im Falle des rechtswidrigen Angriffs durch den Provokateur stellt sich das Verhalten des Provozierten als Notwehr dar und ist unter den Voraussetzungen der Notwehr gerechtfertigt. Beim vorgetäuschten Angriff wird im Ergebnis die Erforderlichkeit der Abwehr bejaht, soweit die Erforderlichkeit aufgrund eines exante-Urteils bestimmt wird,65 oder die „äußerliche Gefährlichkeit des Verhaltens“ als maßgeblicher Bezugspunkt der Notwehrhandlung angesehen wird.66 Soweit ein Angriff im Sinne des § 32 StGB abgelehnt wird, erfolgt eine Rechtfertigung des Provozierten über § 34 StGB.67 Auch ein „sozialethisch missbilligenswertes Vorverhalten“ begründet keine Einschränkung oder gar eine Versagung des Notwehrrechts. – Zwar postuliert der BGH eine Einschränkung des Notwehrrechts im Falle sozialethisch zu beanstandenden Vorverhaltens.68 Er geht davon aus: „Ein für den Umfang des Notwehrrechts bedeutsames Vorverhalten, das ,von Rechts wegen vorwerfbar‘ ist (…) liegt jedenfalls auch dann vor, wenn dieses Verhalten seinem Gewicht nach einer schweren Beleidigung gleichkommt.“69 Das aber überzeugt nicht. Schon die Abgrenzung des rechtmäßigen vom sozialethisch zu missbilligenden Verhalten bleibt unbestimmt, da klare Kriterien für diese Abgrenzung nicht auszumachen sind, und auch der Vergleich mit der schweren Beleidigung erhellt keineswegs, wann ein strafwürdiges und strafbares Verhalten im Gewicht einem nur sozialethisch zu beanstandendem Verhalten gleichkommt.70 Damit verbleiben als relevante Fälle der Absichtsprovokation die Situationen übrig, in denen der Provokateur durch rechtswidriges Verhalten den Provozierten zu einem Angriff verleitet, obwohl der in dem rechtswidrigen Verhalten liegende An64
Kühl (Fn. 32), § 7 Rn. 215. Dazu Amelung, Jura 2003, 91; Born, Die Rechtfertigung der Abwehr vorgetäuschter Angriffe, 1984, S. 151; Lackner/Kühl (Fn. 26), StGB, § 32 Rn. 19; Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 46; Schröder, JuS 2000, 235; Schroth, FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 609. 66 Dazu BGH NStZ 2003, 600 mit Anm. Otto, JK 2004, StGB § 32/28. 67 Vgl. Otto (Fn. 18), § 8 Rn. 212. 68 BGHSt 42,97 zust. Kühl, StV 1997, 298; krit. Krack, JR 1996, 468; Lesch, JA 1996, 833. – BGH NJW 2003, 1955, 1958; zust. Trüg, JA 2004, 272 f.; krit. Roxin, JZ 2003, 967 f.; Zaczyk, JuS 2004, 753 f. – BGH NStZ 2006, 332; zust. Bosch, JA 2006, 490; krit. Roxin, StV 2006, 236; Satzger, JK 2006, StGB § 32/30. 69 BGHSt 42, 97, 101. 70 Dazu auch Hirsch, FG BGH, 204; Krack, JR 1996, 468; Jäger (Fn. 50), Rn. 122; Krey (Fn. 49), Rn. 514; Otto, JK 1997, StGB § 32/22 und 24; LK-StGB/Rönnau/Hohn (Fn. 60), § 32 Rn. 255; Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 73. – A.A. Kühl, FS Bemmann, 1997, S. 199 f.; Schünemann, JuS 1979, 279; Wessels/Beulke (Fn. 41), Rn. 268. 65
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griff bereits beendet ist, oder aber sich dieses Verhalten aufgrund seiner Eigenart nicht als gegenwärtiger rechtswidriger Angriff darstellt. Doch bedarf es auch hier noch einer weiteren Einschränkung der Fallgruppen. Zum einen gilt das für die Situation, dass der Provozierte über die vom Provokateur durch den Angriff eingeplante Verletzung wesentlich hinausgeht. Da dieses Maß des Angriffs vom Provokateur nicht eingeplant war, liegt insoweit keine Absichtsprovokation vor. Die Situation ist nach den Grundsätzen der bewusst durch rechtswidriges Handeln herbeigeführten Notwehrsituation zu beurteilen; dazu weiter unter VI. – Zum anderen muss sich die Notwehrlage als adäquate Folge der Provokation darstellen und zwischen dem Vorverhalten und dem Angriff muss ein enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang bestehen, „weil die Abwehr nur in diesem Fall, gemessen am vorangegangenen eigenen Unrecht und noch in dessen Zeichen stehend, in einer Weise diskreditiert ist, dass sie nicht mehr uneingeschränkt als Mittel der Rechtsbewährung angesehen werden kann“.71 bb) Die Versagung des Notwehrrechts in den Fällen der Absichtsprovokation wird von der h. M. mit dem Hinweis auf einen Rechtsmissbrauch und den lediglich vorgetäuschten Verteidigungswillen begründet, doch wirft diese Argumentation erhebliche Zweifelsfragen auf. Die Behauptungen, der Täter handele rechtsmissbräuchlich, weil er einen Verteidigungswillen vortäusche, in Wirklichkeit aber angreifen wolle,72 die Verteidigung im Falle der Absichtsprovokation sei nur ein Vorwand,73 oder der Provozierte solle unter dem „Deckmantel“ der Notwehr verletzt werden,74 halten kritischer Betrachtung nur bedingt stand. Wird nämlich beim Verteidigungswillen lediglich vorausgesetzt, dass der Verteidiger in Kenntnis der Notlage handelt und das Erfordernis eines weitergehenden Verteidigungswillens dahin, dass der Täter durch sein Verteidigungsinteresse motiviert sein müsse, abgelehnt,75 so ist der Verteidigungswille gegeben, wenn der Täter die objektive Verteidigungslage kennt. Unter dieser Voraussetzung hat die Redeweise vom „vorgetäuschten Verteidigungswillen“, vom Vorwand der Verteidigung oder 71 Schönke/Schröder/Perron (Fn. 15), StGB, § 32 Rn. 59. – Vgl. auch BGH StV 1996, 87 f.; Jäger (Fn. 50), Rn. 122; Jakobs (Fn. 43), 12/54; Kühl (Fn. 50), § 7 Rn. 226; ders., FS Bemmann, 1997, S. 200; Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 73; Schröder, JuS 1973, 160. – A.A. Lesch, JA 1996, 834: adäquat ist es, der Provokation zu widerstehen. 72 Dazu BGH NJW 1983, 2267; BGH NJW 2001, 665; BGH NStZ 2003, 425, 427; BGH NStZ-RR 2011, 305. 73 Dazu Bitzilekis, Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts, 1984, S. 149. 74 Dazu Wessels/Beulke (Fn. 41), Rn. 340. 75 So MK-StGB/Erb, 2. Aufl. 2011, § 32 Rn. 241; Freund (Fn. 63), § 3 Rn. 20; Frisch, FS Lackner, 1987, S. 135 ff.; Gallas, FS Bockelmann, 1979, S. 176 Fn. 56; Kühl (Fn. 32), § 6 Rn. 11a; ders., Jura 1993, 234; Lackner/Kühl (Fn. 26), StGB, § 32 Rn. 6; Otto (Fn. 18), § 8 Rn. 52 f.; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 15), StGB, § 32 Rn. 63: Prittwitz, GA 1980, 384; LK-StGB/Rönnau/Hohn (Fn. 60), § 32 Rn. 266; Roxin (Fn. 6), § 14 Rn. 97 m. N.; Schünemann, GA 1985, 371; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 32), § 9 Rn. 147 ff.
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vom Deckmantel der Notwehr keine Berechtigung. Doch auch wenn man einen eigenständigen Verteidigungswillen neben der Kenntnis der Verteidigungssituation fordert,76 ändert sich die Beurteilung nicht, da der Verteidigungswille nicht das einzige Motiv sein muss, es dem Provokateur aber auch darauf ankommt, keine Verletzungen zu erleiden. Differenzierter stellt sich die Einschränkung der Notwehr unter Berufung auf das Rechtsmissbrauchsprinzip dar. Dieses ist in der Rechtsprechung zuerst vom BayObLG eingehend begründet worden: „Allein dem das geltende Notwehrrecht beherrschenden Grundsatz, das Recht braucht niemals und unter keinen Umständen dem Unrecht zu weichen, ist die allgemeine Grenze gesteckt, daß die Ausübung von Rechten und rechtlichen Befugnissen nicht rechtsmißbräuchlich sein darf. Die Anwendbarkeit der aus den §§ 826, 242 BGB entwickelten Rechtsmißbrauchslehre, die jeglichem Recht seine Schranke an den Geboten der guten Sitten und von Treu und Glauben setzt, beschränkt sich nicht auf das bürgerliche Recht. Wie die Ausübung jeden Rechts und jeder rechtlichen Befugnis, mögen sie nun dem bürgerlichen oder dem öffentlichen Recht im weiteren Sinne zuzurechnen sein, ihre Grenzen an der Mißbräuchlichkeit findet, darf auch ihre Verteidigung in Notwehr diese Grenzen nicht überschreiten, gleichviel ob die Geltendmachung der Notwehr begrifflich als die Ausübung eines förmlichen Rechts oder nur einer rechtlichen Befugnis zum Schutz von Rechten oder Rechtsgütern zu werten ist. Die verteidigungsweise Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs ist aber, auch wenn das Abwehrmittel und die Stärke der Abwehr nach der Stärke des Angriffs erforderlich sind, ebenso wie auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts auch auf dem des Strafrechts rechtsmißbräuchlich, wenn und soweit nach dem an den Geboten der guten Sitten und von Treu und Glauben auszurichtenden Rechtsempfinden ein unerträgliches Mißverhältnis zwischen dem Wert und der Gefährdung des zu schützenden und dem Wert und der Schädigung des durch die Abwehr zu verletzenden Rechtsgutes besteht.“77
Der BGH hat sich im Wesentlichen mit dem Hinweis begnügt, dass für den Notwehrtatbestand der allgemeine Rechtsgrundsatz, der jeden Missbrauch des Rechts untersage, gelte.78 Der Rechtsmissbrauch wird festgestellt, aber nicht begründet.79 – Auch in der Literatur bleibt die Konkretisierung des Rechtsmissbrauchsgedankens vage.80 Hingewiesen wird hingegen darauf, dass das Missbrauchsprinzip „nur dazu dient, anderweitig für richtig gehaltene Ergebnisse juristisch zu formulieren“81. Auch Neumann, der dem Missbrauchsprinzip als einer dogmatischen Regel „zweiter 76 Vgl. BGH NStZ 1983, 117; BGH NStZ 1983, 500; BGH NStZ 1996, 26 mit Anm. Otto, JK 1996, StGB § 32/21; BGH NStZ 2007, 325 mit Anm. Satzger, JK 2007, StGB § 32/31; Fischer, StGB, § 32 Rn. 25; Geilen, Jura 1981, 310; Jescheck/Weigend (Fn. 20), § 32 II 2 a; Krey (Fn. 49), Rn. 411; NK-StGB/Paeffgen, 3. Aufl. 2010, Vor § 32 Rn. 101. 77 BayObLGSt 1954, 65. 78 BGH LM Nr. 3 zu § 53 StGB. 79 Eingehend dazu Otto, FS Würtenberger, 133 ff. 80 Dazu Otto (Fn. 18), § 8 Rn. 72 m. N. 81 Naucke, FS Mayer, 1966, 572; dazu auch Hirsch, FS Dreher, 1977, S. 217 Fn. 23; Roxin, ZStW 93 (1981), 78.
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Stufe“ Bedeutung geben will,82 gesteht zu, dass es sich bei dem Rechtsmissbrauchsprinzip zunächst um ein argumentatives Schema handelt, das die Richtung der Argumentation bezeichnet, aber selbst kein hinreichend substantiiertes Argument beinhaltet.83 – Das trifft den derzeitigen Diskussionsstand zutreffend. Inhalt und Bedeutung des Rechtsmissbrauchsprinzips in den hier relevanten Problemstellungen bedürfen der Konkretisierung; dazu weiter unter IV. 2. – 3. b) Die Einschränkung der Notwehr unter sozialethischen Aspekten Wenig überzeugt es hingegen, den Provokateur aus sozialethischen Gründen zum Ausweichen oder zur Hinnahme leichter Beeinträchtigungen zu verpflichten, ihm aber dann, wenn ein Ausweichen nicht oder nur unter erheblichen Risiken möglich ist, das Notwehrrecht zu belassen, weil dem Provokateur sonst „im praktischen Ergebnis eine Pflicht zur Duldung eines rechtswidrigen Angriffs auferlegt würde“84. – Nimmt man das Erfordernis ernst, dass der Angriff sich als adäquate Folge der rechtswidrigen Provokation darstellen muss, so ist der Angriff in vollem Umfang die Reaktion, die der Provokateur planmäßig herbeiführen wollte. Auf die fehlende Fluchtmöglichkeit kann er sich deshalb nicht berufen, weil er sie absichtlich eingeplant hat.85 c) Die Einschränkung der Notwehr nach den Grundsätzen der actio illicita in causa Konstruktiv gleichfalls nicht überzeugend ist es, unter Rückgriff auf die Rechtsfigur der actio illicita in causa, dem Provokateur das Notwehrrecht zu belassen, ihn aber wegen schuldhafter Herbeiführung der Notwehrlage als vorsätzlichen Täter des von ihm verursachten Erfolges zu bestrafen. Mit Recht macht Roxin hier geltend, dass diese Konstruktion zu der Annahme nötige, dass ein und dieselbe Handlung sowohl rechtmäßig als auch rechtswidrig sei, wenn z. B. der Provokateur den Provozierten absichtlich erschießt: Rechtmäßig als Notwehr gegen den Angriff des Provozierten, rechtswidrig als Vollendung eines vorsätzlichen Tötungsdelikts.86 2. Die rechtswidrig und schuldhaft herbeigeführte Notwehrlage Nach h. M. ist die Notwehrbefugnis des Angegriffenen auch dann grundsätzlichen Einschränkungen unterworfen, wenn er die Notwehrlage nicht absichtlich her82
Neumann (Fn. 15), S. 142 ff., S. 178. Neumann (Fn. 15), S.158. 84 Schönke/Schröder/Perron (Fn. 15), StGB, § 32 Rn. 57. 85 Dazu Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 67; ders., ZStW 93 (1981), 86 f. 86 Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 68; ders., ZStW 93 (1981), 91 f. – Vgl. auch Bizilekis (Fn. 73), S. 153 ff.; Bockelmann, FS Honig, 26 f.; MK-StGB/Erb (Fn. 75), § 32 Rn. 229; Hirsch, FG BGH, 205; Jäger (Fn. 50), Rn. 122; Kretschmer, Jura 2012, 193; Kühl (Fn. 32), § 7 Rn. 243; Otto (Fn. 18), § 8 Rn. 83; Werle, JuS 1986, 904. 83
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beigeführt hat, sondern deren Eintritt lediglich vorausgesehen hat oder hätte voraussehen können. Die hier maßgeblichen Grundsätze hat der BGH dahin zusammengefasst: „Der Senat hält allerdings daran fest, daß die rechtswidrige und schuldhafte, auch vorsätzliche Provokation der Notwehrlage dem Betroffenen das Notwehrrecht nicht vollständig und nicht zeitlich unbegrenzt nimmt (…). Doch werden an den Täter, der sich auf Notwehr berufen will, um so höhere Anforderungen im Hinblick auf die Vermeidung gefährlicher Konstellationen gestellt, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der Notwehrlage wiegt. Wer unter erschwerenden Umständen die Notwehrlage provoziert hat, muß unter Umständen auf eine sichere erfolgversprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, daß ein minder gefährliches Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen hat.“87
Unter der Voraussetzung einer schuldhaften und rechtswidrigen Vorhandlung überzeugt es durchaus im Ergebnis, die Verteidigungsrechte dessen einzuschränken, der sich in Folge seines Verhaltens nunmehr in einer Notwehrsituation befindet. Das Rechtsbewährungsinteresse ist ein anderes, und zwar ein geringeres, als es bei einem Angriff gewesen wäre, zu dem der Verteidiger keine rechtswidrige Veranlassung gegeben hätte.88 Die genauere Bestimmung der Einschränkungen, die den Verteidiger treffen, wird von der h. M.89 nach der vom BGH90 begründeten sog. Drei-Stufen-Theorie getroffen. Daneben finden sich aber auch hier – in modifizierter Form – die Lösungsansätze, die bereits bei der Absichtsprovokation vorgeschlagen wurden: die actio illicita in causa und sozialethisch begründete Notwehreinschränkungen.91 Die Einwände bleiben aber die Gleichen, wie auch die Vorbehalte gegen die Zuerkennung unbeschränkter Notwehr. Und auch die Drei-Stufen-Theorie lässt argumentative Fragen – vergleichbar denen beim Rechtsmissbrauch – offen. Anknüpfungspunkt kann zwar das „Gebotensein“ der Notwehr sein,92 doch mehr als ein Hinweis auf auch vom Gesetzgeber erkannte Einschränkungsmöglichkeiten ist diesem Anknüpfungspunkt nicht zu entnehmen. 87
BGHSt 39, 374, 379; vgl. auch BGH NStZ 2002, 205 f.; BGH NStZ-RR 2011, 305. Vgl. auch Otto (Fn. 18), § 8 Rn. 98; Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 69; ders., ZStW 93 (1981), 87 f.; Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 11. 89 Vgl. z. B. Jäger (Fn. 50), Rn. 122; Kühl (Fn. 32), § 7 Rn. 258 ff.; Schönke/Schröder/ Perron (Fn. 15), StGB, § 32 Rn. 60; LK-StGB/Rönnau/Hohn (Fn. 60), § 32 Rn. 256; Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 69 f; ders., ZStW 93 (1981), 88; Rudolphi, JR 1991, 211; Schünemann, GA 1985, 369; Wessels/Beulke (Fn. 41), Rn. 348. – Mit Bezug auf § 34 StGB: Otto (Fn. 18), § 8 Rn. 81; mit Bezug auf § 228 BGB: Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 376 ff.; Jakobs (Fn. 43), 12/53; Kindhäuser, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, § 16 Rn. 54; Schroeder, FS Maurach, 1972, S. 127 ff. 90 Dazu im Einzelnen BGHSt 24, 356, 358 f.; 26, 143, 145 f.; 26, 256, 257; BGH NStZ 1888, 269 f. 91 Im Eimzelnen dazu Kühl (Fn. 32), § 7 Rn. 254 ff. 92 Dazu Jäger (Fn. 50), Rn. 122; Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 69. 88
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In der Sache hingegen erscheint die Drei-Stufen-Theorie weitgehend konsensfähig zu sein, jedenfalls soweit auf ein rechtswidriges Vorverhalten abgestellt wird. Danach gilt: - Stufe 1: Ist demjenigen, der die Notwehrsituation durch rechtswidriges Vorverhalten herbeigeführt hat, ein Ausweichen möglich oder kann er fremde Hilfe herbeirufen, so muss er von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen. - Stufe 2: Sind diese Möglichkeiten nicht gegeben, wohl aber eine abwehrende hinhaltende Verteidigung (Schutzwehr), so muss er sich auf diese beschränken, selbst wenn er dabei das Risiko geringerer Beeinträchtigungen oder Verletzungen eingeht. - Stufe 3: Versagt die Schutzwehr oder verspricht sie in der konkreten Situation keinen Erfolg, so darf eine Verteidigung, die den Angriff beendet, im erforderlichen Maß geübt werden. Ausweichen, Schutz- und Trutzwehr sind danach situationsbedingt gestuft erforderlich bzw. zulässig.93 Zwar hat der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahre 2000 die Drei-StufenTheorie selbst in Frage gestellt,94 indem er nach rechtswidrigem Vorverhalten eine Haftung für den Eintritt des späteren Verletzungserfolges nach Fahrlässigkeitsgrundsätzen anerkannte. Das entspricht durchaus den Grundsätzen der actio illicita in causa, die der BGH allerdings in dieser und in andren Entscheidungen ablehnt. Die Drei-Stufen-Theorie sollte offenbar nicht preisgegeben werden.95
IV. Die Konkretisierung des Rechtsmissbrauchsgedankens 1. Rechtsgefühl und Rechtsmissbrauch Über die Vielfalt der Konstruktionen hinweg, die dem Vorverschulden Bedeutung für die rechtliche Beurteilung der Folgetat beimessen, fallen bei einer Gesamtbetrachtung der Auseinandersetzung zwei Eigentümlichkeiten ins Auge. Zum einen wird der offene Rekurs auf das Rechtsgefühl nicht gescheut, sondern im Gegenteil
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Dazu im Einzelnen Kühl (Fn. 32), § 7 Rn. 258 ff.; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 15), StGB, § 32 Rn. 59; LK-StGB/ Rönnau/Hohn (Fn. 60), § 32 Rn. 256; Roxin (Fn. 6), § 15 Rn. 70. 94 BGH NStZ 2001, 143, 145; dazu Eisele, NStZ 2001, 416; Engländer, Jura 2001, 534; Hruschka, ZStW 113 (2001), 870; Jäger (Fn. 50), JR 2001, 512; Mitsch, JuS 2001, 751; Roxin, JZ 2001, 667. 95 Vgl. auch MK-StGB/Erb (Fn. 75), § 32 Rn. 228; Hruschka, ZStW 113 (2001), 880 ff.; Kühl (Fn. 32), § 7 Rn. 255a; Puppe, Strafrecht, AT 1, 2002, § 28 Rn. 19 ff.; LK-StGB/Rönnau/Hohn (Fn. 60), § 32 Rn. 257. – Keinen Widerspruch zur Ablehnung der actio illicita in causa erkennt Kretschmer, Jura 2012, 193, in der Entscheidung des BGH.
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versucht, diesem rechtliche Relevanz zuzuweisen.96 Zum anderen offenbart die Betrachtung z. T. verblüffende Widersprüche, indem z. B. die auf den Rechtsmissbrauch gestützte Argumentation bei der Begründung des Ausnahmemodells im Rahmen der actio libera in causa unter Hinweis auf Art. 103 Abs. 2 GG und auf das damit geltende Verbot des Gewohnheitsrechts vehement verworfen wird, während die auf den Rechtsmissbrauch gegründete Einschränkung des Notwehrrechts mit gleichem Eifer akzeptiert, wenn nicht sogar verteidigt wird. Hier zeigen sich Argumentationsmuster, die jeweils auf eine bestimmte Problemstellung hin in isolierter Sicht entworfen und durchgesetzt wurden. – Gegen den Gedanken des Rechtsmissbrauchs spricht das aber nicht. 2. Rechtsgebrauch und Rechtsmissbrauch Folgt man der Logik der Sprache, so erscheint es eindeutig, dass ein Recht dem Rechtssubjekt zugeschrieben sein muss, wenn dieses es missbrauchen kann. Hindert das Vorverhalten bereits die Zuschreibung des Rechts, so kann dieses weder missbraucht noch verwirklicht werden. Ist das Recht aber einmal in der Person des Rechtssubjekts entstanden, so kann dieses das Recht nicht wegen eines Umstands verlieren, der dem rechtsbegründenden Ereignis vorangeht.97 Gleichwohl führt diese Überlegung an der Problematik vorbei. Es geht nicht darum, ob das Recht gegeben ist oder nicht, sondern es geht um Voraussetzungen, die – gleichsam als weitere Voraussetzungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des Rechts – die Möglichkeit begrenzen, ein bestehenden Recht auszuüben: Die Inanspruchnahme einer formal gegebenen Rechtsposition wird unter bestimmten Voraussetzungen beschränkt. Das Verbot des Rechtsmissbrauchs verhindert nicht das Entstehen eines Rechts und führt auch nicht zu seiner Vernichtung, es begrenzt aber die Möglichkeiten seiner Ausübung. Vergleichbar ist die Situation der Beschränkung des Eigentumsrechts durch das Gemeinwohl gemäß Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG. Das in Art. 14 Abs. 1 GG gewährte Eigentumsrecht wird nicht vernichtet oder in seinem Inhalt gewandelt, sondern das Eigentumsrecht wird in seinem Gebrauch beschränkt. Die gleiche Situation liegt vor bei der Begrenzung der Rechtsausübung durch den Rechtsmissbrauch. Der Täter kann nicht geltend machen, er habe lediglich sein Recht ausgeübt, weil er in dieser konkreten Ausübung des Rechts gerade eingeschränkt war. Das meint die Redeweise, dass dem Täter die Berufung auf sein Recht versagt ist.98
96 Vgl. LK-StGB/Jähnke (Fn. 8), § 20 Rn. 76; Kühl (Fn. 32), § 11 Rn. 8; Roxin (Fn. 6), § 20 Rn. 56; LK-StGB/Schöch (Fn. 9), § 20 Rn. 194. 97 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 117; Krause, FS Bruns, 1978, S. 79. Neumann (Fn. 15), S. 159. 98 Dazu auch Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 421; Kühl (Fn. 32), § 11 Rn. 9; Neumann (Fn. 15), S. 589 ff.
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3. Einzelne Konstellationen des Rechtsmissbrauchs Das Zivilrecht arbeitet nicht schlechthin mit dem Begriff des Rechtsmissbrauchs, wohl aber regelt es einzelne Konstellationen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens, so z. B. in §§ 226, 242, 826 BGB und auch in § 817 S. 2 BGB, in dem das sog. Schändlichkeitsprinzip: „Nemo auditur turpidinem suam allegans“,99 seinen Niederschlag gefunden hat.100 4. Der Grundsatz: Nemo auditur turpitudinem suam allegans Dieser historisch überkommene und nicht nur im deutschen, sondern auch im europäischen Recht101 anerkannte Rechtsgrundsatz102 gilt nicht aufgrund einer Analogie oder eines Gewohnheitsrechts, sondern er stellt eine allgemein im Recht geltende Zurechnungsregel dar, die vom Gesetzgeber vorausgesetzt wird und deren Konkretisierung im Einzelfall Aufgabe von Lehre und Rechtsprechung ist.103 Dass einzelne Konstellationen dieses Grundsatzes bereits eine Regelung im Gesetz gefunden haben, wie z. B. in §§ 17, 35 StGB, steht dem nicht entgegen,104 denn diese Regelungen gehen weit über den Rechtsgrundsatz hinaus, auch wenn sie ihn in einem Teilbereich umfassen. Die Problematik vorausgesetzter Zurechnungsregeln, die im Einzelfall aber der Konkretisierung bedürfen, ist im Strafrecht bekannt und vielfach anerkannt. Wenn z. B. bei der Erfolgszurechnung der Erfolgsdelikte ein Regressverbot oder eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs erörtert wird, so gibt es viele gute Gründe für und gegen diese Institute und gleichfalls gute Gründe für ihre Begrenzung oder Ausdehnung. Dass diesen Instituten aber das Analogieverbot oder das Verbot gewohnheitsrechtlicher Begründung von Straftaten entgegensteht, wird mit Recht nicht erörtert. Gleiches gilt für die Diskussion über die Anerkennung und die Grenzen des dolus eventualis oder die Akzeptanz zivil- oder öffentlich-rechtlicher Rechtfertigungsgründe im Strafrecht. 99
Bereits Cod. Just. Glossa magis ad D 2, 4, 20; ähnlich Ulpian, 50, 17, 161. Ausführlich dazu Niederländer, FS Gutzwiller, 1959, S. 621 ff. 101 Dazu Niederländer, FS Gutzwiller, 626 ff. 102 Zutreffend bezeichnet Paeffgen, ZStW 97 (1985), 523 f., die Unmaßgeblichkeit von erschlichenen Rechtspositionen als „nachgerade naturrechtliches Gemeingut der Rechtsordnungen“. – Dem Grundsatz kommt nämlich nicht nur Bedeutung bei der Zurechnung von Vorverschulden zu, sondern z. B. auch bei der Zurechnung alternativer Erfolgsverursachung. Wenn z. B. Kindhäuser – GA 2012, 148 – darauf hinweist, dass es nach Maßgabe einer normativ geordneten Welt unzulässig ist, sich auf eine alternative Erfolgszurechnung durch eigenes rechtswidriges Verhalten zu berufen, so ist das richtig. Dem steht der „Schändlichkeitsgrundsatz“ entgegen. 103 Vgl. Jähnke, FS BGH, 404; Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 421; Otto (Fn. 18), § 13 Rn. 25 f.; ders., Jura 1986, 431; Neumann, FS Arthur Kaufmann, 593. 104 Zur Gegenansicht Schönke/Schröder/Perron (Fn. 15), StGB, § 20 Rn. 35a m. N. 100
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Die Anerkennung und die Geltung des Rechtsmissbrauchsgedankens stehen dem nicht nach.105 Auch hier geht es um die Grenzen der Zurechnung bestimmter Verhaltensweisen. Die Problematik des Rechtsmissbrauchs liegt daher nicht in seiner grundsätzlichen Geltung und Anerkennung, sondern in seiner Unbestimmtheit, die der Konkretisierung bedarf. Der im Schändlichkeitsprinzip konkretisierte Gedanke des Rechtsmissbrauchs ist uneingeschränkt wirksam auf der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- und Schuldebene. Er ermöglicht in bestimmten Fällen die Zurechnung sozialen Verhaltens aufgrund sog. Vorverschuldens. Allerdings kann eine rechtlich relevante Schändlichkeit noch nicht mit dem bewussten Ausschluss der Schuldfähigkeit, der Handlungsmöglichkeit, der Handlungsfähigkeit oder mit der bewussten Schädigung eines anderen begründet werden. Nicht der Entschluss, einen anderen zu schädigen, noch die Herbeiführung eines Zustands fehlender Verantwortung als solche begründen den Vorwurf schändlichen Verhaltens, denn diese Verhaltensweisen sind – isoliert gesehen – in der Regel nicht einmal strafwürdig.106 Der Vorwurf schändlichen Verhaltens ist erst dann begründet, wenn der Täter seinen Defekt bewusst herbeigeführt und bereits bei der Herbeiführung des Defekts den Plan, ein Delikt zu verwirklichen, gefasst hat. Der doppelte Vorsatz begründet die Schändlichkeit der Tat und legitimiert es – wie Wolfgang Frisch im Hinblick auf die Vorsatzschuld überzeugend nachgewiesen hat107 – die deutlichen Defizite der Verantwortung im Tatzeitpunkt durch eine qualitativ und strukturell vergleichbare Verantwortung im Vorfeld zu kompensieren, bzw. dem Täter die Berufung auf diese Defizite mit Blick auf die Nichtausnutzung vergleichbarer Vermeidemacht und im Vorfeld selbst getroffener Entscheidungen zu versagen. Bei der Einschränkung der Notwehr kommt ein Weiteres hinzu. Der die Verteidigungslage auslösende Angriff ist nicht das alleinige Werk des Angreifers. Auch wenn der Angreifer zu der Tat durch den Verteidiger provoziert wurde, so ist der Angriff doch auch sein, von ihm zu verantwortendes Werk. In dieser Situation ist es angemessen, dem Verteidiger, der den Angriff absichtlich provoziert hat, die Ausübung des Notwehrrechts zu untersagen. Er kann sich zu seinen Gunsten nicht darauf berufen, dass genau das eingetreten ist, was er mit seinem rechtswidrigen Verhalten bezweckt hat. Doch schon bei der nur vorsätzlichen Provokation verschieben sich die Verantwortungssphären. Die Situation spricht für eine geteilte Verantwortung, denn das rechtswidrige Verhalten des Angreifers ist bei der Verantwortungszuweisung mitzugewichten. Dieser Differenzierung ist mit der Anwendung des Schändlichkeitsgrundsatzes nicht gerecht zu werden.
105 Vgl. auch BGHSt 39, 381, 387; Jähnke, FS BGH, 404; Stöckel, Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht, 1966, S. 105. 106 Dazu bereits Otto, Jura 1986, 431. 107 Frisch, ZStW 101 (1989), 572.
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V. Das Fehlen des Doppelvorsatzes in den Fällen des Verantwortungsausschlusses Wenn der Täter seine Verantwortung (Schuld, Handlungsfähigkeit, Handlungsmöglichkeit) vorsätzlich oder fahrlässig ausschließt und dabei in fahrlässiger Weise nicht bedenkt oder nicht damit rechnet, dass er im Defektzustand eine bestimmte Straftat verwirklichen werde, und er im Zustand des Verantwortungsausschlusses dann die vorsätzliche oder fahrlässige Straftat begeht, wird von Verteidigern der actio libera in causa und der omissio libera in causa z. T. eine diesen Instituten entsprechende Fahrlässigkeitshaftung begründet.108 Auf der Basis des hier als Grundgedanken der Versagung der Berufung auf den Verantwortungsausschluss herausgestellten Schändlichkeitsprinzips ist eine Zurechnung fahrlässigen Verhaltens ausgeschlossen. Der Vorwurf schändlichen Verhaltens aufgrund dessen dem Täter die Berufung auf den Defektzustand versagt wird, setzt nicht nur die bewusste Herbeiführung des Defektzustandes voraus, sondern auch die Planung der Tat im verantwortlichen Zustand. – Das ist jedoch kein Mangel, denn eine besondere, der der Tatverwirklichung mit doppeltem Vorsatz entsprechende Konstruktion ist hier überflüssig.109 Die fahrlässige Erfolgszurechnung beruht auf der Überlegung, dass dem Täter ein Erfolg als sein Werk zuzurechnen ist, weil er sorgfaltspflichtwidrig und vorhersehbar jene Gefahr über das erlaubte Maß hinaus für ein Rechtsgut begründet oder erhöht hat, die sich im Erfolg realisiert hat. Da der Versuch des Fahrlässigkeitsdelikts nicht möglich ist, besteht keine Notwendigkeit, die Fahrlässigkeitstat in Vorbereitungshandlung, Versuch und Vollendung aufzuspalten. Hier erweist sich die Berechtigung der – im Hinblick auf die Affekttat – von Wolfgang Frisch erhobenen Forderung, für jene „Begehung der Tat“, deren Bestrafung Verantwortung voraussetzt, auch schon das Verhalten ausreichen zu lassen, das zu unterlassen oder zu modifizieren der Täter im Interesse der Vermeidung der Tat gehalten ist.110 Das allerdings erfordert auch hier eine Begrenzung des relevanten Vorverhaltens, d. h. der Herbeiführung des Defektzustandes auf den der Deliktsverwirklichung vorgelagerten Bereich, in dem der Täter die konkrete Gefahr gesehen hat oder hätte sehen können, dass er aufgrund des Defektzustands nicht in der Lage sein wird, den Anforderungen der Rechtsordnung zu genügen. Mit der pflichtwidrigen Herbeiführung des Defektzustands beginnt dann das Fahrlässigkeitsdelikt.
108 Dazu Kühl (Fn. 32), § 17 Rn. 95a; Roxin (Fn. 6), § 20 Rn. 59; Wessels/Beulke (Fn. 41), Rn. 420. 109 Vgl. auch BGHSt 40, 341, 343; 42, 235, 236; Horn, GA 1969, 289; Neumann, StV 1997, 24; Otto (Fn. 18), § 13 Rn. 32 f.; ders., Jura 1986, 433; Neumann, StV 1997, 24; Paeffgen, ZStW 97 (1985), 524 ff.; Puppe, JuS 1980, 350; Ranft, JA 1983, 195; Roxin, FS Lackner, 312; MK-StGB/Streng (Fn. 26), § 20 Rn. 148; Satzger, Jura 2006, 516; Wessels/ Beulke (Fn. 41), Rn. 421. 110 Frisch, ZStW 101 (1989), 608.
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VI. Die rechtswidrig herbeigeführte Notwehrlage Da der Angreifer in der rechtswidrig durch den nunmehrigen Verteidiger herbeigeführten Notwehrlage den Angriff durchaus auch zu vertreten hat, kann für eine strafrechtliche Haftung nicht unmittelbar auf das „rechtswidrige Vorverhalten“ zurückgegriffen werden, wohl aber auf die Grundsätze, die das Notwehrrecht prägen. Das sind zum einen der Gedanke, dass in der Notwehrsituation das Recht nicht dem Unrecht zu weichen braucht, sowie zum anderen das Rechtsbewährungsinteresse, das sich darin verwirklicht, dass der Verteidiger in der Notwehrsituation mehr als sein eigenes Gut verteidigt. Er verteidigt stets auch die faktische Geltung der Rechtsordnung. Als Verteidiger der Rechtsordnung ist aber derjenige untauglich, der die Notwehrsituation durch rechtswidriges Verhalten ausgelöst hat. Er tritt dem Angreifer nicht als unbefangener Verteidiger seines individuellen Rechtsguts und der Rechtsordnung gegenüber. Ihm kann aber auch nicht jede Möglichkeit der Verteidigung seines Rechtsguts genommen werden. Die mögliche Rechtfertigung ist im Rahmen des § 34 StGB zu finden. Innerhalb der dort erforderlichen Gesamtwürdigung ist das Vorverhalten mit zu berücksichtigen. Diese Wertung, der die Drei-Stufen-Theorie des BGH durchaus gerecht wird, ist aus dem Wortlaut des § 32 StGB nicht herzuleiten. Auch der Verweis auf das Gebotensein der Notwehr bleibt zu farb- und inhaltslos. Wohl aber umreißt § 34 StGB den hier nötigen und sachgerechten Rahmen.
VII. Ergebnis Das Ergebnis der Überlegungen lässt sich kurz zusammenfassen: Der Gedanke des Rechtsmissbrauchs, konkretisiert im Schändlichkeitsgrundsatz, legitimiert eine Bestrafung des Täters, der sich vorsätzlich in einen die Verantwortung ausschließenden Defekt (Schuldunfähigkeit, Handlungsunfähigkeit, Handlungsunmöglichkeit) versetzt hat und sich in diesem Zeitpunkt bereits der Begehung einer Straftat in defektem Zustand bewusst war. – In anderen Fallkonstellationen kommt eine Fahrlässigkeitshaftung in Betracht. In der Notwehrsituation ist dem Täter die Berufung auf diese Situation versagt, wenn er die Notwehrsituation absichtlich herbeigeführt hat, um den Angreifer schädigen zu können. In anderen Fällen einer durch rechtswidriges Vorverhalten schuldhaft ausgelösten Notwehrsituation hat eine Interessenabwägung gemäß § 34 StGB zu erfolgen. Dieser wird in der Sache die Drei-Stufen-Theorie des BGH gerecht.
Der im Vorbereitungsstadium ausscheidende Mittäter Von Claus Roxin
I. Einführung Im Gesetz ist nicht geregelt, wie jemand zu behandeln ist, der an einem gemeinsamen – mittäterschaftlichen – Tatentschluss beteiligt ist, aber im Vorbereitungsstadium ausscheidet. Denn § 24 Abs. 2 StGB regelt den Rücktritt bei Beteiligung mehrerer nur für den Fall, dass die Tat ins Versuchsstadium gelangt ist. Man spricht deshalb besser auch von einer „Abstandnahme“1 der sich von der Tat zurückziehenden Mittäter, weil es sich nicht um einen Rücktritt im Sinne des Gesetzes handelt. Unstrittig straflos ist freilich der im Vorbereitungsstadium von der Tat Abstandnehmende, wenn sein Ausscheiden das Unterbleiben der Tat nach sich zieht. Denn es fehlt dann nicht nur an einer strafbaren Ausführungshandlung, sondern auch die etwaige Strafbarkeit einer Verabredung entfällt nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 StGB wegen Verhinderung der Tat.2 Wie aber, wenn der andere oder mehrere weitere Mittäter die Tat ohne den Ausscheidenden zu Ende führen? Die Frage ist heillos umstritten, und zwar in der Rechtsprechung wie in der Lehre. Auch Rengier3 betont, die Diskussion leide „an einer gewissen Unübersichtlichkeit“. Es sollen deshalb erst einmal in aller Kürze die verschiedenen Lösungsansätze skizziert werden, wobei die Rechtsprechung den Anfang machen soll.
II. Die Rechtsprechung zur Abstandnahme im Vorbereitungsstadium Die Rechtsprechung geht bekanntlich davon aus, dass für die Bestrafung als Mittäter keine Mitwirkung im Ausführungsstadium nötig ist und dass selbst dann, wenn eine solche Mitwirkung verabredet ist, eine Mittäterschaft schon dann zu bejahen ist, wenn ein anderer Mittäter ins Versuchsstadium eintritt (sog. Gesamtlösung). Auch eine Fortdauer des gemeinsamen Tatentschlusses bis ins Versuchsstadium hinein 1 Die das Thema betreffende Monographie von Fad, 2005, lautet denn auch: „Die Abstandnahme des Beteiligten von der Tat im Vorbereitungsstadium“. 2 Näher Roxin, Strafrecht, AT II, 2003, § 28 Rn. 102 m.w.N. 3 Rengier, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2011, § 44 Rn. 14.
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wird nicht für nötig gehalten. Vielmehr kann derjenige, der am ursprünglich gemeinsamen Tatentschluss beteiligt war, trotz seiner im Vorbereitungsstadium erfolgten Abstandnahme von der Tat ggf. als Mittäter einer versuchten oder vollendeten Tat bestraft werden. Trotz der gemeinsamen Grundlage dieser die Mittäterschaft extrem ausdehnenden Konzeption4 haben sich in der Rechtsprechung fünf Lösungsvarianten herausgebildet, deren Verhältnis zueinander ungeklärt geblieben ist. Ich will sie in einigen Beispielen vorführen. 1. Die Abstandnahme hat keinen Einfluss auf die Mittäterschaft Die versuchte Vatertötung, BGH NStZ 1999, 449 In diesem Fall hatten Bruder und Schwester beschlossen, ihren Vater zu töten, weil dieser die Schwester sexuell missbraucht hatte. Beide fuhren mit dem Taxi zum Vater. Der Bruder hatte ein Messer mitgenommen. Die Schwester veranlasste ihren Vater, in die Küche zu gehen, „um ihrem Bruder Gelegenheit zu geben, die Tat auszuführen“. Dieser nahm jedoch von der Tat Abstand, weil ihm wegen eines vorhergehenden Nachbarbesuches das Entdeckungsrisiko zu hoch war. Die Schwester „akzeptierte die Entscheidung ihres Bruders“, stach aber nun ihrerseits mit einem anderen Messer auf den Vater ein, der jedoch fliehen konnte und überlebte. Das LG hatte den Bruder wegen Verabredung zum Totschlag (§ 30 Abs. 2 StGB) bestraft, während der BGH eine Mittäterschaft am Totschlagsversuch und an der von der Schwester begangenen gefährlichen Körperverletzung annimmt. Es wird also Mittäterschaft bejaht, obwohl der Bruder sich vor Eintritt der Schwester in das Versuchsstadium von der Tat losgesagt und sich daran nicht weiter beteiligt hatte. Der BGH stützt sich darauf, dass der Bruder entscheidend zur Entstehung des Tatplans beigetragen hatte und dass die Angeklagten „ihren Vater gemeinsam aufgesucht“ hatten. „Hier kommt nur Mittäterschaft in Frage, da der Angeklagte die Tat als Mittäter durch Vorbereitungshandlungen gefördert hat.“5 2. Die Abstandnahme kann eine Mittäterschaft zur Beihilfe herabsinken lassen Der Banküberfall, BGHSt 28, 346 Hier hatte der Angeklagte zusammen mit zwei Frauen einen Banküberfall verabredet und auch mit einer der Frauen schon zwei Fahrräder gestohlen, die bei der Fahrt zum und vom Tatort Verwendung finden sollten. Nach dem Tatplan sollten die Frau4 5
Puppe, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2011, § 23 Rn. 18 spricht von „schrankenloser Härte“. BHG NStZ 1999, 450.
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en das Personal und etwaige Kunden mit einer Gaspistole bedrohen, während der Angeklagte „über den Tresen springen“ und eine mitgebrachte Plastiktüte mit Geld füllen lassen sollte.6 Auf dem Weg zum Tatort bekam der Angeklagte jedoch Bedenken. Er unternahm „einen kurzen verbalen Versuch“, wenigstens eine der beiden Frauen „vom Tatvorhaben abzubringen“. Das blieb vergeblich, aber der Angeklagte machte nicht weiter mit und betrat die Bank nicht. Die beiden Frauen führten daraufhin den Überfall alleine und erfolgreich durch. Bei diesem Sachverhalt will der BGH es der Entscheidung des Instanzgerichtes überlassen, ob der Angeklagte Mittäter oder nur Gehilfe einer räuberischen Erpressung war. Dafür komme es auf eine wertende Betrachtung aller Umstände an.7 Dabei falle einerseits die Einstellung, mit der der Angeklagte seine Tatbeiträge erbrachte, andererseits aber auch der Umstand, „dass der Angeklagte das Ob und Wie des eigentlichen Geschehensablaufs nicht mitbeherrschte, besonders ins Gewicht“. Hier wird also anders als im Vatertötungs-Fall (1.) der mangelnden Beherrschung des auf die Abstandnahme folgenden Geschehens ein gewisser, im Ergebnis allerdings unklar bleibender Einfluss auf die Entscheidung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe zugesprochen. Auf derselben Linie liegt die Entscheidung BGH NStZ 1987, 364, bei der es um einen vom Angeklagten mit einem Komplizen verabredeten Raubüberfall auf eine Sozialstation ging. Hier hatte der Angeklagte „wenige Meter vor deren Eingang“ erklärt: „Ich kann nicht mit hoch, wir sollten es lassen.“ Der Komplize hatte daraufhin die Tat alleine begangen und 50.000 DM erbeutet. Die Staatsanwaltschaft erstrebte eine Verurteilung des Angeklagten wegen mittäterschaftlichen Raubes. Der BGH hat jedoch die vom LG ausgesprochene Verurteilung wegen Beihilfe im Anschluss an BGHSt 28, 346 aufrechterhalten. Bei der erforderlichen wertenden Betrachtung aller Umstände habe die Strafkammer berücksichtigt, „dass der Angeklagte das Ob und Wie des tatbestandsmäßigen Geschehens weder beherrscht noch beeinflusst hat“. Wenn das Tatgericht „im Hinblick auf diesen sehr gewichtigen Umstand“ bei seiner Abwägung zur Annahme bloßer Gehilfenschaft gekommen sei, so sei „das nicht zu beanstanden“. Anscheinend hätte der BGH aber auch hier eine gegenteilige Wertung ebenso für möglich gehalten, so dass die Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe letztlich dem Ermessen des Tatrichters überantwortet wird.
6 7
Hier und im Folgenden: BGHSt 28, 346/347. Hier und im Folgenden: BGHSt 28, 348/349.
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3. Die Abstandnahme führt zwingend zur bloßen Beihilfe, wenn sie den Wegfall der erforderlichen Zueignungsabsicht nach sich zieht Der Fall des Bankpraktikanten, BGH NStZ 1994, 29 Der Angeklagte, der als Praktikant bei einer Bank arbeitete, wusste, wie man mit Hilfe eines geheimen Codes durch eine Hintertür in die Bank kommen und viel Geld erbeuten konnte. Er erzählte davon einem gewissen G., wobei er „wusste und wollte, dass G. sowie weitere, ihm namentlich nicht bekannte Mittäter auf der Grundlage dieser Informationen die Bank überfallen und berauben würden; es bestand Einvernehmen, dass der Angekl. einen Anteil der Beute als Belohnung erhalten sollte“8. Vor Durchführung der Tat erklärte der Angeklagte dem G., „er wolle mit der Tat nichts mehr zu tun haben“. Maßnahmen zur Verhinderung der Tat traf er nicht. Die Tat wurde durchgeführt und erbrachte eine Beute von 700.000 DM, von der der Angeklagte nichts erhielt und auch nichts beanspruchte. Hier liegt nach Meinung des BGH auf keinen Fall eine Mittäterschaft des Angeklagten, sondern – neben einer eventuellen Anstiftung – nur eine Beihilfe vor. Zwar könne „grundsätzlich dann, wenn ein Mittäter nach Erbringung seines Tatbeitrages eine Willensänderung vornimmt, dies eine Mittäterschaft nicht mehr beseitigen … Dies gilt jedoch dann nicht, wenn durch die Willensänderung ein notwendiges Tatbestandsmerkmal (hier: die Zueignungsabsicht) entfällt. Bei einer solchen Fallgestaltung führt der Wegfall der subjektiven Voraussetzungen der Täterschaft dazu, dass ein fortwirkender Tatbeitrag selbst dann nur noch als Beihilfe zu bewerten ist, wenn das Verhalten vor der Willensänderung als Mittäterschaft zu bewerten gewesen wäre.“ Damit weicht der BGH in doppelter Hinsicht von der sonstigen Rechtsprechung zum vorzeitig ausscheidenden Mittäter ab:9 Erstens wird nicht recht klar, warum der Wegfall der Zueignungsabsicht (und offenbar ggf. auch der Bereicherungsabsicht) eine Mittäterschaft unbedingt ausschließen soll, wenn nicht einmal die Annullierung des gemeinsamen Tatentschlusses diese Wirkung hat. Und zweitens hätte auf der Grundlage des Praktikanten-Urteils in den unter 2. besprochenen Entscheidungen eine Mittäterschaft wegen weggefallener Zueignungsabsicht prinzipiell abgelehnt werden müssen, ohne dass es auf die dort geforderte wertende Beurteilung aller Umstände überhaupt angekommen wäre.
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Hier und im Folgenden, BGH NStZ 1994, 30. Vgl. dazu auch Graul, GS Meurer, 2002, S. 89 ff. (90, 94 dort Fn. 10).
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4. Das Abstandnehmen führt dann zur Beihilfe, wenn es dem anderen Mittäter bekannt wird Der Polizistenmörder-Fall, BGHSt 37, 289 ff. Der Angeklagte und ein gewisser D. waren zu verschiedenen Zeiten aus einer Justizvollzugsanstalt geflohen. D. wollte den Angeklagten für ein Rauschgiftgeschäft gewinnen und stattete ihn mit Geld und einem Revolver aus. D. war entschlossen, zur Abwendung seiner „Verhaftung seine Schusswaffe einzusetzen, notfalls auch Polizeibeamte zu töten“.10 D. ging, wie der Angeklagte wusste, davon aus, dass der Angeklagte ggf. ebenso handeln werde. Darin sieht der BGH eine konkludente Verabredung zum Mord. Als eine Polizeistreife auftauchte, erschoss D. zwei Polizeibeamte und gab auf zwei weitere Schüsse ab, die jedoch fehlgingen. Der Angeklagte hatte seine Waffe nicht gezogen und nach dem ersten Schuss „beide Arme zum Zeichen der Aufgabe“ erhoben. Nach dem zweiten Schuss lief er weg. Der D. hatte das aber nicht bemerkt, sondern bis zum Schluss angenommen, dass der Angeklagte sich in unmittelbarer Nähe befand. Der BGH beurteilt den Angeklagten als Mittäter zweier vollendeter und zweier versuchter Morde. Da der Angeklagte von vornherein seine Pistole nicht gezogen hatte, muss man annehmen, dass er außer der „konkludenten Verabredung“, die den D. in seinem Tatentschluss bestärkt haben mag, zu der Tat nichts beigetragen hatte. Nach Ansicht des BGH reicht eine solche Bestärkung des Tatentschlusses für eine Mittäterschaft aus. „Im Rahmen der wertenden Betrachtung des Verhältnisses des Angeklagten zum Tatgeschehen wäre sein Aufgeben nur dann rechtlich erheblich gewesen, wenn es D. bekannt geworden wäre. Nur dann wäre es geeignet gewesen, einen Einfluss auf das weitere Handeln des D. zu nehmen.“11 Dieses Urteil weicht in zweifacher Hinsicht von den vorher (1. – 3.) behandelten Entscheidungen ab. Erstens legt es der Frage, ob das Abstandnehmen eines Mittäters von der Tat dem oder den Komplizen bekannt geworden ist, für die Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe wesentliche Bedeutung bei, obwohl in den ersten drei Fallkonstellationen die jeweils ausdrückliche Aufkündigung einer weiteren Mitwirkung keinerlei Beachtung gefunden hat. Und zweitens bleibt der in den zu 2. geschilderten Fällen für erheblich erachtete Umstand, „dass der Angeklagte das Ob und Wie des eigentlichen Geschehensablaufs nicht mitbeherrschte“, hier ganz außer Betracht. Denn gegenüber der angeblich vereinbarten „Schützenhilfe“ ist die – auch noch auf einer Situationsverkennung des D. beruhende – „Bestärkung des Tatenschlusses“ ein äußerst nebensächlicher Beitrag, zumal da D. auch unabhängig vom Angeklagten zum Schießen entschlossen war. Sie ist eine typische Erscheinungsform psychischer Beihilfe, die bei der sonst geforder10 11
Hier und im Folgenden BGHSt 37, 290. BGHSt 37, 293.
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ten „wertenden Betrachtung aller Umstände“ für die Bejahung einer Mittäterschaft nicht ausreichen kann.12 5. Mittäter kann, wenn die Tat im Versuchsstadium scheitert, nur sein, wer schon einen über die Entschlussfassung hinausgehenden Tatbeitrag geleistet hat Das einbrecherische Ehepaar, RGSt 9, 3 ff. In diesem sehr alten, aber immer noch vielzitierten Fall13 hatte ein Ehepaar einen Einbruchsdiebstahl verabredet. Als die beiden entdeckt wurden, war der Mann gerade damit beschäftigt, die Küchentür aufzubrechen, während die Frau, die die Sachen mit wegnehmen sollte, noch untätig daneben stand. Nach der Ansicht des RG hätte eine völlige Untätigkeit der am gemeinsamen Tatentschluss Beteiligten für eine Mittäterschaft nicht ausgereicht. Wer „in keinerlei Art bei der Versuchshandlung des anderen aus der Untätigkeit herausgetreten sei“, könne „nicht wegen des bloßen Versprechens und Vorsatzes, dies demnächst tun zu wollen, schon als Mittäter betrachtet werden“14. Ein Mittäter müsse über die gemeinsame Planung hinaus irgendetwas getan haben, was sich „von dem Tun oder Verhalten eines unbeteiligten Dritten unterschied“15. Das ließ sich hier infolge der Anwesenheit der Frau beim versuchten Einbruchsdiebstahl immerhin bejahen. Das Urteil unterscheidet sich aber von der Rechtsprechung des BGH darin, dass die Bestärkung des Tatentschlusses, die in der gemeinsamen Deliktsverabredung liegt, allein noch nicht für eine Mittäterschaft ausreichen soll. Andererseits wird der Geringfügigkeit des bisher geleisteten Beitrages im Gegensatz zu neueren Entscheidungen keinerlei Bedeutung beigemessen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rechtsprechung trotz des durch die „Gesamtlösung“ vorgezeichneten gemeinsamen Ausgangspunktes, dass die Mittäterschaft keine eigene Ausführungshandlung voraussetzt, bisher keine einheitliche Linie gefunden hat. Die abweichenden Standpunkte werden nicht einmal als kontrovers thematisiert, so dass der Eindruck entsteht, die Entscheidung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe hänge im Wesentlichen vom richterlichen Ermessen ab.
III. Die auf der Gesamtlösung basierende Literatur zur Abstandnahme im Vorbereitungsstadium In der Literatur wird der Fall des ausscheidenden Mittäters nicht selten nach den Vorgaben der Rechtsprechung referierend behandelt, ohne dass deren Widersprüche 12
Vgl. meine Anmerkung zu dem Urteil in JR 1991, 206 ff. Vgl. etwa Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 452 f. 14 RGSt 9, 6. 15 RGSt 9, 7.
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und unterschiedliche Ansätze im Einzelnen erörtert würden. Doch hat sich in den letzten 20 Jahren eine Auffassung entwickelt, die einen neuen Gesichtspunkt in die Diskussion bringt und in zunehmendem Maße Anhänger gewonnen hat. Sie beruht auf dem Gedanken, dass ein Mittäter zwar nicht notwendig wesentliche Tatbeiträge im Ausführungsstadium leisten müsse, dass aber wenigstens der gemeinsame Tatentschluss noch bestehen müsse, wenn einer der Mittäter ins Versuchsstadium eintritt. Allerdings tritt diese Lehr in mindestens drei verschiedenen Varianten auf. 1. Schon der Wegfall der inneren Tatbereitschaft im Vorbereitungsstadium schließt eine Mittäterschaft aus Diese Auffassung ist wohl zuerst von Puppe16 entwickelt worden (anlässlich des Polizistenmörder-Falls). Sie legt dar, dass die Entscheidung „über das Ob und Wie der Tat“ erst „mit Beginn der Ausführung“ falle. „Deshalb kann die bloße Verabredung im Vorbereitungsstadium nicht die Grundlage mittäterschaftlicher Zurechnung sein, sondern nur die Plangemeinschaft im Ausführungsstadium selbst. Das wirkliche arbeitsteilige Zusammenwirken macht die besondere Gefährlichkeit der Mittäterschaft aus und rechtfertigt die gegenseitige Zurechnung … Ist ein Tatgenosse, aus welchem Grund auch immer, sei es gezwungen, sei es freiwillig, bei Beginn der Ausführung nicht mehr tatbereit, so kann er nicht Mittäter werden.“ Auch Eisele17 will – vorbehaltlich einer noch zu erörternden Einschränkung – „die bloße Aufgabe des gemeinsamen Tatentschlusses ohne Kundgabe gegenüber den anderen Mittätern zur Beseitigung der Zurechnungsbasis genügen lassen“. Ebenso sagt Kühl:18 „Wer sein Einverständnis vor Versuchsbeginn zurückzieht, scheidet als Mittäter … aus.“ Eine Information über das „Nicht-mehr-Mitmachen“ hält er nicht für erforderlich. 2. Nur eine dem Mittäter (oder den Mittätern) erklärte Aufkündigung des gemeinsamen Tatentschlusses im Vorbereitungsstadium lässt eine Mittäterschaft entfallen Diese Konzeption kann an eine Bemerkung des BGH im Polizistenmörder-Fall (oben II., 4.) anknüpfen.19 „Im Rahmen der wertenden Betrachtung des Verhältnisses des Angeklagten zum Tatgeschehen wäre sein Aufgeben nur dann rechtlich erheblich gewesen, wenn es D. bekannt geworden wäre. Nur dann wäre es geeignet gewesen, einen Einfluss auf das weitere Handeln des D. zu nehmen.“ Das ist wohl nicht so zu verstehen, dass die Aufkündigung eine Mittäterschaft zwingend ausschließen soll; 16
Puppe, NStZ 1991, 571 ff. (572/573). Eisele, ZStW 112 (2000), 745 ff. (761). 18 Kühl, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2008, § 20 Rn. 105; ebenso Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 25 Rn. 10. 19 BGHSt 37, 293. 17
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denn in anderen Entscheidungen (oben II., 1.–3.) hat der BGH eine Mittäterschaft trotz erklärter Abstandnahme durchaus für möglich gehalten. Aber ein bei der Gesamtbewertung aller Umstände relevanter Gesichtspunkt soll die Aufkündigung nach dieser Entscheidung jedenfalls sein. Die Bemerkung des BGH ist zuerst von Hauf20 aufgenommen worden, der Puppes Auffassung als „zu eng“ kritisiert und die erklärte Aufkündigung anscheinend zum entscheidenden Kriterium für ein Entfallen der Mittäterschaft im Vorbereitungsstadium machen will. Maßgeblich sei „die Vorstellung des einen Partners, der andere wirke mit und stehe nach wie vor zu dem Tatplan, welche bestärkend auf eine weitere Durchführung des gemeinsam geplanten Tatgeschehens wirken kann. Die psychologische Schwelle der Abstandnahme von der Tat ist eine ungleich höhere als beim Alleintäter. Jeder fühlt sich durch den anderen gebunden und zugleich bestärkt. Diese Bindung entfällt – und jeder ist wieder allein vor sich selbst verantwortlich –, wenn der andere sich manifest vom Tatgeschehen distanziert.“ Unabhängig von Hauf hat bald darauf Ingelfinger21 in einer Untersuchung über die Schein-Mittäterschaft (also den Fall, dass der zuerst ins Ausführungsstadium eintretende Mittäter dies nur zum Schein tut) den gemeinsamen Tatentschluss als „gegenseitige Motivationsgrundlage“ der Mittäterschaft erklärt: „Der Tatplan schafft eine Abhängigkeit des einzelnen Genossen von seinen Komplizen, die bei dem Vollzug des eigenen Tatbeitrages motivierend wirkt.“ Und schließlich:22 „Mittäterschaft beruht … maßgeblich darauf, dass jeder nicht nur für sich, sondern auch für den anderen handelt.“ Ingelfinger hat, weil der ausscheidende Mittäter nicht sein Thema war, die Notwendigkeit einer Aufkündigung für das Entfallen der Mittäterschaft nicht eigens behandelt. Das tut aber Graul23 auf der Grundlage der Ausführungen Ingelfingers über die „entscheidende Bedeutung des gemeinsamen Tatentschlusses für die mittäterschaftliche Zurechnung“. Sie kommt daher zu dem Ergebnis:24 „Sagt sich ein Tatgenosse, der aufgrund der im Tatplan übernommenen Beiträge als Mittäter zu qualifizieren ist, im Vorbereitungsstadium gegenüber seinen Tatgenossen von der Tat los, dann kann er für die unter Fortwirkung seiner Beiträge von den anderen vollendete Tat nicht als Mittäter haften … Wenn sich ein Tatgenosse, der aufgrund seines im Tatplan übernommenen Tatanteils als Mittäter anzusehen ist, im Vorbereitungsstadium innerlich oder jedenfalls nicht gegenüber seinen Komplizen von der Tat lossagt, dann haftet er für die auf der Grundlage seiner Beiträge vollendete Tat als Mittäter, wenn er die nach dem Tatplan auf ihn entfallenden Tatbeiträge schon vollständig im Vorbereitungsstadium erbracht hat.“ Der abschließende Konditionalsatz stellt insofern ein zusätzliches Erfordernis auf, als zum unaufgekündigten Tatentschluss die 20
Hauf, NStZ 1994, 263 ff. (265). Ingelfinger, JZ 1995, 704 ff. (708). 22 Ingelfinger, JZ 1995, 710. 23 Graul (Fn. 9), S. 97. 24 Graul (Fn. 9), S. 99. 21
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vollständige Erbringung der im Vorbereitungsstadium zu erbringenden Beiträge erwartet wird. Ähnlich wie Graul entscheidet Rengier.25 „Besteht … bei einer bloß stillen Abstandnahme der gemeinsame Tatplan fort, so kommt er … auch als Basis für eine mittäterschaftliche Zurechnung von weiterwirkenden Beiträgen in Betracht.“26 Freilich will auch Rengier die „bloß stille Abstandnahme“ für eine Mittäterschaft nur genügen lassen, wenn „die im Vorbereitungsstadium erbrachten Anteile des Ausgeschiedenen gewichtig genug sind, um den Kriterien der gemeinsamen Tatausführung … zu genügen“. 3. Ein Abstandnehmen vom gemeinsamen Tatentschluss im Vorbereitungsstadium kann an der Mittäterschaft dann nichts mehr ändern, wenn der Abstandnehmende alle auf ihn entfallenden Beiträge schon erbracht hat Dies ist die Ansicht von Eisele.27 Er begründet sie damit, dass in einem solchen Fall der Mittäter „das Geschehen aus den Händen gegeben hat. Denn die Tat ist i.S.v. § 8 Satz 1 StGB vom jeweiligen Mittäter schon dann begangen, wenn der gegenseitig zurechenbare Beitrag geleistet worden ist.“ Demgegenüber hat Graul28 ausdrücklich betont, dass es in jedem Fall der Aufkündigung im Vorbereitungsstadium „an der wesentlichen Mittäterschaftsvoraussetzung des fortbestehenden gemeinsamen Tatentschlusses fehlt; dabei ist es unerheblich, ob er zuvor schon alle oder zur Mittäterschaft ausreichende Beiträge erbracht hat“. Die Konzeption von Eisele wird in der Literatur noch in zwei Varianten vertreten. Otto29 leitet sie aus der subjektiven Theorie her: „Wer im Vorbereitungsstadium zum Ausdruck bringt, dass er die Tat überhaupt nicht mehr will, kann die Tat nicht mehr als eigene wollen, mag er auch ein Interesse am Erfolg der Tat haben … Die Tat selbst ist von diesem Moment an für ihn eine fremde. – Nur in Ausnahmefällen, in denen der Tatbeteiligte seinen arbeitsteilig erbrachten Tatbeitrag vollständig im Vorbereitungsstadium geleistet hat, auf dem sodann das weitere Geschehen aufbaut, wird bei einer vom Tatgeschehen her interpretierten Definition der Begriffe ,eigene‘ und ,fremde‘ Tat oder aufgrund der Bewertung der Tatherrschaft eine Mittäterschaft noch in Betracht kommen, nachdem der Tatbeteiligte sich von der Tat distanziert hat.“30 Fad31 bewegt sich ebenfalls auf der von Eisele verfolgten Linie, stellt aber strengere Anforderungen an das Entfallen einer Mittäterschaft. Denn er verlangt eine aus25
Rengier, JuS 2010, 281 ff. (287); ders. (Fn. 3), § 44 Rn. 16 ff. Rengier (Fn. 3), § 44 Rn. 21. 27 Eisele (Fn. 17), 766. 28 Graul (Fn. 9), S. 99. 29 Otto, JA 1980, 707 ff. (709). 30 Eisele (Fn. 17), 765 bezieht sich denn auch auf Otto. 31 Fad (Fn. 1), S. 129, 130.
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drückliche Aufkündigung und zieht auch aus dieser nur die Folgerung, „dass die nach der Aufgabe von den verbleibenden Mittätern verwirklichten Handlungen dem Abstandnehmenden nicht mehr zugerechnet werden können“. Vorher erbrachte Leistungen des Aufgebenden oder anderer am Tatentschluss Beteiligter bleiben mittäterschaftlich zurechenbar, „denn zu diesem Zeitpunkt bestand die Vorstellung der Tatgenossen, dass sie nicht nur für sich, sondern auch für die jeweils anderen handeln“. Eine Mittäterschaft kann also nicht erst dann angenommen werden, wenn der Abstandnehmende alle von ihm erwarteten Tatbeiträge schon erbracht hat.
IV. Stellungnahme Wir haben also, wenn man Rechtsprechung und Literatur zusammennimmt, für die Behandlung des im Vorbereitungsstadium ausscheidenden Mittäters acht oder neun verschiedene Vorschläge, zwischen denen man sich nur schwer zurechtfinden kann. In der Kommentar- und Lehrbuchliteratur wird über sie nur sehr selektiv berichtet. Durchgesetzt hat sich keine dieser Auffassungen. Zwar haben die neueren Bemühungen, die der Fortdauer des gemeinsamen Tatentschlusses bis in das Ausführungsstadium hinein größere Bedeutung beimessen, einige Resonanz gefunden. Gleichwohl verharren neuere Monographien noch immer bei den weitestgehenden Formen mittäterschaftlicher Zurechnung, die sich in der Rechtsprechung finden lassen. So erklärt etwa Buser32, es sei für eine Bestrafung des am Tatentschluss Mitwirkenden als Mittäter keineswegs erforderlich, dass der Ausführende sich beim Eintritt ins Versuchsstadium noch von einem gemeinschaftlichen Tatentschluss getragen fühle. „Ein Mittäter wird unter anderem auch deshalb bestraft, weil er einen anderen in einer mittäterschaftlichen Weise zu einer Tat motiviert hat, nicht jedoch deshalb, weil sich der andere auch noch in der Ausführungsphase von jenem motiviert fühlt … Da er somit auf die Vorstellung des Getragenseins von einem gemeinsamen Tatentschluss nicht ankommt, bleibt als Zurechnungsbasis allein der Tatentschluss im Planungsstadium übrig.“ Angerer33 kommt zu dem Ergebnis, dass für die mittäterschaftliche Zurechnung ein im Vorbereitungsstadium beschlossener Tatplan genügt. „Weder ein rein geistiges ,Sich-Absetzen‘ noch eine ausdrückliche Abstandnahme können diese einmal geschaffene mittäterschaftliche Zurechnungsgrundlage entfallen lassen. Durch den Tatplan ist eine Bindung entstanden, die nicht mehr einseitig aufgekündigt werden kann. Auch eine einseitige manifeste Distanzierung genügt nicht.“ Eine kritische Betrachtung führt jedoch zu der Einsicht, dass keine der vorgeschlagenen Lösungen überzeugen kann. Für die Rechtsprechung ergibt sich das zunächst aus dem schon bei ihrer Darstellung (oben II. am Ende) hervorgehobenen 32 33
Buser, Zurechnungsfragen beim mittäterschaftlichen Versuch, 1998, S. 121, 123. Angerer, Rücktritt im Vorbereitungsstadium, 2004, S. 161.
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Grund, dass ihr ein klares Konzept fehlt. Beim Ausscheiden eines Mittäters im Vorbereitungsstadium soll im Falle der versuchten Vatertötung allein der gemeinsame Tatentschluss mit den daraus abgeleiteten Wirkungen eine gleichwohl erfolgende mittäterschaftliche Verurteilung tragen. Beim Banküberfall der beiden Frauen soll dagegen das Ausmaß der bereits erbrachten Tatbeiträge des Abstand nehmenden Mannes einen nicht näher gekennzeichneten Einfluss auf die über eine Mittäterschaft entscheidende richterliche Gesamtbewertung haben. Im Fall des vor Tatbeginn ausgeschiedenen Bankpraktikanten, dessen Tipps und Informationen den Raub ermöglicht hatten, soll andererseits der Wegfall der Zueignungsabsicht eine mittäterschaftliche Zurechnung ausschließen. Im Polizistenmörder-Fall wiederum soll der – sonst für unbeachtlich gehaltenen – Erklärung der Abstandnahme ein nicht näher präzisierter Einfluss auf die richterliche Wertung zukommen, die über das Vorliegen von Mittäterschaft entscheidet. Das alles passt nicht zusammen. Aber auch bei einer Einzelbetrachtung überzeugt keines der herangezogenen Kriterien. Der gemeinsame Tatentschluss (etwa im Fall der versuchten Vatertötung) kann nicht genügen; denn Mittäterschaft setzt immer auch einen objektiven Tatbeitrag voraus, selbst wenn man dafür Vorbereitungshandlungen genügen lässt. Misst man aber, wie es beim Bankraub der beiden Frauen geschah, den Umfang der schon erbrachten Tatbeiträge des ausgeschiedenen Dritten (des Mannes) eine Bedeutung für die Entscheidung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe zu, so vermisst man jede Aussage darüber, wie diese Beiträge beschaffen sein müssen, um den Abstandnehmenden gleichwohl noch als Mittäter bestrafen zu können. Und wenn bei dem Bankpraktikanten, der den Tatplan entwickelt und seine Durchführung überhaupt erst ermöglicht hatte, schon der Wegfall der Zueignungsabsicht eine Mittäterschaft ausschließt, bleibt unklar, warum der Wegfall des ggf. auch die subjektiven Tatbestandselemente umgreifenden gemeinschaftlichen Tatentschlusses diese Wirkung nicht haben soll. Dass schließlich im Polizistenmörder-Fall die ausdrückliche Erklärung, nicht mitmachen zu wollen, für ein Entfallen der Mittäterschaft bedeutend sein soll, leuchtet wenig ein, wenn man bedenkt, dass bei der Geschwindigkeit, mit der sich alles abspielte, für eine über das Erheben beider Arme hinausgehende verbale Erklärung kaum Zeit war und dass diese auch einflusslos gewesen wäre, weil der Mordschütze unabhängig vom Verhalten des Angeklagten „entschlossen“ war, „zur Abwendung seiner Verhaftung seine Schusswaffe einzusetzen, notfalls auch Polizeibeamte zu töten“34. Die in der Literatur vordringende Ansicht, die dem Fortdauern des Tatentschlusses bis in das Ausführungsstadium hinein größere Bedeutung beimisst, hat den Vorzug, dass sie einer uferlosen Ausdehnung der Mittäterschaft Grenzen setzt und die Konzeptionslosigkeit der Rechtsprechung vermeidet. Diesen Umständen verdankt 34
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sie wohl auch ihren relativen Erfolg. So scheidet etwa in den ersten drei der oben geschilderten Ausgangsfällen eine Mittäterschaft von vornherein aus, weil der Tatentschluss noch im Vorbereitungsstadium aufgekündigt worden war; und in den Fällen 4 und 5 kommt man immerhin dann zu demselben Ergebnis, wenn man für die Mittäterschaft neben dem unaufgekündigten Tatentschluss einen wenigstens einigermaßen gewichtigen Tatbeitrag verlangt. Aber befriedigend ist auch diese neuere Auffassung nicht, und zwar weder in ihren einzelnen Ausprägungen noch in der von ihr favorisierten Grundtendenz. Was zunächst die Ansicht betrifft, dass schon ein bloß innerliches Abstandnehmen die Mittäterschaft entfallen lässt, so findet sich ein Begründungsansatz dafür allein bei Puppe, wonach nicht „die bloße Verabredung im Vorbereitungsstadium“, sondern nur „die Plangemeinschaft im Ausführungsstadium selbst … die besondere Gefährlichkeit der Mittäterschaft ausmacht und die gegenseitige Zurechnung rechtfertigt“. Wenn aber jemand seine mittäterschaftsbegründenden Tatbeiträge alle schon im Vorbereitungsstadium erbracht hat und sich dann innerlich von dem gemeinsamen Vorhaben distanziert, ist nicht ersichtlich, warum das weitere Handeln der ausführenden Tatgenossen und damit das Gesamtgeschehen deshalb weniger gefährlich sein soll. Denn die Gesinnungsänderung des Abstandnehmenden kann schon deshalb keinen Einfluss auf das Geschehen ausüben, weil sie nichts davon wissen. Verlangt man mit der zweiten Version der neuen Lehren eine ausdrückliche Aufkündigung des gemeinsamen Tatentschlusses, so ist es zwar möglich, dass die übrigen Komplizen sich dadurch beeindrucken lassen und die Tat ebenfalls aufgeben. Insofern ist die Aufkündigung ein geeigneteres Kriterium als die bloß innerliche Abstandnahme. Sehr oft aber wird die Aufkündigung den oder die übrigen Komplizen von der Tat nicht abhalten, wie die ersten drei der oben geschilderten Rechtsprechungsfälle zeigen. Wenn, wie es Graul vertritt und wie es auch in der Konsequenz des Ansatzes liegt, die Aufkündigung die Mittäterschaft auch dort ausschließt, wo der Abstandnehmende im Vorbereitungsstadium schon alle auf ihn entfallenden Tatbeiträge erbracht hat, wird sein Ausscheiden normalerweise den Ausführenden, die ja nunmehr auf ihn nicht länger angewiesen sind, gleichgültig sein. Es wird ihre Tatmotivation nicht schwächen, sondern eher verstärken, weil sie nun ggf. die Beute nicht mit dem Ausgeschiedenen zu teilen brauchen. Wenn andererseits bei nur innerer Abstandnahme eine Mittäterschaft nicht generell, sondern nur in den Fällen bestehen soll, in denen der sich Distanzierende alle seine Tatbeiträge (Graul) oder doch hinreichend gewichtige Tatanteile (Rengier) erbracht hat, so verdient es zwar im Ergebnis Zustimmung, dass der nicht Mittäter sein kann, der keine wesentlichen äußeren Mitwirkungshandlungen vorgenommen hat. Aber diese Annahme widerspricht dem Grundgedanken, dass das Entfallen der Mittäterschaft eine ausdrückliche Aufkündigung des gemeinsamen Tatentschlusses voraussetzt. Die dritte tatentschlussorientierte Lehre, wie sie bei Eisele, Otto und Fad mit jeweils etwas unterschiedlicher Akzentuierung zu Tage tritt, will auch bei ausdrückli-
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cher Aufkündigung eine Mittäterschaft immer noch annehmen, wenn schon vor der Aufkündigung alle oder für die Annahme von Mittäterschaft ausreichende Tatbeiträge erbracht worden sind. Damit entgeht diese Lehre dem gegen die „zweite Version“ zu erhebenden Einwand, dass die Beteiligung des Abstandnehmenden am gemeinsamen Tatentschluss unwichtig wird, wenn er das von ihm Erwartete schon getan hat. Aber die zentrale These der Konzeption, dass die Mittäterschaft eine Fortdauer des gemeinsamen Tatentschlusses bis ins Ausführungsstadium verlangt, ist damit preisgegeben. Darüber hinaus ist aber auch das Leitprinzip, wonach die durch den Tatentschluss geschaffene gemeinsame Motivationsgrundlage bis ins Ausführungsstadium fortdauern muss, vom Standpunkt einer Auffassung aus, die Vorbereitungshandlungen für die Mittäterschaft genügen lässt, nicht überzeugend. Denn erstens führen die Ausprägungen dieser Lehre, wie mein Überblick gezeigt hat, zu sehr verschiedenen Ergebnissen, was schon wegen der dadurch geschaffenen Unsicherheiten die Tragfähigkeit des Ansatzes in Frage stellt. Auch kommt keine dieser Lösungen, wie sich gezeigt hat, ohne kompromisshafte Widersprüche aus. Zweitens aber leuchtet es auch nicht ein, dass der (vielfach zweifelhaften) Motivationsverstärkung, die der unaufgegebene oder unaufgekündigte gemeinsame Tatentschluss bewirken soll, mittäterschaftsbegründende Kraft zugeschrieben wird. Denn die Bestärkung des Tatentschlusses ist, soweit sie überhaupt im konkreten Fall gegeben ist, nicht mehr als eine psychische Beihilfe, die die schwächste Form der Tatbeteiligung und alles andere als eine Mittäterschaft darstellt. Die Möglichkeit und Grenzen ihrer Strafbarkeit sind selbst in diesem herabgeminderten Rahmen sehr umstritten, so dass es wenig plausibel ist, wenn dieser Faktor nun zur tragenden Säule der Mittäterschaft erhoben wird. Man muss also noch eine andere Lösung suchen.
V. Ein Plädoyer für die Einzellösung35 Die Schwierigkeiten, mit denen alle vorstehend behandelten Lösungsvorschläge zu kämpfen haben, beruhen samt und sonders darauf, dass sie bloße Vorbereitungshandlungen oder – wie vielfach die Rechtsprechung36 – schon einen psychisch weiterwirkenden gemeinsamen Tatentschluss und obendrein schon das Erreichen des 35
Mylonopoulos vertritt in einem erst nach Fertigstellung dieses Beitrages erschienenen Aufsatz (GA 2011, 462 ff.) eine zwischen Gesamt- und Einzellösung stehende „Mittellösung“, „wonach die Anwesenheit und Handlungsbereitschaft des Mittäters vorausgesetzt wird“. Sein Aufsatz behandelt aber nicht das Problem des im Vorbereitungsstadium ausscheidenden Mittäters. 36 Vgl. etwa BHGSt 11, 271. Danach genügt für die Mittäterschaft „eine geistige Mitwirkung, auch eine Vorbereitung in der Weise, dass der Mittäter dem ausführenden Tatgenossen durch einen vor der Ausführung gegebenen Rat zur Seite steht oder in irgendeinem Zeitpunkt dessen Tötungswillen stärkt.“
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Versuchsstadiums durch einen der Beteiligten für eine Mittäterschaft genügen lassen. Das führt zu einer Erstreckung der Mittäterschaft auf lediglich planerische oder seelisch unterstützende Mitwirkungsformen, die dem gesetzlichen Merkmal einer „gemeinschaftlichen Begehung“ (nicht „gemeinschaftlichen Entschlussfassung“!) und dem daraus abzuleitenden Postulat eines tatbestandsorientierten, restriktiven Täterbegriffs widersprechen. Die genannten Probleme verschwinden mit einem Schlag, wenn man für die Mittäterschaft an der vollendeten Tat eine wesentliche Mitwirkung im Ausführungsstadium und für die Mittäterschaft beim Versuch das Ansetzen jedes Versuchstäters zu einem wesentlichen Tatbeitrag im Ausführungsstadium fordert (sog. Einzellösung). Es ergibt sich dann bei den anfangs (oben II.) geschilderten Rechtsprechungsfällen mit schlichter Selbstverständlichkeit, dass bei den ersten drei Entscheidungen eine Mittäterschaft des im Vorbereitungsstadium die Tat Aufkündigenden ausscheidet, weil keiner von ihnen im Ausführungsstadium mitgewirkt hat. Bei den beiden zuletzt genannten Entscheidungen (dem Polizistenmörder-Fall und dem Fall des einbrecherischen Ehepaares) ist die psychische Unterstützungswirkung kein Ansetzen zu einem wesentlichen Tatbeitrag im Ausführungsstadium, so dass auch insoweit eine Mittäterschaft entfällt. Strafbarkeitslücken entstehen dadurch nicht, weil die Mitwirkung an der Planung und ggf. an der Vorbereitung der Tat das deliktische Verhalten des oder der Ausführenden beeinflusst hat und deshalb jedenfalls eine Beihilfe begründet, deren Strafrahmen dem Schuldgehalt eines an der Tatausführung nicht oder nicht wesentlich Beteiligten jedenfalls gerecht werden kann. Es ist im Gegenteil ungerecht, wenn, wie beispielsweise im Polizistenmörder-Fall, ein Beteiligter, der sich demonstrativ jeder Gewalt enthalten hat, mit derselben lebenslänglichen Strafe sanktioniert wird wie ein vierfacher Mordschütze. Oft wird auch eine Anstiftung vorliegen, die den Täterstrafrahmen ohne Rückgriff auf die Mittäterschaftskonstruktion eröffnet. So hatte im Fall der versuchten Vatertötung (oben II., 1.) die Schwester, die auf den Vater eingestochen hatte, den Tatentschluss erst gefasst, nachdem Bruder erklärt hatte: „Ich gehe hin und bringe ihn um.“37 Und in dem Fall des Bankpraktikanten (oben II., 3.) hatte dieser gewusst und gewollt, „dass G. sowie weitere … Mittäter auf der Grundlage seiner Informationen die Bank überfallen und berauben würden“38. Auch der BGH neigt hier zur Bejahung einer Anstiftung. Es ergeben sich also für die hier behandelten Fallgruppen unkomplizierte und allen legitimen Strafbedürfnissen gerecht werdende Entscheidungen, wenn man die Mittäterschaft an einen wesentlichen Tatbeitrag im Ausführungsstadium bindet und außerdem verlangt, dass dieser Beitrag nicht in der Planung steckengeblieben ist, sondern das Versuchsstadium erreicht hat. 37 38
BGH NStZ 1999, 450. BGH NStZ 1994, 30.
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Das alles lässt sich auch aus der Täter- und der Versuchslehre sehr gut begründen. Wenn Täterschaft – abgesehen von den Pflichtdelikten – Tatherrschaft bedeutet, so muss man konsequenterweise eine Mit-Täterschaft auf die Mit-Herrschaft im Ausführungsstadium gründen. Denn die „Tat“, um deren Beherrschung es geht, ist nur das, was im Ausführungsstadium geschieht. Wer nur bei der Planung und Vorbereitung mitwirkt, gibt das Geschehen früher oder später aus der Hand und hat keinen Anteil an der Herrschaft bei der Ausführung. Das ist schon oft und eingehend begründet worden, so dass ich mich hier mit einer allerknappsten Zusammenfassung begnügen kann.39 Die Vertreter subjektiver Auffassungen und einer sog. gemäßigten Tatherrschaftslehre halten dieser Konzeption immer wieder den „Bandenchef“ entgegen, den sie unbedingt als Mittäter der von seinen Gefolgsleuten begangenen Taten verurteilen wollen. Aber abgesehen davon, dass der Bandenchef eher eine Kunstfigur ist, die in der Praxis kaum in Erscheinung tritt, wird allen Sanktionsbedürfnissen vollkommen ausreichend genügt, wenn derjenige, der seine Leute losschickt, an der Ausführung der Taten selbst aber keinen Anteil nimmt, als Anstifter nach § 26 StGB „gleich einem Täter“ bestraft wird. Auch „Planung und Organisation“, auf die eine vermittelnde Lehre die Mittäterschaft durch vorbereitende Beiträge beschränken will,40 passen weit besser in den Rahmen der Anstiftung. Denn in der Regel wird man einen anderen nur anstiften, wenn man für die Tat, zu der man anstiftet, einen Plan und eine Vorstellung von ihrer Durchführung hat. Wenn aber wirklich ein Hintermann die Tat beherrscht, weil er über einen organisatorischen Machtapparat gebietet, ist er – wie es auch die deutsche und internationale Rechtsprechung annimmt – mittelbarer Täter und nicht Mittäter. Auch aus der Versuchslehre ergibt sich, dass Mittäter eines Versuchs nur sein kann, wer selbst in das Versuchsstadium eingetreten ist. § 22 StGB sagt deutlich, dass wegen Versuchs nur bestraft werden kann, „wer zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar ansetzt“. Das ist gleichbedeutend mit dem Eintritt in das Ausführungsstadium. Puppe, die sich heute zur Einzellösung bekennt, betont in ihrer neuesten Veröffentlichung41 mit Recht: „Die Richtigkeit der sog. Einzellösung ergibt sich aus der Lehre vom Versuch.“ Dem Täter könne die Überschreitung der „Schwelle des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung von niemandem abgenommen werden … Erst in dem Moment, in dem der Tatgenosse seinen eigenen Tatbeitrag im Ausführungsstadium erbringt, wird er … Mittäter.“
39 Eine ausführliche Darstellung mit vielen Nachweisen findet sich in meinem Lehrbuch (Fn. 2), § 25 Rn. 198 ff. 40 Näher Roxin (Fn. 2), § 25 Rn. 205 f. 41 Puppe (Fn. 4), § 23 Rn. 13.
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Die „Einzellösung“42 war auf der Grundlage der formal-objektiven Theorie schon von Frank43 vertreten worden. Sie wurde in Verbindung mit der Tatherrschaftslehre zuerst von Rudolphi44 entwickelt, von Bloy45 und auf anderer Grundlage von Stein46 aufgenommen und später von Valdágua47 in vertiefter Form begründet. Ich habe mich ihr unter dem Einfluss Valdáguas angeschlossen,48 nachdem ich ursprünglich der Gesamtlösung gefolgt war. Die Einzellösung ist also eine in der Literatur nicht selten vertretene vordringende Meinung. Wenn sie sich trotzdem bisher nicht durchgesetzt hat, so beruht das vor allem auf zwei Gründen. Erstens passt sie nicht zu der überwiegenden Annahme, dass auch schon die Beteiligung am Tatplan und an Vorbereitungen zur Mittäterschaft führen kann. Denn wenn diese Handlungen sogar bei vollendeter Tat für eine Mittäterschaft ausreichen, muss das für den Versuch ebenso gelten. Jedoch ist die Grundannahme, wie schon dargelegt wurde, nicht zutreffend. Die Mittäterschaft bei vollendeter Tat setzt eine wesentliche Mitwirkung im Ausführungsstadium voraus. Von diesem Ausgangspunkt her ist es nur konsequent, für die versuchte Mittäterschaft eine Mitwirkung im Versuchsstadium zu verlangen. Der zweite und noch wirksamere Grund liegt darin, dass Rechtsprechung und herrschende Meinung seit den frühen Zeiten des Reichsgerichts die Mittäterschaft auf die Lehre von der „Tätigkeitsanrechnung“ oder „wechselseitigen Handlungszurechnung“ stützen.49 Wenn es so ist, dass jedem Mittäter das, was der andere durch den gemeinsamen Tatplan mit ihm Verbundene getan hat, als eigene Handlung zugerechnet wird, kommt es nicht darauf an, was er in eigener Person getan hat. Man kann diese „Gesamtlösung“ auch dann vertreten, wenn man für eine Mittäterschaft bei vollendeter Tat eine Mitwirkung im Ausführungsstadium verlangt. Es genügt dann, dass diese Art der Mitwirkung im Tatplan vorgesehen ist. Der Eintritt eines anderen in das Ausführungsstadium ist dann ein Versuch auch für den, der mit seinem Beitrag noch nicht zum Zuge gekommen ist; denn der Versuch des anderen gilt als sein eigener Versuch.
42
Der Ausdruck stammt von Schilling, Der Verbrechensversuch des Mittäters und des mittelbaren Täters, 1975, der aber schon die psychische Einwirkung auf andere als versuchsbegründende Täterhandlung ansieht. Diese Auffassung hat keine Anhänger gefunden. Eine gründliche kritische Auseinandersetzung damit liefert Küper, Versuchsbeginn und Mittäterschaft, 1978, S. 48 ff. 43 Frank, StGB, 18. Aufl. 1931, § 47 Anm. V. 44 Rudolphi, FS Bockelmann, 1979, S. 359 ff. 45 Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 265 ff. 46 Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988, S. 318. 47 Valdágua, ZStW 98 (1986), 839 ff. 48 Vgl. nur FS Odersky, 1996, S. 489 ff.; AT II (Fn. 2), § 29 Rn. 297 ff. m.w.N. 49 Eingehend dazu und auch zur Kritik, die sich auf andere Gründe stützt als meine nachfolgende Auseinandersetzung, Valdágua, ZStW 98 (1986), 843 ff.
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Die Lehre von der Tätigkeitsanrechnung ist durch Küper50 in zwei gründlichen Abhandlungen gegen die bis dahin hervorgetretenen Anhänger der Einzellösung verteidigt worden. Sein Ergebnis ist, dass die Idee der Tätigkeitsanrechnung sich „am Ende doch als unentbehrliche Grundlage eines sinnvollen Mittäterschaftskonzepts“ erweist.51 Küpers Darlegungen haben, wie Valdágua52 mit Recht sagt, „unter den Vertretern der herrschenden Meinung starken Beifall gefunden“. Sie haben zur Behauptung der Gesamtlösung wesentlich beigetragen. Die Auseinandersetzung kann in diesem Rahmen nicht in vollem Umfang aufgenommen werden. Doch will ich versuchen, die Einzellösung, die sich, wie dargelegt, bei unserem Thema schon durch ihre klareren und gerechteren Ergebnisse empfiehlt, durch zwei Gesichtspunkte zu stützen, die mir in der bisherigen Diskussion noch nicht ausreichend gewürdigt zu sein scheinen. Das erste Argument geht dahin, dass unsere Rechtsordnung eine Anrechnung fremden Verhaltens nur insoweit anerkennt, als jemand das Verhalten des anderen beherrscht. Man kann im Wege der Täuschung oder Nötigung oder mit Hilfe eines organisatorischen Machtapparates „durch einen anderen“ handeln, wie der Gesetzgeber in § 25 Abs. 1 StGB sagt. Diese Fälle der Zurechnung fremden Verhaltens gehören aber in den Bereich der mittelbaren Täterschaft und erweisen den Hintermann als Inhaber der Tatherrschaft. Der Mittäter beherrscht jedoch, wie auch Küper immer wieder betont, das Verhalten seiner Komplizen nicht. Dann kann er aber auch nicht als Täter dessen angesehen werden, was diese tun. Auch dem Scharfsinn Küpers ist nicht entgangen,53 dass die auf eine Tätigkeitsanrechnung gegründete Mittäterschaft „deutlich ,akzessorische‘ Züge trägt“ und deshalb in Wahrheit „eine Sonderform der Teilnahme“ ist. Man kann aber schwerlich annehmen, dass der Gesetzgeber in § 25 StGB unter der Überschrift „Täterschaft“ jemanden genauso wie den unmittelbaren und den mittelbaren Täter „als Täter“ (und nicht wie den Anstifter „gleich einem Täter“) bestraft, der nur einer Teilnahme schuldig ist. Die Auffassung der Mittäterschaft als „Sonderform der Teilnahme“ begünstigt freilich die Bejahung einer Mittäterschaft auch schon bei bloßer Mitwirkung an der Planung und Vorbereitung. Denn es handelt sich dabei ja doch nur um eine besondere Form der Teilnahme. Aber gerade diese grenzenlose Ausdehnung der Mittäterschaft ist Gegenstand meiner Kritik und wird auch von Küper nicht gewollt, der immerhin dafür plädiert, an eine für die Bestrafung wegen Mittäterschaft „ausreichende Beteiligungsrolle hohe Anforderungen“ zu stellen.54 Das kommt tendenziell der hier vertretenen strengeren Auffassung entgegen, wird aber durch die Anrech50
Küper in einer kleinen Monographie von 1978 (Fn. 42); sodann in JZ 1979, 775 ff. Küper (Fn. 42), S. 60. 52 Valdágua, ZStW 98 (1986), 841 Anm. 14. 53 Küper (Fn. 42), S. 60/61. 54 Küper (Fn. 42), S. 61. 51
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nung fremder Tätigkeit gerade nicht gefördert und bleibt auch unbestimmt, weil die „hohen Anforderungen“, die sich auch nur auf die Rolle im Tatplan beziehen, nicht konkretisiert werden. Mein zweites Argument stützt sich auf die These, dass die noch nicht hinreichend geklärte Herrschaftsstruktur im Fall der Mittäterschaft einer Durchsetzung der Einzellösung abträglich gewesen ist. So weist Küper55 darauf hin, dass die von mir schon in meiner Habilitationsschrift56 als charakteristisch herausgearbeitete „Hemmungsmacht“ des Mittäters, der durch die Verweigerung seines Tatbeitrages die gemeinsam geplante Tat vereiteln kann, die Einzellösung nicht erzwinge. Diese „negative Tatherrschaft“ wachse dem Mittäter nicht durch eine Tätigkeit im Ausführungsstadium, sondern „aufgrund der Rollenverteilung zu, die im gemeinsamen Deliktsplan getroffen wird“57. Sie gebe ihm die Macht, „das gesamte Unternehmen durch ,Leistungsverweigerung‘ zu verhindern. Unter dem Gesichtspunkt der Tatherrschaft besteht daher insoweit kein Anlass, für den Mittäter-Versuch zu fordern, dass jeder Komplize bereits mit der Ausführung des eigenen Beitrags beginnt, die ,negative‘ Mitherrschaft hat er ja ohne solche Tätigkeit inne.“ Aber auch der „positive“ Tatbeitrag des Mittäters, der in der Erbringung der ihm nach dem Tatplan zufallenden Leistung besteht, könne dem Mittäter, wie Küper weiter ausführt, die Tatherrschaft nicht verschaffen. Denn er beherrsche immer nur seinen eigenen Tatbeitrag und nicht den der anderen Mitwirkenden. „Gibt es jedoch eine durch den eigenen Tatbeitrag vermittelte (positive) Herrschaft über ,das Ganze‘ nicht, so besteht auch unter diesem Aspekt kein Grund, für den Versuch des Mittäters das unmittelbare Ansetzen jedes Genossen zu seiner Mittäterleistung zu verlangen: Eine Mitbeherrschung des ,gesamten tatbestandsmäßigen Geschehensablaufs‘ kann dadurch selbst dann nicht zustande kommen, wenn der Mittäter seinen Beitrag sogar vollständig erbringt.“ Richtig erscheint mir an Küpers Diagnose, dass der Mittäter in keinem Stadium des Geschehens die Herrschaft über die Gesamttat innehat. (Ob das auch, wie Küper meint, eine „Mitbeherrschung“ des Geschehens ausschließt, ist eine andere Frage.) Durch das Fehlen einer Herrschaft über die Gesamttat wird aber noch nicht ein Verfahren legitimiert, das aus irgendeinem Beitrag im Planungs- oder Vorbereitungsstadium durch Zuschreibung der Handlungen anderer eine Mittäterschaft konstruiert, die einen eigenen Beitrag zur Tatausführung als überflüssig erscheinen lässt. Vielmehr sollte man die Mittäterschaft nicht als eine akzessorische Sonderform der Teilnahme, sondern als „Teilherrschaft“ verstehen. Diese Teilherrschaft über die Tatbestandsverwirklichung besteht darin, dass jeder einzelne Mittäter einen Teil der Ausführung bewirkt, durch dessen Nichterbringung aber das Gesamtprojekt 55
Hier und im Folgenden Küper, JZ 1979, 786. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Aufl. 1963 – 8. Aufl. 2006, S. 310 ff. 57 Ganz ähnlich hatte ich in „Täterschaft und Tatherrschaft“ (Fn. 56), S. 454 argumentiert, worauf Küper auch hinweist. 56
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scheitern lassen kann. Man kann eine so verstandene Teilherrschaft entgegen Küper auch als „Mitherrschaft“ bezeichnen, weil der Mittäter zusammen „mit“ den anderen die Gesamttat beherrscht. § 25 Abs. 2 StGB ordnet dann nicht „die wechselseitige Zurechnung der Tatbeiträge an“,58 sondern unterstellt eine durch Teilherrschaft erlangte Mitherrschaft wegen der besonderen Gefährlichkeit eines von mehreren verübten Angriffs den Regeln der Täterschaft. Ingelfinger59 findet die Argumente einer derartigen „tatherrschaftsorientierten Einzellösung“ gewichtig, will ihnen aber doch nicht folgen und verdeutlicht das am Beispiel eines Raubes, bei dem A tatplangemäß den X niederschlägt, während B anschließend das Geld wegnimmt. Er meint hinsichtlich des Verhaltens von B: „Dass sich die psychische Beihilfe an die Gewaltanwendung, deren Unrecht in diesem Zeitpunkt bereits vorliegt, mit Erbringung des eigenen Beitrages rückwirkend und automatisch zur Täterschaft wandelt, ist kaum zu erklären … Will man den B aber wegen mittäterschaftlichen Raubes bestrafen, so muss man anerkennen, dass der Anteil des B an dem Unrecht des Nötigungsmittels, also der Gewaltanwendung durch A, bereits täterschaftliches Gewicht besitzt. Gewiss bereitet dies der Tatherrschaftslehre Schwierigkeiten, die aber unvermeidbar und in der besonderen Struktur der mittäterschaftlichen Tatherrschaft begründet sind.“ Aber so muss man die Dinge nicht sehen. Denn die Gewaltanwendung des A wird nicht rückwirkend eine Gewaltanwendung des B. Dieser hat vielmehr, wie es allein dem tatsächlichen Befund entspricht, an der Gewaltanwendung immer nur psychisch mitgewirkt. Seine durch Beherrschung eines Teils der Tatbestandshandlung begründete Mitherrschaft beruht auf der Wegnahme der Sachen, ohne die der Raub nicht möglich gewesen wäre. Die Gesamttat wird, wie gesagt, nur von allen gemeinsam beherrscht. Aber auch die Teil- und Mit-Herrschaft ist eine Form der Täterschaft, weil sie ein unerlässlicher Bestandteil der Ausführungshandlung und damit der Tatbestandsverwirklichung ist. Die Einzellösung, wie sie hier befürwortet wird, entspricht also dem Tatherrschaftsgedanken ebenso wie der Ansatzformel der Versuchslehre, während die Gesamtlösung weder der einen noch der anderen Anforderung gerecht wird. Im Fall des vorzeitig ausscheidenden Mittäters ermöglicht die hier erneut zur Diskussion gestellte Auffassung nicht nur sachgerechte Lösungen, indem sie dem auf der Grundlage der Gesamtlösung verworrenen Diskussionsstand in Rechtsprechung und Lehre klare und handhabbare Entscheidungskriterien entgegensetzt. Sie entspricht auch der Struktur der Mittäterschaft als einer Erscheinungsform der Täterschaft besser als eine Konzeption, die die Mittäterschaft zu einer Teilnahmeform herabstuft und ihre Orientierung an der Mitverwirklichung des Tatbestandes aufgibt.
58 59
So Küper (Fn. 42), S. 60. Ingelfinger, JZ 1995, 712 f.
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VI. Schluss Damit beschließe ich meine Studie, die ich Wolfgang Frisch mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag darbringe. Der verehrte Jubilar gehört unbestritten zu den bedeutendsten Strafrechtsdogmatikern unserer Tage. Er hat zu vielen grundlegenden Fragen des Allgemeinen Teils weiterführende Gedanken entwickelt, und es gibt wenige verworrene Problembereiche, zu denen er nicht ein klärendes Wort gesagt hätte. Deshalb habe ich hier ein heillos umstrittenes Thema aufgegriffen, das er – soweit ersichtlich – noch nicht gründlich behandelt hat. Vielleicht können ihn meine etwas provozierenden Thesen zu einem die Diskussion abschließenden Votum herausfordern. Ich wünsche ihm für die folgenden Jahre Gesundheit und Schaffenskraft, auf dass er unsere Wissenschaft auch in Zukunft bereichern kann, wie er dies in der Vergangenheit in so fruchtbarer Weise getan hat!
Täterschaftliche Anstiftung Zur Vereinbarkeit des Konzepts mit der Lehre von der Tatherrschaft* Von Jorge de Figueiredo Dias** Ich habe bereits in anderen, an den deutschen Leser gewandten Publikationen auf das enge Verhältnis hingewiesen, in dem das portugiesische Strafrecht seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts zum deutschen Strafrecht und seiner Wissenschaft1 steht, wenngleich es auch in bestimmten Fragen einen unterschiedlichen Weg eingeschlagen hat. Deshalb erschien mir von Interesse, einige dieser Unterschiede hervorzuheben und die Frage zu stellen, ob sie nicht vielleicht gangbare, vernünftige und legitime Alternativlösungen für einige der dringlichsten Fragen der gegenwärtigen Strafrechtsdogmatik bereit halten. Eine dieser Fragen bezieht sich auf die Theorie der Täterschaft und der Teilnahme und dreht sich im Wesentlichen um den Begriff der Anstiftung. Im Folgenden möchte ich unserem Geehrten Wolfgang Frisch einige Betrachtungen zu dieser Materie widmen aus persönlicher Freundschaft und aus Bewunderung für sein Werk als das eines bedeutsamen Gelehrten der Strafrechtsdogmatik.
I. Man kann sagen2, dass die portugiesische Strafrechtstheorie entsprechend dem StGB von 1852 und bis zur Einführung des StGB von 1982 eine extensive Auffassung der Täterschaft vertreten hat. Diese stützte sich auf einen aus der Feuerbachschen Lehre3 abgeleiteten objektiv-materiellen Ansatz, der im Wesentlichen auf der Kategorie der Kausalität basierte und der Unterscheidung zwischen causa dans und non
*
Ich bedanke mich ganz herzlich bei António Manuel de Almeida Costa von der juristischen Fakultät der Universität von Porto für seine Unterhaltungen mit mir über die Thesen in diesem Beitrag und für seine Hinweise zur Entwicklung des Themas Täterschaft und Teilnahme innerhalb der deutschen Rechtsdogmatik. ** Übersetzung aus dem Portugiesischen von Andreas Anthony Isenberg. 1 Figueiredo Dias, FS Puppe, 2011, S. 403. 2 Zuletzt Figueiredo Dias, Direito Penal, Parte Geral, I, 2. Aufl. 2007, S. 757 ff. 3 Ergänzt durch Mittermaier: Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, mit Anmerkungen und Zusatzparagraphen von Mittermaier, 14. Aufl. 1847, §§ 44 – 46.
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dans entscheidende Bedeutung zumaß4. Diese Auffassung fand ihren exemplarischen Ausdruck im Wortlaut des Artikels 27 des Entwurfs zum Allgemeinen Teil des StGB, wie er 1963 von meinem Lehrer Eduardo Correia verfasst wurde5 und den ich zur besseren Verständlichkeit der weiteren Ausführungen an dieser Stelle zitiere: „Art. 27: Als Täter oder Begeher einer Straftat wird bestraft, wer deren Verübung auf eine der folgenden Weisen bewirkt: 1. wer sie unmittelbar und alleine verübt; 2. wer sie unmittelbar in Absprache mit einer oder mehreren Personen begeht; 3. wer – alleine oder in Absprache mit einer oder mehreren Personen – jemanden direkt und vorsätzlich zu einem Verbrechen bestimmt, sofern dieses mindestens in seinem Anfangsstadium zur Ausführung gekommen ist und dass ohne diese Bestimmung nicht begangen worden wäre; 4. wer jemanden direkt und vorsätzlich zu einem Verbrechen bestimmt oder dieser Person bei dessen Ausführung vorsätzlich behilflich ist, sofern selbiges Verbrechen auch ohne diese Bestimmung oder Hilfe zur Ausführung gelangt wäre, wenn auch mit unterschiedlicher Tatweise, Tatzeitpunkt, Tatort oder Tatumständen. Letztere Form der Tatbeteiligung bezeichnet die Beihilfe.“
Die portugiesische Lehrauffassung hat sich in dieser Hinsicht jedoch ab Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, unter eindeutigem Einfluss der Entwicklung in Deutschland, gewandelt: sowohl infolge der mehrheitlichen Anerkennung, die dort im Anschluss an die ausgezeichnete Monographie Claus Roxins der Lehre von der Tatherrschaft6 zuteil wurde7, als auch infolge der Entwicklung der deutschen Gesetzgebung selbst ab dem Jahre 19748. Und vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass bei der Wiederaufnahme der Arbeiten zur Reform des portugiesischen StGB Ende der 70er Jahre der Entwurf von Eduardo Correia durch die Artikel 26 und 27 des portugiesischen StGB von 1982 ersetzt wurde, die heute immer noch in Kraft sind und folgendermaßen lauten: Art. 26.8 (Täterschaft). Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selber oder mittels eines anderen verübt oder wer an ihr in Absprache oder gemeinsam mit einer oder mehreren Personen unmittelbar teilnimmt oder wer vorsätzlich einen anderen zur Begehung des Verbrechens bestimmt, sofern es zu dessen Ausführung oder beginnender Ausführung kommt. Art. 27.8 (Beihilfe) 1. Als Gehilfe wird bestraft, wer einem anderen bei der Verübung einer Vorsatztat auf irgendeine Weise materielle oder moralische Unterstützung vorsätzlich leistet. 2. Die Strafe für den Gehilfen richtet sich nach der Strafdrohung für den Täter in speziell gemilderter Form.
4 Grundlegend hierzu: Eduardo Correia, Direito Criminal, coleção Studium, 1953, S. 87 ff., worin die allgemeine portugiesische Strafrechtsdogmatik bis zu jenem Zeitpunkt Berücksichtigung findet. 5 Eduardo Correia, Código Penal. Projecto da Parte Geral, 1963. 6 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Aufl. 1963. 7 Eine Lehre, die ich in die portugiesische Rechtskultur brachte: Figueiredo Dias, Direito Penal, Sumários das Lições, 1975, S. 62 ff. 8 Hierzu erneut und ausführlicher Figueiredo Dias (Fn. 2), S. 773 f.
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Die Fassung der zitierten Normen war in gewisser Weise – und ich kann dies insofern beurteilen, als ich Mitglied eines kleinen Ausschusses war, der 1977 damit beauftragt wurde, den Entwurf Eduardo Coreiras zu überarbeiten – das Ergebnis eines „Kompromisses“ zwischen dem kausalistischen Ansatz Eduardo Correias und der Lehre von der Tatherrschaft. Die erzielte Übereinkunft dürfte jedoch mehr der Überzeugung zuzuschreiben gewesen sein, dass der verabschiedete Wortlaut für die konkreten Probleme der Tatbeteiligung vernünftige und gerechte Lösungen bereit stellte, und nicht einer etwaigen Einstimmigkeit bezüglich der rechtsdogmatischen Grundlagen, auf die sich die zukünftige Auslegung und Anwendung stützen sollte. Die wichtigsten Punkte dieser Übereinkunft bestanden in: (1) der Neudefinierung der verschiedenen Täterschaftsformen und selbständigen Behandlung der Beihilfe, oder zusammengefasst, der Übernahme eines restriktiven Täterschaftsbegriffs im Falle vorsätzlicher Begehungsdelikte; (2) der Einstufung der Anstiftung als eine Form der Täterschaft und nicht als Phänomen, das entweder gemeinsam mit der Beihilfe unter einem übergeordneten Begriff der Teilnahme zu subsumieren oder etwa als Tertium-Genus selbständig neben Täterschaft und Beihilfe einzuordnen wäre; (3) der Beibehaltung, im Wesentlichen, der sogenannten „Übertragbarkeit der Tatverhältnisse“ in Art. 289. Dementsprechend heißt es in Art. 26 Satz 4, dass der Anstifter als Täter zu bestrafen ist, im Unterschied zur allgemeinen deutschen Rechtswissenschaft, die – nicht nur aus dogmatischen Erwägungen heraus, sondern auch in Übereinstimmung mit dem Wortlaut der §§ 25 ff. des deutschen StGB – die Auffassung vertritt, der Anstifter sei nicht unter die Täter zu rechnen, sondern unter die Teilnehmer. Es stellt sich die Frage, inwiefern unter dem Blickwinkel der Lehre von der Tatherrschaft das deutsche Konzept der einzige mögliche und widerspruchslose Ansatz ist und ob ersteres Konzept nicht vielleicht besser geeignet ist und gerechtere Lösungen bei der strafrechtlichen Behandlung der Fälle des konkreten Lebens ermöglicht. Oder mit anderen Worten, ob es berechtigt ist, kategorisch und unwiderruflich das Konzept zu ver9 Dem § 28 des deutschen StGB entsprechend, aber mit abweichender Doktrin. Art. 28 des portugiesischen StGB lautet folgendermaßen: „Art. 28 (Rechtswidrigkeit der Beteiligung) 1. Hängt die Rechtswidrigkeit oder der Grad der Rechtswidrigkeit der Straftat von bestimmten Merkmalen oder besonderen Verhältnissen des Täters ab, dann ist für die Anwendung der betreffenden Strafe auf alle Beteiligten ausreichend, wenn diese Merkmale oder Verhältnisse bei einem der Beteiligten vorliegen, es sei denn, dies widerspricht der Zielsetzung der Strafrechtsnorm. 2. Wenn sich infolge der durch vorangehende Ziffer vorgesehenen Regel für einen der Beteiligten eine schwerere Strafe ergibt, kann diese nach Abwägung der Fallumstände durch jene Strafe ersetzt werden, die ohne selbige Regel anwendbar wäre.“ Laut Art. 29 (Schuld der Beteiligten) gilt: „Jeder Beteiligte wird ohne Rücksicht auf die Schuld oder Bestrafung des anderen nach seiner Schuld bestraft.“ Die Auslegung dieser Bestimmungen hat in der portugiesischen Strafrechtsdogmatik zu größten Unklarheiten und Schwierigkeiten geführt. Vgl. hierzu die verschiedenen Beurteilungen von Teresa Beleza, in: Estudos em Homenagem ao Prof. Doutor Eduardo Correia, 1989, S. 595 ff.; Salinas Monteiro, A Comparticipação nos Crimes Especiais do Código Penal, 1994, S. 92 ff.; Susana Aires de Sousa, Revista Portuguesa de Ciência Criminal (= RPCC) 15 (2005), 348 ff.; Figueiredo Dias (Fn. 2), S. 848 ff.
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werfen, wie es in den Artikeln 26 und 27 des portugiesischen StGB10 seinen Ausdruck findet und das sich nach meinem Verständnis darauf beschränkt, die Täterschaft von der Beihilfe zu unterscheiden und unter bestimmten Voraussetzungen den Anstifter unter die Täter rechnet.
II. Aus meiner Sicht sind Anstifter nicht bloß dem Gesetze nach „als Täter zu bestrafen“, sondern sind vielmehr echte „Täter“. Diese Anschauung, die darauf aufbaut, Täterschaft bei vorsätzlichen Begehungsdelikten als Tatherrschaft aufzufassen, ist jedoch innerhalb der portugiesischen Rechtsdogmatik, wenn auch von einigen Autoren akzeptiert11, so doch weit davon entfernt, unkontrovers oder vorherrschende Meinung zu sein12. Schauen wir uns also die Argumente an, mit denen ich sie begründe. 1. Zunächst möchte ich das Argument entkräften, das von einigen Autoren vertreten wird13, Art. 26 definiere den Anstifter nicht direkt als Täter, sondern schreibe lediglich vor, er sei „als Täter zu bestrafen“. Genau dasselbe sagt selbige Norm jedoch auch vom unmittelbaren Täter, vom mittelbaren Täter und vom Mittäter, die jedoch zweifellos als Täter zu betrachten sind. Von hier aus lässt sich also nicht gegen die Einstufung des Anstifters als Täter argumentieren. Aber vielleicht trifft der Umkehrschluss nicht zu. Der portugiesische Gesetzgeber kannte sicherlich den genauen Wortlaut der einschlägigen deutschen Gesetzgebung, insbesondere die ausdrückliche Dreiteilung in § 25 StGB für die Täterschaft, § 26 für die Anstiftung und § 27 für die Beihilfe. Ebenso waren ihm sicher die Implikationen einer solchen Einteilung bewusst, die die Anstiftung von der Täterschaft ausschließt und sie stattdessen zusammen mit der Beihilfe der Kategorie der „Teilnahme“ zuordnet. Der portugiesische Gesetzgeber hat also offenbar absichtlich (und nicht aus Inkompetenz, Verwirrung oder Unbedachtsamkeit) die Anstiftung der unmittelbaren und mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft zur S. gestellt und vorgeschrieben, in jedem dieser Fälle den Handelnden als Täter zu bestrafen und jeden Verweis auf die „Teilnahme“14 10 Im Wesentlichen im Sinne der folgenden Darstellung Figueiredo Dias, Libro de Homenaje al Prof. Gonzalo Rodríguez Mourullo, 2005, S. 343 ff. und (Fn. 2), S. 797 ff. 11 Zu nennen sind Nuno Brandão, RPCC 18 (2008), 582 ff. und Susana Aires de Sousa, in: Estudos em Homenagem ao Prof. Doutor Figueiredo Dias II, 2009, S. 1012 ff. Und bereits früher – wenn auch unter dem Blickwinkel eines extensiven Täterschaftsbegriffs auf der Basis der Kategorie der Kausalität sowie bei gleichzeitiger Unterordnung der mittelbaren Täterschaft und der Anstiftung unter den übergeordneten Betriff der „moralischen oder intellektuellen Täterschaft“ – Eduardo Correia (Fn. 4), S. 128 ff. und Cavaleiro de Ferreira, Direito Penal, 1992, S. 494. 12 Vgl. die Autoren, die Conceição Valdágua angibt in: Estudos em Homenagem a Cunha Rodrigues, I, 2001, S. 918 Fn. 8. 13 Bibliographische Angaben erneut bei Conceição Valdágua (Fn. 12). 14 Wozu der – nur indizienhafte, jedoch signifikative – Umstand kommt, dass nach der deutschen Gesetzgebung als Anstifter gilt, „wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätz-
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unterlassen. Wer weiterhin die Zugehörigkeit der Anstiftung zur Täterschaft bestreitet, ohne sich dem Vorwurf aussetzen zu wollen, seine eigenen Rechtsauffassungen mit den ordnungsgemäß verfassten gesetzlichen zu verwechseln, der müsste zumindest die Diskussion von der dogmatischen Ebene auf die Ebene der Kritik der Gesetzgebung und Rechtsabfassung verlagern. Und dies tun die portugiesischen Autoren nicht, die die Anstiftung der Kategorie der Teilnahme zuordnen. Wie dem auch sei und um der Kritik einer legalistisch-positivistischen Sichtweise zu entgehen, möchte ich vom Wortlaut des Gesetzes zur Sache selbst übergehen, die es regeln soll, sowie zum Verständnis des konkreten Sinngehalts, der dem Wortlaut zugrunde liegt 2. a) Die Figuren des Täters und des Anstifters finden sich weder in der Welt der Begriffe noch den Dingen selber vor, sondern sind ausgesprochen normative Gebilde. Auf dieser Grundlage ist nach geltendem portugiesischen Recht (bei Beschränkung der Betrachtung wie in vorliegender Arbeit auf die sogenannten „Herrschaftsdelikte”15) Täter nicht derjenige, der die Straftat verursacht, sondern der sie mittelbar oder unmittelbar ausführt. Was im Übrigen den rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht, wonach die Bestrafung auf die Tatbestandsverwirklichung16 bezogen und gebunden ist. Da nun Täter derjenige ist, der den Tatbestand verübt und da jeder Tatbestand tatbestandliches Unrecht17 ist, dann beruht das Wesen der Täterschaft notwendig auf dem Wesen des Unrechts. Und Letzteres ist im Strafrecht als persönliches Unrecht gefasst und nicht als kausales Unrecht ohne Ansehung der Person des Handelnden. Vor diesem Hintergrund ist allein ein restriktiver Täterbegriff zulässig, der die Täterschaft an den personalen Gehalt des tatbestandlich erfassten Unrechts knüpft. Die Lehre von der Tatherrschaft ist meiner Meinung nach unter allen Theorien zur Täterschaft diejenige, die am besten zur gerade dargelegten Grundauffassung passt18. Sie schafft das Wesentliche, nämlich ein normatives Prinzip, das mit der Verwirklichung des tatbestandlichen Unrechts19 verbunden ist, und damit das wesentliche Kriterium für die Entdeckung und Erkenntnis dessen, worum es bei der Täterschaft eigentlich geht. Vorausgesetzt wird dabei allerdings, dass die Tatherrschaft nicht auf eine wie auch immer geartete psychologische, objektive oder subjektive Realität oder Kombination dieser Aspekte zurückgeführt wird, sondern stets eine Wertung lich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat“, während die portugiesische Gesetzgebung den Anstifter als denjenigen definiert, der vorsätzlich „einen anderen zur Begehung des Verbrechens bestimmt“, ohne zu sagen, zu wem dieses Verbrechen „gehört“. 15 In der Bedeutung gemäß Roxin, Strafrecht, AT II, 2003, § 25 Rn. 13. 16 Figueiredo Dias, in: Escritos em Homenagem a Alberto Silva Franco, 2003, S. 221 ff. 17 Über die hier implizierte Auffassung Figueiredo Dias (Fn. 2), S. 265 ff. 18 Detaillierter hierzu Figueiredo Dias (Fn. 2), S. 765 ff. 19 Diese Verbindung wird besonders betont - indem der Tatherrschaft eine objektive Konnotation verliehen wird – von Luzón Peña, Anuario de derecho penal y ciencias penales 42, 1989, S. 889 ff. und von Díaz y García, La autoría en Derecho Penal, 1991; schließlich noch Luzón Peña/Díaz y García, FS Roxin, 2001, S. 575.
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beinhaltet, die auf der gesellschaftlichen Bedeutung der Mitwirkung des Täters an der Straftat beruht20. Daher kann und muss das Grundprinzip der Tatherrschaft auf die jeweiligen Fallumstände, insbesondere unter Einbeziehung einer Prüfung der verschiedenen Täterschaftsformen angepasst und präzisiert werden. b) Laut Art. 26 des portugiesischen StGB ist Anstifter derjenige, der vorsätzlich einen anderen zur Ausübung eines vorsätzlichen tatbestandlichen Unrechts bestimmt. Diese Bestimmung ist auf denkbar enge Weise auszulegen21. Anstifter ist nicht, wer die Absicht eines anderen, eine Straftat zu verüben, ermutigt, berät, sie vorschlägt oder diesen in ihr bestärkt; ebensowenig ist Anstifter, wer ihn einfach zur Verübung der Straftat verleitet, indem er ihm hilft, physische, geistige oder moralische Widerstände zu überwinden oder sogar die letzten Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die ihn vom Verbrechen abhalten; mit anderen Worten, keiner, der durch sein Verhalten die Beweggründe des Ausführenden bei der Leitung der Tatbestandsverwirklichung beeinflusst. Eine solche Person ist kein Täter, sondern gegebenenfalls bloß Teilnehmer in einer erweiterten Form der Beihilfe22. Anstifter im Sinne von Art. 26 ist allein, wer beim Ausführenden den Entschluss vollständig23 schafft oder erzeugt, ein bestimmtes strafrechtlich geschütztes Rechtsgut durch Verübung eines konkreten Tatbestands zu verletzen. Zu diesem Zweck kann der Anstifter ihm den Gedanken zur Tat eingeben, ihm ihre Möglichkeit, Vorteile oder sein Interesse offenbaren, oder er kann seine volle Verfügbarkeit aufbieten, um aus der Nähe in allen Einzelheiten den Prozess der endgültigen Entschlussfassung des Ausführenden zu begleiten. Auf psychologischer Ebene wird vorausgesetzt, dass mit der „Freiheit“ des unmittelbar Ausführenden gleichzeitig vereinbar ist, dass er aus einem Zustand psychologischer Abhängigkeit heraus handelt, wobei er freiwillig einen Entschluss ausführt, der jedoch in ihm durch den Anstifter geschaffen oder erzeugt wurde. Auf Ebene der juristischen Bewertung wird verstanden und anerkannt, dass in solchen Fällen die Voraussetzung der vollen Verantwortlichkeit – der vorsätzlichen Verantwortung – des unmittelbaren Täters damit vereinbar ist, den eigentlichen „Herrn“ der Straftat zur Verantwortung zu ziehen, jene Person also, die 20 Ich gehe an dieser Stelle nicht weiter auf die Frage des normativen, psychologischen oder normativ-psychologischen Charakters der Tatherrschaft ein. Nur soviel sei angemerkt, dass der normative Charakter der Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme in letzter Zeit durch die deutsche Rechtswissenschaft zunehmend betont worden ist, so dass Roxin (Fn. 15), § 25 Rn. 22 ff., in diesem Zusammenhang bereits von einer „normativen Kombinationstheorie“ spricht. 21 Wesentlich enger als die deutsche Lehrauffassung den Begriff „bestimmen“ auslegt, wie er sich in § 26 des StGB findet. Siehe Roxin (Fn. 15), § 26 Rn. 65 ff. und Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT I, 5. Aufl. 2004, § 12 Rn. 140 ff. 22 Diese Fälle nennt Cavaleiro de Ferreira (Fn. 11), S. 494, „moralische Beihilfe“ insofern sie „gleichwertig dem Ratschlag an einen anderen oder Anstiftung eines anderen [ist], bei denen keine moralische Täterschaft vorliegt“, d. h. die „einen anderen nicht zur Begehung der Straftat bestimmt“. 23 Man könnte vielleicht unter Zuhilfenahme des Französischen sagen: „qui fabrique de toutes pièces“.
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beim Vordermann den Entschluss zur Verwirklichung des Tatbestands erzeugt hat. Der Anstifter verfügt dabei – ebensosehr oder häufig sogar mehr noch als der mittelbare Täter oder Mittäter – über die Tatherrschaft im Hier und Jetzt in Form der Entschlussherrschaft24. Der Anstifter ist daher wirklicher Gebieter, Inhaber oder Beherrscher wenn nicht des tatbestandlichen Unrechts als solchem, so doch des Entschlusses des Angestifteten, dieses zu begehen. Diese Bestimmung des Tatentschlusses enthält daher antizipierend die Gesamtheit der Tatbestandsmerkmale und damit auch den konkreten Unrechtssachverhalt. Dieses Unrecht ist zwar ein persönliches Werk des Vordermanns, aber das Geschehen ist (zugleich oder vor allem) Werk des Anstifters, dessen Beitrag eine (Mit-)Verwirklichung eines Unrechts und nicht etwa nur (externe oder „fremde“) Teilnahme am Unrecht eines anderen darstellt. Nur in diesem Fall liegt täterschaftliche Anstiftung vor. Natürlich gibt es Verhaltensweisen, die im jeweiligen Kontext rein formell unter die Bezeichnung der „Anstiftung“ im weiteren Wortsinne fallen und die gerade hervorgehobenen Merkmale nicht aufweisen. Hierunter fielen Fälle wie die oben beschriebenen des Ermunterns, Beratens, Vorschlagens oder Bestärkens einer Tatabsicht; Situationen also, bei denen der Hintermann durch sein Verhalten die Beweggründe des Vordermanns beeinflusst, ohne diesen eigentlich zur Tatbestandsbestandsverwirklichung zu „bestimmen“ im engeren Sinne dieses Wortes. Bei solchen Verhaltensweisen handelt es sich nicht um das strafrechtliche Konzept der „Anstiftung“ gemäß Art. 26 Satz 4, sondern um Hilfe bei der Straftat eines anderen und folglich Beihilfe im Sinne von Art. 27 des portugiesischen StGB. Es ließe sich daher sagen, dass der allgemeine Begriff der Anstiftung – im weiteren Sinne – sich unterteilt einerseits in gewisse Handlungen („Anstiftung als Bestimmung“), bei denen Täterschaft vorliegt (Art. 26 Satz 4), und zum anderen in gewisse Handlungen („Anstiftung als moralische Unterstützung“, Art. 27 Satz 2), bei denen Beihilfe vorliegt. Um letztere von ersterer abzugrenzen, könnte man unter Umständen den (dogmatisch unvorbelasteten) Begriff der Verleitung verwenden. 3. Der vorherrschenden deutschen Lehrmeinung gegenüber muss die oben dargelegte These notwendig in einen eindeutigen Gegensatz treten. Und dies bereits insofern, als sie zu vergessen scheint, dass der Täter – die Zentralgestalt, wie die sehr plastische Bezeichnung lautet25 – das personale Zentrum des Geschehens bildet. Diese Formel – wenn auch sehr sinnvoll, jedoch nicht in der Lage, ihre eigenen Grenzen zu ziehen – wird durch die von mir eingenommene Position keineswegs in Abrede gestellt. Wenn z. B. A danach trachtet, eine außereheliche Beziehung mit B zu beenden und will, dass diese stirbt, und A hierzu in deren Ehemann C durch Anfa24 Ich muss mich ganz herzlich bei Cláudia Santos von der juristischen Fakultät von Coimbra dafür bedanken, mit mir den Gedanken diskutiert zu haben, den ich hier darstellen möchte, und die mir wertvolle Hinweise für die Entwicklung meiner diesbezüglichen Auffassung gegeben hat. 25 Erneut Roxin (Fn. 15), § 25 Rn. 10.
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chung dessen Hangs zu extremer Eifersucht in diesem den Entschluss – den der Ehemann andernfalls nicht fassen würde – erzeugt, sie umzubringen, und wenn die Tat tatsächlich verübt oder die Ausführung zumindest begonnen wird, möglicherweise auf genau die Art und Weise und unter den Umständen, die A fleißig und beharrlich C eingegeben hat, dann dürfte ich wohl im Einklang mit dem – nur zu berechtigten – allgemeinen Empfinden sagen können, dass die Straftat sicher nicht weniger dem Anstifter als dem Ausführenden zugeschrieben werden muss. Und hier darf wohl mit Recht davon ausgegangen werden, dass A das personale Zentrum, die Zentralfigur, des Geschehens ist und dass das tatbestandliche Unrecht sein „Werk“ ist (zumindest auch sein Werk; vorausgesetzt auch, es kommt keine Mittäterschaft in Betracht). Man kann sagen, dass auf diesem Weg – entgegen dem Wortlaut des deutschen und des portugiesischem StGB – die Unterscheidung zwischen mittelbarer Täterschaft und Anstiftung ins Wanken gerät. Ich halte diesen Einwand jedoch für unzutreffend. Nach meinem Verständnis26 basiert diese Unterscheidung sachlich auf dem Selbstverantwortungsprinzip. Laut diesem Prinzip findet die mittelbare Täterschaft auf solche Situationen Anwendung, bei denen der Vordermann – das „Instrument“, wie man ihn auch ganz richtig nennt – infolge der Handlungen des Hintermanns die Straftat nicht vollverantwortlich ausführt und ihm diese nicht als vorsätzlich schuldhaft zur Last gelegt werden kann27. Allein unter dieser Voraussetzung kann man, wie Roxin es tut, von Willensherrschaft als unterscheidendem Merkmal der mittelbaren Täterschaft sprechen28. Wo diese Grundvoraussetzung nicht gegeben ist bzw. der Vordermann in strafrechtlicher Hinsicht vollverantwortlich gehandelt hat, da kann der Hintermann nicht mittelbarer Täter sein, sondern allein (falls nicht Mittäterschaft vorliegt) Anstifter, möglicherweise Gehilfe. Das Selbstverantwortungsprinzip ist also kein Kriterium für jede Täterschaft in Situationen, in denen Vordermann und Hintermann gegeben sind, sondern einzig und allein Kriterium der mittelbaren Täterschaft. Und ich glaube erkennen zu können, dass einige Wege, die in letzter Zeit innerhalb der deutschen Rechtsdogmatik (und auch der portugiesischen, die dieser folgt) begangen oder versuchsweise beschritten werden, die Gründe für meine Auffassung eindeutig bekräftigen.
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Im Anschluss an Roxin (Fn. 6), S. 143 ff. und an Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 12 ff. Ganz in diesem Sinne das Urteil des Tribunal da Relação (= „Obergericht“) in Porto: Acórdão da Relação do Porto de 1-10-2003, Colectânea de Jurisprudência IV-2003, S. 213. 27 Diese Auffassung basiert auf meiner, von mir bereits lange gehegten Überzeugung, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit dogmatisch komplexe Wirklichkeiten sind, die Bestandteile enthalten, von denen einige zum subjektiven Unrechtstatbestand und andere zur Schuld gehören: vgl. hierzu bereits Figueiredo Dias, ZStW 95 (1983), 244 ff. und ferner schließlich (Fn. 2), S. 270 ff. 28 Roxin (Fn. 15), § 25 Rn. 45 ff.
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III. 1. In der Tat hat ein Teil der deutschen Rechtsdogmatik es als notwendig empfunden, in verschiedener Hinsicht und aus unterschiedlichen Gründen die vorgenannte Grundvoraussetzung der mittelbaren Täterschaft, das Selbstverantwortungsprinzip, weniger streng zu handhaben29. Nach dieser Lehrauffassung wäre die Leugnung der mittelbaren Täterschaft gleichbedeutend damit, die Täterschaft insgesamt in Abrede zu stellen und die Möglichkeiten auf die Ebene bloßer (und eventueller) Teilnahme zurück zu verweisen. Eine solche Lösung birgt aber nicht nur das Risiko der Schaffung von Straflücken in sich, die aus kriminalpolitischer Sicht problematisch wären; sie würde vielmehr auch zu einer unhaltbaren Behandlung der vorliegenden Fälle führen, da als Täter derjenige bestraft würde, den der geringere Teil strafrechtlicher Verantwortung trifft, und als bloßer Teilnehmer derjenige, der im Grunde die eigentliche Zentralgestalt des verwirklichten Tatbestands ist und den, dem Prinzip nach, eine größere Schuld trifft. Ich glaube jedoch nicht, dass die Lösung der Probleme in einer Ausweitung (die fast kasuistische Ausmaße annimmt) des Begriffs der mittelbaren Täterschaft liegt, womit dieser die scharfen Konturen abhandenkommen, die ihr infolge ihrer Befürwortung eines restriktiven Täterschaftsbegriffs auferlegt sind. Vielmehr ist der mittelbaren Täterschaft eine andere Form – echter – Täterschaft an die S. zu stellen: die Anstiftung. Denn was in solchen Fällen passiert, ist eine Aufteilung (besser: Verdopplung) der Tatherrschaft bezüglich des gleichen tatbestandlichen Unrechts30 (Fälle von Mittäterschaft hier einmal beiseite). Zählen wir nun die wichtigsten Fälle auf. (1) Zu berücksichtigen sind zunächst einmal jene Fälle – die hinsichtlich Struktur und Bedeutung allerdings recht unterschiedlich voneinander sind –, bei denen eine gewisse Lehrauffassung mittelbare Täterschaft aufgrund kleiner Einbußen an Selbstverantwortung des Ausführenden voraussetzt, die der Hintermann provoziert oder ausgenutzt hat; also eine psychische Abhängigkeit des Ausführenden vom Hintermann, die jedoch nicht groß genug ist, um seine vorsätzliche Verantwortung aufzuheben. Für einige Autoren liegt ein solcher Fall vor, wenn der Vordermann mit verminderter Schuld handelt, insbesondere wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit oder vermeidbarem Verbotsirrtum31. Bei keinem dieser Fälle sollte meiner Meinung nach angesichts des Selbstverantwortungsprinzips von mittelbarer Täterschaft ausgegangen werden. Es liegt hier jedoch eine Form der Bestimmung vor, die zur Figur einer täterschaftlichen Anstiftung führen kann.
29 Was, laut Kühl, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2000, S. 757, einige Autoren dazu veranlasst hat, diesbezüglich von einer „eingeschränkten Verantwortungstheorie“ zu sprechen. 30 Kühl (Fn. 29), § 20 Rn. 75. 31 Minutiös dazu Roxin (Fn. 15), § 25 Rn. 49 ff.
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(2) Eine zweite Gruppe bilden solche Fälle, die heute in Deutschland seitens einer bestimmten Lehrmeinung als „Irrtum über den konkreten Handlungssinn“ bezeichnet werden32. Auch hier gilt entweder, dass die vom Hintermann vollständig herbeigeführte Täuschung, der der Vordermann unterliegt, dessen Vorsatz ausschließt und damit den Hintermann generell zum mittelbaren Täter macht, oder sie schließt den Vorsatz nicht aus, in diesem letzteren Fall der Hintermann täterschaftlicher Anstifter ist, sofern die vorsätzlich herbeigeführte Täuschung den Vordermann bestimmt hat, die Straftat zu begehen. (3) Die relevanteste Gruppe von Situationen betrifft solche Straftaten, die innerhalb eines Bedingungsrahmens stattfinden, den Roxin „organisatorische Machtapparate“ genannt hat33. Auch in diesen Fällen denke ich heute jedoch34, dass die Abhängigkeit entweder so beschaffen ist, dass sie die volle Verantwortlichkeit des Vordermanns aufhebt, z. B. durch Vorliegen eines Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrundes – womit dann mittelbare Täterschaft vorläge; oder aber der Vordermann handelt voll verantwortlich – womit der Hintermann (in den meisten Fällen, vor allen den schwerwiegendsten) dann täterschaftlicher Anstifter wäre. Ein solches Konzept erkennt nicht nur das Selbstverantwortungsprinzip als Kriterium der mittelbaren Täterschaft an, sondern eignet sich darüber hinaus auch zur Beseitigung von Unklarheiten bei der Rechtsanwendung, die andernfalls schwer zu vermeiden sind. Wenn dieses Konzepts akzeptiert wird, muss nicht mehr herausgefunden werden – was ungeheuer schwierig ist – ob der betreffende organisatorische Machtapparat groß genug ist, um die Anforderungen zu erfüllen, die die Doktrin organisatorischer Machtapparate zu diesem Zweck an eine Hierarchie und den mit ihr einhergehenden Automatismus stellt. Und zum anderen ist es größtenteils gleichgültig, in welcher Beziehung die Organisation zur bestehenden Rechtsordnung steht, wobei problemlos von Anstiftung auch im Falle von Machtapparaten ausgegangen werden kann, deren Ziele grundsätzlich nicht im Widerspruch zur geltenden Rechtsordnung stehen. In gleicher Weise und vor allem muss eine Täterschaft nicht deshalb verneint werden, bloß weil die Verübung der Straftat unter den Mitgliedern der Organisation nicht weitgehend austauschbar ist, z. B. weil nur einer oder wenige Untergebene die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten besitzen, um bestimmte Straftaten zu verüben, vor allem im Rahmen strafrechtlicher Spezialgebiete wie Wirtschaft, Finanzen, Informatik etc. Hinzu kommt ferner, dass sich auf diese Weise die Frage erledigt – die im Rahmen der von mir vertretenen Auffassung mit einem Ja beantwortet wer-
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Vgl. Roxin (Fn. 15), § 25 Rn. 94; und bereits (Fn. 6), S. 213 f. Roxin (Fn. 6), S. 125 f., 242 ff. 34 Ich habe die Thematik der organisatorischen Machtapparate in die portugiesische Strafrechtsdogmatik eingeführt in (Fn. 7), S. 62 f. Und lange Zeit hindurch sah ich die Relevanz dieser Fälle unter dem Blickwinkel der mittelbaren Täterschaft: so noch in: Ferré Olivé/ Anarte Borallo (Hrsg.), Delincuencia organizada. Aspectos penales, procesales y criminológicos, 1999, S. 99 und ff. Bereits im Sinne des vorliegenden Beitrags Figueiredo Dias (Fn. 2), S. 789 f. und 805 f. 33
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den muss – ob die Figur des Anstifters auch in der Unternehmenskriminalität nützliche Anwendung finden kann35. (4) Eine wichtige Gruppe von Fällen, die in direktem Zusammenhang mit dieser Problematik stehen, ist ganz kürzlich in Portugal von Conceição Valdágua unter der Bezeichnung Verlockung behandelt worden. Die Autorin geht davon aus, dass nicht nur im deutschen sondern auch im portugiesischen Recht die Anstiftung zur Kategorie der „Teilnahme“, nicht der Täterschaft, gehört. Aber sie vertritt die Auffassung, dass Fälle der Verlockung – dadurch gekennzeichnet, dass „der Hintermann den Ausführenden zur Verübung des tatbestandlichen Unrechts dadurch veranlasst, dass er ihm im Gegenzug eine bestimmte Leistung, sei es einer Sache oder einer Handlung, bietet (die der Hintermann jedoch nicht selbst erbringen muss)“ – teilweise als mittelbare Täterschaft und nicht nur als Teilnahme zu betrachten sind36. Dies soll gegeben sein bei Fällen von Absprache (oder eines Versprechens, das auf eine Absprache hinausläuft; aber nicht mehr bei bloßen Geschenken), bei der sich ein Konsens bildet im Bewusstsein, dass der Hintermann eine Leistung dafür erbringt („Synallagma“), dass der Vordermann ein tatbestandliches Unrecht verwirklicht, das vom Hintermann geplant und geleitet wird. Warum nun diese erneute Ausweitung des Rahmens der mittelbaren Täterschaft zu Lasten des Selbstverantwortungsprinzips? Zunächst einmal deswegen, weil unter kriminalpolitischem Gesichtspunkt die Behandlung solcher Fälle als Teilnahme zu Strafbarkeitslücken führt, die schwerlich akzeptabel und nachvollziehbar wären. Dann aber auch, weil auf dogmatischer Ebene in den vorgenannten Fällen der Verlockung die Konsensbildung zwischen Vordermann und Hintermann bedingt, dass Letzterer den endgültigen Entschluss zur Verübung der Straftat fällt, er also die Macht über die letztendliche Entscheidung des Kausalprozesses innehat, der zur tatbestandlichen Verwirklichung hinführte, oder, mit einem Wort, die Willensherrschaft. Ich stimme darin überein, dass nicht in allen Fällen von Verlockung Täterschaft vorliegt, sondern einige dieser Fälle im Rahmen der Beihilfe zu behandeln sind. Aber auch hier erscheint mir nicht notwendig, der mittelbaren Täterschaft und der Willensherrschaft Fälle zuzuordnen, bei denen es sich um Entschlussherrschaft und folglich um echte täterschaftliche Anstiftung handelt. Auf diese Weise bleiben wir dem Selbstverantwortungsprinzip als Wesen der mittelbaren Täterschaft treu. 35
Conceição Valdágua, in: Liber Discipulorum para Figueiredo Dias, 2003, S. 651, wo sie sich löst von der „Roxinschen Kategorie der Organisationsherrschaft (bzw. Willensherrschaft infolge organisatorischer Machtapparate) als spezifischer Form von Tatherrschaft und autonomer Grundlage der mittelbaren Täterschaft“. Jedoch nicht wie im vorliegenden Text, um in diesen Fällen eine mittelbare Täterschaft zu leugnen und eine Täterschaft im Namen der Anstiftung anzunehmen, sondern um die These zu vertreten, dass in diesen Fällen die mittelbare Täterschaft nicht in der Organisationsherrschaft begründet liege, sondern in der freiwilligen Unterordnung des Ausführenden unter den Entschluss des mittelbaren Täters. Eine solche Unterordnung kann in vielen Fällen gleichbedeutend mit dem sein, was ich als Bestimmung im Sinne der täterschaftlichen Anstiftung verstehe. 36 Conceição Valdágua (Fn. 12), S. 935 (im Originalwortlaut unterstrichen).
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IV. Das Argument, das immer wieder gegen die von mir vertretene These vorgebracht werden wird – nach der die Anstiftung unter den vorgenannten Bedingungen als Täterschaft zu betrachten ist – beruft sich darauf, dass Art. 26 selbst des portugiesischen StGB die Anstiftung gegenüber den übrigen als Täterschaft zu bestrafenden Kategorien spezialisiert, insofern nämlich die Strafbarkeit der Anstiftung davon abhängig gemacht wird, dass Ausführung oder beginnende Ausführung vorliegt. Hier liege der Beweis vor, dass laut dem Geiste des Gesetzes selbst die Anstiftung an eine Klausel der Akzessorietät bezüglich des tatbestandlichen Unrechts geknüpft wird; eine Klausel, die, wie allgemein angenommen wird, typisch für die Teilnahme an der Straftat eines anderen sei, und nur dieser gegenüber (richtiger: dem tatbestandlichen Unrecht der Hauptstraftat gegenüber) von einer Beziehung der Akzessorietät ausgegangen werden könne37. Aber selbst vorausgesetzt einmal man bejaht diese Lehrauffassung, so bleibt doch stets die Frage, um was für eine Art von Akzessorietät es sich im vorliegenden Fall handelt. Sicher scheint zumindest, dass eine solche Akzessorietät nicht von jener Art zu sein braucht, die in der Lehre von der Teilnahme als qualitative oder interne Akzessorietät bezeichnet wird und eine bestimmte Anzahl und Art (größer oder kleiner, strenger oder weniger streng gefasst) von Tatbestandsmerkmalen festlegt, die bei der Straftat des Täters gegeben sein müssen. Was im vorliegenden Fall aber vielleicht vorliegt, ist die Forderung lediglich einer gewissen quantitativen oder externen Akzessorietät hinsichtlich der Begehungsphase, in die die Straftat eingetreten sein muss. Die Behauptung würde aber jedenfalls lauten, dass die Figuren der Anstiftung und der Beihilfe deshalb unter dem übergeordneten Begriff der Teilnahme zusammen zu fassen seien, weil das Gesetz beide Figuren – im Unterschied zu den Formen der Täterschaft – an die Bedingung quantitativer Akzessorietät knüpft38 und fordert, dass in beiden Fällen wenigstens eine Verwirklichungshandlung vorgenommen wurde. Ich glaube jedoch nicht, dass dieses Argument ausreicht, um die Zugehörigkeit der Anstiftung zur Kategorie der Täterschaft zu verneinen. Zunächst einmal fordert Art. 27 des portugiesischen StGB bezüglich der Beihilfe nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich – den Beginn der Ausführung wie Art. 26 Satz 4 hinsichtlich der Anstiftung. Darüber hinaus lässt sich aber die vorliegend bezüglich der Anstiftung aufgeworfene Frage in gleicher Weise auch hinsichtlich der mittelbaren Täterschaft und Mittäterschaft stellen. Ich will damit nicht sagen, dass die Lösung für alle Formen der Täterschaft die gleiche zu sein hat. Ich hebe an dieser Stelle lediglich hervor, dass das gleiche Problem (einer – übernehmen wir hier einmal diese Bezeichnung 37 In diesem Sinn im Wesentlichen schließlich noch Conceição Valdágua (Fn. 12), S. 918 ff., 932, mit breiter bibliographischer Angabe von übereinstimmenden portugiesischen Arbeiten (S. 918 Fn. 8). Und vorher bereits, wenn auch vorsichtiger, dies., ZStW 98 (1986), 104 f. 38 So Salinas Monteiro (Fn. 9), S. 147 ff.
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– „quantitativen Akzessorietät“) sich auch in Situationen stellt, bei denen fraglos von Täterschaft auszugehen ist: das ganze Problem der Bestimmung des Versuchsbeginns seitens des mittelbaren Täters und des Mittäters verdeutlicht, dass die unausweichliche Verbindung zwischen der Handlung des mittelbaren und des unmittelbaren Täters bzw. der jeweiligen Handlung der verschiedenen Mittäter voraussetzt, dass die Ausführung des tatbestandlichen Unrechts begonnen wird39. Besonders wenn wir berücksichtigen, dass eine Reihe von Autoren die Auffassung vertritt, dass der Versuchsbeginn seitens des mittelbaren Täters erst dann vorliegt, wenn das Instrument die Ausführung beginnt und hiermit überhaupt erst von einer Gesamthandlung gesprochen werden kann. Wobei selbstverständlich niemand, der diesen Standpunkt vertritt, deshalb die mittelbare Täterschaft geleugnet und sich gezwungen gesehen hätte, diese in Teilnahme zu verwandeln. Meiner Meinung nach liegt der Grund für die gesetzliche Forderung, dass in Fällen von Anstiftung der Versuchsbeginn seitens des Angestifteten gegeben sein muss, ganz woanders und hat nichts mit dem Prinzip der Akzessorietät als solchem zu tun: vielmehr handelt es sich um eine rein kriminalpolitische Forderung, die von der Überlegung ausgeht, dass der Vorgang der Bestimmung vor allem ein innerlicher oder psychologischer ist. Deshalb unterstreicht das Gesetz ausdrücklich, dass nur dann von Bestimmung ausgegangen werden kann, wenn sie den Angestifteten zur Verübung von Handlungen führt, durch die sie offenbart und ausgeführt wird – man könnte auch sagen: sich äußerlich kundtut. Wenn hierin der Grund für die gesetzliche Forderung liegt40, dann ist offenkundig, dass durch sie in keiner Weise eine Klassifizierung der Anstiftung als echter Täterschaft oder bloßer Teilnahme berührt wird.
V. Es lohnt sich, im Folgenden einige Probleme der Doktrin des Anstifters unter dem Blickwinkel des vorliegenden Konzepts der Anstiftung als einer Form der Täterschaft zu betrachten. 1. Eines dieser Probleme bezieht sich auf den Vorsatz bei der Anstiftung. Schaut man sich die portugiesische Gesetzgebung an, könnte man daraus schließen, es läge hier ein weiterer Punkt im Sinne einer Einstufung der Anstiftung als Teilnahme und nicht als Täterschaft vor. Dies ließe sich aus Art. 26 Satz 4 ableiten, wo gefordert wird, die Anstiftung müsse vorsätzlich erfolgen – im Unterschied zu den übrigen For39 In dieser Hinsicht und innerhalb dieser Grenzen stimme ich den Auffassungen zu, die Conceição Valdágua bezüglich dieser Materie in verschiedenen Untersuchungen vertreten hat: siehe (Fn. 12), S. 933 f. 40 Die Forderung, die Ausführung müsse wenigstens begonnen worden sein, wurde bereits, bezüglich der Anstiftung, von Autoren erhoben, die diese, wie Cavaleiro de Ferreira (Fn. 11), S. 483 und Eduardo Correia (Fn. 4), S. 121 ff., 129, als Täterschaft ansahen (und sie, zusammen mit der mittelbaren Täterschaft, unter den übergeordneten Begriff der moralischen oder intellektuellen Täterschaft subsumierten).
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men der Täterschaft, aber analog zu dem, was Art. 27 Nr. 1 für die Beihilfe vorschreibt. Ich halte dieses Argument jedoch nicht für stichhaltig. Die Forderung nach Vorsätzlichkeit der Anstiftung ergibt sich aus den engen Grenzen, innerhalb derer, wie gesagt, von täterschaftlicher Anstiftung ausgegangen werden darf und die sich daraus ergeben, dass der Anstifter im Angestifteten den Entschluss zur Verübung des tatbestandlichen Unrechts hervorbringt oder erzeugt. Diese Situation lässt beim Anstifter nur Vorsatz, nicht Fahrlässigkeit zu. Ein großer Teil der deutschen Rechtsdogmatik pflegt einen doppelten Vorsatz des Anstifters41 vorauszusetzen, einmal bezogen auf die Bestimmung des Anstifters, und zum anderen bezogen auf die begangene Straftat (das konkrete tatbestandliche Unrecht), ohne dass der Vorsatz jedoch Art und Weise der Ausführung beinhalten muss. Dieser Lehre ist zuzustimmen. Aber meiner Meinung verhält es sich bereits anders in den Fällen – die heute sicher immer wichtiger und häufiger werden durch ihr besonderes Gewicht im Rahmen der organisierten Kriminalität – des Agent Provocateur (in eben jenem Sinne eines Straftäters, dessen Handeln darauf abzielt, jemanden zum Entschluss zu bewegen, ein tatbestandliches Unrecht zu begehen, zugleich dabei aber nicht über die Versuchsphase hinaus zu gelangen, um ihn bereits an dieser Stelle anzuzeigen oder festzunehmen und so zu verhindern, dass es zur Tatvollendung kommt). Im Gegensatz zur mehrheitlichen Auffassung der deutschen Rechtswissenschaft sehe ich angesichts des portugiesischen Rechts keinen Grund, warum der Vorsatz des Anstifters notwendig auf die Vollendung der Straftat oder die tatsächliche Verletzung des Rechtsguts gerichtet sein muss. Eine solche These wird nicht nur durch den Wortlaut von Art. 26 Satz 4 widerlegt (auch der Versuch ist nach dieser Rechtsnorm, die lediglich den „Beginn der Ausführung“ fordert, eine „Tat“), sondern vom Blickwinkel der täterschaftlichen Anstiftung her braucht keine qualitative Akzessorietät berücksichtigt zu werden. Meines Erachtens hat die vorliegende Frage mit der Zuordnung der Anstiftung als Täterschaft oder als Teilnahme nichts zu tun; und es ist nicht einzusehen, warum die Lösungen unterschiedlich sein sollten je nachdem, ob täterschaftliche Anstiftung oder z. B. Mittäterschaft vorliegt42. 2. Ein anderes Problem, das mir wichtig erscheint, um die Fruchtbarkeit des Konzepts der täterschaftlichen Anstiftung zu beurteilen, ist das der sogenannten Kettenanstiftung43. 41 Neben anderen Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl. 1996, § 64 II 2 b; Maurach/Gössel, Lehrbuch des Strafrechts, AT 2, 7. Aufl. 1989, § 51 Rn. 8; Stratenwerth/ Kuhlen (Fn. 21), § 12 Rn. 147. 42 Daher lässt sich das (wünschenswerte) kriminalpolitische Resultat der Straflosigkeit des Agent Provocateur nur erreichen, wenn diese ausdrücklich im Gesetz verankert wird, insbesondere bezüglich bestimmter Verbrechenstypen (z. B. Drogen- oder Waffenhandel) oder bestimmter Formen der Kriminalität (vor allem organisierte Kriminalität). Dies wurde mit dem portugiesischen Gesetz Nr. 101/2001 versucht, jedoch auf so mangelhafte Weise, dass die kriminalpolitische Zielsetzung selbst in Mitleidenschaft geriet. Sich kritisch zu diesem Gesetz äußernd auch Susana Aires de Sousa (Fn. 11), S. 1234 f. 43 Es ist vielleicht von Interesse darauf hinzuweisen, dass dieses Problem schon seit langem im portugiesischen Strafrecht diskutiert wird. Bereits das portugiesische StGB von 1852
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Ich sehe kein gültiges Argument, mit dem sich nach geltendem portugiesischen Recht die grundsätzliche Strafbarkeit der Kettenanstiftung leugnen ließe. Voraussetzung ist, dass von der Aktion jedes der Kettenglieder gesagt werden kann, dass sie – wenn auch mittelbar – den Ausführenden zur Verübung des tatbestandlichen Unrechts bestimmt hat, wobei dieser die Ausführung begonnen hat. Unerlässlich ist also, dass bezüglich des Täters gilt, dass der Hintermann über die Entschlussherrschaft – und nicht die bloße Motivation – des unmittelbaren Täters verfügt, verbunden mit einer gewissen Beherrschung der Ausführung selber, zumindest insofern er, der Hintermann, sie beenden kann. Wer über diese Art von Herrschaft verfügt, ist Täter neben anderen Tätern, wobei die Kettenanstiftung ein besonders anschauliches Beispiel für die „sukzessive Tatherrschaft“ bietet, auf die ich weiter unten (VI. 1.) noch Bezug nehme. Was die Beteiligten der Kettenglieder betrifft, die nicht über eine solche Herrschaft verfügen – weil sie nur als Überträger oder Mittelsmänner im Vorhaben des Anstifters ihren Platz finden –, so handelt es sich bei ihnen nicht um Täter, sondern sie können nur als Gehilfen eingestuft und bestraft werden. Vielleicht lassen sich auf diese Weise Probleme lösen, die von der Dogmatik in diesem Kontext gewöhnlich aufgeworfen werden, insbesondere die Frage, inwiefern die Tat, auf die sich die am weitesten entfernte Anstiftung bezieht, in der „Anstiftungstat“ oder im „tatbestandlichen Unrecht“ – auch „Haupttat“ genannt – besteht, das vom (letzten) Angestifteten verübt wird. Wenn Anstiftung – als Entschlussherrschaft – Täterschaft eines tatbestandlichen Unrechts ist, dann muss sich die Bestimmung zwangsläufig nicht auf die „Anstiftungstat“, sondern auf dieses tatbestandliche Unrecht beziehen (44), wenn auch nicht notwendig nur auf dieses. Im Grunde sind beide Taten „Bezugspunkte“, insofern beide von dem (den) Anstifter(n) gedacht werden mussten, wobei jedoch weiterhin das tatbestandliche Unrecht den hauptsächlichen Bezugspunkt und die „Anstiftungstat“ lediglich den instrumentellen Bezugspunkt bildet45.
schrieb vor, dass die Mittelsmänner zwischen Auftraggeber und Beauftragtem der Verübung einer Straftat als Komplizen zu bestrafen seien. Gemäß portugiesischem StGB von 1886 überwog dann jedoch die Straflosigkeit für die „Anstiftung zur Anstiftung“ entsprechend der gesetzlichen Forderung, die Anstiftung müsse direkt sein (Art. 26-6), womit nur die vom letzten Kettenglied verübte Anstiftung betroffen war. Diese Sichtweise vertrat stets Eduardo Correia (Fn. 4), S. 158 f. – was, wie Raposo, O Direito 133, 2001, S. 915, richtig bemerkt, seltsam angesichts seiner materiell-objektiven und rein kausalistischen Auffassung der Beteiligung anmutet –, der sie in den Art. 27-6 seines Entwurfs (Fn. 5) übernahm. Die Forderung, Anstiftung müsse direkt sein, wurde jedoch durch Art. 26 Satz 4 des geltenden portugiesischen StGB von 1982 fallengelassen. 44 Raposo (Fn. 43), S. 919 f., 922 ff., im Anschluss, unter anderem, an Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 22/30; Jescheck/Weigend (Fn. 41), § 64 IV 1. und Roxin (Fn. 15), § 26 Rn. 176. 45 In diesem Punkt abweichend von Raposo (Fn. 43), S. 920.
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Jorge de Figueiredo Dias
VI. 1. Zum Schluss zwei Betrachtungen, die erste noch hinsichtlich der Merkmale der Tatherrschaft in Form der Entschlussherrschaft im Fall der Anstiftung. Ich sprach in diesem Zusammenhang weiter oben von „Aufteilung“ oder „Verdopplung“ der Tatherrschaft bei dieser Form der Täterschaft. Hier möchte ich nun den Aspekt der Sukzessivität in dem Sinne hinzufügen, dass der Angestiftete, sobald er einmal bestimmt wurde, (ebenfalls) die Tatherrschaft übernimmt, ohne dass diese dem Anstifter dadurch abhanden käme. Für die Lehre der Tatherrschaft liegt hierin weder ein Widerspruch noch etwas Außergewöhnliches. Sowohl bei der mittelbaren Täterschaft als auch der Anstiftung muss keine echte objektive (faktische) Mitarbeit des Hintermanns bei der Ausführung stattfinden. Daher können sowohl das Instrument als auch der Angestiftete – unabhängig vom Grad der subjektiven oder psychologischen Abhängigkeit dem Hintermann gegenüber – die Ausführung zuletzt nicht ausführen, ohne dass dadurch die Tatherrschaft des Hintermanns verneint werden müsste. Im Übrigen wäre in den vorgenannten Fällen z. B. der Organisationsherrschaft, der Verlockung u. a. nicht nachvollziehbar, warum der Hintermann Tatherrschaft innehätte oder nicht innehätte je nachdem solche Fälle nun als mittelbare Täterschaft oder als Anstiftung einkategorisiert würden. Zum anderen kann selbst bei der Mittäterschaft eine äußerst starke subjektive oder psychologische Abhängigkeit – vergleichbar der im Falle mittelbarer Täterschaft oder bei Anstiftung – vorliegen, in der sich ein Mittäter dem anderen und den Ausführungshandlungen gegenüber befindet, die diesem dem gemeinsamen Plan nach zukommen, ohne dass dadurch seine Tatherrschaft in Frage gestellt würde. Man darf sogar mit gutem Recht behaupten, dass in vielen Fällen dem Anstifter auf viel eindeutigere und erheblichere Weise Tatherrschaft zukommt, als beispielsweise dem Mitglied einer Bande, die Banken überfällt, dem lediglich die Aufgabe zugeteilt wird, das geraubte Gut zu transportieren. Den Anstifter so nicht zu betrachten würde im Grunde bedeuten, den faktisch-objektiven Aspekt der Ausführung in unzulässiger Weise überzubewerten zu Ungunsten des subjektiven und willensbezogenen Aspekts und damit (und hier, ich sage es noch einmal, liegt das Wesentliche) des Anteils, den das persönliche Unrecht am Geschehen trägt. 2. Ich möchte den Vergleich hier nicht weiter ausführen, der bereits latent in meiner vorangehenden Betrachtung des portugiesischen und deutschen Strafrechts im Bereich der Anstiftung vorhanden war. Aber vielleicht darf ich als Abschluss noch etwas zum Thema hinzufügen. Die Schwierigkeiten einer Übertragung meiner Auffassung auf die deutsche Rechtswelt liegen auf der Hand. Gegen eine solche Übertragung steht sofort die Einstufung der Anstiftung als Teilnahme, die sich aus § 26 des deutschen StGB ergibt, sowie die qualitative Akzessorietät der Anstiftung, auf die selbige Bestimmung offenbar hinweist. Ich möchte an dieser Stelle die ausgesprochen begriffliche Natur einer solchen Einstufung unterstreichen. Wenn der Anstifter gleich einem Täter bestraft werden soll, dann kann dies aus meiner Sicht vor allem nur bedeuten, dass unter dem Gesichtspunkt des Schuldprinzips beiden
Täterschaftliche Anstiftung
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Formen der Beteiligung eine identische kriminelle Relevanz zugesprochen wird. Was bestätigt wird durch die Forderung in § 30, die die Kategorien der Täterschaft und der Anstiftung auf Ebene der Strafbarkeit des Versuchs erneut auf eine Stufe stellt (wenn auch nur im Rahmen des Verbrechens). Es bleibt stets, das ist sicher richtig, die Frage der Akzessorietät, bezüglich derer ich mich nur fragen kann, ob die Probleme, die die deutsche Rechtsdogmatik in diesem Zusammenhang aufwirft, unter Umständen durch eine bestimmte Auslegung von § 28 StGB gelöst werden könnten. Eine Auslegung, die hinsichtlich der Fälle gemäß § 28 (2) (unechte Sonderdelikte) zur Bestrafung des Anstifters extraneus mit der Strafe führen würde, die Tätern von Gemeindelikten angedroht wird oder, besser noch, zu seiner Bestrafung als Täter eines Gemeindelikts; die aber andererseits hinsichtlich der echten Sonderdelikte zur Unterscheidung führen würde zwischen dem Anstifter intraneus, der als Täter der Rechtsverletzung zu bestrafen wäre, und dem Anstifter extraneus, der (da er nicht der Sonderpflicht untersteht und sein Verhalten daher das betreffende tatbestandliche Unrecht nicht erfüllt) lediglich als Gehilfe zu bestrafen wäre. Unabhängig von der möglichen Richtigkeit einer solchen Auslegung denke ich, dass mit ihr eine signifikative Milderung der Strafe im Vergleich zur Lösung der mehrheitlichen deutschen Lehrmeinung verbunden wäre. Weiter zu gehen würde indessen eine komparative Betrachtung der – wie ich oben hervorgehoben habe – grundlegend verschiedenen § 28 des deutschen StGB und Art. 28 des portugiesischen StGB implizieren, die ich an dieser Stelle nicht vornehmen kann. Wäre ein solches Vorgehen angesichts des gesetzlichen Wortlauts vertretbar? Hier nun wird eine Frage aufgeworfen, zu der ich mich ebenfalls nicht weiter werde äußern können46, zumal damit eine eingehende Vertiefung in die Problematik der methodologischen Legitimität eines solchen Vorgehens verbunden wäre. Ich möchte nur daran erinnern, dass Savigny lehrte47, dass „es die Aufgabe der juristischen Dogmatik [ist], die Prinzipien, die einem […] positiven Rechte zugrunde liegen, aufzufinden und systematisch zu explizieren“. Es war aber auch derselbe Savigny, der – in Anbetracht der methologischen Bedeutung, die bereits das römische Recht dem Rechtsfall zuschrieb – schrieb: „Es ist nun, als ob dieser Fall der Anfangspunkt der ganzen Wissenschaft wäre, welche von hier aus erfunden werden sollte“48.
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Obwohl ich mich daran erinnere, wie es sich mit dem deutschen StGB vor der Reform von 1974 verhielt: Dort wurde die Mittäterschaft (§ 47) der Überschrift des betreffenden Abschnitts untergeordnet, der ausdrücklich der Teilnahme gewidmet war, was die damalige deutsche Rechtsdogmatik jedoch nicht davon abhielt, einstimmig und ganz zu Recht, die Mittäterschaft als eine Form der Täterschaft anzusehen (für alle Dreher, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 34. Aufl. 1974, S. 274 ff.). 47 Nach dem Zeugnis Welzels, in: Wieacker, Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion, 1965, S. 57. 48 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Nachdruck der Aufl. v. 1914: „Tibaud und Savigny. Ein programatischer Rechtsstreit“, 1959, S. 89 (30).
III. Strafrecht – Besonderer Teil
Zur Relevanz von Beweggründen für die Bewertung von Tötungsdelikten – am Beispiel sog. „Ehrenmorde“ Von Tatjana Hörnle
I. „Ehrenmorde“ und ihre strafrechtliche Bewertung Sollten vorsätzliche Tötungen, bei denen die Hintergründe mit dem Stichwort „Ehrenmord“ beschrieben werden, wegen eines „niedrigen Beweggrundes“ als Mord (§ 211 StGB) bestraft werden? Der Begriff „Ehrenmord“ wird häufig ohne nähere Eingrenzung verwendet, wenn Kränkungen wegen einer in beliebiger Weise (angeblich) verletzten Ehre in gewalttätige Angriffe münden. Im sozialwissenschaftlichen Schrifttum wird teilweise ein weites Spektrum an Tötungsdelikten darunter gefasst, etwa auch die sog. Mitgiftmorde (Tötungen wegen vermeintlich zu niedriger Mitgift) und Fälle der Blutrache.1 Im engeren, hier zugrunde gelegten Sinn sind mit „Ehrenmord“ Tötungsdelikte gemeint, die „im Kontext patriarchalisch geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig von Männern an Frauen verübt werden, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie oder des Mannes wiederherzustellen. Die Verletzung der Ehre erfolgt durch einen wahrgenommenen Verstoß einer Frau gegen auf die weibliche Sexualität bezogene Verhaltensnormen“.2 Abzugrenzen sind solchermaßen definierte Taten von Tötungsdelikten, die als „Blutrache“ charakterisiert werden – sie unterscheiden sich durch geschlechtsspezifische und sexualbezogene Ehrvorstellungen. Im folgenden Text übernehme ich die Bezeichnung „Ehrenmord“, ohne dass dies als Präjudizierung der juristischen Bewertung (Mord oder Totschlag) zu verstehen ist – ob die Einordnung als „niedriger Beweggrund“ überzeugt, ist zu untersuchen. Ausweislich von Pressemitteilungen nahmen Landgerichte in den zurückliegenden fünf Jahren für typische Ehrenmord-Fälle niedrige Beweggründe und somit Mord an, was der BGH billigte.3 Allerdings ist nicht klar, inwieweit man von einer einheitlichen Linie in der erstinstanzlichen Rechtsprechung ausgehen kann. 1 s. Baumeister, Ehrenmorde, 2007, S. 17 ff.; Cöster, Ehrenmord in Deutschland, 2009, S. 104 ff. 2 Definition durch Oberwittler/Kassel, Ehrenmorde in Deutschland 1996 – 2005, 2011, S. 23. 3 s. die Kurzmitteilungen in becklink 1005064; becklink 244878; becklink 294076; becklink 1002335; becklink 275880.
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Tatjana Hörnle
Eine vom MPI für ausländisches und internationales Strafrecht im Auftrag des BKA durchgeführte Aktenauswertung für die Jahre von 1996 bis 2005 deutet auf Zurückhaltung hin: Nur bei einem Viertel der Täter, die wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts verurteilt wurden und bei denen Ehre im oben erwähnten Sinn als Tatmotiv thematisiert wurde, nahmen die Landgerichte einen niedrigen Beweggrund an. Teilweise wurde sogar das Eintreten für Ehre bei der Strafzumessung mildernd gewertet.4 Möglicherweise ist erst in allerjüngster Zeit ein Umschwung eingetreten – es ist aber auch nicht auszuschließen, dass nach wie vor erstinstanzliche Gerichte vor einer Verurteilung wegen Mordes zurückschrecken. Die Ehrenmord-Fälle werfen, ebenso wie Blutrache und sonstige Delikte, in denen archaische Verhaltensnormen den Tathintergrund bilden, die allgemeine Frage auf, ob die Niedrigkeit eines Beweggrundes auch oder sogar wesentlich aus der Täterperspektive zu beurteilen ist. Aus deren Sicht wäre zu ihrer Entlastung vorzubringen, dass sie mit der Wiederherstellung der Familienehre ein positiv zu bewertendes Motiv hatten. In der Literatur wurde teilweise gefordert, der kulturellen Einbindung eines Täters bei der objektiven Bewertung des Beweggrundes Rechnung zu tragen.5 Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist durch große Schwankungen und Unklarheiten gekennzeichnet. In einer frühen Entscheidung des BGH findet sich die apodiktisch formulierte Aussage: „Naturgemäß darf der Täter nicht solche Wertvorstellungen von Recht und Unrecht zugrunde legen, die einem fremden Kulturkreis angehören […]“.6 Spätere Urteile ließen es dagegen zu, dass „die Bindung des Täters an die besonderen Ehrvorstellungen seines Lebenskreises […] in die Bewertung einbezogen werden und den Ausschlag dafür geben, dass die Beweggründe nicht als niedrig erscheinen“.7 Die derzeit aktuellen Vorgaben beruhen auf einer erneuten Kehrtwendung: Es komme auf die Vorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft an und nicht auf abweichende sozialethische Wertungen der Volksgruppe, der die Täter angehören.8 Allerdings lassen neuere Entscheidungen meist eine Hintertür offen, nämlich „wenn dem Täter bei der Tat die Umstände nicht bewusst waren, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, oder wenn es ihm nicht möglich war, seine gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmen, gedanklich zu
4
Oberwittler/Kassel (Fn. 2), S. 161 f. Köhler, JZ 1980, 238, 240; Sonnen, JA 1980, 747; Saliger, StV 2003, 22, 23 f.; Baumeister (Fn. 1), S. 144 ff.; NK-StGB/Neumann, 3. Aufl. 2010, § 211 Rn. 30b. Ähnlich wohl auch Jung, JZ 2012, 926, 929 f., der sich gegen eine „schematische Strafschärfung unter dem Rubrum ,niedrige Beweggründe‘“ ausspricht und für Strafmilderung bei Druck durch kulturelle Gruppennormen. Zur Kritik an dieser Meinung ausführlich Valerius, Kultur und Strafrecht, 2011, S. 83 ff.; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder, 2008, S. 191 ff.; Pohlreich, „Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts, 2009, S. 226 ff.; s. ferner zur heute h.M. die Nwe. in Fn. 87. 6 BGHSt. 4, 1, 5. 7 BGH NJW 1980, 537. 8 BGH NJW 1995, 602; NStZ 2002, 369, 370; NJW 2004, 1466, 1467; NJW 2006, 1008, 1011; NStZ 2006, 284, 285. 5
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beherrschen und willensmäßig zu steuern“.9 Gelegentlich findet sich eine weitere Ausnahmeklausel: „wenn der einem anderen Kulturkreis entstammende Täter noch derart stark von den Anschauungen seiner Heimat beherrscht war, dass er sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Lebensumstände nicht lösen konnte“.10 Dass der Täter eines Ehrenmordes die Fakten nicht kannte, die einer Bewertung zugrunde liegen, dürfte selten sein.11 Es bleiben zwei Konstellationen: nämlich starke Gefühlsregungen oder eine besonders starke Verwurzelung im Herkunftskulturkreis, die aufgrund von Persönlichkeit und Lebenssituation dominierend blieb. Diese können sich überschneiden, das muss aber nicht der Fall sein, etwa, wenn ohne besondere akute Gefühlsaufwallung die zweite Variante vorliegt oder umgekehrt bei einem an sich gut integrierten Täter in der konkreten Situation starke gefühlsmäßige Regungen durchbrechen. Nicht eindeutig zu sagen ist, ob es sich faktisch um Ausnahmefälle handelt oder ob die Hintertüren in beträchtlichem Umfang zur Verneinung von niedrigen Beweggründen führen müssten (s. die oben erwähnte empirische Studie). Wenn für die zweite Konstellation (fortwirkende starke Verwurzelung im anderen Kulturkreis) nicht nur Aufwachsen in entsprechenden, meist ländlichen Regionen des Heimatlands, sondern etwa auch „Besuch einer strengen Islamschule“ genügt,12 ist vorstellbar, dass sich das dem BGH vermutlich vor Augen stehende Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren könnte. Die Lektüre von Entscheidungen vermittelt den Eindruck, dass die Bewertungskriterien nicht klar durchdacht sind. Es finden sich keine Hinweise, was die normativen Überlegungen hinter den Formulierungen des BGH sein könnten. Insbesondere fehlt meist die Bezugnahme auf Kategorien wie Unrecht und Schuld.13 Besonders augenfällig ist das Fehlen von brauchbaren Vorgaben, wenn man sich der allgemeinen Umschreibung von niedrigen Beweggründen zuwendet. Der BGH verwendet seit den Anfängen seiner Rechtsprechung die Formulierung, dass Beweggründe niedrig seien, wenn sie „nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch ungehemmte, triebhafte Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich sind.“14 Diese Umschreibung ist inhaltsleer,15 und der Ausweg wird in einer „Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des 9 BGH NJW 1995, 602, 603; NStZ 2002, 369, 370; NJW 2004, 1466, 1467. Zurückhaltender BGH NStZ 2006, 284, 285 (keine Kurzschlusshandlung und der Täter habe sich „bewusst treiben lassen“). 10 BGH NJW 1995, 602, 603; NJW 2004, 1466, 1467. 11 Valerius (Fn. 5), S. 92 f.; ders., JZ 2008, 917. 12 s. den Fall bei Oberwittler/Kassel (Fn. 2), S. 112 f. 13 In BGH NStZ 1996, 80, findet sich der kurze Hinweis, dass „auch dem Schuldfähigen […] ein normgemäßes Verhalten wesentlich schwerer fallen kann“. 14 s. neben den in Fn. 8 angeführten Urteilen BGHSt. 3, 132 f.; 35, 116, 126 f.; 42, 226, 228; 47, 128, 132; 56, 11, 18. 15 s. zur Kritik an diesem Mordmerkmal Wolf, FS Schreiber, 2003, S. 519, 526 ff.; NKStGB/Neumann (Fn. 5), § 211 Rn. 26; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht, BT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 67.
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Täters maßgeblichen Faktoren“ gesucht16 sowie in einem Beurteilungsspielraum, den der BGH den Tatgerichten seit einigen Jahren einräumt.17 Die Annahme, dass dem Tatbestandsmerkmal keine Konturen verliehen werden können und deshalb nur die Verlegenheitslösung des Rekurses auf „Gesamtwürdigung“ und „Beurteilungsspielraum“ bleibe, wäre jedoch zu pessimistisch. Anliegen meines Beitrages ist es, vom Konkreten (Ehrenmorde) zum Allgemeinen (die angemessene Berücksichtigung von Beweggründen bei Tötungsdelikten) und zurück zu schreiten. Damit eine mögliche strafschärfende oder strafmildernde Wirkung von Beweggründen angemessen begründet werden kann, ist auf die Grundlagen einer Quantifizierung von Unrecht und Schuld einzugehen (unten II.). Leider zeigt sich, wenn man davon ausgehend die Tatbestände im StGB (insbesondere § 211) analysiert, dass das geltende Recht nicht überzeugend gefasst ist. Dies wirft die Frage auf, wie mit dieser Situation umzugehen ist, d. h., wie das Merkmal „niedrige Beweggründe“ in einer theoretisch fundierten, aber auch umsetzbaren Weise auszulegen ist (unten III.), woraus sich Folgerungen für die Bewertung der Ehrenmord-Fälle ergeben (IV.).
II. Der Einfluss von Beweggründen auf Unrecht und Schuld bei Tötungsdelikten Wie wirken sich Beweggründe bei einer Bewertung des Ausmaßes von Unrecht und Schuld einer vorsätzlichen Tötung aus? Zu den vielen großen wissenschaftlichen Verdiensten von Wolfgang Frisch zählt die Festlegung, dass die Bewertung der Schwere einer Tat sich wesentlich an den Kategorien der allgemeinen Verbrechenslehre orientieren sollte.18 Der Frage nach der Rolle von Beweggründen ist anhand einer an Unrecht und Schuld, Schwereerhöhung und Schwereminderung ausgerichteten Matrix nachzugehen: sie könnten unrechtserhöhend oder schulderhöhend, unrechtsmindernd oder schuldmindernd wirken. 1. Unrechtserhöhung durch Beweggründe? Zu erwägen ist, ob Beweggründe das Unrecht steigern können. In der Literatur zu den niedrigen Beweggründen in § 211 StGB wird teilweise auf eine Unrechtserhöhung verwiesen.19 Eine Beurteilung hängt davon ab, was Gegenstand eines Unrechts16
s. z.B. BGHSt. 35, 116, 127; 47, 128, 130; 56, 11, 18; BGH NStZ 2002, 369, 370; NStZRR 2006, 340, 341. 17 BGH NStZ-RR 2004, 79, 80; NStZ 2006, 284, 285; NStZ-RR 2006, 340, 341. Krit. Bartel in diesem Band; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 211 Rn. 15. 18 Frisch, ZStW 99 (1987), 349, 386; ders., 140 Jahre Goltdammer’s Archiv, 1993, S. 1, 13 ff.; s. ferner Peralta, FS Roxin, 2011, S. 257, 261 f. 19 Welzel, Deutsches Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 79; Küper, JZ 2006, 608, 611; MKStGB/Schneider, 2. Aufl. 2012, Vor §§ 211 Rn. 197; SK-StGB/Sinn, Loseblattausgabe, 125. Lfg. (Oktober 2010), § 211 Rn. 4.
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vorwurfs ist. Ein mögliches Unrechtsverständnis ist naturalistischer Art: Danach kommt es auf tatsächlich feststellbare, gegenständliche oder jedenfalls faktische Veränderungen in der Außenwelt an (verbreitet ist eine solche Herangehensweise in der englischsprachigen Literatur, die mit dem „harm principle“ auf Ressourcenverringerung und ähnliche naturalistische Beschreibungen abstellt20). Aus dieser Sicht müsste eine Unrechtssteigerung durch Beweggründe ausscheiden. Das Erfolgsunrecht, also der Tod eines Menschen, kann evidentermaßen durch Beweggründe nicht beeinflusst werden. Bei der Bewertung des Handlungsunrechts gilt: relevant wäre, ob zum Erfolgsunrecht Beeinträchtigungen, Risiken und sonstige Wirkungen in der Außenwelt hinzutreten (zu bejahen etwa für die Mordmerkmale „grausam“ und „gemeingefährlich“). Es bleibt eine Konstruktion, mit der möglicherweise begründet werden könnte, warum bestimmte Beweggründe als Unrechtserhöhung gewertet werden könnten. Voraussetzung wäre, bei der Beschreibung des Unrechts Gefahren für das Kollektiv aller Bürger einzubeziehen. Setzt man so an, könnten Aspekte einfließen, die unter der Überschrift „Gefährlichkeit“ abgehandelt werden. Autoren, die bei der Erklärung der höheren Strafdrohung in § 211 StGB das Abstellen auf „gesteigerte Verwerflichkeit“ kritisieren, sehen meist als Alternative den Verweis auf „gesteigerte Gefährlichkeit“, da damit „ein rationaleres Verständnis der Mordmerkmale“ zu erreichen sei.21 Soweit damit erhöhte Wiederholungsgefahr seitens des konkreten Täters gemeint ist, ist allerdings die Annahme wenig plausibel, dass die Merkmale in § 211 StGB eine spezifische Wiederholungsgefahr indizieren, die über das allgemeine Rückfallrisiko bei allen vorsätzlichen Tötungen hinausreicht (darüber wäre allenfalls für Teilbereiche nachzudenken, etwa Sexualmorde). Es bleibt die Überlegung, dass niedrige Beweggründe in der Allgemeinheit besondere Kriminalitätsfurcht erzeugten, da die Opfer oft beliebig austauschbar seien.22 Dies könnte der Fall sein, wenn eine größere Personenkreise betreffende Gefährdungslage entstanden ist, etwa, wenn Täter durch Bombenattentate in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Schüsse in Menschenmengen Zufallsopfer treffen, um Furcht in der Bevölkerung zu erzeugen. Diese Unrechtssteigerung wird meist schon durch das Merkmal „gemeingefährliche Mittel“ abgedeckt. Im Übrigen (falls die Tatausführung nicht gemeingefährlich war, aber der Täter kundgibt, zu terroristischen Zwecken bewusst Zufallsopfer auszuwählen) kann der Hintergrund als unrechtserhöhend gewertet werden. Abgesehen von solchen Umständen sollte die Unrechtsbeschreibung nicht generell auf schwer fassbare gesellschaftliche Stimmungslagen ausgedehnt werden. Unter dem Aspekt „Bedrohlichkeit“ wäre gerade bei Ehrenmorden eine Differenzierung zwischen Totschlag und Mord erklärungsbedürftig. Schließlich werden diese Taten innerhalb von subkulturellen Gruppen begangen. Eine persönliche Bedrohung für jedermann ist damit nicht verbunden, entsprechende Ängste wären irrational. Betrachtet man Verbrechens20
Simester/von Hirsch, Crimes, Harms, and Wrongs, 2011, S. 36 f. MK-StGB/Schneider (Fn. 19), § 211 Rn. 22. 22 Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, 1988, S. 216; MK-StGB/Schneider (Fn. 19), § 211 Rn. 19. 21
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furcht als sozialpsychologisches Phänomen, wäre es zwar vorstellbar, auch irrationale Bedrohungsgefühle einzubeziehen. Jedoch kann dies kein normativ relevantes Kriterium sein: Derartige Folgen könnten dem Handelnden nicht mehr legitimerweise zugerechnet werden.23 Nimmt man das Zurechnungserfordernis ernst, scheiden mögliche, in unkontrollierbarer Weise auftretende sozialpsychologische Sekundärfolgen als Grund für die Bejahung einer Unrechtserhöhung aus. Des Jubilars Position zur Bedeutung von Beweggründen beruht auf einem nichtnaturalistischen Verständnis von Unrecht. Er spricht sich explizit dagegen aus, das Wesen des Unrechts in einer gegenständlichen Veränderung der Außenwelt zu suchen.24 Diese Prämisse verdient Zustimmung: Im rechtlichen Kontext ist ein nur naturalistischer Blick auf Schäden und Gefahren unzureichend. Definiert man mit Kant Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“25, liegt die Aufgabe des Rechts in der Abgrenzung und Sicherung von äußeren Freiheitssphären. In einer 1996 veröffentlichten Abhandlung hat Wolfgang Frisch ein Verständnis des Unrechts geschildert, das im Einklang mit dieser Vorgabe steht und dem ich beipflichte: Unrecht liegt in der Versagung der Anerkennung rechtlicher Freiheiten anderer.26 In einem späteren Beitrag zum Wesen des Unrechts stellt der Autor allerdings „das Recht“ und die Verweigerung von Anerkennung der Rechtsordnung in den Mittelpunkt. Entscheidend sei „die in der Tat liegende Infragestellung des Rechts, der Abfall vom Recht, der die Geltung des Rechts in Frage stellt, der Norm Schaden zufügt“.27 Frisch arbeitet hier mit Begriffen wie Normgeltungsschaden, die das Zwei-Personen-Verhältnis von Täter und Opfer transzendieren. Meine Präferenz liegt bei einem Unrechtsverständnis, das zwar einerseits nicht naturalistisch ist (und deshalb als Zentralbegriff „Rechte einer anderen Person“ statt „Schaden“ vorsieht), das andererseits aber auf der Grundvorstellung eines normativen Individualismus28 beruht. Das strafrechtlich relevante Unrecht liegt demnach nicht in einem „Normgeltungsschaden“, sondern in der Missachtung der Freiheitssphäre einer konkreten anderen Person.29 Ein solches Verständnis von Unrecht passt besser als konkurrierende Modelle zu einem freiheitlich-liberalen, primär auf die Schutzbedürfnisse von Individuen fokussierten Staatsverständnis. 23
Frisch, ZStW 99 (1987), 349, 387. Frisch, FS Müller-Dietz, 2001, S. 236, 252. 25 Kant, Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre, in: Vossenkuhl (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. VIII, S. 337. 26 Frisch, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 135, 146. 27 Frisch, FS Müller-Dietz, 2001, S. 236, 253. 28 s. dazu von der Pfordten, Rechtsethik, 2. Aufl. 2011, S. 317 ff. 29 Oder in der Missachtung genuin kollektiver Interessen (bei Bestechung, Geldfälschung etc.), was für die hier zu untersuchenden Tötungsdelikte keine Rolle spielt. Für ein interpersonales Verständnis auch Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 114 ff.; krit. dazu Jakobs, ZStW 123 (2011), 313, 321 f. 24
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Von dieser Prämisse ausgehend, ist die entscheidende Frage: Hängt das Ausmaß des Unrechts, das Ausmaß der Missachtung der Freiheitssphäre des Getöteten, davon ab, wie die subjektiven Hintergründe beim Täter beschaffen waren? Es ist nicht ausgeschlossen, bei der Unrechtsbewertung auch darauf abzustellen, mit welcher Intensität der Täter die Freiheitssphäre des anderen missachtet hat. Absicht drückt einen größeren Grad von Missachtung für das konkrete Opfer aus. Der Unterschied zwischen Absicht und In-Kauf-Nehmen des Erfolgs (dolus eventualis) kann bei der Tatbewertung berücksichtigt werden.30 Von der Frage „welche Intensität der Missachtung?“ ist jedoch die Frage „warum hat der Täter so gehandelt?“ zu unterscheiden. Wolfgang Frisch geht davon aus, dass auch die Antwort auf die zweite Frage für das Ausmaß des Unrechts, definiert als Normgeltungsschaden, eine Rolle spiele. Abhängig von den Beweggründen des Täters falle die Erschütterung der Normgeltung und somit das Unrecht größer oder kleiner aus.31 Allerdings bleibt das Konzept eines „Normgeltungsschadens“, wenn man es nicht sozialpsychologisch versteht, diffus. Und nicht begründen lässt sich auf diesem Weg jedenfalls die Annahme einer Unrechtssteigerung. Wenn ein Täter absichtlich eine Verhaltensnorm missachtet, tritt damit das Maximum des Normgeltungsschadens ein.32 Unter dem Aspekt „Missachtung der Freiheitssphäre der anderen Person“ liegt es nahe, dass das „Warum“ für die Bemessung des Unrechts irrelevant ist. Eine Ausnahme ist nur für Sonderkonstellationen vorstellbar, nämlich dann, wenn bestimmte Beweggründe das Erscheinungsbild der Tat geprägt haben und deshalb aus einer Opferperspektive besonders bedrohlich oder besonders demütigend waren. Voraussetzung wäre also, dass in der Tat selbst eine Vertiefung des Ausmaßes der Missachtung erkennbar wird. Bei manchen Delikten kann dies der Fall sein, etwa wenn bei einer Körperverletzung die rassistische Motivation offen zu Tage tritt.33 Jedoch scheidet eine derartige Unrechtssteigerung in den häufiger vorkommenden Fällen aus, in denen das Motiv nicht erkennbar die äußere Bedeutung des Angriffs prägt. Und es wird mit guten Gründen in Frage gestellt, ob (im Unterschied zu Körperverletzungen) gerade bei Tötungsdelikten eine wesentliche Unrechtssteigerung durch ein zum Ausdruck gebrachtes opferschmähendes Tatmotiv zu begründen wäre. Das überragende Unrecht, das als Erfolgsunrecht in der Vernichtung des Lebens liegt, ist durch eine in diesem Kontext relativ belanglose zusätzliche Schmähung nicht mehr bedeutsam zu steigern.34
30 Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, 1999, S. 263; ebenso Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 768 f.; ders., FG 50 Jahre BGH, Bd. 1, 2000, S. 269, 290; Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht, 2007, S. 422. 31 Frisch, FS Müller-Dietz, 2001, S. 237, 255. Krit. Timm, Gesinnung und Straftat, 2012, S. 166 ff. 32 Timm (Fn. 31), S. 159. 33 Hörnle (Fn. 30), S. 272 f. 34 Grünewald (Fn. 29), S. 166.
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2. Schulderhöhung durch Beweggründe? Zu erwägen wäre sodann, ob von einer Schuldsteigerung auszugehen ist. Die Annahme, dass Schuld nicht nur graduierbar ist, sondern nach oben steigerungsfähig, wird vereinzelt noch vertreten.35 Nach einem traditionellen Schuldverständnis liegt Schuld in den verwerflichen Motiven und der verwerflichen Gesinnung des Täters.36 Während nationalsozialistische Ideologie Gesinnung umstandslos mit „Volksanschauung“ verknüpfte,37 ist die für die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts typische Verbindung von „Gesinnung“ und „Schuld“38 ein beklagenswerter Versuch, den Topos „Gesinnung“ über die Zeiten zu retten. Diese Wurzeln haben leider die Rechtsprechung des BGH geprägt, die unbefangen und ohne Problembewusstsein mit Parametern wie „allgemeine sittliche Wertung“ und „besonders verwerflich, ja verächtlich“ auszukommen meint. Der Versuch, einen gesinnungsorientierten Schuldbegriff zu legitimieren, führte Schmidhäuser dazu, eine Parallele zu Kants Moralphilosophie zu ziehen.39 Kants zentraler Gedanke ist, dass nur „Handeln aus Pflicht“ moralisch sei, wobei er „Pflicht“ als „Achtung vor dem Gesetz“ versteht.40 Setzt man bei einem solchen subjektivierenden, auf Interna des Handelnden bezogenen Verständnis von Moral an, mag es nicht als fernliegend erscheinen, dies auf die negative Seite zu spiegeln und anstößige Einstellungen des Täters in das Zentrum der strafrechtlichen Bewertung zu stellen. Dann wäre es konsequent, „niedrige Beweggründe“ als schuldsteigerndes Merkmal einzuordnen. Jedoch sprechen zwei Argumente gegen diese Vorgehensweise. Zum einen sind im Rahmen von moralphilosophischen Überlegungen Einwendungen zu erheben. Zum anderen werden derartige Annahmen fragwürdig, wenn man die Aufgabe strafrechtlicher Wertungen als Teil des Rechtssystems beleuchtet. Schon im Kontext der Moralphilosophie lässt sich über Kants subjekt- und einstellungszentrierten Ansatz streiten. Den Akzent auf die inneren Beweggründe von Handelnden zu legen, ist vor allem dann nahe liegend, wenn man (bewusst oder unbewusst) von monotheistischen Vorstellungen ausgeht und neben der Existenz Gottes zusätzlich Folgendes unterstellt: eine persönliche, wechselseitig interessierte Beziehung zwischen Gott und jedem einzelnen (gläubigen) Individuum, ferner Gott als sowohl gesetzgebende wie auch richtende Instanz. Es versteht sich, dass Loyalität zum göttlichen Gesetz wichtiger ist als äußere Geschehnisse in der irdischen Welt. Für eine säkulare Moralphilosophie ist jedoch die Zweitrangigkeit der äußeren Gescheh35 s. etwa Schönke/Schröder/Eser, StGB, 28. Aufl. 2010, § 211 Rn. 6; Kelker (Fn. 30), S. 458 ff., 614. 36 Mezger, ZStW 51 (1931), 855, 863; Gallas, FS Mezger, 1954, S. 311, 323 f.; ders., ZStW 67 (1955), 1, 45 f.; Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958, S. 172 ff. 37 s. Freisler, Deutsche Justiz 1941, 929, 936. 38 s. die Nachweise in Fn. 36. 39 Schmidhäuser (Fn. 36). AA Bielefeldt, GA 1990, 108, 116. 40 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Vossenkuhl (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. VII, S. 26.
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nisse eher fernliegend. Kant knüpft an die religiös tradierte Überbetonung von Innerlichkeiten an, allerdings ohne unmittelbare Bezugnahme auf Gott, sondern unter Bezugnahme auf die Vernunftnatur des Menschen. Fraglich ist allerdings, ob Begeisterung über die Fähigkeit des Menschen, kraft seiner Vernunft eigenständig moralische Gesetze zu entwickeln (s. die vielzitierte Sentenz: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“41), wirklich die Schlussfolgerung trägt, dass deshalb die moralische Hauptpflicht im Handeln aus Achtung vor dem Gesetz liegt. Auch bei moralischen Urteilen gibt es gute Gründe für weniger subjektzentrierte Bewertungen und für die Bevorzugung eines primär interaktionenbezogenen Verständnisses, das die Auswirkungen von Handlungen auf das Leben anderer als wesentlich ansieht. Demgemäß ist der Begriff „Pflicht“ relational als Pflicht gegenüber anderen Personen (oder auch: anderen Lebewesen) statt als „Achtung vor dem Gesetz“ zu verstehen. Für unsere Zwecke bedarf dies keiner Vertiefung. Unabhängig davon, inwieweit Beweggründe in der Moral eine Rolle spielen sollten, ist festzuhalten, dass ihnen jedenfalls im Bereich des Rechts nicht die Rolle zukommen kann, Schuld zu steigern. Das Ausmaß des Unrechts gibt vielmehr die Obergrenze für die Bewertung der Tatschwere vor – so sieht es auch Wolfgang Frisch42. Dem Postulat, dass zum Unrechtsvorwurf ein additiv die Schwere der Tat steigernder persönlicher Schuldvorwurf hinzukomme,43 stehen rechtstheoretisch begründbare Bedenken entgegen. Diese ergeben sich aus der Funktion von Recht und den daraus abzuleitenden Grenzen für Unwerturteile. Auch wer in moralphilosophischer Hinsicht eine subjektzentrierte, auf Motive abstellende Bewertung für richtig halten mag, wird trotzdem zugestehen, dass rechtliche Werturteile einer anderen Logik folgen als moralische Wertungen.44 Aus der Aufgabe, äußere Freiheitssphären zu sichern, ergibt sich der Gehalt eines rechtlichen Unwerturteils, das in einer strafrechtlichen Verurteilung steckt.45 Mit einer solchen Verurteilung ist ein persönlicher Vorwurf an den Täter verbunden, dessen Gegenstand ist, dass der Täter die Freiheitssphären anderer missachtet hat. Eine Steigerung durch einen zusätzlichen Schuldvorwurf entspricht nicht der beschränkten Aufgabe, die das Recht zu erfüllen hat. Es gilt einen Unwertsachverhalt zu berücksichtigen, der sich aus der Intensität des Eingriffs in fremde Freiheitssphären ergibt, nicht aber eine zweite, eigenes Gewicht auf der Waagschale einbringende, auf
41 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 2. Teil: Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft, in: Vossenkuhl (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. VII, S. 300. 42 Frisch, FG 50 Jahre BGH, Bd. 4, 2000, S. 269, 289. 43 So deutlich Schmidhäuser (Fn. 36), S. 178. 44 s. Bielefeldt, GA 1990, 108, 111 ff. 45 Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 767; ebenso zum Verhältnis von Recht und Moral Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1984, S. 7; Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 252; Grünewald (Fn. 29), S. 114 ff.
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Täterinterna abstellende Komponente.46 Schuldsteigerungen, die auf eine Bewertung von Täterinterna zurückgreifen würden (Persönlichkeit, Einstellungen und Motive) sind in einem freiheitlich-liberalen Rechtsstaat unangemessen.47 3. Unrechtsminderung durch Beweggründe? Unter welchen Umständen ist vorstellbar, dass Beweggründe das Unrecht mindern? Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass mit der Ablehnung einer unrechtssteigernden Wirkung die Konsequenz verbunden sein müsse, auch eine unrechtsmindernde Wirkung zu verneinen. Aber die Vermutung einer simplen spiegelbildlichen Relation würde in die Irre führen. Es kommt darauf an, dass bestimmte Beweggründe durch objektive Tathintergründe erzeugt werden, und diese Hintergründe wiederum unrechtsmindernd zu veranschlagen sind. Entscheidend sind die objektiven Bedingungen der Tatgenese, die sich wiederum in der Handlungsmotivation des Täters abbilden. Geht man davon aus, dass die Aufgabe des strafrechtlichen Unrechtsvorwurfs darin liegt, im Verhältnis der beteiligten Personen die Grenzen von Freiheitssphären zu markieren, kann es Situationen geben, in denen es angemessen ist, einen Teil der Verantwortung für das Geschehen dem Tatopfer zuzuschreiben.48 Allerdings kann es nicht genügen, auf einer faktisch-psychologischen Ebene festzustellen, dass der oder die Tatgeschädigte zu einer Zuspitzung irgendwie beigetragen habe. An diesem Punkt ist zu beachten, dass der Verweis auf eine Unrechtsminderung wegen vorangegangenem Opferverhalten zwangsläufig die Botschaft einschließt, dass Opfer unter solchen Umständen das Argument „eigene Verantwortung“ akzeptieren müssen.49 Strafrecht ist ein reziprokes System.50 Verantwortungszuschreibungen sind (nur) dann zu rechtfertigen, wenn eine Person aufgrund einer selbstbestimmten Entscheidung die ihr rechtlich zugewiesene Freiheitssphäre über46 Nicht überzeugend ist deshalb Kelkers Gedanke, Motive als schuldsteigernd auszuweisen, weil das wechselseitige Anerkennungsverhältnis verletzt worden sei (Fn. 30, S. 468 ff., S. 187 ff.). Kelkers Ansatz impliziert, dass zum Unrechtsvorwurf ein auf „verweigerte Anerkennung“ beruhender Schuldvorwurf hinzukomme. Die Ratio einer solchen Verdoppelung bleibt jedoch unklar. Verweigerte Anerkennung der Rechte des anderen ist der hinter dem Unrechtsvorwurf stehende Gedanke, der nicht zweimal zu Lasten des Täters angeführt werden sollte. Sinn würde eine Verdoppelung nur ergeben, wenn man den Schuldvorwurf explizit auf ein anderes Substrat als das missachtete interpersonale Anerkennungsverhältnis beziehen würde, etwa Ungehorsam gegenüber der Rechtsordnung (und auch dann bliebe unklar, warum dies jenseits des Unrechts Bedeutung haben soll, s. zu Recht krit. Timm (Fn. 31), S. 187 ff.). 47 Hörnle (Fn. 30), S. 269 f.; Haas (Fn. 45), S. 251 ff.; neuerdings ausführlich Grünewald (Fn. 29), S. 205 ff. 48 Für unsere Zwecke kann es sich nur um eine begrenzte Mitverantwortung handeln – die Frage nach unrechtsmindernden Umständen erübrigt sich, wenn die Verantwortung alleine demjenigen zugeschrieben wird, der später Opfer einer vorsätzlichen Tötung wird (in Notwehrfällen, § 32 StGB). 49 Müssig, Mord und Totschlag, 2005, S. 284; Hörnle, GA 2009, 626 ff.; Grünewald (Fn. 29), S. 223 ff. 50 Formulierung von Grünewald (Fn. 29), S. 224.
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schritten hat. Deshalb können nur Beweggründe des Täters als Unrechtsminderung gewertet werden, die auf ein rechtlich zu missbilligendes Opferverhalten zurückzuführen sind.51 Deutliche Kritik verdient eine Strafminderung, die gewährt wird, weil der Täter über eine rechtmäßige Notwehrhandlung des Opfers, das sich gegen den Angriff zu verteidigen versucht hatte, erzürnt war.52 Ungenügend ist auch der Hinweis auf real bestehende persönliche Konflikte zwischen den Beteiligten oder der Verweis auf möglicherweise moralisch oder sozialethisch anstößiges, aber rechtlich erlaubtes Vorverhalten des Tatopfers. Es bleiben Fallgruppen für eine Unrechtsminderung, die Anette Grünewald ausführlich untersucht hat, nämlich ein vorangegangener Eingriff in die Rechtssphäre des Täters sowie Situationen, in denen eine Einwilligung des Opfers vorlag.53 Jenseits einer rechtlich begründeten Mitverantwortung ist das Faktum eines sich irgendwie aus Opferverhalten ergebenden Beweggrunds nicht als Unrechtsminderung zu veranschlagen. 4. Schuldminderung durch Beweggründe? a) Worauf kommt es an: faktische Verminderung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit oder „begrenztes Verständnis der Rechtsgemeinschaft“? Als letzter (und schwierigster) Punkt in der Vier-Punkte-Matrix ist schließlich zu klären, ob Beweggründe jenseits einer Unrechtsminderung strafmindernd wirken können. Nach einem verbreiteten Verständnis von „Schuldminderung“ ist maßgeblich, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters (s. §§ 20, 21 StGB) faktisch vermindert war. In diese Richtung deuten auch Überlegungen des Jubilars, der psychische Belastungen und eingeschränkte persönliche Fähigkeiten im Umgang mit Anfechtungen als schuldmindernd wertet.54 Vorstellbar sind Defizite in zwei unterschiedlichen Varianten. Zum einen könnte ein die Unrechtseinsicht betreffendes Defizit bestehen (s. dazu unten IV.), zum anderen könnte ein affektives Problem den Ausschlag geben (im Fall der Ehrenmorde: die „gefühlsmäßigen Regungen, die nicht gedanklich beherrscht und willensmäßig gesteuert werden konnten“55). Die Alternative zum Abstellen auf „faktisch vermindert“ liegt in einer Betonung der normativen Perspektive. Hiernach sind nicht beim Täter vorliegende Wertungsdefizite oder emotionale Ausnahmezustände per se entscheidend, sondern eine Bewertung seiner Situation aus einer Außenperspektive.56 51
Hörnle, GA 2009, 626 ff.; Grünewald (Fn. 29), S. 223 f. BGH NStZ-RR 2006, 140; krit. dazu Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 767 ff.; MK-StGB/Schneider (Fn. 19), § 211 Rn. 100; Bartel in diesem Band. 53 Grünewald (Fn. 29), S. 228 ff. 54 Frisch, FS Müller-Dietz, 2001, S. 237, 240, 249. 55 s. oben Fn. 9. 56 Für einen normativen Schuldbegriff, allerdings mit funktionaler Unterfütterung, Streng, ZStW 101 (1989), 273, 294 ff.; MK-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 24; Neumann, 52
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Für die Praxis ist vor allem von Bedeutung, ob emotionale Aufwallungen sich schuldmindernd auswirken. Es ist auf der deskriptiven Ebene plausibel, dass starke Emotionen es selbst bei vorhandener Unrechtseinsicht und grundsätzlich gegebener Zugänglichkeit für normative Anforderungen erschweren, das eigene Verhalten entsprechend zu steuern. Die Frage, ob eine solche faktische Erschwernis eine Strafminderung erzwingt, ist eine Schlüsselfrage für die Strafrechtstheorie. Wolfgang Frisch geht davon aus, dass es Kongruenz zwischen „faktischer Erschwernis“ und „Bewertung aus einer Außenperspektive unter Gerechtigkeitserwägungen“ gebe.57 An diesem Punkt weiche ich von seiner Einschätzung ab. Vergewissert man sich zunächst über das Regelungskonzept des geltenden Rechts, finden sich Anhaltspunkte dafür, dass die Intensität von Emotionen als psychologisches Faktum keine hinreichende Bedingung für ein milderes Urteil ist. Das Gefühl des Überwältigt-Werdens von affektiven Handlungsimpulsen dürfte auch bei Tötungen zur Befriedigung des Geschlechtstriebs (§ 211 StGB) nicht untypisch sein; diese Erschwernis aus der Täterperspektive steht jedoch der Einstufung als erschwerter Fall einer vorsätzlichen Tötung nicht entgegen. Ebenso fällt die ständige Rechtsprechung des BGH zur Bedeutung von Emotionen für niedrige Beweggründe aus (starke Emotionen wie Hass, Wut, Eifersucht sind auf ihre Hintergründe zu untersuchen),58 und bei § 213 StGB genügt nicht Zorn, sondern es bedarf auch einer bestimmten Vorgeschichte (Misshandlung oder schwere Beleidigung durch den Getöteten, „ohne eigene Schuld“). Wie ist aus strafrechtstheoretischer Sicht, jenseits des geltenden Rechts, die Frage zu beantworten, ob jedes faktische Erschwernis berücksichtigt werden muss oder ob entscheidend ist, dass aus der Perspektive anderer Bürger der jeweiligen Rechtsgemeinschaft ein begrenztes Maß an Verständnis aufgebracht werden kann? Im hier gegebenen Rahmen kann eine mögliche Antwort nur skizziert werden. Eine wesentliche Weichenstellung liegt in der Festlegung, was dem Täter zum Vorwurf gemacht wird. Wenn man vom traditionellen Bild eines zum Unrechtsvorwurf hinzukommenden personalisierten Schuldvorwurfs ausgeht, würde sich ein Fairnesseinwand aufdrängen: Ein solcher Schuldvorwurf müsste gegenüber dem Täter (nicht: gegenüber dem Opfer, nicht: gegenüber der Rechtsgemeinschaft) gerechtfertigt werden, und immer, wenn der Täter auf faktisch bestehende Einschränkungen seiner Einsichtsoder Steuerungsfähigkeit verweisen kann, dürfte ihm allenfalls ein beschränkter persönlicher Schuldvorwurf gemacht werden.59 Es sprechen allerdings Gründe dafür, ZStW 99 (1987), 567, 589 ff.; wie hier Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 765, 769; aA Lüderssen, NJW 2006, 1861, 1862. Ich halte es für missverständlich, zu fragen, wie viel „Psychologisieren“ eine Gesellschaft „ertrage“ und ob sie über „funktionale Äquivalente“ zur Zuschreibung von Schuld verfüge (so Jakobs, ZStW 118 – 2006-, 831, 840). Dies impliziert, dass gesellschaftliche Werturteile konsequent funktionalistisch geprägt sind – das ist eine zweifelhafte Annahme. 57 s. jüngst Frisch, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 3, 13. 58 s. z.B. BGH NJW 2006, 1008, 1011; NStZ 2006, 284, 285. 59 Diese Auffassung habe ich in früheren Veröffentlichungen auch vertreten, Hörnle (Fn. 30), S. 310 ff.; Hörnle, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente,
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auf einen personalisierten Schuldvorwurf zu verzichten. Zum einen weckt eine intensivere Beschäftigung mit den hirnphysiologischen Bedingungen menschlicher Entscheidungsfindung Zweifel an starken Visionen von „Anders-Handeln-Können“ bzw. „Anders-Entscheiden-Können“,60 womit sich das Legitimationsproblem für einen persönlichen Schuldvorwurf verschärft. Zum anderen legen es die obigen Ausführungen zur Funktion des Rechts nahe, den gegenüber dem Täter erhobenen Vorwurf als bloßen Unrechtsvorwurf zu konzipieren. Aus dieser Sicht kann es bei den traditionell unter „Schuldausschließung und Schuldminderung“ rubrizierten Aspekten nur darum gehen, dass auf die Erhebung des Unrechtsvorwurfs ganz oder teilweise verzichtet wird, weil aus einer Außenperspektive begrenztes Verständnis aufgebracht werden kann. Zur Klarstellung ist Folgendes zu betonen. Erstens geht es nicht um ein Urteil, demzufolge die Tötung als solche nachvollziehbar und tolerierbar erscheine. Vielmehr beziehen sich diese Einschätzungen ausschließlich auf die vorangegangene Situation und den Umgang des Täters mit ihr. Zweitens ist „begrenztes Verständnis“ nicht mit „Erklären und Nachvollziehen“ gleichzusetzen: Nachvollziehen lässt sich (fast) jede Tatgenese, ohne dass „Psychologisieren“ aber „alles Entschuldigen“ zur Folge hat.61 Der Verweis auf ein „teilweise mögliches Verständnis“ ist sparsam einzusetzen, wenn die Aufgabe des Rechts, nämlich der Schutz von Freiheitssphären, ernst genommen wird. Aus diesem Grund ist es notwendig, faktische Erschwernisse daraufhin zu filtern, ob sie tatsächlich die Bewertung „teilweiser Verzicht auf den Unrechtsvorwurf ist angemessen“ tragen.62 Ein wichtiges Kriterium ist, ob die Umstände als „Schicksal“ bzw. Eingriffe von außen statt als „durch die Persönlichkeit des Täters bedingt“ beschrieben werden können. Hieran fehlt es bei persönlichkeitsbedingt auftretenden starken Emotionen im normalpsychologischen Spektrum (Wut, Ärger etc.).63 Die Bedeutung der psycho-pathologischen Zustände, die in § 20 StGB aufgezählt werden, ist dagegen aus einer normativen Perspektive zu erklären: Hatte der Täter mit einer schicksalhaft über ihn hereinbrechenden Erkrankung oder einer von Geburt an beeinträchtigenden geistigen Behinderung oder schweren seelischen Störung zu kämpfen, können wir so viel Verständnis für dieses ungewöhnliche und schicksalhafte Erschwernis entwickeln, dass eine geminderte Strafe oder Verzicht auf Strafe vertretbar ist. Ist eine starke Emotion situativ bedingt, ist die entscheidende Frage, ob die Entstehung dieser Situation auf eine selbstbestimmte Entscheidung des kriminalpolitischer Impetus – Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 105 ff. Ich gebe sie auf. 60 s. dazu aus der Fülle der Literatur Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008; Pauen/Roth, Freiheit, Schuld und Verantwortung, 2008; Roth/Hubig/Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe, 2012. 61 s. Jakobs, ZStW 118 (2006), 831, 840; aus moralphilosophischer Sicht: Lohmar, Moralische Verantwortlichkeit ohne Willensfreiheit, 2005, S. 294 ff. 62 Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 765; MK-StGB/Schneider (Fn. 19), § 211 Rn. 97. 63 Anders noch Hörnle (Fn. 30), S. 313 f.
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Täters zurückzuführen ist. Eine Strafminderung muss insbesondere dann ausscheiden, wenn der Täter durch eigenes rechtswidriges Verhalten eine aus seiner Sicht „schiefgehende“ und ihn dementsprechend verärgernde Situation geschaffen hat.64 b) Wann ist begrenztes Verständnis möglich? Zum einen ist an Situationen zu denken, in denen der Täter auf von außen wirkenden Druck reagiert und deshalb ein Tötungsdelikt begeht. Zum anderen könnte unabhängig von äußerem Druck relevant werden, dass sich der Täter zwischen divergierenden moralischen Ansprüchen gefangen sah. Die einfachere Konstellation ist die erstere: für extreme Situationen eines äußeren, für den Täter schicksalhaften Druckes kann ein gewisses Maß an Verständnis aufgebracht werden. Bei akuten, nicht anders abwendbaren Gefahren für wichtige Rechtsgüter und in der besonderen Anspannung einer Angriffssituation wird auf Strafe verzichtet (§§ 33, 35 StGB). Es ist konsequent, für Situationen, die unterhalb der Schwelle für das Eingreifen eines Entschuldigungsgrundes liegen, immerhin eine Strafminderung zu gewähren: bei entschuldigungsähnlichen Gefahren, die den Täter zur Vornahme der Tat motiviert haben, aber auch, wenn andere Personen erheblichen Druck ausgeübt haben (nötigende Einflussnahmen). Schwieriger zu entscheiden sind Konstellationen, in denen eine konflikthafte Zuspitzung nicht auf Gefahren oder Druck anderer Personen zurückzuführen ist, sondern auf einen Widerstreit von moralischen und rechtlichen Anforderungen, denen sich der Täter ausgesetzt sah und die nach seinen Wertungen ernst zu nehmen waren, die aber zu unterschiedlichen Verhaltensgeboten führten. Vertreten wird, dass die Existenz eines moralischen Dilemmas aus Tätersicht für eine Schuldminderung bereits ausreiche65 – ohne dass die moralischen Wertungen im Einzelnen nachvollzogen werden müssten. Eine exklusive Fokussierung auf den Konflikt aus der Binnensicht des Täters ist allerdings problematisch, da die Außenperspektive der Rechtsgemeinschaft die relevante Perspektive für das Urteil „beschränktes Verständnis möglich“ ist. Eine mögliche Gegenposition wäre, zu prüfen, ob das Dilemma nachvollziehbar bedrückend und ernsthaft war, ob es einen Abwägungsprozess aus64 Müssig (Fn. 49), S. 284 ff.; Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 769; MK-StGB/ Schneider (Fn. 19), § 211 Rn. 100. 65 So Fabricius, StV 1996, 209, 211: Personen im moralischen Konflikt seien „weniger schuldbeladen“; auf den „inneren Entscheidungsdruck“ stellt auch Timm (Fn. 31), S. 192 f. ab. Mit besonderem Gewicht stellt sich diese Frage bei Delikten, für die sich der Täter auf sein Gewissen (Art. 4 Abs. 1 GG) beruft. Die h.M. in der Literatur geht davon aus, dass wegen gemilderter Schuld eine Strafminderung angemessen sei: Hirsch, Strafrecht und Überzeugungstäter, 1996, S. 24 ff.; Frisch, FS Schroeder, 2006, S. 11, 31; aA Timm (Fn. 31), S. 163 f. Der Unterschied zwischen „einfachem moralischen Konflikt“ und „Gewissenstat“ ist allerdings ein gradueller und nur aus der subjektiven Tätersicht, also seiner Selbstdarstellung, zu erschließen (eine Gewissenstat soll dann vorliegen, wenn der Täter von einem „unbedingt verpflichtenden Charakter“ der von ihm befolgten Verhaltensnorm ausging, Frisch, FS Schroeder, 2006, S. 12).
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löste und ob das Motiv des Täters letztlich „achtenswert“ ist. Gegen Letzteres wird die Notwendigkeit einer strikten Trennung von Legalität und Moralität ins Spiel gebracht, etwa von Grünewald: „Was sich dem Täter in malam partem nicht entgegenhalten lässt, das lässt sich ihm andererseits in bonam partem nicht zugutehalten“.66 Der Verweis auf Symmetrie scheint mir als solcher zwar nicht zwingend zu sein. Berechtigt ist die Kritik an moralischen Urteilen zur Begründung von Unrechts- oder Schuldsteigerungen; Begründungen für teilweisen Verzicht auf einen Unrechtsvorwurf sind weniger strengen Anforderungen ausgesetzt. Es bleibt aber das Problem, anhand welcher Maßstäbe darüber befunden werden kann, ob ein Motiv achtenswert ist. Die Kompetenz einer Rechtsgemeinschaft zur Beurteilung genuin moralischer Fragen wie die „Achtenswertigkeit“ eines Motivs ist beschränkt. Es überzeugt deshalb nicht, pauschal auf „allgemeine ethische Maßstäbe“ zu verweisen.67 Über detaillierte, feinziselierte moralische Bewertungskriterien kann eine Rechtsgemeinschaft nicht verfügen, da Rechts- und Moralgemeinschaft in modernen Staaten auseinanderfallen, die Gruppen mit unterschiedlichen Traditionen und Referenzsystemen einschließen. Es gibt jedoch einen Weg zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten. Dieser liegt darin, auf das positive Prädikat „achtenswert“ zu verzichten. Bei einem moralischen Dilemma, das insofern „genuines und nachvollziehbares Dilemma“ war, als der Täter es als ernsthaft und bedrückend empfand und sich damit auseinandergesetzt hat (das ist die Minimalvoraussetzung), ist aber ein filternder Prüfungsschritt vorzunehmen. Diese Prüfung richtet sich darauf, ob die aus Sicht des Täters bestehende moralische Anforderung, die mit einer rechtlichen Verhaltensnorm kollidierte, aus der Perspektive der Rechtsgemeinschaft inakzeptabel ist. Unter bestimmten Umständen ist ein negatives Urteil möglich: nämlich dann, wenn die Wertung des Täters mit zentralen rechtlichen Wertungen unvereinbar ist, die ein Gerüst an unbedingt zu beachtenden Wertvorgaben bilden. Eingeschränktes Verständnis für die Situation des Täters und dessen Umgang damit darf nicht bekundet werden, wenn seine Wertung mit der Anforderung kollidierte, Menschen als autonome, selbstbestimmungsfähige Wesen zu respektieren, die den Anspruch auf Gleichbehandlung und Achtung von Menschenwürde haben. Wäre dagegen das aus der Sicht des Täters bestehende moralische Handlungsgebot im moralischen Diskurs angreifbar, nicht aber offensichtlich inkompatibel mit rechtlichen Basisannahmen, so kann das subjektiv bestehende Dilemma Grund für gemilderte Strafe sein. Im Bereich der Tötungsdelikte wird eine solche Situation allerdings nur sehr selten vorkommen. Schließlich wäre die Voraussetzung, dass der Täter ernsthaft ein moralisch begründetes Tötungsgebot annehmen muss – und dieses wird kaum je die beschriebene Filterung überstehen.68 Eine Aus66
Grünewald (Fn. 29), S. 367. So Nehm, FS Eser, 2005, S. 419, 427. 68 Aus diesem Grund scheidet auch bei sog. Gewissenstätern (oben Fn. 65) eine Minderung aus, wenn ein Tötungsdelikt zu bewerten ist: Auch Art. 4 Abs. 1 GG führt nicht zu einer anderen Bewertung, wenn es um die Missachtung erstens des Rechts auf Lebens und zweitens anderer Grundwerte der verfassungsrechtlichen Ordnung geht. 67
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nahme wäre allerdings z. B. eine Tat, die durch Mitleid und die Annahme eines darauf basierenden Handlungsgebots angesichts des Leidens einer nicht (mehr) autonomiefähigen Person motiviert war. Die bisherigen Überlegungen stellten auf eine Querschnittsbetrachtung der Situation zum Tatzeitpunkt ab. Es gibt weitere mögliche Begründungswege. Diese könnten in einer Längsschnittbetrachtung der Biographie des Täters zu finden sein. Die Frage, ob in einer Längsschnittbetrachtung Faktoren auszumachen sind, die es rechtfertigen, auf die Erhebung des Unrechtsvorwurfs ganz oder jedenfalls teilweise zu verzichten, behält auch dann ihren Sinn, wenn man davon ausgeht, dass niemand zu einem bestimmten Zeitpunkt X genuin frei entscheiden kann, weil bei jedem Menschen die konkrete Entscheidungsfindung durch die in vorherigen Lebensabschnitten ausgeprägten Hirnstrukturen bestimmt wird. Trotzdem könnte die rechtliche Bewertung darauf Rücksicht nehmen, dass bestimmte Entwicklungen es erschweren, normativ angemessene Bewertungsschleifen auszubilden und so langfristig Normtreue fördernde Verhaltensdispositionen zu entwickeln. In der Rechtsprechung des BGH zum Mordtatbestand ist die Längsschnittperspektive mit dem Pochen auf eine „Gesamtwürdigung“ angelegt, die explizit auch die Persönlichkeit einschließen soll.69 Neumann leitet aus dem Schuldgrundsatz ab, dass der Täter für seine eigene fehlerhafte Sozialisation nicht verantwortlich gemacht werden könne.70 Aber überzeugt dies wirklich? Können und sollen strafrechtliche Bewertungen das Leben des Täters analysieren? Die Antwort hierauf muss „nein“ lauten. Biographische Erklärbarkeit ist kein hinreichender Grund für eine individuelle Strafminderung. Eine gründliche Längsschnittbetrachtung muss bei fast jeder gewichtigen Straftat irgendwo im Werdegang des Täters auf Fakten stoßen, die die Straftat bei rückblickender Betrachtung erklären. Abgesehen von vorübergehender leichter Jugenddelinquenz und vereinzelt vermutlich vorkommenden unberechenbar-schicksalhaften Momenten, hängt die Identifikation relevanter Umstände von der Intensität des Suchens ab. Im Geflecht des Zusammenwirkens von Genen, ungünstiger frühkindlicher Entwicklung und negativen Prägungen durch die soziale Umwelt in der weiteren Kindheit und Jugend, aber auch im Erwachsenenalter, sind in der Regel die relevanten Entwicklungen zu finden. Die Tatsache, dass Erklären in der Regel möglich ist, kann jedoch bei einer rechtlichen Bewertung nicht in die Schlussfolgerung münden, dass deshalb für den individuellen Fall eine Herabstufung des Vorwurfs angemessen sei.71 Gerade weil es ein ubiquitäres Phänomen ist, dass Menschen durch Umstände außerhalb ihrer selbst negativ geprägt werden, ist dies nicht in Form von individuellen Minderungen umsetzbar. Eine Bevorzugung wegen der Benachteiligung Y (etwa: Vernachlässigung durch die Mutter) wäre ein Gerechtigkeitsproblem, wenn wegen ungünstiger Umstände in anderen Fällen nicht gemindert würde. Punktuell-willkürliche Rückgriffe auf biogra69
s. die Nachweise oben Fn. 16. NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 211 Rn. 30a. 71 Lohmar (Fn. 61). AA Cöster (Fn. 1), S. 278.
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phische Umstände sind zu vermeiden. Die Erklärbarkeit von Taten mit den Umständen, in die die Täter geworfen wurden, sollte sich vielmehr im allgemeinen Strafniveau niederschlagen. Die Einsicht, dass in aller Regel nicht „das genuin Böse“, nicht „Monster“ abzuurteilen sind, sondern schicksalsgebeutelte Menschen, sollte die Gesamtschwere eines Strafrechtssystems (etwa: Verzicht auf Todesstrafe) beeinflussen. Hieraus ergibt sich, dass „begrenztes Maß an Verständnis“ nicht in dem Sinne zu verstehen ist, dass nach plausiblen Erklärungsfaktoren im Lebenslängsschnitt gesucht werden müsse. Die Voraussetzungen müssen vielmehr enger sein: ungewöhnliche äußere Umstände, die tatnäher, bei einer Querschnittsbetrachtung, festzustellen sind.
III. Zur Auslegung des Mordmerkmals „niedrige Beweggründe“ in § 211 StGB Dass es dringend einer Überarbeitung der Normen zu den vorsätzlichen Tötungsdelikten bedarf, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Kritische Stellungnahmen finden sich seit Jahrzehnten,72 unter anderem in Form mehrerer Alternativ-Entwürfe73 und im Gutachten zum 53. Deutschen Juristentag.74 Zwar sollte man die letzte Änderung der Merkmale in § 211 StGB durch das „Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuch“ v. 4. 9. 1941 nicht in Bausch und Bogen verdammen. Zu offensichtlich war die vorangegangene Rechtslage, die mittels des Merkmals „Tötung mit Überlegung“ zwischen Totschlag und Mord differenzierte, noch weniger brauchbar: Mit nur einem Merkmal kann eine vergleichende, allen Fallgestaltungen gerecht werdende Unrechts- und Schuldbewertung nicht gelingen.75 Vielmehr muss eine Bewertung mehrdimensional ausfallen. Trotzdem ist die 1941 geschaffene Norm in vielerlei Hinsicht kritikwürdig.76 Für die hier interessierenden „niedrigen Beweggründe“ liegt das Hauptproblem darin, dass hinter der Gesetzesänderung verschwommene Intuitionen standen. Die Annahme, dass man „sittliche“ Wertungen einfließen lassen müsse, ist nicht als genuin nationalsozialistisches Gedankengut einzustufen77 (trotz 72 s. z.B. Arzt, ZStW 83 (1971), 1 ff.; Otto, ZStW 83 (1971), 39 ff.; Köhne, ZRP 2007, 165 ff. s. ferner die Nachweise bei Eser, Empfiehlt es sich, die Straftatbestände des Mordes, des Totschlags und der Kindestötung (§§ 211 bis 213, 217 StGB) neu abzugrenzen? Gutachten D zum 53. DJT, 1980; Grünewald (Fn. 29), S. 1 Fn. 1. 73 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches Besonderer Teil, Straftaten gegen die Person, 1. Halbband, 1970; Alternativ-Entwurf Leben. Reform der Tötungsdelikte, GA 2008, 193 ff. 74 Eser (Fn. 72), D 34 ff. 75 So schon der Sache nach Mittermaier, GA 2 (1854), 141, 142. 76 s. zur Kritik etwa auch Mitsch, JZ 2008, 336 f. 77 Müssig (Fn. 49), S. 83 f.; MK-StGB/Schneider (Fn. 19), § 211 Rn. 5. s. ausführlich zur Entstehung des § 211 StGB Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 334 ff.
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der von Freisler formulierten Anforderung an das nationalsozialistische Strafrecht, dass es „Spiegelbild der Sittenordnung“ sein müsse78). Die Koppelung strafrechtlicher an sittliche Wertungen war nicht untypisch für den Zeitgeist im 19. Jahrhundert und der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.79 Das Problem eines Einforderns „sittlicher Wertungen“ liegt darin, dass eine strafrechtstheoretische Reflektion fehlt. Entscheidend ist, ob sich die in § 211 StGB vorgegebene Rolle von „niedrigen Beweggründen“ im Rahmen von allgemeinen Überlegungen zu Unrecht und Schuld rational rekonstruieren lässt. Das geltende Recht wertet „niedrige Beweggründe“ im Verhältnis zum Totschlag (§ 212 StGB) als strafschärfenden Faktor. Plausibel wäre dies nur, wenn Schuld beliebig steigerbar wäre oder wenn das Tatunrecht durch Beweggründe gesteigert würde. Beides ist, wie vorstehend begründet, nicht überzeugend zu vertreten. Wie ist mit dieser Situation umzugehen? Die bestmögliche Lösung dürfte darin liegen, darauf zu verzichten, „niedrige Beweggründe“ positiv zu erfassen. Vorzuziehen ist eine ausschließlich negative Definition: liegen Beweggründe vor, die nach den oben geschilderten Maßstäben unrechts- oder schuldmindernd gewertet werden können, handelt es sich um keinen „niedrigen Beweggrund“. Im Übrigen sind die Beweggründe niedrig. Sieht man das Verhältnis so, werden vorsätzliche Tötung aus niedrigen Beweggründen zum Grunddelikt und Totschlag zur Privilegierung.80 Aus strafrechtstheoretischer Sicht ist ein nur mit Abstufungen nach unten arbeitendes Einteilungsschema zu rechtfertigen81 – wobei meine Präferenz bei einem dreiteiligen System läge, das neben dem Grundtatbestand „vorsätzliche Tötung“ und Privilegierungen außerdem (für unrechtserhöhende Ausprägungen wie „grausam“ und „Mehrzahl von Opfern“) einen Qualifikationstatbestand vorsehen würde. De lege lata entsteht aber ein Problem, weil § 211 StGB lebenslange Freiheitsstrafe für „niedrige Beweggründe“ vorschreibt und weil dies bedeutet, dass für einen Normalfall vorsätzlicher Tötung (beim Fehlen von unrechts- und schuldmindernden Faktoren) die Höchststrafe zu verhängen ist. Zieht man den Kreis der unrechts- und schuldmindernden Beweggründe eng, würde die lebenslange Freiheitsstrafe zur Normalstrafe für vorsätzliche Tötungen. Das Problem ließe sich zwar etwas abmildern, wenn die nach § 57a StGB für Strafverbüßung jenseits von fünfzehn Jahren relevante „besondere Schwere der Schuld“ so definiert würde, dass insoweit Beweggründe keine Rolle spielen dürften, sondern nur gesteigertes Erfolgs- oder Handlungsun-
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Freisler, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1934, S. 9, 15 f. Ähnlich Graf v. Gleispach, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht, Besonderer Teil, 1935, S. 254 ff. 79 s. z.B. v. Bar, Die Grundlagen des Strafrechts, 1869, S. 61 ff.; im Überblick zur Rolle von moralischen Wertungen in der älteren Literatur Haas (Fn. 45), S. 188 ff., 238 ff.; Grünewald (Fn. 29), S. 110 ff. 80 Peralta, FS Roxin, 2011, S. 257, 263; Timm (Fn. 31), S. 187 ff. 81 s. Müssig (Fn. 45), S. 249 ff.; Jakobs, FS Roxin, 2001, S. 793, 808 Fn. 47; Timm (Fn. 31), S. 205; ausführlich Grünewald (Fn. 29), S. 368 ff.
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recht.82 Aber es bleiben Bedenken gegen eine ausgedehnte Anwendung von § 211 StGB, solange dies nicht nur das Stigma der Bezeichnung „Mord“, sondern auch die Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe mit sich bringt. Welchen Ausweg könnte es geben? Die einzig halbwegs akzeptable Lösung liegt meines Erachtens darin, bei dem Punkt schuldmindernde Umstände und der Bewertung „begrenztes Verständnis der Rechtsgemeinschaft“ anzusetzen. Bei der Anerkennung von Ausnahmesituationen in einer Querschnittsbetrachtung sollte etwas großzügiger verfahren werden als man dies bei einer befriedigenden Gestaltung der gesetzlichen Tatbestände tun würde. In einem rechtsgestaltenden Kontext sprechen gute Gründe gegen den Vorschlag von Eser, auf „Affekt- und Konfliktfaktoren“ abzustellen83 – Affekte sind normativ indifferent, und auch der Bezug auf „Konflikt“ ist an sich nicht unproblematisch. Aber: wegen der lebenslangen Freiheitsstrafe kann de lege lata der Bereich der „nicht-niedrigen“ Beweggründe, der zu § 212 StGB führt, nicht ganz eng gehalten werden. Es ist vertretbar, in bestimmten Grenzen das faktische Bestehen einer den Täter stark belastenden Konfliktsituation als „verdient gewisses Verständnis“ zu bewerten. „In bestimmten Grenzen“ bedeutet: Zum einen sollte darauf abgestellt werden, wie stark ein emotionaler Ausnahmezustand auf eine auch aus der Außenperspektive schwer erträgliche Situation (statt auf persönliche besondere Erregbarkeit) zurückzuführen ist.84 Nicht überzeugend ist die Auffassung, dass „persönlichkeitsgeprägte Konfliktlagen“ entlastend wirkten85 – dies sollte nur bei situationsbedingten Konflikten angenommen werden. Zum anderen ist die im Zusammenhang mit § 33 StGB zu findende Unterscheidung zwischen sthenischen und asthenischen Affekten zu übernehmen. Eher auf Verständnis stoßen können reaktive Emotionen, die als „Furcht“, „Verwirrung“ oder „Verzweiflung“ beschrieben werden können, während bei „Zorn“ und „Wut“ Zurückhaltung angebracht ist. Wünschenswert wäre es zwar, dass es auf derartige Differenzierungen nicht ankäme, weil es schwer fällt, die Komponenten exakt zu unterscheiden (schließlich steckt in der Tötung eine aggressive Komponente)86 und weil die Beschreibung des dominanten Motivs von der geschickten oder ungeschickten Selbstbeschreibung des Täters abhängt. Aber welche Alternative bleibt mangels einer brauchbaren gesetzlichen Grundlage?
82 Das entspricht nicht der h.M.; auch hier soll eine Gesamtwürdigung unter Einschluss aller Motive erfolgen, s. BGHSt. 40, 360, 370; 42, 226, 227 ff.; Fischer (Fn. 17), StGB, § 57a Rn. 9. 83 Eser (Fn. 72), D 129 ff.; ebenso Heine (Fn. 22), S. 271 ff. 84 So auch Eser (Fn. 72), D 135 f. 85 Fischer (Fn. 17), StGB, § 211 Rn. 20. 86 Fischer (Fn. 17), StGB, § 211 Rn. 28. s. zu den großen beweisrechtlichen Schwierigkeiten auch Bartel, in diesem Band.
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IV. Zur Bewertung von Ehrenmorden Vor dem skizzierten Hintergrund sind Ehrenmorde wie folgt zu bewerten: Da Beweggründe weder Schuld noch Unrecht erhöhen, ist das Augenmerk auf mögliche Unrechts- und Schuldminderungen zu richten. Zunächst ist zu erwägen, ob unrechtsmindernde Umstände vorliegen, was aber in typischen Ehrenmord-Fällen zu verneinen ist. Auf keinen Fall dürfte ein Vorverhalten der getöteten Frau als Unrechtsminderung angeführt werden, das in der Aufnahme (oder der Verweigerung) von persönlichen Beziehungen liegt. Zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) gehört selbstverständlich, und zwar unabhängig von einer Billigung oder Missbilligung durch die Familie, das Recht, Kontakte und sexuelle Beziehungen mit anderen Personen einzugehen. Es wäre nur dann über eine Unrechtsminderung nachzudenken, wenn Ärger über das Verhalten einer Tochter oder Schwester auf deren rechtliches Fehlverhalten gegenüber Familienangehörigen (nämlich Straftaten oder anderes von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten) zurückzuführen wäre, aber nicht in den Fällen, die „Ehrenmorde“ genannt werden. Die wichtigere Frage gilt möglichen schuldmindernden Umständen. Den beiden vom BGH aufgeworfenen, hier als „Hintertüren“ bezeichneten Topoi (dem Täter war es nicht möglich, seine gefühlsmäßigen Regungen gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern; oder: der einem anderen Kulturkreis entstammende Täter war noch derart stark von den Anschauungen seiner Heimat beherrscht, dass er sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Lebensumstände nicht lösen konnte) sind unter dem Rubrum „Schuldminderung“ zu analysieren. Sie verweisen auf unterschiedliche Zeitperspektiven. Im ersten Fall geht es um eine Querschnittsanalyse der Situation unmittelbar vor der Tat, im zweiten um Überlegungen, die auf biographische Prägung, also den Lebenslängsschnitt, abstellen. In der Literatur stößt die Kompromisslösung des BGH, die einerseits auf eine objektive Bewertung von „Niedrigkeit“ drängt, andererseits aber den Tatgerichten die Möglichkeit zur Verneinung niedriger Beweggründe lässt, überwiegend auf Zustimmung.87 Teilweise wird explizit auf das Schuldprinzip verwiesen, das eine Bewertung individueller Schuld erfordere.88 Bei näherer Betrachtung gibt es jedoch gewichtige Einwände.
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Momsen, NStZ 2003, 237, 238; Nehm, FS Eser, 2005, S. 419, 426 ff.; Schulz, NJW 2005, 551, 554; Küper, JZ 2006, 608, 610 f.; Dietz, NJW 2006, 1385, 1386 f.; Kudlich/Tepe, GA 2008, 92, 100 ff.; Hilgendorf, JZ 2009, 139, 141; Grünewald, NStZ 2010, 1, 8 f.; Fischer (Fn. 17), StGB, § 211 Rn. 29 – 29b; MK-StGB/Schneider (Fn. 19), § 211 Rn. 108; SK-StGB/ Sinn (Fn. 19), § 211 Rn. 27. Andere Stimmen teilen den Ansatz, der die Niedrigkeit der Beweggründe objektiv ohne Berücksichtigung der Vorstellungen des Täters bejaht und verbinden dies mit krit. Anmerkungen zu den „Hintertüren“ des BGH: Valerius (Fn. 5), S. 83 ff.; ders., JZ 2008, 912, 916 ff.; Erbil (Fn. 5), S. 191 ff.; s. auch Trück, NStZ 2004, 497, 499. Für konsequenten Verzicht auf die Berücksichtigung „fremdkultureller Wertvorstellungen“ Pohlreich (Fn. 5), S. 274 ff.; ders., ZIS 2011, 734 f.; ebenso Jakobs, ZStW 118 (2006), 831, 841 ff. 88 Kudlich/Tepe, GA 2008, 92, 101 f.
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Im Hinblick auf die Längsschnittperspektive bleibt unklar, warum die Beachtlichkeit von subkulturellen Prägungen an Migrationshintergründe geknüpft wird, während andere, ähnlich prägewirksame Einflussnahmen vernachlässigt werden sollen. Oben wurde bereits ausgeführt, dass es willkürlich ist, aus der Fülle der Umstände, die die Wahrscheinlichkeit späterer Normkonformität verringern, manche als schuldmindernd zu berücksichtigen, andere dagegen nicht. Warum sollten örtliche Veränderungen berücksichtigt werden, die zur Folge haben, dass Herkunftskultur und Mehrheitskultur (noch) stärker auseinanderklaffen als im ursprünglichen Heimatland, nicht aber andere Konstellationen eines solchen Auseinanderfallens von Verhaltenserwartungen?89 Jedes Individuum wird in seinen Verhaltensdispositionen durch seine Umgebung geprägt, durch das Herkunftsmilieu ebenso wie durch später relevante Bezugsgruppen. Es ist zwar zu überlegen, ob diese Einflüsse anhand von Kriterien wie „tiefgehend versus oberflächlich“ und „schicksalshaft versus freiwillig gewählt“ gewichtet werden könnten. Im Ergebnis wäre es aber nicht überzeugend, zu unterstellen, dass die Herkunftskultur zwangsläufig stärker Entwicklungslinien steuert als andere gruppenbedingte Einflüsse. Und es wäre nicht zu begründen, warum migrationsgeprägte Biographien schuldmindernd wirken sollen, nicht aber andere subkulturelle Verankerungen, die der Täter nicht einmal räumlich hinter sich gelassen hat90 (etwa: das rechtsextremistische Umfeld, das schon in Kindheit und Jugend bestand, oder die religiöse Sekte, zu der bereits die Eltern gehörten). Die Unterstellung, dass nur Personen mit ausländischen Wurzeln hilflos subkulturellen Prägungen ausgeliefert und unfähig seien, sich die Disposition zu normkonformen Verhalten zu erhalten, ist eine unberechtigte Diskriminierung.91 Es sollte deshalb (nicht nur) bei Ehrenmorden darauf verzichtet werden, eine Schuldminderung mit Einflüssen zu begründen, die sich in einer Längsschnittanalyse der Täterbiographie finden lassen. Wendet man sich der Querschnittsbetrachtung zu, ist der zweite Begründungsstrang des BGH zu beurteilen, der darauf abstellt, ob es dem Täter zum Tatzeitpunkt möglich war, Gefühlsregungen zu beherrschen. Diese Konstruktion unter dem Stichwort „Motivationsbeherrschungspotential“ verdient ebenfalls Kritik.92 In den meisten Fällen dürften, wenn der Täter eines Ehrenmordes zum Tatzeitpunkt unter dem Einfluss starker Emotionen steht, diese in die problematische Kategorie der sthenischen Affekte fallen (Wut und Ärger über „Ungehorsam“ und „Sturheit“ des weib89
Pohlreich (Fn. 5), S. 255 f., 266, 271; Timm (Fn. 31), S. 194. Die Erwägung, dass unter solchen Umständen Täter zunächst „Normen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland internalisiert“ und erst danach „ihr eigenes (subkulturelles) Wertsystem geschaffen“ hätten (so Sonnen, JA 1980, 747; Saliger, StV 2003, 22, 24; Schulz, NJW 2005, 551, 554), kann, muss aber nicht eine zutreffende Beschreibung sein. Zu Recht krit. Nehm, FS Eser, 2005, S. 419, 427 f. 91 Pohlreich (Fn. 5), S. 267 f., 273; Valerius (Fn. 5), S. 95; Timm (Fn. 31), S. 194; MKStGB/Schneider (Fn. 19), § 211 Rn. 108. Ebenso Saliger, StV 2003, 22, 24; NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 211 Rn. 30a. 92 Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 771 f., Pohlreich (Fn. 5), S. 283 ff.; Erbil (Fn. 5), S. 195. AA Nehm, FS Eser, 2005, S. 419, 429. 90
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lichen Familienmitglieds). Und vor allem scheidet eine Wertung „beschränkt mögliches Verständnis der Rechtsgemeinschaft“ aus, weil die Beweggründe mit Basiswertungen der deutschen Verfassung unvereinbar sind:93 die Verweigerung von Selbstbestimmung in intimen und sexuellen Beziehungen, also im Kernbereich der Persönlichkeit, kollidiert mit Art. 2 Abs. 1 GG; der Anspruch uneingeschränkter Kontrolle über weibliche Familienmitglieder bedeutet eine erhebliche Demütigung und damit eine Missachtung der Wertung in Art. 1 Abs. 1 GG; und schließlich widersprechen geschlechtsspezifische Verhaltensnormen, die Frauen mit dem Verweis auf „Familienehre“ wesentlich stärker einschränken als Männer, dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter, Art. 3 Abs. 2 GG. Schließlich wird in der Literatur die Möglichkeit eines (partiellen) Verbotsirrtums thematisiert.94 Würde das Unrechtsbewusstsein insgesamt fehlen, d. h. der Täter tatsächlich glauben, in nicht strafbarer oder gerechtfertigter Weise zu handeln, wäre § 17 StGB anzuwenden. Die Behauptung einer solchen Fehlvorstellung wäre allerdings schwerlich plausibel, da auch in Ländern, in denen Ehrenmorde nicht ganz seltene „einheimische“ Vorkommnisse sind, keine Straffreiheit besteht.95 Die Behauptung eines Täters, er habe angenommen, kein Unrecht zu begehen, ist deshalb in der Regel abwegig. Soweit sich Täter auf soziokulturelle Gebräuche stützen, ist deren Bezeichnung, auch im Täterbewusstsein, als „Gewohnheitsunrecht“96 zutreffend. Allerdings könnte unterhalb der Schwelle des § 17 StGB die Einsicht in das Ausmaß des Unrechts fehlen. Zu erwägen ist, ob ein solches Wissensdefizit als mindernd zu werten ist, so dass deshalb niedrige Beweggründe ausgeschieden werden könnten.97 Voraussetzung wäre ein geteiltes Unrechtsbewusstsein, d. h. Wissen um das Unrecht einer vorsätzlichen Tötung, aber verbunden mit der Fehlvorstellung, dass „Rettung der Familienehre“ die Tat zu einem weniger gewichtigen Delikt mache. Auch insoweit wäre allerdings schon bei der Beweiserhebung sorgfältig zu überprüfen, ob der Täter ernsthaft an eine rechtliche Privilegierung geglaubt haben kann. Dagegen spricht, dass in den meist kulturell und sozial nicht homogenen Herkunftsländern keine einheitlichen Vorstellungen zur positiven Bewertung von gewaltsamer „Ehrwiederherstellung“ herrschen und dem Täter deshalb gegenläufige Bewertungen bekannt sein müssten.98 Und es ist angesichts der öffentlichen Erörterung von Ehrenmorden in Deutschland gleichermaßen unwahrscheinlich, dass die handelnden 93
s. auch Grünewald, NStZ 2010, 1, 8 f.; Burmeister, Die schuldangemessene Bewertung von Ehrenmorden im deutschen Strafrecht, 2011, S. 212, 217. 94 Valerius (Fn. 5), S. 95 ff.; Hilgendorf, JZ 2009, 139, 141; Grünewald, NStZ 2010, 1, 9; Timm (Fn. 31), S. 196 f. Zu „fehlendem Wertwidrigkeitsbewusstsein“ bereits Heine (Fn. 22), S. 275. 95 s. zur Rechtsvergleichung Tellenbach, in: dies. (Hrsg.), Die Rolle der Ehre im Strafrecht, 2008, S. 616, 648 ff., 701 ff.; Pohlreich (Fn. 5), S. 132 ff.; Valerius (Fn. 5), S. 70 f.; Kudlich/ Tepe, GA 2008, 92, 98 f. 96 Rohe, JZ 2007, 801, 805. 97 Das hatte ich in Hörnle (Fn. 30), S. 311, vertreten. 98 Rohe, JZ 2007, 801, 805; Grünewald, NStZ 2010, 1, 6 f.
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Personen davon ausgingen, ihre Tathintergründe würden als unrechtsmindernd gewertet. Nur unter sehr ungewöhnlichen Umständen könnte der Täter einen tatsächlich vorliegenden Irrtum über die strafmindernde Wirkung der „Ehrenrettung“ plausibel machen. Zu bejahen wären dann Erkundigungspflichten und damit die Vermeidbarkeit einer solchen Fehlvorstellung.99 Fraglich wäre, wie sich ein vermeidbarer Irrtum dieser Art auswirken würde. Die Milderungsmöglichkeit in § 17 S. 2 StGB gilt echten Verbotsirrtümern. Unter solchen Umständen, bei faktisch fehlender Unrechtseinsicht, ist es richtig, beschränktes Verständnis für die Situation des Täters aufzubringen, d. h. die Strafe zu mildern. Der Grund liegt in der aus der Perspektive der Rechtsgemeinschaft wichtigen Funktion von Strafnormen als Verhaltensnormen: Damit ist der Anspruch verbunden, dass Personen sich durch den Appell der Norm beeinflussen lassen. Kognitiven Defiziten, die zur Folge hatten, dass die Botschaft der Rechtsgemeinschaft den Täter tatsächlich nicht erreicht hat, ist bei der Bewertung der Tat Rechnung zu tragen. Dies sollte auch für die abgewandelte Konstellation gelten, wenn der Täter zwar weiß, dass es ein rechtliches Handlungsverbot gibt, er aber in einem gravierenden Irrtum über das Gewicht der Verbotsnorm handelt.100 Für Ehrenmorde spitzt sich die Frage folgendermaßen zu: Wäre die Differenz zwischen „einfacher vorsätzlicher Tötung“ (wenn dies die Vorstellung des Täters vom korrekten Unwerturteil für Ehrenmorde wäre) und „Mord aus niedrigen Beweggründen“ (tatsächliche Bewertung der Rechtsgemeinschaft) so erheblich, dass das Wissensdefizit strafmindernd gewertet werden sollte? Der BGH geht davon aus, dass der Täter nicht selbst seine Motive als niedrig einordnen muss.101 Mit einer formalen Herangehensweise könnte man zwar auf den Unterschied von Grundtatbestand und Qualifikation verweisen.102 Allerdings sprechen die besseren Gründe für eine differenzierende, nicht nur an formale Einteilungen geknüpfte Betrachtung. Es müsste ein deutlicher Unterschied zwischen der vom Täter vorgestellten milden Rechtswertung und der tatsächlichen strafrechtlichen Bewertung bestehen. Ein erheblicher Unterschied ist aber dann zu verneinen, wenn dem Täter bewusst war, dass er die Verbotsnorm gegen vorsätzliche Tötung missachtet hat.103 Damit ist das Wissen, schweres Unrecht zu verwirklichen, vorhanden. Wegen der Bedeutung des Tötungsverbots kommt es auf fehlende Kenntnis der Feintarierung des Unrechtsausmaßes nicht an.104 Im Ergebnis sollte deshalb, selbst wenn sich bei der Beweiserhebung ein partieller Verbots-
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Pohlreich (Fn. 5), S. 279 ff.; Hilgendorf, JZ 2009, 139, 141. Valerius (Fn. 5), S. 97 ff.; einschränkend NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 17 Rn. 37; LKStGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 17 Rn. 22: Es komme darauf an, ob ein weiteres Rechtsgut verletzt werde. 101 BGH NJW 2004, 1466. AA Valerius (Fn. 5), S. 98 f. 102 So Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 21 Rn. 17. AA BGHSt. 10, 35, 42; 15, 377, 383; 42, 123, 130. 103 NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 211 Rn. 30a. AA Valerius (Fn. 5), S. 99. 104 Meine abweichende Meinung in Hörnle (Fn. 30), S. 311 gebe ich auf. 100
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irrtum ergeben sollte, diesem keine schuldmindernde Bedeutung beigemessen werden.105 Es bliebe bei der Bestrafung aus § 211 StGB. Fazit: Es gibt nur sehr wenige Fallgestaltungen, in denen der Verzicht auf einen Unrechtsvorwurf in voller Höhe zu vertreten ist (also Verurteilung nur wegen Totschlags statt wegen Mordes). Neben atypischen Fällen, in denen kein echter Ehrenmord vorliegt, weil nicht subkulturell behauptetes „Fehlverhalten“, sondern rechtlich zu missbilligendes Vorverhalten des Opfers zur Tat führte, ist vor allem an nötigungsähnliche Situationen zu denken. Ist der Täter nach anfänglicher Weigerung von anderen Mitgliedern der Familie durch Drohungen mit einem empfindlichen Übel oder unter Gewaltanwendung dazu gebracht worden, als Rächer der „Familienehre“ zu fungieren, kann seiner persönlichen Bedrängnis Rechnung getragen werden, indem für seine Person niedrige Beweggründe verneint werden.106 Für die anders gelagerten Ehrenmordfälle ist der Rechtsprechung des BGH zu niedrigen Beweggründen nur teilweise zuzustimmen: es muss in der Tat auf die „objektive Bewertung durch die Rechtsgemeinschaft“ ankommen; kritisch zu sehen sind dagegen die „Hintertüren“.
105 AA Heine (Fn. 22), S. 275; ebenso aA Valerius (Fn. 5), S. 105 für den unvermeidbaren Verbotsirrtum. 106 So auch Valerius (Fn. 5), S. 89, allerdings auf S. 90 mit der Einschränkung auf „ähnlich schlimme Konsequenzen, wie sie dem Mordopfer drohen“; ähnlich Burmeister (Fn. 93), S. 217.
Die besonders leichtfertige Tötung Zugleich ein Beitrag zur „spezifischen Gefahrverwirklichung“ bei der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) Von Georg Freund*
I. Allgemeine Grundlagen 1. Verantwortlichkeit für Fehlverhaltensfolgen – Unmöglichkeit „objektiver Zurechnung“ Im Strafrecht geht es um individuelle Verantwortlichkeiten: Bestimmte Personen sollen für ihr Fehlverhalten und dessen Folgen zur Verantwortung gezogen werden. Auch der sog. „Zurechnungszusammenhang“ zwischen dem Verhalten einer Person und einem bestimmten „Erfolg“ betrifft solche Fragen der Verantwortlichkeit. Wenn etwa zu entscheiden ist, ob der Tod eines Menschen einem Fehlverhalten i.S. eines Tötungsdelikts zuzurechnen ist, kommt es darauf an, ob sich im konkreten erfolgsverursachenden Geschehen gerade ein spezifisch rechtlich missbilligtes Risiko realisiert hat1 – genauer: ob sich mit dem Tod dieses Menschen eine Schädigungsmöglichkeit realisiert hat, die der Betreffende von Rechts wegen bei gegebener Sonderverantwortlichkeit2 nicht schaffen durfte oder hätte abwenden müssen.3 Diese * Der Beitrag wurde Ende September 2012 abgeschlossen. Für die kritische Durchsicht des Textes und wertvolle Anregungen danke ich sehr herzlich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie einigen freundlichen Kolleginnen und Kollegen. 1 Zu dieser weithin anerkannten „Realisierungsformel“ s. statt vieler Frisch, JuS 2011, 19, 22; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 28 IV (S. 286 f.); Joecks, Studienkommentar StGB, 9. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 37; Kühl, Strafrecht AT, 7. Aufl. 2012, § 4 Rn. 43; SK-StGB/Rudolphi, 26. Lfg. 1997, Vor § 1 Rn. 57, jew. mwN. Da sich in diesem Sinne aber nur das realisieren kann, was zuvor durch ein Verhalten geschaffen oder nicht abgewendet wurde, werden die Weichen für die Zurechnung durch eine Klärung der spezifischen Verhaltensmissbilligung gestellt (zutr. dazu Frisch, JuS 2011, 205, 210 f.; s. auch bereits ders., Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 33 ff., 428 f., 526 et passim; ders., GA 2003, 719, 741 ff.). 2 Eine Sonderverantwortlichkeit wird ausdrücklich zwar oft nur für die Tatbestandsverwirklichungen durch begehungsgleiches Unterlassen – als sog. Garantenverantwortlichkeit – verlangt. Wenn diese besondere Verantwortlichkeit für den zu vermeidenden schadensträchtigen Verlauf fehlt, liegt jedoch auch in Fällen aktiven Tuns nur eine Minderform der Folgenverantwortlichkeit vor, die z. B. für die Strafzumessung bei der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB bedeutsam ist. Beispiel: Das Verlassen eines Herzkranken, das in vorher-
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„Grundform“4 der Folgenverantwortlichkeit – meist irreführend „objektive Zurechenbarkeit“ genannt – ist bereits für eine fahrlässige Tötung erforderlich. Sie darf aber selbstverständlich auch bei einer vorsätzlichen vollendeten Tötung nicht fehlen. Eine solche erfordert allerdings weitergehend ein vorsätzliches Tötungsverhalten sowie die Realisierung gerade eines vom Täter vorsätzlich nicht vermiedenen Risikos. Meist wird diese qualifizierte Form der Zurechenbarkeit als „subjektive (Vorsatz-)Zurechnung“ bezeichnet. Treffender ausgedrückt handelt es sich um das spezielle Erfordernis der vollendeten Vorsatztat: Dieses besteht darin, dass sich als spezifische Folge des (vorsätzlichen) Fehlverhaltens eine vom Täter erkannte Schädigungsmöglichkeit realisiert. Wenn ein Todeserfolg nur als unbedachter Nebeneffekt gelegentlich eines vorsätzlichen Tötungsverhaltens fahrlässig herbeigeführt wird, genügt das lediglich für eine fahrlässige Tötung in Tateinheit mit einem strafbaren Tötungsversuch.5 Um ein entsprechendes Problem spezifischer – nämlich qualifizierter – Folgenverantwortlichkeit handelt es sich auch beim sog. „spezifischen Gefahrrealisierungszusammenhang“ als dem besonderen „Zurechnungszusammenhang“ der Körperverletzung mit Todesfolge nach § 227 I StGB. Insofern kann man sagen: Die Körperverletzung mit Todesfolge erfordert, dass sich im konkreten todeserfolgsverursachenden Geschehen gerade die vom Täter zu verantwortende spezifische Gefährlichkeit des vorsätzlichen Grunddelikts der Körperverletzung realisiert. Dabei ist freilich Folgendes zu beachten: Auch wenn von spezifischer Gefährlichkeit der vorsätzlichen Körperverletzung die Rede ist, kommt es für die Körperverletzung mit Todesfolge selbstverständlich nicht nur auf Körperverletzungsgefahren i. e. S. an. Vielmehr geht es entscheidend um die mit den Körperverletzungsgefahren einhergehende – damit verknüpfte – Lebensgefährlichkeit. Wie § 224 I Nr. 5 StGB zeigt, ist die Lebensgefährlichkeit eine auch für das Gewicht einer vorsätzlichen Körgesehener Weise eine bei bloßem Dableiben vermeidbare Herzattacke auslöst, die zum Tod des Kranken führt, ist trotz des aktiven Tuns – mangels Sonderverantwortlichkeit für die Herzattackengefahr – keine Tötung, sondern lediglich eine unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB. Als „verschuldete Auswirkung der Tat“ (vgl. § 46 II 2 StGB; allg. zu den entsprechenden Tatbestandsproblemen der Strafzumessung Frisch, GA 1972, 321 ff.) wird der Tod des Opfers aber durchaus in einem abgeschwächten Sinne „zugerechnet“. – Näher zu den Folgen der unterlassenen Hilfeleistung und ihrer strafzumessungsrechtlichen Relevanz Heil, Die Folgen der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323 c StGB, 2001. Zutreffend insoweit auch SK-StGB/Rudolphi/Stein, 110. Lfg. 2007, § 323c Rn. 32. Zur rechtspolitischen Forderung verstärkter Folgenberücksichtigung bei § 323c StGB s. MK-StGB/Freund, 2. Aufl. 2013, § 323c Rn. 130 f.; Freund/Timm, HRRS 2012, 223, 235 f. 3 Zu den für Tun und Unterlassen einheitlichen Kriterien der Tatbestandsverwirklichung näher Freund, FS Herzberg, 2008, S. 225 ff., 228 ff. 4 Im Verhältnis zur Grundform der Folgenverantwortlichkeit ist die Vorsatz-Folgenverantwortlichkeit eine speziellere (besondere) Steigerungsform. Eine „Minderform“ der Folgenverantwortlichkeit kann im Kontext der unterlassenen Hilfeleistung relevant werden; vgl. dazu bereits oben Fn. 2 a.E. 5 Näher zur Problematik spezieller „Vorsatzzurechnung“ Freund, FS Maiwald, 2010, S. 211 ff., 217 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Fn. 1), S. 569 ff.
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perverletzung bedeutsame – also i.d.S. körperverletzungsspezifische – Gefahrendimension.6 Ob der spezifische Gefahrrealisierungszusammenhang nach „traditioneller“ Unterscheidung dem sog. „objektiven“ oder dem sog. „subjektiven“ Tatbestand bzw. der sog. „objektiven“ oder der sog. „subjektiven Zurechnung“ zuzurechnen ist, wird kaum ausdrücklich reflektiert. Aus den vorgeschlagenen Prüfungsschemata lässt sich schließen, dass insofern zumindest intuitiv regelmäßig eine Zuordnung zum sog. „objektiven Tatbestand“ bzw. zur sog. „objektiven Zurechnung“ erfolgt.7 Indessen ist die überkommene Unterteilung des für eine Straftat relevanten „Stoffs“ in einen „objektiven“ und einen „subjektiven Tatbestand“ im Laufe der Zeit durch bestimmte Systemumbildungen objektiv unmöglich geworden. Inzwischen wird erfreulicherweise vermehrt erkannt, dass der noch immer sog. „objektive Tatbestand“ stets auch subjektive Anteile enthält. Entsprechendes gilt für die üblicherweise diesem „objektiven Tatbestand“ zugeordnete Kategorie der „objektiven Zurechnung“.8 Da die Relevanz subjektiver Kriterien für die „objektive Erfolgszurechnung“ in der Sache allgemein anerkannt ist, drängt sich die Frage auf: Welchen Sinn soll eine Unterscheidung noch haben, die nach den eigenen Systemvorgaben objektiv(!) gar nicht durchführbar ist? Selbst eine Körperbewegung, die andere beeinträchtigt – wie etwa die des Epileptikers beim Anfall –, macht nun einmal für sich genommen noch keinen Verhaltensnormverstoß aus. Wenn insofern überhaupt ein Akzent gesetzt werden kann, dann liegt dieser auf der rechtlich fehlerhaften Entscheidung der konkreten Person für ihr individuelles Verhalten.9
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Insoweit sachlich übereinstimmend etwa Engländer, GA 2008, 669, 675, 676 f. Vgl. etwa das Prüfungsschema bei Wessels/Hettinger, Strafrecht BT I, 36. Aufl. 2012, Rn. 308: Der „tatbestandsspezifische Gefahrzusammenhang“ wird nach der Zurechnung des Todeserfolgs nach „allgemeinen Zurechnungsregeln“ und noch vor der „objektiven“ Erkennbarkeit des Gefahrenzusammenhangs und der „objektiven“ Voraussehbarkeit der tödlichen Folgen innerhalb der sog. „objektiven Zurechnung“ geprüft. Für die „Schuldstufe“ bleibt danach nur noch die Prüfung subjektiv-individueller Erkennbarkeit des Gefahrenzusammenhangs und der tödlichen Folgen übrig. Von einem spezifischen „objektiven Gefahrzusammenhang“ geht z. B. auch Kahlo, FS Puppe, 2011, S. 581 ff. aus (s. freilich auch S. 583, 607 mit der bedauerlichen Ausklammerung des Leichtfertigkeitsproblems). – Eine Sonderstellung nehmen Konzepte ein, bei denen eine qualifizierte Form der Fahrlässigkeit – insbesondere Leichtfertigkeit – als Kriterium dient (vgl. etwa NK-StGB/Paeffgen, 3. Aufl. 2010, § 18 Rn. 44 ff.; Wolter, JuS 1981, 168, 177 f.). Zu den unverzichtbaren individuell-subjektiven Aspekten der Leichtfertigkeit zutreffend bereits Maiwald, GA 1974, 257, 265. 8 Zu den anerkannten subjektiven Anteilen des sog. „objektiven Tatbestands“ bzw. der „objektiven Zurechnung“ vgl. statt vieler Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB, 28. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 62, 92. – Zutreffend krit. zur geläufigen Einteilung und Begrifflichkeit etwa Puppe, FS Otto, 2007, S. 389, 402. 9 Näher zum Ganzen MK-StGB/Freund, 2. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn. 184 ff., 195 ff. 7
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2. Tatbestandsspezifischer Verhaltensnormverstoß als Grundkriterium jeder Straftat – Verhältnis zu Fehlverhaltensfolgen Entgegen verbreiteter Einschätzung gibt es überhaupt keine Probleme der „objektiven Zurechnung“ des Erfolgs, sondern es geht immer nur um ein und dieselbe Frage: Sind spezifische Fehlverhaltensfolgen eingetreten? Und die Weichen für die Beantwortung dieser Frage werden ausschließlich im Verhaltensnormbereich gestellt. Das hat der verehrte Jubilar Wolfgang Frisch in seinen beiden grundlegenden Werken zu Genüge herausgearbeitet.10 Für spezifische Fehlverhaltensfolgen kommt es allein darauf an, ob sich – bei gegebener Sonderverantwortlichkeit11 – ein schadensträchtiger Verlauf zugetragen hat, der durch richtiges Verhalten von Rechts wegen hätte vermieden werden (können und) sollen. Mit diesem klaren Kriterium für die Grundform der Folgenverantwortlichkeit erübrigen sich die hier üblicherweise behandelten Fragen.12 Hat man erst einmal geklärt, weshalb das Verhalten des Täters rechtlich zu missbilligen ist, also welche Schädigungsmöglichkeiten von Rechts wegen vermieden werden mussten, steht damit zugleich fest, wofür der Täter aufgrund seines Verhaltensnormverstoßes die Verantwortung trägt. Bei der notwendigen Konkretisierung der rechtlichen Verhaltensnorm muss zwangsläufig eine Beurteilung ex ante vorgenommen werden, und zwar unter konsequenter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Betroffenen. Das ist im Hinblick auf die Funktionsbedingungen von Verhaltensnormen schlechterdings nicht anders denkbar.13 Nur zu diesem Zeitpunkt ex ante, und zwar aus der Perspektive des Subjekts ist Verhaltensbeeinflussung möglich. Eine Verhaltensnorm kann im Interesse berechtigter Belange des Güterschutzes nur legitimiert werden, wenn ihr Adressat als konkretes Individuum im Verhaltenszeitpunkt ex ante nach seinen individuellen Verhältnissen die Schädigungsmöglichkeit zumindest erkennen und vermeiden kann. Überdies muss eine Güter- und Interessenabwägung ergeben, dass die entsprechende Verhaltensnorm auch ein angemessenes Mittel ist, um die Schädigungsmöglichkeit zu vermeiden. Erkennbarkeit, Vermeidbarkeit und rechtliches Vermeiden-Müssen sind hier die entscheidenden Stichworte. Schon zur Erfüllung dieser Grundvoraussetzung legitimierbarer Verhaltensnormen – der individuellen Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit – werden also die „ob10 s. dazu Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Fn. 1), S. 33 ff., 50 ff., 69 ff.; ferner bereits ders., Vorsatz und Risiko, 1983, S. 118 ff. 11 Fehlt eine besondere Verantwortlichkeit für den von Rechts wegen zu vermeidenden Verlauf, kommt immerhin noch eine Minderform der Folgenverantwortlichkeit in Betracht, die z. B. für die Strafzumessung bei unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) bedeutsam ist (vgl. oben Fn. 2). 12 Vgl. zur verwirrenden Vielfalt der diskutierten „Zusammenhänge“ bzw. Zurechnungsaspekte etwa Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 42. Aufl. 2012, Rn. 154 ff., 179 ff.; Beulke, Klausurenkurs II, 2. Aufl. 2010, Rn. 193. 13 Näher dazu MK-StGB/Freund (Fn. 9), Vor § 13 Rn. 179 ff. – Sachlich insoweit übereinstimmend etwa SK-StGB/Rudolphi/Stein (Fn. 2), § 323c Rn. 2b (das Erfordernis der ex ante-Perspektive folgt zwingend aus den Funktionsbedingungen von Verhaltensnormen).
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jektiven“ (äußeren) Umstände der Situation durch subjektive Elemente ergänzt und mit diesen bewertungstechnisch untrennbar verwoben. Beispielhaft: Für die rechtliche Bewertung des Verhaltens des allseits bekannten Neffen, der seinen nicht minder bekannten Erbonkel auf eine Flugreise schickt, macht es einen Unterschied, ob der Neffe zufällig weiß, dass in dem Flugzeug ein Attentäter eine Bombe installieren wird. Weiß er das, verbietet ihm das Recht, den Onkel in den Tod zu schicken. Kommt der Onkel deshalb ums Leben, wird dem Neffen dieser Tod als spezifische Fehlverhaltensfolge „zugerechnet“. Hat der Neffe dagegen von dem Attentatsvorhaben keine Kenntnis und musste er diese auch nicht haben, verstößt er gegen keine rechtlich legitimierbare Verhaltensnorm, die das Leben des Onkels schützen soll. Das gilt ungeachtet der in beiden Fällen gleichermaßen bestehenden „objektiven Gefährlichkeit“ der Flugreise.14 Wenn nun aber die sog. „objektive Zurechenbarkeit“ solche subjektiven Voraussetzungen hat, dann ist es irreführend, gleichwohl diese Bezeichnung zu wählen. Denn in der Sache geht es ganz einfach darum, ob dem Neffen spezifische Folgen eines bestimmten Fehlverhaltens anzulasten sind. Liegt schon kein entsprechendes personales Fehlverhalten vor, gibt es von vornherein nichts anzulasten – weder ein Fehlverhalten noch einen entsprechenden Erfolg. Musste der Betreffende dagegen ganz bestimmte Schädigungsmöglichkeiten von Rechts wegen vermeiden, steht zugleich automatisch fest, wofür der Täter aufgrund seines Verhaltensnormverstoßes ggf. die Verantwortung trägt: nämlich für eine von Rechts wegen zu vermeidende Schädigungsmöglichkeit, die sich in concreto realisiert. 3. Tatbestandsspezifische Fehlverhaltensfolgen als Sanktionserfordernis neben dem Verhaltensnormverstoß a) Berücksichtigung tatbestandsmäßiger Verhaltensfolgen – „Erfolgsunrecht“ und Strafrecht Auf der Basis des geltenden geschriebenen Strafrechts sind tatbestandsmäßige Verhaltensfolgen in vielfältiger Weise für das Ob und Wie der Bestrafung neben dem tatbestandsmäßigen Fehlverhalten von Bedeutung. Indessen hängt es stets auch vom Zufall ab, ob ein Verhaltensnormverstoß Folgen hat oder nicht. Als Beispiel kann ein Fehlverhalten im Straßenverkehr dienen, das den Tod eines anderen Verkehrsteilnehmers zur Folge hat oder aber zufällig folgenlos bleibt. Nur im erstgenannten Fall greift die Strafvorschrift für die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) ein. Der Gedanke des „Glück-Pech-Strafrechts“ liegt hier nicht fern.15 Indessen gilt: Für das Recht kann der unterschiedliche Niederschlag des Normverstoßes in der Außenwelt nicht unberücksichtigt bleiben. Ein Geschehen, das durch richtiges 14 Vgl. zu den Erbonkel-Fällen etwa Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 13 ff. mwN. 15 Zur vielfach gerügten Zufallskomponente bei den Erfolgsdelikten vgl. die Nachw. bei Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert – Gesammelte Aufsätze und Vorträge, 1982, S. 133, 134 ff.; s. auch Schaffstein, FS Welzel, 1974, S. 557, 559 ff.
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Verhalten hätte vermieden werden können und sollen, ist seinerseits immerhin Ausdruck des Normverstoßes und gibt einen zum entsprechenden Tadel berechtigenden (Straf-)Grund ab.16 b) Bedeutung der Kausalität, der Quasi-Kausalität und der „objektiven Zurechnung“ für tatbestandsmäßige Verhaltensfolgen Derzeit findet man die für tatbestandsmäßige Verhaltensfolgen bedeutsamen Gesichtspunkte meist noch unter den Stichworten der Kausalität, der Quasi-Kausalität und der „objektiven Zurechnung“.17 Indessen ist das Kausalitätskriterium für eine angemessene Begrenzung der Strafbarkeit viel zu weit gefasst. Die Lehre von der „objektiven Erfolgszurechnung“ versteht sich daher als normatives Korrektiv gegenüber der als uferlos empfundenen „Kausalhaftung“. Ihre weithin akzeptierte Kernaussage lautet: „Objektiv zurechenbar ist ein durch menschliches Verhalten verursachter Erfolg nur dann, wenn dieses Verhalten eine rechtlich missbilligte Gefahr des Erfolgseintritts geschaffen und diese Gefahr sich auch tatsächlich in dem konkreten erfolgsverursachenden Geschehen realisiert hat.“18 Die Zurechnungslehre setzt jedoch straftatsystematisch zu spät an. Denn eine sachgerechte Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist auch dann nötig, wenn ein zuzurechnender Erfolg fehlt und deshalb von vornherein nur die Frage einer Versuchsbestrafung ansteht. Auch im Übrigen ist es ein eigenständiges und der Zurechnungsfrage vorgelagertes Problem des tatbestandsmäßigen Verhaltens, ob ein rechtlich zu missbilligendes Fehlverhalten im Sinne eines bestimmten Strafgesetzes vorliegt. Denn nur, aber auch immer dann, wenn das der Fall ist, muss beim Eintritt spezifischer Fehlverhaltensfolgen mit einer entsprechenden Bestrafung gerechnet werden.19 Ob ein Verhalten gegen eine tatbestandsspezifische Verhaltensnorm verstößt, muss geklärt werden, bevor etwas „passiert“. Darauf hat nicht nur derjenige ein Recht, der sich rechtlich richtig verhalten und somit gerade nicht strafbar machen möchte. Auch der von dem Verhalten potentiell Betroffene hat einen Anspruch dar16 Von einer „Zufallshaftung“ kann also keine Rede sein; sachlich übereinstimmend insoweit etwa LK-StGB/Walter, 12. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 18 a.E.; näher dazu Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 96 ff. 17 Vgl. statt vieler Wessels/Beulke, AT (Fn. 12), Rn. 152 ff. 18 Zu dieser Zurechnungsformel s. die Nachw. oben Fn. 1. – In diesem Zusammenhang hat der (problematische) Begriff des „Objektiven“ die Funktion zu zeigen, dass es obendrein besondere Erfordernisse der „subjektiven Zurechnung“ (vor allem zum Vorsatz) geben kann. Indessen ist zu beachten, dass auch die sog. „objektive Zurechnung“ mit subjektiven Elementen durchsetzt ist. Zur deshalb verfehlten Dichotomie s. MK-StGB/Freund (Fn. 9), Vor § 13 Rn. 25, 184 ff. 19 Dass die Probleme der missbilligten Gefahrschaffung als solche des tatbestandsmäßigen Verhaltens der Erfolgszurechnung vorgelagert sind, betont mit Recht Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Fn. 1), S. 33 ff., 428 f., 526 et passim; ders., FS Roxin, 2001, S. 213, 234 ff.; ders., JuS 2011, 205, 210 f.; s. auch Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 333 ff., 353 ff.
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auf, dass nicht gewartet wird, bis ihm etwas zugestoßen ist. Vielmehr darf auch er eine rechtzeitige Klärung der Verhaltensnormfrage erwarten. Das Strafrecht als sekundäre Normenordnung kommt für ihn als Straftatopfer zu spät. Nur die bereits richtig zugeschnittene Verhaltensnorm kann insoweit angemessenen Opferschutz gewährleisten. Im strafrechtlichen Kontext gilt: Bevor spezifische Folgen eines tatbestandsmäßigen Fehlverhaltens festgestellt werden können, muss logisch vorrangig geklärt worden sein, dass tatsächlich ein tatbestandsspezifisches Fehlverhalten gegeben ist. Deshalb ist es verfehlt, bereits vor der Prüfung und Bejahung eines tatbestandsmäßigen Fehlverhaltens einen tatbestandsmäßigen Erfolg festzustellen.20 Beispielhaft: Der Tod eines Menschen ist für sich allein nicht der tatbestandsmäßige Erfolg eines Tötungsdelikts. § 212 I StGB setzt schon nach seinem klaren Wortlaut einen getöteten Menschen als tatbestandsmäßigen Erfolg voraus. Und für die anderen Tötungsdelikte gilt Entsprechendes. Zuallererst muss das Fehlverhalten näher bestimmt werden, bevor man überlegt, welche weiteren Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit man von spezifischen Folgen solchen Fehlverhaltens sprechen kann. Wer anders verfährt, zäumt das Pferd von hinten auf. Konkretisiert wird das tatbestandsspezifische Fehlverhalten durch die Legitimationsgründe der übertretenen Verhaltensnorm.21 Es geht dabei also gerade nicht um ein Problem der Erfolgszurechnung! Mit dieser Einsicht stößt freilich die bislang übliche Fallprüfungstechnik auf ein Problem: Traditionell wird bei der Vorsatztat bekanntlich unterteilt in einen „objektiven“ und in einen „subjektiven Tatbestand“. Diese irreführende Kennzeichnung darf nicht länger beibehalten werden, will man sich nicht in innere Widersprüche verstricken. Die Lösung des Problems ist im Grunde ganz einfach: Der vermeintliche „objektive Tatbestand“ beinhaltet bei der vollendeten Tat das tatbestandsmäßige Verhalten und den entsprechenden Erfolgssachverhalt. Er umfasst dementsprechend jedenfalls auch Subjektives.22 Das Vorsatzerfordernis fungiert auf dieser Basis dann als spezielles subjektives Merkmal. Die hier verwendete Terminologie des tatbestandsmäßigen Verhaltens und des Erfolgssachverhalts ist der gängigen Redeweise vom „objektiven“ Tatbestand vorzuziehen. Denn auch die Lehre vom „objektiven“ Tatbestand kommt – wie gesagt – nicht umhin, für die Klärung der Zurechnungsfrage „subjektive“ Umstände einzube20 Zur Feststellung eines „tatbestandlichen Erfolges“ vor der Prüfung eines tatbestandsmäßigen Verhaltens vgl. statt vieler Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht AT, 5. Aufl. 2011, Rn. 59 (für die Vorsatztat), Rn. 374 (für die Fahrlässigkeitstat); Otto, Übungen im Strafrecht, 6. Aufl. 2005, S. 109 bzw. 111 f. (Anfängerklausur Nr. 6), wo zunächst ohne Problematisierung mit dem eingetretenen Tod eines Menschen „der Erfolg“ i.S. der fahrlässigen Tötung festgestellt, dann aber zutreffend ein gerade darauf bezogenes Fehlverhalten (bzw. jedenfalls die Realisierung einer geschaffenen missbilligten Lebensgefahr) verneint wird. 21 Näher dazu MK-StGB/Freund (Fn. 9), Vor § 13 Rn. 152 ff. 22 Aufschlussreich ist insofern bereits der Titel des Aufsatzes von Arzt, GS Schlüchter, 2002, S. 163: „Über die subjektive Seite der objektiven Zurechnung“; zur mangelnden „Objektivität“ der „objektiven Zurechnung“ vgl. auch Puppe, FS Otto, 2007, S. 389, 402.
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ziehen. Das sei anhand zweier von Struensee diskutierter Beispiele weiter verdeutlicht:23 In dem einen Fall hält sich ein Radfahrer bei Rotlicht am Ampelmast fest, um nicht absteigen zu müssen, und verursacht dadurch einen Verkehrsunfall, weil der unten durchrostende Mast abbricht und auf die Kreuzung fällt. Der Radfahrer handelt nicht fahrlässig (nicht „sorgfaltswidrig“), wenn und weil ihm der Zustand des Masts nicht bekannt ist (und auch nicht bekannt sein muss). Hätte er zufällig die bedrohliche Roststelle gesehen, änderte sich die rechtliche Bewertung seines Verhaltens, obwohl die Roststelle objektiv dieselbe ist.24 Ein treffendes weiteres Beispiel von Struensee bietet die Krankenschwester, die gutgläubig die vom Arzt präparierte tödliche Injektion verabreicht, ohne dadurch den Tatbestand der fahrlässigen Tötung zu erfüllen. Nur der Arzt, nicht aber die Krankenschwester verstößt gegen das Tötungsverbot. Spezifische Fehlverhaltensfolge ist daher der Tod des Patienten ebenfalls nur im Verhältnis zum Arzt und nicht im Verhältnis zur Krankenschwester. c) Das Spezifikum der vollendeten Vorsatztat (spezielle Vorsatzzurechnung) Vorsätzliches Handeln oder Unterlassen setzt die Kenntnis der mit diesem Verhalten in der Lebenswirklichkeit konkret verbundenen Schädigungsmöglichkeit(en) voraus. Dementsprechend liegt eine vollendete Vorsatztat nur vor, wenn sich eine solche erkannte Schädigungsmöglichkeit realisiert. Diese erfordert als Spezifikum, dass sich im Erfolgssachverhalt die spezifische Gefährlichkeit des vorsätzlich-tatbestandsmäßigen Verhaltens niederschlägt.25 Die bloße „Gleichwertigkeit“ einer nicht erkannten Möglichkeit des späteren Verlaufs reicht im Falle der abweichenden Vorstellung von der Wirklichkeit nicht aus. Vielmehr muss der tatsächliche Verlauf in seiner für die Verhaltensnormlegitimation benötigten Dimension in dem als möglich erkannten Verlauf enthalten sein. Die bloße Erkennbarkeit und das Vermeiden-Müssen einer gleichwertigen Schädigungsmöglichkeit reichen nur für einen entsprechenden Fahrlässigkeitsvorwurf, aber nicht für eine vollendete Vorsatztat.26
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Struensee, JZ 1987, 53, 59; vgl. dazu etwa auch Scheinfeld, GA 2007, 721, 722. Näher zur Subjektabhängigkeit rechtlicher Verhaltensbewertung und der Problematik „äußerlich verkehrsgerechten“ Verhaltens als Straftat Freund, JuS 2000, 754 ff.; Murmann, FS Herzberg, 2008, S. 123, 129 ff. 25 s. zu diesem Kriterium Freund, AT (Fn. 14), § 7 Rn. 146a; ders., FS Maiwald, 2010, S. 211 ff., 223. 26 Zur Grundlegung und Konkretisierung näher Freund, FS Maiwald, 2010, S. 211 ff., 223 ff.; s. auch ders., AT (Fn. 14), § 9 Rn. 109 ff., 115 ff. mwN. 24
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II. Der „spezifische Gefahrrealisierungszusammenhang“ bei der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) 1. Die Grundform der Folgenverantwortlichkeit als Mindestvoraussetzung der qualifizierten Verantwortlichkeit Die regelmäßig intuitiv vorgenommene Zuordnung des „spezifischen Gefahrrealisierungszusammenhangs“ bei § 227 StGB zum sog. „objektiven Tatbestand“ bzw. zur sog. „objektiven Zurechnung“ ist nach dem Gesagten verfehlt. Bereits die Grundform der Folgenverantwortlichkeit ist ohne Rekurs auf subjektive Elemente nicht angemessen zu erfassen. Obwohl der Wortlaut des § 227 StGB nur von einer (durchaus rein objektiv verstehbaren) Verursachung des Todes durch die Körperverletzung spricht, bedarf es – wie § 18 StGB lediglich klarstellend vorsieht – zumindest einer Fahrlässigkeitsverantwortlichkeit des Handelnden oder Unterlassenden. Nur wenn der zum Tod führende Kausalverlauf für den Betreffenden ein erkennbarer, ein vermeidbarer und ein von Rechts wegen bei gegebener Sonderverantwortlichkeit zu vermeidender Verlauf war, kommt eine Strafbarkeit nach § 227 StGB in Betracht. Man kann sagen: Für die Körperverletzung mit Todesfolge müssen mindestens die Voraussetzungen des § 222 StGB erfüllt sein. 2. Stellenwert und verfassungsrechtlicher Hintergrund der restriktiv (qualifiziert) zu verstehenden Folgenverantwortlichkeit bei § 227 StGB Anerkanntermaßen genügt die Grundform der Folgenverantwortlichkeit (Zurechenbarkeit) des Todeserfolgs jedoch noch nicht für die Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 227 StGB. Mit der Grundform der Verantwortlichkeit für den Tod des Opfers der vorsätzlichen Körperverletzung lässt sich lediglich eine zusätzliche Verurteilung wegen einer tateinheitlich begangenen fahrlässigen Tötung begründen (§§ 223 ff., 222; 52 StGB). Damit die im Verhältnis zur sonst eingreifenden Tateinheitslösung deutlich strengere Bestrafung nach § 227 StGB mit einer Mindeststrafe von drei Jahren legitimiert werden kann, muss es dafür einen sachlichen Grund geben. Ein solcher kann jedoch weder darin gefunden werden, dass der Betreffende eine vorsätzliche Körperverletzung begangen hat, noch darin, dass das Körperverletzungsverhalten zugleich die Verantwortlichkeit für den Tod des Opfers begründet. Es bleibt dabei: Eine fahrlässige Tötung, die gelegentlich einer vorsätzlichen Körperverletzung begangen wird, genügt nicht für die strengen Rechtsfolgen des § 227 StGB.27 Keine angemessene Lösung des angesprochenen Legitimationsproblems bietet die in § 227 II StGB vorgesehene Möglichkeit, einen „minder schweren Fall“ anzunehmen. Immerhin gilt es auch dann noch, das im Verhältnis zur Tateinheitslösung 27 Zur Legitimationsbedürftigkeit des „Sanktionssprungs“ bei § 227 StGB s. statt vieler LK-StGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 18 Rn. 26.
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erhöhte Mindestmaß von einem Jahr Freiheitsstrafe zu rechtfertigen.28 Ein entsprechend erhöhter Unwertgehalt wird aber bei einer vergleichsweise harmlosen vorsätzlichen Körperverletzung, die mit einer minimal-fahrlässigen Körperverletzung einhergeht, gerade nicht erreicht.29 Die Regelung des § 227 II StGB für minder schwere Fälle der Körperverletzung mit Todesfolge setzt gerade voraus, dass deren Spezifikum erfüllt ist. Erst auf dieser Basis kann geklärt werden, ob dennoch eine besondere Strafrahmenmilderung angezeigt ist – etwa weil der Täter (wie in Fällen des § 213 StGB) ohne eigene Schuld durch eine schwere Kränkung zum Zorne gereizt und auf der Stelle zur Tat hingerissen wurde. Traditionell wird versucht, den die strengere Bestrafung rechtfertigenden Grund mittels eines „spezifischen Gefahrrealisierungszusammenhangs“ zwischen dem vorsätzlichen Grunddelikt der Körperverletzung und der Todesfolge zu erfassen.30 Es ist hier nicht der Ort, auf die leidigen Streitigkeiten näher einzugehen, die bei den Versuchen einer Konkretisierung dieses Erfordernisses entstanden sind. Nur so viel: Als nicht weiterführend erkannt hat man inzwischen den Versuch, den gemeinten Zusammenhang als „Unmittelbarkeitszusammenhang“ zu kennzeichnen.31 Nach wie vor umstritten ist allerdings die Relevanz der (bloßen) „Handlungs-“ bzw. „Verhaltensgefährlichkeit“ im Verhältnis zur Durchgangskausalität des vorsätzlich zugefügten – vielleicht sogar letalen32 – Körperverletzungserfolgs.33 Damit in Zusammenhang
28 Nicht überzeugend insofern Steinberg, NStZ 2010, 72, 77, der meint, der Einzelfallgerechtigkeit sei bereits mit § 227 II Genüge getan. – Zur zutreffenden Gegenposition s. etwa NK-StGB/Paeffgen (Fn. 7), § 18 Rn. 42. 29 Paeffgen, JZ 1989, 220, 222 Fn. 23 berichtet von dem insofern bemerkenswerten Fall einer Frau, die ihren Freund, einen Boxer, mit einer Ohrfeige getötet hat. 30 Vgl. dazu statt vieler etwa Altenhain, GA 1996, 19 ff.; Engländer, GA 2008, 669 ff.; Steinberg, NStZ 2010, 72; ferner Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 8), StGB, § 227 Rn. 3 ff. mwN. 31 Zumindest die Rechtsprechung hat sich mittlerweile deutlich vom Kriterium der „Unmittelbarkeit“ distanziert; vgl. etwa BGH NStZ 2008, 278; BGHSt 48, 34, 38 f.; s. dazu auch Engländer, GA 2008, 669, 679 ff.; Kahlo, FS Puppe, 2011, S. 581, 609; Lohmeyer, Fahrlässige Tötungen als Straftat und das Erfordernis des spezifischen Gefahrrealisierungszusammenhangs bei den todeserfolgsqualifizierten Delikten – Überlegungen de lege lata und de lege ferenda, 2011, S. 170. Dennoch geistert der überholte Begriff noch immer durch das Schrifttum; vgl. etwa Wessels/Hettinger, BT I (Fn. 7), Rn. 297 f. Wenn mitwirkendes Opferverhalten oder entsprechendes Verhalten Dritter unter bestimmten Voraussetzungen einer Verantwortlichkeit i.S. des § 227 StGB nicht entgegensteht (vgl. dazu Wessels/Hettinger, BT I, Rn. 300 ff.), sollte besser nicht von Unmittelbarkeit gesprochen werden. – Zum „Abschied vom Unmittelbarkeitskriterium“ vgl. auch Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen, 1986, S. 319 und passim (dessen Schutzzwecküberlegungen [vgl. S. 148 f.] können allerdings das sachliche Problem der Legitimation der Strengerbestrafung im Verhältnis zur „Tateinheitslösung“ nicht bewältigen). 32 Hirsch, JR 1983, 78, 79 f.; ders., FS Oehler, 1985, S. 111, 129 ff.; Küpper, Der „unmittelbare“ Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, 1982, S. 80 ff., 85 ff.; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 8), StGB, § 227 Rn. 5 mwN.
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steht etwa die heikle Frage der Anerkennung der Möglichkeit eines erfolgsqualifizierten bloßen Versuchs des Grunddelikts34 – auf der mitunter das Folgeproblem des anzuerkennenden Rücktritts von diesem Versuch lastet35. Auf diese Streitigkeiten ist im Rahmen dieser Abhandlung schon deshalb nicht näher einzugehen, weil bei aller Berechtigung der Überlegungen zum richtigen Umgang mit der einfachgesetzlichen Regelung des § 227 StGB ein Aspekt keinesfalls übergangen werden darf: Die im Verhältnis zur Tateinheitslösung strengere Bestrafung nach § 227 StGB lässt sich nämlich allenfalls dann rechtfertigen, wenn mit Blick auf die Herbeiführung des Todes, zu der es tatsächlich gekommen ist, gesteigertes Verhaltensunrecht vorliegt. Die Möglichkeit der Todesherbeiführung, die sich letztlich realisiert hat, muss für den Täter im verhaltensrelevanten Zeitpunkt so nahe gelegen haben, dass die gewichtigeren Rechtsfolgen legitimierbar sind. Das impliziert, dass er zwar nicht mit Tötungsvorsatz, aber doch mit einer inneren Beziehung handeln muss, die zumindest nahe an den Tötungsvorsatz heranreicht.36 Man kann auch ganz einfach sagen: Die hervorgehoben strenge Bestrafung nach § 227 StGB erfordert, dass der Tod (besonders) leichtfertig herbeigeführt worden ist. Jedenfalls bedarf es einer qualifizierten Form der Fahrlässigkeit.37 33
Die Anhänger der Verhaltensgefährlichkeitslösung, zu denen auch die Rechtsprechung zählt (vgl. nur BGHSt 48, 34, 37 f. mwN), haben mit § 227 StGB ein Wortlautproblem (Tod der verletzten Person), das der Gesetzgeber des 6. StrRG trotz entsprechenden Hinweises (s. Freund, ZStW 109 (1997), 455, 473) leider ignoriert hat. Die Rechtsprechung kontert mit dem gesetzgeberischen Verweis in § 227 I StGB auf „§§ 223 bis 226“, der auch die Versuchsbestimmungen enthält (BGHSt 48, 34, 38). 34 Eingehend dazu Hardtung, Versuch und Rücktritt bei den Teilvorsatzdelikten des § 11 Abs. 2 StGB, 2002; Kostuch, Versuch und Rücktritt beim erfolgsqualifizierten Delikt, 2004. – Da sich die Rechtsprechung schon seit langem an der Verhaltensgefährlichkeit orientiert, erkennt sie auch die Möglichkeit eines erfolgsqualifizierten Versuchs des Grunddelikts an; vgl. nur den sog. Gubener Verfolgungsjagdfall BGHSt 48, 34 ff. 35 Näher zu dieser umstrittenen Problematik etwa Hardtung, Versuch und Rücktritt (Fn. 34), S. 24 f., 255 ff.; Kostuch, Versuch und Rücktritt beim erfolgsqualifizierten Delikt, 2004, S. 83 ff., 232 ff., jew. mwN. 36 Zu diesem Gesichtspunkt der Tötungsvorsatznähe s. etwa SK-StGB/Horn/Wolters, 57. Lfg. 2003, § 227 Rn. 2, 9, 11; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 7), § 227 Rn. 2; Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte (Fn. 31), S. 132 ff., 291 f.; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 8), StGB, § 227 Rn. 5; vgl. auch Radtke, FS Jung, 2007, S. 737, 749 f. (der allerdings die Tatbestandseinschränkung mittels des entsprechend konkretisierten Leichtfertigkeitskriteriums wohl nur bei Tatbeständen vornehmen möchte, die eine Mindeststrafandrohung von zehn Jahren aufweisen [vgl. S. 738 f., 750]). 37 Sachlich übereinstimmend etwa Paeffgen, JZ 1989, 220, 224, 225; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 7), § 18 Rn. 44 ff.; Wolter, JuS 1981, 168, 177 f.; ders., GA 1984, 443, 448; Stuckenberg, FS Jakobs, 2007, S. 693, 703 sieht das Leichtfertigkeitskriterium als strafrahmensystematisch und dogmenhistorisch gestützt an; zur Erfolgsqualifikation nach § 227 StGB als speziellem Fall einer qualifizierten Fahrlässigkeitstötung s. auch Lohmeyer, Fahrlässige Tötungen (Fn. 31), S. 139 ff.; zutreffend i.d.S. bereits Frisch, GA 1972, 321, 332 f., der erfolgsqualifizierte Delikte als „qualifizierte Fahrlässigkeitstaten“ bezeichnet. Für Leichtfertigkeit immerhin als Erfordernis de lege ferenda LK-StGB/Hirsch, 11. Aufl. 2005, § 227 Rn. 8 Fn. 26. – Zu den Konkretisierungsproblemen der Leichtfertigkeit näher etwa Maiwald, GA 1974,
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Man wende dagegen nicht ein, § 227 StGB lasse im Gegensatz zu anderen todeserfolgsqualifizierten Delikten (z. B. nach § 251 StGB) die einfache Fahrlässigkeit genügen.38 Da ein verfassungskonformer Umgang mit § 227 StGB es nun einmal gebietet, muss zwingend eine entsprechende Tatbestandsrestriktion „eingebaut“ werden.39 Das gilt auch dann noch, wenn der Gesetzgeber das Problem in einem anderen Kontext schon selbst erkannt und angemessen gelöst hat. Es wäre eine unhaltbare Unterstellung, mit dem schlichten Hinweis auf eine angebliche Systematik davon auszugehen, er habe sich bewusst für eine sachwidrige Differenzierung entschieden und bei § 227 StGB die lediglich einfach-fahrlässige Tötung genügen lassen, sofern diese mit einer vorsätzlichen Körperverletzung einhergeht (§ 52 StGB). Hardtung sieht das freilich anders.40 Er beruft sich auf die Bindung des Richters nach Art. 20 III, 97 I GG, die nur über eine Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 GG beseitigt werden könne. Dabei übersieht er Folgendes: § 18 StGB sagt keineswegs ausdrücklich, dass für die Körperverletzung mit Todesfolge einfache Fahrlässigkeit genügt, sondern diese Regelung verlangt „mindestens“ Fahrlässigkeit, gestattet also gerade, mehr vorauszusetzen. Soweit Hardtung darauf Bezug nimmt, dass in manchen Fällen erfolgsqualifizierter Delikte ausdrücklich Leichtfertigkeit verlangt wird, und daraus schließen möchte, der Gesetzgeber habe bei § 227 StGB ausdrücklich einfache Fahrlässigkeit genügen lassen wollen, gibt das der Wortlaut des § 227 StGB nicht her. Und die Relevanz des systematischen Aspekts hängt von der Existenz einer entsprechenden Systematik ab. Insofern lässt sich aber allenfalls sagen, dass sich der Gesetzgeber bei der ausdrücklichen Normierung des Leichtfertigkeitserfordernisses in bestimmten Tatbeständen nicht dazu entschließen konnte, ein solches Erfordernis auch bei der Körperverletzung mit Todesfolge ausdrücklich 257 ff.; Radtke, FS Jung, 2007, S. 737, 741 ff.; vgl. auch MK-StGB/Duttge (Fn. 9), § 15 Rn. 188 ff. 38 So aber die Argumentation etwa von MK-StGB/Hardtung (Fn. 9), § 18 Rn. 17; vgl. auch Engländer, GA 2008, 669, 684; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 115 Fn. 161; SK-StGB/Rudolphi/Stein, 126. Lfg. 2011, § 18 Rn. 10, 18; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 8), StGB, § 18 Rn. 4; LK-StGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 18 Rn. 52, 59, jew. mwN. – Auf der Basis einer so nicht existenten gesetzlichen Systematik und bereits aufeinander abgestimmter Strafrahmen gegen das Leichtfertigkeitskriterium auch Altenhain, GA 1996, 19, 27 f. Tatsächlich spricht nichts dagegen, sondern alles dafür, die Körperverletzung mit Todesfolge als punktuell erfassten Fall der leichtfertigen Tötung anzusehen; existiert kein entsprechender spezieller Tatbestand, muss de lege lata auf den schon im Schuldspruch deutlich zu milden § 222 StGB zurückgegriffen werden; zu dem sich daraus ergebenden Reformbedarf de lege ferenda s. noch unten III. 39 Auf das Gebot des verfassungskonformen Umgangs mit § 227 StGB weist mit Recht etwa NK-StGB/Paeffgen (Fn. 7), § 18 Rn. 45 hin. – Zur verfassungsrechtlichen Problematik der Körperverletzung mit Todesfolge im Hinblick auf die Strafrahmengestaltung de lege lata s. auch Lorenzen, Zur Rechtsnatur und verfassungsrechtlichen Problematik der erfolgsqualifizierten Delikte, 1981, S. 156 f. (dessen Annahme der Verfassungswidrigkeit allerdings nicht zwingend ist; vielmehr kann auch schon de lege lata ein restriktiver Umgang mit der Regelung verfassungskonforme Abhilfe schaffen). 40 MK-StGB/Hardtung (Fn. 9), § 18 Rn. 17; vgl. auch die weiteren oben in Fn. 38 genannten Autoren.
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in das Gesetz aufzunehmen.41 Dafür, dass er eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeordnet hat, obwohl der hierfür zu fordernde Unwertgehalt nicht erreicht wird, fehlt im Gesetz jeglicher Beleg. Verbindliches besagt nur die ausdrückliche Nennung der Leichtfertigkeit in einzelnen Tatbeständen. Dahinter dürfen die Gerichte unter keinen Umständen zurückbleiben. Dagegen ist das entsprechende Schweigen des Gesetzgebers bei § 227 StGB gerade kein beredtes. Es darf nicht i.S. einer ausdrücklichen Absage des Gesetzgebers überinterpretiert werden.42 Ganz im Gegenteil spricht die angemessene Berücksichtigung der gesetzlichen Systematik sogar dafür, dass – bei Beachtung des Gesamtkontexts – (auch) bei § 227 StGB eine qualifizierte Form der Fahrlässigkeit zwingend erforderlich ist. Vermeidet man die Blickverengung auf § 227 und andere todeserfolgsqualifizierte Delikte und beachtet, welche Aspekte nach der klaren Gesetzeslage für die strafrechtliche Reaktion weichenstellende Bedeutung haben, ergibt sich Folgendes: Allein das Gewicht des Fehlverhaltens und das Vorhandensein oder Fehlen spezifischer Fehlverhaltensfolgen sind geeignete Ansatzpunkte für gravierende Änderungen in den Rechtsfolgen der Straftat. Dementsprechend „will“ der Gesetzgeber, dass auf vorsätzliches Fehlverhalten eher und dann auch härter reagiert wird als auf fahrlässiges. Um das zu erkennen, muss man nur exemplarisch die fahrlässige Tötung mit dem versuchten und dem vollendeten Totschlag vergleichen. In dieses gesetzliche (!) System der abgestuften angemessen missbilligenden Reaktionen fügt sich nur eine Sicht der Körperverletzung mit Todesfolge ein, die mit einem dem Tötungsvorsatz nahe41 Mehr gibt auch die Diskussion des Problems im Gesetzgebungsverfahren, auf die z. B. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 8), StGB, § 18 Rn. 4 Bezug nimmt (z. B. auf BTDrucks. 13/8587, S. 61, 78 ff.), nicht her (vgl. zum Einfluss des Sechsten Strafrechtsreformgesetzes auf die Dogmatik erfolgsqualifizierter Delikte Bussmann, GA 1999, 21 ff.). Zur Überlegung, die besondere Strafrahmenverschiebung bei den erfolgsqualifizierten Delikten generell gesetzlich ausdrücklich an die Leichtfertigkeit zu binden, vgl. Freund, ZStW 109 (1997), 455, 472. – Übrigens konnte sich der Gesetzgeber auch nicht dazu entschließen, das Letalitätskriterium zu positivieren. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, ein solches auch de lege lata zu verlangen, sofern das nötig ist, um eine angemessene Bestrafung zu gewährleisten. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Der Sache nach ist die Letalität als Kriterium mit dem der Leichtfertigkeit funktional äquivalent. Man versuche sich einen zum Tode führenden vorsätzlich zugefügten letalen Körperverletzungserfolg vorzustellen, ohne dass dem Täter zugleich Leichtfertigkeit hinsichtlich der Todesherbeiführung zur Last fällt! Insofern ist eine funktionale Äquivalenz des Letalitätskriteriums festzustellen. Vor diesem Hintergrund mutet die Annahme der angeblichen Gesetzwidrigkeit des Leichtfertigkeitskriteriums durch Anhänger des als gesetzeskonform angesehenen Letalitätskriteriums etwas merkwürdig an (vgl. aber z. B. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 8), StGB, § 18 Rn. 4 einerseits und Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 8), StGB, § 227 Rn. 5 andererseits). 42 Dementsprechend verstößt es selbstverständlich nicht gegen die Bindung des Richters nach Art. 20 III, 97 I GG, wenn aus sachlichen Gründen ungeschriebene Tatbestandsmerkmale postuliert werden. Mit Recht postuliert der BGH z. B. bei der Amtsanmaßung in der Verwirklichungsform der Vornahme einer Handlung, welche nur kraft eines öffentlichen Amtes vorgenommen werden darf (§ 132 Fall 2 StGB), unter Berufung auf die Ratio der Norm das ungeschriebene Tatbestandserfordernis der Erweckung des Anscheins einer Amtshandlung (BGHSt 40, 8, 12 ff.). Er verstößt dadurch nicht etwa gegen eine „gesetzliche Bindung“, sondern orientiert sich gerade an seiner Bindung an Gesetz und Recht.
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kommenden Leichtfertigkeitskriterium als ungeschriebenem Tatbestandsmerkmal „arbeitet“. Eine umfassende Berücksichtigung der gesetzlichen Systematik führt daher zu dem auch in der Sache richtigen Ergebnis: Das Leichtfertigkeitserfordernis ist auch und gerade vom Gesetzgeber „gewollt“. Nach dem Gesagten ist § 223 I StGB als Grunddelikt für § 227 StGB praktisch so gut wie obsolet, und zwar obwohl dieser Tatbestand als mögliches Grunddelikt in § 227 StGB sogar expressis verbis auftaucht. Auch in dieser Hinsicht ist nochmals vor voreiligen Unterstellungen gegenüber dem Gesetzgeber zu warnen.43 Es wäre erneut eine Überinterpretation dessen, was tatsächlich Gesetz geworden ist, dem Gesetzgeber die Anordnung einer übermäßig strengen Bestrafung zu unterstellen. Bei Zugrundelegung einer angemessenen Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung44 gibt der Gesetzgeber mit der Nennung des § 223 StGB in § 227 StGB den Strafgerichten lediglich die Möglichkeit, nach § 227 StGB zu verurteilen, sofern das in der Sache im konkreten Einzelfall legitimiert werden kann. Ist das aber der Fall, dann muss der Täter freilich auch gemäß § 227 StGB bestraft werden. Dass die Strafgerichte ihrer Aufgabe, den Einzelfall richtig zu entscheiden, verantwortungsvoll gerecht werden, bewirkt ihre Bindung gemäß Art. 20 III GG an Gesetz und Recht. Da der Gesetzgeber kaum alle relevanten Einzelfälle zu überblicken vermag, für die das Gesetz eine abstrakt-generelle Regelung bereitzustellen hat, ergibt es auch durchaus einen guten Sinn, vorsichtshalber § 223 StGB mit aufzuzählen, um nicht der Rechtsprechung versehentlich Möglichkeiten sachgerechter Ahndung abzuschneiden. 3. Missachtung der Kriterien qualifizierter Folgenverantwortlichkeit bei § 227 StGB durch die Rechtsprechung Die Rechtsprechung missachtet bei § 227 StGB die Kriterien qualifizierter Folgenverantwortlichkeit schon seit langem immer wieder und in der jüngsten Vergangenheit zunehmend. Zwar wird ständig beteuert, bei der Körperverletzung mit Todesfolge sei ein spezifischer Gefahrrealisierungszusammenhang erforderlich. Tatsächlich hat sich die Rechtsprechung davon aber völlig verabschiedet und lässt nunmehr jede mit einem vorsätzlichen Körperverletzungsverhalten verbundene einfachfahrlässige Tötung genügen.45 Ein mehr als deutlicher Beleg dafür ist die zum Klas-
43 Voreilig in dieser Hinsicht aber etwa Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 8), StGB, § 18 Rn. 4. 44 Vgl. dazu auch Freund, ZStW 112 (2000), 665, 675 ff. 45 Aufgrund einer Auswertung der wichtigsten Urteile des BGH zu § 227 StGB im Zeitraum zwischen November 2007 und Oktober 2008 gelangt Steinberg (NStZ 2010, 72 ff., 77) zu der Einschätzung, dass der BGH zwar verbal einen über die allgemeinen Regeln für die Folgenverantwortlichkeit („Zurechnung“) hinausgehenden spezifischen Gefahrrealisierungszusammenhang verlangt, dem aber keine nennenswerte faktische Filterwirkung zukommt; s. auch Engländer, GA 2008, 669, 681; Lohmeyer, Fahrlässige Tötungen (Fn. 31), S. 169 ff.
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siker gewordene Entscheidung des BGH im „Hochsitzfall“46, in dem der Täter einen Hochsitz umstürzte, auf dem sein Onkel in 3,50 m Höhe saß. Die primäre Folge des Sturzes war eine Fraktur des rechten Sprunggelenks. Das Opfer verstarb letztlich wegen seines verletzungsbedingten längeren Krankenlagers an einer Embolie, deren Risiko man unterschätzt hatte. In diesem Fall lässt sich bereits darüber streiten, ob überhaupt die Grundform der Folgenverantwortlichkeit des Täters der vorsätzlichen Körperverletzung für den Tod des Opfers angenommen werden kann. Zwar liegt durchaus qualifiziertes Verhaltensunrecht einer leichtfertigen Tötung vor. Denn das Opfer hätte – was für den Täter im Verhaltenszeitpunkt handgreiflich nahe lag – ohne Weiteres den Tod beim Sturz etwa infolge eines Genickbruchs erleiden können. Dieses Risiko der vorsätzlichen lebensgefährdenden Behandlung (§ 224 I Nr. 5 StGB) hat sich indessen gerade nicht realisiert. In Bezug auf die sich realisierende Schädigungsmöglichkeit lässt sich allenfalls eine einfach-fahrlässige Tötung begründen. Diese kann überhaupt erst nach reiflicher Überlegung und unter Berücksichtigung von nicht sogleich auf der Hand liegenden Umständen in den Kreis der von Rechts wegen zu vermeidenden schadensträchtigen Verläufe einbezogen werden. Eine strengere Bestrafung als die sich aus der Tateinheit zwischen gefährlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung ergebende lässt sich nicht rechtfertigen. Der vom BGH als angeblich vorliegend bloß behauptete „spezifische Gefahrrealisierungszusammenhang“ leistet in der entscheidenden Hinsicht nichts. Ein weiteres Beispiel bietet der Fall eines kräftigen Tritts mit der Spitze des beschuhten Fußes gegen den Oberkörper eines Menschen, wodurch infolge eines Nervenreflexes der Herzstillstand des Opfers eintrat. Der extrem seltene tödliche Verlauf war wohl auch durch eine besondere Opferkonstitution (Alkoholisierung und organische Veränderung am Herzmuskel) entscheidend mitbedingt und eine medizinische Rarität.47 Man mag in diesem abnormen Fall vielleicht noch die Voraussetzungen einer gefährlichen Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs bejahen. Je nach der Stärke des Tritts ist schon das nicht ganz unproblematisch. Mehr als zweifeln kann man aber jedenfalls daran, ob der Täter tatsächlich so fest zugetreten hat, dass wegen der Gefahr innerer Verletzungen die Voraussetzungen einer Körperverletzung in der Form der (vorsätzlichen) lebensgefährdenden Behandlung i.S.d. § 224 I Nr. 5 StGB48 erfüllt waren. Jedoch kann dies als Tatfrage im Einzelfall49 für die hier interessierende Problematik dahinstehen. Fest steht, dass der ausgelöste Reflextod davon vollkommen unabhängig war. Man kann sich den Fall ohne Weite46
BGHSt 31, 96 ff.; vgl. dazu etwa den Besprechungsaufsatz von Maiwald, JuS 1984, 439 ff.; ferner Lackner/Kühl, 27. Aufl. 2011, § 227 Rn. 2 mwN. 47 Vgl. dazu BGH StV 2008, 406 ff. m. krit. Anm. Hardtung; s. zu diesem Fall auch Lohmeyer, Fahrlässige Tötungen (Fn. 31), S. 156 f.; ferner Steinberg, NStZ 2010, 72, 73. 48 Zur Bedeutung der Qualifikation nach § 224 I Nr. 5 für die Legitimation der Bestrafung nach § 227 StGB vgl. Engländer, GA 2008, 669, 675 ff., 683 f.; SK-StGB/Horn/Wolters, 57. Lfg. 2003, § 227 Rn. 10; Sowada, Jura 2003, 549, 555 f. 49 Freilich ist auch die sog. Tatfrage eine Rechtsfrage; näher dazu Freund, FS MeyerGoßner, 2001, S. 409 ff.
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res auch mit einem Fußtritt vorstellen, der nur für eine einfache Körperverletzung ausreicht, ohne dass dadurch das Reflextod-Geschehen entfiele. Schädigungsmöglichkeiten für das Leben des Opfers, die sich gar nicht realisiert haben, können aber für eine Verantwortlichkeit wegen (vollendeter) Körperverletzung mit Todesfolge keine Rolle spielen. Mit Blick auf die für § 222 StGB erforderliche Grundform der Folgenverantwortlichkeit ist festzustellen, dass eine solche – mag sie auch schwach ausgeprägt sein – durchaus auch bei einem relativ harmlos erscheinenden Fußtritt angenommen werden kann, wenn dieser immerhin das Maß einer einfachen Körperverletzung erreicht. Insbesondere ändert die erhöhte Opferanfälligkeit nichts an der Legitimierbarkeit eines Verbots, in dieser Form gegen den Oberkörper zu treten, und zwar eines Verbots im berechtigten Lebensschutzinteresse des potentiellen Opfers.50 Jedoch fehlt ein unter dem Aspekt des Lebensschutzes im Verhältnis zur einfachen Fahrlässigkeit gesteigertes Verhaltensunrecht. Die extrem fernliegende und lediglich nicht (sicher genug) ausschließbare Schädigungsmöglichkeit für das Leben des späteren Opfers war für den Täter im verhaltensrelevanten Zeitpunkt nicht so naheliegend, dass sich eine im Verhältnis zur Tateinheitslösung strengere Bestrafung nach § 227 StGB rechtfertigen ließe. Auch über dessen Abs. 2 lässt sich keine angemessene Lösung erreichen. Die Annahme eines minder schweren Falles kann nur den schon bei der grundsätzlichen Weichenstellung begangenen Fehler etwas abmildern. Es liegt kein spezifisch gesteigertes Verhaltensunrecht vor. Der Täter hat keine Schädigungsmöglichkeit für fremdes Menschenleben geschaffen oder nicht abgewendet, die für ihn handgreiflich nahe lag. Daher kann sich von vornherein auch keine solche Schädigungsmöglichkeit realisiert haben. Genau das wäre aber für eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge erforderlich. Der Verzicht des BGH auf ein solches Erfordernis zeigt, dass er lediglich verbal den „spezifischen Gefahrrealisierungszusammenhang“ betont, sich davon aber der Sache nach längst verabschiedet hat. Hingewiesen sei abschließend noch auf einen von Steinberg51 analysierten Fall: Eine (psychisch auffällige) Täterin überfährt mit Körperverletzungsvorsatz – aber ohne Tötungsvorsatz – eine vor ihr die Straße überquerende alte Frau. Sie wird von Passanten aufgefordert, ihr Auto weiter vorzusetzen, um das unter dem Auto eingeklemmte Opfer zu befreien, das dabei jedoch getötet wird. Der BGH möchte eine Körperverletzung mit Todesfolge nach § 227 StGB selbst dann noch annehmen, wenn der Tod allein auf das hinsichtlich einer Körperverletzung unvorsätzliche zweite Überrollen zurückzuführen sein sollte. Ihm genügt es, dass ein solcher Verlauf (nach dem mit Körperverletzungsvorsatz ausgeführten ersten Überrollen) nicht außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit lag. Wie bereits im Hochsitzfall wird von der Täterin zwar das gesteigerte (spezifische) Verhaltensunrecht einer Körperverlet50 Zu solchen Fällen besonderer Opferanfälligkeit vgl. etwa Freund, AT (Fn. 14), § 7 Rn. 133 ff. 51 Steinberg, NStZ 2010, 72, 76 (zu BGH v. 30.10.2008 – 4 StR 235/08).
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zung mit Todesfolge verwirklicht. Es fehlt jedoch an der Realisierung der entsprechenden – für die Täterin hinreichend naheliegenden – Schädigungsmöglichkeit. Denn die Herbeiführung des Todes bei dem Rettungsmanöver war keine Schädigungsmöglichkeit, die bereits vor dem ersten Überfahren hinreichend deutlich wurde.
III. Zur Lösung des Problems de lege ferenda: Die besonders leichtfertige Tötung als Straftat Es ist kaum anzunehmen, dass die auf Abwege geratene Rechtsprechung demnächst eine Kurskorrektur vornehmen und sich wieder auf die rechte Bahn begeben wird. Zu bequem und verlockend ist es, bei einer im Zusammenhang mit einer Körperverletzung begangenen fahrlässigen Tötung zunächst pauschal eine Körperverletzung mit Todesfolge zu bejahen und zu grobe Fehlgriffe durch die Annahme eines minder schweren Falles in ihren Konsequenzen abzumildern. Verständlich – wenngleich nicht gutzuheißen52 – ist diese Verfahrensweise aus folgendem Grund: Sie ermöglicht es immerhin, auf manche Fälle der leichtfertigen Tötung zumindest im Ergebnis einigermaßen angemessen zu reagieren. Man denke nur an den Gubener Verfolgungsjagdfall, in dem bei einem restriktiven Verständnis der Körperverletzung mit Todesfolge eine solche kaum zu bejahen gewesen wäre:53 Die tatsächlich aufweisbare Lebensgefährlichkeit des Verhaltens resultiert ja gerade nicht aus einem Körperverletzungsverhalten (erst recht nicht aus einem vorsätzlich zugefügten Körperverletzungserfolg), sondern bei genauer Analyse allenfalls aus dessen Versuch, sogar wohl eher aus dessen bloßer Vorbereitung. Es ist schon sehr gewagt, die Verfolgung des Opfers als versuchte Körperverletzung aufzufassen, zumindest wenn noch zahlreiche Schritte zwischen potentiellem Täter und potentiellem Opfer liegen. Ungeachtet dessen ist es durchaus realistisch und auch für den potentiellen Täter naheliegend, dass ein verfolgtes Opfer im Verlauf der panikartigen Flucht zu Tode kommt. Der Verfolgende erfüllt also zwar noch nicht die Voraussetzungen der versuchten Körperverletzung, sehr wohl aber die einer leichtfertigen Tötung. Damit liegt nicht nur das Problem, sondern zugleich seine Lösung offen zutage: Das geltende Recht kennt keinen allgemeinen Tatbestand der (besonders) leichtfertigen Tötung, sondern erfasst dieselbe nur punktuell. Es gibt zwar eine Körperverletzung mit (leichtfertig herbeigeführter) Todesfolge, aber z. B. keine vorbereitete Körperverletzung und keine Nötigung mit (leichtfertig herbeigeführter) Todesfolge. Nach den schlechten Erfahrungen mit § 227 StGB wäre es nicht ratsam, für eine weitere punktuelle Erfassung (besonders) leichtfertiger Tötungen im Kontext spezieller 52
Dies schon deshalb, weil sich die Rechtsprechung „davor drückt“, die mitunter schwierige Begründung für das Vorliegen von besonderer Leichtfertigkeit als einer qualifizierten Form der Fahrlässigkeit zu geben. Zu den Konkretisierungsproblemen der Leichtfertigkeit s. die Nachw. oben Fn. 37. 53 Zum Gubener Verfolgungsjagdfall s. BGHSt 48, 34 ff.; Lackner/Kühl (Fn. 46), StGB, § 227 Rn. 3 mwN.
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Straftaten zu plädieren.54 Außerdem sind leichtfertige Tötungen durchaus auch ohne einen weiteren deliktischen Hintergrund denkbar. Dann würde dieser Lösungsansatz ohnehin versagen. Weil nach geltender Gesetzeslage auch (besonders) leichtfertige Tötungen grundsätzlich über § 222 StGB schon mit dem Schuldspruch „fahrlässige Tötung“ unangemessen milde geahndet werden, kann Abhilfe nur ein im Bereich der fahrlässigen Tötungen differenzierendes Konzept schaffen, das die Stufen der (einfach-)fahrlässigen und der (besonders) leichtfertigen Tötung im Schuldspruch berücksichtigt und auch auf die Bestrafung vorsätzlicher Tötungen abgestimmt ist. Der Strafrahmen für die bisher von § 222 StGB erfassten Fälle der einfach-fahrlässigen und der (besonders) leichtfertigen Tötungen reicht von Geldstrafe bis zu höchstens fünf Jahren Freiheitsstrafe, wohingegen der Grundfall der vorsätzlichen Tötung nach § 212 I StGB mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe zu ahnden ist. Das Höchstmaß beträgt – sieht man von § 212 II StGB ab – fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe. Vor diesem Hintergrund gilt es, sich auf die allein legitime Funktion todeserfolgsqualifizierter Delikte zu besinnen. Nicht von ungefähr wird vor allem im Zusammenhang mit der Körperverletzung mit Todesfolge eines immer wieder hervorgehoben: Wenn der Tötungsvorsatz nicht vollständig nachgewiesen werden kann, aber naheliegt, soll die Tat nicht nur als fahrlässige Tötung in Tateinheit mit Körperverletzung, sondern deutlich strenger geahndet werden.55 Ein prima vista erschreckender Gedanke. Befreit man ihn aber vom Odium der illegitimen Verdachtsstrafe und reduziert ihn auf seinen berechtigten Kern, liegt auf der Hand, worum es tatsächlich geht: Um die angemessene Ahndung (besonders) leichtfertiger – also tötungsvorsatznaher – Tötungen. Daher schlage ich folgende Regelung vor: § 222 StGB (neu) Fahrlässige und besonders leichtfertige Tötung (1) Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Begeht der Täter die Tat in einer vorsätzlichem Handeln nahekommenden Weise (besonders leichtfertig), so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.
Die vorgeschlagene Strafvorschrift könnte zumindest einige todeserfolgsqualifizierte Delikte (insbes. §§ 227, 221 III, 239 IV StGB) ersetzen56 und zugleich die un54 Wenig sinnvoll wäre z. B. ein Diebstahl mit leichtfertig herbeigeführter Todesfolge für den Fall, dass einem schwer Herzkranken lebenswichtige Medikamente oder einem Bergsteiger in der klirrenden Kälte aus dem Zelt die Kleider gestohlen werden. Ob die Fälle bei gewaltsamer Wegnahme von § 251 (Raub mit Todesfolge) erfasst werden, ist mehr als zweifelhaft (vgl. zu solchen Fällen etwa Altenhain, GA 1996, 19, 35; Schönke/Schröder/Eser/ Bosch (Fn. 8), StGB, § 251 Rn. 4 mwN). Überlegungen zu einem Straftatbestand de lege ferenda, der die „psychische Verletzung mit Todesfolge“ erfassen könnte, finden sich bei Steinberg, JZ 2009, 1053. 1059 f. – Die Probleme erledigen sich, wenn man dem hier unterbreiteten Lösungsvorschlag folgt. 55 Zu diesem Gedanken der Tötungsvorsatznähe s. die Nachw. oben Fn. 36. 56 Zu schon bislang angestellten Überlegungen zur Abschaffung erfolgsqualifizierter Delikte vgl. etwa Lorenzen, Zur Rechtsnatur und verfassungsrechtlichen Problematik (Fn. 39),
Die besonders leichtfertige Tötung
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berechtigte Privilegierung leichtfertiger Tötungen in anderem deliktischen Zusammenhang (etwa bei einer Nötigung) oder in einem im Übrigen nichtdeliktischen Kontext (etwa bei der rücksichtslosen Durchführung von Bauarbeiten ohne jede Sicherungsmaßnahme) vermeiden.57 Ein durchaus erwünschter Nebeneffekt speziell des Wegfalls der missratenen Strafvorschrift des § 227 StGB und deren Ersetzung durch den neuen Tatbestand der besonders leichtfertigen Tötung wäre für die juristische Ausbildung zu verbuchen: Zahlreiche Generationen von Studierenden mussten sich bislang mit den nach wie vor ungelösten und nach dem Gesagten auch nicht wirklich lösbaren Problemen der Körperverletzung mit Todesfolge „herumschlagen“. Es ist eine Qual, gezwungen zu werden, das nicht Verstehbare zu verstehen. Diese hätte durch einen einfachen Federstrich des Gesetzgebers endlich ein Ende. Die Wissenschaft muss und wird es im Interesse des in die Praxis umgesetzten Erkenntnisfortschritts verkraften, dass dadurch umfangreiche Literatur nur noch historisch interessant – nicht jedoch zu Makulatur (!) – würde. Schließlich dürfte der Zugewinn an freiwerdenden Kapazitäten der Rechtsprechung nicht gänzlich unbedeutend sein. Die Schwierigkeiten des Umgangs mit der Körperverletzung mit Todesfolge als Straftat führen nach wie vor dazu, dass ganz unnötig Ressourcen gebunden werden, die sehr viel ertragreicher eingesetzt werden könnten – etwa zur weiteren Konkretisierung der für den Tatbestand der (tötungsvorsatznahen) besonders leichtfertigen Tötung relevanten Fallgruppen. Das ist nötig, damit unter strikter Beachtung der strafgesetzlichen Vorgaben Recht gesprochen werden kann – also in ihrem Unwertgehalt im Wesentlichen gleiche Fälle auch gleich entschieden werden!
S. 164 ff.; ferner Díez-Ripollés, ZStW 96 (1984), 1059 ff., 1074 ff. – Einen Tatbestand der leichtfertigen Tötung für zumindest diskutabel hält LK-StGB/Vogel, 12. Aufl. 2007, § 18 Rn. 25 Fn. 33; vgl. auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 9/37 a.E. 57 Auf derselben Linie liegt die unlängst von Lohmeyer (Fahrlässige Tötungen [Fn. 31], S. 130 ff., 137, 175 f.) erhobene Forderung, einen Straftatbestand der leichtfertigen Tötung zu schaffen. Der hier unterbreitete Gesetzesvorschlag präzisiert jedoch stärker die auch von Lohmeyer sachlich gemeinte Vorsatznähe der hier interessierenden Leichtfertigkeit, um dadurch eine zusätzliche Anwendungsbremse im Wortlaut der neuen Strafvorschrift zu verankern. Andernfalls bestünde die Gefahr einer zu starken Auflockerung der an die Leichtfertigkeit zu stellenden Anforderungen. – Übrigens dürfte die Einführung eines Straftatbestandes der besonders leichtfertigen Tötung auch dabei helfen, weniger leichtfertig mit den Anforderungen an eine vollendete Vorsatztat umzugehen (näher zu dieser Problematik Freund, FS Maiwald, 2010, S. 211, 217 ff., 235 ff.). Wenn z. B. der Täter bei der Installation einer Autobombe sicher ist, ein Lebensrisiko nur für eine bestimmte Person zu schaffen, begeht er nach zutreffender Auffassung bei Tötung des „Falschen“ an diesem keine vorsätzliche vollendete Tötungstat. Auch § 227 StGB „greift“ nicht. Vielmehr liegt insofern allenfalls eine zu der versuchten Tötung des „Richtigen“ in Tateinheit stehende besonders leichtfertige Tötung vor. Eine solche kann nach geltendem Recht über § 222 StGB nur unangemessen milde geahndet werden.
Einseitige Therapiebegrenzung und Autonomiegedanke Über die Kehrseite einer Emanzipationsformel Von Michael Pawlik
I. Praktische Relevanz der einseitigen Therapiebegrenzung „Ich will nicht an Schläuchen enden!“ Jedermann kennt diesen Satz, von Verwandten, Freunden, vielleicht auch von sich selbst. Gemeint damit ist: Ich will meine Tage nicht als hilfloses Opfer einer unbarmherzigen Apparatemedizin beschließen, sondern gehen dürfen, wenn es an der Zeit ist. Diese Haltung ist aller Ehren wert. Von den Schwerkranken selbst wird sie allerdings nicht uneingeschränkt geteilt. Einer aktuellen Untersuchung zufolge wollte immerhin ein Drittel der befragten Patienten auch bei infauster Prognose Lebenszeit durch Maximaltherapie gewinnen und war deshalb gegen eine Therapiebegrenzung.1 Was diese Patientengruppe in erster Linie fürchtet, ist also nicht etwa eine medizinische Über-, sondern eine Unterversorgung. Wenn die behandelnden Ärzte demgegenüber eine palliative statt einer kurativ-lebenserhaltenden Versorgung für richtig halten, sind Konflikte vorprogrammiert. Um derartigen Auseinandersetzungen zu entgehen, setzen die Mediziner häufig auf die Strategie des Verschweigens. Die soeben erwähnte Untersuchung belegt dies mit eindrucksvollen Zahlen. So wurde nur etwas mehr als ein Drittel der Patienten mit dem Wunsch nach Maximalbehandlung darüber informiert, dass eine Therapiebegrenzung erwogen wurde. Bei den Kranken mit einer Präferenz für Palliativbehandlung waren es dagegen drei Viertel.2 Es entspricht also einer offenbar weit verbreiteten klinischen Praxis, auf die Anwendung oder Fortführung lebensverlängernder Therapien auch in solchen Fällen zu verzichten, in denen die Betroffenen selbst einen solchen Einsatz gewünscht hätten. Ist ein solches Verhalten rechtsethisch zulässig? Dies ist eine außerordentlich heikle Frage. Dennoch und vielleicht gerade deswegen liegt sie bis heute im Schatten der großen Debatten über Sterbehilfe und Patientenverfügungen.3 Auch ich habe sie nicht ohne Unbehagen für diesen Wolfgang Frisch in herzlicher Verbundenheit ge1
Winkler, Ethik Med 22 (2010), 91. Winkler, Ethik Med 22 (2010), 91 f. 3 Winkler, Ethik Med 22 (2010), 89. 2
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widmeten Beitrag ausgewählt. Gesicherte Antworten können und sollen die folgenden Überlegungen nicht bieten, nur tastende Versuche. Aber das Thema erscheint mir so wichtig, dass ich diese Bemühungen gern den Kommentaren und der Kritik des verehrten Jubilars aussetzen möchte.
II. Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht Den „Dreh- und Angelpunkt des Arzt-Patienten-Verhältnisses“4 bildet nach heutigem Verständnis der Grundsatz der Selbstbestimmung des Patienten;5 den Bedeutungsgehalt und die Reichweite dieses Grundsatzes hat Wolfgang Frisch eindringlich ausgelotet.6 Der Selbstbestimmungsgrundsatz eröffnet dem Kranken das Recht, die Nichtausschöpfung eines objektiv vorgegebenen Behandlungsstandards zu verlangen. Eine Überschreitung dieses Behandlungsniveaus kann der Patient unter Berufung auf sein Selbstbestimmungsrecht hingegen nicht erzwingen.7 Es kommt deshalb darauf an, wie weit die ärztliche Behandlungspflicht gegenüber Todkranken reicht. In dieser Frage hat sich während der letzten Jahrzehnte ein bemerkenswerter Auffassungswandel vollzogen. Noch gegen Ende der 60er Jahre vertrat Paul Bockelmann die Auffassung, der Arzt müsse zur Rettung des Lebens das Äußerste tun, was ihm seine Mittel erlaubten, und zwar auch dann, „wenn es nicht um Jahre, sondern um Tage oder gar nur um Stunden und Minuten geht, und wenn überdies das Leben in der kurzen Spanne Zeit, die es sich noch erhalten kann, nur ein klägliches, trostloses Leben sein kann, vielleicht ein Leben in dumpfer Bewusstlosigkeit“8. Eine derart rigide Bestimmung der ärztlichen Pflicht wird heute allgemein abgelehnt. In den Worten des BGH gibt es „keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis“. Nicht die strukturell unbarmherzige Effizienz der Apparatur, sondern die an der Achtung des Lebens und der Menschenwürde ausgerichtete Einzelfallentscheidung bestimme die Grenze der ärztlichen Behandlungspflicht.9 Aber was bedeutet das konkret? Es bedeutet zunächst den Ausschluss wirkungsloser Behandlungen. Eine Therapie, von der weder eine Lebensverlängerung noch eine Leidensminderung zu erwarten ist, 4
MK-StGB/Schneider, 2003, Vor §§ 211 ff. Rn. 105. Ausführlich dazu jüngst Geißendörfer, Die Selbstbestimmung des Entscheidungsunfähigen an den Grenzen des Rechts, 2009, S. 60 ff.; Schork, Ärztliche Sterbehilfe und die Bedeutung des Patientenwillens, 2008, S. 24 ff. 6 Frisch, in: Leipold (Hrsg.), Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft aus deutscher und japanischer Sicht, 1997, S. 103 ff. 7 Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin, Stuttgart 2012, S. 173 ff.; Pawlik, in: Becker/Roth (Hrsg.), Das Recht der Älteren, 2012 m.w.N. (im Erscheinen). 8 Bockelmann, Das Strafrecht des Arztes, 1968, S. 113 f. 9 BGHSt 32, 367, 379 f. 5
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braucht, ja darf nicht angeboten werden.10 Dem hätte freilich auch Bockelmann zugestimmt. Zum Schwur kommt es jenseits dieser zumindest theoretisch klaren Fälle: Wie verhält es sich mit Therapien, denen eine Lebensverlängerung zugetraut wird? Um den Verzicht auf solche Behandlungen zu rechtfertigen, muss man den Beurteilungsgegenstand austauschen. Man muss sagen: Zwar kann die Behandlung das Ziel der Lebensverlängerung erreichen, aber angesichts der besonderen Umstände des Falles ist die Erreichung dieses Zieles nicht erstrebenswert. In Rede steht jetzt also nicht mehr die technische Effektivität, sondern die normative Sinnhaftigkeit der betreffenden therapeutischen Maßnahme. In aller Deutlichkeit gesprochen, lautet die Aussage nun folgendermaßen: Es gibt Situationen, in denen es sinnvoller ist, einen Menschen vorzeitig sterben zu lassen, als ihm das von ihm gewünschte Weiterleben zu ermöglichen. Im Unterschied zu der erstgenannten Fallgruppe ist dieser Satz alles andere als selbstverständlich. Er scheint vielmehr an einer der Grundfesten unserer Rechtskultur zu rütteln: dem Satz, dass menschliches Leben nicht zum Gegenstand einer wie auch immer gearteten qualitativen Bewertung gemacht werden dürfe.11 Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass Gerichte und Strafrechtsdogmatik sich scheuen, die genannte These offen auszusprechen.12 Nichtsdestoweniger wird allgemein anerkannt, dass es Konstellationen gibt, in denen der Arzt auf die technisch mögliche Lebensverlängerung verzichten darf, ohne dabei auf den Willen des Betroffenen Rücksicht nehmen zu müssen. Diese Strategie einer, wenn der Ausdruck gestattet ist, forcierten Oberflächlichkeit soll hier keineswegs gescholten werden; sie gehört zu den Ermöglichungsbedingungen einer effizienten Entscheidungspraxis. Der Rechtsphilosoph kann sie sich allerdings nicht zu eigen machen. Wie Wolfgang Frisch mir in zahlreichen Gesprächen dargelegt hat, besteht eine der wichtigsten Aufgaben der Rechtsphilosophie darin, die im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Alltagsarbeit oft unentfaltet bleibende normative Tiefenstruktur dogmatischer Positionen13 freizulegen und zu analysieren.14 Es ist deshalb gerade heraus zu fragen: Kann es jemals sinnvoll sein, einen Menschen, der gern weiterleben möchte, vorzeitig sterben zu lassen? 10
Thias, Möglichkeiten und Grenzen eines selbstbestimmten Sterbens durch Einschränkung und Abbruch medizinischer Behandlung, 2004, S. 192 f.; Winkler, Ethik Med 22 (2010), 95. 11 Gutmann, in: Gutmann/Schmidt (Hrsg.), Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002, S. 202 f.; Thias (Fn. 10), S. 161; Uhlenbruck, MedR 1995, 433. 12 Beliebt sind Formeln wie die folgende: Man lasse den Moribunden „nicht wegen des Mangels an Lebensqualität sterben, sondern weil eine weitere Maßnahme ihm schaden würde“ (Prat, Imago Hominis 6 [1999], 25). Das ist ein tendenziell irreführendes Spiel mit Worten: Die Sterbeverlängerung wäre zuvörderst eine Lebensverlängerung. Diese aber gewährt man dem Kranken nicht, weil man sein Weiterleben unter den gegebenen Umständen für schlimmer hält als seinen vorzeitigen Tod. Was ist dies anders als ein Urteil über seine Lebensqualität? 13 Dazu Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 16 m.w.N. 14 Locus classicus eines solchen Verständnisses von Rechtsphilosophie ist Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), 2. Aufl. 2003, S. 16.
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Ich möchte diese Frage in aller Vorsicht bejahen. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen werde ich im folgenden Abschnitt meines Beitrags darlegen (III.). Ich werde mich dort einer Argumentationsfigur bedienen, die man, wenn man so hoch greifen will, als einen Anwendungsfall der „Dialektik der Aufklärung“ bezeichnen kann. Die Emanzipationsformel „Autonomie“, die zu Recht dafür gerühmt wird, dass sie zu einer Erweiterung der Handlungsoptionen des Einzelnen führt, besitzt danach eine häufig übersehene Kehrseite: Der gesteigerten Wertschätzung selbstbestimmten Existierens korrespondiert eine Schwächung der rechtlichen und moralischen Position solcher Individuen, die zu einer selbstbestimmten Lebensführung nicht mehr imstande sind. Der sachliche Gehalt dieses Arguments wird allerdings verzerrt, wenn man es in paternalistischer Manier versteht. Dies geschieht dort, wo die Zulässigkeit des einseitigen Behandlungsabbruchs schlicht darauf gestützt wird, dass die Weiterführung der Therapie für den Kranken keinen Nutzen bzw. keinen Sinn mehr habe. Wenn es wirklich nur um den Sinn seines Weiterlebens ginge, stünde die Beurteilungskompetenz darüber ausschließlich dem Patienten selbst zu. Die drastische Schrumpfung der Lebensgestaltungsoptionen eines Todkranken wird vielmehr erst im Rahmen seines Solidaritätsanspruchs gegen seine Mitbürger und die behandelnden Ärzte bedeutsam: Seine Position in der Konkurrenz um das knappe Gut „Gesundheitsleistungen“ wird schwächer. Dies werde ich in den weiteren Abschnitten meines Beitrags nachweisen (IV. und V.). Eine klare Unterscheidung zwischen paternalistischen und solidaritätsgestützten Begründungsansätzen ist keineswegs nur ein theoretisches Glasperlenspiel. Zur Abschichtung der moralischen, rechtlichen und nicht zuletzt auch der politischen Verantwortlichkeiten der Akteure des Gesundheitssystems ist sie vielmehr unverzichtbar. Kostengesichtspunkte sollten offen als solche benannt werden und nicht hinter vermeintlich rein individualbezogenen Erwägungen oder – noch viel gefährlicher – hinter dem Kautschukbegriff der „medizinischen Indikation“ versteckt werden.15 In einem Wort: Ziel der folgenden Überlegungen ist es, auf einem stark verminten Terrain ein überfälliges Stück strafrechtsdogmatischer und rechtsphilosophischer Selbstaufklärung anzustoßen.
III. Fehlender Behandlungsnutzen nach Verlust der Selbstbestimmungsfähigkeit Der BGH, der im Bereich des einverständlichen Behandlungsabbruchs unlängst bemerkenswerten Mut bewiesen hat,16 behandelt das Thema des einseitigen Behandlungsabbruchs bislang mit äußerster Zurückhaltung, gleichsam mit spitzen Fingern. 15 Zu Letzterem eindringlich Schmidt/Gutmann, in: Gutmann/Schmidt (Hrsg.), Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002, S. 9 f. 16 BGHSt 55, 200. – Dazu näher Pawlik (Fn. 7) m.w.N.
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Die expliziten Äußerungen des Gerichts zu diesem Thema sind ebenso knapp wie streng. Erst nach dem Einsetzen des Sterbevorgangs sei es dem Arzt erlaubt, von sich aus auf lebensverlängernde Maßnahmen wie Beatmung, Bluttransfusion oder künstliche Ernährung zu verzichten.17 Außerhalb der eigentlichen Sterbephase seien einseitige Behandlungsabbrüche demgegenüber unzulässig. Zwar habe der Arzt in Grenzfällen einen gewissen Beurteilungs- und Ermessensspielraum bei der Entscheidung über Beendigung oder Fortsetzung einer Behandlung. Seien jedoch wesentliche Lebensfunktionen wie Atmung, Herzaktion und Kreislauf noch erhalten, komme ein Behandlungsabbruch nur in Betracht, wenn er dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspreche.18 Sofern sich konkrete Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen des Kranken nicht finden lassen, darf dem BGH zufolge aber immerhin auf „allgemeine Wertvorstellungen“ zurückgegriffen werden. Je weniger die Wiederherstellung eines nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten sei und je kürzer der Tod bevorstehe, um so eher werde ein Behandlungsabbruch vertretbar erscheinen.19 An der Aussicht zur Wiederherstellung einer menschenwürdigen Existenz fehlt es nach einer im Schrifttum verbreiteten Auffassung in den Fällen eines voraussichtlich irreversiblen Bewusstseinsverlusts. Die Aufrechterhaltung eines Lebens in unumkehrbarer Bewusstlosigkeit sei deshalb im Zweifel nicht das, was dem Willen des Patienten entspreche.20
17 BGHSt 40, 257, 260; Rengier, Strafrecht, BT II, 13. Aufl. 2012, § 7 Rn. 10; Wessels/ Hettinger, Strafrecht, BT I, 35. Aufl. 2011, Rn. 36; Klöpperpieper, FPR 2010, 262; Kuchenbauer, ZfL 2007, 104; Kutzer, FPR 2007, 62; Leonardy, DRiZ 1986, 285; Lipp, in: Kettler u. a. (Hrsg.), Selbstbestimmung am Lebensende, 2006, S. 96; Lorenz, JZ 2009, 62; Opderbecke, MedR 1985, 29; Rosenau, FS Roxin II, 2011, S. 578 f.; Schmidt-Recla, MedR 2008, 182; Schork (Fn. 5), S. 46 f., 186; Weißauer/Opderbecke, MedR 1995, 461. 18 BGHSt 40, 257, 264 f. 19 BGHSt 40, 257, 263. 20 NK-StGB/Neumann, 3. Aufl. 2010, Vor § 211 Rn. 118, 120; Dölling, MedR 1987, 9; Rieger, Die mutmaßliche Einwilligung in den Behandlungsabbruch, 1998, S. 149; Saliger, KritV 2001, 428 ff.; Schöch, NStZ 1995, 155; Thias (Fn. 10), S. 192 f.; Tröndle, MedR 1988, 165; Trück, Mutmaßliche Einwilligung und passive Sterbehilfe durch den Arzt, Diss. Tübingen, 2000, S. 147; Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages, 2006, S. C 94. – A. A. LK-StGB/Jähnke, 11. Aufl. 2005, Vor § 211 Rn. 20c; MK-StGB/Schneider (Fn. 4), Vor §§ 211 ff. Rn. 121; Bernsmann, ZRP 1996, 92; Duttge, in: Kettler u. a. (Hrsg.), Selbstbestimmung am Lebensende, 2006, S. 62; ders., GA 2006, 583; Fischer, FS Deutsch II, 2009, S. 556; Hillgruber, ZfL 2006, 80; Höfling, JuS 2000, 117; Höfling/Rixen, JZ 2003, 894; Kuchenbauer, ZfL 2007, 105; Kutzer, in: Härlein u. a. (Hrsg.), Medizin und Gewissen – wenn Würde ein Wert würde, 2002, S. 167; ders., in: May u. a. (Hrsg.), Passive Sterbehilfe: Besteht gesetzlicher Regelungsbedarf?, 2002, S. 23; ders. FS Rissing-van Saan, 2011, S. 354; Lorenz, JZ 2009, 62; SchmidtRecla, MedR 2008, 183.
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Ein anderer Teil des Schrifttums geht noch einen Schritt weiter und hält in den Fällen eines endgültigen Bewusstseinsverlusts den Behandlungsabbruch nach einer Wendung Esers „ohne Rücksicht auf etwaige Einwilligungskrücken“21, also unabhängig vom mutmaßlichen Patientenwillen für zulässig.22 Darin liege nicht etwa eine externe Begrenzung des Autonomiegedankens, sondern im Gegenteil eine Entfaltung von dessen Implikationen. Das Autonomieparadigma beruhe auf der Ersetzung des älteren biologisch-quantitativen durch ein personal-qualitatives Verständnis menschlichen Lebens.23 Die Aufgabe eines der Autonomie seiner Patienten verpflichteten Arztes bestehe deshalb nicht in der Erhaltung der biologischen Lebensfunktionen als solcher, sondern in der Ermöglichung menschlicher Selbstverwirklichung.24 Wenn der Gesundheitszustand des Kranken so beschaffen sei, dass er eine bewusste Lebensführung – als conditio sine qua non jeder Selbstbestimmung – dauerhaft ausschließe, sei folglich auch ein einseitiger Behandlungsabbruch zulässig. Bei diesem Befund handelt es sich nicht etwa um das Produkt eines deutschen Sonderweges. In der internationalen Diskussion wird er vielmehr verbreitet geteilt. So wird in der amerikanischen Bioethik seit einigen Jahrzehnten eine heftige Debatte über die „Nutzlosigkeit“ ärztlicher Behandlungen geführt. Ausgelöst wurde diese Debatte durch einen Aufsatz von Lawrence Schneiderman, Nancy Jecker und Albert Jonsen.25 Das argumentative Rückgrat dieses Aufsatzes bildet die Unterscheidung zwischen Wirkung und Nutzen. Das letztendliche Ziel einer jeden Behandlung solle eine Verbesserung der Prognose, des Komforts, des Wohlergehens oder des allgemeinen Gesundheitszustands des Patienten sein. Eine Behandlung, der es nicht gelinge, diesen Nutzen herbeizuführen, könnten die Ärzte selbst dann verweigern, wenn der Patient oder seine Familie sie ausdrücklich verlangten.26 So liege es insbesondere im Falle einer dauerhaften Angewiesenheit des Patienten auf intensivmedizinische Behandlung sowie dort, wo die Behandlung lediglich einen Zustand andauernder Bewusstlosigkeit aufrechterhalte.27 21
So Eser, in: Auer u. a., Zwischen Heilauftrag und Sterbehilfe, 1977, S. 121. Schönke/Schröder/Eser, StGB, 28. Aufl. 2010, Vorbem. §§ 211 ff. Rn. 29; ders. (Fn. 21), S. 131; Kindhäuser, Strafrecht, BT I, 5. Aufl. 2012, § 3 Rn. 6; Núnez Paz, FS Roxin II, 2011, S. 611; Otto, Grundkurs Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 6 Rn. 33; ders., Recht auf eigenen Tod?, in: Verhandlungen des 56. Deutschen Juristentages, 1986, S. D 36 f., 50 f.; ders., Jura 1999, 437, 439; Ankermann, MedR 1999, 389; Bottke, ZEE 1981, 126; Hanack, in: Hiersche (Hrsg.), Euthanasie, 1975, S. 163; Klöpperpieper, FPR 2010, 263; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992, S. 141 f., 148; Merkel, ZStW 107 (1995), 573; Schreiber, NStZ 1986, 342; Weißauer/Opderbecke, MedR 1995, 462. 23 Bottke, ZEE 1981, 124; Eser (Fn. 21), S. 129 ff. 24 Bottke, ZEE 1981, 126; Eser (Fn. 21), S. 129, 132. 25 Nachfolgend zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Marckmann/Liening/Wiesing (Hrsg.), Gerechte Gesundheitsversorgung, 2003, S. 253 ff. 26 Schneidermann/Jecker/Jonsen (Fn. 25), S. 262. 27 Schneidermann/Jecker/Jonsen (Fn. 25), S. 261. 22
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Die Überwölbung der medizintechnischen Wirksamkeit durch einen normativ zu bestimmenden Nutzen wird auch hierzulande praktiziert. Allerdings wird sie versteckt in dem schillernden Begriff der medizinischen Indikation, der diese beiden Komponenten in sich vereinigt.28 Auf das Fehlen einer medizinischen Indikation berufen sich die Ärzte nicht zuletzt in solchen Fällen, in denen nach ihrer Überzeugung die Belastung des Patienten durch eine technisch mögliche und physiologisch wirksame Therapie deren mutmaßlichen Nutzen überstiege. Hier sind die dem Patienten verbleibenden Lebensgestaltungsoptionen zwar nicht ganz so stark reduziert wie in den zuvor erörterten Fallgruppen. Dennoch wird die ihm mögliche Lebensqualität als so niedrig eingeschätzt, dass das Bestreben, ihm dieses Los zu ersparen, seinem Interesse an Lebensverlängerung übergeordnet wird. Diese Argumentationen machen vom Autonomiegedanken einen ungewohnten Gebrauch. Sie deuten diesen Gedanken um von der Basis eines subjektiven Abwehrrechts gegenüber unerwünschten Einmischungen zur Grundlage einer Obliegenheit, deren Nichterfüllung Rechtsnachteile zur Folge hat. Das eine ist in der Tat die Kehrseite des anderen. Der Rechtsbegriff Autonomie verdankt seinen Erfolg ganz wesentlich dem gesellschaftlichen Siegeszug der Autonomie als Lebensideal. Mein Leben ist danach umso sinnvoller, je besser es mir gelingt, in ihm meine spezifischen Ziele und Wertvorstellungen zu verwirklichen. Dazu aber muss ich physisch und sozial Herr meiner selbst sein. „Krankwerden, Schwachwerden, Gebrechlichwerden und Hilfsbedürftigwerden“ werden aus dieser Perspektive „nicht als Manifestationen des Menschseins gesehen […], sondern lediglich als bedauernswerte Defiziterscheinungen und befremdliche Schwundstufen des ,normalen‘, des gesunden Menschen“29. Vor diesem Hintergrund drängt es sich geradezu auf, die Sinnhaftigkeit des Weiterlebens eines schwer erkrankten Menschen primär an dem Ausmaß der dem Betroffenen verbleibenden Lebensgestaltungsoptionen zu bemessen. Je kleiner das Spektrum seiner Möglichkeiten, desto geringer der ihm verbleibende Lebenssinn – und desto näher liegend die Schlussfolgerung, in der Verlängerung eines solchen Lebens keinen Nutzen mehr zu sehen. Hier wird die „Dialektik der Aufklärung“ sichtbar, von der oben die Rede war. Sie konfrontiert uns mit den Konsequenzen eines normativen Selbstentwurfs, der trotz seiner Einseitigkeit30 das Denken und Fühlen der Gegenwartsgesellschaft derart stark beherrscht, dass eine wirklichkeitssensible Rechtsphilosophie ihn schlechterdings nicht ignorieren kann. Daher lässt sich als Zwischenergebnis festhalten: Zwischen dem Autonomiegedanken und der Zulässigkeit einseitiger Behandlungsabbrüche besteht ein Begründungszusammenhang. Wie dieser Zusammenhang genau beschaffen ist und in welchem Umfang er den Verzicht auf weitere Therapierungsversuche zu rechtfertigen vermag, ist nunmehr zu erörtern.
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Winkler, Ethik Med 22 (2010), 93. Maio (Fn. 7), S. 384. 30 Dazu eindringlich Maio (Fn. 7), S. 366 ff., 384 f.
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IV. Paternalistische Begründungsstrategien Die Verteidiger einseitiger Behandlungsabbrüche bedienen sich häufig des folgenden Argumentationsschemas: Weil die Weiterbehandlung sinnlos ist, darf sie unterbleiben, und die Beurteilungskompetenz darüber steht den behandelnden Ärzten zu. Beispielsweise betonen Schneiderman und seine Koautoren ausdrücklich, dass ihr Konzept der Nutzlosigkeit ausschließlich eine adäquate Bewertung und Gewichtung der Belange des Patienten selbst bezwecke.31 Diese Bewertung obliegt in ihrer Konzeption allerdings gerade nicht dem Kranken, sondern seinen medizinischen Betreuern. Von selbst versteht sich dies keineswegs.32 Zwar besitzen Ärzte eine überlegene Fachkenntnis in Bezug auf die zu erwartende physiologische Wirkung einer Behandlung. Aber weshalb sollte das Gleiche im Hinblick auf deren existenziellen Sinn gelten? Weiß nicht der Patient, sofern er noch einsichts- und urteilsfähig ist, selbst am besten, wie lange ihm die Aufrechterhaltung eines qualvollen und beengten Lebens als sinnvoll erscheint? Mit welcher Selbstverständlichkeit auch deutsche Ärzte einen Beurteilungsvorrang für sich reklamieren, zeigt sich an einer Stellungnahme namhafter deutscher Psychiater und Altersmediziner. Diese räumen zwar ein, dass Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnahmen schwer lösbare Konflikte hervorrufen könnten. Bedingt sehen sie diese Konflikte allerdings nur „durch divergierende Wertüberzeugungen von Ärzten oder ihren Mitarbeitern und durch unterschiedliche Einschätzungen dessen […], was im Interesse des Patienten liegt und was nicht“33. Über die Perspektive des Patienten selbst, um dessen Leben es immerhin geht, verlieren die Autoren kein Wort. Auf einen umfassenden Einschätzungsprimat der Ärzte läuft schließlich auch die Behauptung hinaus, in den Fällen nutzloser Behandlung fehle es an einer medizinischen Indikation. Auch dadurch wird den Ärzten eine überlegene Kompetenz nicht nur für medizinische Fachfragen, sondern auch auf der Sinndimension zugeschrieben. Der Sache nach handelt es sich dabei jeweils um paternalistische Argumentationen. Während paternalistische Erwägungen aber ansonsten – etwa in der Diskussion über § 216 StGB – gegenüber dem verzichtsbereiten Rechtsgutinhaber für die Erhaltung des Rechtsguts Leben streiten,34 werden sie hier mit dem umgekehrten Ziel eingesetzt: Der Erhaltungswille des Rechtsgutinhabers soll zugunsten einer vorzeitigen Lebensbeendigung übertrumpft werden können. Die Gründe, die im Bereich des § 216 StGB die Heranziehung paternalistischer Gesichtspunkte rechtfertigen könnten, laufen deshalb in der vorliegenden Fallkonstellation leer. Im Kontext der Tötung auf Verlangen geht es in paternalistischer Lesart darum, Kranke vor den irreparablen 31
Schneidermann/Jecker/Jonsen (Fn. 25), S. 254. Treffend Breyer/Schultheiss, in: Gutmann/Schmidt (Hrsg.), Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002, S. 132. 33 Helmchen/Kanowski/Lauter, Ethik in der Altersmedizin, 2006, S. 180. 34 Näher Pawlik (Fn. 7). 32
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Folgen eines Verzweiflungsschrittes zu bewahren. In den vorliegend interessierenden Fällen wehrt sich der Kranke umgekehrt gegen den ihm drohenden endgültigen Verlust, weil er sich trotz aller Beschwernisse mit aller Kraft an sein Leben klammert. Paternalistische Besserwisserei ist in dieser Situation denkbar fehl am Platz.35 Der englische Medizinethiker John Harris bezeichnet sie aus gutem Grund als ein „großes Unrecht“ gegenüber den bevormundeten Personen. Wir „ordnen ihr Leben damit den Zwecken unter, die wir ihrem Leben setzen. Wir behandeln sie so, als ob ihr Leben nicht ihr Leben sei. Damit sprechen wir ihnen die größte Beleidigung aus, die sich denken lässt.“36 Auf paternalistischem Wege lässt sich die Berechtigung einseitiger Behandlungsabbrüche bei schwer leidenden Patienten deshalb nicht überzeugend begründen.
V. Die Einstandspflicht der Solidargemeinschaft und ihre Schranken Es bleibt nur die Möglichkeit, dieses Ergebnis auf die Berücksichtigung von – insbesondere finanziellen – Belangen anderer Personen zu stützen.37 Auf den ersten Blick scheint freilich auch dieser Weg nicht gangbar zu sein. Zwar ist das Sterben unter den Bedingungen der heutigen Hochleistungsmedizin häufig ein außerordentlich kostspieliger Vorgang. Nach einer amerikanischen Untersuchung belaufen sich die finanziellen Aufwendungen für die letzten einhundertachtzig Lebenstage durchschnittlich auf etwa drei Viertel der lebenslangen Gesundheitskosten; ca. dreißig Prozent dieser Kosten entfallen gar auf die letzten dreißig Lebenstage.38 Aber ist es ernsthaft diskutabel, einen Menschen früher sterben zu lassen, weil dies den Überlebenden Kosten erspart? Formuliert man die Frage so, scheint die Antwort nur „Nein“ lauten zu können. Eine solche apodiktische Abwehr wäre aber rechtsethisch kurzschlüssig.39 35 Ebenso Árnason, Dialog und Menschenwürde, 2005, S. 302; Baumann-Hölzle, Moderne Medizin – Chance und Bedrohung, 2007, S. 302; Beckmann, in: Korff u. a. (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 1, 2000, S. 317; Schöne-Seifert/Buyx, in: Buyx/Schöne-Seifert, Gerecht behandelt?, 2006, S. 227; Winkler, Ethik Med 22 (2010), 97. 36 Harris, Der Wert des Lebens, 1995, S. 125 f. 37 Ebenso Winkler, Ethik Med 22 (2010), 94. 38 Zitiert nach Höfling, JuS 2000, 117. – Weitere instruktive Zahlenangaben bei Marckmann, in: Buyx/Schöne-Seifert, Gerecht behandelt?, 2006, S. 165 f. 39 Dass schwerkranke Patienten stets eine optimale Therapie erhalten müssten, ohne dass Kostenerwägungen dabei eine Rolle spielen dürften, vertreten etwa Beckmann (Fn. 35), S. 320; Dörner, ZRP 1996, 94 ff.; Duttge, NStZ 2006, 482 f.; Gutmann (Fn. 11), S. 180 f.; ders., in: Buyx/Schöne-Seifert, Gerecht behandelt?, 2006, S. 44; G. Hirsch, ZRP 1986, 241; Künschner (Fn. 22), S. 309, 381 ff.; Kutzer, MedR 2001, 79; Tolmein, KJ 1996, 521 f.; Weber/ Vogt-Weber, MedR 1999, 208 f. – Gegen eine kategorische Ausblendung von Kostenerwägungen aus Entscheidungen über Therapiebegrenzungen Marckmann (Fn. 38), S. 178 f.; Nagel, Passive Euthanasie, 2002, S. 106 ff.; Opderbecke, MedR 1985, 28; Prinz, in: Kettner/ Koslowski (Hrsg.), Wirtschaftsethik in der Medizin, 2011, S. 22; Schork (Fn. 5), S. 189; Spickhoff, NJW 2000, 2298; Stratenwerth, SchwZStr 95 (1978), 78; Taupitz, Empfehlen sich
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Unter der Herrschaft des Autonomieideals kommt den Gütern Leben und Gesundheit nämlich kein intrinsischer, sondern ein funktionaler Wert zu. Die Sozialphilosophie, nie verlegen um grandiose Bezeichnungen für verhältnismäßig triviale Sachverhalte, bezeichnet sie deshalb als „transzendentale Güter“40 : Bedingung der Möglichkeit, konkrete Lebenspläne, gleich welchen Inhalts, zu verfolgen, ist, dass ich überhaupt am Leben und bei einigermaßen guter Gesundheit bin. Zur Erhaltung dieser Güter können freilich finanzielle Aufwendungen erforderlich werden, die so hoch sind, dass sie die Leistungsfähigkeit der Betroffenen übersteigen. Deshalb werden Akteure, die sich unter dem Rawlsschen „Schleier des Nichtwissens“ auf die Grundstrukturen eines gerechten Gesundheitssystems einigen sollen, mit großer Wahrscheinlichkeit dafür plädieren, die Gesundheitsrisiken zumindest im Umfang einer medizinischen Grundversorgung zu vergemeinschaften; Norman Daniels und Wolfgang Kersting haben dies im einzelnen dargetan.41 Zum gleichen Ergebnis führt der von Alan Gewirth, Martha Nussbaum und Amartya Sen entwickelte Gedanke, dass jedermann ein Recht auf die Ermöglichungsbedingungen einer autonomen Lebensführung besitze.42 Ob aus Klugheit oder aus genuin normativen Erwägungen – jedenfalls gehört es zu den bestgesicherten Einsichten der heutigen Sozialphilosophie, dass im Gesundheitsbereich der Markt zumindest teilweise durch das Solidargemeinschaftsprinzip ersetzt werden muss. Wer Forderungen an andere stellt, den trifft dafür freilich eine Begründungspflicht. Dies gilt auch innerhalb von Solidargemeinschaften. Jede Solidargemeinschaft operiert unter der Bedingung der Knappheit. Die Summe der begehrten Leistungen pflegt die Summe der zu verteilenden Mittel regelmäßig zu übersteigen, mit der Folge, dass der eine Wert nur auf Kosten eines anderen realisiert werden kann. Für das Gesundheitssystem gilt dies in besonderer Weise. Bereits heute ließe sich nach Schätzung mancher Fachleute das gesamte Bruttosozialprodukt eines entwickelten Landes für Gesundheitsleistungen verwenden, die entweder die Lebensqualität oder die Lebensdauer eines Patienten erhöhen würden.43 Priorisierungen sind deshalb unvermeidlich. Die Verpflichtungen der Solidargemeinschaft und des behandelnden Arztes gegenüber dem aktuellen Patienten müssen mit den Verpflichtungen gegen-
zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?, in: Verhandlungen des 63. Deutschen Juristentages, 2000, S. A 25 f.; ders., in: Kick/Taupitz (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit, 2005, S. 28 ff.; Uhlenbruck, MedR 1995, 428 f. 40 Kersting, in: Gutmann/Schmidt (Hrsg.), Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002, S. 42; Marckmann, Bundesgesundheitsblatt 51 (2008), 889. 41 Zusammenfassend Daniels, in: Marckmann/Liening/Wiesing (Hrsg.), Gerechte Gesundheitsversorgung, 2003, S. 15 ff.; Kersting (Fn. 40), S. 43 ff. 42 Gewirth, Reason and Morality, 1978, S. 48 ff.; Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, 2010, S. 103 ff., 218 ff.; Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, 2010, S. 253 ff. – Kritisch zu den Konzeptionen Nussbaums und Sens Pawlik, ZStW 124 (2012), 528 ff. 43 Kliemt, in: Brink u. a. (Hrsg.), Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2006, S. 49.
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über anderen Patienten abgewogen werden.44 Die Forderung nach Plausibilisierung der eigenen Behandlungswünsche, die deplaziert erschien, solange lediglich die Bedürfnislage des einzelnen Kranken in den Blick genommen wurde, hat daher hier ihr unabweisbares Recht. Eine bevorzugte Befriedigung der eigenen Wünsche kann nur verlangen, wer sie den übrigen, insbesondere auch den zurückgesetzten Gruppenmitgliedern gegenüber in einer Weise zu begründen vermag, welche auch diese als honorierungswürdig anerkennen müssen.45 Umgekehrt können solche Ansinnen nicht auf Erhörung hoffen, die entweder von vornherein unterhalb der erforderlichen Nachvollziehbarkeitsschwelle liegen oder die als zwar grundsätzlich berechtigt, aber gegenüber anderen, dringlicheren Anliegen nachrangig angesehen werden. Zunächst zur ersten dieser beiden Fallgruppen. Werden Lebenswert und Überlebensinteresse autonomiefunktional bestimmt, so sind nicht hinreichend nachvollziehbar solche Behandlungswünsche, deren Erfüllung keinen oder allenfalls einen minimalen Autonomiegewinn erwarten lässt. Hier ist deshalb der passende Ort für die Erwägungen über nutzlose Behandlungen, die im dritten Abschnitt dieses Beitrags skizziert worden sind.46 Die in diesem Zusammenhang erörterten Hauptfälle eines allenfalls geringfügigen Behandlungsnutzens sind: medizinische Wirkungslosigkeit, Eintritt der unmittelbaren Sterbephase, permanenter Bewusstseinsverlust sowie dauerhafte Angewiesenheit auf intensivmedizinische Behandlung. Damit sei selbstverständlich nicht behauptet, dass Solidargemeinschaft und behandelnde Ärzte derartige Behandlungswünsche nicht honorieren dürften. Die hiesige These lautet lediglich: Wenn Priorisierungen unvermeidlich sind, dann sind derartige Fälle vorrangige Kandidaten für eine Reduzierung des rechtsethisch gebotenen Behandlungsniveaus. Abschließend einige Bemerkungen zu der noch erheblich heikleren zweiten Fallgruppe: Eine bestimmte Behandlung lässt einen nicht unerheblichen Autonomiegewinn für den Betroffenen erwarten, die Kosten dieser Behandlung sind allerdings außergewöhnlich hoch. Lässt sich auch in einer solchen Situation ein einseitiger Behandlungsverzicht rechtsethisch legitimieren? Einigermaßen gesichert ist in dieser schwierigen Frage nur eines: die Unhaltbarkeit von Extrempositionen. Dabei handelt es sich erstens um einen utilitaristischen Ansatz, der dafür plädiert, finanzielle Ressourcen stets dorthin zu lenken, wo sie das Höchstmaß an Lebensqualität bewirken können, und der deshalb für einen weit reichenden Behandlungsverzicht bei Schwerkranken plädieren muss. Rawls wendet gegen den Utilitarismus bekanntlich ein, dieser nehme durch die Zusammenfassung aller Betroffenen zu einer kollektiven Großperson die Verschiedenheit der Menschen nicht ernst.47 Die Berechtigung dieses Ein44 Marckmann/in der Schnitten, Ethik Med 23 (2011), 306 f. – Ebenso Frey, in: Brink u. a. (Hrsg.), Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2006, S. 38; Helmchen/Kanowski/Lauter (Fn. 33), S. 155 f.; Maio (Fn. 7), S. 307, 314 f.; Taupitz (Fn. 39), S. 30. 45 Birnbacher, in: Gutmann/Schmidt (Hrsg.), Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002, S. 95; Kersting (Fn. 40), S. 46 f. 46 Ebenso Maio (Fn. 7), S. 312 f.; Schöne-Seifert/Buyx (Fn. 35), S. 221, 224 ff. 47 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 10. Aufl. 1998, S. 45.
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wandes zeigt sich an kaum einer anderen Fallgruppe klarer als an der vorliegenden: Ausgerechnet die Schwächsten werden vom Utilitarismus allein gelassen.48 In seiner Rigorosität nicht zu überzeugen vermag zweitens aber auch ein bedürfnisorientierter Ansatz. In Fortentwicklung von Rawls’ zweitem Gerechtigkeitsgrundsatz spricht dieser sich dafür aus, den Bedürftigsten – d. h. hier: den Kränksten – unabhängig vom Kriterium der Verteilungseffizienz den Vorrang einzuräumen49 und ihr Leben „grundsätzlich um jeden Preis zu retten“50. Diese Auffassung krankt an einer einseitigen Gewichtung der betroffenen Belange: Indem sie die Interessen einer Gruppe – nämlich der Kränksten – verabsolutiert, lässt sie den übrigen Solidaritätsanwärtern, die möglicherweise nur geringfügig weniger bedürftig sind, nur noch die Brosamen übrig. Nicht von ungefähr ergänzen sowohl die Utilitaristen als auch die Bedürfnistheoretiker ihre Auffassungen regelmäßig um Gesichtspunkte, die aus dem Argumentationsrepertoire gegenläufiger Theorieentwürfe stammen. Der Utilitarist Dieter Birnbacher fordert beispielsweise eine Berücksichtigung des Prinzips der Chancengleichheit aller Patienten.51 Umgekehrt räumt der Bedürfnistheoretiker Thomas Gutmann ein, dass in Fällen eines völlig unverhältnismäßigen Ressourcenbedarfs auch Erwägungen gesundheitsökonomischer Effizienz zählten.52 Es ist leicht und aus einer streng wissenschaftstheoretischen Perspektive auch vollkommen berechtigt, derartige Mischkonzeptionen als synkretistisch und inkonsistent zu beurteilen.53 Das Streben nach Einstimmigkeit ist jedoch kein Selbstzweck. Eine Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit, die um des Ziels systematischer Geschlossenheit willen die Gerechtigkeitsüberzeugungen ihrer Adressaten ignorierte, hätte ihre Aufgabe verfehlt. Diese Aufgabe besteht nicht darin, die vorhandenen Wertvorstellungen der moralischen Subjekte besserwisserisch beiseite zu schieben, sondern darin, sie zu analysieren, zu rationalisieren und – soweit wie dies ohne Verzerrungen möglich ist, aber nicht weiter – zu harmonisieren. In komplexen Verteilungsfragen, in denen unsere moralischen Intuitionen notorisch unsicher sind, kommt die Rechtsethik deshalb nicht umhin, die Existenz und Berechtigung gegenläufiger Wertungsprinzi48 Ebenso Lübbe, Ethik Med 13 (2001), 149 f.; Gutmann (Fn. 11), S. 193; Maio (Fn. 7), S. 134, 317; Marckmann/Siebert, in: Graumann/Grüber (Hrsg.), Patient – Bürger – Kunde, 2004, S. 136 f.; Schlander, in: Kick/Taupitz (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit, 2005, S. 77 f.; Schmidt/Gutmann (Fn. 15), S. 19; Tag, in: Kick/Taupitz (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit, 2005, S. 216. 49 In diesem Sinne Bobbert, in: Graumann/Grüber (Hrsg.), Patient – Bürger – Kunde, 2004, S. 166; Gutmann (Fn. 11), S. 184 ff.; ders. (Fn. 39), S. 38 ff. 50 So Gutmann (Fn. 39), S. 44. 51 Birnbacher (Fn. 45), S. 97 f. 52 Gutmann (Fn. 39), S. 45. – Ähnlich aus allgemeinphilosophischer Perspektive Nagel, Gleichheit und Parteilichkeit, 1994, S. 98, 105 f.; Parfit, in: Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit, 2000, S. 96. 53 Dies tut etwa Lübbe, in: Buyx/Schöne-Seifert (Hrsg.), Gerecht behandelt?, 2006, S. 18.
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pien anzuerkennen. In den hier interessierenden Fällen sind dies einerseits die kulturell tief verwurzelte Überzeugung, dass das verlöschende Leben besondere Achtung und einen außergewöhnlichen finanziellen Einsatz verdient, und andererseits die Einsicht, dass dieser Einsatz um der Weiterlebenden willen nicht grenzenlos sein darf. Da es nach dem soeben Ausgeführten eine Patentformel für die Auflösung dieses Konflikts nicht gibt, hat die Philosophie sich darauf zu beschränken, im Zusammenwirken mit Medizinern, Juristen und Gesundheitsökonomen die Vor- und Nachteile der in Betracht kommenden Lösungsmodelle herauszuarbeiten.54 Entscheiden – und damit die Verantwortung für die beschlossenen Einschränkungen übernehmen – muss aber letztlich eine demokratisch hinreichend legitimierte Instanz;55 die von Thomas Gutmann zu Recht beklagte „Entlastung der Politik von der Zumutung des Normativen“56 muss endlich ein Ende haben. Die konkreten Einzelmaßnahmen werden dabei kaum einmal als „alternativlos“ ausgegeben werden können.57 Umso wichtiger ist eine überzeugende Ausgestaltung der prozeduralen Seite: Der Diskussionsprozess sollte ergebnisoffen, transparent und unter möglichst weitgehender Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden.58 Vor allem aber sollte er überhaupt in Gang kommen. Bislang kann Deutschland es sich noch leisten, einseitige Therapiebeschränkungen mit lebensverkürzender Wirkung auf einen engen Kreis von Fällen zu begrenzen. Angesichts des Aufeinandertreffens weiterer medizintechnischer Fortschritte und des demographischen Wandels bedarf es aber nur geringer prophetischer Gaben, um vorherzusagen, dass es dabei nicht wird bleiben können. Es hilft deshalb nichts: Wir sollten als Gesellschaft auf die normativen – und psychischen – Herausforderungen vorbereitet sein, die uns bevorstehen. Gegenwärtig – dies konstatiere ich nicht als Rechtsphilosoph, sondern als besorgter Bürger – sind wir es nicht. 54
Ähnlich Kersting (Fn. 40), S. 60 f. Ebenso Breyer/Schultheiss, in: Wille (Hrsg.), Rationierung im Gesundheitswesen und ihre Alternativen, 2003, S. 176 f., 187; Kliemt (Fn. 43), S. 58; Kreß, Medizinische Ethik, 2. Aufl. 2009, S. 110 ff.; Maio (Fn. 7), S. 316; Marckmann (Fn. 40), 893; Prinz (Fn. 39), S. 20 f.; Strebel, in: Zimmermann-Acklin/Halter (Hrsg.), Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2007, S. 260, 262; Taupitz (Fn. 39), S. 30; Wallner, Ethik im Gesundheitssystem, 2004, S. 245; Winkler, Ethik Med 22 (2010), 98. 56 Gutmann (Fn. 39), S. 32. 57 Schmidt/Gutmann (Fn. 15), S. 20. 58 Ebenso Birnbacher (Fn. 45), S. 106; Bobbert (Fn. 49), S. 186; Fuchs, Bundesgesundheitsblatt 53 (2010), 435 f.; Gutmann (Fn. 11), S. 181; Helmchen/Kanowski/Lauter (Fn. 33), S. 152; Kersting (Fn. 40), S. 68; Kostka, in: Aufderheide/Dabrowski (Hrsg.), Gesundheit – Ethik – Ökonomie, 2002, S. 165; Mack, Ethik Med 13 (2001), 27; Maio (Fn. 7), S. 314; Marckmann, in: Brand u. a. (Hrsg.), Individuelle Gesundheit versus Public Health?, 2002, S. 185; ders., Bundesgesundheitsblatt 51 (2008), 871 f.; Neitzke, in: Brand u. a. (Hrsg.), Individuelle Gesundheit versus Public Health?, 2002, S. 175; Schöne-Seifert, in: Sass (Hrsg.), Ethik und öffentliches Gesundheitswesen, 1988, S. 148; Schultheiss, Ethik Med 13 (2001), 7 f., 11 f.; Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, 2001, S. 416, 421; Wallner (Fn. 55), S. 245; Zimmermann-Acklin, in: Zimmermann-Acklin/Halter (Hrsg.), Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2007, S. 65. 55
Sterbehilfe und Menschenwürde Von Michael Kahlo
I. Das Strafrecht der heute zumeist (noch) sog. Sterbehilfe1 gehört zu den Materien des Kriminalrechts, in denen in besonderer Weise schwierige Fragen des Allgemeinen und des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches (StGB) mit Grundlagenproblemen des Rechts und der ärztlichen Standesethik zusammenkommen. Ob und, falls ja, welche Bedeutung etwa der Patientenautonomie für eine strafgerechte Beurteilung der unter der Sammelbezeichnung „Sterbehilfe“ zusammengefassten Sachverhalte zukommt,2 war und ist, dieser Schwierigkeit entsprechend, ebenso umstritten wie etwa die Bestimmung der Handlungsform (Tun oder Unterlassen) mancher als „Ster1 Diese Bezeichnung hat sich seit langem eingebürgert und wird deshalb zunächst auch hier verwendet; im Fortgang der Untersuchung soll freilich den begründeten terminologischen Bedenken Rechnung getragen werden, welche der „Nationale Ethikrat“ in seiner Stellungnahme vom 13. Juli 2006 zu „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ formuliert und gefordert hat, die Bezeichnungen „aktive“, „passive“ und „indirekte Sterbehilfe“ durch die Begriffe „Sterbebegleitung“, „Therapie am Lebensende“, „Sterbenlassen“, „Beihilfe zur Selbsttötung“ und „Tötung auf Verlangen“ zu ersetzen; vgl. aaO. unter Ziffer 4., S. 49 – 56; siehe auch die „Empfehlungen“ des Gremiums zur Terminologie unter Ziffer 7.1., S. 96, 97; kritisch zur vorherrschenden Terminologie auch Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, Gutachten C. zum 66. Deutschen Juristentag, Stuttgart 2006, S. 60 – 62; eine abweichende Terminologie („Beenden, Begrenzen oder Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen“ an Stelle von „passiver Sterbehilfe“ und „leidensmindernde Maßnahmen“ an Stelle von „indirekter Sterbehilfe“) findet sich deswegen auch in dem von Verrel offenbar federführend mitverfassten „Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung“ (AE-StB), abgedr. in GA 2005, 584; kritisch zum Terminus „Sterbebegleitung“ (und zu Teilen des AE-StB) Neumann/ Saliger, Sterbehilfe zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung – Kritische Anmerkungen zur aktuellen Sterbehilfedebatte, HRRS 2006, 280 (280/281). 2 Schon in der Themenformulierung („Überschrift“) klar fokussiert von Verrel, aaO. Fn. 1; vgl. statt anderer ferner Otto, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, NJW 2006, 2217 ff. und, mit speziellem Hinblick auf das Institut der Patientenverfügung, SternbergLieben, Gesetzliche Regelung der Patientenverfügung – wie viel gesetzgeberischen Paternalismus verträgt die Patientenautonomie, JRE 15 (2007), 307 ff., bes. S. 309 ff. (mit wiederholtem Verweis auf das „verfassungsrechtlich garantierte, umfassende Selbstbestimmungsrecht des Patienten über seine Körperintegrität“) sowie ders., Rechtliche Grenzen einer Patientenverfügung, in: Michael Kahlo u. a. (Hrsg.), Seebode-FS (2008), S. 401 ff.; siehe dazu auch den Bericht der von der früheren Bundesjustizministerin Brigitte Zypries eingesetzten Arbeitsgruppe (BMJ-AG) vom 10. Juni 2004 unter der Überschrift „Patientenautonomie am Lebensende“.
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behilfe“ verstandener Verhaltensweisen von Ärzten oder Angehörigen,3 die Beurteilung der Beteiligungsformen in den Interaktionsverhältnissen zwischen der Person des Patienten und den für die medizinische Behandlung verantwortlichen Ärztinnen und Ärzten,4 die Frage nach Legitimität und Anwendungsbereich des Straftatbestands der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB)5 oder auch das Problem einer etwaigen Rechtfertigung grundsätzlich unrechtlicher (tatbestandsmäßiger) Tötungshandlungen bezüglich Sterbender (bisher sog. Hilfe beim Sterben) oder auch Schwerstkranker mit infauster Prognose (bisher sog. Hilfe zum Sterben). Hinzu tritt die Komplexität der Lebensphänomene, auf welche sich die Entscheidungen und Handlungsvollzüge von Patienten ebenso beziehen wie die von behandelnden Ärzten oder auch als Betreuer eingesetzten Angehörigen: Mag über den Begriff des Todes im Sinne der Bestimmungen der §§ 212 ff. StGB noch weitgehend Einigkeit bestehen,6 ist die Prognose über Krankheitsverläufe nicht selten ebenso zumindest mit unhintergehbaren 3
Vgl. dazu aktuell die unlängst vom 2. Senat gefällte Entscheidung des BGH zum Problemkreis der „Sterbehilfe“ vom 25. Juni 2010 (BGHSt 55, 191, bes. S. 200 ff.) und deren Besprechung durch Dölling, Gerechtfertigter Behandlungsabbruch und Abgrenzung von Tun und Unterlassen. Zu BGH, Urt. v. 25.6.2010 – 2 StR 454/09, ZIS 2011, 345 ff.; näher zu dieser Entscheidung nachstehend unter Ziffer IV. 4 Vgl. dazu etwa Roxin, StrafR AT II. Besondere Erscheinungsformen der Straftat, München 2003, § 25 Rn. 131 (gegen die Annahme von mittelbarer Täterschaft für den Sohn und den behandelnden Arzt im Fall von BGHSt 40, 257) und Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, München 1998, der die Tötung auf Verlangen als arbeitsteiligen Umgang mit dem Leben des Lebensmüden und § 216 StGB dabei insofern als abstraktes Gefährdungsdelikt versteht, als dieses garantieren soll, dass „der Selbsttötungswille des Lebensmüden nur dann verwirklicht wird, wenn er subjektiv vollzugsreif, das heißt vollständig aus einer Zwecksetzung des Lebensmüden begründet ist, die keiner Überprüfung durch andere mehr bedarf“ (S. 16 i. V. m. S. 22 f.); ferner Engländer, Die Teilnahme an der Tötung auf Verlangen, in: Knut Amelung u. a. (Hrsg.), Krey-FS (2010), S. 71 ff. 5 Vgl. dazu aus neuerer Zeit besonders Gierhake, Zum „ernstlichen Tötungsverlangen“ i. S. des § 216 I StGB und zum Irrtum über dessen Vorliegen, GA 2012, 291 ff., bes. S. 296 ff.; Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots. Das Menschenleben als Schutzobjekt des Strafrechts, Köln usw. 2004, bes. S. 166 ff. (und dazu die Besprechung von Otto, GA 2005, 611 f.); Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, Berlin usw. 2005, bes. S. 514 ff.; sowie die Leipziger Dissertation von Frank Müller, § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung. Versuch der Apologie einer Strafnorm, Berlin 2010, bes. S. 102 ff. – Zur Frage des Anwendungsbereichs gehört insbesondere auch das Problem, ob der Straftatbestand der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) durch unechtes Unterlassen zu verwirklichen ist; bejahend schon BGHSt 13, 162 (166) und BGHSt 32, 367 (370/371); insoweit übereinstimmend auch BGHSt 55, 191 (202). 6 Bekanntlich wird heute nahezu ausnahmslos der sog. Hirntod als der Zeitpunkt des menschlichen Todes im strafrechtlichen Sinne angesehen (vgl. dazu statt anderer nur Wessels/ Hettinger, StrafR BT/1, 36. Aufl., Heidelberg 2012, Rn. 19 ff. m. w. N.); a. A. freilich Dencker, Zum Erfolg der Tötungsdelikte. Besprechung des BGH-Urteils vom 12. 2. 1992 – 3 StR 481/ 81, NStZ 1992, 311. – Auch die genannte weitgehende Einigkeit kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Verständigung auf den Hirntod als Zeitpunkt des menschlichen Todes in erster Linie den Erfordernissen der Organtransplantation geschuldet ist; Hinweise zu den mit dem Hirntod zusammenhängenden philosophischen Problemen finden sich in der Sammelrezension von Thomas Rentsch, Der Tod im Leben. Thanatologische Ansätze der Gegenwart, PhR 2012, S. 117, bes. S. 119.
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„Rest-Unsicherheiten“ versehen wie das medizinische Urteil über das (unumkehrbare) Einsetzen eines Sterbeprozesses; auch die fundierteste Statistik vermag insofern nichts daran zu ändern, dass menschliches Sterben kein bloßes biologisches Faktum, sondern „als Akt der Hingabe des Lebens … ein wesentlich personaler Akt“ und deswegen nicht mit vergleichbarer Gewissheit erklärbar und vorherzusagen ist wie ein Kausalverlauf in der Natur.7 Misst man dem Einsetzen dieses Prozesses Bedeutung für die strafrechtliche Beurteilung des Umgangs mit letal-schwerstkranken Menschen zu,8 treten zu den Bewertungsfragen folglich auch noch Probleme medizinischer Diagnostik hinzu, deren praktische Bewältigung für die mit der Behandlung betrauten Ärztinnen und Ärzte nicht nur durch die Unklarheiten der strafrechtlichen Beurteilung,9 sondern auch durch Unsicherheiten über die einschlägige, sich fortlaufend verändernde ärztliche Standesethik und das durch diese maßgeblich (mit-)bestimmte Berufsbild des Arztes10 zusätzlich erschwert wird. 7 So die Formulierung von Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ,etwas‘ und ,jemand‘, 1. Auflage, Stuttgart 1996, hier zitiert nach der 3. Auflage 2006, S. 123 ff., speziell S. 131, der den Befund freilich mit dem kritischen Hinweis darauf verbindet, dass diese „personale Hingabe“ infolge der heute möglichen und nicht selten praktizierten Formen extremer künstlicher Lebensverlängerung vielen Menschen vorenthalten wird; vgl. dazu auch Thomas Rentsch, aaO. Fn. 6, der im Zuge seiner Besprechung des von Dominik Gross und Christoph Schweikardt herausgegebenen Sammelbandes „Die Realität des Todes. Zum gegenwärtigen Wandel von Totenbildern und Erinnerungskulturen“ (Frankfurt a. M./New York 2010) den Befund aufgreift, es verstehe „die dominierende Konzeption des Sterbens in der Moderne“ dieses „als einen passiven Vorgang (mit Begriffen wie ,verscheiden‘, ,abberufen werden‘, ,versterben‘, ,entschlafen‘)“, obwohl sich „vom Verb ,sterben‘ keine Passivform bilden“ lasse (S. 123). 8 So etwa BGHSt 42, 301 für einen Sachverhalt der „indirekten Sterbehilfe“; ähnlich BGHZ 154, 205 mit der Formulierung, es müsse die Erkrankung einen „irreversibel tödlichen Verlauf“ angenommen haben; anders dagegen BGHSt 40, 257, wo erst- und bisher einmalig Handlungen der sog. Hilfe zum Sterben ausnahmsweise als gerechtfertigt angesehen wurden; auf die Voraussetzung einer irreversibel tödlichen Erkrankung verzichtet auch BGHZ 163, 195; vgl. zu diesen „Spannungen“ in der Rechtsprechung des BGH, insbesondere zu der Divergenz zwischen BGHSt 40, 205 und BGHZ 154, 205, näher Otto, aaO. Fn. 2, S. 2218 f.; Saliger, Sterbehilfe und Betreuungsrecht, MedR 2004, 237 (240 f.); sowie Verrel, aaO. Fn. 1, C 43 ff. 9 Angesichts ihrer in mehrfacher Hinsicht problematischen Begründung (vgl. dazu näher nachstehend unter Ziffer IV.) und der vom 2. Strafsenat durch seine zweifelhafte Verneinung einer Anfragepflicht bei anderen Senaten (§ 132 Abs. 3 GVG) offensichtlich umgangenen Vorlage an den Großen Senat, ist zu bezweifeln, dass diese durch die bereits erwähnte (Fn. 3) jüngste Entscheidung des BGH vom 25. Juni 2010 (BGHSt 55, 196) behoben sind; siehe dazu auch Hans-Joachim Hirsch, Urteilsanm., JR 2011, 37 (39), sowie zum Ganzen auch nachstehend unter Ziffer V. 10 Man vergleiche dazu insbes. die – bedingt durch medizinische Entwicklungen sowie Entwicklungen der Rechtsprechung – seit 1979 mehrfach geänderten „Richtlinien“ bzw. „Grundsätze“ der Bundesärztekammer (BÄK) zur ärztlichen Sterbebegleitung (vor allem die „Richtlinien der BÄK für die Sterbehilfe“ von 1993, abgedr. in: Deutsches Ärzteblatt (DÄBl) 1993, B-1791, sowie die „Grundsätze der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung“ aus den Jahren 1998, 2004 und zuletzt 2011, jeweils abgedruckt in: DÄBl 1998, B 1852/3; DÄBl 2004, A-1298; und DÄBl 2011, A-346); siehe ferner die von der Bundesärztekammer, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin sowie dem Deutschen Hospiz- und Palliativver-
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Auch Wolfgang Frisch, der Jubilar, dem die folgenden Überlegungen in kollegialer Verbundenheit und mit den besten Wünschen gewidmet sind, hat sich in seinem eindrucksvollen wissenschaftlichen Werk – besonders im Rahmen seines Beitrags über „Leben und Selbstbestimmungsrecht im Strafrecht“11 – mit den Problemen des Strafrechts der Sterbehilfe befasst und im Hinblick auf die Konstellationen der bislang so genannten passiven Sterbehilfe, der bislang so genannten indirekten Sterbehilfe sowie der ernsthaft verlangten aktiven Tötung Todkranker, denen die faktische Möglichkeit fehlt, ihr qualvoll gewordenes, als unerträglich empfundenes Leben selbst zu beenden,12 nachdenklich-vorsichtig, aber doch eindeutig für eine Zurücknahme des Strafrechts plädiert, die auf den „in der Menschenwürde wurzelnden Kernbereich des Selbstbestimmungsrechts des einzelnen“ zu stützen sei.13 Es steht deshalb zu hoffen, dass die folgende kritische Annäherung an den aktuellen Stand des Strafrechts der Sterbehilfe sein Interesse finden und ihm, trotz des heiklen Themas, vielleicht sogar Freude bereiten wird.
II. Das Unternehmen einer solchen Annäherung kann dabei den Befund zum Ausgang nehmen, dass die von Wolfgang Frisch im Zuge seiner gerade zitierten Stellungnahme angesprochene Kategorie der Menschenwürde nicht allein von ihm für maßgebend gehalten wurde und wird, sondern auch sonst häufig, wenn nicht zumeist den Ausgangs- und Mittelpunkt der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit den Problemen der „Sterbehilfe“ sowohl in der strafgerichtlichen Rechtsprechung als auch in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur bildet.14 band 2010 erarbeitete „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen“, die eine Erweiterung des ärztlichen Berufsbildes („Ärzte, aber keine Heiler“) um die Wahrnehmung palliativmedizinischer Aufgaben zum Ausdruck bringt; siehe dazu beispielhaft etwa den Beitrag von Miguel Tamayo, Pauline Mantell und Benita Huptasch über „Professionelles Verständnis in der Palliativmedizin“, DÄBl 2012, 1829 f. (für den Hinweis auf die genannte Charta und diesen Beitrag danke ich meinem Freund und Kollegen Michael Hettinger). 11 Der Beitrag ist abgedruckt in: Dieter Leipold (Hrsg.), Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft aus deutscher und japanischer Sicht, Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen. Band 62, Heidelberg 1997, S. 103 – 125; erinnert sei an dieser Stelle aber auch an die weiteren, thematisch naheliegenden Beiträge über „Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung in ärztliche Eingriffe“, in: Wolfgang Frisch (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Medizinrechts, Baden-Baden 2006, S. 33 – 70 (dort bes. S. 60 – 62) sowie „Zum Unrecht der sittenwidrigen Körperverletzung (§ 228 StGB)“, in: Georg Küpper u. a. (Hrsg.), Hirsch-FS (1999), S. 485 – 506; insbesondere die in dem zuletzt genannten Beitrag von Wolfgang Frisch entwickelte Argumentation wird im Folgenden (unter Ziffer V.) noch genauer aufgenommen werden. 12 Vgl. zur Erläuterung der damit angesprochenen Sachverhalte Wessels/Hettinger, aaO. Fn. 6, Rn. 31 ff. sowie den kurzen, aber informativen Überblick bei Klesczewski, StrafR BT-1: Straftaten gegen die Person, Leipzig 2010, S. 50 ff. 13 So aaO. Fn. 11, S. 108; praktisch gleichlautend S. 106, 107 und 109. 14 Auch in der Ärzteschaft wurde und wird der Problembereich der (ärztlichen) Sterbebegleitung nicht zuletzt wesentlich unter Würdegesichtspunkten betrachtet; vgl. dazu nur den 1.
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1. Wendet man sich zum Beleg für diesen Befund zunächst der Rechtsprechung des BGH zu, findet sich eine erste Verwendung der Kategorie der Menschenwürde in der Entscheidung des 3. Strafsenats vom 4. Juli 1984 (BGHSt 32, 367). Dort wird zur Bestimmung der Pflichten des Arztes gegenüber einer bewusstlosen Suizidpatientin festgestellt, dass es „keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis gibt“, sondern die Grenze ärztlicher Behandlungspflicht vielmehr durch „die an der Achtung des Lebens und der Menschenwürde ausgerichtete Einzelfallentscheidung“ zu ziehen sei, welche im Fortgang der Entscheidungsgründe dann als „ärztliche Gewissensentscheidung“ beschrieben wird.15 Auf den Anspruch Schwerstkranker, „unter Beachtung ihres Selbstbestimmungsrechts in Würde sterben zu dürfen“, hebt die Entscheidung desselben Senats vom 8. Mai 1991 zunächst ab, um zu begründen, warum eine von der angeklagten Krankenschwester heimlich, aber zur Vermeidung als „irrsinnig“ bezeichneter ärztlicher Wiederbelebungsaktivitäten verabreichte tödliche Injektion zwar eine Tötungshandlung war, nicht aber „heimtückisch“ oder „aus niedrigen Beweggründen“ erfolgte (BGHSt 37, 376); im Anschluss daran wird dann ausgeführt, dass Sterbehilfe „nur entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen durch die Nichteinleitung oder den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen zulässig“ sei, „um dem Sterben – ggfs. Unter wirksamer Schmerzmedikation – seinen natürlichen, der Würde des Menschen gemäßen Verlauf zu lassen“.16 Vor allem aber steht die Menschenwürde im Mittelpunkt der „Dolantin-Entscheidung“ desselben Senats vom 15. November 1996 (BGHSt 42, 301),17 in der für einen Fall ärztlich gebotener schmerzlindernder Medikation bei einem sterbenden Patienten, die als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann, neben einer etwaigen Tatbestandslosigkeit der praktizierten „inLeitsatz der oben (Fn. 10) bereits erwähnten „Charta“, wo von einem Recht jedes Menschen „auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen“ die Rede ist; siehe ferner den Artikel von Gisela Klinkhammer und Eva Richter- Kuhlmann, DÄBl 2012, B-1828: „Wir werden uns dafür einsetzen, ein Sterben unter würdigen Bedingungen zu ermöglichen.“ – Gewiss nicht zufällig firmiert auch eine der großen kommerziellen Sterbehilfeorganisationen unter dem Namen „DIGNITAS“. 15 So BGHSt 32, 367 (379 – 381), kursiv im Original; um eine Kritik des darin liegenden „ärztlichen Paternalismus“ habe ich mich in meinem Beitrag „Paternalismus im deutschen Strafrecht der Sterbehilfe?“ (in: Michael Anderheiden u. a. (Hrsg.), Paternalismus und Recht. In memoriam Angela Augustin (1968 – 2004), Tübingen 2006, S. 259 ff., bes. S. 370 – 372) bemüht. 16 Vgl. BGHSt 37, 376 (378 f.). 17 Dagegen ist in BGHSt 40, 257 (ausdrücklich in Bezug genommen in BGHZ 154, 205, weil die strafgerichtlich vorgenommene „objektive Eingrenzung zulässiger Sterbehilfe … auch für das Zivilrecht verbindlich“ sei, aaO., S. 215) nur von der Aussicht auf ein „nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdiges Leben“ die Rede (S. 263); ein „menschenwürdiges Sterben“ bzw. ein „menschenwürdiger Tod“ konnte dort deshalb nicht in den Blick kommen, weil es in der Entscheidung bekanntlich um einen Fall der „Hilfe zum Sterben“ ging; vgl. zur Kritik des auch in dieser Entscheidung zum Ausdruck gekommenen „rechtlichen Paternalismus“ nochmals Verf., aaO. Fn. 15, S. 272 ff.
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direkten Sterbehilfe“ deren Rechtfertigung durch die Notstandsregelung des § 34 StGB in Betracht gezogen wird, weil „die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen“ ein höherwertiges Rechtsgut sei „als die Aussicht, unter schwersten, insbesondere sog. Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen“.18 2. Auch im (straf-)rechtswissenschaftlichen Schrifttum ist der Begriff der Menschenwürde bis heute wiederholt für die Beurteilung der Sterbehilfe-Sachverhalte herangezogen worden.19 Besonders Harro Otto hat sie ins Zentrum seines zum 56. Deutschen Juristentag (Berlin 1986) verfassten Gutachtens „Recht auf den eigenen Tod? Strafrecht im Spannungsverhältnis zwischen Lebenserhaltungspflicht und Selbstbestimmung“ gestellt. Sein eindringlicher Gedankengang soll deswegen hier pars pro toto aufgenommen werden. Dieser beginnt damit, die Frage nach einem etwaigen Recht auf den eigenen Tod auf das Problem der Selbsttötung als einer möglichen Gestalt des selbstgewählten („eigenen“) Todes zu konzentrieren20 und kommt dabei aufgrund verfassungsrechtlicher und strafrechtlicher Erwägungen zu dem Zwischenergebnis, dass die Untersuchung eines etwaigen Rechts auf Selbsttötung zu keiner einheitlichen, weiterweisenden Antwort führe, so dass man auf die umfassendere Ausgangsfrage danach zurückverwiesen werde, „ob es ein Recht des einzelnen auf den ihm als Person eigenen, menschenwürdigen Tod gibt und in welchem Sachverhalt sich ein solches Recht ver18
So BGHSt 42, 301 (305). Vgl. aus der verfassungsrechtlichen Literatur statt anderer etwa Peter Häberles Plädoyer für ein aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitetes „Recht, in Würde zu sterben“, in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, Rn. 96 f. sowie die Beiträge von Hufen, In dubio pro dignitate. Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens, NJW 2001, 849 (850/851) und Holzhauer (Von Verfassungs wegen: Straffreiheit für passive Sterbehilfe, ZRP 2004, 41 ff.), der vom Recht auf Achtung der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG auch „ein Sterben in Würde“ umfasst sieht und deswegen der Ansicht ist, mit dem Anspruch auf „passive Sterbehilfe“ fordere der Patient „sein subjektives Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG ein, das dem objektiven Grundwert des Lebens überlegen ist“ (S. 43); ausführlich und eingehend zur Bedeutung der Menschenwürde speziell für die aktive Sterbehilfe Jörg Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, Berlin 2002, mit Bespr. von Saliger, GA 2005, 615 ff. – Für das strafrechtswissenschaftliche Schrifttum sei hier etwa verwiesen auf den Beitrag von Duttge, Lebensschutz und Selbstbestimmung am Lebensende, ZfL 2004, 30 ff., der für die Berücksichtigung einer auf die prinzipielle Fähigkeit zur sinnstiftenden „Selbstgesetzgebung“ gestützten Menschenwürdegarantie als „normative Bekräftigung eines von bloßer Willkür des einzelnen unabhängigen Lebensschutzes“ plädiert (S. 33/34); siehe auch Saliger, aaO. Fn. 8, S. 237/238, der aus den „Leitprinzipien Sterbeautonomie- und Würdeschutz unter Wahrung des Lebensschutzes“ (S. 241) allerdings zu abweichenden Schlussfolgerungen gelangt (vgl. S. 240 ff.). 20 Diese für sein (und auch das vorliegend behandelte) Thema zweifelsohne wichtige Konstellation muss hier aus Platzgründen unerörtert bleiben. Dies mag sich auch der Sache nach immerhin durch den Verweis darauf begründen lassen, dass es in den Fällen der „Sterbehilfe“ typischerweise nicht um eigenhändige und (auch) insofern Selbst-Tötung (eine Ausnahme bildet insofern BGHSt 32, 367), sondern um Pflichten und Rechte im Umgang mit krankheits- oder unfallbedingtem und insofern „schicksalhaftem“ Sterben geht. 19
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wirklicht“.21 Ein solches Recht wird unter Aufnahme von Überlegungen der Existenzphilosophie Martin Heideggers,22 vor allem aber gestützt auf die unverlierbare, unverzichtbare und unantastbare Menschenwürde jedes einzelnen als Person, die ein Recht auf Würde im Sterben einschließe, jedenfalls für die Situationen angenommen, in denen „auch nach den Wertvorstellungen der Rechtsgesellschaft die Übernahme des Todes durch das Individuum als eine auf Verwirklichung von Würde gerichtete Entscheidung angesehen werden kann“.23 Von dieser Basis wird sodann das angenommene Recht auf einen menschenwürdigen Tod, zunächst für die Konstellation „definitiv gesetzter Todesursache und eines in absehbarer Zeit ablaufenden Sterbeprozesses“,24 wie folgt konkretisiert: Sterbehilfe ohne Lebensverkürzung ist stets (im weiteren Sinne) gerechtfertigt, sofern der Kranke aufgrund vorangegangener Aufklärung wirksam in die Behandlung eingewilligt hat;25 der Verzicht auf eine lebensverlängernde Therapie oder der Abbruch einer aufgenommenen lebensverlängernden Therapie ist – auch wenn der Abbruch durch Tun bewirkt wird – als „passive Sterbehilfe“ ebenfalls gerechtfertigt, sofern sich das ärztliche Handeln als Achtung des ausgeübten Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen und damit von dessen Menschenwürde darstellt oder sofern der behandelnde Arzt die Entscheidung über den Verzicht oder den Abbruch in eigener Verantwortung treffen musste und unter der Hinsicht der Menschenwürde des Patienten verantwortungsbewusst getroffen hat, sofern dieser nicht (mehr) in der Lage war, den eigenen Willen rechtswirksam zu äußern;26 die schmerzlindernde aktive Sterbehilfe mit lebensverkürzender Nebenfolge („indirekte Sterbehilfe“) sei, sofern sie dem (mutmaßlichen) Willen des Patienten entspricht, durch § 34 StGB gerechtfertigt, weil in der darin liegenden Entscheidung für ein humanes Sterben die Menschenwürde des Betroffenen geachtet wird;27 für die verbleibenden, darüber hinausgehenden Handlungen „direkter Sterbehilfe“ (Beendigung von tödlichen Leiden durch aktivtätige Tötung) soll eine Rechtfertigung durch § 34 StGB im Grundsatz nicht, in extremen Ausnahmesituationen aber begründet sein, in denen „die Achtung menschlicher Würde der Achtung des Lebens vorgeht, weil der Sterbeprozess in ein Stadium gelangt ist, in dem der Schmerz jeden anderen Bewusstseinsinhalt verdrängt und es 21
Vgl. Otto, Recht auf den eigenen Tod?, München 1986, D 11 – 21. Vgl. aaO., D 23 m. w. N. 23 Aao., D 24 – 27 m. w. N. bes. in Fn. 60 und 61. 24 AaO., D 29 – 71. Die strafrechtliche Untersuchung dieser Situation bildet zu Recht das „Herzstück“ der Überlegungen Ottos. 25 Vgl. aaO., D 30 – 34; zu der „Ausnahmesituation“, dass zu befürchten steht, der Betroffene werde die grundsätzlich gebotene Aufklärung nicht verkraften, siehe D 33 f. – Von Rechtfertigung „im weiteren Sinne“ ist hier deswegen die Rede, weil Otto die umstrittene Frage, ob der lege artis vorgenommene ärztliche Eingriff den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, ausdrücklich offen lässt. 26 Vgl. aaO., D 34 – 51 und dort den mehrfachen Hinweis darauf, dass dem Betroffenen andernfalls ein menschenwürdiger Tod verweigert würde. 27 So aaO., D 54 – 58, mit Überlegungen auch für die „Ausnahmesituation“, dass der Betroffene nicht (mehr) in der Lage ist, einen rechtsverbindlichen Willen zu äußern (D 57/58). 22
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nur noch ein Frage der Zeit ist, bis der Betroffene der Unerträglichkeit der Schmerzen erliegt“;28 „außerhalb dieses engen Grenzbereichs des schmerzbedingt drohenden oder schon eingetretenen Persönlichkeitsverlusts“ könne eine Rechtfertigung nicht eingreifen, jedoch sei de lege ferenda für weitere Ausnahmefälle der ernsthaft verlangten Tötung unheilbar Todkranker, die schmerzbedingt in ihrem Leben keinen Sinn mehr zu sehen vermögen, eine Vorschrift in das StGB aufzunehmen, die ein Absehen von Strafe ermöglicht.29 – Auch in der Situation nicht definitiv gesetzter Todesursache könne das Recht auf einen menschenwürdigen Tod Ausnahmen von der Strafbarkeit begründen,30 und zwar zum einen in Konstellationen des Fehlens einer in absehbarer Zeit zum Tode führenden Ursache,31 zum anderen in Fällen einer nicht irreversibel gesetzten Todesursache;32 auch für diese Situation könne beispielsweise „ein Absehen von Strafe in Anlehnung an §§ 59, 60 StGB oder ein Absehen von der Erhebung einer Anklage“ (§§ 153, 153 b StGB) in Betracht kommen.33 Trotz der von ihm selbst für nur eingeschränkt tauglich und angemessen erachteten Institute des Absehens von Strafe oder Anklageerhebung und des bereits vermerkten Fehlens einer strafgesetzlichen Bestimmung für (weitere) Ausnahmefälle der ernsthaft verlangten Tötung unheilbar Todkranker, die schmerzbedingt in ihrem Leben keinen Sinn mehr zu sehen vermögen, hielt Otto eine Strafgesetzesänderung, insbesondere auch des von ihm prinzipiell als legitim erachteten Straftatbestands der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), nicht für erforderlich, da zu befürchten stehe, dass diese „eine Problemerörterung, die noch keineswegs abgeschlossen ist, sachwidrig akzentuiert.“34
28 So aaO., D 58 – 60, mit einem Fallbeispiel, in dem ein LKW-Fahrer, der nach einem Unfall unrettbar eingeklemmt bei lebendigem Leibe zu verbrennen droht, bereits schlimmste, lebensgefährliche Verbrennungen erlitten hat und seinen Beifahrer anfleht, ihn zu töten, woraufhin dieser ihn erschlägt (D 60). 29 Aao., D 60/61 m. w. N. in Fn. 47. 30 Vgl. aaO., D 72 – 89. 31 Angeführt werden hier etwa Fälle, die der „passiven Sterbehilfe“ deshalb vergleichbar sind, weil der Betroffene die Fähigkeit, Bewusstsein zu bilden, zu verlieren droht oder schon verloren hat, jedoch durch die Zuführung von Nährstoffen weiter am Leben gehalten werden kann (aaO., D 72/73), sowie (aktive) Tötungen auf Verlangen durch schmerzlindernde und dabei lebensverkürzend wirkende Maßnahmen bei schwersten Schmerzen und Leiden oder durch liebendes Mitleid motivierte Tötungshandlungen an Menschen, deren physische Grundstrukturen derart weitgehend reduziert sind, dass sinnvolles (durch Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit sowie die Fähigkeit, körperliche Eigentätigkeit zu entfalten gekennzeichnetes) Menschsein praktisch unmöglich ist und auch der Betroffene keinen Sinn mehr in seinem Leben zu sehen vermag (aaO., D74, 75). 32 Vgl. dazu aaO., D 87 – 89. 33 So aaO., D 75. 34 Vgl. aaO., D 90 – 93; siehe auch D 99, wo die Ablehnung einer Strafgesetzesänderung unter die Bedingung gestellt wird, dass sich die das Selbstbestimmungsrecht des freiverantwortlich handelnden Suizidenten missachtende Rechtsprechung des BGH ändert.
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3. Angesichts der Entwicklung, welche die strafgerichtliche Rechtsprechung seit 1986 genommen hat,35 sowie der intensiven, seither geführten (straf-)rechtswissenschaftlichen Diskussion um Grund und Grenzen zulässiger Sterbehilfe,36 erscheint es freilich zweifelhaft, ob ein Verzicht auf eine insbesondere strafgesetzliche Regelung nach wie vor sinnvoll ist.37 Besonders aber fragt es sich, ob der Versuch, die von Harro Otto mustergültig exponierten strafrechtlichen Probleme der Sterbehilfe de lege lata aufgrund von Argumentationen zu bewältigen, welche die Kategorie der Menschenwürde ins Zentrum der Begründung stellen, tatsächlich weiterführend ist. Eine Kritik des Menschenwürde-Ansatzes hat nämlich zunächst zu bedenken, dass dieser Ansatz, also der Ausgangspunkt der Menschenwürde, klärend nur wirken kann, insofern über den (verfassungsrechtlichen) Begriff der Menschenwürde, besonders angesichts des hier behandelten Problembereichs, zureichend Klarheit im Verfassungsrecht besteht. Das aber scheint zumindest zweifelhaft.38 Nicht nur, dass die verfassungsrechtliche Dogmatik der Menschenwürde bereits in ihren Grundlagen seit einiger Zeit ganz offenbar im Umbruch ist,39 sondern es werden im Schrifttum auch durchaus gewichtige Ein35 Vgl. dazu näher Verrel, aaO. Fn. 1, C 15 – 52 zu „Fortschritten und offenen Fragen in der Strafrechtsprechung“, bes. etwa C 24 (zu fortbestehenden Rechtsunsicherheit bei Bewusstseinsverlust) sowie C 31 – 34 (zur „indirekten Sterbehilfe“). 36 Verwiesen sei hier nur auf die ausführlichen weiteren Befassungen mit dem Thema im Rahmen des 63. Deutschen Juristentages (Leipzig 2000), dort speziell zu den zivilrechtlichen, namentlich betreuungsrechtlichen Problemen der Sterbehilfe, sowie des 66. Deutschen Juristentages (Stuttgart 2006) zur Bedeutung der Patientenautonomie für das Strafrecht der Sterbehilfe. 37 Bekanntlich hat der Gesetzgeber in Form des am 1. 9. 2009 in Kraft getretenen 3. BetrÄndG vom 29. 7. 2009 (BGBl I 2286) bislang lediglich für das Privatrecht gesetzliche Bestimmungen getroffen (§§ 1901 a ff. BGB); näher dazu nachstehend unter Ziffer IV.; näher zur aktuellen strafrechtspolitischen Debatte Heinz Schöch/Torsten Verrel, Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AE-StB), GA 2005, 553 ff. 38 Zutreffend vermerkt von Duttge, aaO. Fn. 19, S. 33. 39 Vgl. dazu zunächst die bekannte und andauernde Kontroverse um das Grundverständnis der Menschenwürde als einer absoluten Rechtskategorie zwischen Matthias Herdegen (siehe zu dessen Position etwa seine Kommentierung zu Art. 1 GG in Roman Herzog u. a. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, begründet von Theodor Maunz und Günter Dürig, Stand: 55. Lfg., München 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 4, 46 ff., 73; ferner ders., Die Garantie der Menschenwürde: absolut und doch differenziert?, in: Rolf Gröschner/Oliver Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, Tübingen 2009, S. 93 ff.) und Ernst-Wolfgang Böckenförde (Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, Blätter für deutsche und internationale Politik 2004, 1216 ff.); vgl. aber auch die Diskussion um die inhaltliche und verfassungssystematische Bedeutung des Art. 1 GG (siehe dazu Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung: Zur Dogmatik des Art. 1 GG, Tübingen 1997, der den Verfassungsrechtsbegriff der Menschenwürde als „Recht auf Rechte“ bestimmt (S. 501 ff.); ders., Die Menschenwürde als Recht auf Rechte – die missverstandene Botschaft des Bonner Grundgesetzes, ARSP-Beiheft Nr. 101 (2004), S. 49 ff.; ders., Die normative Unantastbarkeit der Menschenwürde, in: Rolf Gröschner/ Oliver Lembcke (Hrsg.), aaO., S. 69 ff.), in der sogar umstritten ist, ob es sich bei der Menschenwürdegarantie des GG um ein Grundrecht oder um ein objektives Prinzip handelt (vgl. für die eine Ansicht etwa Herdegen, aaO., S. 104 m. w. N. sowie Wolfram Höfling, Unantastbare
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wände gegen die Relevanz der Menschenwürde für das Problem der Sterbehilfe angeführt,40 unter denen die Bedenken bezüglich der für zweifelhaft erachteten Verknüpfung zwischen der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und dem vermeintlichen Recht auf einen menschenwürdigen Tod41 sowie der Einwand der Unbestimmtheit der Rede vom „Sterben in Würde“ besonders ernst zu nehmen sind.42 Was genau man sich unter dem Begriff des „menschenwürdigen Todes“ vorzustellen hat, ist in der Tat bislang nicht zureichend geklärt. Dass diese Unbestimmtheit schwerlich zu beheben ist, ergibt sich, zweitens, aus einer näheren Betrachtung der Sterblichkeit des Menschen als „endliches Vernunftwesen“, die diese in Verbindung setzt zu dem Gehalt der Menschenwürdegarantie gemäß Art. 1 Abs. 1 GG, soweit sich diese, ideengeschichtlich nicht zuletzt unter Aufnahme von Einsichten der kantischen praktischen Philosophie, bis heute ausgebildet hat.43 Es Grundrechte. Ein normlogischer Widerspruch? Zur Dogmatik des Art. 1 Abs. 1 GG, aaO., S. 111 ff.; „klassisch“ für die Gegenansicht („objektives Verfassungsprinzip“) Günter Dürig, Das Grundrecht der Menschenwürde. Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art. 19 Abs. II des Grundgesetzes, AöR 81 (1956), 117, bes. S. 118 ff.; ebenso Enders, aaO., S. 501 ff.); zusammenfassend zur aktuellen Diskussion um eine überzeugenden Begründung der Menschenwürde als (Verfassungs-)Rechtsbegriff Herdegen, Deutungen der Menschenwürde im Staatsrecht, in: Gerd Brudermüller/Kurt Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde. Begründung, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008, S. 57 ff.; siehe zur philosophischen Bestimmung der Menschenwürde Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Scheidewege 15 (1985/86), 20 ff., der die Menschenwürde als einen „transzendentalen Begriff“ versteht, der „eine Begründung für so etwas wie Menschenrechte überhaupt“ enthält, und darauf hinweist, dass der Begriff nur schwer operationalisierbar sei, wie die Zweideutigkeit der Rede von der „Unantastbarkeit“ zeige, von der nicht ohne weiteres klar sei, ob sie meint, die Menschenwürde könne oder dürfe nicht angetastet werden – eine Zweideutigkeit, die ein Indiz dafür sei, dass der Begriff „in einem Bereich angesiedelt ist, der dem Dualismus von Sein und Sollen vorausliegt“ (S. 21/22). 40 Besonders drastisch in diesem Zusammenhang die Formulierung im „Kommentar“ von Steffen, Noch einmal: Selbstverantwortetes Sterben?, NJW 1996, 1581, der den Lebensschutz und die Menschenwürde als „diskurserstickende Killervokabeln“ bezeichnet. 41 Vgl. dazu Höfling, Forum: Sterbehilfe zwischen Selbstbestimmung und Integritätsschutz, JuS 2000, 111 (114) m. w. N.; Landau, Heiligkeit des Lebens und Selbstbestimmung im Sterben, ZRP 2005, 50 ff., der u. a. auf die „lebensbejahende Tendenz“ im Grundrechtskatalog des GG sowie darauf hinweist, dass die Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG für die Unveräußerlichkeit bestimmter höchstpersönlicher Rechtsgüter spreche, zu denen in erster Linie das menschliche Leben zähle (S. 51); siehe auch Bernsmann, Der Umgang mit irreversibel bewusstlosen Personen und das Strafrecht, ZRP 1996, 87 (91). 42 Vgl. dazu nochmals Landau, aaO. Fn. 41: „Schier grenzenlos erscheint der Begriff des ,Sterbens in Würde‘.“ 43 Ausdrücklich gegen eine solche Einbeziehung vorpositiver Überlegungen Herdegen, aaO. Fn. 39, S. 100 – 102 mit dem Diktum: Leitbegriffe der Verfassung wie die Menschenwürde seien ausschließlich „Begriffe des positiven Rechts“, die mittels juristischer Methodik, und nicht durch eine „neue Naturrechtslehre“ oder eine „meta-juristische Offenbarungslehre“ zu bestimmen seien; ähnlich ders., aaO. Fn. 39, S. 58 – 60, mit dezidierter Ablehnung einer Bezugnahme auf Kants praktische Philosophie, weil die Anleihen bei dieser eher aus der „Tugendlehre“ schöpften, wegen angenommener Schwächen der kantischen Rechtslehre (als solche werden eine angeblich kategorische Absage Kants an jede Form der „humanitären Inter-
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zeigt sich dann nämlich, dass der Bereich, auf den die Menschenwürde sich als Rechtsbegriff bezieht, derjenige menschlicher Handlungen ist, welche die Wirklichkeit mit anderen gestalten. Für diesen Bereich bildet die Menschenwürde „ein Abwehrrecht gegen andere“ und ist „zugleich eine persönliche Pflicht der Selbstrealisievention“ sowie Kants absolute Straftheorie angeführt) sowie aufgrund der Vieldeutigkeit der „hochgeschätzten Objektformel in der Kant’schen Formulierung“ (S. 59 unten/60). – Aber diese Begründungen tragen die vorgetragene Zurückweisung nicht: So lässt die praktische Philosophie Kants sich schwerlich als „Offenbarungslehre“ disqualifizieren; ferner trifft es nicht zu, dass die kantische Menschenwürde-Konzeption vornehmlich in der „Tugendlehre“ entfaltet sei, vielmehr hat Kant seine Würdebegründung vor allem zum einen im „Naturrecht Feyerabend“ von 1784 (vgl. dazu Hinske, Ein unbeachtet gebliebener Kommentar zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1784, in: Steffen Dietzsch/Udo Tietz (Hrsg.), Transzendentalphilosophie und die Kultur der Gegenwart, Lehrke-FS (2012), S. 107 ff.; ders., Würde als Schlüsselbegriff in der Philosophie Kants, in: Vanda Fiorillo/Michael Kahlo (Hrsg.), Was ist und wozu Menschenwürde im Recht der europäischen Moderne?, Gedächtnisschrift für Mario A. Cattaneo, erscheint demnächst; siehe auch Philipp-Alexander Hirsch, Kants Einleitung in die Rechtslehre von 1784, S.VI//VII (Abdruck der ersten Seite der Vorlesungsnachschrift „Naturrecht Feyerabend“) sowie S. 93), zum anderen in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (GMS) und damit in einer Schrift vorgetragen, die systematisch als Grundlage seiner gesamten praktischen Philosophie, also der Ethik und der Rechtslehre, zu verstehen ist (grundlegend dazu Rainer Zaczyk, Einheit des Grundes, Grund der Differenz von von Moralität und Legalität, JRE 14 (2006), S. 311 ff.; klärend ferner Hariolf Oberer, Sittlichkeit, Ethik und Recht bei Kant, JRE 14 (2006), S. 259 ff; sowie speziell zum systematischen Zusammenhang der praktischen Philosophie Kants Regina Harzer, Über die Bedeutsamkeit des kategorischen Imperativs für die Rechtslehre Kants, aaO., S. 225 ff.; weiterführend zur Relevanz der GMS für den zu bildenden Rechtsbegriff der Menschenwürde auch Philipp-Alexander Hirsch, aaO., S. 20 i. V. m. S. 22 und insbesondere Kurt Seelmann, Menschenwürde und die zweite und dritte Formel des Kategorischen Imperativs. Kantischer Befund und aktuelle Funktion, in: Gerd Brudermüller/Kurt Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde. Begründung, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008, S. 67 ff.; daher unzutreffend für eine Trennung des Sittengesetzes und mit diesem der Würde von Recht und Politik Dietmar von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, in: ders., Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, Paderborn 2009, S. 9 ff., bes. S. 25/26); zu Recht a. A. als Herdegen daher auch Luf, Der Grund für den Schutz der Menschenwürde – konsequentialistisch oder deontologisch, aaO., S. 43 ff., der die Bedeutung der kantischen, vorstaatlichen Menschenwürde-Konzeption für jeden Rechtsbegriff der Menschenwürde herausarbeitet (vgl. S. 46 ff. einerseits, S. 51 ff. zur „Unhintergehbarkeit ethischer Grundlagen im Rahmen rechtlich-institutioneller Gewährleistungen der Menschenwürde“ andererseits); ähnlich schon ders., Menschenwürde als Rechtsbegriff. Überlegungen zum Kant-Verständnis in der neuen deutschen Grundrechtstheorie, in: Michael Kahlo u. a. (Hrsg.), E. A. Wolff-FS (1998), S. 307 ff.; und dass die kantische „Objektformel“, die ja bekanntlich auch das BVerfG wiederholt verwendet hat (vgl. nur BVerfGE 30, 1 (25/26) – „Abhörurteil“; BVerGE 45, 187 (227 f.) – „Lebenslange Freiheitsstrafe I“; BVerfGE 72, 105 (115 f.) – „Lebenslange Freiheitsstrafe II“; sowie BVerfGE 87, 209 (228)), vieldeutig ist, disqualifiziert diese ganz offensichtlich nicht, sondern verweist nur auf die Aufgabe der Konkretisierung, die eine grundlegend-allgemeine Kategorie wie die der „Menschenwürde“ nach jeder Konzeption erfordert; für eine Auseinandersetzung mit der angeblich kategorischen Absage Kants an jede Form der „humanitären Intervention“ sowie vor allem mit der von Herdegen anscheinend für grundsätzlich defizitär gehaltenen absoluten Straftheorie Kants fehlt hier der Raum; deshalb an dieser Stelle nur so viel: Begründet wird das vorgebliche Defizit nicht, und eine solche Begründung hätte gewiss auch die neueren Ansätze zur Rezeption und Fortentwicklung dieser Theorie zu berücksichtigen.
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rung“.44 Dementsprechend formuliert das BVerfG im Hinblick auf die gewiss erforderliche Konkretisierung der vorstehend (Fn. 43) bereits erwähnten Objektformel, für die Annahme einer Menschenwürdeverletzung müsse ein Mensch „einer Behandlung ausgesetzt sein, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt … Die menschenwürdeverletzende Behandlung … muss also Ausdruck der Verachtung des Wertes sein, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine ,verächtliche Behandlung‘ sein“.45 Um eine Form der „Behandlung“ geht es beim Sterben aber gerade nicht. Der Tod – und mit ihm auch die Möglichkeit eines mit Schmerzen verbundenen, unter Umständen qualvollen Sterbens – ist mit der menschlichen Existenz vielmehr ebenso ursprünglich verbunden wie die menschliche Würde selbst. Dann aber kann das schicksalhafte, sei es auch qualvolle Sterben, schwerlich als eine Verletzung der Menschenwürde begriffen werden.46 Und schließlich, drittens, wirft die Auffassung, das Recht auf möglichst schmerzfreies Sterben sei Element der Menschenwürde der Person, die (scil.: die Menschenwürde) deshalb im Zusammenhang der die Rechtfertigung gemäß § 34 StGB mittragenden Abwägung gewissermaßen zugunsten der Eingriffserlaubnis maßgeblich zu berücksichtigen sei, bei näherem Hinsehen doch sehr viel mehr Probleme auf als dies bislang bedacht zu sein scheint. So ist es nach dem Sinn und Zweck der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe als Handlungs- und Eingriffsbefugnisse durchaus schon zweifelhaft, ob § 34 StGB auf selbstbezügliche („intrapersonale“) Konfliktlagen – hier: zwischen dem Recht auf Leben und auf ein „menschenwürdiges Sterben“ ein und derselben Person – überhaupt anzuwenden ist.47 Auch lässt sich angesichts des Umstandes, dass die verfassungsrechtlich durch Art. 1 Abs. 1 GG garantierte 44 So zutreffend Reinhard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?, Hamburg 2010, S. 215 ff. (Zitat von S. 216); klärend zur Bedeutung der praktischen Philosophie Kants für ein angemessenes Verständnis der Menschenwürde als Rechtsbegriff auch Gerhard Luf, aaO. Fn. 43; siehe auch ders., Menschenwürde in der Philosophie des Deutschen Idealismus, ARSP Beiheft Nr. 101 (2004), S. 82 ff. (mit speziellem Blick auf Fichte und Hegel). 45 So etwa BVerfGE 30, 1 (25/26) – „Abhörurteil“; kursiv nicht im Original. 46 Etwas anderes ließe sich allenfalls von der Grundlage eines Rechtsbegriffs der Menschenwürde denken, der diesen als ursprünglich intersubjektiv konstituiert, also originär in Anerkennungsleistungen Anderer wurzelnd, begründet, die auch die Form von Hilfeleistungen annehmen können, zu denen die Beteiligten auch im Rahmen der fortschreitenden, insbesondere palliativmedizinischen Möglichkeiten originär verbunden sind; nur dann könnte nämlich auch die Vorenthaltung solcher Leistungen als Würdeverletzung zu beurteilen sein, insofern dadurch die ursprüngliche Konstitutionsleistung verweigert wird. Ein solches Verständnis der Menschenwürde als Rechtsbegriff (vgl. in diesem Sinne besonders Hasso Hofmann, Das Versprechen der Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 ff. sowie, speziell im Hinblick auf die Sterbehilfeproblematik, dessen „Schüler“ Antoine, aaO. Fn. 19, der den Ansatz einer „sozialen Anerkennungstheorie der Menschenwürde“ auf diese Problematik des „erlöschenden Lebens“ angewendet hat; siehe zur Kritik des Ansatzes etwa Böckenförde, aaO. Fn. 39, S. 1220/1221) hat sich aber bis heute im Verfassungsrecht nicht durchsetzen können. 47 Mit beachtlichen Gründen gegen eine Anwendbarkeit Engländer, Von der passiven Sterbehilfe zum Behandlungsabbruch, JZ 2011, 513 (517); klärend zu Bedeutung, Funktion und nicht zuletzt System der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe als Ausnahmeerlaubnisnormen Michael Köhler, StrafR AT, 1. Auflage 1997, S. 235 ff.
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Menschenwürde von der (Ko-)Existenz, also vom Leben der Person, ausgeht, dieses also zur Basis hat, mit gutem Grund anzweifeln, dass die gesetzlich vorgeschriebene Abwägung tatsächlich zwingend zu dem geforderten „wesentlichen Überwiegen“ der Menschenwürdegarantie dem Lebens(grund-)recht gegenüber führt.48 Genau darin, ein solches Überwiegen zu ermöglichen und zu begründen, liegt aber letztlich Sinn und Zweck des Menschenwürde-Arguments.49 Vor allem aber hat die Annahme, das Recht auf möglichst schmerzfreies Sterben und damit auch auf (ärztliche) Sterbehilfe sei auf der Menschenwürde zu basieren, am Ende Konsequenzen, die über die Begründung einer angenommenen Rechtfertigung von Sterbehilfehandlungen, die das Leben eines Patienten sicher, wahrscheinlich oder möglicherweise verkürzen, weit hinausgehen. Von diesen sei hier insbesondere folgende benannt:50 Da solche Handlungen ihren rechtlichen Grund in dem Gebot der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG hätten, verstieße die Bestimmung des § 216 StGB, insoweit sie (auch) solche Handlungen als Unrechtstypus strafbewehrt verbietet, gegen ebendieses Gebot und wäre deshalb insofern verfassungswidrig. Das aber wird als Konsequenz so nicht vertreten, sondern es wird die Sterbehilfekonstellation ganz überwiegend als ein Rechtswidrigkeitsproblem behandelt.51 Als Maßstab der strafrechtlichen Beurteilung von Handlungen der „Sterbehilfe“ erscheint die Menschenwürdekategorie somit am Ende ungeeignet.
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Insofern zweifelnd auch etwa Landau, aaO. Fn. 41, S. 51. Siehe dazu nur Saliger, aaO. Fn. 8, S. 238 oben mit dem Hinweis, es lasse „ein einzig auf die Menschenwürde abstellender Begründungsansatz die Sterbeautonomie im denkbar größten Umfang an der Unantastbarkeit der Menschenwürde teilhaben;“ zu Recht kritisch demgegenüber Verrel, aaO. Fn. 1, der bezüglich „einer würderechtlichen Aufladung der Diskussion über Sterbebegleitung“ Skepsis vor allem dann für angebracht hält, wenn diese (scil.: die würderechtliche Aufladung) „mit dem Ziel erfolgt, die eigene Position durch die absolute Geltung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG zu armieren“ (C 72); siehe allgemein (ohne spezifischen Bezug zur Sterbehilfediskussion) zu diesem Problem auch schon die kritischen Überlegungen von Neumann, Die Tyrannei der Würde, ARSP 84 (1998), S. 153 ff. 50 Zudem sei darauf hingewiesen, dass die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG – jedenfalls nach der Rspr. des BVerfG (vgl. BVerfGE 125, 175 – „Hartz IV“) – auch „Leistungselemente“ einschließt, die dem moribunden Patienten einen Rechtsanspruch auf Gewährung von Sterbehilfe vermitteln und den Staat dazu verpflichten könnten, die „Sterbehilfeleistungen“ auch institutionell bereitzustellen. 51 Anders wird nur von einigen für die Konstellation der „indirekten Sterbehilfe“ argumentiert, insofern die unter dieser Bezeichnung erfassten Handlungen ihrem sozialen Sinn nach nicht als Tötungshandlungen und damit auch nicht tatbestandsmäßig zu verstehen sein sollen; so insbes. Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, 3043 (3048), der Handlungen der indirekten Sterbehilfe als sozialadäquat beurteilt, und Ingelfinger, aaO. Fn. 5, S. 217 ff. (der auf den sozialen Handlungssinn abstellt); siehe auch Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, Rn. 8 a vor § 211; kritisch dagegen Reinhard Merkel, Aktive Sterbehilfe – Anmerkungen zum Stand der Diskussion und zum Gesetzgebungsvorschlag des „Alternativ-Entwurfs Sterbebegleitung“, in: Andreas Hoyer u. a. (Hrsg.), F.-C. Schroeder-FS (2006), S. 297 (302 ff.); siehe auch schon ders., Ärztliche Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin, JZ 1996, 1145 (1147 ff.). 49
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III. Gleichwohl war die vorstehende Kritik des Menschenwürde-Arguments insofern weiterführend, als mit der Fokussierung Ottos auf die Leitfrage nach einem etwaigen „Recht auf einen eigenen Tod“ derjenige, erkenntnisleitende Aspekt schon angeklungen ist, der nunmehr aufzunehmen ist. 1. Von einem „eigenen Tod“ kann nämlich sinnvoll nur die Rede sein, insofern selbst das menschliche Sterben noch als ein (jedenfalls auch) personal, d. h. durch Selbstbestimmung mitgeprägter Vorgang zu begreifen ist. Das aber ist er nur, insofern die je eigene Art und Weise des Sterbens mit der Autonomie des Sterbenden verbunden werden kann. Damit ist freilich auch der Leitbegriff bereits benannt, von dessen Grundlage auch das Problem der Sterbehilfe letztlich beurteilt werden muss.52 Als Beispiel eines solchen Ansatzes mag hier das Referat herangezogen werden, das Torsten Verrel unter dem Titel „Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung“ auf dem 66. Deutschen Juristentag (Stuttgart 2006) vorgetragen hat und das sich geradezu als eine Art strafrechtlichen Pendants zu der im Mittelpunkt des 63. Deutschen Juristentages (Leipzig 2000) stehenden Frage „Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?“ verstehen lässt.53 Sein Gedankengang beginnt mit einer Bestandsaufnahme der „Entwicklungen der letzten 20 Jahre“, die ihn nach umfassender Einbeziehung der straf- und zivilgerichtlichen Rechtsprechung das Zwischenfazit ziehen lässt, dass sich die noch auf dem 56. Deutschen Juristentag gehegte Hoffnung auf Rechtssicherheit durch Rechtsprechung nicht erfüllt hat.54 Dieser gewiss zutreffende Befund macht „Vorüberlegungen für eine gesetzliche Regelung“ notwendig, die angesichts zahlreicher ungeklärter Streitfragen – genannt werden vor allem „die Vagheit und Inkonsistenz“ der judizierten „Kriterien … für den Umgang mit nicht sterbensnahen Wachkomapatienten“; die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Ärzten im Zusammenhang mit der Behandlung von Suizidpatienten, speziell in Fällen freiverantwortlicher Selbsttötungshandlungen; das Problem der Anerkennung von Patientenverfügungen; und „das unklare Verhältnis zwischen strafrechtlicher Rechtfertigung und betreuungsrechtlichem Verfahren“55 – zu der Erkenntnis führt, dass die gebotene Rechtssicherheit sich allein mit einer Reform des Betreuungsrechts nicht erzielen lässt, sondern auch strafgesetzliche Regelungen erfordert.56 Diese hät52 Auch bei Otto wird die Kategorie der Menschenwürde schon in Verbindung mit „der Person als … autonomes sittliches Wesen“ verwendet, etwa aaO. Fn. 21, D 24, bei und in Fn. 55 (mit dem treffenden Hinweis darauf, dass es als Kuriosum zu vermerken sei, wenn in der Literatur „von einigen, die in der Auseinandersetzung um den Schuldbegriff im Strafrecht engagiert die Möglichkeit von Freiheit ablehnen oder als unbeweisbar ansehen, mit gleicher Entschiedenheit die Achtung menschlicher Würde gefordert wird“) und öfter. 53 So auch Verrel selbst, aaO. Fn. 1, C 11 und öfter. 54 Vgl. die Einzelheiten dazu bei Verrel, aaO., C 15 – 52. 55 AaO., C 55. 56 AaO., C 55 – 60, bes. C 57 – 60, zur „Regelungszuständigkeit des Strafrechts“, die u. a. mit „dem Gebot der einheitlichen Rechtsordnung“ begründet wird.
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ten – unter prinzipieller Beibehaltung des § 216 StGB – eine Ersetzung der überkommenen Sterbehilfeterminologie57 sowie in der Form von „Ausnahmen vom strafrechtlichen Tötungsverbot“ (Rechtfertigungsgründen)58 insbesondere eine verfassungsrechtlich fundierte trennscharfe Bestimmung für die erlaubten Fälle der Behandlungsbegrenzung (bisher sog. passive Sterbehilfe) sowie der Ausnahmeerlaubnis für die Fälle der Leidensminderung (bisher sog. indirekte Sterbehilfe) vorzusehen; als Legitimationsgrundlage dieser Regelungen sei die Verfassung heranzuziehen, deren „rationalisierende und konfliktlösende Kraft“ genutzt werden solle, um „den grundgesetzlichen Rahmen aufzuzeigen, in dem sich die Regelungsoptionen bewegen“; dieser „Rahmen“ sei „im Wege praktischer Konkordanz“ zwischen den Grundrechten auf Leben und Selbstbestimmung „unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ so zu ziehen, dass der Weg für eine strafgesetzliche Rechtfertigung der „Behandlungsbegrenzung“ sowie der „Leidensminderung“ eröffnet sei.59 Innerhalb dieses Rahmens ließen sich – ohne Beschränkung auf irreversibel tödliche Krankheitsverläufe60 – „selbstbestimmte (einverständliche) Behandlungsbegrenzungen“ und „objektive (einseitige) Behandlungsbegrenzungen in der Sterbephase“ ebenso legitimieren wie ärztliche Maßnahmen der Leidensminderung.61 2. Eine Kritik der Überlegungen und Vorschläge von Verrel hat zunächst, wie bereits erwähnt, positiv zu vermerken, dass der Gedankengang mit der „Patientenautonomie“ den rechtlichen Gesichtspunkt ausdrücklich benennt, den jede tragfähige Bestimmung von Grund und Grenzen zulässiger Sterbehilfe zur Grundlage sich nehmen 57
Diesbezüglich wird vorgeschlagen, an Stelle von „passiver Sterbehilfe“ künftig den Terminus der „Behandlungsbegrenzung“ zu verwenden, nicht länger von „indirekter Sterbehilfe“, sondern von „Leidensminderung“ zu sprechen und „den weiten Wortlaut von § 216 StGB durch eine klare gesetzliche Umschreibung der erlaubten Formen lebensverkürzender Sterbebegleitung im Wege systematischer Reduktion zu begrenzen“; vgl. aaO., C 60 – 62. Vergleicht man diese Vorschläge mit der vom Nationalen Ethikrat vorgeschlagenen Terminologie (aaO. Fn. 1), dürfte die „Behandlungsbegrenzung“ dem Terminus des „Sterbenlassens“ und die „Leidensminderung“ der „Therapie am Lebensende“ entsprechen. 58 Vgl. aaO., C 62 – 69, auch C 77; ebenso schon Schöch/Verrel, aaO. Fn. 37. 59 Vgl. speziell zu der verfassungsrechtlichen Grundlage aaO., C 69 – 76, mit dem einschränkenden Hinweis, es bestehe freilich kein „Raum für eine Vertiefung der verfassungsrechtlichen Bezüge“; möglicherweise deswegen wird schließlich – verfehlt (siehe vorstehend unter Ziffer II. 3.)) und im Widerspruch zu der zuvor zu Recht geäußerten Skepsis gegenüber dem Menschenwürde-Argument (C 72/73) – doch noch die Menschenwürdegarantie zur Legitimation der „Leidensminderung“ herangezogen (aaO., C 74); so auch Schöch/Verrel, aaO. Fn. 37, S. 574. 60 So aaO., C 85 – 88; ebenso Schöch/Verrel, aaO. Fn. 37, S. 562. 61 Auf die Einzelheiten der „Reformvorschläge“ Verrels kann im Rahmen dieses Beitrages nicht eingegangen werden; vgl. dazu jedoch aaO., C 77 – 99 (zu den Problemen der einverständlichen Behandlungsbegrenzung), C 99 – 101 (zur einseitigen Behandlungsbegrenzung in der Sterbephase) sowie C 101 – 109 (zu den Vorschlägen zur Leidensminderung, die eine Erweiterung der bisherigen Rechtslage insofern vorsehen, als auch direkt vorsätzliches ärztliches Handeln gerechtfertigt sein soll). – Auf einzelne Aspekte dieser Vorschläge wird im Übrigen im Folgenden im Rahmen der „Kritik“ unter nachstehender Ziffer 2.) kurz einzugehen sein.
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muss. – Richtig ist sicher auch, dass die existentielle Situation, um die es für Arzt und Patient (wenn auch in jeweils unterschiedlicher Weise) in den behandelten Sterbehilfekonstellationen geht, längst eine strafgesetzliche, inhaltsbestimmte Regelung erfordert. Es ist deshalb – bei allem Verständnis für die Schwierigkeit der Regelungsmaterie – aus strafrechtswissenschaftlicher und -praktischer Sicht ein großes Manko, dass der Gesetzgeber bislang allein für das Gebiet des Bürgerlichen Rechts, und zwar in Form des am 1. 9. 2009 in Kraft getretenen 3. BetrÄndG vom 29. 7. 2009 (BGBl I 2286), gesetzliche Bestimmungen getroffen hat (§§ 1901 a ff. BGB), es an einer spezifischen strafgesetzlichen Regelung dagegen nach wie vor fehlt.62 Freilich weist auch das Gutachten Lücken und Defizite der Begründung auf. Dabei stellt es den alles vorentscheidenden Mangel dar, dass im Gedankengang des Gutachtens der für zentral erachtete Begriff der Autonomie als die deontologische Grundlage des als maßgebend eingeführten Selbstbestimmungsrechts der schwerstkranken Person („Patientenautonomie“) nicht näher aufgenommen und geklärt wird. Dies führt zu Schwächen der Begründungen und der Ergebnisse hinsichtlich der erörterten Probleme der „Sterbehilfe“. So ist zum Beispiel der Begriff der „Leidensminderung“, der die Dramatik des Geschehens der bisher so genannten „indirekten Sterbehilfe“ eher verschleiert, ebenso wenig an einen aufgeklärten Begriff der Autonomie des Sterbenden zurückgebunden wie die Annahme der Zulässigkeit einseitiger Begrenzung der Behandlung in der Sterbephase.63 Der Hinweis jedenfalls, Letztere stehe deswegen „nicht im Widerspruch zur Patientenautonomie“, weil „sich das Selbstbestimmungsrecht des Patienten … von vornherein nur im Rahmen des ärztlichen Behandlungsangebots entfalten“ könne,64 erklärt nämlich ersichtlich nicht, warum es vom Patientenwillen unabhängige und damit objektive Grenzen für die Behandlung Moribunder geben darf. Auch die Begründung für die Beibehaltung der Strafvorschrift des § 216 StGB geht nicht auf die Autonomie des seine Tötung ausdrücklich und ernstlich Verlangenden zurück, insofern diese (scil: die Begründung) maßgeblich auf das Fehlen eines praktischen Bedürfnisses, die „ethische Differenz zwischen Töten und Sterbenlassen“ sowie die schlechten Erfahrungen mit dem „niederländischen Modell“ abhebt.65 62 Und dies obwohl der erste, von Jürgen Baumann und anderen konzipierte Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE-Sterbehilfe 1986) bereits seit über 25 Jahren vorliegt. – Zutreffend kritisch dazu auch die Verf. des Alternativ-Entwurfs Sterbebegleitung (AE-StB), GA 2005, 553: „Für die strafrechtlichen Fragen fehlen selbst im Fall der Umsetzung dieses Entwurfs (scil.: gemeint war der Referenten-Entwurf für ein 3. BetrÄndG) weiterhin klare gesetzliche Regelungen, so dass in vielen Fällen die Angst vor einem möglichen Strafverfahren die Autonomie des Patienten und die Gewissensentscheidung des Arztes beeinträchtigt“ (S. 555). 63 Vgl. zur Annahme der Zulässigkeit Letzterer Verrel, aaO. Fn. 1, C 99 – 101. 64 So aaO., C 99. 65 Vgl. aaO., C 63 – 67. – Entsprechendes gilt im Übrigen sowohl für die kurze Untersuchung der verfassungsrechtlichen Grundlagen (die im Zuge der „praktischen Konkordanz … unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips“ (C 69 – 74) nicht etwa das menschliche
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Dies gilt auch für das sog. Dammbruch-Argument,66 das nicht nur seines hypothetischen Charakters wegen,67 sondern vor allem deshalb wenig tragfähig erscheint, weil es bei näherem Hinsehen sich als zirkulär erweist: Denn ob ein „Dammbruch“ in dem Sinne zu befürchten steht, dass die als „Sterbehilfe“ zu beurteilenden Handlungen in (straf-)rechtlich bedenklicher Weise überhand nehmen, hängt offenbar entscheidend davon ab, ob solche Handlungen als Kriminalunrecht begriffen werden müssen und deshalb tatsächlich Strafe verdienen.68 Und schließlich wird auch die zentrale Aussage, wonach die sehr zu Recht geforderte strafgesetzliche Bestimmung sich nicht – etwa in Form von Ausnahmen zu § 216 StGB – auf die Tatbestandsmäßigkeit, sondern vielmehr auf die Rechtswidrigkeit beziehen soll, nicht aus einem konkretisierten Rechtsbegriff der Autonomie des Sterbenden, der zur Verwirklichung seiner selbstbestimmt und deshalb selbstverantwortlich getroffenen Entscheidung für den Tod auf fremde (ärztliche) Mitwirkung angewiesen ist, entwickelt. 3. Als Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass es nach der Ablehnung der Menschenwürde als Maßstab der Beurteilung von Handlungen der „Sterbehilfe“ einer genaueren Bestimmung der rechtlichen Bedeutung des Autonomiebegriffs bedarf, der als Leitfaden für Inhalt und Systematik der strafgesetzlichen Regelung des Umgangs vor allem von Ärzten, Angehörigen und Betreuern mit Sterbenden taugt. Dies umso mehr, als eine solche Regelung überfällig und deshalb zu beklagen ist, dass gegenwärtig lediglich ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung auf der „Gesetzgebungsagenda“ des Deutschen Bundestages steht, so berechtigt gewiss auch diese Gesetzesinitiative ist.69 Leben als Strafrechtsgut mit der Autonomie des Rechtsgutsträgers verbindet, sondern die Grundrechte auf Leben und Selbstbestimmung einander gegenüberstellt) als auch für die im Zusammenhang mit den Fällen einverständlicher Behandlungsbegrenzung (C 77 – 99) vertretenen Ansichten, solche Begrenzungen dürften nicht auf „irreversibel tödliche Krankheitsverläufe“ eingeschränkt werden (C 85 – 88) und seien nach „objektiven Vernünftigkeitsmaßstäben“ auch dann erlaubt, wenn ausreichende Anhaltspunkte für die Beurteilung des individuellen Willens fehlten, wobei der dann eröffnete Beurteilungsspielraum durch verantwortungsvolles und verantwortungsfreudiges (?) ärztliches Handeln „in jedem einzelnen Fall und fortwährend neu ausgefüllt werden muss“ (C 91 – 93). 66 Siehe dazu Schöch/Verrel, aaO. Fn. 37, S. 558. 67 Darauf weist zu Recht auch Duttge, aaO. Fn. 19, S. 35 hin und verbindet diesen Hinweis mit der Verweisung auf eine im Auftrag der niederländischen Regierung angefertigte Studie, die das „Dammbruch-Argument“ empirisch belege. 68 Etwas anderes gilt natürlich, wenn mit dem „Dammbruch“ ein signifikantes Ansteigen von Fällen gemeint ist, die nur scheinbar als Handlungen der „Sterbehilfe“ beurteilt werden können; so Duttge, aaO. 69 Vgl. dazu auch schon § 215 a AE-StB (Unterstützung einer Selbsttötung aus Gewinnsucht), der eine Strafbarkeit der Beihilfe zur Selbsttötung eines anderen bei Vorliegen von Gewinnsucht als täterschaftliches Kriminaldelikt erfasst; siehe zur Begründung eines solchen Tatbestands Schöch/Verrel, aaO. Fn. 37, S. 581/582.
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IV. 1. Wohin es führen kann, wenn (überfällige) strafgesetzliche Regelungen über große Zeiträume hinweg nicht realisiert werden, zeigt augenfällig nun das eingangs bereits erwähnte jüngste Urteil des 2. Strafsenats des BGH vom 25. Juni 2010 (BGHSt 55, 191) zu dem hier gegenständlichen Problembereich, in der bekanntlich ein Fall strafrechtlich zu beurteilen war, in dem ein angeklagter Rechtsanwalt 2007 der Tochter einer schwerkranken, seit einer 2002 erlittenen Hirnblutung im Wachkoma, aber nicht im Sterben liegenden alten Frau,70 die sich (auch) ihrer Tochter gegenüber, zeitnah zu der Erkrankung, ausdrücklich gegen lebensverlängernde Maßnahmen in Form künstlicher Ernährung und Beatmung ausgesprochen hatte, den Rat erteilt hatte, den Schlauch der Sonde, mit der die Kranke künstlich ernährt wurde, zu durchtrennen, was diese auch tat, so dass dem Angeklagten das dadurch von der Tochter verübte Tötungsdelikt71 vom Landgericht mittäterschaftlich (§ 25 Abs. 2 StGB) zugerechnet worden war.72 – Ausgehend von der zutreffenden Feststellung, dass dieser Sachverhalt (Durchtrennung des Sondenschlauchs) ein Fall direkt auf die Beendigung des Lebens der Mutter (also auf ihren Tod) abzielender aktiver Tätigkeit gewesen ist, die auch nicht einfach als ein Unterlassen angesehen werden kann,73 wird darauf hingewiesen, dass solches Handeln nach „der bisher in Rechtsprechung und Literatur ganz überwiegend vertretenen Auffassung“ nicht als erlaubte indirekte oder passive, sondern vielmehr als stets verbotene aktive Sterbehilfe zu beurteilen (gewesen) sei. An diesen Unterscheidungen sei jedoch nicht mehr festzuhalten, da die „Grenze zwischen erlaubter Sterbehilfe und einer nach den §§ 212, 216 StGB strafbaren Tötung … nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln“ gezogen werden könne.74 Diese sei vielmehr mit Rücksicht auf die Vorschriften des 3. BetrÄndG vom 29. 7. 2009 (sog. Patientenverfügungsgesetz) und das durch dieses Gesetz gestärkte Selbstbe70 Vgl. BGHSt 55, 191 (195) mit der Feststellung, es habe die Krankheit der alten Frau, ähnlich wie in BGHSt 40, 257, „noch keinen unmittelbar zum Tode führenden Verlauf genommen“. 71 Da der Vorgang schon nach wenigen Minuten vom Klinikpersonal bemerkt wurde, das die Überführung der alten Frau in ein Krankenhaus veranlasste, wo die Patientin aufgrund der Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung zunächst überlebte, kam nur ein Totschlagsversuch in Betracht. 72 Ob die gemäß § 25 Abs. 2 StGB erfolgte Zurechnung der Durchtrennung des Schlauches tatsächlich rechtsfehlerfrei gewesen ist (so BGHSt 55, 191 (198)), muss nach Kriterien der Tatherrschaft bezweifelt werden, mag aber hier dahinstehen. 73 Vgl. BGHSt 55, 191 (198, 202) unter Hinweis auf die berechtigte Kritik etwa von Walter Gropp (Das Abschalten des Respirators – ein Unterlassen durch Tun? – Zur Grenze der Normativität bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen, in: Gunnar Duttge u. a. (Hrsg.), Schlüchter-GS (2002), S. 174 ff., bes. S. 184) und Hans-Joachim Hirsch (Behandlungsabbruch und Sterbehilfe, in: Wilfried Küper u. a. (Hrsg.), Lackner-FS (1987), S. 597 ff., bes. S. 605) an der verfehlten Umdeutung aktiven Tuns „in ein normativ verstandenes Unterlassen“, um „dieses Verhalten als ,passive Sterbehilfe‘ legitimieren zu können.“ 74 So BGHSt 55, 191 (201/202).
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stimmungsrecht von Patienten neu zu bestimmen. Diese Neuregelung entfalte nämlich – wenngleich „die Regelungen der §§ 212, 216 StGB von den Vorschriften des Betreuungsrechts unberührt“ blieben und die Frage, wo „die Grenze einer rechtfertigenden Einwilligung verläuft und der Bereich strafbarer Tötung auf Verlangen beginnt, „eine strafrechtsspezifische Frage“ sei, über die „im Grundsatz autonom nach materiell-strafrechtlichen Kriterien“ entschieden werden müsse – unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung „auch für das Strafrecht Wirkung“.75 Berücksichtige man dies, sei es „sinnvoll und erforderlich, alle Handlungen, die mit einer … Beendigung einer ärztlichen Behandlung im Zusammenhang stehen, in einem normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs zusammenzufassen, der neben objektiven Handlungselementen auch die subjektive Zielsetzung des Handelnden umfasst, eine bereits begonnene medizinische Behandlungsmaßnahme gemäß dem Willen des Patienten insgesamt zu beenden oder ihren Umfang … zu reduzieren.“76 Es ergebe sich dann „aus den Begriffen der ,Sterbehilfe‘ und des ‘Behandlungsabbruchs‘ selbst“, mit Bezug auf lebensbedrohlich erkrankte Personen, aber unabhängig vom Krankheitsstadium, eine Ausnahmeerlaubnis (Rechtfertigung) für alle Handlungen der „Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung, -begrenzung oder -abbruch“, sofern die Maßnahmen, auf welche sich die Sterbehilfehandlungen beziehen, „medizinisch zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet sind.“77 2. Im strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum ist das Urteil praktisch durchweg positiv aufgenommen und dabei sogar als ein „Durchbruch ohne Dammbruch“ bezeichnet worden.78 Dass dies in erster Linie mit dem ganz überwiegend für richtig gehaltenen Ergebnis der Entscheidung zusammenhängen dürfte, zeigen bei näherem Hinsehen die durchaus zahlreichen kritischen Anmerkungen zu den Entscheidungsgründen, die sich in den meisten Besprechungen finden. Diese Anmerkungen beziehen sich beispielsweise auf die These, die äußerlich-naturalistische Unterscheidung der Handlungsformen Tun und Unterlassen sei auf die Sterbehilfe-Sachverhalte nicht übertragbar, weil diese meist mehrere aktive und passive Handlungen einschlössen; dies ändere nämlich nichts daran, dass schon die Feststellung des tatbestandlichen Typus eine Differenzierung beider Handlungsformen erfordere, die durchaus mög75
Vgl. dazu BGHSt 55, 191 (199/200). So aaO., S. 203. 77 Vgl. aaO., S. 204; siehe zum Ganzen auch Fischer, StGB, 59. Aufl., München 2012, Vor §§ 211 – 216, Rn. 32 ff. 78 So die Formulierung von Gaede, Durchbruch ohne Dammbruch – Rechtssichere Neuvermessung der Grenzen strafloser Sterbehilfe, NJW 2010, 2925 ff.; im Grundsatz zustimmend auch Hans-Joachim Hirsch, aaO. Fn. 9; Hendrik Schneider, Die Bedeutung der Patientenverfügung im Strafrecht, MittBayNot 2011, 102 ff., bes. S. 105; sowie Wolfslast/Weinrich, Urteilsanm., StV 2011, 286 (290), die von einem „großen, wichtigen Schritt hin zu einer umfassenden Regelung der Sterbehilfe“ sprechen, auch wenn die Entscheidung „von Ungereimtheiten und handwerklichen Schwächen“ nicht frei sei. – Konzentrierter und informativer Überblick zur Rezeption der Entscheidung bei Wessels/Hettinger, aaO. Fn. 6, Rn. 30 a – d; siehe auch Engländer, aaO. Fn. 47. 76
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lich sei.79 Auch wird etwa gerügt, dass die Entscheidung mit dem „normativ wertenden Begriff des Behandlungsabbruchs“ ein gesetzesfremdes Merkmal einführt, das zudem Abgrenzungsprobleme zu einer Tötungshandlung aufwerfe.80 Ferner sei es entgegen BGHSt 55, 191 (204, Tz 34) gewiss nicht richtig, dass der Begriff „Behandlungsabbruch“ auch die Fälle der bislang mit dem Terminus der „indirekten Sterbehilfe“ bezeichneten Konstellation einschließe, so dass die neue Kategorie sich keineswegs als umfassender „Schlüsselbegriff“ zur Lösung der gesamten Sterbehilfeproblematik verstehen lasse.81 Und es wird kritisch angemerkt, dass die Verbindung dieses Begriffs mit der Einwilligung im Fall deswegen problematisch sei, weil schon die Fortführung der Behandlung gegen den Willen der Patientin rechtwidrig war.82 3. Nimmt man diese durchaus berechtigten kritischen Anmerkungen auf, so lässt sich die Kritik zunächst im Hinblick auf den Übergang des BGH von der Ablehnung phänomenologisch unangemessener und realitätswidriger Umdeutungen aktiven Tuns in Unterlassungen83 zu der „Erfindung“ des Behandlungsabbruchs als Rechtfertigungsgrund dahin wie folgt vertiefen: So zutreffend diese Ablehnung auch ist, es folgt aus ihr aber doch zunächst nur, dass eine – wirklichkeitsgemäße – Bestimmung der Handlungsformen Tun und Unterlassen geboten ist, nicht aber auch ein neuer Rechtfertigungsgrund. Das zeigt sich systematisch insbesondere im Hinblick auf die Unterlassung: Geht nämlich der geäußerte und rechtlich beachtliche Wille des Patienten dahin, dass ärztliche Maßnahmen, welche das Leben des Betroffenen verlängern könnten, strikt unterbleiben, also unterlassen werden sollen, so scheidet eine Tötung auf Verlangen, begangen durch Unterlassen (§§ 216, 13 StGB), schon deshalb aus, weil eine – noch dazu strafbewehrte – Pflicht, solche Maßnahmen zu unternehmen (Garantenpflicht), gegen den Willen des Patienten schwerlich entstehen oder fortbestehen kann. Damit entfällt jedoch bereits der Tatbestand der Tötung auf Verlangen.84 Nun wird die neue Kategorie („Behandlungsabbruch“) freilich nicht nur aus der genannten Ablehnung, sondern vor allem dadurch generiert, dass die Bestimmungen des neuen Betreuungsrechts (3. BetrÄndG vom 29. 7. 2009) zur Schöpfung der nun 79 Vgl. zu diesem Einwand bes. Dölling, aaO. Fn. 3, S. 346 f. sowie Tonio Walter, Sterbehilfe – Teleologische Reduktion des § 216 StGB statt Einwilligung! – Vom Nutzen der Dogmatik, ZIS 2011, 76 (77); siehe für die Möglichkeiten einer in erster Linie normativ verfahrenden Abgrenzung statt anderer Streng, „Passives Tun“ als dritte Handlungsform – nicht nur beim Betrug, ZStW 112 (2010), S. 1 ff., speziell S. 14 f. (zur aktiven Rücknahme eigener Rettungshandlungen). 80 So dezidiert Walter, aaO. Fn. 79, S. 78 f.; siehe auch Dölling, aaO. Fn. 3, S. 347. 81 Dieser – berechtigte – Einwand steht im Mittelpunkt der Kritik von Wolfslast/Weinrich, aaO. Fn. 78, S. 287 f. 82 Vgl. dazu etwa Kubiciel, Zur Strafbarkeit des Abbruchs künstlicher Ernährung, ZJS 2010, 656 (660). 83 Hierher gehört auch Roxins Konstrukt eines vorgeblichen „Unterlassens durch Tun“, vgl. ders., aaO., Fn. 4, § 31 Rn. 99 ff., bes. Rn. 115 – 123. 84 Anders wohl BGHSt 55, 191 (202 oben) unter Verweis auf BGHSt 13, 162 (166) und BGHSt 32, 367 (371).
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als Behandlungsabbruch firmierenden Einwilligung herangezogen werden. Aber ganz abgesehen davon, dass diese Vorgehensweise schon deshalb problematisch ist, weil der Gesetzgeber, wie der Senat auch selbst vermerkt, im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zur Verabschiedung des sog. Patientenverfügungsgesetzes ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, die Strafrechtslage nicht (mit) ändern zu wollen,85 bleibt es ganz unklar, wie man sich vorzustellen haben soll, dass einerseits „die Regelungen der §§ 212, 216 StGB von den Vorschriften des Betreuungsrechts unberührt“ bleiben sollen, andererseits aber genau diese Bestimmungen es sind, die im Fortgang der Urteilsgründe den Maßstab für Grund und Grenze des Behandlungsabbruchs bilden.86 Vor allem aber ist die Begründung für die neue Kategorie in sich unklar und folglich auch nicht tragfähig: Da diese nämlich als eine spezielle Form und Ausprägung der Einwilligung zu verstehen sein soll, die ihren tieferen Grund im ausgeübten Selbstbestimmungsrecht der schwerkranken Person, also in deren Willen haben soll,87 steht sie in offenbarem Widerspruch zur strafgesetzlichen Einwilligungssperre des Tatbestands der Tötung auf Verlangen;88 und diese Sperre ist durch „Auslegung des § 216 StGB“ und „Inhaltsbestimmung des Rechtfertigungsgrundes der Einwilligung im Rahmen der Sterbehilfe“89 nicht zu beseitigen, so dass sich die Erfindung des „normativ-wertenden Oberbegriffs des Behandlungsabbruchs“ in Wahrheit als ein Akt der richterlichen Rechtsfortbildung90 und damit als Verstoß gegen das Strafgesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) erweist,91 der nur dadurch nicht deutlich in 85
Siehe dazu BGHSt 55, 191 (199) mit Hinweis auf BTDrucks. 16/8442 S. 7 f. und 9. So soll es, entsprechend § 1901 a Abs. 3 BGB, auch im Strafrecht nicht mehr auf Art und Stadium der Erkrankung, sondern allein auf die Einwilligung der betroffenen Person ankommen; so BGH aaO., S. 196; kritisch dazu auch Engländer, aaO. Fn. 47, S. 518/519; Verrel, Ein Grundsatzurteil? – Jedenfalls bitter nötig!, NStZ 2010, 671 (674), der diesbezüglich von einem „Hin und Her“ des BGH spricht. 87 Vgl. dazu insbes. die Formulierungen des BGH aaO., S. 198, Tz 21 („Einwilligung“), S. 100, Tz 25 („Grenze einer rechtfertigenden Einwilligung“). 88 Berechtigte Kritik daher bei Walter, aaO. Fn. 79, S. 78. 89 So BGHSt 55, 191 (206) – kursiv nicht im Original. 90 In diesem Sinne auch Hendrik Schneider, aaO. Fn. 78, S. 105 („Im Ergebnis führt der BGH im Wege der Rechtsfortbildung nunmehr eine Regelung ein, die bereits im „Alternativentwurf Sterbehilfe“ im Jahre 1986 sowie im „Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung“ aus dem Jahr 2005 durch Gesetz in Kraft gesetzt werden sollte“) und Walter, aaO. Fn. 79, S. S. 79 („gesetzesgelöste Rechtsfindung“); deutliche Anklänge in diese Richtung auch bei Wessels/ Hettinger, aaO. Fn. 78. 91 Soweit die Rechtsfortbildung mit der „Inhaltsbestimmung der Einwilligung“ auch den Allgemeinen Teil des StGB betrifft, kann die umfangreiche Debatte um die Geltung des Strafgesetzlichkeitsprinzips auch für den AT hier schwerlich aufgenommen werden. Immerhin sei im Hinblick auf die These der Verfassungswidrigkeit doch zweierlei festgehalten: Zum einen wirken Rechtfertigungsgründe als „Rücknahme des Strafrechts“ und damit „täterfreundlich“ nur für diejenige Person, die sich auf sie sollen berufen dürfen (also nicht für den anderen, der den gerechtfertigten Eingriff dulden muss); zum anderen müsste sich der „Behandlungsabbruch“ in das nach Prinzipien der Rechtfertigungsgründe geordnete System der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe (vgl. dazu grundlegend Köhler, aaO. Fn. 47, S. 237 ff. 86
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Erscheinung tritt, dass die Entscheidung nicht begründet, warum und inwiefern diese „Innovation“, die als Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung, -begrenzung oder -abbruch“ definiert wird,92 eine Auslegung von Merkmalen eines Straftatbestandes (etwa des § 216 StGB) oder einer gesetzlichen Erlaubnisnorm sein soll. In diesem Mangel liegt ersichtlich auch der Grund dafür, warum inzwischen neuerdings eine „teleologische Reduktion“ des § 216 StGB und damit eine „TatbestandsLösung“ an Stelle der bislang für das Problem der Sterbehilfe ganz überwiegend vorgetragenen „Rechtswidrigkeits-Lösungen“ vorgeschlagen worden ist.93 Aber auch dieser Vorschlag müsste, angesichts der allseits ins Zentrum der Überlegungen gerückten Patientenautonomie,94 zunächst einmal begründen, warum die Selbstverfügung über das Rechtsgut Leben wirklich als Ausdruck personaler Autonomie begriffen werden kann.95 Man muss sich also schon diesem Begriff genauer zuwenden, um eine zureichende Basis für die Beurteilung der Sterbehilfeproblematik zu gewinnen, liegt doch in ihr (scil.: der Autonomie der Person) als der geistigen Grundverfassung jeder leibhaftig und vernünftig existierenden Natur der Grund für die Schranken der Selbstverfügbarkeit, die in den strafgesetzlichen Bestimmungen der §§ 216 und 228 StGB ihren unübersehbaren Niederschlag gefunden haben.
V. Zu diesem Zweck kann man zunächst vorzüglich an die Überlegungen anschließen, die Wolfgang Frisch im Zuge seiner eingangs schon erwähnten „kritischen Revision“ des Unrechts der sittenwidrigen Körperverletzung (§ 228 StGB) vorgetragen hat.96 Der tiefere Sinn und damit der berechtigte Kern des § 228 StGB könne, so kann man bei ihm nachlesen, allein darin gesehen werden, strafrechtlich abzusichern, ob die Einwilligung oder Freigabeerklärung „als Ausdruck einer autonomen Entscheidung des Rechtsgutsträgers angesehen werden kann“,97 d. h. die Grenze dessen nicht überschreitet, „was das vernünftige Individuum selbst für solche Sachverhalte und Klesczewski, StrafR AT, 2. Aufl., Leipzig 2012, § 4 Rn. 275 ff., bes. Rn. 285 ff.) einfügen lassen. 92 Vgl. BGHSt 55, 191 (204). 93 So vor allem von Walter, aaO. Fn. 79, bereits im Titel und dann speziell S. 81 f.; siehe auch Gaede, aaO. Fn. 78, der für die neue Figur der „Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch“ eine „verfassungsorientierte Auslegung bzw. Reduktion“ (S. 2927) bzw. eine „verfassungskonforme Reduktion der Tötungsdelikte“ (S. 2928) vorschlägt und in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Annahme einer tatbestandsausschließenden Grundrechtsbetätigung erwägt; siehe auch Dölling, aaO. Fn. 3, S. 347 bei und in Fn. 25. 94 Vgl. nur Engländer, aaO. Fn. 47, S. 516/517; Gaede, aaO. Fn. 78, S. 2927; Verrel, aaO. Fn. 86, S. 672. 95 Richtig gesehen von Kubiciel, aaO. Fn. 82, S. 656/657, insofern dieser auf die vorrangige Bedeutung der Frage nach der Disponibilität des Rechtsguts Leben hinweist. 96 Frisch, Zum Unrecht der sittenwidrigen Körperverletzung (§ 228 StGB), aaO. Fn. 11. 97 So Frisch, aaO., S. 490 (kursiv nicht im Original).
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will“;98 denn die Rechtsordnung könne „dem, den sie als Vernünftigen anerkennt, nicht zugleich unterstellen …, ernsthaft und als Vernünftiger etwas grob Unvernünftiges zu wollen.“99 In diesen Formulierungen wird nämlich mit der begründenden Bezugnahme auf die fundamentale und unverlierbare Vernünftigkeit jeder Person auf den Begriff der Autonomie des Willens und damit auf das „Herzstück“ der praktischen Philosophie Immanuel Kants verwiesen, die es nunmehr – unter weiterführender Aufnahme der schon von Michael Köhler vorgetragenen Argumentation zur Problematik der SelbstVerfügung100 – zumindest kurz abschließend aufzunehmen und für die hier behandelten Probleme fruchtbar zu machen gilt.101 Diese Argumentation hat nämlich insbesondere daran erinnert, dass die durch den kategorischen Imperativ als praktische Autonomie begriffene Selbst-Bestimmung und das mit ihrer Anerkennung verbundene Autonomieprinzip als Basis von Ethik und Recht mit selbstvernichtenden Maximen deswegen unvereinbar ist, weil sie (scil.: die Selbst-Bestimmung) ursprünglich Selbst-Realisierung und damit SelbstBehauptung bedeutet, insofern nämlich „selbstorientiertes Handeln dem Zweckinhalt nach einen … Selbststand in der Welt überhaupt“ voraussetzt,102 der aus dem 98
AaO., S. 495 (kursiv im Original). AaO., S. 495/496. 100 Vgl. ders., Die Rechtspflichten gegen sich selbst, in: JRE 14 (2006), S. 425 ff.; konzentriert aufgenommen und exponiert bei Gierhake, aaO. Fn. 5. – Vgl. zur Grundlegung der rechtlichen Bedeutung auch des Selbstverhältnisses auch schon Köhler, aaO. Fn. 47, S. 14 (unter Ziffer 2.1) und S. 255 (mit zutreffendem Hinweis auf die Notwendigkeit der Unterscheidung von Selbstbestimmung als einer Aufgabe und Leistung des autonomen Willens und der Betätigung (beliebiger) Willkür), sowie ders., Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht, ZStW 104 (1992), 3 ff.; auch Wolfgang Frisch hat sich im Zuge seiner Überlegungen zum Sinn des § 228 StGB wiederholt auf Köhlers Argumentation bezogen, vgl. aaO. Fn. 11, bes. in Fn. 29, 38, 49, 50 und 62. 101 Um es noch einmal zu wiederholen: Der Aufgabe, sich um ein wohlbegründetes Verständnis praktischer Autonomie zu bemühen, müssen sich konsequenterweise alle stellen, die im Zusammenhang mit der den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildenden Problematik von der „Patientenautonomie“ oder dem „Selbstbestimmungsrecht des Patienten“ sprechen. – Nun hat allerdings Michael Kubiciel in seinem Beitrag über „Gott, Vernunft, Paternalismus – Die Grundlagen des Sterbehilfeverbots“ (JA 2011, 86 ff.) kürzlich auch die kantische praktische Philosophie unter die „längst versiegten rechtsphilosophischen Quellen“ eingeordnet, die sich „nicht mehr mit dem Überzeugungshaushalt unserer Gesellschaft vereinbaren“ ließen (S. 86 i. V. m. S. 89, 90); aber ganz abgesehen davon, dass die Patientenautonomie (und mit dieser notwendig der Begriff der Autonomie) in jüngster Zeit zunehmend in den Vordergrund der Sterbehilfediskussion getreten ist, ist man, vorsichtig formuliert, doch überrascht, dass kurz darauf (S. 90/91) ausgerechnet auf den „Paternalismus“ als das (rechtliche?) Prinzip zurückgegriffen wird, das den „Plausibilitätsstandards einer am Individuum Maß nehmenden Gesellschaft“ entsprechen (und damit ja wohl Teil des genannten „Überzeugungshaushalts“ sein) soll, von dem aus dann der (untaugliche) Versuch unternommen wird, die Strafvorschrift des § 216 StGB zu legitimieren. 102 So Köhler, aaO. Fn. 100, S. 431; vgl. auch Klesczewski, Kants Ausdifferenzierung des Gerechtigkeitsbegriffs als Leitfaden der Unterscheidung von Unrechtsformen, in: ARSP99
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Recht der Menschheit in der eigenen Person als Grundpflicht gegen sich selbst begriffen werden muss103 und durch den das autonome Subjekt sein Selbst-Verständnis als Grund des Daseins weltimmanenter praktischer Vernunft manifestiert.104
Beiheft 66 (1997), S. 77 ff., bes. S. 81; näher zu Kants Vorstellung der „Pflichten gegen sich selbst“ Brandt, aaO. Fn. 44, („persönliche Pflicht zur Selbstrealisierung“ im Zusammenhang mit der Selbstzweckhaftigkeit jedes Menschen und seiner damit verbundenen Würde) sowie S. 87 ff., bes. S. 123 („Wir haben in unserer praktischen Gesetzgebung die Ordnung zu entwerfen und sie im eigenen Handeln zu realisieren, die einzig notwendig Gerechtigkeit und Frieden impliziert – nur dies ist unsere Aufgabe, und dies ist sie wirklich“). – Insofern geht der Einwand von Jakobs, das Recht der Menschheit in jeder Person könne allenfalls begründen, vernünftig zu leben, nicht aber überhaupt zu leben (aaO. Fn. 4, S. 10; ebenso ders., GA 2003, 65), bereits im Ansatz am Kern begriffener Autonomie vorbei: Mit der Selbstzerstörung begibt der Einzelne sich nicht allein der Möglichkeit, an einem Essen teilzunehmen und sich dabei mehr oder weniger anständig zu benehmen (so das von Jakobs ausdrücklich zum Zweck der Zuspitzung gewählte Beispiel), vielmehr vernichtet er mit seiner eigenen Person sich selbst als einzig selbst-gewisse Quelle des Daseins praktischer Vernunft. – Das verkennt auch Frank Müller im Zuge seiner Kritik des Grundsatzes der Indisponibilität des Rechtsguts Leben (aaO. Fn. 5, S. 38 – 61); da sein klug vorgetragener Versuch der Apologie des § 216 StGB als Instrument abstrakten Lebensschutzes (vgl. bes. S. 134 ff.) von der Widerlegung dieses Grundsatzes abhängt, vermag er am Ende, trotz wichtiger Einsichten (etwa durch die Kritik der Ansicht von der relativen Unverfügbarkeit des Rechtsguts Leben, S. 61 ff., vor allem aber durch die überzeugende Abweisung aller Auffassungen, die das strafbewehrte Verbot der Tötung auf Verlangen als paternalistischen Schutz des Sterbewilligen verstehen, S. 79 ff., 103 ff.), bereits im Ausgangspunkt nicht zu überzeugen. 103 Vgl. Köhler, aaO. Fn. 100, S. 435: „… fundamentale Menschenpflicht, gerichtet auf die universale Entfaltung vernunftgemäß-humanen Daseins in allen Subjekten der Menschheit.“ – Wenn Murmann in seiner in vielerlei Hinsicht ertragreichen Untersuchung über „Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht“ hiergegen einwendet, Selbstzweck sei hier „nicht der empirische Mensch, sondern die Menschheit in ihm, mithin das Vernünftige“ (aaO. Fn. 5, S. 183/184), abstrahiert er „das Vernünftige“ zu Unrecht von der selbstbegründenden Existenz; sein Einwand verkennt, dass die die Selbstzweckhaftigkeit jedes Menschen hervorhebende Fassung des kategorischen Imperativs („Selbstzweckformel“) ausdrücklich auf „die Menschheit in deiner Person“ (Hervorhebung nicht im Original) und damit das (auch) leibhaftige Subjekt abhebt, das so in seiner grundlegenden Aufgabe angesprochen wird, mit seinem Dasein auch das Dasein selbstbewusster Vernunft zu erhalten (so zutreffend E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W. Hassemer u. a. (Hrsg.), Strafrechtspolitik. Bedingungen der Strafrechtsreform, Frankfurt a. M. usw. 1987, S. 137 ff., bes. S. 174 ff.); und eben deshalb ist die Selbstzweckhaftigkeit jedes Subjekts auch nicht „aus dessen Perspektive im Handlungszeitraum“ zu beurteilen (so aber Murmann, aaO., S. 185), welche die Aufgabe als selbstbewusster „Ursprung“ der praktischen Vernunft durchaus verfehlen kann, sondern im Horizont der durch den kategorischen Imperativ begriffenen Autonomie. – Die Annahme, durch die Vernichtung der leibhaftig-organischen Basis des eigenen praktischen Vernunftdaseins sei als ein autonomer Akt verstehbar, obwohl durch sie die selbstbewusste, selbstbegründende Existenz ausgelöscht wird, erscheint demgegenüber wenig einleuchtend. 104 In diesem, zu allen praktischen Vernunftsubjekten zu verallgemeinernden Verständnis von uns selbst liegt – jedenfalls in einem säkularisiert fundierten Staat, in dem der Wert des Rechtsguts Leben nicht mehr aus dessen „Heiligkeit“ begründet werden kann – auch der Grund für die allgemein anerkannte Unabwägbarkeit von Leben gegen Leben.
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Diese Grundpflicht zu einer in einem anspruchsvollen, nicht biologistisch reduzierten Sinn verstandenen Selbst-Erhaltung und –Realisierung, der ein Verbot das eigene Freiheitsdasein existenziell bedrohender Selbstverfügung korrespondiert,105 ist nun nicht etwa nur moralischer Natur, sondern sie kann und muss vielmehr von der Basis des kategorischen Rechtsimperativs auch als Rechtspflicht begriffen werden,106 dabei als primär selbstbezügliches Gebot freilich auch primär selbst-verpflichtend, mit Kant gesprochen als eine „innere Rechtspflicht“,107 deren Geltung grundsätzlich nur durch Selbstzwang durchzusetzen ist.108 Zu einer äußeren und damit auch strafrechtlich bedeutsamen, durch die Rechtsgemeinschaft erzwingbaren Rechtspflicht im starken Sinn wird diese Pflicht zur Selbst-Erhaltung jedoch dann, wenn ihre Befolgung oder auch Missachtung im Rahmen eines gegenseitigen Anerkennungsverhältnisses wirksam wird und deswegen mit einer allgemeinen Geltungsbehauptung verbunden ist. Das aber kann nur angenommen werden, insofern – wie im Fall der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) oder auch schwerer, auf den Willen des Verletz105
Zu dieser Unveräußerlichkeit des menschlichen Vernunftdaseins treffend auch schon Rousseau, Contrat Social, I 4. 106 Vgl. zu den einzelnen, die Basis praktischer Selbstgesetzgebung (Autonomie) entfaltenden Schritten der Begründung dieser Grundpflicht als Rechtspflicht genauer die eindringliche, den „Zweifelsdruck der Alternativen“ (Dieter Henrich) ernst nehmende und umsichtig argumentierende Untersuchung von Asmus Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß. Zum Strafunrecht einverständlicher Sterbehilfe, Berlin 2001, S. 57 ff. (mit Bespr. von Alexander Riebel, Kant-Studien 98 (2007), S. 239 f.), bes. S. 195 ff. zur „rechtlichen Relevanz des Selbstverfügungsverbots.“ Angesichts dieser Begründung ist es unzutreffend, wenn Murmann (aaO. Fn. 5, S. 178 ff.) diese Ansicht als „moralteleologische Rechtsauffassung“ einordnet, weil sie „die Freiheitswidrigkeit nicht aus dem Gedanken der Inkompatibilität von Willkürfreiheiten ableitet, sondern aus der Erwägung, dass der Bewilligende sich im Selbstverhältnis nicht an den Anforderungen des kategorischen Imperativs orientiert (S. 182; siehe auch Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung. Die Strafbarkeit „opferloser“ Delikte im Lichte der Rechtsphilosophie Kants, Berlin usw. 2001, S. 84 ff.); denn dieses Argument schränkt den Begriff des Rechts am Ende doch wieder nur auf die mit äußerem Zwang durchsetzbaren Handlungsregeln für das gegenseitige Verhältnis ein, obwohl die „inneren Rechtspflichten“ (wie Murmann, aaO., S. 180/181 selbst zutreffend ausführt) ebenfalls Rechtspflichten sind. 107 Vgl. zu den „inneren Rechtspflichten“ bei Kant insbesondere ders., Naturrecht Feyerabend, AA XXVII, S. 1316 ff., bes. S. 1336, Z 36 ff., Anhang 18 und dazu Philipp-Alexander Hirsch, aaO., Fn. 43, S. 77 und S. 107 – 110, bes. bei und in Fn. 599, 600; siehe zur kantischen Unterscheidung von „inneren“ und „äusseren“ Rechtspflichten und der Einordnung der Selbsttötung als Beispiel für „Unrecht im Selbstverhältnis“ auch die klärenden Ausführungen von Maatsch (aaO. Fn. 106, S. 215/216 mit Hinweis auf die Vigilantius-Mitschrift zu Kants Metaphysik-Vorlesung bei und in Fn. 919). 108 Siehe dazu genauer Köhler, aaO. Fn. 100, S. 440, der diese Rechtspflicht treffend als eine „intern-äußere“ beschreibt, in der das „verpflichtende Rechtssubjekt … zunächst die Person selbst als Trägerin des Menschenrechts“ sei, und diesen Typus dahin erläutert, „dass es sich um eine Ursprungseinheit nur und ausschließlich selbstbezüglicher Selbstbestimmtheit handelt, in der sich die Momente der ethischen und der rechtlichen Selbstkonstitution miteinander verbinden“; vgl. auch Maatsch, aaO. Fn. 106, S. 216 ff. (zu den „inneren Rechtspflichten als selbstzwangsbewehrten Rechtspflichten“); zutreffend auch Gierhake, aaO. Fn 5, S. 299.
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ten zurückzuführender selbst-zerstörerischer Körperverletzungen (§ 228 StGB) – „eine andere Person, selbst mit „Willen“ des Betroffenen, dessen rechtliches Dasein in substantiellem Sinn aufhebt.“109 Aus dieser Grundlegung der Autonomie des Willens im Hinblick auf die SelbstErhaltungspflicht praktischer Vernunftsubjektivität folgt für die hier thematische Patientenautonomie, dass diese einerseits nicht schlicht als schrankenlose Willkürfreiheit zu verstehen ist, zum anderen aber auch, dass ihre etwa rechtspflichtwidrige Ausübung solange nicht als Kriminalunrecht begriffen werden kann und dementsprechend auch nicht behandelt werden darf, wie sie allein im Selbstverhältnis bestimmend und gestaltend wird, also nur gegen eine innere Rechtspflicht verstößt. Für die (straf-)rechtliche Beurteilung von Handlungen der „Sterbehilfe“ hat dies jedenfalls folgende Konsequenzen: (Straf-)Rechtlich erlaubte Handlungen der „Sterbehilfe“ kommen allein im Umgang mit lebensgefährlich Kranken in Betracht,110 also als Form des Umgangs mit dem Sterben als der finalen Phase personaler Existenz. Lehnt der moribunde Patient jegliche ärztliche Behandlung ab, weil er den Tod dem (vielleicht möglichen) Weiterleben vorzieht, und unterbleibt in dieser Konstellation die ärztliche Behandlung in Form von Maßnahmen der Heilbehandlung oder Lebenserhaltung, liegt ein Fall bloßen Sterbenlassens vor, der kein kriminelles Unrecht, also auch nicht den Tatbestand des § 216 StGB, verwirklicht. Die Situation ist mit derjenigen des im strafrechtlichen Sinne nicht unrechtlichen und deshalb straflosen Suizids vergleichbar; sie unterscheidet sich von dieser nur dadurch, dass die Ursache für den lebensgefährlichen Verlauf nicht eigenhändig gesetzt, sondern schicksalhaft erlitten wird. Eine gegen den Willen des Patienten, also zwangsweise erfolgende medizinische Behandlung ist folglich auch dann rechtswidrig, wenn dessen Entschluss – etwa wegen der darin liegenden Ausschlagung mehr oder weniger aussichtsreicher Heilungschancen – einen Verstoß gegen die selbstbezügliche Rechtspflicht zur Selbsterhaltung darstellen mag. Zu Recht wird daher eine medizinische Behandlung ohne Einwilligung des Patienten, der mit den (unter Umständen schwer belastenden) Auswirkungen der Behandlung leben muss, als Körperverletzungsdelikt bestraft. Wurde der Patient dagegen zunächst ohne seinen Willen (z. B. weil er wegen Bewusstlosigkeit gar nicht gefragt werden konnte) nach dem Grundsatz „Im Zweifel für das Leben“ künstlich am Leben erhalten, eventuell auch in Verbindung mit Maßnahmen der Heilbehandlung, und äußert er anschließend seinen Willen, solchen Lebenserhaltungs- und Behandlungsmaßnahmen nicht weiter ausgesetzt zu werden, sind 109
Vgl. Köhler, aaO. Fn. 100, S. 442; ähnlich ders., aaO. Fn. 47, S. 255/256. Es versteht sich, dass dies auch gegenüber Personen gilt, die sich durch eine Selbsttötungshandlung lebensgefährlich verletzt haben und deswegen zu sterben drohen, oder in Fällen unfallbedingter akuter Lebensgefahr wie etwa dem von Otto (aaO. Fn. 21, D 60) geschilderten Sachverhalt des unrettbar eingeklemmten LKW-Fahrers, der im Begriff ist, im Führerhaus seines Fahrzeugs zu verbrennen. 110
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diese Maßnahmen zu beenden. Die Handlungen, die die Beendigung der Maßnahmen entsprechend dem Patientenwillen bewirken, sind – unabhängig von der äußeren Handlungsform (Tun oder Unterlassen) – rechtlich ebenfalls als tatbestandsloses Sterbenlassen zu beurteilen,111 da dieser Wille nur eine selbstbezügliche Rechtspflicht verletzt, deren Missachtung keine Zwangsbefugnisse der anderen – sei es zum Zweck der Behandlung, sei es in Form von Strafzwang – begründen kann. Vielmehr stellen diese Handlungen nur denjenigen Status wieder her, der schon ursprünglich herzustellen gewesen wäre, sofern der Betroffene seine Entscheidung eigenverantwortlich hätte treffen können. Eine Missachtung seines nachträglich-aktuellen Willens würde folglich eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG darstellen. Entsprechendes gilt dann, wenn der Patient den genannten Maßnahmen zunächst zugestimmt hat, ihrer Fortführung aber anschließend widerspricht; da dem Kranken zur Ausübung seines für die anderen bindenden Patientenwillens auch ein Moment der Erfahrung mit den Auswirkungen der Behandlung bzw. lebenserhaltenden Maßnahmen zugestanden werden muss, würde auch die Missachtung eines nachträglichen Widerrufs der ursprünglich erteilten Einwilligung Art. 2 Abs. 2 GG verletzen. Führt die lebensgefährliche Erkrankung final zu einem Zustand, in dem der moribunde Patient nur noch durch schwerste Schmerzen (sog. Vernichtungsschmerzen) gequält und konkret beherrscht zu werden droht, erlaubt ärztliche Therapie am Lebensende grundsätzlich auch solche palliativen (schmerzstillenden) Maßnahmen, welche die Nebenwirkung haben (können), die Lebenszeit des Betroffenen zu verkürzen, sofern die Maßnahme dem Willen des Patienten entsprechen. Zwar wirkt das ärztliche Handeln in dieser Konstellation im gegenseitig-praktischen Verhältnis, die allgemeine Geltungsbehauptung, das strafrechtlich geschützte Rechtsgut des Lebens dürfe missachtet werden, läge darin jedoch nur dann, wenn dieses Rechtsgut nicht als selbstzweckhaftes personales Dasein, sondern als bloßes biologisches Phänomen geschützt, also als schieres Lebensfaktum, zu verstehen wäre. Das aber wird sich kaum begründen lassen. Den Leidenden in solcher Lage auf seine praktische Vernunft und das in dieser wurzelnde Gebot der Selbst-Erhaltung zu verweisen, liefe auf eine schlechte Abstraktion seiner Autonomie hinaus.112 Diese fordert von 111 In dieser Einsicht liegt der „wahre Kern“ von BGHSt 55, 191, wenn dort eine „an den äußeren Erscheinungsformen von Tun und Unterlassen“ orientierte „Abgrenzung zwischen gerechtfertigter und rechtswidriger Herbeiführung des Todes mit Einwilligung oder mutmaßlicher Einwilligung des Patienten“ abgelehnt wird (aaO., S. 201/202); aus den Begriffen „Sterbehilfe“ und „Behandlungsabbruch“ ergibt sich dies allerdings entgegen BGH aaO., S. 204 nicht. – Vgl. zu der damit angesprochenen Problematik der „passiven Euthanasie“ auch Maatsch, aaO. Fn. 106, der bei einverständlichem Behandlungsabbruch stets einen Unrechtsausschluss annimmt, da ein solcher Abbruch „als Unterlassen zu werten“ sei (S. 221/222). 112 Näher und zutreffend dazu Maatsch, aaO. Fn. 106, S. 227 ff., mit der anschaulichen Formulierung, sofern der Betroffene „gleichsam nur noch aus Schmerz besteht“, „alle Zwecksetzung bis an die Grenze der Notwendigkeit durch die empfundenen Schmerzen affiziert ist“, vermöge seine Vernunft „sich nicht mehr tätig umzusetzen;“ und insofern existiere „das Subjekt aller vernünftigen Zwecke … nur noch als ein Schatten seiner selbst“ (S. 229);
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ihm keine „Lebenserhaltung um jeden Preis“. Dementsprechend stellt auch die Äußerung seines Willens zu einer solchen palliativen Therapie eine Ausübung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG dar, so dass die dieser Grundrechtsausübung nachkommende ärztliche Behandlung den Tatbestand des § 216 StGB ebenfalls nicht verwirklicht.113 Diese Ergebnisse ändern – auch angesichts der in den vorstehenden Überlegungen angeklungenen inhaltlichen und systematischen Differenzen sowohl in der höchstrichterlichen Rechtsprechung als auch im strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum – indessen nichts daran, dass eine strafgesetzliche Regelung der „Sterbehilfe“ schon aus Gründen der Rechtssicherheit dringend geboten ist. Eine solche Regelung schuldet die durch die Legislative repräsentierte Rechtsgemeinschaft nicht nur der Ärzteschaft sowie den Angehörigen vonSterbenden, die häufig als Betreuerinnen und Betreuer „in der Pflicht“ stehen; sie schuldet sie vielmehr uns allen, so wahr wir endliche Vernunftwesen sind.
aus moralphilosophischer Sicht ebenso schon Henry James Paton, Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie, Berlin 1962, S. 209. – Der Einwand Murmanns hiergegen, der kategorische Imperativ liefere für diese Notlage „keinen Maßstab zur Lösung“, weil es letztlich auf das höchstpersönliche Urteil der leidenden Person ankommt (aaO. Fn. 5, S. 189/190), betont mit dem Hinweis auf die maßgebende Rolle des Betroffenen einen wichtigen Gesichtspunkt; er übersieht jedoch, dass der kategorische Imperativ (und überhaupt die kantische Imperativenlogik) ein Prinzip für den praktischen Umgang mit der beschriebenen Situation darstellt, das als „Leitfaden“ freilich anwendungsbezogen zu konkretisieren ist; mehr wird ein philosophischer Grundsatz kaum leisten können; eine „Freistellung“ der Praxis (so Murmann, S. 190) erlaubt er jedenfalls ersichtlich nicht; vielmehr deckt sich die hier vorgetragene Beurteilung mit der auch von Murmann (aaO., S. 506 ff., bes. S. 529 – 531) vertretenen „Tatbestands-Lösung“ (die dieser, folgerichtig, auf seine These von der Selbstverfügungsbefugnis stützt, die Rechte anderer in dieser Lage nicht beschränken dürften, weil dies auf eine unzumutbare Leidenspflicht des Schwerstkranken hinausliefe; so aaO., S. 300). 113 Der verbleibenden schwierigen Frage, ob – und falls ja – unter welchen Voraussetzungen und in welchen Formen der Wille des Patienten, seine Patientenautonomie, vertretbar ist, wie dies das neue „Patientenverfügungsgesetz“ vom 29. 7. 2009 bekanntlich vorsieht, kann hier aus Platzgründen nicht weiter nachgegangen werden. Immerhin sollte aber klar geworden sein, dass diesbezüglich alle Ansätze, welche den Willen des Betroffenen durch Vorstellungen Dritter oder auch „allgemeine Wertvorstellungen“ ersetzen wollen, strikt zu vermeiden sind; bedenklich (trotz des Zusatzes, es sei „jedoch Zurückhaltung geboten“) daher BGHSt 40, 257 (263).
Straflose „aktive Sterbehilfe“ und die Reichweite des § 216 StGB Zugleich ein Beitrag zum System der Handlungsformen Von Franz Streng
I. Einleitung 1. Direkte und indirekte Sterbehilfe Seit langem umstritten ist die Reichweite des Tötungsverbots im Bereich der Sterbehilfe. Auf der einen Seite wird – nicht zuletzt von der Rechtsprechung – das Tötungsverbot auch in diesem Grenzbereich im Wesentlichen uneingeschränkt verteidigt. Die aus § 216 StGB zu entnehmende „Einwilligungssperre“ untermauert diese Position auch für den Fall eines vom Patienten geäußerten Todeswunsches. Gleichwohl hat man in Teilen der Literatur den Aspekt der Autonomie des Individuums und der Menschenwürde ins Feld geführt, um Sterbehilfe zu ermöglichen. Unter „direkter Sterbehilfe“ versteht man zum einen das Abkürzen von schweren Leiden oder eines Sterbevorgangs durch Tötung in Form aktiven Tuns („aktive Euthanasie“). Dieses erfüllt die tatbestandlichen Voraussetzungen von §§ 211, 212 oder § 216 StGB und kann nach herkömmlicher Ansicht daher allenfalls in ganz extremen Ausnahmefällen auf der Schuldebene oder de lege ferenda über ein Absehen von Strafe zu Straflosigkeit führen1. Vereinzelt wird für ausweglose Konfliktsituationen auch die Anwendung von § 34 StGB bejaht2. Eine dogmatisch sauberere, freilich vom Rechtsgefühl her problematische Mindermeinung will allein auf der Ebene der Strafzumessung oder allenfalls strafprozessualer Einstellungsmöglichkeiten wegen geringer bzw. nicht schwerer Schuld (§§ 153, 153 a StPO) der schwierigen Situation des behandelnden Arztes Rechnung tragen. Diese Ansicht ist freilich nur bei solchen gravierenden Fällen immerhin wer-
1 Vgl. LG Ravensburg, NStZ 1987, 229 f.; Hirsch, FS Lackner, 1987, S. 597 ff., 610; Engländer, JZ 2011, 513. 2 Vgl. Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung; Gutachten C, in: Verhandlungen des Sechsundsechzigsten Deutschen Juristentages, Band I, 2006, C 68; ferner unten Rn. 50.
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tungsmäßig mehrheitsfähig, bei welchen großen Schmerzen des Patienten durch beabsichtigte Tötung ein Ende gesetzt werden soll3. Neuestens hat der Bundesgerichtshof den Weg zu einer Rechtfertigung immerhin bei aktiv handelnd vorgenommenem Behandlungsabbruch eröffnet. Hierauf wird im Folgenden (unten II.) näher einzugehen sein. Als zweite, rechtlich grundsätzlich weniger problematische Form „direkter Sterbehilfe“ gibt es die „passive Sterbehilfe“. Diese meint den das Leben verkürzenden Abbruch der ärztlichen Behandlung4, wobei zumeist auf Rechtfertigung durch Einwilligung oder mutmaßliche Einwilligung abgestellt wird. – Dazu mehr unten in I.2. und II. Grundsätzlich anerkannt ist die Zulässigkeit „indirekter Sterbehilfe“5, da die konsequente Anwendung von § 216 StGB auf jede Sterbehilfe in sinnlose Leiden ausarten würde. Bei sehr starken Schmerzen muss es möglich sein, dem Patienten auch dann Schmerzmittel zu verabreichen, wenn im Sinne bedingten Vorsatzes damit zu rechnen ist, dass dies lebensverkürzende Wirkung haben wird. Um straflose „indirekte Sterbehilfe“ geht es hier, weil Zweck der Maßnahme nicht die Beschleunigung des Todeseintritts ist, sondern die Schmerzlinderung. Wie man dies dogmatisch begründet, ist allerdings nicht so klar. Teils versucht man bereits eine Tötungshandlung zu verneinen, da der soziale Bedeutungsgehalt des Handelns hier eine schmerzlindernde Behandlung sei bzw. der Schutzbereich der §§ 211 ff. StGB nicht eingreife6. Dieses Abstellen auf eine „sozialadäquate Lebensverkürzung“ überzeugt freilich deshalb nicht so recht, weil das Handeln kausal für den konkreten Todeseintritt wird und nicht erkennbar ist, wie man mit derart allgemeinen und schlicht ergebnisorientierten Schutzbereichserwägungen die Erfolgszurechnung entfallen lassen kann. Es handelt sich bei „indirekter Sterbehilfe“ um einen klassischen Konflikt zwischen Hilfsgebot und Tötungsverbot, welcher letztlich eine Rechtfertigungsfrage 3
Vgl. MK-StGB/H. Schneider, 2003, § 216 Rn. 57; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 28. Aufl. 2010, Vor § 211 Rn. 25. 4 Vgl. BGHSt 40, 257 ff., 262 ff.; SSW-StGB/Momsen, 2009, Vor § 211 Rn. 28; Engländer, JZ 2011, 513 f.; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 216 Rn. 8a; Rosenau, FS Rissingvan Saan, 2011, S. 547 ff., 554 ff.; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, Vor § 211 Rn. 58 ff.; Kindhäuser, Strafrecht, BT I, 5. Aufl. 2012, § 3 Rn. 3 ff. 5 Vgl. etwa Frisch, in: Leipold (Hrsg.), Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft aus deutscher und japanischer Sicht, 1997, S. 103 ff., 107 f.; Schöch/Verrel u. a., AE-Sterbebegleitung, GA 2005, 553 ff., 573 f.; Verrel (Fn. 2), C 29 ff.; Dreier, JZ 2007, 317 ff., 322; Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, S. 313 ff., 322 ff.; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 3), Vor § 211 Rn. 26; NK-StGB/Neumann, 3. Aufl. 2010, Vor § 211 Rn. 95; Engländer, JZ 2011, 513 ff., 514, 519 f.; Fischer (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 55 ff.; Kindhäuser (Fn. 4), § 3 Rn. 2; Rengier, Strafrecht, BT II, 13. Aufl. 2012, § 7 Rn. 3 f. 6 Vgl. Herzberg, NJW 1996, 3043 ff., 3048; ähnlich Krey/M. Heinrich, Strafrecht, BT 1, 14. Aufl. 2008, Rn. 14; Wessels/Hettinger, Strafrecht, BT 1, 35. Aufl. 2011, Rn. 32 f.
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(im Sinne von Einwilligung, mutmaßlicher Einwilligung oder Notstand) darstellt. Im Falle mangelnder Anhaltspunkte für den Willen des Patienten wird hierbei eine Abwägung der in Frage stehenden Rechtsgüter vorgenommen – trotz der grundsätzlichen Abwägungsfeindlichkeit des höchstwertigen Rechtsguts Leben7. Dass zudem § 216 StGB den Einwilligungsprinzipien entgegensteht, lässt sich schwerlich ausräumen8. So gelangt man letztlich de lege lata zu einer nicht ganz befriedigenden Lösung. Der 3. Strafsenat des BGH hat in einer älteren Entscheidung dennoch den etablierten Ansätzen, insbesondere dem Abwägungsansatz unter Heranziehung von § 34 StGB9, zugestimmt10. 2. Sterbehilfe durch Unterlassen Eine Sonderkonstellation ergibt sich für den behandelnden Arzt. Für diesen bleibt die Frage nach straffreier Sterbehilfe durch Unterlassen („passive Euthanasie“) zu beantworten. Gerade wegen der fortschreitenden Möglichkeiten der Apparatemedizin ist eine Klärung dessen besonders wichtig geworden, ob und inwieweit eine Behandlung, die lediglich das Sterben verlängert, vom Arzt als Garanten verlangt werden kann, bzw. unter welchen Umständen er die Behandlung hier sogar abbrechen muss. Im Falle des Unterlassens lässt sich bei Einwilligung des Kranken oder bei mutmaßlicher Einwilligung der Abbruch der Behandlung als rechtmäßig ansehen; auch mit dem Entfallen der Garantenpflicht lässt sich bei einem Behandlungsverzicht die Straflosigkeit begründen. Zudem darf der Arzt gegen den Willen des Patienten keine Behandlung durchführen. Die Behandlungspflicht und sogar das Behandlungsrecht des Arztes finden ihre Grenzen in der Patientenautonomie11. Eine in die Körpersphäre des Kranken eindringende Behandlung gegen den Willen des Betroffenen ist unzulässig und stellt nach ständiger Rechtsprechung tatbestandlich eine Körperverletzung dar. Der Arzt hat einen Patientenwillen zu respektieren, der auf eine das Sterben beschleunigende Beendigung einer (Intensiv-)Behandlung hinausläuft. 7
Vgl. MK-StGB/H. Schneider (Fn. 3), Vor §§ 211 ff. Rn. 99 ff.; Dreier, JZ 2007, 317 ff., 322; Kühl, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 163 f.; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 3), Vor § 211 Rn. 26; zu den Grenzen des Abwägungsverbots vgl. auch Dannecker/A. Streng, JZ 2012, 444 ff., 449. 8 Vgl. NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 37; Rosenau, FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 577 f. 9 Speziell dazu kritisch Frisch (Fn. 5), S. 103 ff., 107; MK-StGB/Erb, 2. Aufl. 2011, § 34 Rn. 32, 34. 10 BGHSt 42, 301 ff., 305; ebenso etwa Otto, Jura 1999, 434 ff., 440 f.; Gössel/Dölling, Strafrecht, BT 1, 2004, § 2 Rn. 43; MK-StGB/H. Schneider (Fn. 3), Vor § 211 Rn. 101 ff.; ferner C. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, 1997, S. 242 ff.; Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 ff., 551. 11 Vgl. Merkel, ZStW 107 (1995), 545 ff., 559; NK-StGB/Neumann (Fn. 5), Vor § 211 Rn. 103 ff.; Dölling, ZIS 2011, 345 ff., 347; Engländer, JZ 2011, 513 ff., 517 f.; Hirsch, JR 2011, 37 ff., 38; Fischer (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 39 ff.
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Der „Einwilligungssperre“ aus § 216 StGB steht von daher auf anderer Seite eine „Behandlungssperre“ entgegen. In diesem Sinne lässt sich die Einwilligungssperre entschärfen, indem man mit der herrschenden Lehre § 216 ganz grundsätzlich nur für das Töten durch aktives Tun gelten lässt, da das Gesetz nicht die Autonomie dessen außer Kraft setzen dürfe, der ungestört von Eingriffen garantenpflichtiger Dritter sterben möchte12. Freilich ist die Abgrenzung von Tun und Unterlassen ganz grundsätzlich umstritten. Und es ergeben sich spezifische Schwierigkeiten für die unabdingbare Begründung bloßen Unterlassens deshalb, weil der Behandlungsabbruch weithin auch Elemente aktiven Handelns beinhaltet13. Da für die Frage der Unterscheidung von Tun und Unterlassen von der herrschenden Meinung auf den sozialen Sinngehalt des Geschehens abgestellt wird, kann man an die den Garanten treffende rechtliche Erwartung anknüpfen, die dahin geht, den Schützling zu behandeln. Von daher ist das Nicht-Behandeln stets als Unterlassen einzustufen, ganz egal, ob es mit einer körperlichen Aktivität verbunden ist, wie etwa dem Ausschalten eines Gerätes14. Diese Lehre vom „Unterlassen durch Tun“ ist aber durchaus umstritten15, wie auch der 2. Strafsenat des BGH in einer neueren Entscheidung hervorhebt16.
12 Vgl. Frisch (Fn. 5), S. 103 ff., 106; MK-StGB/H. Schneider (Fn. 3), § 216 Rn. 61 ff.; SSW-StGB/Momsen (Fn. 4), § 216 Rn. 11; NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 216 Rn. 9; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 3), § 216 Rn. 10; Lackner/Kühl (Fn. 4), § 216 Rn. 4; Rengier (Fn. 5), § 8 Rn. 12 ff.; Verrel (Fn. 2), C 60 ff.; dagegen BGHSt 55, 191 ff., 202; Bosch, JA 2010, 908 ff., 911. 13 Vgl. BGHSt 55, 191 ff., 202 f.; Rosenau, FS Rissing-van Saan, 2011, S. 547 ff., 555; ders., FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 577 ff., 579 f.; Fischer (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 60. 14 Im Ergebnis ebenso BGHSt 40, 257 ff., 265 f.; Küper, JuS 1971, 474 ff., 476; Engisch, FS Gallas, 1973, S. 163 ff., 177 f.; Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 7/64; C. Schneider (Fn. 10), S. 174 ff.; MK-StGB/H. Schneider (Fn. 3), Vor §§ 211 ff. Rn. 109; Roxin, Strafrecht, AT II, 2003, § 31 Rn. 115 ff.; Führ, Jura 2006, 265 ff., 269; Dreier, JZ 2007, 317 ff., 323; Roxin (Fn. 5), S. 313 ff., 331; Kühl (Fn. 7), § 18 Rn. 17; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht, BT, 2. Aufl. 2009, § 3 Rn. 16; Geth, Passive Sterbehilfe, Basel 2010, S. 35 f.; B. Heinrich, Strafrecht, AT II, 2. Aufl. 2010, Rn. 872; Schönke/Schröder/Stree/Bosch, StGB, 28. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 160; Dölling, ZIS 2011, 345 ff., 346 f.; Krey/Esser, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2011, Rn. 1107 ff.; Lackner/Kühl (Fn. 4), § 216 Rn. 8a; Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 41. Aufl. 2011, Rn. 702 f.; Kindhäuser (Fn. 4), § 3 Rn. 6. 15 Die Lehre vom „Unterlassen durch Tun“ (vgl. Fn. 14) ablehnend etwa Samson, FS Welzel, 1974, S. 579 ff., 601 f.; Hruschka, FS Bockelmann, 1979, S. 421 ff., 433 f.; Maurach/ Gössel/Zipf, Strafrecht, AT 2, 7. Aufl. 1989, § 45 Rn. 32; Kargl, GA 1999, 459 ff., 480 f.; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, AT, 11. Aufl. 2003, § 15 Rn. 33; Gropp, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2005, § 11 Rn. 69 ff.; LK-StGB/Weigend, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 9; Freund, FS Herzberg, 2008, S. 225 ff., 237; Hettinger, in: Laubenthal (Hrsg.), Festgabe für Rainer Paulus, 2009, S. 73 ff., 84 f.; Kubiciel, ZJS 2010, 656 ff., 659; NK-StGB/Wohlers, 3. Aufl. 2010,§ 13 Rn. 10; Joerden, FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 593 ff., 606; Rosenau, FS Rissing-van Saan, 2011, S. 547 ff., 555 f.; ders., FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 577 ff., 579 f.; T. Walter, ZIS 2011, 76 f.; Fischer (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 60. 16 Vgl. BGHSt 55, 191 ff., 202 f.
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Weiterhin problematisch an der Rechtsfigur „passiver Sterbehilfe“ ist, dass sich auf dem geschilderten Weg eben nur ein Ärzteprivileg begründen lässt. Den Angehörigen des Patienten, die mit genauso hochwertigen Motiven dem Todeswunsch der ihnen nahestehenden Person aktiv handelnd erfüllen wollen, indem sie die Behandlung beenden, kann man mit einer Unterlassenskonstruktion nicht helfen17. Die vielfach umstrittene und unklare Lage im Bereich der Sterbehilfe hatte der 66. DJT 2006 in der strafrechtlichen Abteilung unter dem Thema „Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung“ aufgegriffen18. Richtig Bewegung ist freilich erst mit dem (unter II.) zu diskutierenden Urteil des 2. Strafsenats des BGH aus dem Jahre 2010 in die Diskussion gekommen.
II. Strafloser lebensverkürzender Eingriff in Behandlungsmaßnahmen? 1. Der Ausgangsfall Der Entscheidung des 2. Strafsenats19 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Eine 76-jährige Patientin lag nach einer Hirnblutung im Wachkoma und wurde mittels Bauchsonde künstlich ernährt. Da eine Besserung laut ärztlicher Stellungnahme nicht erwartbar war und die Patientin sich für eine derartige Situation eine Weiterbehandlung verbeten hatte, durchtrennte die als Betreuerin ihrer Mutter (zusammen mit ihrem Bruder) eingesetzte Tochter unter Beteiligung ihres Bruders die Bauchsonde, nachdem die Heimleitung eine Beendigung der künstlichen Ernährung abgelehnt hatte. Dieses Vorgehen war den beiden erwachsenen Kindern der Patientin von einem Fachanwalt für Medizinrecht geraten worden. Da das Durchtrennen der Magensonde vom Pflegepersonal bemerkt worden war, konnte in einem Krankenhaus die künstliche Ernährung fortgesetzt werden. Die Patientin starb dort eines natürlichen Todes. Während die Tochter wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen wurde, ist der ratgebende Anwalt vom Landgericht wegen versuchten Totschlags verurteilt worden. Auf seine Revision hin sprach ihn der BGH frei. In der vorliegenden Fallkonstellation gibt es hinsichtlich der rechtlichen Qualität des Handelns als aktives Tun wenig Zweifel. Da hier nicht der behandelnde Arzt die Tötungshandlung vornimmt, lässt sich das Verhalten nicht als „Unterlassen durch Tun“ einstufen; so scheidet es aus, unter Zugrundelegung der Unterlassensdogmatik auf gebahntem Wege zur Straflosigkeit – etwa wegen Wegfalls seiner Eingriffsberechtigung in der Folge des erklärten Patientenwillens – zu gelangen. Für eine nor17
Vgl. hierfür den bekannten Fall des LG Ravensburg, NStZ 1987, 229 (mit Anm. von Roxin, NStZ 1987, 345 ff., 348 ff.). 18 Gutachten von Verrel (Fn. 2); begleitende Aufsätze von Lüderssen, JZ 2006, 689 ff.; Ingelfinger, JZ 2006, 821 ff.; Otto, NJW 2006, 2217 ff.; Schroth, GA 2006, 549 ff. 19 BGHSt 55, 191 ff. = NJW 2010, 2963 ff.
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mativ begründete Abweichung von der im ersten Schritt zu verfolgenden phänomenologischen oder kausalitätsorientierten Abgrenzung von Tun und Unterlassen besteht beim Eingreifen eines Dritten, der nicht behandelnder Arzt ist, kein Ansatzpunkt20. In der fraglichen Entscheidung hat der Senat nun aber nicht nur den Abbruch von Behandlung im Sinne von Nicht-Weiterbehandlung, sondern auch die aktive Beendigung von lebensverlängernder Behandlung ¢ also aktives Töten! ¢ als durch den Patientenwillen rechtfertigbar anerkannt. Auf Grundlage der Betonung des grundrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts des Patienten geschieht dies trotz des eigentlich entgegenstehenden Wortlauts des § 216 StGB. Der Senat beschränkt die Rechtfertigung freilich auf die Fälle, in welchen der (aktive oder passive) Behandlungsabbruch durch Arzt oder Betreuer dafür sorgt, dass ein bereits begonnener Krankheitsprozess nun seinen Lauf nimmt und der Patient dem Sterben überlassen wird. Ein von einem derartigen Krankheitsprozess abgekoppelter Eingriff hingegen unterfällt nach wie vor § 216 StGB21. Die durchaus umstrittene Begrenzung zulässiger Sterbehilfe durch den Senat auf den Arzt oder bestellten Betreuer22 kann im Folgenden nicht diskutiert werden. 2. Offene Rechtsfragen bezüglich Tun und Unterlassen Man geht sicher nicht fehl, die hier vorgenommene Interpretation der Reichweite der §§ 211 ff. StGB als teleologische Reduktion der Norm auf Grundlage einer Abwägung von Individual- gegen Kollektivinteressen anzusehen23. Freilich ist das nur das Ergebnis, welches für eine Begründung noch dogmatischer Vertiefung bedarf. Der Hinweis des Senats auf eine Rechtfertigung durch Einwilligung oder gar sein Verweis auf ein Rechtsinstitut des „Behandlungsabbruchs“ erschöpft die zu beantwortenden Fragen evident nicht.
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Vgl. C. Schneider (Fn. 10), S. 175 ff., 188 ff.; Streng, ZStW 122 (2010), 1 ff., 2 f., 15. Vgl. BGHSt 55, 191 ff., 201 ff., 204 f.; zustimmend mit teils kritischen Anmerkungen zur rechtlichen Konstruktion Bosch, JA 2010, 908 ff.; Gaede, NJW 2010, 2925 ff.; Kubiciel, ZJS 2010, 656 ff.; Verrel, NStZ 2010, 671 ff.; Dölling, ZIS 2011, 345 ff.; Eidam, GA 2011, 232 ff.; Engländer, JZ 2011, 513 ff.; Fischer, FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 557 ff.; Frister, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, 22. Kap. Rn. 10; Hecker, JuS 2011, 1027 ff.; Hirsch, JR 2011, 37 ff.; Rosenau, FS Rissing-van Saan, 2011, S. 547 ff.; ders., FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 577 ff.; T. Walter, ZIS 2011, 76 ff.; Wolfslast/Weinreich, StV 2011, 286 ff.; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 30d; Fischer (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 61 ff.; Rengier (Fn. 5), § 7 Rn. 7a ff. 22 Kritisch Verrel, NStZ 2010, 671 ff., 674 f.; Rosenau, FS Rissing-van Saan, 2011, S. 547 ff., 563 f.; dem Senat zustimmend Dölling, ZIS 2011, 345 ff., 348; T. Walter, ZIS 2011, 76 ff., 79 f.; Wolfslast/Weinrich, StV 2011, 286 ff., 288. 23 Vgl. etwa Gaede, NJW 2010, 2925 ff., 2928; T. Walter, ZIS 2011, 76 ff., 81 f.; Engländer, JZ 2011, 513 ff., 518; Joerden, FS Claus Roxin, Bd. 1, S. 593 ff., 595. 21
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a) Tun und Unterlassen im Urteil des 2. Strafsenats Bemerkenswert erscheint, mit welcher Entschiedenheit der Senat die Unterscheidung von Tun und Unterlassen als nicht entscheidungsrelevant erklärt. Er stuft für die zu klärende Frage Tun und Unterlassen als gleichwertig ein24. Nachdrücklich wendet er sich gegen die Figur des „Unterlassen durch Tun“, wenn er betont, dass „eine solche wertende Umdeutung aktiven Tuns in ein normatives Unterlassen … den auftretenden Problemen nicht gerecht (wird)“25. Diese Stellungnahme muss um so mehr erstaunen, als seiner Lösung zufolge, die auf Rechtfertigung durch Einwilligung setzt, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten allein in den Fällen dominieren soll, in welchen der (aktive oder passive) Behandlungsabbruch „einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf lässt“26. Damit begrenzt der Senat seine Lösung auf den Fall des Nichthemmens eines Sterbevorgangs, was auch bei aktivem Tun eine Nähe zur Unterlassenskonstellation beinhaltet. Durch die übergreifend verstandene Kategorie des „Behandlungsabbruchs“ wird die hier ins Spiel kommende Tatbestandsebene nachgerade verdeckt27. Der von daher eher verwirrende Umgang des Senats mit Tun und Unterlassen provoziert den Versuch einer Systematisierung, um so einer tragfähigen Grundlage für die – immerhin im Ergebnis weithin plausible – Lösung des Senats näher zu kommen. b) Eine differenzierende Systematisierung von Tun und Unterlassen aa) Grundlagen Nachdrücklich zu erinnern ist daran, dass dem Unterlassenden im Rahmen von § 13 StGB eine Untätigkeit als solche gar nicht vorgeworfen wird. Zurechnungsgrund ist, dass der Garant seine Möglichkeiten, eine rettende Kausalität in Gang zu setzen oder in Gang zu halten, pflichtwidrig nicht genutzt hat. Dass es in diesem Sinne nicht auf den physikalischen Vorgang des Nichtstuns bzw. nicht auf eine entsprechende Phänomenologie ankommt, sondern auf das Nichtbewirken einer erfolgsverhindernden Kausalität, macht der Gesetzeswortlaut ganz deutlich. § 13 I StGB stellt darauf ab, dass der Täter „es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“. Führend ist mithin nicht etwa der Begriff des Unterlassens, sondern derjenige der nicht geleisteten Erfolgsabwendung28. 24
Vgl. BGHSt 55, 191 ff., 201 ff. BGHSt 55, 191 ff., 202. 26 BGHSt 55, 191 ff., 201 ff., 204 f. 27 Kritisch auch Verrel, NStZ 2010, 671 ff., 674; Dölling, ZIS 2011, 345 ff., 346; Duttge, MedR 2011, 36 ff., 37; Frister (Fn. 21), 22. Kap. Rn. 10; Joerden, FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 593 ff., 597 f.; T. Walter, ZIS 2011, 76 ff., 78 f.; Rengier (Fn. 5), § 7 Rn. 8; anders Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 ff., 547. 28 Ausführl. Streng, ZStW 122 (2010), 1 ff. – Auch für das österreichische (§ 2 StGB) und das schweizerische Strafrecht (Art. 11 II StGB) gilt das bei Zugrundelegen des jeweiligen Normtextes. 25
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Für die Abgrenzung des Tuns vom Unterlassen ist demnach maßgeblich, ob der Täter eine unmittelbare (direkte) Kausalität in Richtung einer Erfolgsherbeiführung gesetzt hat29. In diesem Falle geht es um ein kausales „Bewirken“ des Erfolgseintritts. Beim Unterlassen hingegen geht es um bloßes Nicht-Verhindern bei bereits existentem erfolgsträchtigem Kausalverlauf30. Dieser Abgrenzung lässt sich nicht entgegenhalten, dass in Fällen des Unterlassens speziell eine Garantenstellung aus Ingerenz eine vorherige täterseitige Gefahrenbegründung voraussetzt. Denn hierbei handelt es sich um eine andere Ebene. Für die Abgrenzung von Tun und Unterlassen kommt es auf den Zeitpunkt des deliktischen Verhaltens an, nicht aber auf die Vorphase. Trotz der dargestellten kausalitätsorientierten Abgrenzung anhand einer starken und einer schwachen Verursachungsform wird hier darauf verzichtet, zur umstrittenen Frage, ob ein Unterlassen überhaupt im eigentlichen Sinne kausal für einen tatbestandlichen Erfolgseintritt sein kann oder bloße Quasi-Kausalität bedeutet, Stellung zu beziehen31. Die Sinnhaftigkeit einer Differenzierung zwischen unmittelbarer Förderung des deliktischen Erfolgs und dessen Nicht-Verhindern lässt sich straftheoretisch mit Bezug auf Erfolgsunrecht und Handlungsunrecht untermauern: Im Falle fehlender unmittelbarer Kausalität eines Handelns für den deliktischen Erfolg bedarf es einer hinzutretenden besonderen Pflichtenstellung, um dem Unterlassenden den – von ihm nicht direkt verursachten – Taterfolg in vertretbarer Weise zurechnen zu können. Zudem beinhaltet ein bloßes Nicht-Retten keine so markante Auflehnung gegen die Rechtsordnung wie das aktive Tun. Dem hat der Gesetzgeber durch die Regelung des § 13 StGB Rechnung getragen32. Trotz der eigentlich eindeutigen Ausgangslage in der Formulierung von § 13 I StGB ist ein Meinungsstreit um die Abgrenzung von Tun und Unterlassen entstanden, der sich weithin von der gesetzlichen Ausgangslage gelöst hat. Dies dürfte eine 29 Für Abgrenzung anhand eines Kausalitätskriteriums etwa schon Roxin, ZStW 74 (1962), 411 ff., 415 f.; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 203; Samson, FS Welzel, 1974, S. 579 ff., 595; Jakobs (Fn. 14), 28/3; Jescheck/Weigend, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 1996, S. 603; SK-StGB/Rudolphi, 7. Aufl. 2000, Vor § 13 Rn. 6 f.; Streng, ZStW 122 (2010), 1 ff., 8 ff., 22 f.; Duttge, MedR 2011, 36 ff., 37; zur unterschiedlichen „Siebfunktion“ der Kausalität bei Tun und bei Unterlassen vgl. Arzt, JA 1980, 553 f.; ferner Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 2. Aufl. 1988, S. 57 ff., 314; Zieschang, Strafrecht, AT, 2005, S. 26. 30 Vgl. auch Samson, FS Welzel, 1974, S. 579 ff., 592 f.; SK-StGB/Rudolphi (Fn. 29), Vor § 13 Rn. 6 f.; Hettinger (Fn. 15), S. 73 ff., 82, 84; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2011, § 13 Rn. 3; ferner Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 205; Androulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963, S. 83 („Ursache nicht des Entstehens, sondern des Bestehens eines Erfolges“); Jescheck/Weigend, Strafrecht, AT, S. 603 f.; Geth (Fn. 14), S. 26. 31 Vgl. auch Streng, ZStW 122 (2010), 1 ff., 2 f. 32 Vgl. auch Samson, FS Welzel, 1974, S. 579 ff., 585: „Der Begriff der Unterlassung muß so gebildet werden, daß die Notwendigkeit einer Garantenstellung beim Unterlassungstäter plausibel wird“.
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Ursache zum einen in der Durchschlagskraft des alltagssprachlich bildhaften Begriffs „Unterlassen“ haben. Es findet die deskriptiv-naturalistische Abgrenzung33 ihren Rückhalt also bereits in ihrer relativ großen Manipulationsresistenz und von daher Bestimmtheit. Zum anderen spielt aber sicher auch eine intuitive Bewertung eine Rolle, welche jedwedes aktives Tun zu Lasten eines Rechtsguts als markantes Handlungsunrecht, als eine spezifische Auflehnung gegen die Rechtsordnung, einstuft. Und dies scheint ganz unabhängig davon zu gelten, ob ein eigenständiger Schädigungsverlauf initiiert oder nur einer bereits vorhandenen Schädigungskausalität freier Lauf gelassen wird. Nicht zufällig wurde gerade in Konstellationen, in welchen eine Auflehnung gegen die Rechtsordnung in den Hintergrund tritt, wie bei Sterbehilfe, das „Unterlassen durch Tun“ weithin akzeptiert. Hier wurde der Weg zurück zum Kern der Regelung des § 13 I StGB mit ihrer Konzentration auf das Nichteinschreiten gegen eine bereits virulente Schädigungskausalität ohne normative Bedenken gefunden. bb) Formen des Unterlassens Von diesem Verständnis des Unterlassens ausgehend, lassen sich zwei Unterformen unterscheiden: Zunächst das auch mit einem deskriptiv-naturalistischen Ansatz treffsicher identifizierbare echte Unterlassen als „passives Unterlassen“; daneben das „aktive Unterlassen“ als Unterlassen durch Tun, das nur unter besonderen Voraussetzungen dem echten Unterlassen wertend gleichgestellt wird. Das echte Unterlassen ist gekennzeichnet durch eine schwache Form von Kausalität (Quasi-Kausalität) in Form des Nicht-gerettet-Habens und durch eine wenig markante Auflehnung gegen die Rechtsordnung. Das aktive Unterlassen ist gleichermaßen durch eine nur schwache Form von Kausalität geprägt, wegen der in einem aktiven Schädigungshandeln typischerweise in starker Form enthaltenen Auflehnung gegen die Rechtsordnung bestehen aber weithin intuitive Bedenken dagegen, über eine Strafbarkeit lediglich nach den restriktiven Voraussetzungen des § 13 StGB zu entscheiden. cc) Formen des Tuns Dieser Unterscheidung innerhalb des Unterlassens ist eine Differenzierung auch der zweiten Handlungsform, nämlich des Tuns, zur Seite zu stellen. Im unproblematischen Regelfall eröffnet oder verstärkt der aktiv Handelnde eine Schädigungsentwicklung, oder er entfesselt durch Eingriff in Dritthandeln ein immerhin latent bereits vorhandenes Schädigungspotential. Hier ist stets sowohl das Erfolgsunrecht als auch das Handlungsunrecht in Vollform gegeben. Daneben gibt es weitere 33 Für einen strikt phänomenologischen Ansatz, der die Unterscheidung von Tun und Unterlassen etwa anhand der Wahrnehmbarkeit oder Sichtbarkeit der Handlung vornimmt, vgl. etwa Gössel, ZStW 96 (1984), 321 ff., 326 f.; Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 15), § 45 Rn. 30; LKStGB/T. Walter, 12. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 30 ff.; Bung, ZStW 120 (2008), 526 ff., 530 ff.; T. Walter, ZIS 2011, 76 ff., 80. – Dieser Ansatz kann das echte Unterlassen und – im Folgenden näher zu behandeln – das passive Tun nicht unterscheiden.
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Fälle des Bewirkens eines tatbestandlichen Erfolges, bei welchen der Täter jedoch nicht aktiv handelt, andererseits aber auch kein bloßes Unterlassen im Sinne des Nichteinschreitens gegen eine bereits virulente Gefährdungs- oder Schädigungskausalität vorliegt34. Dieses „passive Tun“35 besteht aus willensgesteuerter Untätigkeit, welche selbst unmittelbar kausal für die Tatbestandsverwirklichung wird36. Als markante Formen sind etwa die konkludente Täuschung im Rahmen von § 263 StGB, die Falschaussage durch Schweigen und der Hausfriedensbruch in der Tatbestandsalternative des „sich nicht entfernt“ (§ 123 I 2. Alt. StGB) zu benennen37. Dass eine derartige wirkmächtige Untätigkeit kein Unterlassen i.S.v. § 13 StGB darstellt, ergibt sich im Sinne der oben vorgestellten Auslegung dieser Vorschrift aus dem Fehlen einer bereits virulenten Schädigungskausalität. Erst das Untätigbleiben setzt diese in Gang. Dass man hier für Strafbarkeit angesichts des Fehlens einer manifesten Auflehnung gegen die Rechtsordnung, das Verletzen einer Handlungspflicht – wenngleich keiner Garantenpflicht i.S.v. § 13 – vorauszusetzen hat, erscheint plausibel38. dd) Zusammenfassende Darstellung der fünf Handlungsformen Zu unterscheiden ist demnach zwischen (1) einem erfolgsverursachenden „aktiven Tun“, (2) dem aktiven Intervenieren in fremde Rettungshandlungen, (3) einer unmittelbar erfolgsursächlichen bzw. gefahrensteigernden Untätigkeit als „passivem Tun“, (4) einem echten (passiven) Unterlassen der Erfolgsabwendung und (5) einem aktiven Beseitigen vorheriger eigener Rettungshandlungen (aktives Unterlassen). Die Begehungsformen 1 bis 3 lassen sich auch als „Bewirken“ kennzeichnen, jedes Unterlassen (4 und 5) meint „Nicht-Verhindern“. In diesem Sinne sind bei den Erfolgsdelikten also nicht nur die zwei grundlegenden Handlungsformen Tun und Unterlassen zu unterscheiden, sondern bei Berücksichtigung von Unterformen deren fünf, wie aus dem folgenden Schaubild zu entnehmen ist.
34
Vgl. schon die Überlegungen zur konkludenten Täuschung bei Frisch, FS Herzberg, 2008, S. 729 ff., 745 ff. 35 Ausführlich Streng, ZStW 122 (2010), 1 ff.; zur bislang fehlenden Nutzung des Begriffs „passives Tun“ vgl. Hettinger (Fn. 15), S. 73 ff., 82. 36 Eine von der herkömmlichen Dyade von positivem Tun und Unterlassen abweichende Auffassung hatte bereits Hellmuth Mayer (Strafrecht, AT, 1953, S. 113, 151 f. bzw. Strafrecht, AT, 1967, S. 81 ff.) vertreten, indem er auch Untätigkeit als Begehung auffasste, soweit die Untätigkeit einer aktiven Deliktsverwirklichung willensmäßig gleicht. Dieser stark subjektivierende Ansatz, der mit einer Kritik der Pflichtentheorie der herrschenden Meinung bei den unechten Unterlassungsdelikten einherging, hat berechtigterweise keine Anhängerschaft gefunden. Zur Kritik vgl. Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 109 ff. 37 Näher Streng, ZStW 122 (2010), 1 ff., 5 ff. 38 Vgl. Streng, ZStW 122 (2010), 1 ff., 9 f., 23; vgl. auch Frisch, FS Herzberg, 2008, S. 729 ff., 749 f.; ferner Jakobs (Fn. 14), 28/14.
Straflose „aktive Sterbehilfe“ und die Reichweite des § 216 StGB
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Handlungstyp
Beschreibung
Unrechtstypisierung
aktives Tun
unmittelbar kausale Erfolgsherbeiführung (Bewirken) durch aktives Tun
volles Erfolgs- und Handlungsunrecht
mittelbar kausale Erfolgsherbeiführung (Bevolles Erfolgs- und Handaktives Tun wirken) durch Intervenieren in fremde Retlungsunrecht (Intervenieren) tungshandlung passives Tun
unmittelbar kausale Erfolgsherbeiführung (Bewirken) durch Untätigkeit
volles Erfolgsunrecht bei gemindertem Handlungsunrecht
passives Unterlassen
erfolgsförderliches Nicht-Intervenieren in gegebenen Schädigungsverlauf
gemindertes Erfolgs- und Handlungsunrecht
aktives Unterlassen
erfolgsförderliches Nicht-Intervenieren in gegebenen Schädigungsverlauf mittels Tun (Unterlassen durch Tun)
gemindertes Erfolgsunrecht bei vollem Handlungsunrecht
3. Bedeutung der Handlungs-Systematisierung für die Sterbehilfe-Strafbarkeit Die bereits wiederholt angesprochene Entscheidung des 2. Strafsenats des BGH39 behandelt Tun und Unterlassen in Fällen des vom Patienten gewünschten, letalen Behandlungsabbruchs gleich. Ein Weg zur Rechtfertigung auch der vom Opfer gewünschten vorsätzlichen aktiven Tötung wird so eröffnet. Zugleich scheint ein Widerspruch dieser Rechtsprechung zu dem in der Lehre verbreiteten Ansatz auf, § 216 StGB speziell und nur auf Unterlassensfälle schon tatbestandlich nicht anwenden zu wollen40. Im Folgenden ist zu eruieren, inwieweit die oben dargestellte Systematisierung helfen kann, derartige Widersprüche aufzulösen. a) Aktiver Behandlungsabbruch seitens des Arztes Angesichts der oben (in 2. b)) dargestellten Systematisierung wird einsichtig, dass es für Straffreiheit in Unterlassensfällen nicht primär um die Frage körperlicher Aktivität oder Inaktivität gehen kann. Vielmehr greift § 216 StGB dann nicht ein, wenn der Adressat des verantwortlich und ernsthaft geäußerten Todeswunsches lediglich darauf verzichtet, einen bereits existenten letalen Verlauf zu unterbrechen, oder wenn er aktiv handelnd lediglich seine diesbezüglichen eigenen Rettungsaktivitäten neutralisiert. Es handelt sich bei den in der Entscheidung des 2. Senats als privilegierungstauglich dargestellten Konstellationen im Fall der Rücknahme eigener Behandlungsmaßnahmen durch den Arzt also um Unterlassen im Sinne „aktiven Unterlassens“. Der aktiv handelnd seine Behandlungsmaßnahmen Zurücknehmende „unterlässt (es), einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“ 39 40
Vgl. BGHSt 55, 191 ff. Vgl. oben Fn. 12.
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(§ 13 I StGB). Ein Überstrapazieren der Abgrenzung von Tun und Unterlassen zum Zwecke der Eröffnung straffreien Abschaltens von lebensverlängernden Maßnahmen – wie immer wieder behauptet41 – liegt hier gerade nicht vor, sondern eine wortgetreue Auslegung des Gesetzes. Bei diesem „Unterlassen durch Tun“ ist das Erfolgsunrecht stark gemindert in Relation zu direkter Kausalität, da die Todesursache anderenorts, nämlich in einer bereits virulenten Krankheit wurzelt. Zudem ist das Handlungsunrecht angesichts der Befolgung des Patientenwillens minimiert. Eine Rechtfertigungsoption – etwa über Einwilligung – erscheint plausibel. Das Einwilligungsverbot des § 216 StGB steht nicht entgegen, da der Patient – trotz möglicher letaler Folgen – das Recht hat, sich weitere Behandlung zu verbitten42. In der Folge der Ablehnung weiterer lebensverlängernder Behandlung entfällt insoweit die zu Gunsten des Patienten bestehende ärztliche Garantenpflicht43. Auf Grundlage dieser Ansicht ist die ansonsten für eine Rechtfertigung der Unterlassens-Tötung heranzuziehende Einwilligung oder mutmaßliche Einwilligung funktionslos. Dass der Behandlungsabbruch für den Arzt straffrei möglich sein muss, entspricht jedenfalls der Wertung, dass jede Zwangsbehandlung des Patienten gegen dessen Menschenwürde verstoßen würde. Das bei derartigem ärztlichem Behandlungsabbruch vom Senat angenommene aktive Tun hingegen stellt den Arzt ohne Not irgendwelchen Außenstehenden (seien sie auch Garanten) gleich44. Dies überzeugt nicht, da der Externe in eine infolge Krankenversorgung bestehende Todesverzögerung eingreift und dadurch eine neue Kausalität mit der Folge beschleunigten Todeseintritts in Gang setzt. Hier missachtet der externe Täter nicht etwa lediglich eine eigene Rettungsverpflichtung, d. h. er lässt den Dingen nicht einfach ihren Lauf i.S.v. Unterlassen. Vielmehr greift er gestaltend in eine von anderer Seite verantwortete Rettungskausalität ein. Er verschärft derart die existente Gefahrenlage, handelt mithin im Sinne aktiven Tuns45.
41
Vgl. oben Fn. 15 und 16. Vgl. C. Schneider (Fn. 10), S. 228 ff., 238 ff.; MK-StGB/H. Schneider (Fn. 3), Vor § 211 Rn. 105; Schöch/Verrel u. a., AE-Sterbebegleitung, GA 2005, 553 ff., 561; Dreier, JZ 2007, 317 ff., 322 f.; Roxin (Fn. 5), S. 313 ff., 329; Kubiciel, ZJS 2010, 656 ff., 657; Engländer, JZ 2011, 513 ff., 517 f.; Fischer, FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 557 ff., 568 f.; Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 ff., 549; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 30d; Kindhäuser (Fn. 4), § 3 Rn. 3. 43 Vgl. auch Achenbach, Jura 2002, 542 ff., 544, 545 f.; Verrel, NStZ 2010, 671 ff., 673 f.; Engländer, JZ 2011, 513 ff., 517; Wessels/Hettinger (Fn. 6), Rn. 30d. 44 Diese Folge umgeht Rissing-van Saan (ZIS 2011, 544 ff., 549 f.), wenn sie gerade in dieser Konstellation die objektive Erfolgszurechnung verneint. 45 Vgl. Engisch, FS Gallas, 1973, S. 163 ff., 180 ff.; Samson, FS Welzel, 1974, S. 579 ff., 596; Blei, Strafrecht, AT, 18. Aufl. 1983, S. 312; C. Schneider (Fn. 10), S. 188 ff.; MK-StGB/ H. Schneider (Fn. 3), Vor § 211 Rn. 110; Gropp (Fn. 15), § 11 Rn. 68; Verrel, (Fn. 2), C 64; LK-Weigend (Fn. 15), § 13 Rn. 8; NK-StGB/Wohlers (Fn. 15), § 13 Rn. 9; Schönke/Schröder/ Stree/Bosch (Fn. 14), StGB, Vor § 13 Rn. 159; Dölling, ZIS 2011, 345 ff., 346 f.; Lackner/ Kühl (Fn. 4), § 13 Rn. 3. 42
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Eine Ähnlichkeit des Handelns von Arzt und Außenstehendem liegt freilich darin begründet, dass auch der aktiv Handelnde lediglich die Relevanz der vorbestehenden letalen Entwicklung wieder herstellt. Orientiert man sich am Gesetzeswortlaut des § 13 I StGB, dann bleibt der Unterschied aber bestehen: Der die Behandlung abbrechende Arzt „unterlässt (es), einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“, nämlich zu § 216 StGB. Der von außen Eingreifende hingegen tut mehr, als auf eine Erfolgsabwendung zu verzichten; er setzt eine eigenständige Schädigungskausalität und zeigt mithin aktives Tun. Es kann von daher nicht überzeugen, wenn der Senat unter dem Begriff „Behandlungsabbruch“ beide Handlungsformen zusammenführt46 und denselben Rechtfertigungskriterien unterwirft. Allein der behandelnde Arzt ist durch die Behandlungsverweigerung des Patienten gebunden. Richtigerweise begründet man das über das Verbot eigenmächtiger Behandlung bei gleichzeitigem Wegfall der Garantenpflicht, nach anderer Ansicht mit Einwilligung und mutmaßlicher Einwilligung. b) Behandlungsabbruch seitens Externer Beim in die Behandlung von außen Eingreifenden ist die Rechtfertigungsbegründung komplizierter. Es liegen nach herkömmlicher Ansicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 216 StGB vor. Auch der Senat will daran nicht rütteln47. Eine Berufung auf Einwilligung (oder mutmaßliche Einwilligung48) reicht angesichts der Einwilligungssperre des § 216 StGB nicht ohne weiteres aus. Dies wird durch die Argumentation des Senats verdunkelt49. Nicht fernliegend erscheint die Anwendung von § 34 StGB, jedenfalls im Grundsatz50. Bevor dazu eine Entscheidung getroffen werden kann, muss man jedoch die in der Konstellation enthaltenen Ebenen auseinanderhalten, nämlich die Nothilfe zuguns-
46 In diesem Sinne aber bereits Schöch/Verrel u. a., AE-Sterbebegleitung, GA 2005, 553 ff., 560 f. 47 Vgl. BGHSt 55, 191 ff., 205. 48 Vgl. dazu BGHSt 40, 257 ff., 262 ff.; ferner Schönke/Schröder/Eser (Fn. 3), Vor § 211 Rn. 28; Lackner/Kühl (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 8. 49 Vgl. auch Bosch, JA 2010, 908 ff., 911; Dölling, ZIS 2011, 345 ff., 347; Frister (Fn. 21), 22. Kap. Rn. 10; Hirsch, JR 2011, 37 ff., 38; Rosenau, FS Rissing-van Saan, 2011, S. 547 ff., 558 f. 50 Die Anwendbarkeit des § 34 StGB im Bereich der Sterbehilfe grundsätzlich bejahend etwa Merkel, ZStW 107 (1995), 545 ff., 570 f.; Otto, Jura 1999, 434 ff., 441; C. Schneider (Fn. 10), S. 194 ff., 225 ff., 298 f.; MK-StGB/H. Schneider (Fn. 3), Vor § 211 Rn. 111; Gössel/Dölling (Fn. 10), § 2 Rn. 61; Eisele, Strafrecht, BT I, 2008, Rn. 161; Bosch, JA 2010, 908 ff., 911; Fischer, FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 557 ff., 575 f.; NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 37, Vor § 211 Rn. 99, 127; Rosenau, FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 577 ff., 584 f. – Dagegen etwa BGHSt 55, 191 ff., 197 f.; Eidam, GA 2011, 232 ff., 242; Hirsch, JR 2011, 37 ff., 39; Engländer, JZ 2011, 513 ff., 517; HK-GS/Rössner/Wenkel, 2. Aufl. 2011, Vor § 211 Rn. 17; T. Walter, ZIS 2011, 76 ff., 81; ferner MK-StGB/Erb (Fn. 9), § 34 Rn. 32, 34.
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ten des Sterbenden, dessen Einwilligung in den damit verbundenen Rechtsgutsverlust und schließlich die Abwägung konfligierender Interessen. aa) Nothilfe Von zentraler Bedeutung erscheint es, dass der Angehörige (als Betreuer) das eigene Recht des Patienten geltend macht, von aufgedrängter Behandlung und damit von Körperverletzung verschont zu werden51. Es handelt sich beim Betreuer-Verhalten letztlich um eine Stellvertretung in der Wahrnehmung eigener Rechte des Sterbenden, weniger aber um die Frage von eigenen Rechten des Handelnden. Im gegebenen Fall wäre der Betreuer befugt, für den Patienten einzutreten und für ihn die Behandlung zu beenden. Im Rahmen der Rechtfertigungsdogmatik geht es um Nothilfe gem. § 32 StGB – wohlverstanden: Nothilfe gegen die aufgedrängte Behandlung und zugunsten des Sterbenden! Soweit dabei Rechtspositionen der das Selbstbestimmungsrecht des Patienten missachtenden Klinik im Rahmen von Erforderlichkeit und Gebotenheit verletzt werden, dürfte die Heranziehung von § 32 StGB unzweifelhaft sein. Bezogen auf den Sterbenden mutet freilich die Doppelvalenz dieser Maßnahme irritierend an, weil nämlich diese dem Rechtsgutsträger dienende Hilfsmaßnahme ihn zugleich tötet und damit sein höchstrangiges Rechtsgut – wenngleich konsensual – auslöscht52. Man könnte hier apodiktisch behaupten, dass eine Notwehr/-hilfe gegen den zu schützenden Rechtsgutsinhaber unmöglich sei. Freilich wäre das ein Scheinargument, da eine Notwehr ihren Rechtfertigungscharakter evident nicht dadurch verliert, dass der Verteidigende etwa zum Schutz seines Eigentums gegen einen Räuber sein eigenes Leben einsetzt. Für Nothilfe gilt Entsprechendes, wenngleich in komplexerem rechtlichem Zusammenhang. Man denke etwa an den Nothelfer zugunsten eines mit einem Messer Angegriffenen, wobei der Helfer zum effizienten Schutz des Angegriffenen diesen wegstoßen und dabei verletzen muss. Die Opferung von Rechtsgütern des Benefiziars der Notwehr/-hilfe ändert am Legitimierungscharakter von § 32 StGB zur Verletzung des Angreifers (!) also nichts, solange die Verteidigung nicht unangemessen ausfällt und keine aufgedrängte Hilfe bedeutet. In diesem Sinne lässt sich für die bei Nothilfe eintretende Schädigung auch der Rechtsgüter des Verteidigten nach Einwilligungsstandards entscheiden, ob diese gerechtfertigt ist53 – solange auch die Gebotenheitsstandards des § 32 I StGB gewahrt bleiben.
51
Vgl. auch Jakobs (Fn. 14), 7/64 – Fn. 111; Gaede, NJW 2010, 2925 ff., 2927; Hirsch, JR 2011, 37 ff., 39; Kubiciel, ZJS 2010, 656 ff., 660; Lackner/Kühl (Fn. 4), § 216 Rn. 6. 52 Vgl. auch BGHSt 55, 191 ff., 197; Eidam, GA 2011, 232 ff., 241 f. 53 Vgl. schon LK-Rönnau/Hohn, 12. Aufl. 2007, § 32 Rn. 165; Eidam, GA 2011, 232 ff., 242; ferner Duttge, MedR 2011, 36 ff., 38.
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bb) Einwilligung/Selbstbestimmungsrecht Naheliegend wird man für die Einwilligung in Nothilfe zugunsten des Patienten wiederum an die Einwilligungssperre aus § 216 StGB zu denken haben. Jedoch vermag der Verweis auf § 216 hier letztlich nicht zu überzeugen. Wenn man in derartigen Fällen den Helfer wegen Tötung auf Verlangen strafen wollte, würde dies nämlich implizieren, dass das Selbstbestimmungsrecht des sterbewilligen Patienten kein nothilfefähiges Gut darstellt. Da der sterbenskranke Patient aber weithin nicht mehr in der Lage sein wird, sein Recht körperlich eigenhändig durchzusetzen, wäre ihm in dieser Lage der Schutz gegen die Missachtung seines Persönlichkeitsrechts nur noch durch – ihm wohl gar nicht mehr veranlassbare und ggf. zeitaufwändige – gerichtliche Verfahren möglich. Der Sterbende wäre in seinem Selbstbestimmungsrecht faktisch schutzlos. In diesem Konflikt zwischen dem im Notwehr/-hilfeprinzip abgesicherten Schutz von Rechtsgütern des Sterbenden (hier des Selbstbestimmungsrechts) und der Einwilligungssperre erscheint ein Obsiegen der Einwilligungssperre denkbar wenig plausibel54. Bekräftigt wird dies durch Abwägungsaspekte. cc) Abwägung konfligierender Interessen In letzter Konsequenz geht es um eine Bewertung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten in Relation zum in § 216 StGB verkörperten Interesse am Aufrechterhalten eines allgemeinen Tötungsverbots55. Vom oben (aa) dargestellten Nothilfeansatz ausgehend, handelt es sich um die Frage der „Gebotenheit“ (§ 32 I StGB). Wegen der hier zu beachtenden Gesellschaftsinteressen ist ein Abwägungsansatz auf Basis von § 34 StGB naheliegend. Auch vom Nothilfeansatz unabhängig ist eine Konzentration auf Notstandsgrundsätze empfehlenswert, wenn man nicht in eine systemwidrige Überfrachtung von Einwilligungsfragen mit Allgemeininteressen hineingeraten will56. Hüten muss man sich bei der den Grundsätzen von § 34 StGB folgenden Interessenabwägung aber davor, die Wertungen der Rechtsordnung objektivierend anzusetzen und das abstrakt höchstwertige Rechtsgut Leben in concreto ohne weiteres dominieren zu lassen57. Zwar darf unbestritten das Rechtsgut Leben verschiedener Menschen nicht gegeneinander abgewogen werden. Um anderes geht es aber dann, wenn der Patient eine an seiner konkreten Situation orientierte Bewertung seiner eigenen konfligierenden Rechtsgüter oder Interessen vor dem Hin54
Überzeugend Frisch (Fn. 5), S. 103 ff., 108 ff. Zur durchaus umstrittenen Ratio der Einwilligungssperre des § 216 vgl. NK-StGB/ Neumann (Fn. 5), § 216 Rn. 1; MK-StGB/H. Schneider (Fn. 3), § 216 Rn. 2 ff.; Hauck, GA 2012, 202 ff., 206 ff. 56 Nicht überzeugen kann von daher die vom Senat vertretene Ablehnung der Anwendung von § 34 wegen unzulässiger Abwägung zwischen verschiedenen Rechtsgütern desselben Rechtsgutsträgers; vgl. BGHSt 55, 191 ff., 197 f.; dem i.E. folgend Eidam, GA 2011, 232 ff., 242. 57 Zutreffend NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 73; MK-StGB/Erb (Fn. 9), § 34 Rn. 116; Fischer, FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 557 ff., 559 ff. 55
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tergrund gesellschaftlicher Anforderungen vornimmt (oder dies im Rahmen mutmaßlicher Einwilligung für ihn geschieht)58. Trotz des Hineinwirkens gesellschaftlicher Dimensionen in jede sozialrelevant sich auswirkende Bewertung des Rechtsguts Leben – hier sozialrelevant wegen der Einbeziehung einer anderen Person in den Wunsch zu sterben – ist der im Urteil des Senats vorgenommenen hohen Gewichtung des Selbstbestimmungsrechts zuzustimmen. Denn es handelt sich konkret um die Sondersituation eines angesichts nahenden Todes gebildeten tatsächlichen (oder mutmaßlichen) Patientenwillens, den Sterbevorgang abkürzen zu wollen, indem unautorisierte Verlängerungen dieses Vorgangs beendet werden. Dass der Patient das Recht hat, trotz Todesgefahr eine ärztliche Behandlung abzulehnen und damit entgegen der gesellschaftlichen Bewertung des Rechtsguts Leben eigenen Prioritäten zu folgen, ist unumstritten. Der einen eigenmächtigen Behandlungsvorgang abbrechende Nothelfer, der damit dem Selbstbestimmungsrecht des ohnehin dem Tode geweihten Patienten dient, bleibt trotz der so bewirkten Tötung des Einwilligenden, wegen der in einer notstandsähnlichen Lage vorgenommenen Wahrung überwiegender Interessen59 straflos.
III. Schluss Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat mit dem hier näher behandelten Urteil im Ergebnis einen zustimmenswürdigen Schritt hin zur Respektierung der Patientenautonomie des Sterbenden getan. In der Begründung tun sich freilich Lücken auf. Die schnellfertige Kritik normativer Abgrenzung von Tun und Unterlassen kann schon deshalb nicht überzeugen, weil dabei der Wortlaut des § 13 I StGB mit seiner aussagekräftigen Abgrenzungsvorgabe unbeachtet bleibt. Das daran anknüpfende umstandslose Übergehen auf die Rechtfertigungsebene unter Egalisierung von Tun und Unterlassen wird den gesetzlichen Vorgaben, insbesondere des § 13 StGB und des auf aktive Tötung gemünzten § 216 StGB mit seiner Einwilligungssperre, nicht gerecht. Ein Blick auf die Detailstruktur von Tun und Unterlassen zeigt, dass dem seine eigenen Behandlungsmaßnahmen abbrechenden Arzt kein aktives Tun zuzuschreiben ist. Er verzichtet fürs Weitere auf ein Intervenieren in den bereits vorhandenen Sterbeprozess, weshalb er „es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“ (§ 13 I StGB). Eine von dieser Aussage des Gesetzes losgelöste phänomenologisch oder normativierend geprägte Auslegung der Begriffe Tun und Unterlassen hingegen widerspricht der lex scripta und führt in die Irre. Der das Recht auf Behandlungsfreiheit zugunsten des Patienten aktiv handelnd Verteidigende darf nicht unter Verweis auf angeblich unzulässige Nothilfe oder 58
Vgl. auch C. Schneider (Fn. 10), S. 227 f., 245 ff., 299; MK-StGB/H. Schneider (Fn. 3); Vor § 211 Rn. 103, 111; Dreier, JZ 2007, 317 ff., 322; Rosenau, FS Claus Roxin, Bd. 1, 2011, S. 577 ff., 584 f. 59 Problematisierend Fischer (Fn. 4), Vor § 211 Rn. 65.
Straflose „aktive Sterbehilfe“ und die Reichweite des § 216 StGB
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auf (wegen der Einwilligungssperre des § 216 StGB) unwirksame Einwilligung des Kranken daran gehindert werden. Der im Sinne des Sterbenden bewirkte Behandlungsabbruch verteidigt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, macht also dessen Rechtsposition geltend. Der Eingriff des Helfers in das Rechtsgut Leben ist zwar Folge der Verteidigung der Autonomie des Betroffenen. Doch wird Nothilfe nicht schon dadurch unzulässig, dass dabei auch Rechtsgüter des zu Verteidigenden verletzt werden. Die Frage der „Gebotenheit“ (§ 32 I StGB) ist freilich gerade auch unter Gesichtspunkten gesellschaftlicher Interessen zu beantworten. Von daher sind hier die Grundsätze des § 34 StGB, nicht aber bloße Einwilligungsregeln, maßgeblich. Gleichwohl geht die Wahrung der Autonomie des Patienten entscheidungsleitend in die Interessenabwägung ein. Der angesichts nahenden Todes gebildete (oder erschlossene) Patientenwille, den Sterbevorgang abkürzen zu wollen, indem unautorisierte Verlängerungen dieses Vorgangs beendet werden, ist nicht nur aus der Sicht des Betroffenen, sondern auch in gesellschaftlicher Wertung höchstrangig. Das vom 2. Senat geschaffene, hinsichtlich der Tatbestandsebene freischwebende Konstrukt des „Behandlungsabbruchs“ stellt einen Befreiungsschlag dar, der die Rechtspraxis befriedigen mag, der strafrechtsdogmatischen Problemdurchdringung und der Rechtssicherheit aber schwerlich dient.
AIDS Von Karl-Ludwig Kunz Mit dem Jubilar ist zu fragen: Was gibt es zu diesem Thema zu sagen, was nicht schon gesagt ist? Und auch bei der Antwort können wir Wolfgang Frisch folgen1: Nach der inzwischen fast schon Bibliotheken füllenden Diskussion wäre in der Tat zu schweigen, wenn sich mit dem Thema nicht prinzipielle Dimensionen verbänden, deren Tiefe längst noch nicht vollständig ausgelotet ist. Ich will an dieser Stelle auf der Grundlage neuerer empirisch-medizinischer Befunde und Empfehlungen internationaler Organisationen eine auf die kriminalpolitischen Konsequenzen fokussierte strafrechtsdogmatische Diskussion des Themas führen, wohl wissend, dass Wolfgang Frisch seine rechtsethischen und rechtstheoretischen Überlegungen immer auch – zumindest stillschweigend – einer kriminalpolitischen Gegenprobe unterzieht. Sein besonderes Interesse für empirische Erkenntnisse mit kriminalpolitischer Relevanz gerade beim HIV/AIDS-Thema kommt in der Bemerkung zum Ausdruck, dass „die neuen Erkenntnisse im empirisch-medizinischen Bereich … dazu führen [dürften], dass bestimmte Felder der bisherigen strafrechtlichen AIDS-Diskussion schon bald der Rechtsgeschichte angehören werden“.2
I. Internationale empirische Befunde Nach dem UNAIDS Report on the Global AIDS Epidemic 20103 ergibt sich zusammengefasst folgendes Bild: Die Zunahme der weltweiten Verbreitung von AIDS scheint sich stabilisiert zu haben. Die jährliche Anzahl neuer HIV-Infektionen nimmt seit den späten 1990er Jahren beständig ab. Dies verdankt sich offenbar in erster Linie dem zunehmendem Safer Sex-Verhalten junger Menschen und der Prävention von Mutter-Kind-Übertragungen in Geburtseinrichtungen. Dank der deutlich häufigeren antiretroviralen Therapie treten in den letzten Jahren deutlich weniger mit AIDS zusammenhängende Todesfälle auf. Gleichwohl ist die weltweite Anzahl der Neuinfektionen beträchtlich.
1
Frisch, in: Alkier, Dronsch (Hrsg.), HIV, Aids, ethische Perspektiven, 2009, S. 50. Frisch, FS Szwarc, 2009, S. 496. 3 http://www.unaids.org/globalreport/Global_report.htm. Alle Websites besucht im Juni 2012. 2
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Mit dem Sinken einschlägiger Todesfälle nimmt die Anzahl der Personen mit HIV weltweit zu.4 2009 lebten in West- und Mitteleuropa 820.000 Personen mit HIV und es ereigneten sich 31.000 Neuinfektionen, was eine Prävalenzrate (Anzahl der Infizierten im Jahr pro 100.000 Einwohnern) unter Erwachsenen von 0.2 ergibt. Die Anzahl der in Deutschland lebenden HIV-Erkrankten wird 2009 auf 67.000 bei einer HIV-Prävalenz der Altersgruppe 15 bis 49 von 0.1 und einer HIV-Inzidenz (Anzahl der Neuinfizierten im Jahr pro 100.000 Einwohnern) dieser Gruppe von 0.01 geschätzt. Österreich hat etwa 15.000 HIV-positive Menschen, eine HIV-Prävalenz von 0.3 und eine Inzidenz von 0.05 in der erwähnten Altersgruppe. In der Schweiz lebten 2009 schätzungsweise 18.000 HIV-positive Menschen bei einer HIV-Prävalenz der erwähnten Altersgruppe von 0.4 und einer HIV-Inzidenz dieser Altersgruppe von 0.06. Sämtliche deutschsprachige Länder verfügen seit 1990 über leicht zunehmende HIV-Prävalenzraten und eine drastisch gesunkene Anzahl von AIDS-Toten.5 Im subsaharischen Afrika (Äthiopien, Nigeria, Südafrika, Zambia, Zimbabwe) lebten gleichzeitig 22,5 Millionen Personen mit HIV und es ereigneten sich 1,8 Millionen Neuinfektionen, was einer Prävalenzrate unter Erwachsenen von 5.0 entspricht. Diese Region erleidet mit 68 % der weltweiten Verbreitung eine übermäßige HIV-Belastung, wobei die Anzahl Infizierter hier immer noch steigt.6 Wohlhabende Länder verfügen über relativ geringe Prävalenzen und weiter sinkende Neuerkrankungen. Ansteckungen von Personen aus wohlhabenderen Ländern erfolgen oft in risikoreichen Drittweltstaaten. Hauptansteckungsquelle in den wohlhabenden Ländern ist der ungeschützte Geschlechtsverkehr zwischen Männern, wobei die entsprechenden Zahlen weiter ansteigen. Neuinfektionen durch kontaminierte Drogenspritzen sinken drastisch. Obwohl das Wissen über HIV und Präventionsmöglichkeiten zugenommen hat, ist dieses immer noch bloß bei 34 % aller jungen Menschen vorhanden. Zwischen diesem Wissen und seiner Befolgung klaffen Lücken mit länderspezifischem Ausmaß. Ungeschützter Geschlechtsverkehr ist etwa in Ungarn üblich und auch in Schweden verbreitet (etwa 50 % aller sexuellen Kontakte), wo auch der Kondomgebrauch von Sex Arbeiter(innen) durchaus nicht die Regel darstellt. In Deutschland betreiben immerhin über 20 % der 15- bis 19-Jährigen und 30 % der 20- bis 24-Jährigen ungeschützten Geschlechtsverkehr. Nur etwa 60 % der Sexarbeiter(innen) und 60 % der Männer mit gleichgeschlechtlichem Geschlechtsverkehr verwenden Kondome.7 Trotz verbreiteter Gegenbemühungen sind Stigmatisierungen, Diskriminierungen und Gewalthandlungen gegen transgender Menschen, homosexuelle Männer und 4
UNAIDS Report on the Global AIDS Epidemic 2010, 16 ff. UNAIDS, Epidemiological Factsheet Germany, Austria, Switzerland. 6 UNAIDS Report on the Global AIDS Epidemic 2010, 25. 7 UNAIDS, Country Factsheet Germany.
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Drogenabhängige verbreitet. Wo dies stattfindet, steigt für solche Menschen und deren Partner das Risiko einer HIV-Infektion. Auch ist eine staatliche Diskriminierung HIV-positiver Menschen durch HIV-spezifische Beschränkungen der Einreise, des Aufenthalts oder der Wohnsitznahme häufig. Mehrere Studien bestätigen, dass Strafvorschriften, welche die HIV-Übertragung und die Sexarbeit betreffen, sich negativ auf den Zugang zu Einrichtungen der HIVPrävention und -betreuung auswirken und für Homosexuelle, Sexarbeiter(innen) und Drogenabhängige die faktischen Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Rechten beschneiden.8 Das Global Network of People living with HIV ermittelt in seinem Global Criminalisation Scan Report 20109 für das Jahr 2009 nationenspezifisch folgende Rangliste strafrechtlicher Verurteilungen in Bezug zur HIV-Prävalenz in der Wohnbevölkerung (siehe Abbildung auf nächster Seite). Danach haben für das Jahr 2009 die skandinavischen Staaten (Schweden: 6.12, Norwegen: 4.66, Finnland: 3.34) und Neuseeland (4.29) die meisten Verurteilungen bezogen auf den Anteil HIV-Infizierter an der Wohnbevölkerung. Österreich rangiert gleich danach (3.06 bei total 30 Verurteilungen), die Schweiz liegt im Mittelfeld (1.2 bei total 30 Verurteilungen), während Deutschland (0.26 bei total 14 Verurteilungen) mit den USA (0.25), dem Vereinigten Königreich (0.16), Frankreich (0.1) und Italien (0.07) eher am Ende der Skala liegt. Für Schweden fällt auf, dass diese Nation trotz der europaweit relativ zur HIV-infizierten Bevölkerung höchsten Verurteilungszahl dieselbe HIV-Prävalenzrate wie Deutschland in der Altersgruppe 15 bis 49 von 0.01 aufweist10, obwohl es in Deutschland viel seltener zu Verurteilungen im Zusammenhang mit HIV-Übertragungen kommt. Dies nährt Zweifel an der Wirksamkeit strafrechtlicher Verurteilungen im Interesse der HIV-Prävention. Die empirischen Befunde lassen zumindest ansatzweise die epidemische Situation und den strafrechtlichen Umgang mit HIV/AIDS in Deutschland, Österreich und der Schweiz im internationalen Vergleich erkennen. Verglichen mit der durchschnittlichen HIV-Prävalenz von West- und Mitteleuropa weist Deutschland eine halb so hohe, Österreich eine um eineinhalbfach höhere und die Schweiz eine doppelt so hohe HIV-Prävalenz auf. Die Schweiz ist also mehr als Deutschland und etwas mehr als Österreich mit dem sozialen Problem HIV-Infizierter belastet. Die Schweiz weist auch die höchste HIV-Inzidenz der deutschsprachigen Länder auf und übertrifft dabei Deutschland um das Sechsfache. Dies deutet darauf hin, dass in der Schweiz noch relativ viele Defizite bei der Prävention von Neuinfizierungen vorhanden sind. Nach Verurteilungen auf den Anteil HIV-Infizierter bezogen, setzt Österreich von den deutschsprachigen Ländern am Häufigsten und international auf hohem Niveau 8
UNAIDS Report on the Global AIDS Epidemic 2010, 128. http://www.gnpplus.net/images/stories/Rights_and_stigma/2010_Global_Criminalisati on_Scan.pdf. 10 UNAIDS Report on the Global AIDS Epidemic 2010, 194 f. 9
Quelle: Global Network of People living with HIV, Global Criminalisation Scan Report 2010
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das Strafrecht zur HIV/AIDS-Bekämpfung ein, während Deutschland vom Strafrecht nur sehr zögerlich Gebrauch macht und die Schweiz sich beim Einsatz des Strafrechts im Zusammenhang mit HIV/AIDS etwa in der Mitte zwischen den beiden anderen deutschsprachigen Ländern befindet.
II. Empfehlungen internationaler Organisationen Eine von UNAIDS durchgeführte Konsultation anlässlich einer internationalen Tagung 2007 in Genf11 ergibt eine weitgehende Übereinstimmung der Befragten, dass *
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das Strafrecht im Allgemeinen zur Eindämmung von HIV-Infektion und -Übertragung ungeeignet sei; es gesundheitspolitisch keine Notwendigkeit dafür gäbe, HIV-Übertragende strafrechtlich zu verfolgen; die einzige Rechtfertigung dessen in einem angeblichen Vergeltungsbedürfnis gefunden werden könne; ein solches Vergeltungsbedürfnis nur bei einem hohen Unrechtsgehalt angenommen werden könne; der Einsatz des Strafrechts darum auf die vorsätzliche Ansteckung eines um seinen positiven HIV-Status Wissenden begrenzt werden sollte.
In den Beschlüssen der ersten globalen parlamentarischen Tagung über HIV/ AIDS im Dezember 2007 in Manila12, an welcher 160 Parlamentarier aus allen Teilen der Welt teilnahmen, kommt zum Ausdruck, dass *
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eine über die vorsätzliche Begehung hinausgehende Strafandrohung gegen die Menschenrechte verstoßen und wichtige Anliegen der öffentlichen Gesundheit untergraben könne; der Einsatz des Strafrechts unter gewissen Bedingungen, etwa bei vorsätzlicher Übertragung von HIV oder als erschwerender Umstand bei Vergewaltigung oder Schändung, zu akzeptieren sei; es jedoch zuvor sorgfältig zu erwägen gelte, dass entsprechende Strafbestimmungen HIV-infizierte Personen noch mehr stigmatisieren könnten, dies die Bereitschaft, sich einem HIV-Test zu unterziehen, schmälern könne, HIV-negative Personen in falscher Sicherheit wiegen könne und gerade Frauen einem zusätzlichen Risiko von Gewalt und Diskriminierung aussetzen könne; 11
UNAIDS, International Consultation on the Criminalization of HIV Transmission. Summary of Main Issues and Conclusions, Geneva 2007. 12 First Global Parliamentary Meeting on HIV and AIDS Manila, 28 November 2007, http://www.ipu.org/splz-e/haids07/final.pdf.
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es keinen stichhaltigen Hinweis auf die Eignung des Strafrechts zur Eindämmung der Epidemie gäbe und deshalb umfassende und empirisch wirksamkeitsgeprüfte Prävention gegenüber dem Strafrecht vorzugswürdig sei.
In einer zusammenfassenden Darstellung der Politik von UNAIDS von August 200813 wird empfohlen, Strafrecht nicht anzuwenden, falls die HIV-positive Person u. a. *
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über ihre HIV-Positivität nicht positiv wusste; die dem Übertragungsrisiko ausgesetzte Person über das Risiko informiert hatte oder ehrlich auf deren Informiertheit vertrauen konnte; ihren Infektionszustand aus Furcht vor Gewalt oder anderen schwerwiegenden negativen Konsequenzen verschwieg; bei Risikokontakten geeignete Vorkehrungen, etwa Kondombenutzung, gegen das Übertragungsrisiko getroffen hat.
Der Einsatz von Strafrecht sei nur vertretbar bei absichtlicher oder zumindest vorsätzlicher HIV-Übertragung (kein Versuch!) ohne Vorliegen einer der vorerwähnten Umstände. Das Expertentreffen von UNAIDS zu wissenschaftlichen, medizinischen, rechtlichen und menschenrechtlichen Aspekten der Kriminalisierung einer Nichtoffenlegung, Risikoaussetzung und Übertragung von HIV im August/September 2011 in Genf14 hat u. a. befunden, dass *
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Richtlinien für die Strafverfolgung durch Polizei und Staatsanwaltschaft auf Grund des neuesten wissenschaftlichen und medizinischen Kenntnisstands zu entwickeln seien; die HIV-Infektion angesichts verfügbarer Therapiemöglichkeiten nicht mehr strafrechtlich als lebensgefährlich zu qualifizieren sei; die langjährigen erfolgreichen Bemühungen um Prävention, Behandlung, Pflege und Unterstützung HIV-positiver Personen nicht durch das Strafrecht unterlaufen werden sollten.
Die von Repräsentanten der internationalen Zivilgesellschaft am 13. Februar 2012 verfasste Oslo Declaration on HIV Criminalisation15 hält u. a. fest: *
Es gibt immer mehr Belege dafür, dass die Kriminalisierung der Nichtoffenlegung der HIV-Infektion, der potenziellen Exposition und der nicht vorsätzlichen Über-
13 UNAIDS, Criminalization of HIV Transmission, 7, http://data.unaids.org/pub/basedocu ment/2008/20080731_jc1513_policy_criminalization_en.pdf. 14 Expert Meeting on the Scientific, Medical, Legal and Human Rights Aspects of Criminalisation of HIV Non-Disclosure, Exposure and Transmission, http://www.aidslaw.ca/EN/ lawyers-kit/documents/5.UNAIDS-ExprtMtgRpt2011.pdf. 15 http://www.hivjustice.net/oslo/.
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tragung von HIV mehr Schaden anrichtet, als dass sie der öffentlichen Gesundheit und den Menschenrechten nutzt. *
HIV-spezifische Strafgesetze sollten gemäß den Empfehlungen von UNAIDS aufgehoben werden. Falls nach sorgfältiger evidenzbasierter Revision auf nationaler Ebene HIV-bezogene Strafverfolgungen immer noch als notwendig erachtet werden, sollten sie gemäß den Prinzipien von Verhältnismäßigkeit, Voraussehbarkeit, Vorsatz, Kausalität und Gleichbehandlung erfolgen, auf dem neuesten Stand wissenschaftlicher und medizinischer Erkenntnisse zu HIV gründen, schadens- statt risikobasiert sein sowie mit den Zielen der öffentlichen Gesundheit und den Verpflichtungen zur Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte in Einklang stehen.
III. Aktuelle Rechtslage in den deutschsprachigen Ländern Von den Empfehlungen internationaler Organisationen, insbesondere UNAIDS, ausgehend, lässt sich fragen, inwieweit die Strafbarkeitsbestimmungen in den deutschsprachigen Ländern diesen Empfehlungen entsprechen oder davon abweichen. Abweichungen sind nicht ohne weiteres zu beanstanden. Vielmehr ist zu fragen, ob das von internationalen Organisationen politische Erwünschte mit den Mitteln der Strafrechtsdogmatik systemkonform realisierbar ist. Ferner, ob das von internationalen Organisationen politisch Erwünschte tatsächlich konsistenten rationalen Vorstellungen der hiesigen Kriminalpolitik entspricht. Neuralgische Probleme sind: 1. Die objektiv tatbestandliche Erfassung der Übertragung des HI-Virus; 2. die Anforderungen an den Vorsatz der Körperverletzung; 3. die Strafbarkeit des Versuchs der Übertragung des HI-Virus; 4. das Wissen des Gefährdeten um die HIV-Infektion des Gefährdenden; 5. die Strafbarkeit fahrlässiger HIV-Infizierung. 1. Objektiv tatbestandliche Erfassung a) Als einfache Körperverletzung Die Strafrechtsordnungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz erfassen die Übertragung des HI-Virus durch die Körperverletzungstatbestände, wobei Österreich und die Schweiz zusätzlich Sondertatbestände der Gefährdung der öffentlichen Gesundheit kennen.16 Die Übertragung des HI-Virus wird als Gesundheitsschädigung und damit als krankhafter Zustand im Sinne der Körperverletzungstatbestände (§ 223 Abs. 1 dStGB, § 83 Abs. 1 ö-StGB, Art. 122 ff. ch-StGB) bewertet. Dies jedenfalls dann, wenn darin eine tatbestandlich missbilligte Risikoschaffung zu erblicken ist, also 16 Tötungstatbestände scheitern, auch in der Form des Versuchs, regelmäßig am Vorsatznachweis und bleiben hier außer Betracht.
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gegen konkrete Sorgfaltsmaßstäbe verstoßen wurde.17 Ein Körperverletzungserfolg wird nicht erst im Ausbruch von HIV-typischen Symptomen gesehen, sondern bereits im Zeitpunkt zuvor der Ansteckung mit dem HI-Virus angenommen. Damit wird der bei dem Erfolgsdelikt der Körperverletzung neben der Handlung nötige Außenerfolg schon in der möglicherweise schmerz- und störungsfreien körperlichen Veränderung durch Ansiedlung des „human immune deficiency virus (HIV)“ im Körper erblickt, ohne dass es an darüber hinausgehenden Störungen des gesundheitlichen Befindens – etwa Schmerzen, sichtbaren Merkmalen oder besonderen Anfälligkeiten – bedarf.18 Solange die Ansteckung störungsfrei und unerkannt bleibt, liegt zwar im Empfinden des Infizierten keine Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens vor. Freilich ist generell nicht erforderlich, dass das Opfer seine Gesundheitsschädigung spürt: Es genügt, dass zur Vermeidung ernsthafter Beschwerden eine medizinische Behandlung nötig wird, erst recht, wenn diese, wie hier, in der lebenslangen Einnahme von mit beträchtlichen Nebenwirkungen verbundenen Medikamenten besteht, die möglicherweise erhebliche Beschwerden oder gar den vorzeitigen Tod nicht unterbinden können.19 Bereits infolge der HIV-Infektion weicht der körperliche Zustand des Infizierten in pathologisch signifikanter Weise vom Normalbild eines Gesunden ab.20 Rechtsethisch ist die Strafbarkeit bereits der symptomlosen HIV-Infektion zumindest vertretbar. Man kann sich fragen, ob es nicht vorzugswürdig wäre, dies nicht mit dem Erfolgsdelikt der Körperverletzung, sondern mit dem Sondertatbestand eines HIV-spezifischen Gesundheitsgefährdungsdelikts zu erfassen. Jedoch hätte dies, wie sogleich deutlich werden wird, mehr Nachals Vorteile. Als erlaubt und damit als nicht tatbestandlich gilt das (Rest-)Risiko einer HIVÜbertragung bei Einhaltung der von der staatlichen Prävention offiziell empfohlenen Schutzmaßnahmen, insbesondere bei der Kondombenutzung beim Geschlechtsverkehr. Neuerdings ist der Einfluss einer antiretroviralen Therapie durch Einnahme virensenkender Medikamente auf die Strafbarkeit zum Thema gerichtlicher Beurteilungen geworden. Der Genfer Cour de Justice hat befunden, dass bei einer mehrjährigen antiretroviralen Therapie das Infektionsrisiko gleich Null sei und insoweit eine Strafbarkeit verneint.21 Demgegenüber hat das Landgericht Würzburg angenommen, die Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten schließe die Strafbarkeit nicht aus, da ein Ansteckungsrisiko selbst dann bestehe, wenn die Virenstämme unter der Nachweisgrenze lägen, da selbst eine effektive antiretrovirale Therapie keinen sicheren Schutz des Sexualpartners vor einer HIV-Infektion bietet und die Benutzung von Kondomen zum Schutz eines HIV-negativen Partners nicht entbehrlich sei.22 17
Frisch, JuS 1990, 363 f. Frisch (Fn. 1), S. 54 19 So auch Frisch (Fn. 1), S. 54 ff. Anders etwa Prittwitz, StV 1989, 126 f. 20 Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, StGB, 28. Aufl. 2010, § 223 Rn. 7. 21 Cour de Justice, Chambre Pénale, 23.02. 2009, ACJP/60/2009. 22 Urteil des LG Würzburg v. 13. 6. 2007 – 1 Ks 901 (Js 9131/2005 25).
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b) Qualifizierte (schwere) Körperverletzung wegen Lebensgefährlichkeit Sämtliche deutschsprachigen Länder qualifizieren die „lebensgefährliche“ Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Ziff. 5 d-StGB, § 84 Abs. 2 Ziff. 1 ö-StGB, Art. 122 Abs. 1 ch-StGB). Das schweizerische Bundesgericht begründet die Annahme einer schweren Körperverletzung damit, dass die HIV-Ansteckung „lebensgefährlich“ im Sinne von Art. 122 Abs. 1 CH-StGB sei, weil die Infektion mit dem HIVirus nach ungewisser, relativ langer Zeit bei vielen Betroffenen zum Ausbruch von AIDS und anschließend mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führe. Angesichts der typischerweise jahrelangen zeitlichen Distanz zwischen Erkrankung und Todeseintritt lässt sich dies allenfalls unter der Annahme einer quasi zwingenden Todesfolge bei HIV-Positivität vertreten. Die teilweise bereits angewandten medizinischen Forschungserfolge haben indessen inzwischen die Behandlungsmöglichkeiten so verbessert, dass sich kaum noch begründet behaupten lässt, mit der HI-Infektiosität sei das Schicksal unweigerlich zum vorzeitigen Tode hin besiegelt. Ausgehend von empirischen Befunden, wonach die HIV-Infektion angesichts verfügbarer Therapiemöglichkeiten nicht mehr unbedingt lebensgefährlich sei, ist der von UNAIDS-Experten vertretenen Auffassung zu folgen, dass diese Qualifikation bei HIV-Übertragungen nicht mehr angewandt werden sollte. c) Sondertatbestände Nach österreichischem und schweizerischem Recht finden auf die Übertragung des HI-Virus zusätzlich Sondertatbestände der vorsätzlichen oder fahrlässigen (im ö-StGB: im Sinne eines abstrakt potenziellen Gefährdungsdelikts: Herbeiführung der Gefahr der) Verbreitung einer gefährlichen menschlichen Krankheit Anwendung (§§ 178, 179 ö-StGB, Art. 231 ch-StGB). Solche auf die Prävention der Gemeingefahr einer epidemischen Ausbreitung abzielende Sondertatbestände sind umstritten. Zweifelhaft war in der Schweiz, ob bereits die Infektion einer einzelnen Person genügt, wenn diese über ihr Infektionsrisiko informiert war und deshalb die Erwartung besteht, diese Person werde bei zukünftigen Risikokontakten Schutzmaßnahmen ergreifen.23 Der Vorentwurf eines Epidemiengesetzes sah kürzlich vor, diesen Fall ausdrücklich von Strafe auszunehmen. Inzwischen haben die Eidgenössischen Räte eine radikalere Revision von Art. 231 ch-StGB beschlossen, der nur noch vorsätzlichen Bioterrorismus erfassen und auf die Übertragung des HI-Virus überhaupt nicht mehr anwendbar sein soll.24 In Österreich wird eine Strafbarkeit gemäß § 178 öStGB des Infizierten angenommen, der mit einem anderen ohne Verwendung eines Schutzmittels im Bewusstsein der sich daraus ergebenden Übertragungsgefahr 23 Dazu etwa Stratenwerth/Bommer, Schweizerisches Strafrecht, BT II, 6. Aufl. 2008, § 31 Rn. 12. 24 NR 8.3.12, 10.107; SR 1. 6. 2012. Die neue Bestimmung soll lauten: „Wer vorsätzlich aus gemeiner Gesinnung eine gefährliche übertragbare menschliche Krankheit verbreitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.“
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geschlechtlich verkehrt; sogar bei Anwendung eines Präservativs soll angesichts des beschränkten Schutzes und des Deliktscharakters von § 178 ö-StGB Strafbarkeit eintreten.25 Es erscheint widersprüchlich, Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen, die den offiziellen, auch staatlich propagierten Präventionsempfehlungen entsprechen. 2. Anforderungen an den Körperverletzungsvorsatz Der Körperverletzungsvorsatz braucht sich nur auf die Ansteckung als solche, nicht auf dadurch bewirkte Gesundheitsstörungen zu beziehen. Obwohl das statistische Ansteckungsrisiko bei einmaligem Kontakt nur zwischen 0,1 und 1 % beträgt, nimmt die ständige Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen Eventualvorsatz an.26 Wer im Wissen um seine HI-Infektion und in Kenntnis der Übertragungsmöglichkeiten den Partner nicht über die Infektion aufklärt und gleichwohl mit ihm ungeschützt sexuell verkehrt, obschon sowohl die Aufklärung als auch Schutzvorkehrungen ein Einfaches wären, bekunde eine Gleichgültigkeit gegenüber der bei jedem einzelnen Sexualkontakt möglichen Infizierung des Partners in einem Ausmaß, das den Schluss auf Inkaufnahme der Infizierung aufdränge, möge diese auch unerwünscht sein. Denn er nehme nicht nur das Risiko als solches, sondern auch die bei jedem einzelnen ungeschützten Sexualkontakt mögliche Verwirklichung dieses Risikos in Kauf.27 Trotz statistisch geringem Risiko ist die Risikoschaffung wegen der daraus möglicherweise resultierenden erheblich schädigenden Folgen nicht erlaubt, sondern rechtlich missbilligt. Die Risikoschaffung ist dem Gefährdenden zuzurechnen und darf nicht dem unwissenden Gefährdeten angelastet werden.28 Das Ergebnis der Bejahung von Eventualvorsatz ist kriminalpolitisch motiviert. Die Rechtsanwendung darf und soll indessen Entscheide treffen, die auch einer kriminalpolitischen „Gegenkontrolle“ standhalten. Das kriminalpolitische Fazit fiele freilich deutlich ausgewogener aus, wenn die Annahme von Eventualvorsatz nicht zur Strafbarkeit wegen schwerer Körperverletzung, sondern nur zu einer solchen wegen einfacher Körperverletzung führte29, was sich bei einer künftigen Nichtanwendung der Qualifikation der Körperverletzung als „lebensgefährlich“ (oben zu: 1.b) Qualifizierte (schwere) Körperverletzung wegen Lebensgefährlichkeit) von selbst ergibt. Eventualvorsätzlich handelt in aller Regel nur, wer um seine HI-Infektion positiv weiß. Niemand ist verpflichtet, sich auf seinen HIV-Status testen zu lassen. Bei Risikoschaffung in bloßer Kenntnis von Verdachtsindizien müsste das Wissensmanko 25
Wiener Kommentar/Mayerhofer, 2007, §§ 178, 179 Rn. 4 unter Berufung auf Kienapfel. Etwa BGHSt 36, 1 ff., 12 ff.; BGE 131 IV 1 ff. 27 BGE 131 IV 1, E. 2.2. Vgl. zum generellen Problem auch Vest, Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 9 (2000), 1168 ff. 28 Frisch, JuS 1990, 366 ff. 29 Kunz, Strafbarkeit der HIV – Infektion, Urteilsanmerkung zu BGE 6S.176/2004, Jusletter, abrufbar unter: http://www.weblaw.ch/jusletter/Artikel.asp?ArticleNr=3724. 26
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um die eigene HIV-Infektion durch eine umso intensivere Inkaufnahme des als möglich vorausgesehenen Verletzungserfolgs ausgeglichen werden. Dies dürfte praktisch kaum je in Betracht kommen. 3. Strafbarkeit des Versuchs der Übertragung des HI-Virus Das Vorsatzdelikt der Körperverletzung ist bereits in der Begehungsform des Versuchs strafbar (§§ 223 Abs. 1, 23 Abs. 1 d-StGB, §§ 83 Abs. 1, 15 Abs. 1 ö-StGB, Art. 123 Abs. 1, 22 Abs. 1 ch-StGB). Angesichts des geringen statistischen Risikos der Infektion wird es an einem deliktischen Erfolg bei vereinzelten Risikokontakten zumeist fehlen. Zudem scheitert der Beweis, dass sich das Opfer tatsächlich am Angeschuldigten angesteckt hat, oft bei langer Zeitspanne zwischen mutmaßlicher Ansteckung und Feststellung der HI-Infektion des Opfers, speziell, wenn noch andere Übertragende oder Übertragungswege möglich sind. Dann fehlt es an dem zur Verurteilung erforderlichen Nachweis einer Kausalität zwischen angeklagter Handlung und Taterfolg jenseits eines vernünftigen Zweifels30 mit der Konsequenz, dass mangels objektiver Zurechnung eine Bestrafung wegen Deliktsvollendung ausscheidet. Häufig wird sich dem Beschuldigten jedoch nachweisen lassen, dass er die Möglichkeit der Ansteckung erkannt und sich damit abgefunden hat. Darum hat die Versuchsstrafbarkeit in der Praxis eine zahlenmäßig große Bedeutung. Die Strafbarkeit des Versuchs der Übertragung des HI-Virus ist als zwingende Folge der Beurteilung der Ansteckung als Körperverletzung dem Strafrecht systemimmanent. Der an sich verständliche Wunsch nach einem möglichst „schmalen“ Einsatzfeld des Strafrechts bei HIV/AIDS zur Vermeidung kontraproduktiver Effekte auf die Prävention jenseits des Strafrechts kann daran nichts ändern.31 4. Positives Wissen des Gefährdeten um die HIV-Infektion des Gefährdenden Beim wissentlichen Eingehen des Opfers in die ihm bekannte Gefährdung ist keine rechtfertigende Einwilligung anzunehmen. Diese müsste sich nicht nur auf die Gefährdung, sondern auch auf den als möglich erkannten Taterfolg beziehen. Vor allem bezieht sich eine Einwilligung auf fremdes Verhalten, wohingegen bei typischen HIV-Risikokontakten (Geschlechtsverkehr, Selbstapplizieren einer kontaminierten Spritze) eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vorliegt. Dann ist das gefährdende Verhalten und ein möglicher Verletzungserfolg dem Infizierenden 30
44.
Vgl. Kunz, Fahrlässige HIV-Übertragung nach Risikokontakten, Forum Poenale 2009,
31 Vgl. dazu Frisch (Fn. 1), S. 498, dort Fn. 12: „Eindeutig gegebene Tatbestandserfüllungen lassen sich nach einer an der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) an Gesetz und Recht gebundenen Rechtsprechung nicht einfach mit Rücksicht auf politische Programme und ,Botschaften‘ beiseiteschieben“.
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nicht objektiv zuzurechnen.32 Dafür nötig ist freilich eine Wissenssymmetrie zwischen Gefährdendem und Gefährdeten um die HIV-Positivität des ersteren. Wo der Gefährdende um seine HIV-Positivität weiß, der Gefährdete damit aber bloß situationsbedingt rechnet oder gar rechnen muss, etwa weil der Gefährdende bekanntermaßen zu einer sog. Primärrisikogruppe gehört, besteht eine konkret entscheidungsrelevante Wissensdifferenz, welche die Annahme einer eigenverantwortlichen Risikoakzeptanz verbietet.33 5. Strafbarkeit fahrlässiger HIV-Infizierung Eine Strafbarkeit der HIV-Infizierung aus dem Gesichtspunkt der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 d-StGB, § 88 ö-StGB, Art. 125 ch-StGB) scheitert häufig am Kausalitätsnachweis eines konkreten Täterverhaltens für den Taterfolg. Wo dieser zu erbringen ist, sind die Anforderungen an die Pflichtwidrigkeit unklar. Das schweizerische Bundesgericht hat den ungeschützten Sexualverkehr bei konkreten Indizien für eine mögliche eigene Infektion jenseits des positiven Wissens als pflichtwidrig angesehen.34 Fraglich ist dabei, bei Kenntnis welcher graduierbaren und kumulierbaren Verdachtsmomente die Pflichtwidrigkeit beginnt. Die Annahme des Gerichts, jegliches mit den offiziellen Safer-Sex-Empfehlungen unvereinbare Risikoverhalten sei sorgfaltswidrig und grundsätzlich strafbar, weitet die Strafzone in den Bereich des seuchenpolitisch unerwünschten, aber weithin verbreiteten Sexualverhaltens aus. Aus Präventionsempfehlungen, die an die Eigenverantwortung appellieren, werden so zwingende Rechtspflichten, deren Nichtbeachtung grundsätzlich mit Strafe zu ahnden ist. Dies dürfte sich für die Prävention, die Risikogruppen positiv zu Verantwortung motivieren und gerade nicht repressiv mit Strafdrohung abschrecken will, als kontraproduktiv erweisen. An die Pflichtwidrigkeit sind höhere Anforderungen zu stellen, etwa beim Auftreten typischer Krankheitssymptome nach ungeschütztem Sexualverkehr. Bei unbewusster Fahrlässigkeit verfügt der HIV-Infizierende nicht einmal über Indizienwissen hinsichtlich der konkreten Möglichkeit seiner HIV-Infektion. Der rechtspolitische Sinn dessen ist zweifelhaft. De lege ferenda wäre deshalb zu empfehlen, die Strafbarkeit der HIV-Übertragung auf Fälle vorsätzlichen und allenfalls bewusst fahrlässigen Handelns bei eindeutig pflichtwidrigem Verhalten zu beschränken.35
32 BGE 131 IV 1 E. 3.3, 3.4; so bereits Kunz, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (ZStrR) 107 (1990), 53. 33 Kunz, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (ZStrR) 107 (1990), 56. 34 BGer, Urteil v. 13. 6. 2008, 6B_235/2007. 35 Ausführlicher Kunz, ZStW 121 (2009), 572.
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IV. Zusammenfassung und kriminalpolitische Empfehlungen In den deutschsprachigen Ländern ist die Rechtslage im Wesentlichen übereinstimmend. Trotz relativ intensiver nichtstrafrechtlicher Prävention besitzt das Strafrecht bei der Bekämpfung von HIV/AIDS einen hohen Stellenwert. Nicht das Ob, wohl aber das Wie und das Wie viel an Strafrecht sind überprüfungsbedürftig. Strafdrohungen und das damit verbundene Stigma hindern Infizierte oft daran, sich testen zu lassen, ihre Infektiosität gegenüber ihren Partnern zu offenbaren und eine lebensverlängernde antiretrovirale Therapie in Anspruch zu nehmen. Bereits die Übertragung des HI-Virus wird als Körperverletzung gewertet. Die Annahme einer die Körperverletzung qualifizierenden „Lebensgefährlichkeit“ widerspricht neuen empirischen Befunden und sollte den Empfehlungen von UNAIDS folgend aufgegeben werden. HIV-spezifische Sondertatbestände laufen Gefahr, die HIV-Positivität noch stärker gesellschaftlich zu stigmatisieren. Dem Beispiel der neuen Gesetzgebung in der Schweiz folgend, sollten sie auf die Übertragung des HI-Virus überhaupt nicht mehr anwendbar sein. Ein auf die einfache Körperverletzung bezogener Eventualvorsatz ist wegen rechtlich missbilligter Risikoschaffung begründet, wenn der Gefährdende um die eigene HI-Infektion weiß und weder den Gefährdeten darüber aufklärt noch offiziell empfohlene Schutzvorkehrungen gegen die HIV-Übertragung ergreift. Die Strafbarkeit des Versuchs der Übertragung des HI-Virus ist als zwingende Folge der Beurteilung der Ansteckung als Körperverletzung dem Strafrecht systemimmanent. Bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Opfers sind Tathandlung und Erfolg dem Gefährdenden nicht objektiv zuzurechnen. Dafür nötig ist freilich eine Wissenssymmetrie zwischen Gefährdendem und Gefährdeten um die HIV-Positivität des ersteren. Eine Strafbarkeit der HIV-Infizierung aus dem Gesichtspunkt der fahrlässigen Körperverletzung sollte sich auf bewusst fahrlässiges Handeln bei eindeutig pflichtwidrigem Verhalten beschränken.
Die Knabenbeschneidung als Problem der multikulturellen Gesellschaft Von Raimo Lahti
I. Einführung Die Zulässigkeit und die Voraussetzungen für die praktische Durchführung der medizinisch nicht indizierten, religiös begründeten Beschneidung von Knaben (medizinisch wird diese Maßnahme auch Zirkumzision genannt) haben in den letzten zwei Jahrzehnten in Finnland von Zeit zu Zeit einen regen Austausch von unterschiedlichen Meinungen verursacht. In der Debatte hat man, je nach Blickwinkel, zum einen den Schutz der körperlichen Unversehrtheit der nicht einwilligungsfähigen Knaben, zum anderen die bestimmten Gemeinschaften zukommende Religionsfreiheit, den Schutz der Kultur von Minderheiten und den Schutz des Familienlebens angeführt.1 Eine ähnliche Diskussion wird auch in verschiedenen anderen Ländern geführt, zuletzt in Deutschland aufgrund des Urteils des LG Köln vom 07. 05. 2012.2 In der internationalen Debatte hat sich das Hauptaugenmerk auf die medizinisch nicht notwendige Beschneidung von Mädchen und Frauen konzentriert, deren Verwerflichkeit in den westlichen Rechtskulturen unumstritten ist, wenn auch über die Mittel zur Bekämpfung dieses Brauchs teilweise Meinungsverschiedenheiten bestehen.3 Bedeutende amtliche Stellungnahmen zur Knabenbeschneidung sind in Finnland das Gutachten des Ethischen Beirats für nationale Gesundheitsversorgung (ETENE) vom 15. 06. 1999 – bei dem ich als Juristenmitglied des Beirats eine abweichende Meinung zu Protokoll gegeben habe –, und die Beschwerdeentscheidung der zweiten Ombudsfrau des finnischen Parlaments vom 30. 11. 1999. Eine offizielle Untersuchung der Sache liegt vor im Bericht der vom finnischen Sozial- und Gesundheits1
Siehe im Allgemeinen Lahti, Infant Male Circumcision, in: Rynning & Hartlev (eds.), Nordic Health Law in a European Context, Martinus Nijhoff Publishers 2012, S. 216 ff. m.w.H. 2 Siehe besonders Beulke/Dießner, ZIS 7/2012, 338 ff. m.w.H.; Putzke, in: FS Herzberg, 2008, S. 669 ff. 3 Über die internationale Diskussion siehe besonders Denniston et al. (eds.), Circumcision and Human Rights, 2009. Siehe auch z. B. Oba, Female Circumcision as Female Genital Mutilation: Human Rights or Cultural Imperialism? Global Jurist 3/2008 (www.bepress.com/ gj/vol8/iss3/art8); Gozdecka, Religion and Legal Boundaries of Democracy in Europe. University of Helsinki 2009, S.166 ff. (http://ethesishelsinki.fi).
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ministerium eingesetzten Arbeitsgruppe (2003) über den Bedarf an gesetzgeberischen Maßnahmen bezüglich der Knabenbeschneidung, der ergänzt wird durch eine von der Arbeitsgruppe zusammengestellte Studie über die einschlägigen Praktiken in verschiedenen Ländern (2004). In ihren Beschlüssen auf sanktionsartiges Absehen von Strafverfolgung vom 30. 06. 2004 hat die Oberstaatsanwältin Päivi Hirvelä die Ansicht vertreten, dass sich ein Arzt der Körperverletzung und die Väter der Anstiftung dazu schuldig gemacht hätten, indem ohne sachgemäße Einwilligung sowie unter Vernachlässigung der von den operativen Eingriffen verlangten Hygieneanforderungen und der gesundheitlichen Vorsichtsmaßnahmen an kleinen Knaben eine religiös-rituelle Beschneidung vorgenommen wurde. Die muslimischen Väter hatten einen aus dem Ausland gebürtigen Arzt damit beauftragt, bei ihnen zu Hause an ihren Söhnen die Zirkumzision vorzunehmen, welche danach wegen Komplikationen weitere medizinische Maßnahmen erforderlich machte. Bei einem ähnlichen Fall, der wegen einer Klage auf Körperverletzung zu verhandeln war, ist vor kurzem eine Entscheidung der obersten Gerichtsinstanz in Finnland ergangen. In dem Präjudiz KKO 2008:93 des Obersten Gerichtshofs wurde im Falle einer religiös begründeten Beschneidung zu einer vom Staatsanwalt erhobenen Klage auf Körperverletzung Stellung bezogen. In dem betreffenden Fall wurde die Sache als Strafsache verhandelt, aber die dabei behandelten prinzipiellen Probleme begrenzen sich nicht allein auf das Strafrecht, sondern im Grunde geht es darum, was für einen juristischen Standpunkt man zur Zirkumzision einnehmen soll, welche rechtlich relevanten Argumente für und gegen die Verwerflichkeit der Knabenbeschneidung sprechen und wie diese gegeneinander abzuwägen seien. Damit verbunden ist die Frage, ob diejenigen Zirkumzisionen, die nach sachgemäßer Prüfung als akzeptierbar angesehen werden, solche operativen Maßnahmen sind, die in den Bereich der öffentlichen Gesundheitsversorgung fallen, und wenn ja, mit welchen Mitteln sie zu finanzieren seien. Im Folgenden möchte ich die rechtlich-ethische Diskussion beleuchten, die in Finnland seit dem Beginn der neunziger Jahre über diese Sache geführt worden ist. Im Mittelpunkt meiner Analyse steht das Präjudiz KKO 2008:93 und seine Bedeutung. Diese Entscheidung und ihre Begründungen sind von erheblichem, auch internationalem Interesse, unter anderem wegen der Abwägung der Grund- und Menschenrechte sowie wegen der wissenschaftlichen Diskussion über das Verhältnis von multikultureller Gesellschaft und Strafrecht.
II. Finnische Reaktionen auf die Beschneidung von Knaben in den neunziger Jahren Die Aufmerksamkeit für diese Sache wurde im Jahre 1992 durch ein an die finnischen Kommunen adressiertes Schreiben des Sozial- und Gesundheitsministeri-
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ums erweckt, in dem empfohlen wurde, die Beschneidung von Knaben in den Einrichtungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung vornehmen zu lassen. Bei der Praxis, die sich die in Finnland lebenden Juden und Tataren zu Eigen gemacht hatten, hatte es keinen Bedarf gegeben, auf Dienstleistungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung zurückzugreifen, aber die Lage hatte sich mit der ansteigenden Zuwanderung von Menschen aus islamischen Ländern geändert. In einem von 12. 08. 1997 datierten Brief an den Ombudsmann des Parlaments kritisierte man die an den Universitätskrankenhäusern vorgenommenen Zirkumzisionen und bat den Ombudsmann darum, die Sache zu klären. Die zweite Ombudsfrau des Parlaments, Riitta-Leena Paunio, die diese Beschwerdesache am 30. 11. 1999 entschieden hat, beurteilte die Frage zuerst allgemein vom rechtlichen Standpunkt und gelangte dann zu den folgenden, meiner Meinung nach begründeten, Schlussfolgerungen: Die Einrichtungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind aufgrund des Gesetzes über die Stellung und die Rechte des Patienten sowie in Anbetracht der Gesetze und Vorschriften über die Pflicht zur Bereitstellung der kommunalen Gesundheits- und Krankenpflege nicht dazu verpflichtet, medizinisch nicht indizierte Zirkumzisionen vorzunehmen. Obwohl Paunio dergleichen Maßnahmen nicht eindeutig für gesetzeswidrig erklärt hat mit Verweis darauf, dass es über sie keine ausdrücklichen Vorschriften oder Bestimmungen gab und dass das Sozial- und Gesundheitsministerium Anfang der neunziger Jahre empfohlen hatte, einer Durchführung dieser Maßnahmen im Rahmen der kommunalen Gesundheitsversorgung positiv gegenüberzustehen, war sie der Ansicht, dass die Beschneidung von kleinen, nicht einwilligungsfähigen Knaben ohne medizinische Indikation vom rechtlichen Standpunkt aus sehr fragwürdig sei. Ein solcher chirurgischer Eingriff sollte laut Paunio nicht in den Einrichtungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung vorgenommen werden, bevor nicht das Kind selbst in der Lage sei, seine auf Wissen basierende Einwilligung dazu zu erteilen. In dem Gutachten des ETENE-Beirats vom 15. 06. 1999, das der Beschwerdeentscheidung der Ombudsfrau des Parlaments voranging, vertrat die Mehrheit des Beirats die Ansicht, dass solche medizinisch nicht indizierten Zirkumzisionen ethisch akzeptabel und auch in den Einrichtungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung durchzuführen seien, die an Mitgliedern der jüdischen und der islamischen Religionsgemeinschaft vorgenommen werden. Auf diese Weise würde man der Intoleranz und der Geringschätzung religiöser Traditionen vorbeugen. Außerdem war man der Auffassung, dass man mit der Praxis der Billigung derartiger Beschneidungen die Kinder vor schädlichen Schmerzerfahrungen schützen würde, wenn die Maßnahmen von erfahrenen Fachkräften der Gesundheitsversorgung durchgeführt werden. Als Mitglied des ETENE-Beirats, das mit seiner Meinung in der Minderheit blieb, habe ich die Stellungnahme der Mehrheit deswegen kritisiert, weil in ihr derjenige Aspekt des Kindeswohles nicht ausdrücklich gewichtet wurde, dem gemäß man in die körperliche Integrität einer nicht einwilligungsfähigen Person – außer in gesondert festgelegten Fällen – nur dann eingreifen darf, wenn die Maßnahme für diese von
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unmittelbarem gesundheitlichem oder sonstigem Nutzen ist. Zur Unterstützung dieser Begründung habe ich auf das Übereinkommen des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin4 verwiesen, das Finnland zwar sofort unterzeichnet, damals aber noch nicht ratifiziert hatte. Des Weiteren habe ich darauf hingewiesen, was in den Unterlagen zur Ausarbeitung der Grundrechtsreform (969/1995) über das Verhältnis verschiedener Grundrechte zueinander und ihre Abwägung gesagt worden ist. Mit Verweis auf die Freiheit der Religion und des Gewissens dürfe man keine solchen Handlungen begehen, die die Menschenwürde oder sonstige Grundrechte verletzen oder die gegen die Grundlagen der Rechtsordnung verstoßen. Alles in allem war ich der Ansicht, dass die Zulassung von medizinisch nicht notwendigen Zirkumzisionen vom Standpunkt der finnischen Rechtsordnung aus höchst fragwürdig sei.5
III. Die amtlichen Klärungen des Jahres 2004 Die Einstellung zur medizinisch nicht indizierten Knabenbeschneidung nahm eine neue Wende, als das Sozial- und Gesundheitsministerium zusammen mit dem Finnischen Gemeindeverband in seinem Rundschreiben vom 03. 03. 2003 seine Empfehlung vom Anfang der neunziger Jahre erneuerte, obwohl die Befolgung dieser Empfehlung die Ignorierung der Auffassung der zweiten Ombudsfrau RiittaLeena Paunio bedeutete – also derjenigen Instanz, der die Überwachung der Gesetzlichkeit zukam. Zur selben Zeit erwog die Oberstaatsanwältin Päivi Hirvelä die Erhebung einer Anklage aufgrund des Verdachts auf Körperverletzung gegen einen Arzt und einen muslimischen Vater. Wegen der widersprüchlichen Ansichten bezüglich der Gesetzlichkeit des genannten Rundschreibens sowie allgemein bezüglich der Akzeptierbarkeit der Zirkumzision bestand daher nun der dringende Bedarf, beim Sozial- und Gesundheitsministerium die genannte Arbeitsgruppe einzuberufen, was am 11. 04. 2003 geschah. Bei der Zusammensetzung der Arbeitsgruppe wurde eine möglichst umfangreiche Sachkenntnis der Mitglieder angestrebt, und Archiater Risto Pelkonen fungierte als Vorsitzender der Arbeitsgruppe. Außerdem wurde Kristina Stenman damit beauftragt, zur Unterstützung der Arbeit der Gruppe eine Studie zu erstellen, in der die einschlägigen Praktiken der Knabenbeschneidung im In- und Ausland geklärt werden. Den Vorschlägen der Arbeitsgruppe des Sozial- und Gesundheitsministeriums zufolge sind medizinisch nicht indizierte Knabenbeschneidungen unter Stattgabe gewisser Voraussetzungen zuzulassen. Dabei ging die Arbeitsgruppe von dem Wohl des Kindes aus, das jedoch aus einem breiteren Blickwinkel betrachtet wurde als aus rein gesundheitlicher Sicht, indem man „die sozialadäquaten Grundlagen, die aus den Hintergründen der religiösen und kulturellen Traditionen erwachsen“, hervorhob. Die Voraussetzungen für die Zirkumzision sollte man nach schwedischem 4 5
Oviedo 4. 4. 1997, SEV Nr. 164; im Folgenden kurz Biomedizinkonvention. Siehe auch Lahti, FS Jung, 2007, S. 511 ff. (522).
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Vorbild6 in einem gesonderten Gesetz festlegen, da mit dieser operativen Maßnahme in die körperliche Integrität des Knaben eingegriffen werde. Die Beschneidung dürfe nur von einem approbierten oder mit einer Erlaubnis ausgestatteten Arzt vorgenommen werden, und zwar unter Einwilligung der Personensorgeberechtigten des Knaben. Des Weiteren schlug die Arbeitsgruppe in ihrem Bericht vor, dass die Knabenbeschneidungen im Rahmen der öffentlichen Gesundheitsversorgung durchzuführen seien, in gleicher Weise wie medizinisch indizierte Eingriffe. Laut Kristina Stenman, die die Klärungsarbeit geleitet hatte, sollte man für Knaben die Vornahme der Zirkumzision unter sicheren Bedingungen und mit denselben Begründungen in allen Landesteilen zulassen. Auch nach ihrer Ansicht würde ein gesondertes Gesetz nach schwedischem Vorbild die Sachlage klären. Diese amtlichen Klärungen haben nicht zu einem Vorschlag betreffend die Erlassung eines gesonderten Gesetzes geführt. Vermutlich hat sich darauf der Umstand ausgewirkt, dass am Amtsgericht Tampere in der Sache der Knabenbeschneidung Klage erhoben wurde und man beim Sozial- und Gesundheitsministerium die gesetzkräftige Rechtsnorm eines Gerichts abwarten wollte – welche dann im Präjudiz KKO 2008:93 erging. Nach dieser Entscheidung hat man am Ministerium, das für die Ausarbeitung des Gesetzesvorschlags zuständig gewesen war, wohl gemeint, dass sich mit der in der Entscheidung enthaltenen Rechtsnorm die Rechtslage geklärt habe und dass somit für gesonderte gesetzgeberische Maßnahmen kein Bedarf mehr bestehe.
IV. Der Hauptinhalt des Präjudizes KKO 2008:93 Im Präjudiz KKO 2008:93 vertrat der oberste Gerichtszug Finnlands die Ansicht, dass die Handlungsweise einer alleinerziehenden muslimischen Mutter, die ihren viereinhalb Jahre alten Sohn aus religiösen Gründen hatte beschneiden lassen, nicht für rechtswidrig anzusehen sei und dass die Vorgangsweise also keine strafbare Körperverletzung7 (weder in Mittäterschaft noch als Anstiftung zur Tat) sei. Bei der Entscheidung lautete die rechtliche Kernfrage, ob der von der Beschneidung implizierte Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Knaben (die irreversible Entfernung der Vorhaut vom männlichen Glied) den Tatbestand der Körperverletzung erfülle und – falls diese Frage zu bejahen sei – ob man die hinter dem Eingriff stehenden religiösen, kulturellen und sozialen Motive unter Stattgabe eventueller sonstiger Voraussetzungen für solche Gründe halten könnte, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen. Unter Anklage stand nur die Personensorgeberechtigte des Jungen, denn die Person, die den Eingriff vorgenommen hatte, blieb unbekannt, 6
Siehe Lag om omskärelse av pojkar (2001:499) [Gesetz über die Beschneidung von Knaben]. 7 Siehe finnisches StGB 21:5 – 7. Das finnische Strafgesetz ist als Übersetzung und mit einer Einführung von Karin Cornils, Dan Frände und Jussi Matikkala erschienen: Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Duncker & Humblot 2006.
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auch wenn es nach der Beweisführung des Obersten Gerichtshofs wahrscheinlich ein Arzt gewesen war. Im Präjudiz KKO 2008:93 zum Urteil des Appellationsgerichtes Turku vom 14. 03. 2007 war das Endergebnis dasselbe wie die einstimmige Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 17. 10. 2008, wenn auch die Begründungen erheblich voneinander differierten. Dagegen war der unterste Gerichtszug, das Amtsgericht Tampere, der Ansicht gewesen, dass der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt und kein Rechtfertigungsgrund vorgebracht worden sei. Das Gericht hielt die rechtswidrige Vorgehensweise der Angeklagten jedoch wegen eines Verbotsirrtums8 für entschuldbar und hat die Anklage deswegen zurückgewiesen. Von den rechtlichen Problemen, die die Knabenbeschneidung aufwirft, wurde in der Entscheidung ein direkter Standpunkt zur folgenden Frage bezogen: Stellt die medizinisch nicht indizierte Beschneidung, die eine sorgeberechtigte Person an ihrem Sohn vornehmen lässt, der aufgrund seines Alters noch nicht in der Lage ist, über die Maßnahme selbst zu entscheiden, gemäß der Anklage eine strafbare Anstiftung oder eine sonstige Teilnahme an der Körperverletzung dar oder nicht? Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs wurde der Tatbestand des Körperverletzungsdelikts erfüllt: Die Vorgangsweise erfüllte grundsätzlich den äußeren Tatbestand der Körperverletzung oder zumindest der leichten Körperverletzung. Da der Oberste Gerichtshof jedoch entschieden hat, die Anklage zurückzuweisen, muss man zum zweiten fragen, mit welchen Gründen eine solche Verletzung der körperlichen Unversehrtheit als nicht strafbar angesehen wird, also entweder dadurch, dass man das Vorliegen des Tatbestandes eng auslegt oder indem man einen solchen Eingriff für eine rechtmäßige (akzeptable) oder entschuldbare (verständliche) Vorgehensweise hält. Bei den Gründen für den Ausschluss der Strafbarkeit, die im Kapitel 4 des Strafgesetzbuches reguliert werden, wird in Folge der Strafgesetzesreform (515/2003) eine deutlichere und konsequentere Unterscheidung zwischen den strafrechtlichen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen getroffen. Den Begründungen des Obersten Gerichtshofs zufolge ging es um die Beurteilung dessen, ob Rechtswidrigkeit, oder genauer gesagt: ein die Rechtswidrigkeit ausschließender Grund, ein Rechtfertigungsgrund, vorgelegen habe, wenn auch die Formulierung des Standpunktes nicht ganz klar ist. Man ist da der Ansicht, dass sich der Tatbestand der Körperverletzung „grundsätzlich“ verwirklicht habe. Die Erwägung eines Rechtfertigungsgrundes ist in der Entscheidung als Abwägung von in verschiedenen Richtungen gehenden Grund- und Menschenrechten durchgeführt worden, ohne in diesem Zusammenhang auf den in der Strafrechtstheorie entwickelten Begriff der Sozialadäquanz zu verweisen – anders als in der ähnlichen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Schwedens vom 29. 09. 1997, Nr. B 2237/969. 8
StGB 4:2. Siehe die Sammlung der Entscheidungen Nytt juridiskt arkiv 1997 S. 636 – 645 (NJA 1997:107). Dazu kritisch Ravn, Omskœrelse i strafferetten [Beschneidung im Strafrecht], in: Kriminalistisk årbog 1998, Kopenhagen Universität 1999, S. 141 ff. 9
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Sachlich gesehen hat man sich im Präjudiz KKO 2008:93 meiner Meinung nach einen von den Gründen für den Ausschluss der Strafbarkeit nicht regulierten, das heißt einen nicht in einem Gesetz niedergeschriebenen neuen Rechtfertigungsgrund zu Eigen gemacht10 ; die Alternative wäre eine die Tatbestandsmäßigkeit der Körperverletzung einschränkende Auslegung gewesen. Das Endergebnis wirkt sich entgegen dem strafrechtlichen Legalitätsprinzip nicht zu Gunsten des Angeklagten aus. Vom Standpunkt der hinter dem Legalitätsprinzip stehenden Werte (der Vorhersagbarkeit und der Gleichheit) aus wäre es jedoch wünschenswert, dass man solche sich zu Gunsten des Angeklagten auswirkenden Ausnahmegründe auch in einem Gesetz regulierte. Bei der Beurteilung von KKO 2008:93 – wie im Allgemeinen bei Präjudizen – muss man als der Rechtsquellenlehre entsprechende Einschränkung die untersuchbaren Charakteristika des Falls und die aus diesen Umständen erwachsende unterschiedliche Interpretierbarkeit dessen beachten, in welchem Maße die im Präjudiz enthaltene Rechtsnorm sich zu einem neuen Straftatmerkmal verallgemeinern lässt. Ferner bleibt Unklarheit darüber bestehen, ob eine solche in einem einzelnen Präjudiz erteilte Rechtsnorm in der Rechtspraxis gewohnheitsrechtlich wird. Darauf hat wiederum der Umstand einen Einfluss, mit welcher Überzeugungskraft die Entscheidung, sich auf Rechtsquellen stützend, argumentiert worden ist.
V. Zur Abwägung von Grund- und Menschenrechten im Präjudiz KKO 2008:93 Dem Obersten Gerichtshof zufolge war die zentrale Rechtsfrage also die, ob man die hinter der Knabenbeschneidung stehenden religiösen, kulturellen und sozialen Motive für solche Gründe halten kann, die diese den Tatbestand der Köperverletzung erfüllende Vorgehensweise rechtfertigen. In der Entscheidung wird als damit verbundene Hintergrundangabe vorgebracht, dass die medizinisch nicht indizierte Knabenbeschneidung in vielen Gemeinschaften eine weltweit verbreitete Erscheinung und eine übliche Maßnahme sei, und zwar aus religiösen, kulturellen oder sozialen Gründen. Man schätzt, dass in Finnland jährlich rund 200 Zirkumzisionen vorgenommen werden, die nicht medizinisch indiziert sind. Die auf religiösen oder kulturellen Traditionen beruhende Knabenbeschneidung ist, dem Obersten Gerichtshof zufolge, soweit man weiß, in keinem Land direkt verboten, wenn auch in Schweden darüber ein gesondertes Gesetz erlassen wurde. Bei den Muslimen beruht die Knabenbeschneidung auf religiösen Traditionen und ist in den einschlägigen Gemeinschaften tief verwurzelt. Laut dem Obersten Gerichtshof beweist die in der Sache vorgebrachte Studie, dass die Beschneidung einen festen Teil der Identität der männlichen Mitglieder der Gemeinschaft bildet und dass die muslimischen Knaben im Alter zwischen vier und dreizehn Jahren durch die Be10 Siehe ähnlich Frände, Allmän straffrätt [Allgemeines Strafrecht], Helsingfors 2012, S. 147 f.
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schneidung in die religiöse und soziale Gemeinschaft aufgenommen werden (Punkt 8 der Begründungen). Diesbezüglich stützen sich die Begründungen nach meiner Beobachtung mehr oder weniger direkt auf den obenerwähnten Bericht der Arbeitsgruppe des Sozial- und Gesundheitsministeriums. Die eigentlichen Begründungen des Obersten Gerichtshofes bilden eine Abwägung von in verschiedene Richtungen wirkenden Grund- und Menschenrechten, deren Ergebnis darüber entscheidet, ob es überzeugende Gründe für die Annahme eines ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes gibt. Eine solche Abwägung ist in den Beschlüssen der Gerichte recht selten gewesen, obgleich es in der Entscheidungstätigkeit im Anwachsen begriffen ist. Im Strafrecht setzen das Analogieverbot sowie das Verbot ungenauer Regulierung im Legalitätsprinzip einer Abwägung zu Ungunsten des Angeklagten Grenzen. Wie oben konstatiert wurde, hat man sich auf den Begriff der Sozialadäquanz als einen im Gesetz nicht regulierten, von strafrechtlicher Verantwortung befreienden Grund stützen können. Der Oberste Gerichtshof Schwedens hat diesen Begriff als eine in den ungeschriebenen Entlastungsgründen erscheinende Kollision zwischen dem strafrechtlichen Schutzinteresse und einem diesem entgegengesetzten Interesse definiert: Die aus religiösen Gründen vorgenommene Knabenbeschneidung habe die Anforderungen der Sozialadäquanz in der Hinsicht erfüllt, als die Einwilligung der Eltern vorgelegen hat und den anderthalb bis siebenjährigen Kindern kein allzu großer Schmerz zugefügt wurde (obwohl die Zirkumzisionen ohne Betäubung vorgenommen wurden und bei vier von den sechs betroffenen Jungen der Eingriff zu Infektionen geführt hatte)11. Die Begründungen des Präjudizes KKO 2008:93 sind erheblich ausführlicher als die des entsprechenden schwedischen Beschlusses, und die Abwägung ist differenzierter. Bei der die Grund- und Menschenrechte betreffenden Argumentation ist man bestrebt gewesen, die in Frage kommenden Rechte vollständig zu identifizieren und sie gegeneinander abzuwägen, mit anderen Worten: man hat versucht, sie in eine Rangordnung zu bringen und sie zu gewichten, und das offensichtliche Ziel hat darin bestanden, die in verschiedene Richtungen wirkenden Rechte in optimaler Weise zu berücksichtigen. Vor der genaueren Analyse dieser Abwägung möchte ich das Augenmerk auf den Mangel in den Begründungen richten, dass in dem Beschluss des Obersten Gerichtshofes die Biomedizinkonvention des Europarates nicht einmal erwähnt wird. Zwar war die Konvention zu der Zeit, als die von den Anklagen bezeichneten Taten begangen und die Urteile gefällt wurden, noch nicht ratifiziert, aber Finnland hatte sie im Jahre 1997 unterzeichnet, und als ein im Jahre 1999 international in Kraft getretenes internationales Übereinkommen hat sie schon damals eine bedeutende und zulässige Rechtsquelle abgegeben. Von dieser Biomedizinkonvention hat man auch gesagt, dass sie in der Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) bei dessen Anwendung der vom Europarat ausgearbeiteten Europäischen Menschenrechtskonvention einen „europäischen Standard“ bilden und sich auch 11
NJA 1997 (Fn. 9), S. 642 ff.
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auf die Anwendung dieser Konvention in Hinsicht auf Staaten auswirken werde, die die Biomedizinkonvention nicht ratifiziert haben.12 Finnland hat im Jahre 2009 die Biomedizinkonvention und deren zwei Zusatzprotokolle ratifiziert, und zwar in der Weise, dass diese zum 01. 03. 2010 den Rang von zu befolgenden Gesetzen (23/2010) einnehmen. Somit sind sie zu verbindlichen Rechtsquellen geworden, die sich bei der Anwendung der einschlägigen einheimischen Gesetzgebung in Zukunft vor allem auf die Auslegung auswirken werden. Die Begründungen des Obersten Gerichtshofes, in denen die in der Sache bedeutsamen Grund- und Menschenrechtsnormen behandelt werden, sind meiner Meinung nach an sich sachgemäß – mit der Ausnahme des Umstands, dass die Biomedizinkonvention ohne Beachtung geblieben ist. Die relevanten Vorschriften des Grundgesetzes und dessen Vorarbeiten sowie die Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention und die damit verbundenen Entscheidungen des EGMR ebenso wie die Artikel der Konvention über die Rechte des Kindes werden in verdienstvoller Weise geklärt. Von den Grund- und Menschenrechten wird der Schutz des Familienlebens dem Schutz der körperlichen Integrität und der Religionsfreiheit zur Seite gestellt. In dem Abschnitt, in dem die verschiedenen Begründungen miteinander evaluiert werden, wird als Kernfrage bei der Abwägung der in verschiedene Richtungen weisenden Grund- und Menschenrechte die Frage aufgeworfen, ob das Recht des männlichen Kindes auf körperliche Unversehrtheit seine Sorgeberechtigten daran hindere, für das nicht einwilligungsfähige Kind über einen solchen Beschneidungseingriff zu entscheiden, der medizinisch nicht indiziert ist, sondern der zu den religiösen Traditionen der Familie gehört und dessen Akzeptierbarkeit somit sowohl mit dem Schutz des Familienlebens als auch mit der Religionsfreiheit verbunden ist. In den Begründungen wurde der Schutz der persönlichen Integrität des Kindes für stark erachtet, und zwar auch in Beziehung zu den Rechten, die den Personensorgeberechtigten zukommen: dem Schutz des Familienlebens und der Religionsfreiheit. Eine solche Akzentuierung, die sich auch die Vorarbeiten zu Grundgesetzreform stützt, ist wichtig, wenn man diese Grund- und Menschenrechte in eine Rangordnung bringt. Bei der Bestimmung dessen, wie die genannten Grund- und Menschenrechte zu gewichten und gegeneinander abzuwägen seien, war die Argumentation des Obersten Gerichtshofes, vereinfacht ausgedrückt, die folgende: „Ein in Form einer religiös begründeten, medizinisch sachgemäßen Beschneidung erfolgender Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Knaben kann man hinsichtlich des Gesamtwohls des Kindes für vertretbar und auch als Gesamtheit beurteilt für eine dermaßen geringfügige Maßnahme halten, dass die Vorgangsweise der Personensorgeberechtigten des Kindes bei der Veranlassung der Beschneidung an ihrem Kind nicht als eine solche die Interessen und Rechte des Kindes verletzende Tat anzusehen ist, die als Kör12 Siehe im Allgemeinen z. B. Roscam Abbing, The Convention on Human Rights and Biomedicine, European Journal of Health Law 1998, S. 377 ff. (380); Nys, The Biomedicine Convention as an Object and a Stimulus for Comparative Research, European Journal of Health Law 2008, S. 273 ff. (277).
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perverletzung strafbar wäre“ (Punkt 26). Unabhängig vom eigenen Willen des kleinen Jungen ist somit die mit der Einwilligung der Personensorgeberechtigten an ihm erfolgende Beschneidung gerechtfertigt, wenn sie sowohl für das Gesamtwohl des Kindes vertretbar als auch einen geringfügigen Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit darstellt. Das Kriterium des Gesamtwohls des Kindes setzt dem Obersten Gerichtshof zufolge voraus, dass es der Zweck der operativen Maßnahme ist, das Wohlergehen des Kindes und seine Entwicklung zu fördern, und dass die Maßnahme auch objektiv beurteilt nicht den Interessen des Kindes widerläuft. Bezüglich dessen stützt man sich an einer früheren Stelle der Begründungen in erster Linie auf den Bericht der Arbeitsgruppe des Sozial- und Gesundheitsministeriums vom Jahre 2003, und zwar auf die aus dem Text hervorgehende Auffassung, dass die aus religiösen Gründen erfolgende Beschneidung ausdrücklich für den zu beschneidenden Knaben selbst, für die Entwicklung seiner Identität sowie für seine Integration in seine religiöse und soziale Gemeinschaft von positiver Bedeutung sei. Die Zirkumzision wird in dem Beschluss für eine mehr oder weniger ungefährliche Maßnahme gehalten, wenn sie nur in medizinisch sachgemäßer Weise, unter hygienischen Bedingungen und mit der erforderlichen Schmerzlinderung ausgeführt wird. Zwar ist es möglich, so konstatiert man, dass die Maßnahme dem Kinde in gewissem Maße Schmerzen bereitet, aber sie verursacht ihm keinen gesundheitlichen oder sonstigen bleibenden Schaden. Obwohl der Eingriff irreversibel ist, sind mit ihm keine solchen Züge verbunden, die das Kind oder den späteren Erwachsenen in negativer Weise abstempeln würden. Die Schwere des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit wird bei der Beschneidung von Knaben und Mädchen in wesentlich anderer Weise beurteilt. Bei der Beschneidung von Mädchen handelt es sich dem Obersten Gerichtshof zufolge um eine Vorgehensweise, die als schwere Körperverletzung, als Genitalverstümmelung, einzustufen sei, die sich unter keinen Umständen durch religiöse oder soziale Gründe rechtfertigen lasse.
VI. Kritik an der Abwägungsargumentation im Präjudiz KKO 2008:93 An der oben erläuterten Abwägungsargumentation kann man auf der Basis der Biomedizinkonvention und der internationalen Diskussion Kritik üben. Zunächst zum Gesamtwohl des Kindes bei der Knabenbeschneidung. Laut Artikel 6 (1) der Biomedizinkonvention darf man eine in die körperliche Unversehrtheit eines nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen eingreifende Maßnahme nur dann vornehmen, wenn diese für ihn von unmittelbarem Nutzen („direct benefit“) ist.13 Die Gründe zur 13 Vgl. im Allgemeinen Stultiêns et al., Minors and Informed Consent: A Comparative Approach. European Journal of Health Law 2007, S. 21 ff.
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Einschränkung der von der Konvention garantierten Rechte sind in Artikel 26 (1) erschöpfend aufgelistet („wegen der allgemeinen Sicherheit, zur Bekämpfung von Kriminalität, zum Schutz der Volksgesundheit oder zur Sicherung der Rechte oder Freiheiten anderer Personen“). Aus ihnen lassen sich wohl keine solchen in den Begründungen des Obersten Gerichtshofes genannten religiösen, kulturellen oder sozialen Gründe ableiten, auf die sich stützend die Knabenbeschneidung im Sinne dieses Artikels begründet wäre. Die Nichterfüllung der Anforderung des unmittelbaren Nutzens ist die zentrale Begründung in meiner abweichenden, in der Minderheit gebliebenen Meinung im Bericht des Ethischen Beirats ETENE vom 15. 06. 1999, in der Beschwerdeentscheidung der Ombudsfrau Riitta-Leena Paunio vom 30. 11. 1999 und in den Entscheidungen der Oberststaatsanwältin Päivi Hirvelä bezüglich des sanktionsartigen Absehens von Strafverfolgung vom 30. 06. 2004 gewesen (siehe dazu oben). Unabhängig davon, ob man sich bei der Einschätzung des Kindeswohles auf den Artikel 6 der Biomedizinkonvention stützt oder nicht, ist in der internationalen Diskussion Kritik daran vorgebracht worden, wie man es definiert. Die britischen Forscher Marie Fox und Michael Thomson haben bei Knabenbeschneidungen die Neuformulierung des in den Ländern des Common Law angewandten Begriffes „nach den besten Interessen“ (best interests) des Kindes gefordert. Bei der Beurteilung der Zulässigkeit des Eingriffs an Knaben aus dem Blickwinkel der besten Interessen reiche es nicht aus, das Augenmerk nur auf die Schwere des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit oder auf sonstige unmittelbare Auswirkungen zu richten, sondern man müsse die Interessen viel weiter verstehen. Bei der Beurteilung müsse man unter anderem die Auswirkungen der Maßnahme auf die Entscheidungsfreiheit des erwachsen werdenden Knaben und auf sein späteres Sexualleben mit berücksichtigen.14 Man kann auch die Frage stellen, ob die im Beschluss des Obersten Gerichtshofes vorgebrachten, das Gesamtwohl des Kindes betreffenden Umstände nicht vielmehr auf die von der religiösen Gemeinschaft und den Sorgeberechtigten definierten kollektiven Interessenaspekte des Familienlebens abzielen als auf die individuellen Interessen des Kindes in dem von Fox und Thomson aufgezeigten Sinn. In den Begründungen des Obersten Gerichtshofes ist diesbezüglich der zentrale Aspekt der, dass man der Ansicht ist, die Beschneidung würde die Entwicklung der Identität des Knaben und seine Integration in die religiöse und soziale Gemeinschaft fördern. Matti Tolvanen hat in seinem kritischen Kommentar konstatiert, es bestünde die Gefahr, dass die Beschneidung den Knaben in dem Maße an seine religiöse Gemeinschaft binde, dass es ihm sogar unmöglich sein kann, sich aus der Gemeinschaft zu lösen, wenn die Zeit gekommen ist, dass er sich ein eigenständiges Weltbild schafft.15 14
Fox – Thomson, Reconsidering ,Best Interests‘. Male Circumcision and the Rights of the Child S. 26, in: Circumcision and Human Rights (Fn. 3), S. 15 ff. 15 Tolvanen, KKO 2008:93, in: KKO:n ratkaisut kommentein [Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs mit Kommentaren], Helsinki 2009, S. 142 ff. (144).
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In der internationalen Diskussion hat man auch in Frage gestellt, ob es denn angebracht sei, die Beschneidung von Jungen und von Mädchen bezüglich der Schwere des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit so radikal anders zu sehen, wie man es im Allgemeinen und auch in den Begründungen des Obersten Gerichtshofes tut. So hat zum Beispiel die niederländische Forscherin Jacqueline Smith diesen in den westlichen Ländern verbreiteten Doppelstandard angegriffen und die Ansicht vertreten, dass eine Diskriminierung der zu beschneidenden (jüdischen und muslimischen) Knaben darin bestehe, dass man sie nicht in gleicher Weise vor der Zufügung unnötiger Schmerzen schütze wie die Mädchen und diejenigen Jungen, die keiner solchen religiösen Gemeinschaft angehören, welche die rituelle Beschneidung praktiziert.16 Der Oberste Gerichtshof hat in seinen Begründungen den Vorwurf der Diskriminierung zurückgewiesen. Deswegen solle man beide rituellen Maßnahmen in gleicher Weise bekämpfen. Auf der anderen Seite hat sich die UNO in ihren Kampagnen gegen AIDS für eine „sichere, freiwillige, auf Wissen basierende Beschneidung von Männern“ als Mittel ausgesprochen, die Ausbreitung des HI-Virus zu bekämpfen.17 Im Urteil des LG Köln vom 07. 05. 2012 (Az. 151 Ns 169/11) sieht das LG den Tatbestand der Körperverletzung als erfüllt an und bejaht auch die Rechtswidrigkeit der Knabenbeschneidung mit folgender Motivierung: Allein religiöse begründete Einwilligung könne nicht als Rechtsfertigungsgrund herangezogen werden, weil das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit den Grundrechten der Eltern als „verfassungsimmanente Grenze“ entgegenstehe. Eine solche Zirkumzision tangiert dazu das Recht des Kindes.18 Wie Werner Beulke und Annika Dießner19 in ihrer Analyse der jüngsten deutschen rechtswissenschaftlichen Diskussion über die Zulässigkeit der Knabenbeschneidung gezeigt haben, gibt es eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Befürwortern der Strafbarkeit und deren Gegenposition. Die Meinungsverschiedenheiten sind erklärlich, weil kein Einverständnis über die juristische Methode (Begründungsweise) oder den Hauptinhalt der wichtigen Prinzipien oder Begriffe existiert. Ich habe oben die Begründungsweise des finnischen Obersten Gerichtshofs in der Hinsicht gelobt, als darin eine Abwägung von kollidierenden Grund- und Menschenrechten durchgeführt wird, obgleich die Bestimmung des Inhalts und Gewichtes dem Rechtsbegriff „Kindeswohl“ sich als problematisch erwies.
16 Smith, Male Circumcision and the Rights of the Child, in: Essays in Human Rights from the Heart of the Netherlands, 1998 (www.nocirc.org/legal/smith.php), Conclusions. 17 Siehe Safe, Voluntary, Informed Male Circumcision and Comprehensive HIV Prevention Programming. Guidance for decision-makers on human rights, ethical and legal consideration. UNAIDS/08.19E / JC1552E, 2008 (www.unaids.org). 18 Siehe näher NJW 2012, 2128 und die Erläuterung von Beulke/Dießner, ZIS 7/2012, 340. 19 Beulke/Dießner, ZIS 7/2012, passim.
Knabenbeschneidung als Problem der multikulturellen Gesellschaft
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VII. Die Knabenbeschneidung und das Präjudiz KKO 2008:93 als Beispiele für die Probleme eines multikulturellen Strafrechts Die Knabenbeschneidung und die diese betreffende Klagesache im Fall KKO 2008:93 veranschaulichen die Probleme eines multikulturellen Strafrechts und sonstiger rechtlicher Regulierung. Wie flexibel kann man unter Verweis auf die Religion oder die Traditionen von Kulturen bzw. Teilkulturen bei der Anwendung der strafrechtlichen Verantwortungs- und Sanktionsgründe sein und im Geiste kultureller Pluralität von der herrschenden Strafrechtsordnung abweichende Praktiken billigen oder zumindest dulden?20 Im Präjudiz KKO 2008:93 basiert die den Multikulturalismus berücksichtigende Argumentation in lobenswerter Weise auf der Abwägung von Grund- und Menschenrechten, obgleich man Details der Argumentation kritisieren kann. Die Knabenbeschneidung ist auch in Finnland kein neues Phänomen, da sie zur Tradition der jüdischen Gemeinschaft gehört. Da in Folge der Zuwanderung von Menschen aus islamischen Ländern dieses Phänomen häufiger geworden ist und man im Kreise der öffentlichen Gesundheitsversorgung seine Haltung zu einer solchen, medizinisch nicht notwendigen Maßnahme erwägen musste, hat man ihm wachsende Aufmerksamkeit geschenkt. Zur selben Zeit sind die Bereiche der Medizin und der Gesundheitsversorgung zunehmend verrechtlicht worden: Was auf der Grundlage der bestehenden Gesetze und Vorschriften oder des Gewohnheitsrechts keine deutlich gesellschaftlich akzeptierte (sozialadäquate) Tätigkeit in diesem Bereich ist, setzt eine diese berechtigende neue Gesetzgebung oder eine Gerichtspraxis voraus, die ein (Gewohnheits-)Recht schafft. Auf diese Entwicklung hat sich die Verstärkung des Grund- und Menschenrechtsdenkens seit den neunziger Jahren ausgewirkt.21 Wo zum Beispiel die Grund- und Menschenrechte sowie die strafrechtlichen Normen die persönliche Integrität schützen, müssen für eine Abweichung davon starke, auf der Rechtsordnung basierende Gründe gegeben sein. Die kritikanfälligen Stellen im Präjudiz KKO 2008:93 zeigen, wie schwierig es ist, mittels einer Abwägung von Grund- und Menschenrechten durchweg überzeugende und deutlich anwendbare Rechtsnormen zu schaffen. Wegen der Vielfältigkeit des vorliegenden Problems und der Gewährleistung seiner allseitigen Regulierung würde man vielmehr Gesetzgebung benötigen – also über die Knabenbeschneidung ein dem schwedischen Vorbild entsprechendes Gesetz, wie es auch im Bericht der
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Siehe im Allgemeinen über das multikulturelle Strafrecht z. B. Foblets – Dundes Renteln, Multicultural Jurisprudence, Comparative Perspectives on the Cultural Defense, Hart Publishing 2009. 21 Siehe auch § 80 des finnischen Grundgesetzes (731/1999); Lahti 2007 (Fn. 5), S. 527 f.
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Arbeitsgruppe des Sozial- und Gesundheitsministeriums vom Jahre 2003 vorgeschlagen worden ist.22 Bei der Ausarbeitung eines besonderen Gesetzes ist der vom Artikel 6 der Biomedizinkonvention möglichweise eingeräumte nationale Erwägungsspielraum zu klären. Zudem sind bei der Ausarbeitung eines besonderen Gesetzes auch die Stellung der Ärzte und des übrigen medizinischen Fachpersonals sowie die Rolle der öffentlichen Gesundheitsversorgung bei der Vornahme von Zirkumzisionen zu erwägen. Beim Fall KKO 2008:93 handelte es sich um eine Strafsache, weswegen man damals die Stellung des Arztes, der den Eingriff ausgeführt hat, nicht gesondert untersuchte, zum Beispiel unter dem Aspekt, wie die Akzeptierbarkeit des Eingriffs vom Standpunkt der Disziplinarverantwortung und Berufsausübungsaufsicht aus einzuschätzen wäre. Wegen dieser Verantwortlichkeiten wird dem Fachpersonal der Gesundheitsversorgung ein Doppelstandard auferlegt, und eine Ausschließung der Strafverantwortung bedeutet nicht unbedingt, dass damit auch eine Verletzung der beruflichen Pflichten ausgeschlossen wäre. Bei der Beurteilung dieser Aspekte ist auch die Befolgung der berufsethischen Pflichten zu berücksichtigen23, und deren Inhalt ist im Bezug zur Knabenbeschneidung ablehnend oder zumindest reserviert gewesen24.
22 Ähnlich Tolvanen 2009 (Fn. 15), S. 143 f. Siehe auch die entsprechende Ankündigung der deutschen Bundesregierung nach dem Urteil des LG Köln vom 07. 05. 2012 und dazu Beulke/Dießner, ZIS 7/2012, 346. 23 Siehe § 15 im Gesetz über die Dienststellungen im Gesundheitswesen (559/1994) und Artikel 4 der Biomedizinkonvention. 24 So die herrschende Meinung in der finnischen Ärzteschaft; siehe Äärimaa, Suomen Lääkärilehti 14/2003, S. 1631.
Zur Legitimität der Strafvorschrift „Unterlassene Hilfeleistung“ Von Kristian Kühl
I. Orientierung am Rechtsgutskonzept Untersucht man als Strafrechtswissenschaftler die Legitimität einer Strafvorschrift, so orientiert man sich am so genannten Rechtsgutskonzept,1 auch wenn man diesem letztlich nicht folgt oder es zumindest für ergänzungsbedürftig hält.2 Völlig überzogen und bis in die Wortwahl hinein unpassend hat jedoch das Bundesverfassungsgericht in einer aufsehenerregenden Entscheidung vom 26. 02. 2008 dem Rechtsgutskonzept eine Absage erteilt und an seine Stelle das Verhältnismäßigkeitsprinzip als alleinigen Maßstab zur Prüfung der Verfassungsgemäßheit einer Strafvorschrift gesetzt.3 Ob damit ein präziserer Maßstab an die Stelle eines vagen Konzepts gesetzt wurde, kann hier nicht allgemein diskutiert werden, darf aber wenigstens mit dem Hinweis bezweifelt werden, dass Strafrechtswissenschaftler, die mit dem Bundesverfassungsgericht auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip abstellen, zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kommen.4 So etwa bei der Frage, ob die Strafbarkeit des Inzests – „Beischlaf zwischen Verwandten“ nach § 173 StGB – legitim und verfassungsgemäß sei. Strafrechtswissenschaftler lehnen das wegen Unverhältnismäßigkeit ab,5 das Bundesverfassungsgericht bejaht dies speziell für den Geschwisterinzest wegen der Verhältnismäßigkeit der Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB. Sieht man die Begründung des Gerichts näher an, so stößt man auf 1 Kühl, in: Kühl/Reichold/Ronellenfitsch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 2011, § 31 Rn. 11 – 27, und schon Kühl, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht, 2001, S. 34 ff. – Knapp, aber treffend Hassemer, NStZ 1989, 553, 557 und in: GS Schlüchter, 2002, S. 137, 151 ff. sowie in: FS Spinellis, 2001, S. 329, 415 f. 2 Zu den Problemen der Rechtsgutskonzepte, NK-StGB/Hassemer/Neumann, 3. Aufl. 2010, § 1 Rn. 116 ff. – Zu Gegenentwürfen zum Rechtsgutskonzept Swoboda, ZStW 122 (2010), 24, 41 ff. – Vgl. auch Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie – Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, 2003. – Die selbst gestellte Frage, ob „Strafrecht als Rechtsgüterschutz ein Auslaufmodell“ sei, beantwortet Heinrich, FS Roxin II, 2011, S. 131, 154, „mit einem klaren ,Nein‘“. 3 BVerfGE 120, 224 ff. = NJW 2008, 1137 ff. mit Bespr. u. a. von Hörnle, NJW 2008, 2085 ff. und Roxin, StV 2009, 544 ff. sowie in: FS Hassemer, 2010, S. 573, 580 ff. 4 Dazu schon Kühl, FS Maiwald, 2010, S. 433, 447 ff. 5 LK-StGB/Weigend, 12. Aufl. 2007, Einl. Rn. 7.
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den nur notdürftig verdeckten Rechtsgutsgedanken: familienschädliche Wirkungen seien von den Sachverständigen plausibel gemacht worden.6 Wenn aber das der „wahre“ Grund für die Verfassungsgemäßheit des Inzests ist, dann hätte das Gericht sich auch gleich der Strafrechtsprechung und vielen Stimmen in der Strafrechtswissenschaft anschließen können, die § 173 StGB mit dem Rechtsgut der Familie als Schutzzweck legitimieren.7 Den Streit um das Rechtsgutskonzept hätte das Bundesverfassungsgericht also nicht aus Anlass der Inzeststrafbarkeit „vom Zaun brechen“ müssen. Viele Strafrechtswissenschaftler allerdings bestreiten die Legitimität des § 173 StGB gerade mit dem Rechtsgutskonzept, das von allen Strafvorschriften verlangt, dass sie ein Rechtsgut schützen und nur das Verhalten unter Strafe stellen, das dieses Rechtsgut verletzt oder gefährdet.8 Besonders erfolgreich war dieses Konzept in der Ausscheidung bloßer Moralwidrigkeiten.9 So wurde etwa § 175 StGB, der die Homosexualität unter Erwachsenen unter Strafe stellte, nach und nach abgeschafft;10 zur Mahnung an diesen Übergriff des Strafrechts in den Bereich der Moral blieb die Nummer 175 im deutschen Strafgesetzbuch bis heute unbesetzt. Im Gefolge des Rechtsgutskonzepts wurde außerdem ein Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs, der früher mit Verbrechen wider die Sittlichkeit überschrieben war, – einem Vorschlag von Schroeder folgend – mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung – also einem Rechtsgut – überschrieben.11 Dass mit diesen Erfolgen die Problematik der Moralwidrigkeiten nicht vollständig gelöst war, zeigte jetzt der von Betroffenen (= Bestraften) vor das Bundesverfassungsgericht gebrachte Fall des Geschwisterinzests. Sowohl das Geschwisterpaar in seiner Verfassungsbeschwerde als auch der Senatsvorsitzende in seinem abweichenden Votum12 sahen im Inzest eine reine Moralwidrigkeit, die in kein Rechtsgut eingreift. Man hätte meinen können, dass gerade die Position des Senatsvorsitzenden in 6
BVerfG NJW 2008, 1137, 1139. Vgl. Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 173 Rn. 1; Schönke/Schröder-Lenckner/ Bosch, StGB, 28. Aufl. 2010, § 173 Rn. 1. 8 Kühl, in: Kühl/Reichold/Ronellenfitsch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 2011, § 31 Rn. 11. 9 Vgl. Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 17 ff. – Eingehend zur Reform des Sexualstrafrechts in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, LK-StGB/ Hörnle, 12. Aufl. 2010, vor § 174 Rn. 4 – 11. 10 Kühl, in: Kühl/Reichold/Ronellenfitsch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 2011, § 31 Rn. 13; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl. 1996, S. 104 f. – Nach Lenckner, in: Nörr (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland 40 Jahre Rechtsentwicklung, 1990, S. 325, 333: „Entrümpelung“ von Tatbeständen, die sich ohnehin schon überlebt hatten. 11 Der Vorschlag von Schroeder findet sich in: ZRP 1971, 14, 15. – Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, vor § 174 Rn. 1; Lackner/Kühl (Fn. 7), StGB, vor § 174 Rn. 1 – Eingehend zu den geschützten Rechtsgütern des 13. BT-Abschnitts LK-StGB/Hörnle (Fn. 9), vor § 174 Rn. 27 – 40. 12 Hassemer, NJW 2008, 1137, 1144: „Schutz einer gesellschaftlichen Moralvorstellung“. 7
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diesem Verfahren ein großes Gewicht erlangen würde, denn er ist nicht nur ein Strafrechtswissenschaftler, sondern war als solcher an der Entwicklung des Rechtsgutskonzepts maßgeblich beteiligt.13 Er konnte allerdings keinen einzigen seiner Richterkollegen von seiner Position überzeugen. Zu deren Schutz kann man – auch wenn man die Position des Senatsvorsitzenden Hassemers vertritt – anführen, dass sie ja nicht die Vorschrift geschaffen, sondern nur nicht als verfassungswidrig verworfen haben. Und dafür mag es ausreichen, dass familienschädliche Auswirkungen von Inzesthandlungen plausibel gemacht wurden. Ob das dem Gesetzgeber für die Beibehaltung des § 173 StGB ausreichen sollte, ist eine ganz andere Frage. Dem Gesetzgeber steht es auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts frei, die Vorschrift aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Daran hat auch die vor wenigen Wochen ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg vom 12. 04. 2012 nichts geändert. In dieser lapidar begründeten Entscheidung wurde die deutsche Inzeststrafbarkeit deshalb für nicht konventionswidrig erklärt, weil es eine solche Strafbarkeit in vielen europäischen Rechtsstaaten gäbe.14 Dass eine solche Strafvorschrift in einem konventions- bzw. menschenrechtskonformen Strafgesetzbuch enthalten sein muss, ist damit nicht gesagt. Eher ist anzunehmen, dass der EGMR auch die Streichung akzeptieren würde, denn auch Strafgesetzbücher ohne Inzest-Strafvorschriften gibt es in vielen europäischen Rechtsstaaten. Noch zwei kurze Bemerkungen zum Rechtsgutskonzept, die dessen oben bereits angesprochenen Schwächen und seine Ergänzungsbedürftigkeit beleuchten sollen. Das Rechtsgutskonzept kann erfolgreich auch zur Bekämpfung von Gesinnungsstrafrecht eingesetzt werden. Schwierigkeiten hat es aber bei Gesinnungsäußerungen. Äußerst umstrittenes Beispiel sind die seit längerem bestehende Strafvorschrift des § 140 StGB, der unter anderem schon die „Billigung von Straftaten“, die ein anderer begangen hat, erfasst,15 und der neue § 89 a StGB, der bereits die Schulung in einem „Terrorcamp“ als „Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ unter Strafe stellt.16 Die Schwäche des Rechtsgutsbegriffs liegt hier darin, dass er bei ausgemachtem Rechtsgut die Tendenz zu dessen möglichst frühen Schutz in sich trägt. Zur Ergänzungsbedürftigkeit des Rechtsgutskonzepts auch nur noch kurz. Mit dem Rechtsgut ist nur das Erfolgsunrecht einer Tat belegt. Die wenigsten Rechtsgüter – am ehesten noch das Rechtsgut „Leben“ – verdienen einen strafrechtlichen „Rundum-Schutz“ gegen alle Angriffe. Das objektive Handlungsunrecht verlangt die Einschränkung auf typischerweise gefährliche und/oder sozialethisch-wertwidrige Ver-
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NK-StGB/Hassemer/Neumann (Fn. 2), § 1 Rn. 131 ff.: Personale Rechtsgutslehre. EGMR FamRZ 2012, 937 mit Bespr. Kubiciel, ZIS 2012, 282 ff. 15 Kühl, Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 214 f. und schon in: NJW 1987, 737, 745. 16 Lackner/Kühl (Fn. 7), StGB, § 89a Rn. 1 f. mit Nachweisen zur Kritik an dieser Vorschrift. 14
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haltensweisen wie etwa die Täuschung beim Betrug.17 Andere vorsätzliche und (auch) fahrlässige Vermögensschädigungen sind ausreichend durch das Zivilrecht und dessen Sanktion des Schadensersatzes (z. B. wegen unerlaubter Handlung nach § 823 BGB) erfasst. So bewahrt das Strafrecht seinen fragmentarischen Charakter.18
II. Darf unterlassene Hilfeleistung mit Strafe sanktioniert werden? Mit dieser Frage ist die Legitimität der unterlassenen Hilfeleistung thematisiert. Diese Problematik beim Rechtsgut zu verorten – was nicht selten geschieht, wenn die „Solidarität“ als Rechtsgut benannt und oft gleich verworfen wird19 –, liegt neben der Sache. § 323 c StGB schützt als Rechtsgüter die bedrohten Individualrechtsgüter des in Not Geratenen, also vor allem dessen Leben und körperliche Unversehrtheit.20 Damit ist allerdings die Legitimität der Vorschrift noch nicht sichergestellt. Wie so oft, reicht es für die Legitimität einer Strafvorschrift nicht aus, dass sie ein anerkanntes Rechtsgut schützt. Selbst der Schutz des Rechtsguts Leben, dem höchsten aller Rechtsgüter, reicht nicht immer, obwohl – wie gerade gesagt – das Leben vom Strafrecht fast „rundum“ geschützt wird (es fehlt aber etwa ein allgemeines Lebensgefährdungsdelikt). Problematisch ist die Vorschrift des § 323 c StGB schon deshalb, weil sie als Unterlassungsdelikt nicht in das Schema der Strafrechtsordnung passt. Dieses Schema kommt in der Formel „neminem laede“ – der äußeren Rechtspflicht nach Kant21 – zum Ausdruck und steht hinter der einzelnen Strafvorschrift, die den eigenmächtigen aktiven Übergriff in die Rechtssphäre eines anderen unter Strafdrohung verbietet.22 Das Gebot, einem anderen helfend „zur Seite zu springen“, scheint auf den ersten Blick davon nicht gedeckt und eher eine moralische Pflicht zur (christlichen) Nächstenliebe zu sein, die in der Rechtsordnung nichts zu suchen 17 Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 10 ff. und 50 ff. – Speziell zu § 263 StGB; Kühl, in: Kühl/Reichold/Ronellenfitsch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 2011, § 31 Rn. 27. 18 Näher zur Fragmentarietät des Strafrechts Kühl, FS Tiedemann, 2008, S. 29, 35 ff. 19 So etwa Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, BT, Teilbd. 2, 9. Aufl. 2005, § 55 Rn. 3; vgl. auch Gallas (Fn. 17), S. 259 ff.; zum Allgemeininteresse an solidarischer Schadensabwehr als Strafgrund – nicht als Rechtsgut – Lackner/Kühl (Fn. 7), StGB, S. 323c Rn. 1 m.w.N.; als „Grundgedanke“ des § 323c bei Wessels/Hettinger, Strafrecht, BT 1, 35. Aufl. 2011, Rn. 1042. Für Solidarität als Rechtsgut etwa Küpper, Strafrecht, BT 1, 3. Aufl. 2007, II § 3 Rn. 61 und Otto, Grundkurs Strafrecht, 7. Aufl. 2005, § 67 Rn. 1; dagegen, SKStGB/Rudolphi/Stein, Loseblattausgabe, 110 Lfg. (September 2007), § 323c Rn. 2. 20 Lackner/Kühl (Fn. 7), StGB, § 323c Rn. 1; übernommen von BGH NJW 2002, 1356, 1357; eingehend Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt, 2001, S. 325 ff. 21 Kant, Akademieausgabe Band 6 = AA VI 236 f. 22 Näher Kühl, Recht und Moral, in: Düwell/Hübenthal/Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, 3. Aufl. 2011, S. 486 f.
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hat. Wer anderen bei Unglücksfällen nicht hilft, handelt moralisch verwerflich, tut aber dem Verunglückten kein Unrecht an. Das deutsche Strafrecht behandelt dennoch aktives Tun und Unterlassen unter bestimmten Voraussetzungen gleich. Bei dieser Gleichstellung ist der deutsche Gesetzgeber zwar spartanisch knapp vorgegangen und hat sich deshalb dem – vom Bundesverfassungsgericht23 allerdings zurückgewiesenen – Vorwurf der fehlenden gesetzlichen Bestimmtheit des Bereichs des Strafbaren ausgesetzt.24 Er hat aber die Forderung nach Trennung von Recht und Moral beachtet und lässt als Täter eines unechten Unterlassungsdelikts nur Garanten zu. Garant ist nach § 13 Abs. 1 StGB nur derjenige, der „ rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“. Bloße moralische Einstehenspflichten sind also ausgeschlossen. Damit ist allerdings nur die grobe Richtung vorgeschrieben. Bei jeder einzelnen möglichen Garantenstellung ist die Einordnung als rechtliche oder moralische Einstehenspflicht gesondert zu prüfen. Die Einordnung als rechtliche Pflicht ist für die Pflicht der Mutter zum Beschützen ihres auf sie angewiesenen Kleinkindes überzeugend zu bejahen; sie wird auch durch das Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches untermauert.25 Doch trotz Untermauerung durch das Familienrecht wird die Garantenstellung der Ehegatten zum wechselseitigen Schutz von Leib und Leben – allerdings von einer Minderheit – als bloße moralische Pflicht ausgeschieden.26 Selbst die Ingerenz-Garantenstellung, für die ja die einfache und plausible Überlegung spricht, dass, wer andere in Gefahr bringt, diese auch aus dieser Gefahr wieder herausholen muss, ist nicht ganz unbestritten.27 Allgemein betrachtet ist es jedenfalls richtig, nur dem eine Pflicht zur Erfolgsabwendung aufzubürden und ihm den nicht abgewendeten Erfolg anzulasten, der „rechtlich“ dazu bestimmt ist. So weit geht die Vorschrift über die Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung aber nicht. Weder verpflichtet sie zur Erfolgsabwendung noch wird dem Unterlassenden der Erfolg, wenn er eintritt, angelastet. Dennoch steht die Vorschrift unter Legitimitätsdruck. Das liegt vor allem daran, dass sie keine rechtlich begründete Einschränkung des Täterkreises vornimmt. Nach § 323 c StGB macht sich strafbar, „wer“ nicht Hilfe leistet. Dieser „wer“, also Jedermann, kann zwar Täter fast aller Delikte sein, sofern sie durch aktives Tun begangen werden. Im Bereich der Begehungsdelikte sind Sonderdelikte,28 deren Tatbestand nur von be23
BVerfG E 96, 68, 97 und in: NJW 2003, 1030 mit krit. Anm. Seebode, JZ 2004, 305; zust. aber Kühl, FS Herzberg, 2008, S. 177, 189 f. 24 So etwa von Seebode, FS Spendel, 1992, S. 317. 25 Kühl, Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2012, § 18 Rn. 50. 26 So etwa von Gallas, Studien zum Unterlassungsdelikt, 1989, S. 92 f. – Zur ganz h. L. vgl. Kühl (Fn. 25), § 18 Rn. 56, und Lackner/Kühl (Fn. 7), StGB, § 13 Rn. 8 und 13. 27 Ablehnend etwa Schünemann, GA 1974, 231; zu dieser sog. Antiingerenztheorie vgl. Roxin, Strafrecht, AT II, 2003, § 32 Rn. 147 f., der selbst die Ingerenz als Garantenstellung anerkennt (Rn. 150 ff.); das entspricht der ganz h. M., vgl. Kühl (Fn. 24), § 18 Rn. 91; vgl. auch schon Gallas (Fn. 26) S. 86 f. 28 Näher zu den Sonderdelikten Lackner/Kühl (Fn. 7), StGB, 33 vor § 13.
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stimmten Tätern, wie etwa Amtsträgern, begangen werden können, die Ausnahme. Bei Unterlassungsdelikten aber stellt sich das anders dar. Bei ihnen ist es die Ausnahme, wenn Jedermann sie „begehen“ kann. Eine solche Ausnahme ist begründungsbedürftig, denn bei dieser Ausnahme ist es – wie bei der unterlassenen Hilfeleistung – für die Strafbarkeit ausreichend, dass der Täter den Dingen ihren Lauf lässt, ohne von der Möglichkeit, erfolgsabwendend einzugreifen, Gebrauch zu machen. Damit unterlässt er zwar die ihm mögliche Rettung von so wichtigen Rechtsgütern wie Leib und Leben, aber der Rechtsgüterschutz ist auch hier wieder kein ausreichendes Argument, Jedermann zur Hilfeleistung mittels Strafandrohung zu zwingen. Er ist zwar, wenn er die Hilfeleistung nicht erbringt, ein so genannter „bad samaritan“ (= schlechter Samariter),29 aber dieser verdient zunächst nur eine moralische Missbilligung. Soll aus seinem Verhalten ein Unrecht werden, bedarf es eines weiteren Arguments, dessen Geltung im Rechtsbereich aber noch der Absicherung bedarf: der mitmenschlichen Mindestsolidarität. Anders als die Freiheit, vor allem die äußere Freiheit, ist die Solidarität kein allseits anerkannter, gesicherter Rechtsbegriff.30 Das Recht versucht in erster Linie – dem allgemeinen Rechtsgesetz Kants aus der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten von 1797 folgend31 – die Freiheit des einen mit der des anderen kompatibel zu machen. Die dadurch entstehenden äußeren Freiheitssphären sind der zentrale Schutzgegenstand des Strafrechts. Eigenmächtige Übergriffe in die Freiheitssphäre anderer durch Rechtsgutsverletzungen – wie bereits oben festgestellt – werden bestraft. Wer solche aktiven Übergriffe unterlässt, wird nicht bestraft. Dass das Unterlassen eines Hilfeleistens bestraft wird, ist eher eine umstrittene Randerscheinung im Strafrecht. Die Strafe würde hier ja das Verbleiben im eigenen Rechtskreis sanktionieren und die entsprechende Strafvorschrift ein Heraustreten aus dem eigenen Rechtskreis verlangen. Die für eine solche Strafvorschrift erforderliche Begründung muss auf den Begriff der Solidarität zurückgreifen. Das macht der Ethik keine Schwierigkeiten. Das ist für die christliche Ethik und deren Forderung nach Nächstenliebe offensichtlich, aber auch für so unterschiedliche Ethiken wie die von Kant oder – zeitgenössisch – Habermas32, Höffe33 und 29 Diese „Figur“ wird vor allem in der US-amerikanischen Rechtsphilosophie oder Strafrechtstheorie zur Ablehnung rechtlicher Hilfspflichten in Notfällen eingesetzt; vgl. Feinberg, Criminal Justice Ethics 3 (1984), S. 56 ff.; Kleinig, Philosophy and Public Affairs 5 (1976), S. 382 ff. und neuestens Levy, Georgia Law Review 44 (2010), S. 607 ff., der für eine Ausdehnung der Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung über die 4 US-Bundesstaaten, die diese schon haben, hinaus plädiert. – Zur biblischen Parabel vom barmherzigen Samariter als Orientierung der christlichen Ethik mit der Forderung der allgemeinen Nächstenliebe unter Einschluss der Solidarität Schöpf, in: Höffe, Lexikon der Ethik, 4. Aufl. 1992, S. 314 f. 30 Dazu näher Kühl (Fn. 22), S. 487 f. 31 Kant (Fn. 21), AA VI 230. 32 Habermas, in: Edelstein/Nunner-Winkler (Hrsg.), Zur Bestimmung der Moral, 1986, S. 291 ff., 309 ff. 33 Höffe, Sittlich-politische Diskurse, 1981, S. 91 f.
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Mackie34, die hier nicht nachgezeichnet werden können, erkennbar. Hier reicht das Ergebnis, zu dem diese und andere Ethiker kommen: die Solidarität und die dadurch begründete Pflicht zur Hilfeleistung in Unglücksfällen ist ein ethischer Grundbegriff. Was aber bedeutet das für das Recht, insbesondere für das Strafrecht? Im geltenden Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, das aber durchaus als ein auch für andere Staaten repräsentatives System eines Rechtsstaats mit einer Verfassung gelten kann, gibt es zwar Anleihen an die Solidarität, aber die Freiheit dominiert. So etwa beim Eigentum, das es einem nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch erlaubt, mit der Sache nach Belieben zu verfahren (§ 903 BGB); die im Grundgesetz normierte Sozialpflichtigkeit ist nur eine Einschränkung des grundsätzlich gewährleisteten Eigentums (sie folgt in Art. 14 Abs. 2 GG der Gewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG). Das Strafrecht ist – wie bereits oben unter Hinweis auf die Formel Kants zur äußeren Rechtspflicht hervorgehoben – nach der Grundformel des „neminem laede“ gebaut, die die Verletzung der Freiheitssphäre eines anderen untersagt. Diese wechselseitige Beschränkung und – damit zugleich – Ermöglichung der äußeren Freiheit von jedermann bildet das freiheitsbezogene Korsett der Rechtsordnung. Ganz ohne Berücksichtigung sozialer Einschränkungen der Freiheit kommt aber auch die als Freiheitsordnung konzipierte Rechtsordnung nicht aus. So gibt es sozialethische Einschläge und auch die Solidarität wird gelegentlich bemüht. So etwa bei den sozialethischen Einschränkungen der Notwehr,35 die das besonders rigide deutsche Notwehrrecht, das keine Ausweichpflicht kennt, keine Güterproportinalität verlangt – es dürfen auch Sachwerte mit lebensgefährlichen Verteidigungshandlungen geschützt werden – und nicht gegenüber staatlicher Hilfe subsidiär ist, „sozialverträglich“ bzw. allgemein akzeptabel machen soll, oder bei der zur utilitaristischen Begründung hinzukommenden Solidaritätsbegründung des rechtfertigenden Notstands,36 die den Eingriff des in Not Geratenen in die Rechtsgüter eines an der Gefahrenlage unbeteiligten Dritten erst diesem gegenüber legitimiert; – natürlich nur dann, wenn bei dem in Not Geratenen – utilitaristisch gedacht – mehr „auf dem Spiel steht“ als beim unbeteiligten Dritten. Aber auch im letzteren Fall begründet die Solidarität nur die Duldungspflicht des von einer Notstandshandlung Betroffenen, eine Hilfeleistungspflicht ist aber noch etwas anderes. Ein schwaches Argument für die Solidaritätsbegründung einer Hilfeleistungspflicht ist ihre allgemeine Anerkennung in der Ethik. Mit der Übernahme der Solidarität ins Rechtssystem wären Recht und Moral im Gleichklang. Allerdings dominiert in der rechtsphilosophischen Diskussion die Trennungsthese,37 die oben – un34
Mackie, Ethik, 1981, S. 127 ff., 248. Kühl (Fn. 25), § 7 Rn. 158 ff. und Kühl (Fn. 15), S. 360 ff. 36 Kühl (Fn. 25), § 8 Rn. 1 ff. und Kühl (Fn. 15), S. 357 f., 363 ff. 37 Zur sog. „Trennungsthese“ vgl. aus der Lehrbuch-Literatur: Ellscheid, in: Kaufmann/ Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 221 ff., 225 ff.; Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2010, S. 21, 103; Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2010, § 20 Rn. 8 ff., 16. – Bezogen auf das Strafrecht Kühl (Fn. 15), S. 246 ff., 266, 273 ff., 278 ff. 35
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ter I. – mit der Trennung von Rechtsgutsverletzungen, die durch das Strafrecht sanktioniert werden dürfen, und reinen Moralwidrigkeiten, die das Strafrecht nichts angehen, zugrunde gelegt wurde. Die Trennungsthese könnte auch dafür angeführt werden, unterlassene Hilfeleistungen der moralischen Beurteilung und Sanktionierung zu überlassen. Immerhin spricht die moralische Anerkennung der Solidarität nicht schon als solche gegen ihre Übernahme ins Recht. Das Recht hat immer schon moralische Grundsätze und Regeln aus Moral übernommen. Doch wird durch diese pauschale Aussage die vorliegende gegebene Problematik noch nicht befriedigend gelöst. Gehört die Solidarität zu den „Übernahme-Kandidaten“ für das Recht? Überzeugender wäre es, wenn man nachweisen könnte, dass die ethischen Begründungen der Solidarität auch rechtliche Begründungselemente oder -strukturen aufweisen. Das wäre bei den vielfältigen ethischen Begründungsansätzen eine „Riesenarbeit“, die bisher noch niemand geleistet hat. Erfolgversprechend erscheint mir ein Ansatz, der auf das Prinzip der Verallgemeinerung abstellt, denn das Prinzip der Universalisierung wird zur Begründung sowohl von Rechtspflichten als auch Tugendpflichten verwendet.38 Beide müssen verallgemeinbar oder allgemein zustimmungsfähig sein. Das kommt deutlich in der praktischen Philosophie Immanuel Kants zum Ausdruck. Die Verallgemeinerung ist dort sowohl im kategorischen Imperativ als moralische Verhaltensregel – „Handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann“39 – als auch im allgemeinen Rechtsgesetz – „das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit“40 – erkennbar. Ethische Solidaritätsbegründungen setzen deshalb zielsicher beim kategorischen Imperativ und dessen Forderung nach Verallgemeinerung an. So etwa Dieter Henrich41 – einer der besten Kant-Kenner unter den Philosophen, dessen Vorlesungen und Seminare dem Autor dieses Festschriftbeitrags die praktische Philosophie Kants erschlossen haben. Der Autor hat auf einen „entlegenen“ Beitrag von Henrich schon vor vierzehn Jahren in der für Strafrechtswissenschaftler eher zugänglichen Festschrift für H. J. Hirsch hingewiesen.42 Das soll hier in Kurzform noch einmal geschehen, weil es der bisherige Gedankengang erforderlich macht, die Behauptung zu belegen, dass Begründungen der Solidarität als Moralprinzip, die auf das Prinzip der Verallgemeinerung bzw. der Universalisierbarkeit abstellen, bei der Ethik Kants ansetzen.43
38
Wimmer, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, 2001, Sp. 199 – 204. Kant (Fn. 21), AA VI 226. 40 Kant (Fn. 21), AA VI 232. 41 Henrich, in: Engelhardt (Hrsg.), Sein und Ethos, 1963, S. 350, 361 ff. 42 Kühl, FS Hirsch, 1999, S. 259 ff. 43 Außer Henrich wäre noch hinzuweisen auf Otfried Höffe und Günther Patzig (zu beiden Kühl [Fn. 15], S. 368 ff.) sowie auf Kahlo (Fn. 20), S. 282 ff. – Näher zur kantischen „Tugendpflicht zur Hilfeleistung“ in „Fällen akuter Hilfsbedürftigkeit“ Steigleder, Kants Moralphilosophie, 2002, S. 254 ff. 39
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Nach Henrich lässt sich in dem Willen dessen, „der jede Hilfe für andere verweigert, wenn sie nicht in seinem Interesse liegt“, ein „Widerspruch“ aufdecken. Eine Verallgemeinerung dieser Maxime sei nur möglich, solange man nicht den Zweck des seine Hilfe Versagenden berücksichtige: „Er will nur sein eigenes Glück befördern“. Nehme man die jedermann zugängliche Weltkenntnis elementarer Art hinzu, dass es Fälle gibt, in denen unser eigenes Glück von der Hilfe anderer abhängen kann, so bedeute die Weigerung selbst jemals zu helfen, das Streben nach einem Zweck, „der dann, wenn er der Zweck aller wäre, seine eigene Verwirklichung vereiteln würde“. Dies könne aber nicht „die Absicht eines vernünftigen Willens sein, dessen Maximen stets der Form der Vernunft (strenger Allgemeinheit) genügen“. Da auch die berechnende Maxime, Hilfe für andere nicht gänzlich auszuschließen, beispielsweise für Fälle, in denen ein Anrecht auf die Hilfe anderer damit verbunden sei, nicht verallgemeinert werden könne (ich kann nicht wollen, dass mir andere in Not nur dann helfen, wenn ihr eigenes Interesse ihnen dies gebietet), werde die Hilfspflicht vom vernünftigen Willen nicht nur unter schon gegebenen Maximen ausgewählt, sondern gebildet; – und zwar „auf Grund der Überlegung, dass alle Maximen des individuellen Glücksverlangens keine vernünftige Allgemeinheit ergeben“. Dass die Solidarität im Gegensatz zum Glücksverlangen als „vernünftige Allgemeinheit“ verstanden werden kann, spricht schon sehr dafür, sie auch als Rechtsprinzip anzuerkennen. Freilich muss die „Hilfe für andere“ im Recht keine von jedermann zu befolgende „Maxime“ sein. Welche Lebensgrundsätze sich der Einzelne bildet, ist seine Sache und interessiert allenfalls für seine Einschätzung als moralische Person. Das ist wie bei der Moralität.44 „Aus Pflicht“ rechtsgemäß zu handeln, verlangt nur die Ethik. Sie verlangt damit nichts anderes als das Recht, das sich mit dem rechtgemäßen Handeln zufrieden gibt. Sie verlangt aber mehr als das Recht. Zusätzlich zum moralgemäßen Verhalten, z. B. nach dem kategorischen Imperativ, verlangt sie eine moralische innere Einstellung, ein Handeln „aus Pflicht“.45 So weit geht das Recht nicht und so weit muss es auch nicht gehen, denn dem allgemeinen Rechtsgesetz entspricht schon ein Zustand, in dem jedermann seine äußere Freiheit so einschränkt, dass sie mit der äußeren Freiheit der anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann. Ist dieser rechtliche Zustand aber nicht schon dann erreicht, wenn jeder seine Freiheit „einschränkt“, d. h. einseitige Übergriffe in die Freiheitsphäre anderer unterlässt?46 Oder verlangt eine Rechtsordnung, die eine Freiheitsordnung sein will, nicht auch noch, die Freiheit anderer durch aktive Hilfe zu erhalten, wenn sie unterzugehen droht? In der Sprache des § 323 c StGB: muss nicht bei „Unglücksfällen 44
Näher zu Moralität und Legalität Kühl, FS Schapp, 2010, S. 329 ff. So bei Kant in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, AA VI 293. 46 Darauf begrenzen Viele – oft im vermeintlichen Gefolge von Kant – die Rechtspflichten und überlassen Hilfspflichten der Moral; so etwa Kühnbach, Solidaritätspflichten Unbeteiligter, 2007, S. 33 oder auch schon Pawlik, GA 1995, S. 360 ff. 45
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oder gemeiner Gefahr oder Not“ die zur Rettung des in Not Geratenen erforderliche „Hilfe“ geleistet werden? Das wird man unter Rückgriff auf das Rechtsprinzip der Verallgemeinerbarkeit bejahen können.47 Jedermann weiß, dass ihn ein „Unglücksfall“ in Leibes- oder Lebensgefahr bringen kann. Es ist deshalb nur allgemein vernünftig, anderen in solchen Fällen, in die man selbst geraten kann zu helfen. Wer in „Unglücksfällen“ geholfen bekommen möchte, muss auch bereit sein, anderen in solchen Fällen zu helfen. Dabei reicht für das Recht die Hilfeleistung aus. Weder muss diese mit einer entsprechenden, auf Solidarität ausgerichteten „Gesinnung“ erfolgen noch muss sie den drohenden Schaden (den „Erfolg“ in strafrechtlicher Terminologie, die § 13 Abs. 1 StGB mit seiner „Erfolgsabwendungspflicht“ für Garanten übernommen hat) abwenden. Mit diesem Ergebnis stellt sich der Autor dieses Festschriftbeitrags neben den Adressaten dieser Festschrift, der gleichermaßen ein von der „Autonomie des Einzelnen“ ausgehendes „Rechtsverständnis“ hat und damit das „begrenzte Sonderopfer zur Beseitigung von Gefahren oder zur Behebung von Not“, das § 323 c StGB verlangt, einer „tieferen Legitimation“ zuführt. Hinzukommt bei Frisch ebenso die Vernunft, die der Autor dieses Festschriftbeitrags in der Verallgemeinerbarkeit sieht. Legt man diesen Maßstab – Vernunft, Allgemeinheit – an, so erkennt man, dass die von § 323 c StGB geforderte Solidarität „vom Einzelnen nur das fordert, wozu sich dieser aus Vernunftgründen selbst verpflichten müsste.“48 Das soll und kann hier nicht weiterverfolgt werden, obwohl die eigene Argumentation sicher ausbaufähig und verbesserungsbedürftig ist. Abschließend kann hier nur noch darauf hingewiesen werden, dass – selbst wenn die Begründung von rechtlicher Hilfeleistungspflicht nach dem Universalisierungsprinzip als im Wesentlichen gelungen bezeichnet werden könnte – die Solidarität mit der Freiheitskonzeption des Rechts kompatibel gemacht werden müsste. Das ist an zentraler Stelle des § 323 c StGB geschehen, wenn dort – in deutlicher Abgrenzung zur christlichen Nächstenliebe – nur die zur Rettung der bedrohten Rechtsgüter einer in Not geratenen Person erforderliche Hilfe verlangt wird. Ist der Verunglückte oder sonst in Not Geratene bereits im Sterbeprozess, so muss er im Sterben nur nach dem Gebot der Nächstenliebe begleitet werden, Hilfeleistung ist dagegen nicht mehr erforderlich, weil sie in einem solchen Fall aussichtslos wäre.49 Das Ziel der Hilfeleistung ist ausschließlich die Erhaltung des fast schon verlorenen Rechtsguts ,Leben‘ als Basis aller Freiheitsausübung. Der Solidaritätsgedanke ändert daran nichts. Die Solidarität muss im Strafrecht wie im ganzen Rechtsbereich50 freiheitsbezogen sein. Nur eine frei47 Mit Einschränkungen ebenso Seelmann, JuS 1995, 281, 282, und in: Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2010, § 3 Rn. 33; s. auch Kahlo (Fn. 20), S. 292. 48 Frisch, FS Puppe, 2011, S. 425, 442. 49 Ebenso NK-StGB/Wohlers, 3. Aufl. 2010, § 323c Rn. 10: „offensichtlich nutzlos“, anders aber, wenn noch Schmerzen gelindert werden können. 50 So etwa in der Eigentumslehre; vgl. dazu Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung – Zur Aktualität der kantischen Rechts- und Eigentumslehre, 1984, S. 247 ff. (mit Bespr. Kersting, ZfphF 40 [1986], S. 309 ff. u. Naucke, ZStW 97 [1985] S. 546 ff.); knapper Kühl, in:
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heitsfunktionale Solidarität51 ist vom (Straf-)Recht verlangt, wenn es um Hilfeleistung bei lebensbedrohenden Ausnahmesituationen geht.
Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1999, S. 117, 128 ff., ders., FS E. A. Wolff, 1998, S. 273 ff. und in: FS W. Blomeyer, 2004, S. 789 ff. 51 So schon Kühl (Fn. 15), S. 400.
Geschwisterinzest in literarischer Perspektive Von Heinz Müller-Dietz
I. Zu Wolfgang Frischs Werk In dem an konzeptionellen Überlegungen und weiterführenden Anregungen reichen strafrechtsdogmatischen und kriminalpolitischen Werk Wolfgang Frischs sind Ansätze zur Legitimierung und Rechtfertigung von Straftatbeständen unter dem Vorzeichen des Rechtsgüterschutzes von unübersehbarer Bedeutung. Der Jubilar – dem meine kleine Studie in fachlicher und persönlicher Verbundenheit zum 70. Geburtstag gewidmet ist – hat immer wieder Ansätze entwickelt und Anläufe zur Begründung und Begrenzung von Straftatbeständen im Blickwinkel der „Legitimation staatlichen Strafens“ unternommen. Das gilt etwa für Beiträge, die dem Test auf die vielfach problematisierte Leistungsfähigkeit der Rechtsgutstheorie1 oder des Toleranzprinzips2 gewidmet waren. Dass dabei auch der Einfluss gesellschaftlichen Wandels in die Betrachtung einbezogen wurde, versteht sich von selbst. Dessen Auswirkungen haben nicht zuletzt unter dem Aspekt der Vorverlagerung des Strafrechts, die mit mehr oder minder neuen Gefährdungen der Allgemeinheit gerechtfertigt werden, in seiner Betrachtung eine Rolle gespielt.3 Gerade mit dem Hinweis auf gesellschaftliche Einstellungen und deren Veränderungen werden rechtskulturelle Bezüge hergestellt, die sowohl bei der Einführung neuer als auch der Abschaffung bestehender Straftatbestände ins Gewicht fallen können. Darin könnte auch ein Anknüpfungspunkt für eine Studie zu sehen sein, die das neuerdings wieder stark diskutierte Thema des Geschwisterinzests – hier freilich im Lichte literarischer Darstellungen, deren kulturkritisches Potenzial auch und gerade in juristischer Hinsicht verstärktes Interesse beanspruchen kann4 – zum Gegenstand hat.
1
Frisch, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 215. Frisch, in: Wohlers (Hrsg.), Mediation, Principles, Begrenzungsprinzipien bei der Straftatbegründung, 2006, S. 83. 3 Frisch, FS Jung, 2007, S. 189. 4 Vgl. z. B. Lüderssen, Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film, 2. Aufl. 2002, I. Teil. 2
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Heinz Müller-Dietz
II. Zum gegenwärtigen rechtlichen Diskurs des Geschwisterinzests Relativ lange ist das Thema eher stiefmütterlich behandelt worden und hat insbesondere in strafrechtlicher Hinsicht eine eher randständige Position eingenommen. Gegenbeispiele bestätigen eher diesen Gesamteindruck.5 Nunmehr ist durch die verfassungs- und namentlich menschenrechtliche Rechtsprechung wieder Bewegung in den einschlägigen strafrechtlichen Diskurs gekommen. Anlass und Auslöser dafür ist ein Inzestfall in Sachsen gewesen. Zwischen Bruder und Schwester haben sich Liebesbeziehungen mit der Folge entwickelt, dass daraus eine Familie mit vier Kindern hervorgegangen ist – eine Familie, die es – wie es in einer ausführlichen journalistischen Dokumentation des Geschehens geheißen hat, „nach geltendem Recht nie hätte geben dürfen“.6 Gegen seine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten wegen eines Vergehens nach § 173 II 2 StGB hatte der Bruder Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das BVerfG hat indes jene Strafvorschrift aus Gründen des Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 GG) sowie aus eugenischen und erbbiologischen Gesichtspunkten für verfassungskonform befunden.7 In einem Sondervotum hat Winfried Hassemer keine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für die Strafbarkeit solchen Verhaltens zu entdecken vermocht.8 Auch in dem durch die Entscheidung ausgelösten verfassungs- und strafrechtlichen Diskurs ist die Auffassung der Senatsmehrheit überwiegend auf Kritik gestoßen.9 Der EGMR hat im strafrechtlichen Inzestverbot indes gleichfalls keinen Verstoß gegen die Menschenrechte gesehen.10 Dieses Urteil ist hierzulande – nicht zuletzt im Blickwinkel der Frage, wie weit der legislatorische und gerichtliche Entscheidungsspielraum der Staaten im Geltungsbereich der EMRK reicht – unterschiedlich aufgenommen worden.11 Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass mit dem bisherigen Diskurs sowohl die verfassungs- als auch die strafrechtliche Auseinandersetzung über die Strafbarkeit des
5
Vgl. etwa Jung, FS Leferenz, 1983, S. 311 (318); Maisch, in: Jäger/Schorsch (Hrsg.), Sexualwissenschaft und Strafrecht, 1987, S. 84 (90, 101). 6 Rückert, Die Zeit Nr. 46 v. 08. 11. 2007, S. 17 ff. 7 BVerfG NJW 2008, 1137. 8 BVerfG NJW 2008, 1142. 9 Vgl. namentlich Hörnle, NJW 2008, 2085; Thurm, KJ 2009, 74; Roxin, StV 2009, 544; Krauß, FS Hassemer, 2012, S. 423; Best, Zur Aktualisierung des Inzestverbots: Eine Erörterung anlässlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, 2010, S. 53, 93; dies., KrimJ 2011, 289; Heinrich, FS Roxin II, Bd. 1, 2011, S. 131; Duttge, FS Roxin II, Bd. 1, S. 227. Zum Ganzen auch Tischler, Der Geschwisterinzest bei über 18-Jährigen, 2009; Karst, Die Entkriminalisierung des § 173 StGB, 2009, S. 199; Fletcher, FS Hassemer, S. 321; Kühl, FS Heinz, 2012, S. 766 (774). 10 EGMR, Urt. v. 12. 4. 2012 – 43547/08 (Stübing vs. Deutschland). 11 Zustimmend z. B. Kubiciel, ZIS 2012, 282; krit. Kerscher, SZ Nr. 86 v. 13. 4. 2012, S. 4; Jung, GA 2012, H. 10.
Geschwisterinzest in literarischer Perspektive
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Geschwisterinzests alles andere als abgeschlossen ist. Sie wird fraglos weitergehen müssen.
III. Geschwisterinzest im kulturgeschichtlichen Kontext Geschwisterinzest gilt als die Verletzung des letzten gesellschaftlichen Tabus.12 Dies hat zur Folge, dass dem (strafrechtlichen) Verbot des Geschwisterinzests weitgehend universaler Charakter beigelegt wird.13 Begründet wird es zumeist mit familienhygienischen, erbbiologischen und psychoanalytischen Argumenten, in denen vielfach die Intakthaltung der Familie, die Integrität des Familienzusammenhangs von entscheidender Bedeutung ist. Freilich hat Geschwisterinzest in alten (Stammes-)Kulturen und Völkern durchaus eine Rolle gespielt. Darauf verweisen etwa griechische, römische, ägyptische und persische Mythen sowie alttestamentarische Überlieferungen.14 So bestand im alten Persien kein Inzesttabu bei privilegierten Personengruppen wie Herrschern und Priestern. In morgenländischen Dynastien der Pharaonen, Seleukiden und Ptolemäer verkörperte die Geschwisterehe ebenso eine Institution wie bei den Dynastien von Siam und der Adelskaste der Inkas in Peru.15 Dafür waren namentlich zwei Gründe maßgebend: Zum einen sollte ein mutterrechtlich orientiertes Erb- und Nachfolgerecht die Einheirat von Töchtern fremder Familien ausschließen. Zum anderen spiegelten sich in dieser Regelung und Praxis Vorstellungen von der Reinerhaltung des Blutes. Auch Götter genossen dieses Privileg.16 Die zwiespältige Rolle, die der Geschwisterinzest – wie der Inzest überhaupt – in kulturgeschichtlicher Hinsicht wahrgenommen hat, hat begreiflicherweise von jeher große Faszination auf die Literatur ausgeübt. Es entspricht ja einer alten historischen Erfahrung, dass sich Schriftsteller bevorzugt solcher Themen und Fragestellungen annehmen, die nicht nur von gesellschaftlicher Relevanz sind, sondern auch kontrovers beurteilt werden. Gesellschaftliche – nicht zuletzt normative – Konflikte eignen sich ja hervorragend zur Darstellung und Veranschaulichung kultureller Verhältnisse und Entwicklungen.17 Im Falle des Geschwisterinzests überwog freilich mit zunehmender Ausbreitung des Tabus die mehr oder minder kritische literarische Aufbereitung des Themas, die denn auch der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Ablehnung solchen Verhaltens entsprach. Die jeweilige literarische Behandlung des Geschwisterinzests verweist nicht nur auf epochale normative Maßstäbe, gesellschaftliche 12
Rückert (Fn. 6). Frenzel, Motive der Weltliteratur, 4. Aufl. 1992, S. 399; Vielhauer, Bruder und Schwester. Untersuchungen zu einem Urmotiv zwischenmenschlicher Beziehung, 1979. 14 Maisch, Inzest, 1968, S. 13. 15 Frenzel (Fn. 13), S. 400. 16 Frenzel (Fn. 13). 17 Vgl. z. B. Becker, Literatur- und Kulturwissenschaften, 2007; Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. Aufl. 2009. 13
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Einstellungen und Verhaltensweisen. Sie ist auch aufschlussreich für kulturelle Veränderungen und Umbrüche. Freilich wurde von der Literatur nicht selten der Fall des unbewussten Inzests thematisiert: Geschwister wussten während ihrer Liebesbeziehung nichts von ihrer Verwandtschaft. Sie brachen – ganz im Sinne des Tabus – ihr Verhältnis in der Regel sofort oder jedenfalls alsbald ab, sobald sie von ihrer verwandtschaftlichen Beziehung erfuhren. Im Ausgangsfall, der ja den verfassungs- und strafrechtlichen Diskurs wiederbelebt hat, ist den Liebenden jedoch ihre Geschwistereigenschaft bekannt gewesen. Dieser Fall ist denn auch – eben wegen des bewussten Tabu-Bruchs – von jeher der literarisch interessantere gewesen. Er soll dementsprechend im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung stehen.
IV. Zum Geschwisterinzest in der Literaturgeschichte Es ist im Rahmen dieses Beitrags natürlich nicht möglich, auf die zahlreichen literarischen Darstellungen einzugehen, die es im Laufe der verschiedenen Epochen seit der Antike gegeben hat. Einen Vorgeschmack auf die außerordentliche Fülle solcher Werke vermitteln einschlägige Gesamtdarstellungen.18 Bezeichnenderweise überwiegen in neueren Sekundäranalysen in der Hauptsache Beiträge, die einzelne einschlägige Werke oder literarische Epochen in den Blick nehmen.19 Einige wenige ausgewählte Streiflichter müssen daher genügen, um die weltliterarische Relevanz des Themas anzudeuten.20 Dabei sollen – namentlich im Blick auf den heutigen Diskurs – gewisse Akzente hinsichtlich der Aufklärungszeit und der literarischen Moderne gesetzt werden. In der Verslegende „Gregorius“ des Hartmann von der Aue aus dem 12. Jh. sind die zwei Herzogskinder Willigis und Sibylla zunächst in geschwisterlicher Liebe miteinander verbunden. Nach dem Tod der Eltern jedoch mündet diese Bindung in Inzest, aus dem ein Kind hervorgeht. Der Bruder zieht ins Heilige Land, um für sein Verhalten zu büßen, kann jedoch in seinem Liebesempfinden von der Schwester nicht lassen. So stirbt er fern von ihr an der Sehnsucht nach ihr. Die in die Gestalt eines Minneromans gekleidete Darstellung gibt jedoch deutlich zu erkennen, dass Geschwisterinzest als schwerer Verstoß gegen den christlichen Glauben, als Abfall von Gott begriffen wird.21 Das Sujet sollte später Thomas Mann in seinem Altersroman „Der Erwählte“ von 1951 erneut aufgreifen. Aber während Hartmann im Inzest 18
Vgl. etwa Rank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage, 2. Aufl. 1926; Frenzel (Fn. 13). So z. B. Titzmann, in: Schönert (Hrsg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, 1991, S. 229 (Goethezeit); Schoene, „Ach, wäre fern, was ich liebe!“ Studien zur Inzestthematik in der Literatur der Jahrhundertwende (von Ibsen bis Musil), 1997. 20 Auf die namentlich Frenzel (Fn. 13) verweist. 21 Redaktion Kindlers Literatur Lexikon, in: Radler (Hrsg.), Hauptwerke der deutschen Literatur, Bd. I, 1994, S. 19 f. 19
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ein Werk des Teufels erblickt, figuriert er bei Th. Mann als „Ebenbürtigkeitswonne“: Die Geschwister lieben im anderen sich selbst.22 „Er läßt das Paar für einige Zeit sehr glücklich werden, aber die Buße folgt, schonungslos, siebzehn Jahre verbringt Gregorius auf dem kahlen Stein.“23 Aber auch später wird der Geschwisterinzest als ein widernatürliches Verbrechen charakterisiert, das dementsprechend in literarischen Darstellungen gleichfalls der Verurteilung anheimfällt. Es sind negative Figuren, die ihre Leidenschaften über moralische – und christliche – Anforderungen stellen. Das gilt namentlich für die Zeitalter der Renaissance und des Barock.24 Doch zeichnen sich bereits im frühen 18. Jahrhundert erste Tendenzen ab, die das Inzesttabu im Sinne der Aufklärung in Frage stellen. Zu einem Vorreiter dieser Entwicklung wurde Bernard de Mandeville.25 Zwar vermochte er dem Naturrecht selbst keine Rechtfertigung des Inzestverbots zu entnehmen, er war aber bemüht rationale Gründe dafür zu finden. Am Tabu hielt man dann weiterhin zur Wahrung der allgemeinen Sittlichkeit, zum Schutz der Familie, die durch inzestuöse Verhaltensweisen korrumpiert würde, und wegen der Gefahr der Degeneration fest.26 Solche Aspekte finden sich etwa im Werk Heinrich von Kleists, für den die Über- wie die Unterbewertung der Blutsbande ebenso eine maßgebliche Rolle spielen wie die Vermeidung von Konflikten innerhalb der Familie, die durch Inzest heraufbeschworen werden könnten. Kleist sieht demnach offenkundig den „Grund des Inzesttabus in der Notwendigkeit, die eigenen Blutsbindungen zu überschreiten und neue zu bilden, und in der Notwendigkeit, den Streit innerhalb der Familie zu vermeiden, der durch sexuelle Konkurrenz entstehen könnte“.27 Einmal mehr begegnet der Leser dem Geschwisterinzest in den verschiedensten Zusammenhängen im Werk des Marquis de Sade, so etwa im Doppelroman „La Nouvelle Justine ou les malheurs de la vertu. Suivie de l’histoire de Juliette, sa coeur“ (Die neue Justine oder Das Unglück der Tugend. Die Geschichte ihrer Schwester Juliette), der 1797 anonym erschienen ist, und in der Novellensammlung „Les crimes de l’amour“ (Die Verbrechen der Liebe), die 1800 veröffentlicht wurde. Deutlich wird an diesen Darstellungen zweierlei: Zum einen ist hier der Geschwisterinzest mit einer Vielzahl anderer krimineller oder unmoralischer Handlungen – wie etwa Lustmord, Ehebruch, Sodomie, aber auch Promiskuität und Atheismus – verknüpft, die zeitgenössische Wertungen gleichsam auf den Kopf stellen.28 Zum anderen aber vermag Sade – insoweit aufklärerischem Denken verpflichtet – keine rationalen 22
Wilhelm, in: Jens (Hrsg.), Kindlers neues Literatur Lexikon, Bd. 11, 1988, S. 69 (70). Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, 2. Aufl. 2002, S. 581. 24 Frenzel (Fn. 13), S. 411. 25 A Search into the Nature of Society, 1723. 26 Frenzel (Fn. 13), S. 413. 27 Zimmermann, Heinrich von Kleist. Eine Biographie, 1991, S. 342. 28 Will, Redaktion Kindlers Literatur Lexikon, in: Jens (Fn. 22), Bd. 14, S. 576. Neiman, Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, 2006, S. 291, hebt „die von Sade besonders geschätzte Verbindung von Inzest und Mord“ hervor. 23
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Gründe für das Inzestverbot zu erkennen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ (1944) noch gemeint, dass er sich damit im Einklang mit der „fortgeschrittenen Wissenschaft“ befunden habe, die keine Belege für Missbildungen inzestuöser Kinder habe finden können.29 Die Aufklärung war vor allem darum bemüht, rationale Gründe für die Ausgrenzung und Tabuisierung des Geschwisterinzests zu finden. An die Stelle theologischer Rechtfertigung des Tabus hat sich die Argumentation auf die rechtliche verlagert mit der Konsequenz, dass nunmehr nach rationalen Gesichtspunkten, nicht zuletzt naturrechtlicher Provenienz gesucht wurde.30 Die Frage war, welche Argumente der Zeitgeist als hinreichend rational gelten ließ oder verwarf. Indes führte der Rückgriff der Aufklärung auf die Ableitung von Normen aus der „Natur“ einmal mehr zurück auf die Tradition, die Sexualität unter dem Vorzeichen der Fortpflanzung der Ehe als einziger legitimer Form vorbehielt.31 „Der Versuch, jenseits der theologischen, d. h. auf die ,mosaischen Gesetze‘ rekurrierenden Begründungen der Inzestverbote, eine rationale Begründung zu finden, ist der Aufklärung nicht gelungen.“32 Gleichwohl hat auch die Literatur der Goethezeit weitgehend am Inzesttabu festgehalten. Sie hat sich aber – von Ausnahmen abgesehen, wie sie etwa die Figur des Harfners bei Goethe verkörpert – sich argumentativ mit dem Tabu nicht auseinandergesetzt, sondern es gleichsam als selbstverständlich, keiner Begründung bedürfend, vorausgesetzt.33 Immerhin hat ein gewichtiger juristischer Autor abweichend von der Mehrheitsmeinung keinen überzeugenden Rechtsgrund für die Strafbarkeit des einverständlichen und auf Freiwilligkeit beruhenden Geschwisterinzests zu entdecken vermocht. Ausgangspunkt bildete dafür die Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Carl Ferdinand Hommel hat, der These Cesare Beccarias folgend, wonach nur die Zufügung eines Sozialschadens Strafe rechtfertigen könne, im Inzest keine Schädigung eines anderen zu erblicken vermocht.34 Für eine solche Sichtweise hat denn auch Wilhelm von Humboldt Argumente geliefert. So ist er in seiner Schrift „Über die Grenzen des Wirksamkeit des Staates“ ganz im Sinne dieses aufklärerischen Topos gleichfalls der These gefolgt, dass der auf Freiheit des Einzelnen gegründete Staat35 das Strafrecht – gleichsam als „Freiheitssicherungsrecht“ – nur zum Schutz seiner Bürger gegen Schädigungen gebrauchen dürfe.36 Doch hat sich diese Sichtweise weder in der spät29 Dialektik der Aufklärung, 1955 (1944), S. 140. Vgl. auch Hirschfeld (Hrsg.), Geschlecht und Verbrechen. Bearb. von Spinner, o. J., S. 325. 30 Titzmann (Fn. 19), S. 232 ff. 31 Titzmann (Fn. 19), S. 238. 32 Titzmann (Fn. 19), S. 261. Vgl. auch Jung (Fn. 5), S. 318. 33 Titzmann (Fn. 19), S. 264. Über die Behandlung des Inzests in der Literatur der Goethezeit Titzmann, S. 244 ff. 34 Jung (Fn. 5), S. 318; Titzmann (Fn. 19), S. 240. 35 W. v. Humboldt, Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates (Titel des Originals: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen). Einführung von Pannwitz, 1954, S. 30. 36 v. Humboldt (Fn, 35), S. 164.
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aufklärerischen Gesetzgebung restlos durchsetzen können37 noch ist sie – jedenfalls in der Regel – von der Literatur mit allen ihren Konsequenzen rezipiert worden. „Die Epoche um 1800 sah im Inzest eine extreme Form von außerordentlicher Liebe, die immer gegen die etablierten moralischen, sozialen und gesetzlichen Regeln steht, fand in ihm die eigene narzistische Sensibilität symbolisiert und die Erkenntnis von Abgründen in der menschlichen Seele und von Satanischem in Welt und Schicksal bestätigt.“38 Freilich wurden auch immer wieder Protagonisten geschildert, die ihr auf Liebe gegründetes Handeln wider das Inzesttabu zu rechtfertigen suchten. Das nachgerade „klassische“ Beispiel verkörpert der Harfner in Goethes Werk „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, der mit seiner Schwester Sperata – wie es der Dichter ausgedrückt hat – wider „die Verhältnisse der Natur und der Religion, der sittlichen Rechte und bürgerlichen Gesetze“ ein inniges Liebesleben führt,39 aus dem ein Kind hervorgeht. Für ihn lässt sich das Inzestverbot naturrechtlich nicht rechtfertigen. Er glaubt sich an der Natur orientieren zu können. Als Beispiel dient ihm die „geschwisterliche Vereinigung“ der Lilien auf einem Stengel. Nicht zuletzt rekurriert er auf die antike Daseinsordnung: „Gab es nicht edle Völker, die eine Heirat mit der Schwester billigten?“40 Doch ansonsten bleibt es auch – und gerade – im 19. Jahrhundert in der Hauptsache bei der literarischen Missbilligung des Geschwisterinzests als schwerwiegendem Rechts- und Moralverstoß. Das wird etwa an Theodor Storms Ballade „Geschwisterblut“ deutlich, in der Geschwister aus dem Leben scheiden, weil ihnen ein Leben in ehelicher Liebe verwehrt ist.
V. Zum Geschwisterinzest in der literarischen Moderne „Auch in der modernen Literatur gilt das größte Interesse dem Geschwisterinzest“ – der freilich vielfach in soziale Ausgrenzung, wenn nicht in Selbstmord oder Wahnsinn mündet.41 Das Thema spielt nicht zuletzt in der sich zunehmend anbahnenden europäischen Kulturkrise eine Rolle, die sich in der Brüchigkeit und im Verfall überkommener bürgerlicher Maßstäbe und Beziehungen manifestiert. Kennzeichnend dafür sind um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert literarische Darstellungen der Boheme und des Künstlertums, in denen traditionelle moralische Maßstäbe aufgekündigt werden und sich neue, über bestehende normative und soziale Schranken hinwegsetzende Verhaltensmuster durchzusetzen suchen. In diesem Sinne „wird Toleranz des Erotischen bis zur Inkaufnahme des Inzests 37
Titzmann (Fn 19), S. 242. Frenzel (Fn. 13), S. 414 f. 39 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Zweiter Teil (dtv-Gesamtausgabe, Bd. 16), 1962, S. 278. 40 Titzmann (Fn. 19), S. 262; Müller-Dietz, Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 11 (2010), S. 277 (290). 41 Frenzel (Fn. 13), S. 417. 38
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propagiert“42 Das lässt sich beispielhaft an zwei Werken veranschaulichen: an Henrik Ibsens Drama „Gespenster“ und Thomas Manns Novelle „Wälsungenblut“. Ibsen fällt in seinem Drama kein moralisches Urteil über die inzestuöse Beziehung zwischen Osvald und Regine; ihn interessiert vielmehr die psychologische und symbolische Seite dieser Verbindung.43 Der an einer tödlichen Erbkrankheit leidende Osvald sucht im Grunde Ablenkung und Vergessen bei der Schwester, ja mehr noch: sie „soll den krankhaften Zyklus von Schuld und Ungelebtem bzw. Unlebbarem beenden“44 – was sie letztlich jedoch schuldig bleibt. In Manns Novelle weist die Schilderung des Inzests zwischen den beiden Geschwistern Siegmund und Sieglind geradezu ironische Züge auf: Sie kopieren damit gleichsam das künstlerische Muster des in Richard Wagners „Walküre“ dargestellten Geschwisterinzests, der „als Chiffre für den selbstverliebten ästhetischen Narzissmus der Zwillinge“ gedeutet werden kann.45 Schoene konstatiert: „Durch die Verbindung der Inzestthematik mit dem Narziß-Mythos diagnostiziert Mann die Krankheit seiner Zeit, nämlich die Unfähigkeit, über narzisstische Liebe hinweg zum Anderen zu finden.“46 Kohns erblickt in dieser Beziehung in maßgeblichen Aspekten eine Vorwegnahme des von Sigmund Freud in „Totem und Tabu“ 1913 entwickelten Konzepts, das naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit zugleich literarisch verwendeten Mythosmodellen, namentlich dem Ödipus-Komplex, verbindet.47 Danach bildet das Inzestproblem den Ausgangspunkt für die Entstehung menschlicher Kultur. Die Sozialisation des einzelnen Menschen zeichnet die Menschheitsgeschichte nach. In der Frühgeschichte weist das Familienleben promiscuen Charakter auf. Das Begehren des Sohnes ist auf gegengeschlechtliche Mitglieder (Mutter und Schwester) gerichtet. Der „erste“ Vatermord löst Trennungsbewusstsein und Schuldgefühle aus. Diese haben zur Folge, dass die Trennung von Subjekt und Objekt erlebt und die ödipalen Wünsche verdrängt werden. Gelingt dieser Prozess der Individuation, wird der Ödipuskomplex überwunden, das Inzesttabu verinnerlicht. Kohns zufolge handeln die Zwillinge in „Wälsungenblut“ gegen alle kulturellen Tabus. Sie verstoßen nicht nur gegen das väterliche Inzestverbot, sondern auch gegen die genealogische Ordnung, die den Familienverband strukturiert.48 Mit ihrem inzestuösen Verhalten lehnen sie sich gegen „das Prinzip der Herkunft, der Abstammung und der Blutsverwandtschaft“ auf. Für Kohns tritt an die Stelle des Gehorsams ge42 Bayerdörfer, in: Grimminger/Murasov/Stückrath (Hrsg.), Literarische Moderne, 1995, S. 112 (116). 43 Schoene (Fn, 19), S. 85 (86). 44 Schoene (Fn. 19), S. 87. 45 Kohns, in: Börnchen/Liebrand (Hrsg.), Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die klassische Moderne, 2008, S. 175 (178). 46 Schoene (Fn. 19), S. 112 (116). 47 Kohns (Fn. 45), S. 179. 48 Kohns (Fn. 45).
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genüber dem leiblichen Vater, dessen Verbot die Zwillinge übertreten, die Unterwerfung unter „die Autorität der Kunst Richard Wagners“.49 In seiner 1918 erschienenen Erzählung „Der Ketzer von Soana“ thematisiert Gerhart Hauptmann gleichfalls eine inzestuöse Geschwisterliebe.50 Bruder und Schwester Scarabota leben in den italienischen Bergen gleichsam in heidnischer Hirtenunschuld zusammen. Aus diesem Grund werden sie von der Umwelt ausgegrenzt und gemieden. Der junge, asketisch erzogene Priester Francesco Vela soll im bischöflichem Auftrag das sündige Paar wieder auf den „rechten Pfad“ des Glaubens zurückführen, gerät aber selbst in den Bann dieser mystisch anmutenden Naturliebe und verfällt der Leidenschaft zu der jungen und schönen Agata, die aus der inzestuösen Beziehung hervorgegangen ist. Eine ganze Reihe literarischer Texte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts setzt sich einmal mehr mit dem Thema auseinander. In ihnen kommen erneut die negativen gesellschaftlichen Folgen zur Sprache, die der Verstoß gegen das Inzesttabu für die Geschwister nach sich zieht – mögen sie nun an ihrer verbotenen Liebe scheitern oder ihr in bewusster Abkehr von der Rechtsordnung und Sozialmoral und Selbstbehauptung leben. Das gilt etwa für den 1923 erschienenen Roman „Die Verdammten“ von Frank Thiess, der die im baltischen Adel spielende Geschichte einer Geschwisterliebe behandelt.51 „Thiess muss das Modell einer Geschwisterehe scheitern lassen; es bestätigt sich erneut, daß ein Einfügen einer inzestuösen Liebe in die soziale Ordnung nicht möglich ist.“52 Der Roman, der später neu aufgelegt und 1933 als unerwünschte Literatur verbrannt wurde, brachte denn auch dem Autor des Sujets wegen im „Dritten Reich“ – in dem er an sich weiter publizieren konnte – prompt Schwierigkeiten ein.53 Psychoanalytisch inspiriert ist die Geschwisterliebe in Leonhard Franks Roman „Bruder und Schwester“ von 1929. Konstantin und Lydia, die einander in leidenschaftlicher Liebe verfallen sind, wissen zunächst nichts von ihrer Blutsverwandtschaft. Als sie Kenntnis davon erhalten, geraten sie wegen des Inzesttabus in innere Konflikte. Ungeachtet der rechtlichen und moralischen Problematik halten sie jedoch an ihrer Liebe fest. Gleichsam in einem Traumreich ist die naiv-inzestuöse (Schüler-)Liebe der Geschwister Paul und Elisabeth in Jean Cocteaus später verfilmtem Roman „Les enfants terribles“ von 1929 angesiedelt. „Cocteau entwickelte den langsamen Umschlag eines innigen Geschwisterverhältnisses in eine andere Bindun49
Kohns (Fn. 45), S. 181. In seinem Vortrag, den Th. Mann am 8. 5. 1936 zur Feier von Freuds 80. Geburtstag gehalten hat, hat er sich übrigens zu dem Einfluss des Psychoanalytikers auf sein Werk bekannt (Th. Mann, Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, hrsg. von Bürgin, 2. Bd., 1968, S. 213). Bereits 1929 hat er die aktuelle Bedeutung Freuds für die moderne Geistesgeschichte in einem Vortrag gewürdigt (Th. Mann, Schriften etc., Bd. 1, S. 367). 50 Schoene (Fn. 19), S. 140 ff. 51 Schoene (Fn. 19), S. 152 ff. 52 Schoene (Fn. 19), S. 156. 53 Barbian, Literaturpolitik im „Dritten Reich“, 1995, S. 289 Fn. 95.
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gen ausschaltende Hörigkeit des Bruders, von der er sich nur durch Selbstmord befreien kann.“54 Auch in Thomas Bernhards früher Erzählung „An der Baumgrenze“ von 1967 spielt eine enge Geschwisterbeziehung eine Rolle.55 Der Erzähler, ein junger Polizist, erlebt, wie spätabends ein junges Paar in einem Gasthaus eintrifft und in einem Zimmer übernachtet. Erst am nächsten Tag erfährt er, dass die beiden, die letztlich tot aufgefunden werden – das Mädchen morgens im Zimmer, der junge Mann später außerhalb des Gasthauses im Freien erfroren an der Baumgrenze – Geschwister waren. Der Erzähler hatte bereits nach dem Eintreffen des Paares einen unbestimmten Verdacht geschöpft: „plötzlich hatte ich den Gedanken, die beiden sind ein Gesetzesbruch“. „Auf einmal fange ich mit Verbrechen in Zusammenhang mit den beiden zu spielen an“.56 Dass das Inzestthema bis in die sog. moderne deutsche Literatur nachwirkt und darin seine Heimstatt findet, belegt ein Roman, der freilich ob seiner sprachlichen Naivität und des konstatierten Mangels an „poetischer und ökonomischer Reflexion“ eher kritisch beurteilt worden ist.57 Die Rezensentin Hartwig etwa hat der Autorin attestiert: „Mit dem Holzhammer der Arglosigkeit erzählt Katharina Born eine inzestuöse Familiengeschichte“. Die Handlung spielt im Westerwald, die Familie, um die es geht, ist von Geheimnissen umgeben – und zwar von Geheimnissen, die sich „um nichts Geringeres als Inzest ranken. Inzest in allen Variationen: Halbbruder mit Halbschwester, Cousin und Cousine, Vater mit Tochter“.58 Die Häufung solcher Tabuverletzungen in einem Werk, dessen narrative Qualität problematisch erscheinen mag, verweist immerhin auf die literarische „Beliebtheit“ des Inzestthemas.
VI. Neue Aspekte in der Thematisierung des Geschwisterinzests Der Fragment gebliebene Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ Robert Musils gibt gleichfalls Anlass, über die Thematik des Geschwisterinzests nachzudenken. Fast nicht mehr zu überblicken sind die hermeneutischen Versuche, die enge, ja innige Geschwisterbeziehung zwischen den Protagonisten Ulrich und Agathe in einem inzestuösen Sinne zu deuten. Grundsätzliche interpretative Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass die Nachlasskapitel und sonstigen Notate, die über die weitere Entwicklung dieser Beziehung nähere Auskunft geben könnten, nicht in die beiden ursprünglich veröffentlichten Bände aufgenommen worden sind und dass 54
Frenzel (Fn. 13), S. 418 f. Bernhard, An der Baumgrenze. Erzählungen, 1967, S. 109 ff. 56 Bernhard (Fn. 55), S. 116. 57 So Hartwig, Die Zeit Nr. 8 v. 17. 02. 2011, S. 52, über Katharina Borns Roman „Schlechte Gesellschaft. Eine Familiengeschichte“, 2011. 58 Hartwig (Fn. 57). 55
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nach dem bisherigen Forschungsstand kein abschließendes Urteil darüber möglich ist, wie sich der Autor das Ende der Romanhandlung, in der Geschwisterliebe eine tragende Rolle spielt, vorgestellt hat.59 Diese Probleme, die hier freilich nicht vertieft werden können,60 schließen freilich eine Deutung nicht aus, die der teils real geschilderten, teils in ein mythisch überhöhtes eigenartiges Licht getauchte Geschwisterbeziehung letztlich inzestuöse Züge beilegt. Anknüpfungspunkt dafür könnte die Darstellung im Nachlasskapitel „Die Reise ins Paradies“ bilden, aus dem denn auch in der Regel solche Konsequenzen gezogen werden.61 Agathe verkörpert bei Gutjahr eine „mythische Figur“, die Ulrich „das Unmögliche ermöglichen soll, nämlich an den uneinholbaren Ursprung seiner Selbst zu gelangen“.62 Die Autorin sieht „im Musilschen Gedankenexperiment mit der Übertretung des (Inzest-)Verbotes die Wiedergewinnung paradiesischer Einheit und ursprüngliche Unschuld anvisiert“.63 Doch können die Geschwister danach „in der Konstruktion ihres eigenen Mythos, im ,anderen Zustand‘ nicht verbleiben“, „da die Dauer des körperlichen Begehrens dem Ewigkeitsanspruch des Mythos nicht gewachsen sein kann“. Musil ist es Gutjahr zufolge in der Schilderung der inzestuösen Liebe zwischen Ulrich und Agathe nicht nur darum gegangen, „intertextuell auf literarische Inzestphantasien zu verweisen“; vielmehr wollte „er selbst einen überlieferten Mythos neu erzählen“.64 Schoene zufolge, die Musils Roman unter „Erkenntnistheorie und Utopie“ einordnet,65 sind „die Psychoanalyse und speziell die Inzestthematik“ „für das Werk dieses Autors strukturbildend“. „Mit inzestuöser Sexualität verbindet Musil eine mögliche ,andere‘ Art der Beziehung, die Selbstopfer und Gewalt einschließt.“66 „Ulrichs Narzißmus ist eine aktiv herbeigeführte Regression, die ihm zur Überwindung des ödipalen Inzest verhelfen soll. Sie ist jedoch nicht im Sinne der Psychoanalyse als Flucht vor Normalität zu verstehen, sondern als bewußter Verzicht auf 59 Vgl. nur Corino, Robert Musil. Eine Biographie, 2003, S. 1257 f., 1267 f.; Fanta, MusilForum 30 (2007/08), S. 37 ff. 60 Vgl. z. B. Müller-Dietz, Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ als Essay über Kultur und Recht, 2012, S. 17. 61 Es heißt in dem Nachlasskapitel (Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. von Frisé [GW, Bd. 5], 1978, S. 1651) u. a.: „Es muß doch auch so sein: immer wieder voneinander entzückt. Die Skala des Sexuellen mit Variationen durchmessend.“ (S. 1653) „Die Körper, während die Seelen in ihnen hochaufgerichtet waren, fanden einander wie Tiere, die Wärme suchen.“ (S. 1656) „Sie waren beide in diesem Augenblick überzeugt, daß sie den Scheidungen des Menschentums nicht mehr untertan seien.“ (S. 1657) Gleichsam repräsentativ dafür die Studie von Gutjahr, in: Strutz/Kiss (Hrsg.); Genauigkeit und Seele. Zur österreichischen Literatur seit dem Fin de siècle, 1990, S. 139 (144 ff.). Zur Gesamtproblematik Corino (Fn. 59), S. 1085 ff., 1266, 1368, 1435 ff. u. ö. 62 Gutjahr (Fn. 61), S. 144. 63 Gutjahr (Fn. 61), S. 145. 64 Gutjahr (Fn. 61), S. 147. 65 Schoene (Fn. 19), S. 158 ff. 66 Schoene (Fn. 19), S. 160.
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eine ,falsche‘, von außen aufgesetzte Ich-Identität […]. Was Ulrich in der Schwester sucht, ist die Erfahrung der Differenz in der Einheit“67 „Es ist die Suche nach dem Anderen im Selbst.“68 Die freilich im Roman – ebenso wenig wie in der Realität – zum Ziel führt. Aber auch wenn man dem Fort- oder gar Ausgang der Geschwisterliebe solche realen körperlichen Züge entnimmt oder beilegt, bleibt er eingebettet in den utopischen Charakter des Romans im Ganzen, der auf die Realisierung der Möglichkeit des „anderen Zustandes“ gerichtet ist, die der von Musil durchgängig kritisierten Wirklichkeit entgegengesetzt ist. In diesem Kontext kommt der Darstellung der Geschwisterliebe eine grundsätzlich andere Funktion als in literarischen Texten zu, die etwa die Konfrontation einer sexuell ausgelebten Leidenschaft mit dem Inzesttabu mit ihren normativen und gesellschaftlichen Folgen zum Gegenstand haben. Das setzt aber eine nähere Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem genuin Musilschen Konzept und Verständnis seines Romans voraus – was hier natürlich nicht geleistet werden kann.69 Deutliche Parallelen zu Musils Darstellung weist die Thematisierung des Geschwisterinzests Gutjahr zufolge in Ingeborg Bachmanns gleichfalls fragmentarischem Roman „Der Fall Franza“ auf, den die Schriftstellerin ihrem Zyklus „Todesarten“ zugeordnet wissen wollte. In diesem Werk erinnern sich die Geschwister Franza und Martin als Erwachsene an die Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der sie sich als Kinder versprochen haben, später einmal zu heiraten. „Die symbiotische Einheit, in der die Kinder trotz der bedrohlichen Kriegssituation leben können, wird gerade dadurch erst möglich, daß beide Elternteile abwesend sind.“70 Doch geht es den Geschwistern im Erwachsenenalter nicht darum, inzestuöse Strebungen auszuleben. Dies gelingt ihnen auch nicht – anders als es nach Gutjahr bei Ulrich und Agathe der hier erwogenen Interpretation zufolge möglich war. „Nicht also sexuelles Begehren läßt die Geschwister aufeinander zugehen, sondern der Wunsch, eine vergangene symbiotische Einheit, wie sie im Text in den Erinnerungen an die Kindheit aufscheint, körperlich einzulösen, um ihr damit endgültig Gültigkeit zu verleihen.“71 „Aber wie Musils Verhältnis zu seiner Schwester ein imaginäres ist, so gewinnt auch die Ausgestaltung des Motivs der Geschwisterliebe bei Bachmann durch den Rekurs auf Musils Werk eine spezifisch imaginäre Dimension.“72 „Die inzestuöse Vereinigung wird hier also nur noch als Hilfe und Rettung für die Schwester ausphan-
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Schoene (Fn. 19), S. 166. Schoene (Fn. 19), S. 169. 69 Vgl. etwa Corinos kongeniale Darstellung (Fn. 59), S. 823 ff., 993 ff., und meinen Versuch (Fn. 60). 70 Gutjahr (Fn. 61), S. 148. 71 Gutjahr (Fn. 61), S. 148 f. 72 Gutjahr (Fn. 61), S. 151. 68
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tasiert und nicht mehr als Utopie, welche die Geschlechterdichotomie aufzuheben vermag.“73 Schoene gelangt zu dem Befund: „Die wichtigsten Modelle scheinen bis zu Musils Mann ohne Eigenschaften festgeschrieben zu sein. Musils Ulrich stellt fest, daß ein neues Weltverhältnis nur durch ein neues Ich-Verhältnis möglich sein wird. Nur im Autismus, in dem Agathe seine ,Eigenliebe‘ ist, die ihm sonst fehlt, kann er Liebe und damit sein Verhältnis zur Welt erfahren. Narzißmus wird zum einzig denkbaren Ausgangspunkt einer neuen sozialen, und zwar nicht-hierarchischen Ordnung.“74 Ihm begegnet man in gewisser Weise auch in Thomas Manns Legende vom Erwählten. „Manfred Frank setzt sich in seinem Aufsatz zu Musils ,Mythologie‘ für das angeblich Irreale und Unwirkliche von Musils Utopieentwurf ein: gerade das Irreale hat immer schon das Fundament gebildet für eine Ethik“.75 Vladimir Nabokov schildert in seinem 1969 erschienenen Roman „Ada or Ardor. A Family Chronicle“ die Geschichte einer lebenslangen – man ist fast versucht zu sagen jung gebliebenen – Leidenschaft.76 Thomas Lehr zufolge handelt es sich dabei um eine „wahrhaft romantische Liebesgeschichte“, eben weil sie „eine Geschichte des absoluten und erfüllten Verlangens zwischen der einzigen Frau und dem einzigen […] Mann“ zum Gegenstand hat. Diese Liebe leidet auch nicht unter dem Umstand, dass die beiden Liebenden im Laufe ihres Lebens noch andere Beziehungen eingehen. „An der Flamme des Begehrens, die Van und Ada ein Leben lang […] entzündet halten, verbrennen sich all die anderen Schmetterlinge die Flügel.“77 Schließlich entdecken die Liebenden im Roman schon in recht jungen Jahren, dass sie Geschwister sind. Das hindert die beiden Glücklichen, die in gesellschaftlicher Sicht eher amoralisch erscheinen, indessen nicht an der Fortsetzung ihres Verhältnisses. Auch für den Autor selbst bildet der Inzest dem Vernehmen nach kein Thema – und schon gar kein Problem.78 Im Alter von fast neunzig Jahren fängt Ivan („Van“) an, seine Lebensgeschichte aufzuzeichnen. Er ist vierzehn, Internatsschüler, als er die Sommerferien 1884 auf dem Landsitz Ardis der Familie der zwölfjährigen Ada verbringt. Sie verlieben sich alsbald ineinander und verbringen, gleichsam in einem Taumel der Leidenschaft, glückliche Wochen. Erst vier Jahre später begegnen sich die beiden in Ardis wieder, um dort ihre intensive Liebesbeziehung fortsetzen zu können. Doch bricht sie Van abrupt ab, als er Ada der Untreue schuldig glaubt. Vier Jahre lang dau73
Gutjahr (Fn. 61), S. 152 f. Schoene (Fn. 19), S. 249. 75 Schoene (Fn. 19), S. 252. 76 Moeller, in: Jens (Fn. 22), Bd. 12, S. 160 ff.; Lehr, Literaturmagazin No. 40 (1997), S. 114 ff. 77 Lehr (Fn. 76), S. 122. Man könnte sich durch den Roman an die lebenslange Beziehung zwischen Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir erinnert fühlen. Doch scheitert ein solcher Vergleich allein schon am Fehlen eines verwandtschaftlichen Verhältnisses in diesem Fall. 78 Lehr (Fn. 76), S. 121. 74
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ert dieses Intermezzo, bis es Ada gelingt, Van von ihrer Liebe zu überzeugen. Auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten begegnen sich die Liebenden nach mehr oder minder kurzen oder langen Unterbrechungen immer wieder. Doch leiden Leidenschaft und Intensität ihrer Liebesbeziehung selbst unter jahrelangen Trennungen nicht. Auch als Ada einen Viehzüchter aus Arizona heiratet und sie zwölf Jahre lang sich mit Van nicht treffen kann, erkalten die Gefühle der beiden Liebenden nicht. Ein Zusammenleben auf längere Dauer ist ihnen erst im Jahre 1922 möglich, als sie beide über 50 Jahre alt sind. Markus Gasser hat in einer Rezension der Neuübersetzung Nabokovs Werk als „überladen, hektisch, schräg und kaum zumutbar“ charakterisiert, aber gleichwohl keinen Zweifel daran gelassen, dass es sich auch nach seiner Überzeugung um ein Meisterwerk handelt.79 Auch wenn der Schriftsteller damit einmal mehr Tabuverletzungen in einer Weise Ausdruck gegeben hat, die sich keinen Deut um gesellschaftlich anerkannte Normen und Werte schert. „Nach der Pädophilie in ,Lolita‘, auf die Nabokov in ,Ada‘ mehrfach paradiesvogelstolz verweist, stand nur noch ein Tabu zur Verletzung an: das des fröhlichen Geschwisterinzests.“80 Die literarische Darstellung der Inzestthematik kann auch in einem politischen und zeitgeschichtlichen Rahmen moralische Sprengkraft entfalten. Eingebettet in die grauenhafte Szenerie der Massenmorde des Holocausts und der Einsatzkommandos im Zweiten Weltkrieg in Polen und in der Sowjetunion ist die Darstellung einer inzestuösen Beziehung von Zwillingsgeschwistern in dem 2008 erschienenen Roman „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell. Sie tritt in den fiktiven Erinnerungen des SS-Offiziers Maximilian Aue zutage, der die Verfolgung und Vernichtung der Juden wahrnimmt und miterlebt. Der auf Tatsachenrecherchen gegründete Roman präsentiert den Erzähler in der Doppelrolle als Täter und Beobachter, der in diesem Kontext schon die früh begonnenen inzestuösen, sadomasochistisch überlagerten Beziehungen später, während des Kriegs, fortsetzt und sie in Inzestphantasien und -träumen auslebt.81 Nicht zuletzt sind die mythischen Aspekte im Verhältnis der Geschwister nicht zu übersehen. Hier kommt mehrerlei zur Sprache, was an kulturgeschichtliche Muster literarischer Inzestdarstellungen anknüpft: die Verbindung von Geschwisterinzest mit anderen Tabubrüchen, namentlich mit schwerwiegenden Verbrechen, wie sie bereits bei de Sade zutage getreten ist; das von moralischen Skrupeln völlig freie Handeln der Protagonisten, das der Marquis – freilich im Gegensatz zu Littell – sogar zu rechtfertigen gesucht hat; und „die Verwischung der Grenzen zwischen Nähe und Distanz, die der Roman vollzieht“.82
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FAZ Nr. 295 v. 18.12. 2010, S. 5. Gasser (Fn. 79). 81 Littell, Die Wohlgesinnten. Roman, 2009, S. 686 f., 1265 ff. 82 Alt, Ästhetik des Bösen, 2010, S. 497 ff. (507). 80
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VII. Ein vorläufiges, kein abschließendes Fazit Die kursorische und fragmentarische Darstellung literarischer Texte aus der Literaturgeschichte, die den Geschwisterinzest thematisieren, bestätigt einmal mehr, in welchem Maße und in welcher Weise das einschlägige kulturelle Tabu literarischen Ausdruck gefunden hat. Deutlich wird daran nicht nur, wie Literatur sich gleichsam als künstlerischer Niederschlag zeitgenössischer gesellschaftlicher Tendenzen und Aufbrüche präsentiert, sondern auch und vor allem, welche „Lösungsmuster“ sie für solche Konflikte bereithält oder vorbereitet, die aus dem Zusammenprall tabuisierter individueller Formen der „Selbstverwirklichung“ mit kulturell verfestigten normativen Regeln und Erwartungen resultieren. Ein Fazit, das Schoene in ihrer „Schlußbetrachtung“ zieht, lautet: „Eine Entdeckung, die mit Hilfe der Inzestthematik gelingt, ist diejenige, daß im Inzest der Unterschied zwischen sexuellem Begehren, bei dem das Ich sich des anderen bemächtigen will, und Liebe, die das andere als Eigenwesen respektiert und Kernmodell sozialer Beziehungen ist, scharf hervortritt.“83 Der Umstand, dass das Inzesttabu – wie Jochen Hörisch konstatiert hat – „die wohl festeste der transkulturellen Konstanten“ verkörpert,84 spiegelt sich nicht zuletzt darin wider, dass es auch der Literatur nur schwer gelingen will, daraus entstehende Konflikte in argumentativ überzeugender Weise aufzulösen, die auf Möglichkeiten eines gesellschaftsverträglichen Zusammenlebens hinweist. Wohl am weitesten hat sich – wie angedeutet – Musil in seinem Jahrhundertroman vorgewagt, dessen utopischer Ansatz freilich eingebettet ist in eine gänzlich neue Sicht des Menschen und der Welt. Indes ist auch er in seinem Fragment gebliebenen Werk über gewiss bedeutsame Prolegomena zu einem sozialphilosophischen Entwurf nicht hinausgelangt. Das trifft wohl in vergleichbarer Weise zugleich auf Ingeborg Bachmanns Romanfragment „Todesarten“ zu, das ja in gewisser Weise in die Fußstapfen von Musils Roman getreten ist. Gewiss ist mit der eingangs zitierten verfassungs- und menschenrechtlichen Judikatur kein abschließendes Urteil über den künftigen strafrechtlichen Umgang mit dem Geschwisterinzest gefällt, zumal sie zwingende und jedermann überzeugende Argumente für eine Pönalisierung hat vermissen lassen. Das gilt nicht zuletzt angesichts rationaler Defizite, wie sie seit der Aufklärung immer wieder zutage getreten sind. Doch stünde einer auf Entpönalisierung gerichteten Reformgesetzgebung ein gesellschaftlich verfestigtes kulturelles Tabu entgegen, dessen Widerstand jedweder Gesetzgeber nur schwer zu überwinden vermöchte. Da wäre viel und fundierte Überzeugungsarbeit zu leisten, um den Weg zu einer entsprechenden „normativen gesellschaftlichen Verständigung“ zu bahnen.85 Jochen Hörisch zog denn auch schon die Möglichkeit einer derart weitgehenden gesellschaftlichen Sinnesänderung in Zwei83
Schoene (Fn. 19), S. 248. Hörisch, ZIS 5 (2010), S. 33 (38 dort Fn. 17). 85 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 160 ff. 84
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fel: „An der emotionalen Ächtung des Inzests würde eine solche Gesetzesnovellierung vermutlich nichts ändern.“86 Dies muss freilich keineswegs das letzte Wort in der Sache selbst bleiben. Aber es verweist einmal mehr auf die Erkenntnis, wie schwer es ein Reformgesetzgeber hat – oder hätte –, gesellschaftlich und geschichtlich verfestigte Tabus zu überwinden – die sich zudem auf wissenschaftliche Koryphäen von der Autorität eines Sigmund Freud stützen können.
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Hörisch, (Fn. 84), S. 38 Fn. 21.
Betrug ohne Vermögensschaden? Die historische Bürde und heutige Gerichtspraxis Von Jaan Sootak und Priit Pikamäe
I. Geschichtliches: Betrug als Entwendung des Eigentums Das heute gültige estnische StGB wurde am 6. Juni 2001 verabschiedet und trat am 1. September 2002 in Kraft.1 In diesem Jahr feiert das Gesetz sein 10. Geltungsjahr – Grund genug, einen Blick auf die bisherigen Entwicklungen zu werfen und die weiteren zu prognostizieren. Die moderne Infotechnologie-Gesellschaft bietet dem geneigten Täter eine technisch sehr viel breitere Palette, den Tatbestand des Betruges zu erfüllen, als dies in früheren Zeiten der Fall war. Der Bereich der elektronischen Datenverarbeitung etwa senkt durch die systemimmanente Anonymisierung seiner Akteure die Hemmschwelle zur Erregung eines Irrtums im Vergleich zu traditionellen Kommunikationsformen erheblich an. Die heutigen Begehungsformen des Betrugstatbestandes reichen vor diesem Hintergrund von der einfachen Leugnung des Nutzernamens bis zu gewerbsmäßig und global agierender Wirtschaftskriminalität. Über einen Betrug im Sinne des heute verwandten Begriffs kann man erst seit den Strafgesetzbüchern des 19. Jahrhunderts sprechen. In dem in Estland seit 1846 geltenden russischen sog. Alten Strafgesetzbuch (Ulozˇenije o nakazanijah) wurde dem Betrug, wie für dieses Gesetz typisch kasuistisch 12 Paragraphen gewidmet.2 Im Jahre 1929 wurde in Estland ein eigenes StGB (Kriminalgesetzbuch; KrS) verabschiedet, welches sich jedoch zum großen Teil am russischen sog. Neuen Strafgesetzbuch von 1903 (Ugolovnoje Ulozˇenije; UU) orientierte.3 Nach § 557 des KrS (ebenso 1 Die englische Übersetzung des estnischen StGB ist im Internet unter: www.legaltext.ee/ et/ zugänglich. Eingehend zu der estnischen Strafrechtsreform mit den weiteren Literaturhinweisen: Luts/Sootak, ZStW 2005 (117), 651 – 676. Über die Weiterentwicklung des StGB und der Gerichtspraxis: Sootak, FS Samson, 2010, S. 803 – 816. 2 Sobranije zakonov Rossiiskoi Imperii 1845, Nr. 19283, zugänglich im Internet unter: www.nlr.ru/e-res/law/search.php?part//503®im=3. Deutsche Übersetzung: Strafgesetzbuch des Russischen Reichs, promulgiert im Jahr 1845. Carlsruhe/Baden 1847. 3 Ugolovnoje Uloz´enije: Sobranije zakonov Rossiiskoi Imperii 1903, Nr. 22704 Im Internet zugänglich unter: www.nlr.ru/e-res/law /search.php?part//503®im=3
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§ 591 UU) wurde der Täter wegen Betrugs bestraft, wenn er „eine bewegliche Sache in der Absicht entwendet, sich diese zuzueignen“ (Abs. 1 Ziff 1) oder wenn er „eine andere Person mit der Absicht täuschte, sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen, sie auf einen Vermögensvorteil verzichten zu lassen oder in ein vermögensschädliches Geschäft einzugehen“ (Abs. 1 Ziff 2). In der zweiten Alternative handelt es sich um ein kupiertes Delikt, d. h. der Täter hat den Tatbestand schon dann verwirklicht, wenn er mit der entsprechenden Absicht gehandelt hat, obwohl er noch keinen Vermögensvorteil erreicht hat (ebenso auch § 591 Ziff 3 UU). Gegen den Wortlaut des Gesetzes behaupten jedoch zeitgenössische Kommentare, dass der Betrug erst verwirklicht ist, wenn eine Sache oder ein Recht übertragen wurde4 und der Schaden für den Getäuschten mit dem Vorteil des Täters übereinstimmt.5 Hierbei darf man nicht außer Acht lassen, dass der Begriff Entwendung bei den Vermögensdelikten im ehemaligen kaiserlich-russischen, sowjetischen und ebenso im heutigen russischen Strafrecht eine zentrale Bedeutung hat. Das russische hisˇtsˇenije (fYjV^Ye), wie auch das estnische riisumine sind schwer übersetzbare Begriffe, welche im russischen und sowjetischen Recht als allgemeiner Begriff für alle Vermögensdelikte gebraucht wurde; er wird auch im heutigen russischen Strafrecht benutzt (z. B. § 159 Abs. 1 des StGB der Russischen Föderation: „Betrug, das ist Entwendung des fremden Vermögens …“). Estnische Wörterbücher übersetzen hisˇtsˇenije und riisumine als Plünderung, was aber nach Meinung der Verfasser nicht sachgerecht ist. Die Plünderung kann keinesfalls den Inhalt aller Bereicherungsdelikte umfassen, weswegen die neutrale Entwendung geeigneter erscheint. Im russischen und sowjetischen Strafrecht wurde als Entwendung die „Entnahme des Eigentums aus fremden Besitz oder Eigentum in Aneignungsabsicht“ verstanden.6 Das StGB der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik von 1926 beschreibt den Betrug (die Tatbestände im Besonderen Teil hatten keine Titel) als „Vertrauensmissbrauch oder Täuschung in der Absicht, sich ein Vermögen, einen Vermögensvorteil oder andere persönliche Vorteile zu verschaffen (Betrug)“. Während die vorherigen Strafgesetzbücher von 1845 und 1903 und das estnische KrS von 1929 als Betrugsmerkmale sowohl einen Vermögensvorteil für den Täter, als auch einen Vermögensschaden für das Opfer vorgesehen hatten, so wurde ab 1926 in der UdSSR auf das Merkmal des Vermögensschadens verzichtet – für das totalitäre Sowjetregime war statt eines tatsächlich entstandenen Schadens wichtiger, dass sich der durchschnittliche Bürger nicht bereicherte. Zwar enthielt § 169 Abs. 2 die Qua-
4 Saarmann/Matto, Kriminaalseadustik. Komm. vlj (Kriminalgesetzbuch. Kommentierte Ausgabe). Tallinn: Verlag der Verfasser 1937, § 557/3 (auf Estnisch). 5 Tagantsev (Hrsg.), Ugolovnoje Ulozˇenije 22 marta 1903 g. Riga: Leta 1922, § 591/6 (auf Russisch). 6 Tagantsev (Fn. 5), § 581/2; Goljakov (Hrsg.), Ugolovnoje pravo. Osobennaja tsˇast (Strafrecht. Besonderer Teil). Moskva: Jurditsˇeskoe Izdatelstvo Ministerstva Justitsii SSSR 1943, S. 218 (auf Russisch).
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lifikation eines Betrugs, der „einen Schaden für den staatlichen oder gesellschaftlichen Betrieb verursacht“. Grundsätzlich ist das sowjetische Strafrecht von drei wesentlichen Merkmalen gekennzeichnet: Erstens äußert sich die Handlung im Betrugstatbestand in zwei Formen – die die gegenwärtige oder vergangene Tatsachen betreffende Täuschung oder den in die Zukunft gerichteten Vertrauensmissbrauch.7 Zweitens fanden sich auch schon in anderen Tatbeständen (z. B. § 162: Diebstahl) Qualifikationen, die das sog. sozialistische (d. h. staatliche oder gesellschaftliche) Eigentum betrafen. Die Bildung entsprechend getrennter Kapitel für sozialistisches und persönliches Eigentum im Besonderen Teil des StGB stand dem Gesetzgeber der UdSSR noch bevor. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass der Begriff Entwendung zwar im Gebrauch war, nicht aber zur Beschreibung der Vermögensdelikte gegen sozialistisches Eigentum angewandt wurde. Drittens enthält der Betrugstatbestand nicht das Tatbestandsmerkmal Vermögensschaden – die Tat besteht zwar in der Entwendung des Vermögens, aber von einer rechnerischen Bilanz zwischen Vorteil und Nachteil ist keine Rede. Als direkte Wirkung des zaristischen UU von 1903 zeigt der Tatbestand des Betrugs im § 169 Abs. 1 sich auch hier als kupiertes Delikt, während der Betrug gegen staatlichen oder gesellschaftlichen Betrieb einen Schaden voraussetzt. In der späteren Literatur wurde betreffend den Betrug behauptet, dass es sich überhaupt nur um ein Delikt handelt, das vor allem auf den Privathandel gemünzt ist, wo mit den Worten von F. Engels kein Mensch verstehen kann, wo eine ehrliche Einnahme endet und wo ein Betrug beginnt. Der Betrug wurde – wie auch die anderen durch Werktätige begangenen Vermögensdelikte – als Überbleibsel des nunmehr obsoleten bürgerlichen Privateigentums gesehen.8 Doch bedeutete dies nicht die völlige Irrelevanz des Betrugstatbestandes. Die berüchtigte Verordnung des Zentralexekutivkomitees und der Regierung der UdSSR vom 7. August 1932 „Über den Schutz des Vermögens der staatlichen Unternehmen, Kolchosen und Kooperativen und die Sicherstellung des gesellschaftlichen (sozialistischen) Eigentums“ betonte die besondere Bedeutung dieser genannten Eigentumsformen und bezeichnete die Entwender solches Eigentums als Volksfeinde, die 7 Z. B.: Eesti NSV kriminaalkoodeks. Komm vlj. Koostanud I. Rebane (Kommentar zum Strafgesetzbuch der Estnischen SSR. Hrsg von I. Rebane). Tallinn: Eesti Raamat 1980 § 90/3, 7 (auf Estnisch). Im heutigen russischen Strafrecht sind diese zwei Täuschungsformen zwar behalten, die Begrenzung durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft findet aber nicht mehr statt, siehe z.B: Kommentarii k Ugolovnomu Kodeksu Rossiiskoi Federatsii (Kommentar zum Strafgesetzbuch der Russischen Föderation. Hrsg von V. Radtsˇenko). Moskva: Verdikt 1996, § 159/11 (auf Russisch). 8 Piontkovski/Mensˇagin, Kurs sovetskogo ugolovnogo prava. Osobennaja tsˇast (Kursus des sowjetischen Strafrechts. Besonderer Teil). Tom 1. Moskva: Gosjurizdat 1955, S. 747 (auf Russisch).
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wegen der Entwendung von Eisenbahn- und Schiffverkehrsgütern oder des Vermögens der Kolchosen und Kooperativen bei mildernden Umständen eine Freiheitsstrafe nicht unter 10 Jahren, ohne diese Umstände aber den Tod durch Erschießen zu erwarten hatten (Kap I – II).9 Für den Betrugstatbestand hatte die Verordnung zwar keine direkte Wirkung, bahnte aber den Weg für die getrennte strafrechtliche Behandlung des sozialistischen und des persönlichen Eigentums. Der Entwurf des Strafgesetzbuches der UdSSR von 1939 enthielt zwar ein einheitliches Kapitel V „Die Vermögensdelikte“, wies aber für das sozialistische und persönliche Eigentum getrennte Tatbestände auf. Der Titel des § 195 beschrieb den Betrug als Tat, welche einen „Schaden eines einzelnen Bürgers mit sich bringt“, wobei der Text der Bestimmung mit dem Text des § 169 Abs. 1 StGB von 1926 übereinstimmte. Der Betrug gegen das sozialistische Eigentum war im § 196 ohne nähere Ausführung der Merkmale nur genannt als „Betrug, der einen Schaden am Eigentum staatlicher oder gesellschaftlicher Behörden oder Unternehmen mit sich bringt“. Als direkte Wirkung der berüchtigten Verordnung vom 7. August 1932 enthielt der Entwurf jedoch in Abschnitt I „Staatsverbrechen“ das Kapitel II „Entwendung sozialistischen Eigentums“, dessen §§ 82 – 83 im Vergleich zur Verordnung zwar kürzer waren, aber inhaltlich ihre Wortfassung deckungsgleich wiederholten: „Die Entwendung des sozialistischen Eigentums ist ein Angriff gegen die Grundlagen der sowjetischen Gesellschaftsordnung“; „das sozialistische Eigentum ist heilig und unantastbar“; „Entwender sind Volksfeinde“.10 Zwei Erlasse des Präsidiums des Obersten Rats der UdSSR vom 4. Juni 1947 hatten eine strenge Differenzierung des strafrechtlichen Schutzes für zwei Eigentumsformen eingeführt, wobei in keinen von beiden Erlassen ein Betrugstatbestand zu finden war.11 Das bedeutete, dass der Betrug im Fall des sozialistischen Eigentums entsprechend § 1 des Erlasses als „andere Entwendung“ auszulegen war. Im Fall des Betrugs gegen persönliches Eigentum wurde die Tat unter § 169 Abs. 1 StGB subsumiert. Der Begriff des Betrugs wurde in beiden Varianten § 169 StGB entnommen.12 Der Entwurf des Strafgesetzbuchs der UdSSR von 1947 enthielt zwei Kapitel über Vermögensdelikte, wobei Kapitel 2 „Verbrechen gegen das sozialistische Eigentum“ in § 91 von Diebstahl, Unterschlagung, Verschwendung „oder anderer Entwendung“ staatlichen Eigentums, in § 93 in derselben Weise von der Entwendung gesellschaftlichen Eigentums sprach. Der Betrugstatbestand wurde in Kapitel IV „Verbrechen 9
Sobranie zakonov i pasporjazˇenii rabotsˇe-krestjanskogo pravitelstva SSSR (Sammlung der Gesetze und Verordnungen der Arbeiter- und Bauern-Regierung der UdSSR), Nr. 62, Art. 360 (auf Russisch). Zitiert nach: VNFSV kriminaalkoodeks (Strafgesetzbuch der RSFSR). Moskva: NSVL Kohtu Rahvakomissariaadi Juriidiline Kirjastus 1944 (auf Estnisch). 10 Projekt Ugolovnogo kodeksa SSSR (Entwurf des Strafgesetzbuchs der UdSSR). Moskva: Jurditsˇeskoe Izdatelstvo Ministerstva Justitsii SSSR 1939 (auf Russisch). 11 Vedomosti Verhovnogo Soveta SSSR (Anzeiger des Obersten Rats der UdSSR) 1947, Nr. 19 (auf Russisch). 12 Piontkovski/Mensˇagin (Fn. 8), S. 397, 401.
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gegen Vermögensrechte der Bürger“ in § 142 als „Aneignung fremden Vermögens oder Vermögensvorteil durch Täuschung oder Vertrauensmissbrauch“ definiert.13 Im nachfolgenden Entwurf des StGB der UdSSR von 1955 wurde der Entwendungstatbestand in Kapitel 6 über „Verbrechen gegen das sozialistische Eigentum“ zwar als § 59 beibehalten, doch enthielt § 61 den eigenartig zusammengestellten Tatbestand „Erlangung von Vermögensvorteilen durch Täuschung“, der die Bezeichnung Betrug nicht enthielt und die Tat als „Erlangung von Vermögensvorteile durch Täuschung oder Vertrauensmissbrauch zum Nachteil des Staats oder der gesellschaftlichen Organisation“ beschrieb, „soweit das Merkmal der Entwendung fehlt“. In Kapitel 9 befanden sich Verbrechen gegen das persönliche Eigentum der Bürger, dessen § 113 den Betrug als „Erlangung von fremden Vermögen durch Täuschung oder Vertrauensmissbrauch“ bestimmte.14 Hier ist erwähnenswert, dass der Betrug gegen sozialistisches Eigentum nicht als Form einer Entwendung aufgefasst wurde. Mit der Verfassungsänderung von 1957 wurde die Gesetzgebungskompetenz für das Strafgesetzbuch von der Union auf die Unionsrepubliken verschoben, weswegen auf die Arbeit an weiteren Entwürfen der Unionsstrafgesetzbücher verzichtet wurde.15 Die Reform der Jahre 1958 – 1961 brachte die Strafgesetzbücher der Unionsrepubliken hervor; für Estland war dies das StGB der Estnischen SSR von 1961 (Kriminalkodex). Die genannten Strafgesetzbücher behielten die Zweiteilung der Vermögensdelikte in Verbrechen gegen sozialistisches und persönliches Eigentum bei. Der Betrug wurde im estnischen Kriminalkodex in § 91 als „Entwendung staatlichen oder gesellschaftlichen Eigentums durch Täuschung oder Vertrauensmissbrauch“ beschrieben; § 143 (Betrug gegen das persönliche Eigentum) benutzte dieselbe Tatbeschreibung für den Betrug, hier dann jedoch „gegen das fremde Vermögen“. Unter Entwendung wurde nach der damaligen herrschenden Meinung eine „gesetzwidrige Aneignung des Vermögens zum persönlichen Vorteil“ verstanden, wobei diese Tat einen Vermögensschaden für die sozialistische Organisation mit sich bringen sollte.16 Beim Betrug gegen Privatpersonen (§ 143) ging es im Gesetzestext nur um die Erlangung von Vermögen, eines Vermögensrechts oder eines anderen Vermögensvorteils“; der Vermögensschaden wurde nicht erwähnt. 13
Ugolovnõi kodeks Sojuza SSR. Projekt (Strafgesetzbuch der Union der SSR. Entwurf). Moskva: 1947 (auf Russisch). 14 Ugolovnõi kodeks SSSR. Projekt (Strafgesetzbuch der UdSSR. Entwurf). Moskva: 1955 (auf Russisch). 15 Näher: Schittenhelm, Strafe und Sanktionensystem im sowjetischen Recht, 1994, S. 200 ff. 16 Eesti NSV kriminaalkoodeks. Kommenteeritud väljaanne (Strafgesetzbuch der Estnischen SSR. Kommentierte Ausgabe). Tallinn: Eesti Raamat 1980, § 91/8b (auf Estnisch); Kommentarii k Ugolovnomu kodeksu RSFSR. Otv. red J. Severin (Kommentar zum Strafgesetzbuch der RSFSR, Hrsg. J. Severin). Moskva: Juriditsˇeskaja literatura 1985, § 93/13 (auf Russisch).
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Zusammenfassend kann hinsichtlich des Betrugstatbestands des sowjetischen Strafrechts festgestellt werden, dass der Vermögensvorteil an vorderster Stelle stand und vom Vermögensschaden nur fragmentarisch bei Verbrechen gegen das staatliche oder gesellschaftliche Vermögen die Rede war. Die Frage nach dem Vermögensschaden wurde bei Betrug gegen das Eigentum von Privatperson nicht gestellt. Bei der Frage nach der Stellung des Vermögensschadens und des Entwendungsbegriffs geht es nicht lediglich um ein zusätzliches Kapitel in der Strafrechtsgeschichte. Die Teilreform 1992 und Reform von 2002 konnten die Probleme des Betrugsbegriffs als bloße „Entwendung“ kaum bewältigen. Sowohl Literatur als auch Gerichtspraxis unternahmen direkt nach der Reform den Versuch, den Betrug als Delikt gegen das Vermögen mit Hilfe der Tatbestandsmerkmale Vermögensverfügung und Vermögensschaden zu bestimmen; die spätere Literatur und Judikatur wollten aber auf den Vermögensschaden verzichten und warfen dadurch die zentrale kriminalpolitische Frage auf, was die im Betrugstatbestand enthaltene Primärnorm eigentlich verbietet – die eigene Bereicherung in unehrlicher Weise oder die auf einer unehrlichen Handlung beruhende Minderung des Vermögens eines Mitbürgers?
II. Die Teilreform von 1992 und die Reform von 2002 Während der Strafrechtsreform von 1992 wurde eine neue Fassung des Kriminalkodexes zusammengestellt.17 Die rein sowjetischen Elemente wurden aus dem Strafgesetzbuch beseitigt, z. B. wurde das 1. Kapitel des Besonderen Teils über Staatsverbrechen völlig neugefasst. Das 2. Kapitel des Besonderen Teils „Verbrechen gegen staatliches und gesellschaftliches Eigentum“ wurde gestrichen, das 5. Kapitel mit der bisherigen Bezeichnung „Verbrechen gegen das persönliche Eigentum des Bürgers“ wurde zu „Vermögensverbrechen“ umgewandelt. Dabei wäre zu vermuten gewesen, dass hiermit auch das Schicksal des Begriffs Entwendung besiegelt gewesen wäre. Dies war aber leider nicht der Fall. Erstens wurde in das 5. Kapitel der Tatbestand der „Entwendung im Amt“ (Entwendung durch Unterschlagung, Verschwendung oder Amtsmissbrauch) nahezu expressis verbis aus dem gestrichenen 2. Kapitel übergetragen, wenn auch ohne das Merkmal staatliches oder gesellschaftliches Eigentum. Zweitens – was damals wahrscheinlich übersehen wurde – setzte der Begriff Entwendung sein Leben in den Tatbeständen der Vermögensdelikte fort. Der Betrugstatbestand (§ 143) wurde in der Neufassung des StGB lediglich zweifach geändert: Anstatt des fremden persönlichen Vermögens lautete die Neufassung fremdes Vermögen und das Merkmal Vertrauensmissbrauch wurde gelöscht. Der Be17
Staatsanzeiger 1992, Nr. 20, Art. 287.
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griff des Vermögensvorteils wurde behalten, zum Vermögensverlust hingegen fiel kein Wort. Im neuen Strafgesetzbuch von 2001wurden in den Betrugstatbestand (§ 209) keine wesentlichen Änderungen eingeführt. Er wurde nur im Sinn des Wortgebrauchs geändert – das Vermögen, Vermögensrecht und andere Vermögensvorteile wurde mit Vermögensvorteil ersetzt; das Merkmal Täuschung wurde durch die Wörter Bildung einer unrichtigen Vorstellung von den wahren Umständen erläutert. Wie schon in § 143 des Kriminalkodexes, ging es lediglich um den Vermögensvorteil und nicht um den Vermögensschaden.
III. Kurzblick in die Kriminalstatistik Die Fälle von Vermögensdelikten bilden in Estland mit ca. 50 – 60 % der Gesamtkriminalität die größte Deliktsgruppe (2003: 61,3 %, 2011: 47,3 %). Die Betrugsfälle (§ 209 StGB) seinerseits bilden ca. 5 % der begangenen Vermögensdelikte (2003: 5,3 %, 2008: 8,1 %, 2011. 4,7 %) und somit ca. 3 – 4 % der Gesamtkriminalität (2003: 4,0, 2011: 2,7 %). Das ist im Vergleich zu den Diebstählen, die in der Gesamtkriminalität ca. 50 % (2003: 61,3 %, 2011: 47,3 %) und unter den Vermögensdelikte ca. 80 % (2003: 81,5 %, 2011: 82,7) ausmachen, relativ wenig. Man muss aber berücksichtigen, dass der Betrug heutzutage immer häufiger im Wege elektronischer Datenverarbeitung und hier vor allem über das Internet begangen wird. Auch der Anteil der Wirtschaftsdelikte in der Gesamtkriminalität wächst stetig – von 0,6 % im Jahre 2003 bis zum 2,6 % im Jahre 2011.18 Am Staatsgericht – dem obersten Gericht Estlands – sind in den Jahren 2003 – 2011 99 Betrugsstrafsachen nach § 209 StGB eingegangen, davon wurde in 32 Fällen am Staatsgericht ein Verfahren aufgenommen. Nach § 210 (Subventionsbetrug) wurden 2 Verfahrensanträge gestellt, wobei es nicht zu Verfahren am Staatsgericht kam. In Strafsachen wegen Kapitalanlagebetrugs (§ 211) gab es keine Kassationen; nach § 212 (Versicherungsmissbrauch) wurde von 4 Kassationensanträgen einer angenommen. In Fällen von Computerbetrug (§ 213) hat das Staatsgericht in zwei von acht eingegangenen Verfahrensanträgen eine eigene Entscheidung getroffen. Diese Zahlen zeigen, dass die Sonderdelikte neben dem Grunddelikt des Betrugs noch keine besondere Auswirkung auf die Gerichtspraxis haben. Eine gewisse Ausnahme bildet nur der Computerbetrug mit acht Verfahrensanträgen, denen das Staatsgericht mit einer Entscheidung von 2007 die Tür öffnete. Unter Computerbetrug werden nach diesem Gerichtsurteil diejenigen Fälle subsumiert, in denen der Täter z. B. den Zugang zu einem fremden Konto ohne Zustimmung des Kontoinhabers erlangt hat. War der Zugang an sich erlaubt, die Handlungen auf dem Konto aber als Vertrau-
18
Kriminalstatistik im zugänglich im Internet: www.just.ee/30140.
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ensmissbrauch und Aneignung des Geldes zu sehen, handelt es sich nicht um Betrug, sondern um eine Unterschlagung.19 Während die Probleme mit den Nebendelikten des Betrugs heute noch nicht aktuell sind, birgt die dogmatische Konzeption des Grunddelikts ein erhebliches Konfliktpotential. Die folgenden Abschnitte möchten aufzeigen, welche bislang verborgenen Probleme in neuerer Zeit offenbar wurden, insbesondere in der Konzeption des Betrugs als Erfolgsdelikt und des Vermögensschadens.
IV. Der Betrug als Erfolgsdelikt Das Staatsgericht hatte einen Fall zu entscheiden, in welchem den Verurteilten auf Grundlage einer gefälschten Urkunde eine Rente ausgezahlt worden war. Die Verjährungsfrist für die Täuschungshandlung war abgelaufen, nicht jedoch für die weiteren Handlungen der Täter – (Empfang der Rente). Der Staatsanwalt argumentierte in seiner Kassation gegenüber dem Staatsgericht, dass es sich bei § 209 StGB um kein Erfolgsdelikt handele: Die Worte „wegen Erhalts eines Vermögensvorteils“ beträfen lediglich die Tathandlung, nicht den Erfolg. Dem Staatsanwalt ist insoweit zuzustimmen, dass dieser Paragraph nicht der üblichen Wortfassung des StGB folgt – in anderen Bestimmungen des Besonderen Teils wird zunächst die Tat und erst anschließend der Erfolg beschrieben. Das Staatsgericht wies die Kassation jedoch mit der Begründung ab, dass es sich bei dem Betrug um ein Erfolgsdelikt handele, wobei die Tathandlung die Täuschung und der Erfolg der Vermögensvorteil sei.20 Ohne Erfolg blieben auch die Ausführungen des Staatsanwalts, dass der Besondere Teil auch andere Tatbestände enthielte, in denen die Wortfolge „Erfolg – wird bestraft“ benutzt wird und in welchen der Erfolg zugleich als Tathandlung auszulegen ist (so z. B. § 118: „wegen schwerer Gesundheitsbeschädigung wird bestraft …“). In diesem Beispiel geht es jedoch um einen Tatbestand, der im Unterschied zum Tatbestand des Betrugs nach § 209 StGB keine spezifische Tatbeschreibung enthält, die Handlung und der dadurch verursachte Erfolg daher zu unterscheiden sind.21 In der Entscheidung des Staatsgerichts wurde damit nochmals betont, dass zwischen Tathandlung und Erfolg streng zu unterscheiden ist.22 Betreffend des Betrugstatbestandes nach § 209 StGB zeigt der vorhandene Fall jedoch auch, dass der Aufbau des Tatbestandes grundlos vom gewöhnlichen Gebrauch im StGB abweicht und deswegen nicht als gelungen bezeichnet werden kann. Vieles spricht dafür, den Be19
Entscheidung des Staatsgerichts Nr. 3-1-1-83-07, P 16. § 2172 enthält ein Untreuetatbestand, der einen Vermögensschaden, aber keinen Vermögensvorteil (wie § 201: Unterschlagung) vorsieht. 20 Entscheidung des Staatsgerichts Nr. 3-1-1-72-10, P 12. 21 Entscheidung des Staatsgerichts Nr. 3-1-1-72-10, P 12. 22 Ausführlich: Sootak (Fn. 1), S. 811 ff.
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trugstatbestand dem Muster der übrigen Delikte des StGB anzupassen, d. h. auch hier den bewährten Aufbau „Tat – Erfolg“ einzuführen. Nun mag argumentiert werden, dass der Tatbestand des Betrugs nach § 209 des geltenden StGB zu den traditionellen Tatbeständen dieser Art gehört. Jedoch geht es hier nicht um eine besondere Erscheinung des materiellen Delikts, auch wenn die Tathandlung eine Täuschung im traditionellen Sinn ist (Erregung eines Irrtums durch Vorspiegelung falschen Tatsachen). Der Erfolg setzt in § 209 jedoch keinen Schaden – etwa eine Vermögensbeschädigung – voraus, sondern lediglich einen Vermögensvorteil. Auch aus diesem Grund ist eine Änderung des Tatbestands in Betracht zu ziehen.
V. Vermögensverfügung, Vermögensvorteil und Vermögensschaden Im estnischen Strafrecht ist allgemein anerkannt, dass die Vermögensverfügung ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 209 StGB ist.23 Schon vor dem Inkrafttreten des StGB hat das Staatsgericht ausgeführt, dass Vermögensverfügung auf der Täuschung beruht, sich im Übergang des Vermögens vom Getäuschten zum Täter äußert und schließlich zu einem Vermögensschaden des Getäuschten und zu einem Vermögensvorteil des Täters führt.24 Hierbei ist zu beachten, dass in allen Entscheidungen die Vermögensverfügung als Bindeglied zwischen Täuschung und Schaden betrachtet wird. Das bedeutet wiederum, dass auch der Vermögensschaden als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu gelten hätte.25 In späteren Entscheidungen hat das Staatsgericht seinen Standpunkt jedoch geändert und betont, dass lediglich die Vermögensverfügung, nicht jedoch der Vermögensschaden ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal sei.26 Auch in der neueren Literatur wird zwar eingeräumt, dass der Vermögensvorteil des Täters tatsächlich auch einen Vermögensschaden des Getäuschten mit sich bringt, der Schaden von dem Vermögenszustand des Getäuschten stammt und insoweit Stoffgleich-
23 Z. B.: Karistusseadustik. Komm vlj (Strafgesetzbuch. Kommentar), zusammengestellt von Sootak/Pikamäe, Tallinn: Juura 2003, § 209/13.1; Sootak, Varavastased süüteod (Verbrechen gegen das Vermögen), Tallinn: Juura 2003, S. 132 – 133, 2. Aufl (2009), VI/84 ff (auf Estnisch). Vgl z. B: Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, BT II, 28. Aufl. 2005, Rn. 514. 24 Entscheidung des Staatsgerichts Nr. 3-1-1-124-00 P, 6.1; so auch in den späteren Entscheidungen Nr. 3-1-1-122-01, P 7.2, 17; 3-1-1-63-09, P 10 u. a. 25 Z. B. Entscheidungen des Staatsgerichts Nr. 3-1-1-70-98, 3-1-1-124-00, P 6.1, 3-1-1-7505, P 14, 3-1-1-7-06, P 9, 3-1-1-87-09. So auch die Literatur: Karistusseadustik. Komm vlj (Strafgesetzbuch. Kommentar.), zusammengestellt von Sootak/Pikamäe (Fn. 23), § 209/18; Sootak (Fn. 23), VI/126 ff. 26 Entscheidungen des Staatsgerichts Nr. 3-1-1-98-09, P 13, 3-1-1-3-10, P 14, 3-1-1-72-10, P 12.
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heit zwischen Vermögensvorteil und Vermögensschaden besteht. Bestritten wird jedoch, dass das Merkmal kategorisch Teil des Betrugstatbestands ist.27 Die die oben genannten Entscheidungen des Staatsgerichts beziehen sich indessen allesamt auf die Fälle, in denen nicht nur ein Vermögensvorteil, sondern auch ein Vermögensschaden vorhanden war – so etwa in einem Rechtsstreit um die Zahlung einer vertragsmäßigen Gesamtsumme von 1 185 000 Kronen (ca 118 000 E), von welcher die Täter in Endeffekt lediglich 700 000 Kronen gezahlt hatten.28 Der Vermögensvorteil auf Täterseite in Höhe von 1 150 000 Kronen besteht ohne Zweifel, der aber ohne die Vermögensverfügung und dadurch den entstandenen Vermögensschaden für die Getäuschten nicht vorhanden wäre. Die Tatsache, dass sich im Urteil über den Vermögensschaden kein Wort findet, ändert hierin nichts. Das nächste Beispiel zeigt jedoch, dass eine Verneinung des Vermögensschadens die Frage aufwirft, ob ein Schaden ohne Vermögensverfügung überhaupt möglich ist. Ein Musikliebhaber stellte betrübt fest, dass alle Eintrittskarten für das Konzert ausverkauft sind, fälscht jedoch eine Karte, damit er das Konzert besuchen kann.29 Auf den ersten Blick scheint es sich hier um einen Betrug zu handeln, da sowohl Täuschung als auch Vermögensvorteil des Liebhabers vorhanden sind; ein Vermögensschaden des Veranstalters ist nicht zu beziffern, da er bereits alle Karten verkauft hatte und keinen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises für eine weitere Karte (z. B. 100 E) hat, da eine zusätzliche Karte ja ohnehin nicht hätte verkauft werden können. Der Irrtum der Kartenkontrolle über die Zutrittsberechtigung des Besuchers stellt keine Vermögensverfügung dar, da sie einen Besucher ohne gültige Karte bei ausverkauftem Saal nicht etwa zur Kasse leiten würde, um eine echte Karte zu kaufen, sondern vielmehr einfach abweisen würde. Wenn aber kein Schaden entstanden ist, dann bedeutet das, dass der Veranstalter nichts – und somit auch keine Schädigung – seines Vermögens vorgenommen hatte. Sollte es sich insoweit tatsächlich um einen Betrug ohne Vermögensverfügung und ohne Vermögensschaden handeln? Dann wäre es in der Tat plausibler, auf gar keinen Betrug zu erkennen. Denn kriminalpolitisch ist zu fragen, ob der Gesetzgeber unter dem Titel des 2. Unterabschnitts des StGB „Straftaten gegen das Vermögen als Ganzes“ auch diejenigen Taten für strafbar erklären wollte, die tatsächlich nicht gegen das Vermögen in dem Sinne gerichtet sind, als dass sie keine Vermögensschaden verursachen. Oder anders gefragt: Wird von § 209 StGB eine Tat für strafwürdig erklärt, die neben einer Täuschung lediglich eine Bereicherung beinhaltet, die in bloß lockerer Verbindung mit dem fremden Vermögen steht?
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Pikamäe, Mõningad kelmuse üldkoosseisu sisustamisprobleemid kohtupraktikas (Einige Probleme der Auslegung des Grunddelikts des Betrugs in der Gerichtspraxis). – Juridica 2011/ II, S. 134 – 135. 28 Entscheidung des Staatsgerichts Nr. 3-1-1-87-09. 29 Pikamäe (Fn. 27), S. 135.
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Vorliegend hat sich unser Musikliebhaber auf Kosten des Veranstalters bereichert, ohne ihm einen Vermögensschaden verursacht zu haben. Gewissermaßen liegt hier eine Spielart des luxrum ex negation cum re vor, in welcher ein luxrum zwar vorhanden ist, das jedoch nicht aus dem negatio cum re, sondern aus dem negatio cum luxrum (bezüglich des Veranstalters) stammt. Keine Saldierung – keine Stoffgleichheit. Es liegt auf der Hand, dass ein in dieser Weise bestimmtes Betrugsdelikt dem überkommenen Betrugsbild als Sonderform der Entwendung fremden Eigentums ähnelt. Der Täter erlangt einen Vermögensvorteil betreffend, in der Verbindung mit, auf Kosten usw. fremden Vermögens. Der heutige Aufbau des Betrugstatbestands zeigt unmissverständlich – und zwar sowohl nach der Wortfassung als auch nach der geläufigen Auslegung – dass es sich beim Betrug momentan um ein Bereicherungsdelikt handelt – und damit um kein Erfolgsdelikt, sondern ein Tätigkeitsdelikt. Nun mag zu Recht eingewandt werden, dass das Staatsgericht den Betrug expressis verbis als Erfolgsdelikt eingeordnet hat? Offen bliebe dann jedoch die Frage, warum dann eine Bereicherung ohne Vermögensschaden des Opfers noch als strafwürdiges Verhalten gesehen werden sollte und welche Rolle vor einem solchen Hintergrund der Vermögensverfügung zukommt. Hier sollte doch anzunehmen sein, dass der Schwerpunkt der strafrechtlichen Missbilligung eines Erfolgs auf der Handlung liegt. Die estnische Gerichtspraxis wird sich mit dieser Frage auseinandersetzen müssen. Die dogmatisch reinere und kriminalpolitisch bessere Lösung bestünde freilich darin, wenn sich der Gesetzgeber dieser misslichen Lage annehmen würde und mittels einer Angleichung des Betrugstatbestands an die Tatbestandsstruktur der übrigen Vermögensdelikte die Gelegenheit nutzen würde, das geltende Strafrecht Estlands von einer historischen Bürde zu befreien.
Sachenbetrug ohne Vermögensschaden? Strafbarkeitserweiterung des Betrugs in japanischer Rechtsprechung Von Rikizo Kuzuhara
I. Einleitung In den letzten Jahren zeigt das japanische Strafrecht sowohl bei der Gesetzgebung als auch in der Rechtsprechung eine deutliche Tendenz zur Strafbarkeitserweiterung. Ein Beispiel in der Judikatur ist die Ausdehnung des Anwendungsbereichs von den Delikten gegen Eigentum und Vermögen. Schon bei schlichten Willensverletzungen werden Diebstahl und Betrug angenommen, d. h. Diebstahl fast ohne räumliche Beeinträchtigung des Gewahrsams, also fast ohne Bruch der tatsächlichen Herrschaft über eine Sache, Betrug fast ohne Vermögensschaden. Wenn z. B. jemand bei einer elektronischen slot machine in der Weise „Jackpot“Treffer bekommt und viele Spielmünzen aus der Maschine herausnimmt, dass er mit Hilfe eines metronomartigen Zeitmessers im „richtigen“ Zeitpunkt den Start-Knopf des Münzspielautomaten drückt, liegt nach dem japanischen OGH eine Vollendung eines Diebstahls soweit vor, als die Benutzung solchen Hilfsgeräts dem Willen des Betriebsleiters des Spielsalons entgegensteht, auch wenn die Spielmaschine an sich gar nicht manipuliert wurde und der Täter noch im Spielsalon bleibt. Ein Betrug, auf der anderen Seite, wurde angenommen, wenn der Täter Urkunden, Nachweise oder andere Dinge, die an sich kaum wirtschaftlichen Wert haben, durch falsche Angaben erhält, selbst wenn das Opfer nicht über einen Vermögensverlust irrt und/oder an sich kaum einen Vermögensschaden erleidet. Die Rechtsprechung zeigt für beide Deliktstypen eine gemeinsame Tendenz zur Erweiterung der Strafbarkeit, indem sie das Delikt schon mit der Willensverletzung des Sacheninhabers annimmt. Im Folgenden beschäftige ich mich aber nur mit einigen Entscheidungen des OGH über derartige Betrugsfälle. Diese Themeneinschränkung beruht nicht nur auf Raumnot. Wolfgang Frisch, dem dieser kleine Beitrag mit den herzlichsten Geburtstagsgrüßen gewidmet ist, hat sich in seinem umfangreichen Werk auch eingehend mit den Fragen des Irrtums im Betrugstatbestand befasst1. Das 1 Schon Frisch, FS Bockelmann, 1979, S. 647 ff.; ders., FS Jakobs, 2007, S. 97 ff.; ders., FS Herzberg, 2008, S. 729 ff.
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macht dem Verfasser der folgenden Zeilen Hoffnung, dass das Thema des Beitrags den Interessen des Jubilars gerecht wird.
II. Zwei Entscheidungen des OGH Der japanische OGH hat in den letzten Jahren über den Betrug zwei bedeutsame Entscheidungen per Beschluss erlassen. In den beiden Entscheidungen zugrundeliegenden Fällen handelte es sich um ein Erlangen von Bescheinigungen, d. h. Kontobuch und Bankkarte in einem Fall und von einer Bordkarte im anderen, mit der versteckten Absicht der Weitergabe an einen Dritten. Der OGH hat in beiden Fällen Vollendung des Betrugs bejaht. 1. Bankkonto-Fall Im ersten Fall hat sich der OGH im Jahr 2007 mit dem folgenden Sachverhalt befasst2 : Der Angeklagte stellt einen Antrag auf Eröffnung eines Sparkontos auf seinem Namen. Dabei verschweigt er seine eigentliche Absicht, das Kontobuch und Bankkarte für das Konto einem anderen Phishing-Betrüger zu verkaufen. Der Bankangestellte, der den Antrag aufnimmt, gerät wegen dieser Täuschung in den Irrtum, dass es sich um eine normale Eröffnung eines vom Inhaber selbst zu benutzenden Sparkontos handelt und gibt aufgrund des Irrtums ein Kontobuch und eine Bankkarte mit dem Namen des Angeklagten heraus (im Folgenden „Bankkonto-Fall“). Aufgrund dieser Tat haben der Tatrichter und die zweite Instanz einen vollendeten Betrug angenommen und der OGH hat das Urteil bestätigt, mit der Begründung: „Einen Antrag auf Kontoeröffnung zu stellen enthält gleichzeitig die Willenserklärung, das Konto selber zu benutzen. Wenn man die Absicht, das Kontobuch und die Karte an einen Dritten weiterzureichen, bei der Stellung eines solchen Antrags verschweigt, stellt dies nichts anderes als das Täuschen im Sinne eines Betrugsdelikts dar. Es steht also außer Zweifel, dass diese Handlung mit dem Ziel, das Kontobuch und die Bankkarte zu erhalten, den Betrugstatbestand des § 246 Abs. 1 JStGB erfüllt.“ 2. Bordkarten-Fall Der OGH hat auch in einem 2010 entschiedenen ähnlichen Fall einen vollendeten Betrug angenommen3. Im zugrundliegenden Fall versuchte der Angeklagte A in einem Komplott mit B, einen Chinesen C mit dem auf den Namen B ausgegebenen Flugticket illegal nach Kanada hineinzuschmuggeln. Dem Plan von A folgend zeigt B am Eincheckschalter des Flughafens ein Flugticket auf den Namen B sowie seinen japanischen Reisepass und erhält daraufhin eine entsprechende Bordkarte. Dabei 2 OGH Besch. v. 17. 07. 2007, Saiko Saibansho Keijihanrei Shu (Entscheidungssammlung des OGH in Strafsachen, im Folgenden „OGHSt“) 61.5.521. 3 OGH Beschl. v. 29. 07. 2010, OGHSt 64.5.829.
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spiegelt er, die Absicht des Menschenschmuggels verschweigend, dem Personal des Eincheckschalters vor, dass er selbst an Bord ginge. Die Begründung des OGH lautet: Der Grund dafür, dass die persönliche Identität vom Passagier beim Check-In genau geprüft werden muss, liegt darin, dass „das Einsteigen eines anderen als desjenigen, dessen Name auf dem Flugticket steht, eine Gefahr der erheblichen Störungen hinsichtlich der Sicherheit des Fluges birgt.“ Da die betreffende Fluggesellschaft „von der kanadischen Regierung verpflichtet ist, die Ausgabe der Bordkarte angemessen abzufertigen, […] ist es für die Gesellschaft auch hinsichtlich ihres Geschäfts im Lufttransport wichtig, keine andere Person an Bord zu lassen, als die, die mit dem Flugticket registriert ist.“ Das Personal am Schalter hätte daher die Bordkarte nicht überreicht, „wenn die Absicht des Angeklagten, einen anderen an Bord zu schicken, bekannt gewesen wäre.“ Demzufolge ist „die Handlung, einen Antrag auf Überreichen der Bordkarte zu stellen, nichts anderes als die Täuschung im Sinne des Betrugs, falls die eigentliche Absicht, die Bordkarte an einen anderen weiterzuleiten, verschwiegen wird.“ 3. Gesetzliche Grundlage und Problemstellung a) § 246 JStGB: Betrug als Eigentumsdelikt Das japanische Strafgesetzbuch schreibt den Betrug, anders als das deutsche, auch in Form eines Eigentumsdelikts vor. Der § 246 Abs. 1 JStGB sieht vor: Wer einen anderen täuscht und sich dadurch eine fremde vermögenswerte Sache aushändigen lässt, wird mit Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren bestraft (sog. Sachenbetrug). § 246 Abs. 2 JStGB erfasst daneben die Handlung, durch Täuschung sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen (sog. Interessenbetrug). Vor diesem Hintergrund wird Sachenbetrug (Abs. 1) von der Rechtsprechung und der h.L. auch ohne Vermögensschaden, z. B. auch bei Zahlung eines dem Wert der Sache entsprechenden Entgelts, angenommen, weil der Wortlaut des Abs. 1 weder Vermögensschaden noch Vermögensvorteil erfordert. Die Tatbestandmerkmale des Betrugs sind daher auch bei Erhalten eines Papierstücks zumindest formell erfüllt, solange der Gegenstand unter den Begriff „Sache“ subsumiert wird und dessen Aushändigung auf einem Irrtum des Getäuschten beruht, auch wenn der ökonomische Wert der Sache gering ist und/oder das Opfer dadurch sogar einen Vermögensgewinn erzielt. b) Der ökonomische Wert der Sache, Schutz eines anderen Rechtsguts und Bezugspunkt des Irrtums Da in den oben genannten und anderen ähnlichen Fällen, in denen der Täter nur Papierstücke, Plastikkarten, Bescheinigungen oder Ausweise, die an sich ökono-
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misch kaum von Wert sind, erhält, fragt sich zum ersten, ob bei einem solchen winzigen ökonomischen Wert Betrug angenommen werden kann. Die Rechtsprechung kompensiert die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit der Sache an sich mit ihrer abstrakten ökonomischen Funktion. Dies begründet zum zweiten das Bedenken, dass die Rechtsprechung im Namen von Vermögensdelikten eine Gefährdung eines anderen Rechtsguts als des Vermögens bestrafen könnte. Bei der Übergabe sowohl des Sparbuchs und der Bankkarte als auch der Bordkarte irrt das Opfer nicht darüber, was es verliert und was es bekommt. Der Irrtum bezieht sich also nicht auf das Vermögen. Ob es ausreicht, dass das Opfer in irgendeinen Irrtum gerät, ist die dritte Frage. Ansonsten stellt sich auch die Frage danach, ob das Verschweigen des Angeklagten eine konkludente Täuschung oder eine Täuschung durch Unterlassen darstellt. Die Antwort darauf ist aber für die Strafbarkeit derartiger Taten bedeutungslos, weil der Grund, mit dem man ein konkludentes Täuschen annehmen kann, am Ende mit dem der Aufklärungspflicht der Sache nach deckungsgleich ist4. Auf diese vierte, in Japan bisher nicht so ausführlich diskutierte, Frage gehe ich daher nicht näher ein, zumal sie mit den vorigen drei Fragen nicht zusammenhängt.
III. Geringfügigkeit des Vermögenswerts des Gegenstands In beiden oben geschilderten Fällen haben die aufgrund des Irrtums ausgehändigten Gegenstände nur einen geringen Vermögenswert. Dies kann auch von den ökonomischen Funktionen der Gegenstände nur schwer ausgeglichen werden. Nach der früheren Rechtsprechung bleibt aber ein allgemeiner Spielraum für einen Freispruch wegen Bagatellität des Deliktsschadens. Im Bankkonto-Fall bekommt der Täter lediglich ein Bündel Papier und eine kleine Kunststoffkarte mit magnetischem Streifen, im Bordkarten-Fall nur ein kleines Blatt Papier. Ein Stück Papier ist zwar praktisch nichts wert, aber nicht vollkommen wertlos. Die in der Literatur vereinzelt diskutierte Fragestellung, ob eine vermögenswerte Sache oder ein Vermögensschaden überhaupt fehlt5, passt daher von vorneherein nicht. Freilich ist der Eintritt eines Vermögensschadens keine, zumindest keine ausdrückliche, Voraussetzung des Sachenbetrugs in § 246 Abs. 1 JStGB. Und der Sachenbetrug liegt nach der gefestigten Rechtsprechung auch vor, wenn der Täter für die übergebene Sache ein entsprechendes Entgelt bezahlt6. Nach der h.L. über 4
So im Ergebnis, Frisch, FS Herzberg, 2008, S. 740 ff., 744 ff. Hayashi, Keiho Kakuron (Strafrecht BT), 2. Aufl., S. 247 f. 6 RG (Taishinin) Urt. v. 25. 11. 1913, Taishinin Keiji Hanketsu Roku (Niederschriften der Urteile des Reichsgerichts in Strafsachen, im Folgenden „JRG N St“) 19.1299; RG Urt. v. 21. 11. 1923, Taishinin Keiji Hanrei Shu (Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Straf5
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Bagatellfälle kann es aber dann darauf ankommen, ob der Schaden ausreicht, um strafwürdiges Unrecht zu begründen. Auch in zwei älteren Entscheidungen des RG und des OGH wurde der Selbstverbrauch eines einzigen Tabakblatts durch einen Tabakbauern bzw. der unberechtigte Weiterverkauf von Zigaretten durch einen Gastwirt ohne Zusatzpreis nicht als strafbare Verletzung des Tabakmonopolgesetzes angesehen7. In den Fällen des Erlangens von Bescheinigungen durch falsche Angabe des Namens, der Adresse usw. oder sonstiger unwahrer Angaben haben einige Präfekturgerichte, also untere Instanzgerichte, z. B. hinsichtlich eines Führerscheins8, eines Nationalkrankenscheins9 usw. nur Delikte der Urkundenfälschung angenommen, nicht aber Betrug10. Hinsichtlich eines Reisepasses11 hat auch der OGH einmal so entschieden. Auch in solchen Entscheidungen spielt die Berücksichtigung der Geringfügigkeit von Vermögensschäden eine, wenn auch nicht entscheidende, Rolle. Auf der anderen Seite hat der OGH in einem Fall, in dem der Angeklagte unter falschem Namen mit einer Kreditanstalt einen Darlehensvertrag geschlossen und daraufhin eine „Loancard“ (Darlehenkarte) erhalten hat, den Angeklagten wegen Betrugs verurteilt12. Das Ergebnis wurde damit begründet, dass mit dieser Karte Geld an Bankautomaten abgehoben werden kann. Angesichts dieser Funktion hat die Karte einen hohen ökonomischen Wert, der über die Kosten der Plastikkarte weit hinausgeht. Daher lässt sich gut vertreten, dass derartige Karten einen höheren Vermögenswert als den eigentlichen Sachwert haben. Auch die Handlung, unter Benutzung eines fremden Namens einen Versicherungsvertrag zu schließen und einen Versicherungsschein zu erhalten, wurde vom OGH einmal – ohne nähere Begründung – als Betrug eingeordnet13. Auch diese Lösung kann man aber auf gleicher Linie verstehen. Der Versicherungsschein verkörpert die Möglichkeit, die Versicherungsleistung, deren Höhe die eingezahlten Beträge übersteigen kann, zu erhalten. sachen, im Folgenden „JRGSt“) 2.823; RG Urt. v. 23. 05. 1932, JRGSt 11.665; RG Urt. v. 07. 04. 1942, Horitsu Shinbun (Rechtszeitung) 4775.5; OGH Urt. v. 28. 09. 1959, OGHSt 13. 11. 2993; im Ergebnis anders RG Beschl. v. 21. 12. 1928, JRGSt 7.772. 7 RG Urt. v. 11. 10. 1910, JRG N St 16.1620, OGH Urt. v. 28. 03. 1957, OGHSt 11. 3. 1275. 8 Präfekturgericht Takamatsu Marugame Zweigstelle Urt. v. 16. 09. 1963, Kakyu Saibansho Keiji Saibanrei Shu (Entscheidungssammlung der niedrigeren Instanzen in Strafsachen, im Folgenden „Kakeishu“) 5.867. 9 Präfekturgericht Nagoya Urt. v. 27. 04. 1979, Keiji Saiban Geppo (Monatsbericht der Strafsachen, im Folgenden „Keigetsu“) 11.4.358. 10 Bei Registrierungsschein RG Urt. v. 14. 07. 1923, JRGSt 2.650, bei Bescheinigung für Besitz eines Gebäudes RG Urt. v. 11. 06. 1914, JRGSt 4.6.909. 11 OGH Urt. v. 25. 12. 1952, OGHSt 6. 12. 1387. 12 OGH Beschl. v. 08. 02. 2002, OGHSt 56.2.71. 13 OGH Beschl. v. 27. 03. 2000, OGHSt 54.3.402.
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Der OGH ist aber weitergegangen und nimmt auch bei Eröffnung eines Sparkontos unter falschem Namen einen Betrug an14. Das Sparbuch kann man jedoch nicht mit der Loancard gleichsetzen. Die Aushändigung eines Kontobuches stellt keine Schöpfung eines neuen finanziellen Werts seitens des Kontoinhabers dar, der die Leistung des Inhabers überwiegt. Der Kontoinhaber kann zumindest am Anfang nicht mehr bekommen als er auf das Sparkonto eingezahlt hat. Aus der Sicht der Bank ist eine Eröffnung eines Kontos sogar kein Schaden, eher ein Gewinn. Man bräuchte daher eine andere Begründung für den ökonomischen Wert des Sparbuches. Nach dem OGH besteht der Wert darin, dass man mit dem Buch Geld ein-, auszahlen und überweisen kann. Auch wenn man in der Möglichkeit der Benutzung eines Kontos einen ökonomischen Sinn sehen könnte, sind Führung und Aufrechterhalten eines Kontos immerhin in Japan im Prinzip kostenlos. Nur bei besonderen Buchungsvorgängen muss man jeweils zusätzliche Sondergebühren zahlen. Der vom OGH erwähnten Funktion des Sparbuches kommt daher kein großer Vermögenswert zu. Mögen auch die Eröffnung und das Führen eines Bankkontos sowie ein Sparbuch mit Bankkarte einen ökonomischen Wert haben, kann man diese Logik nicht auf den Bordkarten-Fall anwenden. Die Bordkarte zeigt zwar das Recht des Inhabers, an Bord gehen zu dürfen, und verkörpert daher in einem symbolischen Sinne den Wert der Beförderungsleistung. Das Entgelt dafür ist aber schon beim Kauf des Flugtickets bezahlt. Der Wert geht nicht erst mit dem Aushändigen der Bordkarte über.
IV. Vorverlagerung der Bestrafung durch die Verletzung anderer Rechtsgüter Im Bordkarten-Fall hat der OGH bei der Begründung des Irrtums der Fluggesellschaft die Sicherheit des Luftverkehrs und das Verlangen der kanadischen Regierung auf strenge Überprüfung der persönlichen Identität erwähnt. Daraus ergibt sich das Bedenken, dass hier hinter der Fassade des Betrugs eine latente Gefährdung des Luftverkehrs oder des Grenzverkehrs bestraft worden ist. Die Rechtsprechung hat früher, wie schon erwähnt, einen Betrug abgelehnt, wenn der Täter mit falschen Angaben Bescheinigungen, die an sich nur einen geringen Vermögenswert haben, wie Führerschein, Reisepass usw., erhält. Dann liege nur Urkundenfälschung vor. Im Fall der Erlangung eines Reisepasses hat auch der OGH das Vorliegen von Betrug folgenderweise verneint15 : „Personenausweise, wie Reisepässe, muss die Person, auf die der Ausweis ausgestellt ist, in ihrem Besitz halten, um sie zur Wirkung zu bringen.“ Die Strafvorschrift von § 157 JStGB (Eintragung von falschen Angaben 14 15
OGH Beschl. v. 21. 10. 2002, OGHSt 56.8.670. OGH Urt. v. 25. 12. 1952 (Fn. 8).
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in Reisepässen usw.) erfasse „daher naturgemäß die Tatsache, sich eine falsch eingetragene Bescheinigung aushändigen zu lassen.“ Diese Tatsache mache gesondert kein Delikt des Betrugs aus. Steuerhinterziehung wird übrigens nach ständiger Rechtsprechung nur wegen der Verletzung einer der Strafvorschriften in den verschiedenen Steuergesetzen bestraft, nicht aber wegen Betrugs16. Dies gehört zu demselben Problemkreis, wenngleich es hier nicht um Sachen, sondern abstrakte Vermögensvorteile geht. Die Strafbarkeit wegen Betrugs kann natürlich nicht nur dadurch ausgeschlossen werden, dass es andere gleichzeitig anwendbare Strafvorschriften gibt. Die Strafandrohungen bei der Urkundenfälschung (Eintragung von falschen Angaben im Reisepass usw. bis zu 1 Jahr) und bei der Steuerflucht (bis zu 5 Jahren) sind niedriger als beim Betrug (bis zu 10 Jahren). Die Lösungen der früheren Rechtsprechung sollten daher folgenderweise gedeutet werden: Angesichts der Geringwertigkeit des Vermögenswerts des Reisepasses als Papierbündel tritt die Strafwürdigkeit der Vermögensverletzung hinter der so niedrig eingeschätzten Strafbarkeit der Verletzung der Richtigkeit staatlicher Ausweisdokumente zurück. Steuerhinterziehung wird deswegen weniger hart als Betrug bestraft, weil die staatliche Steuergewalt hinsichtlich des Vermögens durch andere verwaltungs- oder zivilrechtliche Zwangsmaßnahmen vielfältig geschützt ist und dabei durch die Steuerhinterziehung beinahe ausschließlich hoheitliche Befugnisse verletzt werden. In beiden Fällen ist es nicht erforderlich, die Herbeiführung minimaler Vermögensschäden, die die von den jeweiligen Strafvorschriften erfasste Verletzung des öffentlichen Rechtsguts notwendig begleiten, gesondert zu bestrafen. Die zweite Instanz17, die der Entscheidung des OGH im Bankkonto-Fall vorangegangen ist, hatte einen Betrug mit folgender Begründung verneint: Das Kontobuch sei lediglich eine ausweisähnliche Urkunde und habe keinen selbständigen ökonomischen Wert in der Beziehung mit der Bank. Die Eröffnung eines Bankkontos im Namen von einem anderen oder von einer erfundenen Person werde verboten, um die Kredit- und Finanzordnung zu regulieren. Nach dieser Betrachtungsweise dürfte der Beschluss des OGH im BankkontoFall18 so ausgelegt werden, dass der OGH im Gegensatz zur gerade erwähnten zweiten Instanz mit dem § 246 Abs. 1 JStGB eine Gefährdung eines anderen Rechtsguts als das Vermögen oder vermögenswerte Sachen bestrafen wollte. Für diese Auslegung spricht auch, dass es im Zeitpunkt der Tathandlung die Strafvorschrift im heutigen Geldwäschegesetz (§ 26 des Gesetzes zur Verhütung der Verlagerung vom Verbrechensertrag) noch nicht gab. Nach der Vorschrift wird mit Geldstrafe bis zu 500.000 Yen bestraft, wer Sparbuch oder Bankkarte von einem Bankkonto erhält,
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RG Urt. v. 25. 05. 1911, RGNSt 17.959, RG Urt. v. 28. 10. 1915, RGNSt 21.1745. Oberes Landesgericht Fukuoka Urt. v. 25. 06. 2001 in: OGHSt 61.5.521. 18 OGH Urt. v. 17. 07. 2007 (Fn. 2).
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ausgehändigt bekommt oder annimmt und dabei die Absicht verschweigt, das Konto einem anderen zur Nutzung zu überlassen. Denn der Strafgrund dieser Vorschrift liegt in der Gefährdung der Finanzordnung sowie der Ermittlungsverfahren der Strafjustiz, also gilt für eine Zuwiderhandlung das Gleiche wie bei Steuerhinterziehung und bei Urkundenfälschung. Diese Strafvorschrift spricht also zumindest heutzutage völlig dagegen, im entsprechenden Fall (auch) einen Betrug anzunehmen. Es gibt keinen Grund für die Anwendung der Strafandrohung des Betrugs (bis zu 10 Jahre), soweit es eine andere Strafvorschrift gibt, die die Tathandlung erfasst und sie mit einer viel niedrigeren Strafe bedroht, zumal der Vermögensschaden ganz geringfügig ist. Es liegt nicht anders, auch wenn die Vorschrift die Verhaltensweise nicht erfasste, in der man direkt von der Bank ein Sparbuch usw. unter eigenem Namen erhält19. Dieser Auslegung nach steht jene Handlung im Bankkonto-Fall im nicht strafbaren Vorbereitungsstadium der Zuwiderhandlung gegen § 26 des Gesetzes zur Verhütung der Verlagerung vom Verbrechensertrag. Die Strafvorschrift an sich stellt schon eine vorverlagerte Bestrafung der Geldwäsche in ihrem Vorbereitungsstadium dar. Bestraft man dabei das Erhalten des Sparbuchs wegen Betrugs, so kann man darin kaum etwas anderes als eine doppelt vorverlagerte Bestrafung der Geldwäsche mit der Betrugsstrafe sehen.
V. Irrtum über die vermögensbezogene Tatsache Sowohl im Bordkarten-Fall als auch im Bankkonto-Fall hat das Opfer gar nicht in Bezug auf das Vermögen geirrt. Im Bankkonto-Fall begründete der OGH die Annahme der Täuschung und des Irrtums nur dadurch, dass das Opfer das Kontobuch und die Bankkarte nicht ausgehändigt hätte, wenn ihm die Absicht des Täters bekannt gewesen wäre. Auch im Bordkarten-Fall wurde ergänzend erklärt, dass es institutionell verboten sei, wissentlich eine Bordkarte zu überreichen, wenn keine Identität zwischen dem angegebenen Bordkarteninhaber und dem wirklichen Passagier besteht. Diese Formulierung, „ohne Täuschung, kein Überreichen“ wird in der Rechtsprechung insbesondere bei Fällen oft verwendet, in denen man kaum oder nur schwierig einen Vermögensschaden annehmen kann, z. B. im Fall des sog. Kreditkartenbetrugs, wo der Täter seine eigene Karte ohne Fähigkeit oder Willen der nachherigen Kreditzahlung oder eine Karte eines anderen mit Einwilligung des Inhabers benutzt. Diese Urteilsformel drückt etwas mehr als die Kausalität im Sinne der Bedingungstheorie zwischen Täuschung und Vermögensschaden aus. Gemeint ist, dass jeder Irrtum überhaupt, egal worüber, insoweit ausreicht, um einen Betrug anzunehmen, als der Wille der Sachenverfügung seitens des Opfers davon bestimmt oder zu19
Nishida, Keiho Kakuron (Strafrecht BT), 6. Aufl. 2012, S. 207.
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mindest stark beeinflusst ist. Es geht dabei nicht um die Qualität des Irrtums, sondern nur darum, dass das Opfer tatsächlich irgendeinem Irrtum unterliegt. Hier wird die Deliktssubstanz des Betrugs nicht in der Vermögensverletzung durch die Verlagerung der Sache, sondern in der Willensverletzung durch Lügen nur gelegentlich einer Verlagerung der Sache verstanden. Mit anderen Worten wird das Schutzgut des § 246 Abs. 1 JStGB vom Vermögen oder dem Gewahrsam an vermögenswerten Sachen in die freie Willensbestimmung bei der Verfügung über Sachen geändert. Es gibt höchstrichterliche Entscheidungen, die auch bei anderen Fallgestaltungen als der Erlangung von Urkunden durch eine ähnliche Betrachtung einen vollendeten Betrug angenommen haben. Wer einen Berechtigten zur Eintragung einer Höchstbetragshypothek auf eine unbewegliche Sache unter Bezahlung eines entsprechenden Entgelts, aber mit der Angabe eines falschen Zwecks dieses Rechtsgeschäfts, veranlasste20, wurde wegen vollendeten Betrugs bestraft. Auch bei Nutzung einer fremden Kreditkarte mit Einwilligung des Karteninhabers wurde die Erfüllung des SachenBetrugstatbestands bejaht21. Ansonsten könne der Empfang eines per Post zugestellten Mahnbescheids in Folge eines täuschenden Verhaltens des Empfängers einen Betrug darstellen22. Auch diese drei Entscheidungen sind in der Richtung zu verstehen, dass der OGH den Betrug als Kombination irgendeiner Lüge und einer Sachenverlagerung ansieht, also bei der Annahme eines Betrugs lediglich auf die Willensverletzung bei der Sachenverfügung abstellt. Das Verständnis des Betrugs als Willensverletzung wäre unter dem Strafgesetzbuch, das den Betrug auch in Form eines Sachen-Betrugs, also eines Eigentumsdelikts, vorsieht, noch möglich. Es liegt insoweit nahe, bei einer Verletzung der Willensfreiheit unter dem Gesichtspunkt, dass das Eigentumsrecht zur freien Verfügung über eine Sache berechtigt, einen Betrug zu bejahen. Auch im JStGB muss der Betrug jedoch zumindest gleichzeitig als ein Vermögensdelikt verstanden werden, weil es § 246 Abs. 2 gibt. Die Rechtsprechung, die schon bei jeder Art von Irrtum, egal worauf er sich bezieht, einen Betrug annimmt, ist, auch ganz bescheiden ausgedrückt, zu weit gegangen. Gegen die Tendenz der Rechtsprechung verlangt ein einflussvoller Teil der Literatur23, dass sich der Irrtum auf eine ökonomische, rechtsgutsbezogene Tatsache bezieht. Diese Auffassung verdient insoweit Zustimmung, als sie den Bezugspunkt des 20
OGH Beschl. v. 07. 07. 2004, OGHSt 58.5.309. OGH Beschl. v. 09. 02. 2004, OGHSt 58.2.89 hat im Fall von irriger Annahme der Einwilligung des Karteninhabers den Vorsatz des Betrugs nicht ausgeschlossen. 22 OGH Beschl. v. 30. 11. 2004, OGHSt 58. 8. 1005 hat im Ergebnis aufgrund des Fehlens von Aneignungsabsicht den Betrug nicht angenommen. 23 Hayashi, Hanrei Times, 1272.65; Yamaguchi, Shinhanrei kara mita keiho (Strafrecht aus der Sicht der neueren Rechtsprechung), 2. Aufl. 2009, S. 229 usw. im Anschluss an die deutsche sog. Theorie des rechtsgutsbezogenen Irrtums, die in der Diskussion über die Wirksamkeit der Einwilligung entwickelt wurde. 21
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Irrtums überhaupt begrenzen will. Allerdings liefert das Begrenzungskriterium der Rechtsgutsbezogenheit keine scharfe und stabile Grenzlinie, weil die „Rechtsgutbezogenheit“ ein dehnbarer Begriff ist, dessen Umfang man zwar nicht ganz, aber ziemlich beliebig bestimmen kann. Ein Teil der Anhänger dieser Lehre relativiert seine Begrenzung und befürwortet im Ergebnis die Falllösung der Rechtsprechung. Für ein privates Unternehmen, wie Bank, Fluggesellschaft usw., gehöre es auch zum „ökonomischen“ Interesse, nicht gegen Gesetze zu verstoßen, um das Vertrauen der Allgemeinheit zu erhalten24. Zudem stelle auch die Beweisfunktion der Bescheinigungen einen Vermögenswert dar25. Dies läuft aber auf einen Etikettenschwindel hinaus. All diese Umstände beziehen sich zwar irgendwie auf das Vermögen im Allgemeinen, jedoch nicht direkt auf das Vermögen des Getäuschten. Es steht nicht zur Verfügung des Getäuschten, ob sein geschäftliches Verhalten mit den öffentlichen Vorschriften über Bankkonten oder den Luftverkehr konform ist. Bei diesem Versuch der theoretischen Begründung für die Lösung des OGH ist schon der Ausgangspunkt der Gleichstellung des Umfangs des die Strafbarkeit des Betrugs begründenden Irrtums mit dem Wirksamkeitskriterium der Einwilligung fraglich26. Außerdem zeigt diese Auffassung von der Kehrseite her, dass im Bankkonto- und im Bordkarten-Fall solche Zuwiderhandlungen gegen andere Gesetze zumindest (mit-)bestraft sind, so dass es auf die Lehre von der Wirksamkeit der Einwilligung nicht ankommt. Macht die Unkenntnis in Bezug auf derartigen „Interessen-Verluste“ die Sachenverfügung bzw. Einwilligung unwirksam, so umfasst schon das Rechtsgut „Vermögen“ auch diese Interessen. Zumindest in dieser Fallgruppe spielt das Inbezugnahme der Lehre vom rechtsgutsbezogenen Irrtum keine sachliche Rolle.
VI. Schluss Die Umwandlung des Betrugs in die schlichte Willensverletzung ist dogmatisch nicht haltbar. Auch rechtspolitisch gesehen wird heutzutage kein Bedarf mehr begründet, angesichts inaktiver Gesetzgebung Strafbarkeitslücken bei neu auftretenden Verhaltensweisen mit der „elastischen“ Auslegung der gegebenen Strafvorschrift zu schließen, weil die japanische Strafgesetzgebung im letzten Jahrzehnt viel aktiver geworden ist, als in den Jahrzehnten zuvor. Die Rechtsprechung sollte zum Stand der Entscheidung, die beim Erhalten des Reisepasses aufgrund des falschen Antrags keinen Betrug angenommen hat, zurückkehren. Der bisher skizzierten Tendenz der Rechtsprechung entsprechend hat man neuerdings in einem Fall, der eigentlich Tierquälerei betrifft, einen Betrug angenommen. In diesem Fall erhielt der Täter eine Katze von einem ehrenamtlichen Tierschützer, 24
Hayashi (Fn. 23); Yamaguchi (Fn. 21), S. 234. Yamaguchi (Fn. 23), S. 231. 26 Vgl. Frisch, FS Bockelmann, 1979, S. 653 f. 25
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der verwilderte, ausgesetzte junge Katzen einsammelt, füttert und an neue Tierhalter vermittelt, wobei der Täter seine Absicht, die Katze zu quälen, verschwieg27. Dabei wurde § 246 Abs. 1 JStGB ausgenutzt, um die in einem Sondergesetz enthaltene relativ niedrige Strafandrohung der Tierquälerei28 angesichts der Schwere des Unrechts im konkreten Fall zu ersetzen. In den Fällen, in denen es vielleicht nicht einmal zur Anklageerhebung kommt, ist das Problem ernsthafter. In diesem Jahr wurden mehrere hochrangige Mitglieder der Verbrecherbande „Yakuza“ wegen des Interessenbetrugs einmal im April in Chiba und noch einmal im Juli in Osaka festgenommen. Der Verdacht lautete, dass sie jeweils auf den Golfplätzen, wo Yakuza-Mitglieder nicht spielen dürfen, ihre Zugehörigkeit zur Verbrecherbande verschwiegen hatten. In einem älteren Fall wurde ein Ex-Mitglied der Aum-Sekte wegen des Verdachts des Interessenbetrugs festgenommen, weil er dem Vermieter bei Abschluss des Mietvertrags nicht offenbart hatte, dass er früher zu der „terroristischen“ Gruppe gehörte. In diesen Fällen handelt es sich offenbar um eine de facto Sicherheitsverwahrung für das Gemeinwohl oder um eine Festnahme aufgrund eines anderen Tatvorwurfs. Daraus ergibt sich, dass schon die Lösung des OGH eine zweckentfremdete Verwendung einer Strafvorschrift ist.
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Präfekturgericht Yokohama Urt. v. 23. 05. 2012 LEX/DB25481421. Gesetz betreffend den Tierschutz und der Kontrolle von Haustieren § 44: „Wer ein geschütztes Tier ohne Berechtigung verletzt oder tötet, wird mit Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu einer Million Yen bestraft.“ 28
Der Straftatbestand der Untreue als zentrales Wirtschaftsdelikt der entwickelten Industriegesellschaft Von Bernd Schünemann Ein Beitrag aus dem Besonderen Teil zu Ehren von Wolfgang Frisch, dem seit den elf gemeinsamen Mannheimer Jahren freundschaftlich verbundenen und hochgeschätzten Kollegen, mag zunächst überraschen. Denn die vielen positivistischen Zufälligkeiten und dogmatischen Quisquilien, die die Interpretation der einzelnen Deliktsbeschreibungen beherrschen, können seinen stets auf das Allgemeine und Grundsätzliche zugreifenden rechtswissenschaftlichen Impetus selten reizen1. Aber jede Betrachtung des Besonderen findet natürlich auf den Fundamenten der strafrechtlichen Unrechtslehre statt, die er in seinen großen Monographien zum Vorsatz und zum tatbestandsmäßigen Verhalten gelegt hat. Um dem Jubilar meine Reverenz zu erweisen, möchte ich deshalb nachfolgend den Versuch unternehmen, den Bogen von einer in ihrer Allgemeinheit kaum zu übertreffenden These bis hin zu speziellen Auslegungsfragen des scheinbar definitiv durchgepflügten und dennoch vor dem prinzipiellen Hintergrund neue Perspektiven offenbarenden Untreuetatbestandes zu schlagen.
I. Eine Hypothese zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und ihrer typischen Verbrechen 1. Die Formen des menschlichen Verhaltens sind einem ständigen Wandel unterworfen, dessen Gesamtheit die Kultur einer Gesellschaft ausmacht. Das gilt gleichermaßen für das den herrschenden Wertanschauungen entsprechende Verhalten wie für das ihnen widersprechende Verhalten, das die Soziologen abweichendes Verhalten nennen und die Juristen Verbrechen. Als Ausgangspunkt meiner Überlegungen möchte ich für das Strafrecht eine ähnlich umfassende Entwicklungshypothese formulieren, wie sie Karl Marx für die menschliche Gesellschaft überhaupt aufgestellt hat („Von der Urhorde über die verschiedenen Klassengesellschaften bis zur klassen-
1 Was nicht heißen soll, dass er nicht auch auf diesem Feld richtungweisende Beiträge erbracht hat, exemplarisch Frisch, Verwaltungsakzessorietät und Tatbestandsverständnis im Umweltstrafrecht, 1993; ders., Konkludentes Täuschen, FS Jakobs, 2007, S. 97 ff.; ders., Grundfragen der Täuschung und des Irrtums beim Betrug, FS Herzberg, 2008, S. 729 ff.
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losen Gesellschaft“2) oder Henry Sumner Maine für das Recht („Vom Statusrecht zum Kontraktrecht“3). Um nicht offensichtlicher Hybris zu verfallen, muss ich diese Entwicklungshypothese freilich auf die Frage konzentrieren, welches jeweils das für eine bestimmte Epoche der menschlichen Gesellschaft typische, sie charakterisierende Verbrechen ist. Ich teile dafür die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft seit dem Untergang der antiken Welt ganz grob in drei Epochen ein, in die vorindustrielle, die bürgerlich-industrielle und die postmodern-spätindustrielle Gesellschaft, und stelle die These auf, dass für die erste Epoche der Tatbestand des Raubes das kennzeichnende Verbrechen war, für die zweite Epoche derjenige des Diebstahls und für die gegenwärtige Epoche derjenige der Untreue. a) Wer etwas haben wollte, was ihm nach den offiziellen Normen der Gesellschaft nicht zustand, musste es sich in der ersten Epoche rauben, d. h. durch Gewaltausübung verschaffen. Raub ist ursprünglich ein allgegenwärtiges, „ubiquitäres“ Phänomen, welches alle denkbaren Besitzobjekte erfasst, von der die höchste Macht symbolisierenden Krone bis hin zu den (in archaischen Gesellschaften regelmäßig bloße Objektqualität aufweisenden) Frauen4. Die Unterdrückung des Raubes zählte zu den wichtigsten Aufgaben des vorindustriellen Staates, und in der Subkultur der unterdrückten Bevölkerung wird noch lange das Bild des edlen Räubers tradiert, ich erinnere nur an Robin Hood und den bayerischen Hiasl5. b) Mit der in der Industriegesellschaft einsetzenden Massenproduktion von Gütern avanciert der Diebstahl zum charakteristischen Delikt. Die Masse der von einzelnen Personen besessenen Güter ist jetzt so riesig, dass sie nicht mehr durch Ausübung einer persönlichen Sachherrschaft kontrolliert werden kann. Die Güterverteilung beruht auf einem ganz abstrakten Eigentumsbegriff, ihre Missachtung erfordert normalerweise keine Gewalt mehr, sondern nur noch die heimliche Wegnahme. Der Eigentumsbegriff als organisatorisches Zentrum der kapitalistischen Gesellschaft ist auf einen der Idee nach lückenlosen Schutz durch das Strafrecht angewiesen. Ein be2
Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke Bd. 13, S. 8 ff. Maine, Ancient Law, 1861. 4 Bei den Schilluk im Nilbecken geht die Würde des Reth („König“ für spirituelle Fragen, namentlich fürs Regenmachen) dadurch auf dessen ältesten Sohn über, dass dieser ihn erwürgt, sobald ihm von einer Haremsfrau berichtet wird, dass sein Vater bei der zum Regenmachen notwendigen Ausübung des Koitus versagt hat (Banholzer/Giffen, The Anglo-Egyptian Sudan, 1905, S. 199; Evans-Pritchard, The Frazer Lecture von 1948 „The divine Kingship of the Shilluk of the Nilotic Sudan“, Nachdruck von Hau, 2011, Journal of Ethnographic Theory I (1), S. 407, 414). Zu der Zeit, als Edward de Veres (alias Shakespeare) „schottisches Stück“ Macbeth spielt, also im 11. Jahrhundert, erfolgte die Nachfolge im Königtum durch eine die Tötung des vormaligen Königs einschließende Machtergreifung (s. Whalen, in: Shakespeare „Macbeth“, Llumina press, Cape Cod 2007, S. 54). Zum „Raub der Sabinerinnen“ als berühmtestem Exempel kollektiven Frauenraubs s. Livius, Ab urbe condita, liber I, 9 – 13. 5 Näher Hansen, Das war der Bayerische Hiasl. Deutschlands berühmtester Wildschütz und Räuberhauptmann, 1978; Plate, Nehmen was keinem gehört – Wilderer und Rebell: Der bayerische Hiesel, 1989. 3
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rühmtes Beispiel hierfür bietet das preußische Gesetz über die Bestrafung des Forstdiebstahls, das dem jungen Karl Marx den Anlass für seine erste große Kritik des Kapitalismus geliefert hat6. c) Scheinbar ist der Diebstahlstatbestand auch heute noch das charakteristische Delikt unserer postmodernen, spätindustriellen Gesellschaft. Denn wie ein Blick auf die Kriminalstatistik zeigt, entfällt etwa die Hälfte der gesamten registrierten Kriminalität in Deutschland auf den Diebstahl und seine Qualifikationstatbestände7. Aber eine solche rein quantitative Betrachtung sagt noch nichts darüber aus, welche Deliktsart das Fundament der jeweiligen Gesellschaft bedroht. In der gegenwärtigen Epoche, die durch die in riesigen Dimensionen global ablaufende Produktion eines unermesslichen Plunders gekennzeichnet ist, die den ständigen Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Erde zur Kehrseite hat, ist die zivilrechtlich unerlaubte Aneignung des herumliegenden Plunders (strafrechtlich Diebstahl genannt) im Kern weitaus weniger sozialschädlich als die zwecks Produktion dieses Plunders erfolgende Umweltzerstörung8. Zugespitzt könnte man sagen, das Delikt des Diebstahls ist für die spätindustrielle Gesellschaft immer noch quantitativ bemerkenswert, qualitativ aber bedeutungslos. In qualitativer Hinsicht fällt nämlich die die heutige Organisation der Volkswirtschaft kennzeichnende Trennung von Eigentum und Verwaltung entscheidend ins Gewicht, die wiederum eine Folge der Entwicklung zum Großunternehmen als der beherrschenden ökonomischen Organisationsform ist9. Alle nicht völlig unbedeutenden Wirtschaftsunternehmen sind heute in Form einer juristischen Person organisiert, deren Kapital von zahlreichen Anteilseignern aufgebracht wird, die an dem zu erwirtschaftenden Profit entsprechend ihrer Kapitalquote beteiligt sind. Der Geschäftsbetrieb und damit die Herrschaft über das eingesetzte Kapital liegt aber vollständig in den Händen angestellter Organe, die bei größeren Wirtschaftsunternehmen jedoch wiederum selbst nur eine Leitungsfunktion ausüben können, während die konkrete Vermögensverwaltung in der hierarchisch aufgebauten Unternehmensstruktur in den Händen nachgeordneter Organe liegt10. So, wie das Auseinanderfallen von Eigentumszuständigkeit und Vermögensverwaltung das 6
In einer im Jahr 1842 erschienenen Artikelserie in der Rheinischen Zeitung; nachgedruckt in Marx-Engels-Werke Bd. 1, S. 109 ff. 7 Laut polizeilicher Kriminalstatistik 2011 entfallen von einer Gesamtzahl von knapp 6 Mio. gemeldeter Straftaten ca. 3 Mio. Straftaten auf Diebstähle, s. Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, S. 29. Lange Zeit waren es zwei Drittel! 8 Dazu bereits Schünemann, GA 1994, 201, 206 ff.; ders., FS Triffterer, 1996, S. 437 ff.; ders., in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, S. 15, 26 ff. 9 Dazu Chandler, Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, 1990, S. 23 ff.; Horn/Kocka (Hrsg.), Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und 20. Jahrhundert, 1979; North (Hrsg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2005, S. 247 ff.; Pierenkemper, Wirtschaftsgeschichte. Die Entstehung der modernen Volkswirtschaft, 2009, S. 146 ff. 10 Eindringlich Rotsch, Individuelle Haftung in Großunternehmen – Plädoyer für den Rückzug des Umweltstrafrechts, 1998, S. 23 ff., 71 ff.; ders., wistra 1999, 321 ff., 368 ff., jeweils m.z.w.N.
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kennzeichnende Moment der heutigen Volkswirtschaft bildet, ist deshalb die ungetreue Vermögensverwaltung und damit § 266 StGB das charakteristische Wirtschaftsverbrechen der Gegenwart. 2. Dieses Verständnis des Tatbestandes der Untreue als des charakteristischen Wirtschaftsverbrechens der dritten, erst im Laufe des 20. Jahrhunderts eintretenden Epoche lässt es einleuchtend erscheinen, dass weder im Common Law noch im französischen Code Pénal von 1810 ein allgemeines Konzept der Untreue entwickelt wurde und dass dementsprechend auch die Gesetzbücher der romanischen Länder, die allesamt unter französischem Einfluss entstanden sind, diese Lücke bis heute nicht vollständig geschlossen haben. Das relativ spät entstandene deutsche Strafgesetzbuch von 1871 hat dagegen einen erstaunlich modernen Straftatbestand der Untreue geschaffen11, weshalb das japanische Strafgesetzbuch von 1907 dieses Modell übernommen und ihm sogar eine hochinteressante sprachliche Fassung gegeben hat12, die die 1871 in Deutschland verwendete, enumerative Fassung durch eine allgemeine Beschreibung des Unrechts verbesserte und der in Deutschland 1933 vorgenommenen Modernisierung im Abstraktionsgrad überlegen ist. Der damit thematisierten Frage, wie ein epochenspezifisches Schutzbedürfnis durch eine optimale legislatorische Lösung befriedigt werden kann, möchte ich mich als erstes zuwenden.
II. Sackgassen der Gesetzgebung Hier möchte ich zunächst diejenigen Wege und Aushilfs-Konstruktionen untersuchen, die nach meiner Überzeugung nicht zum Ziele führen. Und das setzt wiederum voraus, dass ich zu allererst das spezifische Unrecht der Untreue analytisch herausarbeite, bevor die Möglichkeiten zur Schaffung eines dieses Unrecht erfassenden Straftatbestandes betrachtet werden. 1. Zu Beginn dieser Untersuchung muss ein Blick auf die Grundprobleme des strafrechtlichen Vermögensschutzes geworfen werden. Das Vermögen als strafrechtliches Rechtsgut wirft deshalb erhebliche Probleme auf, weil es anders als die Persönlichkeitsrechtsgüter von Leben, Körper und Freiheit und auch anders als das Rechtsgut des Eigentums keinen präzise abgrenzbaren Schutzbereich besitzt. Dass der Mensch an seinem Leben, seiner Gesundheit und seiner Bewegungsfreiheit prinzipiell nicht verletzt werden darf, folgt aus den in allen Kulturstaaten anerkannten Menschenrechten. Auch das Eigentum ist in dem Umfange, in dem es von der jeweiligen Rechtsordnung anerkannt wird, absolut. In den Worten von § 903 BGB gibt es 11 Zur Entstehungsgeschichte näher LK-StGB/Schünemann, 11. Aufl. 1998, § 266 vor Rn. 1. 12 § 247 jStGB lautete: „Wer die Angelegenheiten eines Anderen besorgt und in der Absicht, sich oder einem Dritten einen Vermögensvorteil zu verschaffen oder den Anderen zu beschädigen, eine seine Befugnis überschreitende Handlung vornimmt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bis zu eintausend Yen bestraft.“ (Strafgesetzbuch für das Kaiserlich japanische Reich vom 23. April 1907, übersetzt von Shigema Oba, Berlin 1908).
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dem Eigentümer einer Sache das ausschließliche Recht, mit der Sache nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließen. Ganz anders beim Vermögen, verstanden als die Summe der geldwerten Güter einer Person unter Einbeziehung solcher Gewinnchancen, die sich noch nicht zu einem festgefügten Eigentumsrecht verdichtet haben13. In einer Wettbewerbswirtschaft ist es selbstverständlich, dass ein in diesem weiten Sinne verstandenes Vermögen keinen strafrechtlichen „Rundumschutz“ genießen kann. Denn ein großer Teil der wirtschaftlichen Transaktionen betrifft die sog. Nullsummenspiele, bei denen der Gewinn des einen den Verlust des anderen bedeutet und die in einem freien Wettbewerb gerade nicht unterdrückt, sondern angeregt werden14. Die außerordentlich komplizierte Aufgabe des Gesetzgebers im Wirtschaftsstrafrecht besteht deshalb darin, die auch in einer Wettbewerbswirtschaft zu respektierenden Schutzbereiche festzulegen, die sozialschädlichen Angriffsformen auf diese Schutzbereiche zu ermitteln und schließlich die nach dem Grundsatz „ultima ratio zum Rechtsgüterschutz“15 legitimen strafrechtlichen Verbote zu fixieren. Dementsprechend ist das Eigentumsrecht gegen jede Verletzung von außen durch die Straftatbestände des Diebstahls, der Unterschlagung und der Sachbeschädigung rundum geschützt worden. Das Vermögen ist gegen zwei besonders gefährliche Angriffsformen „von außen“ geschützt worden, die auch in einer Wettbewerbswirtschaft vom Vermögensinhaber nicht geduldet werden müssen: Der Betrugstatbestand schützt den Vermögensinhaber dagegen, dass er durch eine Täuschung zum bloßen Werkzeug einer Selbstschädigung gemacht wird, ähnlich
13 Die möglichen Nachw. dazu sind Legion, vgl. nur aus der Rspr. RGSt 44, 230, 232 f.; 66, 281, 285; BGHSt 1, 262, 264; 2, 365; 3, 99, 102; 15, 342, 343 f.; 16, 220, 221; 26, 346, 347; 34, 199, 203; BVerfG 126, 170, 200; aus der Literatur Schönke/Schröder/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 266 Rn. 39, 78 ff.; SK-StGB/Hoyer, Loseblattausgabe, 123. Lfg. (Juli 2010), § 266 Rn. 94; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 263 Rn. 90; zu der modernen Form des institutionellen oder integrierten Vermögensbegriffs LK-StGB/Tiedemann, 11. Aufl. 1998, § 263 Rn. 132; MK-StGB/Hefendehl, 2006, § 263 Rn. 334 ff.; LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 165, alle m.z.w.N. 14 Dazu Holler/Illing, Einführung in die Spieltheorie, 7. Aufl. 2009, S. 55 f.; Luce/Raiffa, Games and Decisions, 7. Aufl. 1967; MacMillan, Game Theory in International Economy, 2002, S. 5 ff.; Neumann/Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, 2007, S. 220 ff.; Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 456. 15 Dazu statt aller Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 1 ff.; ders., FS Hassemer, 2010, S. 573 ff.; Schünemann, FS Roxin I, 2001, S. 1, 26 ff.; ders., in: Hefendehl u. a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 133 ff.; ders., in: v. Hirsch u. a. (Hrsg.), Mediating Principles, 2006, S. 18 ff. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 120, 224, 241 ff. eine verfassungsrechtliche Dignität des Rechtsgutsbegriffs auf der Oberflächenstruktur der Entscheidung verneint, aber in der Tiefenstruktur eingeräumt, indem nach tragfähigen Rechtsgütern gesucht wird und diese im Rahmen des legislatorischen Beurteilungsspielraums bejaht werden, s. aaO. S. 238 ff. und dazu Hörnle, NJW 2008, 2085; Roxin, StV 2009, 545 f.; Schünemann, FS Amelung, 2009, S. 303, 304 Fn. 3; Kühl, FS Stöckel, 2010, S. 117, 129. Bezeichnenderweise hat es auch in seiner unten noch genauer auszuwertenden Untreueentscheidung weiterhin die ultima-ratio-Formel benutzt (BVerfGE 126, 170, 195, 197), dabei aber die Frage offen gelassen „ultima ratio wozu“?
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wie bei einem Diebstahl in mittelbarer Täterschaft16. Und dasselbe gilt für den Schutz gegen Zwang, also gegen Gewalt und unerträgliche Drohungen, durch den Tatbestand der Erpressung des § 253 StGB. Genau dieser Schutz versagt nun aber in einer Volkswirtschaft, in der die Stellung als Vermögensinhaber und die tatsächliche Vermögensverwaltung auseinanderfallen. Binding hat dies schon vor über 100 Jahren in folgende klassische Worte gekleidet: „In einer großen Anzahl von Fällen ist, wer auf Unredlichkeit denkt, in der glücklichen Lage, von Rechts wegen über fremdes Vermögen verfügen zu können. Dieses Vermögen findet dann seinen Feind gerade in der Person, der es von Rechts wegen unterstellt ist, und gegen diese Personen bedarf der Inhaber des Vermögens energischen Schutzes. Ihr spezifisches Mittel, fremdes Vermögen zu schädigen, ist der Missbrauch der Machtvollkommenheit, die ihnen vom Gesetz oder vom Vermögensinhaber in dessen Interesse eingeräumt worden ist.“17. Dass dieser notwendige Schutz allein vom Strafrecht geleistet werden kann und dass hier also das Strafrecht nicht nur die ultima ratio, sondern sogar die einzige („sola“) ratio ist, ergibt sich daraus, dass alle sonst üblichen faktischen und zivilrechtlichen Schutzvorkehrungen gegenüber derjenigen Person versagen, der der jederzeitige Zugriff auf das Vermögen eines anderen von Rechts wegen eröffnet ist. Das Zivilrecht wird hier geradezu zum Vehikel der Tatbegehung, so dass eine viktimodogmatische Analyse hier in praktischer Stringenz die Unverzichtbarkeit des strafrechtlichen Schutzes beweist18. Die kriminalpolitische Aufgabe des Untreuetatbestandes besteht also in dem legitimen und nur durch das Strafrecht zu leistenden Schutz des Vermögensinhabers gegen eine von innen heraus, das heißt von einer in seinem Lager stehenden Person bewerkstelligte Schädigung. 2. Dieses spezifische Schutzbedürfnis kann durch die traditionellen Straftatbestände zum Schutz des Eigentums nicht befriedigt werden. Dies zeigt sich an einer ganzen Reihe von Strafgesetzbüchern, die zwar den „Missbrauch des Vertrauens“ bestrafen, darunter aber nur die Zueignung einer dem Täter anvertrauten fremden beweglichen Sache erfassen, also nur Eigentumsschutz und keinen Vermögensschutz bewirken. Die Unzulänglichkeit einer solchen Vorschrift ist in Deutschland erstmals im sächsischen Strafgesetzbuch im Jahre 1855 erkannt worden, wo die eigenmächtige Verfügung eines Geschäftsführers über „fremde Forderungen und sonstige Vermögensstücke“ der Unterschlagung von beweglichen Sachen gleichgestellt worden ist. Und über das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1867, das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 und die Strafgesetzbuch-Novelle von 1933 ist 16
Weshalb diese Abgrenzung nicht nur haarfein, sondern auch umstritten ist; meinen eigenen Standpunkt habe ich bereits vor über 40 Jahren entwickelt, s. Schünemann, GA 1969, 46 ff. 17 Binding, Lehrbuch des Besonderen Teils I, 2. Aufl. 1902, S. 397; der Text ist von mir zur Verdeutlichung geringfügig verändert worden. 18 Wodurch sich übrigens die „Universalität“ der viktidogmatischen Maxime zeigt, die entgegen einem verbreiteten Missverständnis durchaus auch eine Ausdehnung des Strafrechts legitimieren kann, näher dazu Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Strafrechtssystem und Betrug, 2002, S. 51 ff., 68; speziell zur Viktimodogmatik bei der Untreue ders., in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Priniciples, 2006, S. 18, 32 f.
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schließlich durch eine Kumulation der zuvor im Schrifttum vertretenen Abstraktionen „Missbrauchs- versus Treubruchtheorie“19 jener spezifische Straftatbestand der Untreue geschaffen worden, auf den ich noch im einzelnen eingehen werde. 3. Auch im Bereich des Common Law hat man erkannt, dass der strafrechtliche Schutz unzureichend ist. Eine Erweiterung wurde deshalb in der Form gesucht, dass der Straftatbestand des Diebstahls (theft) auf das sog. unberührbare Eigentum (intangible property) ausgedehnt worden ist20, ähnlich wie in dem von mir zitierten sächsischen Strafgesetzbuch. Aber diese Methode ist drei gravierenden Einwänden ausgesetzt. Zum ersten kollidiert es mit dem Gesetzlichkeitsprinzip (nullum crimen sine lege), wenn die Gerichte Straftatbestände, die ursprünglich eine klar eingegrenzte Zielrichtung haben, einfach in eine völlig neue Richtung hin interpretieren. Praktisch läuft ja diese Interpretation darauf hinaus, den zuvor präzisen Begriff des Eigentums zum allgemeinen Vermögensbegriff hin zu erweitern, womit aber zweitens nach außen hin ein viel zu weitreichender Strafrechtsschutz konstruiert wird, denn wie ich soeben bemerkt habe, kann das Vermögen in einer Wettbewerbswirtschaft nach außen hin nicht umfassend geschützt werden. Es führt deshalb in die Irre, wenn man den Straftatbestand des Diebstahls, der den Schutz nach außen beschreibt, auf das gesamte Vermögen ausdehnen will; die spezifische Schutzrichtung der Untreue gegen Verletzung von innen heraus kann dadurch nicht erfasst werden. Und drittens ist der Diebstahl durch die Zueignungsabsicht als ein Vermögensverschiebungsdelikt konzipiert. Aus dem Strafgrund der Untreue folgt dagegen, dass auch die bloße Schädigung strafwürdig sein muss, auch wenn der Täter keine Verschiebung in sein eigenes Vermögen beabsichtigt. Das ist auch nicht etwa eine voreilige begriffliche Festlegung, sondern folgt aus der Struktur der Untreuekonstellation. Denn der Verwalter des fremden Vermögens ist Inhaber einer Garantenstellung, wie wir sie vom unechten Unterlassungsdelikt her kennen21. Und bei einem Garanten ist jede von ihm zu verantwortende Rechtsgutsverletzung strafwürdig, gleichgültig, ob er zum Zwecke der eigenen Bereicherung handelt oder nicht. 4. Eine dem Unrecht der Untreue besser entsprechende Strategie besteht deshalb darin, wenigstens in kasuistischer Form die Positionen derjenigen Vermögensverwalter zu beschreiben, die sich wegen Untreue strafbar machen, wenn sie das ihnen anvertraute Vermögen schädigen. Ein Beispiel bietet der deutsche Untreuetatbestand von 1871, der die Schädigung des anvertrauten Vermögens durch einen Vor-
19 Näher LK-StGB/Hübner, 10. Aufl. 1979, § 266 Rn. 6 ff.; knapp zusammen gefasst bei LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 5. 20 Dazu i. e. Smith/Hogan/Ormerod, Criminal Law, 11th ed., 2005, pp. 666, 669 s.; Lehmann, IIC 1985, 525 ss.; Hostetler, Duke Law Journal 50 (2000), 588, 591 ss. 21 Diese bereits bei Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 23. Aufl. 1988, § 266 Rn. 23a; SKStGB/Samson/Günther, Stand 1996, § 266 Rn. 27 zu findende, von mir in der 11. Aufl. des Leipziger Kommentars (1998), § 266 Rn. 20, 55, 85 ausgebaute Charakterisierung ist zwischenzeitlich vielfach übernommen worden, vgl. etwa NK-StGB/Kindhäuser, 3. Aufl. 2010, § 266 Rn. 36.
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mund, Testamentsvollstrecker, Versteigerer und ähnliche Personen22 bestrafte. Das war ein in jeder Hinsicht legitimer Straftatbestand, der aber viel zu eng war, weil er nur ein schon in der vorindustriellen Gesellschaft existierendes Strafbedürfnis befriedigte, die Organisationsformen der modernen Volkswirtschaft aber nicht vollständig abdeckte und auch einer durch die Porosität der Umgangssprache23 generell möglichen Modernisierung qua Interpretation wegen seiner kasuistischen Fassung nicht zugänglich war.
III. Der Schutzbereich eines legitimen Straftatbestandes der Untreue 1. Es ist deshalb notwendig, eine allgemeine Formulierung für das spezifische Untreueunrecht zu finden, dessen Grundstruktur ich schon beschrieben habe: Es geht um die Schädigung des Vermögens von innen heraus, d. h. durch denjenigen, dem der Vermögensinhaber gerade die Fürsorge über das Vermögen anvertraut hat. Der Täter muss also eine Herrschaftsposition über fremdes Vermögen haben, welche fiduziarisch gebunden ist, d. h. welche mit Rücksicht auf die Interessen des Vermögensinhabers auszuüben ist. Ferner darf es sich auch nicht um eine völlig untergeordnete Position handeln, bei der der Beauftragte lediglich mit den beweglichen Sachen des Geschäftsherrn zu hantieren (d. h.: umzugehen) hat, denn in diesen Fällen greift ja schon der strafrechtliche Schutz des Eigentums ein. Bei der Untreue geht es also um die Verwaltung fremden Vermögens oder, wie man auch sagen kann, um die Geschäftsbesorgung. 2. Der Treunehmer wird die Geschäfte in sehr vielen Fällen dadurch besorgen, dass er zivilrechtliche Rechtsgeschäfte abschließt. Dazu muss er als offener oder verdeckter Stellvertreter des Treugebers handeln können. Er muss also eine Verfügungsoder Verpflichtungsmacht haben. An dieser Stelle liegt das lange Zeit am heftigsten umstrittene Problem der Untreuedogmatik, ob der Vertreter des Treugebers nur dann tauglicher Täter sein soll, wenn der Hauptgrund für sein Verhältnis zum Treugeber in dem Auftrag zur Betreuung von dessen Vermögen besteht – also nur bei einer fremdnützigen Treuhand – oder ob es ausreicht, wenn der Treunehmer an sich im Eigeninteresse handelt, von dem Treugeber aber eine überschießende Verfügungsmacht eingeräumt erhalten hat, die er nicht zu dessen Nachteil missbrauchen darf – also auch bei einer eigennützigen Treuhand24. Weil der deutsche Gesetzgeber bei der Ge22 § 266 Abs. 1 Nr. 2 RStGB erfasste auch „Bevollmächtigte, welche über Forderungen oder andere Vermögensstücke des Auftraggebers absichtlich zum Nachteil desselben verfügen“; weil aber auch durch den hierzu vom RG entwickelten „strafrechtlichen Bevollmächtigtenbegriff“ (Nachw. bei v. Olshausen, StGB, 6. Aufl. 1901, § 266 Anm 5 – 7) nicht alle strafwürdigen Fälle zu erfassen waren, kam es zur Neugestaltung 1933 (o. Fn. 19). 23 Dazu näher Schünemann, FS Puppe, 2011, S. 243, 249 f. 24 Dazu und zur Abgrenzung von der fremdnützigen Treuhand: Siebert, Das rechtsgeschäftliche Treuhandverhältnis, 1933, S. 99 ff.; Enneccerus/Nipperdey, Lehrbuch des büger-
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setzesnovelle von 1933 (anders als das die Abstraktion vollendende japanische StGB) die formell-rechtsgeschäftliche und die wirtschaftlich-faktische Schädigungshandlung in zwei eigenen Tatbeständen innerhalb desselben § 266 geregelt hat, die von Anfang an in terminologischer Anknüpfung an die vor 1933 rivalisierenden Untreuetheorien25 als Missbrauchs- bzw. Treubruchtatbestand unterschieden wurden und wobei der Treubruchtatbestand die Lücken des Missbrauchstatbestandes schließen sollte, kam eine Einschränkung des Missbrauchstatbestandes auf die fremdnützige Treuhand26 zunächst niemandem in den Sinn. Vierzig Jahre später ist dieses Konzept aber geradezu umgestürzt worden, als Engelbert Hübner, der seit 1965 Präsident des 2. Strafsenats des BGH und zudem Bearbeiter des § 266 im Leipziger Kommentar war, vom Treubruchtatbestand aus eine radikale Reduktion der gesamten Untreue proklamierte und diese, ähnlich wie 100 Jahre vor ihm Maximilian Buri im gesamten Allgemeinen Teil des Strafrechts27, zunächst in der Rechtsprechung und dann auch in der dogmatischen Literatur durchzusetzen vermochte28 : Im „crucial case“ des Scheckkartenfalls hat der BGH 1972 im Anschluss an Hübner ein Jahrhundert an Untreuejudikatur und –literatur in Makulatur verwandelt und für den Missbrauchstatbestand eine fremdnützige Treuhand verlangt29. Dass darin eine verfehlte Einengung des Tatbestandes lag, macht gerade die oben skizzierte Grundstruktur des Untreueunrechts evident. Denn für das Strafbedürfnis ist nur entscheidend, dass der Vermögensinhaber sein Vermögen in die Herrschaft eines anderen gegeben hat – das besondere, nur vom Strafrecht zu befriedigende Schutzbedürfnis wird allein schon dadurch ausgelöst. Richtigerweise wäre deshalb jeder Misslichen Rechts, AT, 15. Aufl. 1960, § 148 II; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 46 Rn. 63 ff.; Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Aufl. 1996, Rn. 1189 ff.; MK-BGB/Schramm, vor § 164 Rn. 29 f. 25 Dazu eingehend LK-StGB/Hübner (Fn. 19), § 266 Rn. 2 f. 26 Eingehend LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 14. 27 Siehe von Buri, Zur Lehre von der Theilnahme an dem Verbrechen und der Begünstigung, 1860; ders., GS 19 (1867) 60; 32 (1880) 323; ders., Ueber Causalität und deren Verantwortung, 1873; ders., Die Causalität und ihre strafrechtlichen Beziehungen, 1885; ders., Beiträge zur Theorie des Strafrechts und zum Strafgesetzbuche, 1894, S. 69 ff., 178 ff., 366 ff., 389 ff., 440 ff., 466 ff.; und daran anschließend RGSt 1, 373, 374 (conditio-sine-quanon Formel zur Beurteilung der Kausalität); RGSt 2, 160, 163 (subjektive Versuchstheorie); RGSt 1, 439, 441 ff. (Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nach der subjektiven Theorie).) 28 Grdl. Hübner, JZ 1973, 407, 410 ff.; LK-StGB/Hübner (Fn. 19), § 266 Rn. 9; ebenso mittlerweile auch die h.M., s. MK-StGB/Dierlamm, 2006, § 266 Rn. 21; Esser, in: Anwaltkommentar StGB, § 266 Rn. 11; Fischer (Fn. 13), StGB, § 266 Rn. 6; SK-StGB/Hoyer (Fn. 13), § 266 Rn. 17 f; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 266 Rn. 21; Wittig, in v. Heintschel-Heinegg, StGB, § 266 Rn. 5; NK-StGB/Kindhäuser (Fn. 21), § 266 Rn. 26; SSWStGB/Saliger, 2009, § 266 Rn. 6; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht, BT, 2. Aufl. 2009, § 22 Rn. 79; Jäger, Strafrecht, BT, 4. Aufl. 2011, Rn. 388; Küper, Strafrecht, BT, 8. Aufl. 2012, S. 362 f.; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, BT I, 10. Aufl. 2009, § 45 Rn. 11; Rengier, Strafrecht, BT I, § 18 Rn. 2 f., 14. 29 BGHSt 24, 386 für die Scheckkarte, später BGHSt 33, 244 für die Kreditkarte.
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brauch einer Verfügungsmacht oder Verpflichtungsmacht, der zu einer Schädigung des Vermögens des Vollmachtgebers von innen heraus führt, wegen Untreue zu bestrafen: Notwendig ist nur eine Herrschaft des Täters über fremdes Vermögen, so dass freilich Pflichtverletzungen im Rahmen zivilrechtlicher Austauschgeschäfte, vor allem gegenseitiger Verträge, niemals den Untreuetatbestand erfüllen können. Wenn etwa ein Verkäufer erfährt, dass der Käufer die verkaufte Sache unbedingt zu einem bestimmten Zeitpunkt benötigt, weil er sonst eine von ihm versprochene anderweitige Leistung nicht erbringen kann und sich dadurch selbst anderen gegenüber schadensersatzpflichtig macht, und wenn der Verkäufer dann, um den Käufer zu schädigen, die Lieferung zunächst zurückhält, ist er zwar selbstverständlich zivilrechtlich zum Schadensersatz verpflichtet. Aber die bloße Verletzung einer schlichten Schuldnerpflicht ist keine strafbare Untreue, die nach dem Willen des Gesetzgebers von 1871 wie von 1933 erst und immer dann vorliegt, wenn eine rechtsgeschäftliche Herrschaft über fremdes Vermögen und damit ein sei es fremd-, sei es eigennütziges Treuhandverhältnis besteht. Das habe ich 1998 in der 11. Auflage des Leipziger Kommentars in erschöpfender kritischer Auseinandersetzung mit allen von Hübner vorgebrachten Argumenten nachzuweisen versucht30, um nach über einem Jahrzehnt feststellen zu müssen, dass weder die Rechtsprechung noch das Schrifttum davon auch nur Notiz genommen haben. Nunmehr, in der 12. Auflage 2012 und damit vier Jahrzehnte nach der Scheckkarten-Entscheidung, habe ich resigniert und in Anknüpfung an die vom BVerfG betonte, quasi gewohnheitsrechtliche Verfestigung dieser Judikatur31 eine von der Rechtsprechung durch Rechtsfortbildung in bonam partem vorgenommene justizielle Tatbestandsreduktion angenommen32. Dieses Ergebnis ist keine peinliche Kapitulation der Dogmatik nach dem Prinzip „sit pro ratione voluntas“, sondern eine Konsequenz aus der Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung bei der Rechtsschöpfung, die in Art. 103 Abs. 2 GG nur in malam partem beschränkt ist. Die in den Untreuetatbestand dadurch hineininterpretierte Lücke ist kriminalpolitisch unvernünftig, aber nur noch vom Gesetzgeber zu schließen. 3. Die nächste grundsätzliche Frage besteht darin, ob als Tathandlung nach der Struktur des Untreueunrechts, sozusagen seinem Astralleib, nur der Abschluss von Rechtsgeschäften, also eine zivilrechtlich wirksame Handlung, oder ob auch tatsächliche Handlungen ausreichen sollen, die wirtschaftlich zu einer Vermögensschädigung beim Treugeber führen. Die Antwort ergibt sich bereits aus der Struktur des Rechtsguts, also aus dem strafrechtlichen Vermögensbegriff. Nach dem normativökonomischen oder institutionellen oder, wie ich ihn nenne, integrierten Vermögensbegriff33 ist das Vermögen die Summe der geldwerten Güter, über die eine Person 30
LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 11 – 16. BVerfGE 126, 170, 209. 32 LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 13 f., 144. 33 Näher LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 166; s. ferner LK-StGB/Tiedemann (Fn. 13), § 263 Rn. 132; Hefendehl, Vermögensgefährdung und Exspektanzen, 1994, S. 115 ff.; ders., MK-StGB (Fn. 13), § 266 Rn. 33 ff. 31
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unter Anerkennung der Rechtsordnung Herrschaft ausübt. Zum Vermögen zählt deshalb z. B. auch ein technisches know how, auch wenn es noch nicht als Patentrecht eine eigentumsähnliche Verfestigung erfahren hat34. Wenn jetzt der Treunehmer das know how des Treugebers unerlaubt einem anderen überlässt oder etwa dadurch, dass er es nicht nutzt, seine Überholung durch den technischen Fortschritt und damit seine Wertlosigkeit verursacht, so sind diese tatsächlichen Handlungen nicht weniger strafwürdig als rechtsgeschäftliche Transaktionen, durch die das Vermögen des Treugebers geschädigt wird. Aufgrund der Garantenstellung, die der Treunehmer innehat, ist es auch im Ergebnis gleichgültig, ob er das Vermögen durch aktives Tun oder durch Unterlassen schädigt: Es liegt hier ohne weiteres eine Begehungsgleichheit der Unterlassung wegen Herrschaft über den Grund des Erfolges vor. In dieser Hinsicht ist also gegen die „Addition“ von Missbrauch und Treubruch in § 266 StGB nichts einzuwenden. 4. Die für den Missbrauchstatbestand durchgesetzte Einschränkung auf die fremdnützige Treuhand bereitet auch im Treubruchtatbestand Probleme, wo die entsprechende Reduktion dazu führt, dass die Hingabe von Sicherheiten, die ins Vermögen des Treunehmers übergehen, gegen deren Einverleibung oder Verschleuderung durch den Sicherungsnehmer nicht mehr strafrechtlich geschützt wird35, was kriminalpolitisch unerträglich wird, wenn es sich um eine enorme Übersicherung handelt. Ein spektakuläres Beispiel wird derzeit von den Vermarktungsrechten an der Rennserie „Formel 1“ gebildet, die nach heutiger Auffassung der Bayerischen Landesbank als Sicherungsnehmer mehr als eine Milliarde US-Dollars wert waren, von ihr aber um 350 Millionen zu niedrig weiterveräußert wurden, wofür dem zuständigen Bankvorstand ein Schmiergeld von 44 Millionen gezahlt wurde36. 5. Die dritte Reduktion, die den Schutz des Vermögens gegen seinen „inneren Feind“ enorm schwächt, ohne vom Wortlaut des § 266 StGB oder vom Willen des Gesetzgebers gedeckt zu sein, wird innerhalb der fremdnützigen Treuhand propagiert. Sie findet sich in einigen frühen Entscheidungen des BGH37 und abermals in Hübners bis heute einflussreicher Untreuekommentierung38 und besteht darin, dass die in einer alten Entscheidung des Reichsgerichts zur Abgrenzung von bloßen Handlangertätigkeiten benutzte Redewendung, der Untreuetäter müsse eine gewisse 34
MK-StGB/Hefendehl (Fn. 13), § 263 Rn. 409 m. Verweis auf Ellrot/Schmidt-Wendt, in: Beck’scher Bilanz-Kommentar, § 255 Rn. 325, Stichwort „Lizenz, Know-how“; NK-StGB/ Kindhäuser (Fn. 21), § 283 Rn. 9; MK-StGB/Radtke, 2006, Vor § 283 Rn. 63. 35 In diesem Sinn für den Fall der Sicherungszession mit gleichzeitiger Inkassoermächtigung BGH wistra 1984, 143; für den Eigentumsvorbehalt BGH wistra 1987, 136; für die Kaution bei der gewerblichen Miete BGHSt 52, 182; anders für die Kaution bei der Wohnraummiete BGHSt 41, 224. 36 www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/formel-1-affaere-bayernlb-fordert-400-millio nen-dollar-von-ecclestone-a-863404.html, abgerufen am 3. 12. 2012. 37 Nachw. b. LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 82 Fn. 346. 38 Beispielsweise übernimmt Kindhäuser in seiner Untreue-Kommentierung in der 3. Auflage des Nomos-Kommentars, 2010, in vielen Punkten Hübners Positionen.
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Selbständigkeit besitzen39, dahin missverstanden wird, dass nur derjenige Täter sein könne, der nicht genauso handeln müsse, wie ihm aufgetragen sei, sondern auch anders handeln dürfe, m. a. W. einen Handlungsspielraum besitze40. Damit würden alle mit einer bestimmten Marschroute losgeschickten Vertreter und beispielsweise auch alle Kassenverwalter aus dem Tatbestand eliminiert, was den Täterkreis des Untreuetatbestandes mehr oder weniger auf Leitungsorgane einschränken und dessen Schutzwirkung im Widerspruch zu seinem der ökonomischen Entwicklung entsprechenden Deliktscharakter ruinieren würde. Zwar ist diese Einschränkung denn auch in anderen Entscheidungen des BGH ausdrücklich und mit Recht abgelehnt worden41, aber als Folge taumelt die Rechtsprechung in einer widersprüchlichen Kasuistik dahin. Richtigerweise ist jeder ein tauglicher Täter der Untreue, der eine Garantenherrschaft über fremdes Vermögen ausübt, die über bloßes Hantieren mit Sachen hinausgeht, was auch für Kassenverwalter gilt, die über ihre Kassenführung abrechnen müssen und also über eine genügende Selbständigkeit verfügen42.
IV. Der verbleibende gordische Knoten des Vermögensnachteils 1. Während somit die Unsicherheiten und Ungereimtheiten bei der Abgrenzung des Täterkreises im Grunde erst durch dessen übertriebene Restriktion entstehen, die an Stelle einer unrechtsadäquaten Gleichbehandlung eine schwankende Kasuistik zu produzieren droht, ist die Bestimmung von Tathandlung und -erfolg durch die die moderne Volkswirtschaft kennzeichnende Verflüssigung des Vermögens- und damit auch des Schadensbegriffs in die Bredouille geraten. Gerade auch für den von mir anderweitig ausgeführten, hier nicht erneut zu thematisierenden Charakter des § 266 StGB als eines von Haus aus konventionellen Erfolgsdelikts, bei dem die Rechtswidrigkeit durch die zurechenbare Schadensverursachung indiziert wird und lediglich durch (mutmaßliche) Einwilligung o. ä. ausgeschlossen werden kann43, ist es prekär, dass der Begriff des Vermögensschadens nach wie vor das wohl schwierigste und umstrittenste Tatbestandsmerkmal des gesamten Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs bildet44. Zwar sind die dogmatischen Ausgangspunkte eigentlich 39
RGSt 69, 58, 61 f. LK-StGB/Hübner (Fn. 19), § 266 Rn. 32; übernommen etwa in BGH NStZ 1982, 201; BGH wistra 1987, 27; in der Literatur MK-StGB/Dierlamm (Fn. 28), § 266 Rn. 48 ff.; Esser, Anwaltkommentar StGB § 266 Rn. 44; SK-StGB/Hoyer (Fn. 13), § 266 Rn. 32; NK-StGB/ Kindhäuser (Fn. 21), § 266 Rn. 54; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 13), StGB, § 266 Rn. 23a; zur Kritik LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 82 ff. 41 Etwa BGHSt 13, 315; BGH wistra 2008, 427. 42 Dazu näher LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 86 ff. 43 Schünemann, FS Imme Roxin, 2012, S. 341, 348 ff. 44 Das zeigt schon die große Zahl der einschlägigen Monographien, vgl. nur Gerhold, Zweckverfehlung und Vermögensschaden, 1988; Riemann, Vermögensgefährdung und Vermögensschaden, 1989; Wahl, Die Schadensbestimmung beim Eingehungs- und Erfüllungsbetrug, 2007; Hefendehl, Vermögensgefährdung und Exspektanzen, 1994, Protzen, Der Ver40
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ganz klar: Wenn das Vermögen die Summe der geldwerten Güter einer Person ist, dann bedeutet eben der Vermögensschaden, dass nach und wegen der Handlung des Täters diese Summe geringer geworden ist, festzustellen durch einen Vergleich des Vermögenssaldos (also des Nettovermögens) des Treugebers vor der Handlung des Treunehmers und danach45, und ein Schaden ist zu bejahen, wenn sich dadurch der Gesamtwert des Vermögens verringert hat. Aber genau in dieser Berechnung des Vermögenswertes in der homogenen Ertragskategorie des Geldes liegt das Problem. Denn in einer modernen Volkswirtschaft mit dem permanenten Austausch von Gütern und der Aufteilung der handelbaren Objekte in immer speziellere Einheiten und Kombinationen ist der Vermögenswert ständig im Fluss. Man denke etwa an den Handel mit Derivaten und Optionen, deren Marktpreis, wenn er überhaupt fixierbar ist, von Tag zu Tag wechselt und im Grunde keinen aus der Sache selbst ableitbaren Wert, sondern nur die von vielen psychologischen Imponderabilien beeinflussten, spekulativen Einschätzungen der Marktteilnehmer wiedergibt46. Beim Vermögen handelt es sich dementsprechend – in der richtungweisenden Begriffsprägung des Jubilars – um ein poröses Rechtsgut, das „als Rechtsgut erst im Nebeneinander und der Verschränkung der Handlungsfreiheiten und der sonstigen Rechte der Rechtsgenossen entsteht.“47 a) Dazu ein ziemlich simples Beispiel: Ist dann ein Schaden gegeben, wenn der Verwalter des fremden Vermögens in spekulativer Absicht Anteile an Ölbohrrechten erwirbt und dafür 10 Millionen Dollar ausgibt, wobei er in der gut begründeten Hoffnung handelt, dass bei einem Erfolg der Bohrungen die Anteile 100 Millionen Dollar wert sein werden – wenn sich dann aber später herausstellt, dass in dem betreffenden Gelände überhaupt kein Erdöl zu finden ist, so dass die Beteiligungsrechte deshalb letztlich wertlos sind und es bei einer „intrinsisch-objektiven“ Betrachtung von Anfang an waren? Das Beispiel betrifft die sog. Risikogeschäfte48, bei denen es darum mögensschaden beim sog. Anstellungsbetrug, 2000; Rinne, Vermögensbegriff im Strafrecht – Vermögensgegenstand in der Handelsbilanz – Wirtschaftsgut in der Steuerbilanz, 2008; Thalhofer, Kick-Backs, Expektanzen und Vermögensnachteil nach § 266 StGB, 2008. 45 Wobei ich auf das neuerdings sehr umstrittene Problem des Unmittelbarkeitszusammenhanges zwischen Handlung und Schaden hier nicht eingehen kann, s. SSW-StGB/Saliger (Fn. 28), § 266 Rn. 84. 46 Vgl. etwa Dette, Kursbildung am deutschen Aktienmarkt, 1998, S. 54 ff.; Hong/Stein, The Journal of Finance 54 (1999), S. 2143 ff.; Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 94 ff. 47 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 135 f. am Beispiel des Nötigungstatbestandes. 48 Dazu aus der permanent anwachsenden einschlägigen Literatur LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 115 ff.; Fischer (Fn. 13), StGB, § 266 Rn. 63 ff.; SSW-StGB/Saliger (Fn. 28), § 266 Rn. 47 ff.; Seier, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, S. 698 ff.; Hillenkamp, NStZ 1981, 161; Hellmann, ZIS 2007, 433; Hohn, wistra 2006, 161; Krüger, NJW 2002, 1178; Murmann, Jura 2010, 562; Ransiek, ZStW 116 (2004), 634; Rose, wistra 2005, 281; Zimmermann, in: Steinberg/Valerius/Popp (Hrsg.), Das Wirtschaftsstrafrecht des StGB, 2011, S. 71 ff.; Hoffmann, Untreue und Unternehmensinteresse, 2010, S. 37 ff.; 65 ff.; Ibold, Unternehmerische Entscheidungen als pflichtwidrige Un-
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geht, dass durch einen in der Entwicklung begriffenen, sozusagen fließenden Vorgang ein scharfer Schnitt gezogen und eine Umrechnung in Geld verlangt wird, die anhand objektiver Daten gar nicht geleistet werden kann. Was als Marktpreis erscheint, ist oft nur das Produkt subjektiver oder gar irrationaler Einschätzungen der Marktteilnehmer. Weil nun aber auch der Treunehmer ein normaler Marktteilnehmer ist, kann man von ihm nicht verlangen, dass er klüger ist als der Markt. Nach der herrschenden Meinung in Deutschland begründen Risikogeschäfte deshalb schon objektiv keinen Vermögensschaden, wenn sie im Rahmen der Marktpreise bleiben (die möglichen Erfolgsaussichten den Einsatz objektiv wert sind und das Geschäft innerhalb der vom Treugeber konsentierten Risikopolitik verbleibt)49. Wenn ein Ölbohrrecht zum marktüblichen Preis erworben wird, soll das Vermögen also selbst dann nicht geschädigt sein, wenn sich hinterher herausstellt, dass an der betreffenden Stelle überhaupt kein Öl zu finden ist. Aber diese Konstruktion erscheint dogmatisch kaum haltbar, wie sich am Beispiel des Sonderwissens zeigen lässt. Wenn der Treunehmer etwa von der am Markt noch nicht bekannt gewordenen Tatsache erfährt, dass auf dem vom Ölbohrrecht umfassten Gebiet nicht das mindeste Erdöl zu finden ist, so macht er sich selbstverständlich wegen Untreue strafbar, wenn er ein solches Recht gleichwohl zu dem am Markt noch üblichen Preis erwirbt. Weil der Schaden aber nicht von der Kenntnis des Täters abhängen kann, sondern objektiv bestimmt werden muss, zwingt das dazu, die Frage des Schadens aus der ex-post-Perspektive zu beurteilen und lediglich den subjektiven Tatbestand zu verneinen, wenn diese Perspektive dem Treunehmer zum Zeitpunkt seines Handelns noch nicht zugänglich war. b) Die ex-post-Betrachtung führt allerdings dann nicht weiter, wenn die Vermögenssituation im Augenblick der Handlung des Treunehmers auch objektiv noch ungeklärt und zukunftsoffen ist. Im Fall der Ölbohrrechte steht es fest, ob sich in dem betreffenden Gebiet Öl befindet oder nicht. In den meisten Fällen ist die weitere Entwicklung dagegen noch offen, weil sie von dem nicht voraussehbaren Verhalten anderer Marktteilnehmer abhängt. Als abermals simples Beispiel hierfür nehme ich den Standardfall der Bewilligung eines Kredits vom Vorstand einer Bank an ein Unternehmen, welches sich in einer Krise befindet, die es mit Hilfe des Kredits vielleicht zu überwinden schafft, vielleicht aber auch nicht50. Zur Entscheidung solcher Fälle gibt es drei verschiedene Vorschläge. Der erste betrifft die Rechtswidrigkeit, der zweite den Vermögensschaden, der dritte den Vorsatz. (1) Nach dem ersten Vorschlag soll dem Treunehmer ein weiter Ermessensspielraum zugebilligt werden. Erst wenn er außerhalb jeder vertretbaren Ermessensaus-
treuehandlungen, 2011; Krause, Ordnungsgemäßes Wirtschaften und erlaubtes Risiko, 1995; Wassmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1997. 49 Schönke/Schröder/Perron (Fn. 13), StGB,§ 266 Rn. 45a; Waßmer, in: Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Kommentar, 2011, § 266 Rn. 190 f. 50 Dazu m.z.w.N. LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 240 f.
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übung handelt, nimmt die h. M. an, dass eine Untreue vorliegt51. Aber diese Lösung hat den Nachteil, dass das Tatbestandsmerkmal des Schadens praktisch durch die Pflichtverletzung ersetzt wird. Das Rechtsgut der Untreue besteht aber im Vermögen des Treugebers. Man kann deshalb nicht den Schaden aus der Rechtswidrigkeit ableiten, vielmehr ist die Rechtswidrigkeit umgekehrt die Folge der unerlaubten Schadenszufügung, wenn kein Rechtfertigungsgrund eingreift. Außerdem missachtet die h. M. das vom BVerfG erstmals zu § 240 StGB entwickelte und für § 266 StGB unterstrichene Verbot einer „Tatbestandsverschleifung“52. (2) Der zweite Vorschlag, der in der Erweiterung des Schadensbegriffs durch Einbeziehung des „Gefährdungsschadens“ besteht, geht zwar bis auf die Rechtsprechung des preußischen Obertribunals zurück53, ist vom Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung in die Formel gekleidet worden, dass eine bloße Gefährdung des Vermögens dann einen Schaden im Sinn des Strafrechts bedeutet, wenn die Gefährdung so konkret ist, dass sie bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise bereits als ein gegenwärtiger Schaden erscheint54, und auch vom BGH lange Zeit realisiert worden55. Aber er stößt auf zwei gewichtige Einwände. Der erste Einwand lautet, dass die Verursachung einer bloßen Gefährdung einen typischen Versuch darstelle, der nicht durch eine bloße Definition in ein vollendetes Delikt verwandelt werden dürfe56. Der zweite Einwand rügt die Unbestimmtheit der Abgrenzung des Gefährdungsschadens und hat durch die Grundsatzentscheidung des BVerfG zum Untreuetatbestand neue Nahrung erhalten57. Im Fall des Bankkredits müsste man nach der traditionellen Formel der Rechtsprechung fragen, ob der Anspruch auf Rückzahlung des Darlehens gegen das Unternehmen durch dessen Krise so stark gefährdet ist, dass man bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise bereits einen gegenwärtigen Verlust des Anspruches festzustellen hätte. Aber wann ist das der Fall? Hundertprozentig sicher ist nur ein Kredit, der zu 51 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 120; ders., Wirtschaftsstrafrecht BT, Rn. 4a; ders., GmbH-Strafrecht, vor § 82 Rn. 15; ebenso Beulke, FS Eisenberg, 2009, S. 253 f.; LKStGB/Dannecker, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn. 208; MK-StGB/Dierlamm (Fn. 28), § 266 Rn. 154 ff.; Kiethe, NStZ 2005, 531; Kubiciel, NStZ 2005, 357; Kutzner, NJW 2006, 3543; Lüderssen, FS Lampe, 2003, S. 709, 729; Matt, NJW 2005, 390; Otto, FS Kohlmann, 2003, S. 187 ff.; Rönnau/Hohn, NStZ 2004, 113, 118; SSW-StGB/Saliger (Fn. 28), § 266 Rn. 40 ff. 52 BVerfGE 92, 1, 16 f.; angedeutet schon in BVerfGE 87, 209, 229 (zu § 131 StGB); zuletzt und speziell für die Untreue BVerfGE 126, 198, 228. 53 Dazu näher Hefendehl, Vermögensgefährdung (Fn. 33), S. 50 f. 54 RGSt 16, 1, 11 f.; 16, 77, 81; 68, 379, 380; 73, 61, 62 ff. 55 BGHSt 3, 370, 372; 15, 24, 27; 15, 83, 86 f.; 21, 112, 113; 23, 300; 34, 394, 395; 44, 376, 384; 48, 354, 357 f.; 51, 100, 113 f.; 51, 165, 177. 56 Zieschang, in: Park, Kapitalmarktstrafrecht, 2. Aufl. 2008, § 263 Rn. 63; MK-StGB/ Dierlamm (Fn. 28), § 266 Rn. 195 ff.; HK-GS/Beukelmann, 2. Aufl. 2011, § 266 Rn. 28; diese Gefahr benennt auch BVerfGE 126, 170, 228. 57 BVerfGE 126, 170, 228 ff. stellt an die Erfüllung des in Leitsatz 2 an die Rechtsprechung adressierten Präzisierungsgebots beim Tatbestandsmerkmal des Vermögensnachteils strenge Anforderungen.
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hundert Prozent abgesichert ist, das heißt wenn für den Kredit vom Kreditnehmer entsprechend wertvolle und unschwer versilberbare Gegenstände wie etwa Grundstücke als Pfand gegeben werden. Andererseits kann es auch vorkommen, dass ein zu Beginn in einer schweren Krise befindlicher Kreditnehmer diese Krise überwindet und dann das Darlehen doch noch zurückzahlt. Das BVerfG hat in seiner schon mehrfach angesprochenen Grundsatzentscheidung vom 23. 6. 201058 ein von Hefendehl59entwickeltes Konzept aufgegriffen und eine Bewertung der Risiken nach den Regeln des Bilanzrechts verlangt, doch steht die praktische Erprobung angesichts der sozusagen durchwachsenen Aufnahme der Entscheidung im Schrifttum60 noch bevor. (3) Sowohl die Lösung über die Pflichtverletzung als auch die Lösung über die Vermögensgefährdung, die wirtschaftlich einem Schaden gleichsteht, sind deshalb fundierten Einwänden ausgesetzt. Der vom 2. Strafsenat des BGH als Ausweg aus diesem Dilemma im Kanther-Urteil präsentierte „Geniestreich“, dass ein Vermögensschaden in Gestalt der konkreten Gefährdung zur Tatbestandserfüllung nur ausreiche, wenn der Treunehmer bei seiner Handlung einen endgültigen Schaden billigend in Kauf genommen hat, das heißt, wenn er diesbezüglich zumindest bedingten Vorsatz hatte61, ist bereits nach dem traditionellen, auf den Erfolgseintritt bezogenen Vorsatzbegriff dogmatisch angreifbar. Denn wenn der Gefährdungsschaden für den objektiven Tatbestand ausreicht und ein sog. Endschaden nicht erforderlich ist, wird durch diese Lösung für den subjektiven Tatbestand mehr gefordert als für den objektiven Tatbestand62, während nach den Regeln des Allgemeinen Teils und auch nach dem Wortlaut des § 266 StGB objektiver und subjektiver Tatbestand übereinstimmen müssen. Die vom 2. Strafsenat konstruierte „schwach überschießende Innentendenz“63 bedeutet deshalb bei formaler Betrachtung nicht mehr eine Auslegung, sondern eine teleologische Reduktion des Untreuetatbestandes, die aber in den meisten Fällen keine zusätzlichen Kriterien zur Verfügung haben dürfte, als sie bei der Beurteilung der vorsätzlichen Herbeiführung eines Gefährdungsschadens bereits ver58
BVerfGE 126, 170 mit teilweise zustimmender, teilweise kritischer Rezension von Saliger, NJW 2010, 3195; Becker, HRRS 2010, 383 ff.; Schünemann, StraFo 2010, 477 ff.; LKStGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 27 f., 179 f.; w. N. in Fn. 60. 59 Hefendehl, Vermögensgefährdung (Fn. 33), S. 166 ff. 60 Zu BVerfG 126, 170; s. Fischer (Fn. 13), StGB, § 266 Rn. 160a ff.; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT II, 35. Aufl. 2012, Rn. 778; Becker, HRRS 2010 383 ff.; Beckemper, ZJS 2011, 88; Böse, Jura 2011, 617; Hefendehl, wistra 2012, 325; Krüger, NStZ 2011, 369; Kuhlen, JR 2011, 246; Radtke, GmbHR 2010, 1121; Safferling, NStZ 2011, 376; Saliger/Hefendehl, FS Samson 2010, S. 295, 455; Wessing/Krawczyk, NZG 2010, 1121; zu den Problemen für die Praxis instruktiv BGH StV 2012, 725 ff. am Beispiel des Betrugstatbestandes. 61 BGHSt 51, 100, 121 ff. 62 Schönke/Schröder/Perron (Fn. 13), StGB,§ 266 Rn. 50; SSW-StGB/Saliger (Fn. 28), § 266 Rn. 70; Bernsmann, GA 2007, 229 ff.; Beulke, JR 2008, 434 f.; Hillenkamp, FS Maiwald, 2010, 341 ff.; Küper, JZ 2009, 804; Nack, StraFo 2008, 277 f.; Ransiek, NJW 2007, 1729; Schünemann, NStZ 2008, 430; Weber, FS Eisenberg, 2009, 371 ff. 63 Zutr. Bernsmann, GA 2007, 219, 230.
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wertet werden konnten, und materiell deshalb folgenlos bleiben dürfte: Für den Fall des Bankkredits etwa würde die bloße Hoffnung, der nicht mehr kreditwürdige Schuldner würde doch noch gesunden, den bedingten Vorsatz bezüglich des Endschadens nicht ausschließen, während umgekehrt eine fundierte Erwartung, dass der Schuldner mit Hilfe des Kredits gesundet, bei entsprechender Gestaltung etwa der Zinshöhe, die einem erhöhten Risiko Rechnung trägt, bereits den Gefährdungsschaden ausschließen würde. Es muss deshalb bezweifelt werden, dass sich die vom 2. Strafsenat geforderte „leicht überschießende Innentendenz“ im Ergebnis überhaupt auswirken würde. Dies gilt erst recht, wenn man mit der vom Jubilar in seiner vor drei Jahrzehnten publizierten kopernikanischen Wende64 den Vorsatz nicht auf den Handlungserfolg, sondern auf das pflichtwidrige, weil unerlaubt riskante tatbestandsmäßige Verhalten bezieht: „Von vorsätzlichem Handeln kann hier nur dann die Rede sein, wenn der Agierende sich als mit seinen Aktionen verbunden ein Risiko vorstellt, das nach den – selbst wieder an vielfältigen Abwägungen rückgebundenen – Grundsätzen des jeweiligen Wirtschaftsbereichs nicht mehr tolerabel erscheint“65. In dieser Perspektive sind der drohende Gefährdungsschaden und der drohende Endschaden nur zeitlich zu diskontierende Parameter des unerträglich riskanten tatbestandsmäßigen Verhaltens, die als solche keine selbständigen und voneinander getrennten Gegenstände des Tätervorsatzes bilden können. 2. Die vom BVerfG geforderte „Präzisierung“ des Untreuetatbestandes wird deshalb nicht über den subjektiven Tatbestand zu leisten sein, sondern zum einen durch die oben unternommene Rückbesinnung auf den ökonomisch und viktimodogmatisch adäquaten Unrechtskern (die notabene verschiedene Teilrestriktionen als verfehlt und dadurch als vitiöse Quelle widersprüchlicher Kasuistik erkennbar macht) und zum anderen über den Nachteilsbegriff. Gerade in dieser Hinsicht prescht die Rechtsprechung des 2. Strafsenats aber in die falsche Richtung durch ihre immer punitivere Behandlung der schwarzen Kassen, also wenn ein Geldbetrag nicht in der offiziellen Buchhaltung und Bilanz des Unternehmens aufgeführt wird, sondern von einem Mitarbeiter heimlich im Interesse des Unternehmens, aber für moralisch oder rechtlich zweifelhafte Geschäfte eingesetzt wird, die in der Öffentlichkeit nicht bekannt werden sollen66, etwa zur Bestechung von Vertragspartnern im Ausland. Der 2. Strafsenat hat zunächst Direktoren des Siemens-Konzerns unterhalb der Vorstandsebene und zuletzt sogar den Geschäftsführer einer GmbH wegen Untreue verurteilt, weil sie für ihr Unternehmen schwarze Kassen zur Erlangung lukrativer Auf64
Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983. Frisch (Fn. 64), S. 213. 66 LK-StGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 180; MK-StGB/Dierlamm (Fn. 28), § 266 Rn. 211 ff.; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 13), StGB, § 266 Rn, 45c. Vielfach wird – noch enger – darauf abgehoben, dass die schwarze Kasse pflichtwidrig vor dem Geschäftsherrn geheim gehalten wird, vgl. AnwK-StGB/Esser, 2010, § 266 Rn. 199; Fischer (Fn. 13), StGB, § 266 Rn. 130; Saliger, NStZ 2007 545, 547; ders., SSW-StGB (Fn. 28), § 266 Rn. 76; Bernsmann, GA 2007 231; Rönnau, FS Tiedemann S. 713; extensiver Weimann, Die Strafbarkeit der Bildung sog. schwarzer Kassen gem. § 266 StGB (Untreue), Tübingen jur. Diss. (1996) S. 12 f; Strelczyk, Die Strafbarkeit der Bildung schwarzer Kassen, 2008, S. 14. 65
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träge im Ausland mit Hilfe von Bestechungszahlungen gehalten hatten.67 Der Schaden soll bereits als Endschaden in der Nichtaufnahme der Kasse in die Buchhaltung und Bilanz des Unternehmens bestehen. Aber das bestraft eine Verletzung der Buchhaltungsvorschriften in rechtsstaatlich unhaltbarer Weise aus dem Untreuetatbestand und missachtet in prinzipieller Weise den wirtschaftlichen Vermögensbegriff. Wenn die Kasse von redlichen Treunehmern im Interesse des Treugebers verwaltet wird wie im Fall des Siemens-Konzerns oder gar vom Geschäftsführer selbst wie im Fall „Kölner Müll II“, geht es äußerstenfalls um die Beeinträchtigung der Dispositionsbefugnis des Treugebers, aber nicht um einen Schaden in ökonomischer Hinsicht, so dass die Rechtsprechung des 2. Strafsenats auf eine partielle Wiederbelebung des juristischen Schadensbegriffs hinausläuft, die (als selbständige Extension der Untreue neben dem weiterhin praktizierten normativ-ökonomischen Schadensbegriff) die gebotene Präzisierung nicht leistet, sondern unmöglich macht68. Das wird in der jüngsten Entscheidung „Kölner Müll II“ deutlich, wenn man nicht nur die in der Publikation BGHSt 55, 266 ff. behandelte Zurückweisung der Sachrüge, sondern auch die Verwerfung der Verfahrensrügen mitberücksichtigt, die die Zurückweisung der Beweisanträge, dass der Geschäftsführer jederzeit Überblick über den Bestand der auf einen Dritten ausgelagerten schwarzen Kasse gehabt und auch Vorkehrungen für den Fall seines Ablebens getroffen habe, wegen Erwiesenheit bzw. Bedeutungslosigkeit betraf69: Die Annahme, dass die Beträge in der schwarzen Kasse „dem Zugriff der Treugeberin bereits endgültig entzogen“ gewesen seien (Tz 44), beruhte danach nicht auf einem Defizit beim Geschäftsführer, sondern bereits darauf, dass „eine Sicherung gegen eigenmächtige Zugriffe der zur Unterhaltung der schwarzen Kasse oder zum Transport der Bargelder eingesetzten Personen […] nicht bestand, ebenso wenig Vorkehrungen für den Fall des unerwarteten Ausfalls zumindest einiger dieser Personen […] oder zum Schutz vor Zugriffen von Gläubigern der S. AG (= nominelle Verwalterin der schwarzen Kasse, […] zumal) der Versuch einer gerichtlichen Durchsetzung von Ansprüchen gegen die S. AG […] oder einen anderen am Betrieb der schwarzen Kasse Beteiligten zwangsläufig eine steuerstrafrechtliche Verfolgung nach sich gezogen“ hätte (Tz 43). Weil nicht festgestellt ist, dass die eingeschalteten Personen tatsächlich zur Unredlichkeit disponiert waren, schließt der BGH also von der abstrakten Möglichkeit der Unredlichkeit und der fehlenden rechtlichen Garantien dagegen nicht nur auf einen konkreten Gefährdungsschaden, sondern sogar auf einen Endschaden – offensichtlich, um seine Vorsatztheorie aus dem Kanther-Urteil nicht desavouieren zu müssen, aber dadurch die Funda67
BGHSt 52, 323; 55, 266. Grdl. bereits Saliger, Parteiengesetz und Strafrecht, 2005, S. 417 ff; ders. SSW-StGB (Fn. 28), § 266 Rn. 77 (für eine sog. verwendungszweckabhängige Betrachtungsweise); ähnl. LK-StGB/Tiedemann (Fn. 13), § 263 Rn. 233; Satzger, NStZ 2009, 297; Rönnau, StV 2009, 246; Corsten, HRRS 2011, 247, 251 f.; Schlösser, HRRS 2009, 19; a.A. Brammsen/Apel, WM 2010, 781; Fischer, Miebach-Sonderheft NStZ 2009, 16 f.; zur Kritik an beiden Urteilen LKStGB/Schünemann (Fn. 11), § 266 Rn. 180; ders., StraFo 2010, 1, 7 ff., 477, 482; Saliger, FS Roxin II, 2011, S. 1053; alle m.w.N. 69 BGH-Urteil v. 27. 08. 2010, 2 StR 111/09, Tz 57 – 59 (juris). 68
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mente des ökonomischen Vermögensbegriffs preisgebend und gewissermaßen den Teufel durch Beelzebub austreibend.
V. Versuch eines Resümees 1. Mein skizzenhafter Versuch, dem Begriff des Vermögensschadens auf den Grund zu gehen, droht damit seine Begründungen erschöpft zu haben, was Wittgenstein in das Bild gekleidet hat: „Mein Spaten biegt sich zurück.“70 Keine der vorstehend durchgemusterten Lösungen vermag restlos zu befriedigen – aber warum? Ich vermute, es liegt an der besonderen Struktur des Rechtsguts „Vermögen“ und an der eingangs angesprochenen Verflüssigung des Vermögensbegriffs in der radikalen Marktökonomie – intrinsische Werte werden mehr und mehr peripher, es geht um die Chance am Markt, die aber selbst nicht mehr ökonomisch, sondern nur noch psychologisch erfasst werden kann, und damit um einen diskreten Zirkel des Vermögensbegriffs. Vermögen heißt dann das, was andere Marktteilnehmer dafür halten, ähnlich wie „Geld“ als homogene Ertragskategorie in einer Ökonomie, in der sich die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft (sic!) abgekoppelt hat, keinen Maßstab mehr bildet. Das scheint eine Situation zu evozieren, wie sie in Richard Wagners „Götterdämmerung“ apostrophiert wird, nachdem das Seil der Nornen gerissen ist: „Der Welt melden Weise nichts mehr“. Jedoch leben Rechtswissenschaftler in der Wirklichkeit, nicht im Mythos – sie müssen melden! 2. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – diese hymnische Hoffnung Hölderlins kann in der Rechtsdogmatik in das Postulat übersetzt werden, vermöge der Porosität der Umgangssprache, in der die Straftatbestände formuliert sind, in der Begriffsentfaltung auf die gesellschaftlichen Wandlungen zu reagieren. Dort, wo die Finanzwirtschaft sich von intrinsischen Werten abkoppelt, wird das Vermögen buchstäblich verspielt – wer das tut, muss entweder selbst Vermögensinhaber oder von diesem zu dem betreffenden Spiel autorisiert worden sein, sonst begeht er eo ipso Untreue. Wer mangels einer solchen Autorisierung das verwaltete Vermögen nicht als Spekulationsobjekt einsetzen darf, muss auf dem traditionellen Feld intrinsischer Werte bleiben, das im deutschen Bilanzrecht abgebildet wird und seinen Kern im Vorsichtsprinzip des § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB findet, dessen Umwandlung in eine Verhaltensnorm wiederum die „Business Judgment Rule“ des § 93 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG besorgt. Mit Hilfe dieser „Haltepunkte“ könnte man, so kann ich am Ende dieser kleinen Skizze nur noch postulieren und nicht mehr ausführen, eine Explikation des Untreueunrechts auf dem von Wolfgang Frisch gelegten allgemeinen Fundament leisten: Die Verletzung des „porösen“ Rechtsguts „Vermögen“ muss sich bilanziell darstellen lassen; die Verhaltensnorm, deren Verletzung das tatbestandsmäßige Verhalten ausmacht, verbietet die Schaffung eines nach den Maßstäben des Geschäftsherrn intolerablen Risikos, welches (wie bei jedem Erfolgsdelikt) 70
Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953, § 217.
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durch den voraussehbaren Eintritt der Rechtsgutsverletzung indiziert, aber durch mannigfache Gründe (namentlich die generelle oder spezielle, ausdrückliche oder konkludente Erlaubnis des Geschäftsherrn) gerechtfertigt werden kann; das Merkmal der Pflichtwidrigkeit ist systematisch nicht der Unrechtsbegründung, sondern dem Unrechtsausschluss zuzuordnen, was aber in einem zweistufigen Strafrechtssystem von Unrecht und Schuld keine inhaltlichen Konsequenzen hat.
Keine Unmittelbarkeit des Vermögensschadens, ausbleibender Gewinn als Nachteil – liegt der Untreue ein anderer Begriff des Vermögensschadens zugrunde als dem Betrug? Von Walter Perron Wolfgang Frisch hat sich in der jüngeren Vergangenheit näher mit dem Betrugstatbestand, insbesondere mit der Täuschung und dem Irrtum, befasst. Die folgenden Gedanken zum Verhältnis von tatbestandsmäßigem Verhalten und Taterfolg bei der Untreue im Vergleich zum Betrug sind ihm gewidmet.
I. Einführung Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner grundlegenden Entscheidung zum Untreuetatbestand vom 23. 6. 20101 quasi im Vorbeigehen mit einer noch nicht ganz geklärten, gleichwohl zentralen Frage der Untreuedogmatik befasst: Kann ein Vermögensnachteil auch dadurch entstehen, dass ein erwarteter Gewinn ausbleibt?2 Das höchste deutsche Gericht bejahte entgegen der von Schünemann in dem Verfahren als Bevollmächtigter eines Beschwerdeführers vertretenen Ansicht3 diese Frage und referierte hierzu zwei verschiedene Begründungsansätze des Schrifttums: Zum einen die heute vorherrschende Meinung, die wie beim Betrug verlangt, dass sich die Gewinnerwartung zu einer bereits das aktuelle Vermögen mehrenden Exspektanz verstärkt hat, die dann aufgrund des pflichtwidrigen Verhaltens verloren geht4 – zum anderen die von einigen Autoren vertretene Ansicht, dass auch entgangene zukünftige Gewinne, die ohne die Pflichtverletzung entstanden wären, einen Nachteil i.S.d. § 266 StGB begründen.5 Das BVerfG sah beide Ansichten aus verfassungsrechtlicher Sicht als gleichwertig an und nahm dazu nicht weiter
1
BVerfGE 126, 170. BVerfGE 126, 213 ff. 3 Vgl. BverfGE 126, 185; siehe auch LK-StGB/Schünemann, 12. Aufl. 2012, § 266 Rn. 173. 4 Vgl. LK-StGB/Schünemann (Fn. 3), § 266 Rn. 167, 176 m.w.N. 5 So NK-StGB/Kindhäuser, 3. Aufl. 2010, § 266 Rn. 97; Rengier, Strafrecht, BT I, 14. Aufl. 2012, § 18 Rn. 54. 2
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Stellung, weil es im konkreten Fall – Nichtaufdeckung einer vorgefundenen schwarzen Kasse durch einen leitenden Angestellten – nicht darauf ankam.6 Nicht erwähnt wurde in der Entscheidung eine weitergehende, mit dieser Frage zusammenhängende Diskussion, ob die Parallelität von Untreue und Betrug nicht außerdem erfordert, dass das pflichtwidrige Verhalten bei der Untreue ebenso wie die Vermögensverfügung beim Betrug den Vermögensschaden unmittelbar herbeiführt.7 Die bisher h.M. hat sich dieser Forderung von Saliger8 und Schünemann9 noch nicht anschließen können. Würde sie dies tun, dann könnte der Vermögensnachteil bei der Untreue nicht anhand eines hypothetischen Vergleiches der tatsächlichen Vermögensentwicklung mit derjenigen, die sich bei pflichtgemäßem Verhalten ergeben hätte, ermittelt werden. Erforderlich wäre vielmehr, dass bereits der aktuelle Vergleich der Vermögenslagen vor und unmittelbar nach dem pflichtwidrigen Verhalten einen negativen Saldo ergibt.10 Die praktischen Ergebnisse dieser theoretischen Diskussion lassen sich freilich nur schwer abschätzen. Dies liegt insbesondere daran, dass weder die unterschiedlichen Konzepte bislang näher ausgearbeitet worden sind noch ein Konsens über die in den relevanten Fallgruppen wünschenswerten Ergebnisse besteht. So hat das Unmittelbarkeitserfordernis zum einen zwar den unbestreitbaren Vorteil der präziseren Bestimmung des Zusammenhangs zwischen Tatverhalten und Taterfolg. Es wird freilich mit der Notwendigkeit einer extensiven Anerkennung der Figur des Gefährdungsschadens erkauft:11 Will man Sachverhalte wie etwa den weit jenseits jeder Sorgfaltsgrenze liegenden hochspekulativen Umgang mit Geldern des Geschäftsherrn oder die Vergabe von Krediten ohne ausreichende Sicherheiten nicht von vornherein aus dem Anwendungsbereich der Untreue ausschließen, weil der tatsächliche Verlust in Form eines Kursabsturzes der erworbenen Wertpapiere oder des endgültigen Ausfalls der Rückzahlungsforderung regelmäßig erst deutlich später eintritt, muss das bereits durch den Erwerb der Papiere oder die Kreditvergabe eingegangene Risiko als aktuelle Wertminderung angesehen und in die Vermögensbilanz eingepreist werden. Und hat man diesen Schritt der Umrechnung unsicherer Verlustprognosen in aktuelle Wertabschläge erst einmal getan, spricht auch nichts gegen die spiegelbildliche Umrechnung unsicherer Gewinnerwartungen in aktuelle Wertzuwächse, so dass die Vereitelung der Gewinnchance als Verlust eines bereits bestehenden Wertes definiert werden kann. 6
BVerfGE 126, 215 f. Vgl. zum Betrug z. B. LK-StGB/Tiedemann, 12. Aufl. 2012, § 263 Rn. 98 m.w.N. 8 Vgl. Saliger, ZStW 112 (2000), 563, 568 (and. jetzt aber in SSW-StGB/Saliger, 2009, § 266 Rn. 84); siehe auch Seier, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrechts, 3. Aufl. 2011, 5/2 Rn. 212. 9 LK-StGB/Schünemann (Fn. 3), § 266 Rn. 168. 10 So die h.M. zu § 263; vgl. z. B. BGHSt 51, 10, 15, LK-StGB/Tiedemann (Fn. 7), § 263 Rn. 161. 11 So Schünemann selbst (vgl. LK-StGB/Schünemann [Fn. 3], § 266 Rn. 168). 7
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Zum anderen verstellt der Streit um die extensive oder restriktive Auslegung des Untreuetatbestandes häufig den Blick auf die Frage, in welchen Sachverhaltskonstellationen eine Bestrafung kriminalpolitisch überhaupt wünschenswert ist. Da § 266 in der Praxis die Funktion einer Quasi-Generalklausel für wirtschaftliches Fehlverhalten erfüllt, muss seine Auslegung höchst unterschiedlichen Fallgestaltungen gerecht werden. So passt die gegenwärtige Ausgestaltung des Tatbestandes als Erfolgsdelikt beispielsweise gut auf Unterschlagungen von Vermögenswerten, die von § 246 StGB nicht erfasst werden (z. B. der Geschäftsführer einer GmbH überweist Firmengelder pflichtwidrig auf sein eigenes Konto). Bei der Kredituntreue läge es dagegen näher, den Tatbestand als Gefährdungsdelikt auszugestalten: Ob die Rückzahlungsforderung tatsächlich uneinbringbar werden wird, kann zum Zeitpunkt der Kreditvergabe zumeist nur schwer abgeschätzt werden, und wie der Untreuevorsatz im Hinblick auf diesen nur potentiellen Ausfalls beschaffen sein muss, ist sogar zwischen den einzelnen BGH-Senaten umstritten.12 Die von der h.M. gewählte Konstruktion des Gefährdungsschadens, die insbesondere damit begründet wird, dass die mangelnde Absicherung schon in der aktuellen Bilanz der Bank berücksichtigt werden muss und deren Handlungsspielräume einschränkt,13 verwischt den Unterschied zwischen Risiko und Verlust14 und schafft Unsicherheiten, die durch die Konstruktion eines Gefährdungsdeliktes vermieden werden könnten. Weil der Untreuetatbestand mangels stärker konkretisierter Sondervorschriften höchst unterschiedliche Formen von Fehlverhalten und Schädigungen erfassen muss, können seine einzelnen Merkmale auch durch noch so große dogmatische Anstrengungen kaum in einer systematisch konsistenten Weise näher präzisiert werden. Der Anwendungsbereich wird vielmehr von Fallgruppe zu Fallgruppe unterschiedlich definiert. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass weite Teile des Schrifttums auf die Erkenntnisse der Betrugsdogmatik zurückgreifen und durch das Postulat der Parallelität der Schadensbestimmung bei Untreue und Betrug festeren Boden unter den Füßen zu erreichen suchen. Tatsächlich verstellt dieses Postulat aber den Blick auf die eigentlichen Probleme der Untreue und führt nur zu Scheinlösungen. Es ist daher an der Zeit, sich davon zu lösen und die Perspektiven einer eigenständigen Schadensdogmatik der Untreue auszuloten. Im Folgenden soll daher zunächst der Frage nachgegangen werden, welche Funktionen das Unmittelbarkeitsprinzip und die Schadensbestimmung anhand eines Ver12
Vgl. BGHSt 51, 100, 121 f., BGHSt 52, 182, 189 f., BGH NStZ 2007, 704, NJW 2010, 1764 f. einerseits und BGHSt 53, 199, NJW 2008, 2451, 2452, HRRS 2009, 418 f. andererseits sowie näher dazu Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 266 Rn. 177 ff. 13 Vgl. BVerfGE 126, 221 ff. 14 Der effektive wirtschaftliche Schaden der Bank hängt in erheblichem Maße davon ab, ob es tatsächlich zu einem Ausfall kommt. Zahlt der Kreditnehmer pünktlich alle fälligen Raten, so wird die Bank regelmäßig zwar auch durch die Berechnung eines zu niedrigen Zinssatzes oder durch wirtschaftliche Auswirkungen der für das Ausfallrisiko erforderlichen Rückstellungen in der Bilanz geschädigt (siehe unten IV.1.), doch sind diese Nachteile zumeist viel geringer als ein tatsächlicher Zahlungsausfall.
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gleichs der Vermögenslagen vor und nach der Verfügung beim Betrug haben, bevor die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit der Übertragung dieser Prinzipien auf die Untreue erörtert wird.
II. Unmittelbarkeit und Schadensbestimmung beim Betrug Der Betrug ist ein Vermögensverschiebungsdelikt, bei dem der Täter das Opfer durch Täuschung zu einer unbewussten Selbstschädigung veranlasst, um daraus für sich oder einen Dritten einen stoffgleichen Vermögensvorteil zu ziehen.15 Die Vermögensverschiebung wird vom Opfer selbst (oder einem in dessen Lager stehenden Dritten) vollzogen. Dessen „Verfügung“ über den zu transferierenden Vermögenswert bildet das Scharnier zwischen dem in der Täuschungshandlung liegenden Täterverhalten und dem Vermögensschaden als Taterfolg. Diese Konstruktion bestimmt sowohl die Notwendigkeit der unmittelbaren Schadensherbeiführung als auch die Möglichkeiten, entgangene Gewinne als Betrugsschaden anzusehen. Das Unmittelbarkeitserfordernis hat in vielen typischen Betrugsfällen keine besondere Bedeutung, weil die gesamte Verfügung in einem einzigen Akt vollzogen wird, beispielsweise durch Weggabe von Geld im Rahmen eines Bargeschäfts. Daneben finden sich aber auch mehraktige Geschehensformen wie etwa der Abschluss eines Vertrages, dessen wechselseitige Verpflichtungen erst später, u. U. auch sukzessiv und durch andere Personen, erfüllt werden. Schon hier stellt sich die Frage, worin die maßgebliche Verfügung des Opfers liegt – bereits im Vertragsschluss oder erst in der Erfüllung der eingegangenen Verpflichtung?16 Die Lösung wird von der ganz h.M. in solchen Fällen nicht bei dem Begriff der Verfügung, sondern bei demjenigen des Schadens gesucht: Sobald ein solcher festgestellt werden kann, sei es in der Form eines realen Abflusses von Vermögensgegenständen, sei es in Form eines Gefährdungsschadens, wird der letzte davorliegende und mit dem Schaden kausal verknüpfte Akt des Getäuschten als „Vermögensverfügung“ bezeichnet. Mit anderen Worten: die „Unmittelbarkeit“ der Vermögensminderung bzw. Schadensherbeiführung ist ein Definitionsmerkmal der Vermögensverfügung.17 Mit der Anerkennung der Figur des Gefährdungsschadens wird daher nicht nur der Vollendungszeitpunkt vorverlegt, sondern es werden auch die Möglichkeiten der Feststellung betrugsrelevanter Vermögensverfügungen erweitert, etwa wenn beim Eingehungsbetrug bereits der Abschluss (und nicht erst der Vollzug) des nachteiligen Vertrages als maßgeblicher Zeitpunkt gilt, obwohl der Getäuschte die Möglichkeit hat, den Vertrag wegen arglistiger Täuschung anzufechten und die Erfüllung zu verweigern. 15 Vgl. z. B. NK-StGB/Kindhäuser (Fn. 5), § 263 Rn. 45 ff.; LK-StGB/Tiedemann (Fn. 7), § 263 Rn. 3. 16 Vgl. dazu Schönke/Schröder/Cramer/Perron, 28. Aufl. 2010, § 263 Rn. 125 ff. m.w.N. 17 Vgl. LK-StGB/Tiedemann (Fn. 7), § 263 Rn. 98.
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Seine eigentliche Bedeutung erlangt das Unmittelbarkeitserfordernis freilich erst bei der Abgrenzung des Betruges als Selbstschädigungsdelikt von anderen, auf Fremdschädigung basierenden Tatbeständen, insbesondere im Verhältnis von Sachbetrug und Trickdiebstahl:18 Führt bereits die vom Täter durch Täuschung erzeugte Handlung des Opfers den Schadenseintritt herbei, ohne dass es weiteren Zutuns des Täters bedürfte, so handelt es sich nach der h.M. um einen Betrug – ermöglicht diese Handlung es dem Täter dagegen lediglich, die Vermögensverschiebung durch eine neue deliktische Handlung selbst zu vollziehen, so wird der Täter nur wegen dieser letzten Handlung bestraft. Für die Abgrenzung von Trickdiebstahl und Sachbetrug wird diese Unterscheidung an dem Gewahrsamsübergang festgemacht, der beim Betrug dem Getäuschten als freiwillige Gewahrsamsübertragung zuzurechnen sein muss, während beim Trickdiebstahl das durch Täuschung veranlasste Opferverhalten nur zu einer Gewahrsamslockerung führt und der eigentliche Gewahrsamsübergang vom Täter selbst gegen den Willen des Opfers vollzogen wird.19 Strafbarkeitslücken entstehen bei dieser Konstruktion nicht: Entweder wird der Täter wegen Diebstahls oder wegen Betruges bestraft. Das Unmittelbarkeitskriterium bestimmt daher in solchen Fällen nur den anwendbaren Tatbestand, legt aber nicht die Grenze der Strafbarkeit fest. Deutlich wird das beim Vergleich mit dem parallelen Fall des Forderungsbetruges: Hier existiert kein den §§ 242, 246 StGB entsprechender Tatbestand des Forderungsdiebstahls oder der Forderungsunterschlagung, so dass die Vereinnahmung einer Forderung gegen den Willen des Berechtigten im Allgemeinen20 nicht strafbar ist. Um keine allzu großen Strafbarkeitslücken entstehen zu lassen wird der Betrugstatbestand hier – im Unterschied zum Sachbetrug – nicht auf solche Konstellationen beschränkt, in denen die eigentliche Übertragung des Vermögenswertes durch den Getäuschten erfolgt. Beim Forderungsbetrug wird vielmehr schon dann ein Gefährdungsschaden – und damit auch eine Vermögensverfügung – angenommen, wenn der Getäuschte dem Täter den selbständigen Zugriff auf die Forderung ermöglicht, auch wenn der eigentliche Verlust erst nach einer weiteren Handlung des Täters eintreten kann.21 Dies gilt beispielsweise für Fälle, in denen der Getäuschte einen Geldbetrag auf ein Konto überweist, auf das auch der Täter Zugriff hat, oder in denen er dem Täter oder einem Boten eine Bankanweisung übergibt, die der Täter bei der Bank vorlegen und sich das Geld auszahlen lassen kann. Anders formuliert: im Gegensatz zum Sachbetrug wird beim Forderungsbetrug schon die bloße Herrschaftslockerung als unmittelbar das eigene Vermögen mindernde Verfügung angesehen.
18 Vgl. dazu z. B. SK-StGB/Hoyer, Loseblattausgabe, 60. Lfg. (Februar 2004), § 263 Rn. 160. 19 Vgl. z. B. MK-StGB/Hefendehl, 2006, § 263 Rn. 272 ff. mit umfassenden Nachweisen zur Rechtsprechung. 20 Anders nur, falls der Täter zum von § 266 StGB erfassten Personenkreis gehört. 21 Vgl. Schönke/Schröder/Cramer/Perron (Fn. 16), § 263 Rn. 62; LK-StGB/Tiedemann (Fn. 7), § 263 Rn. 111.
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Die Unmittelbarkeit der Schadensherbeiführung folgt mithin aus dem Charakter des Betruges als Selbstschädigungsdelikt und wird nur dann näher problematisiert, wenn es um die Abgrenzung zu einer auf andere Weise strafbaren Fremdschädigung geht. Keine Bedeutung hat dieses Erfordernis dagegen für die Grenzziehung zwischen strafbarem und straflosen Verhalten oder zwischen Vollendung und Versuch – diese Grenze wird anhand des Begriffes der Vermögensbeschädigung geleistet und mithilfe der Figur des Gefährdungsschadens sehr weit zu Lasten des Täters ausgedehnt. Auch die Frage, ob entgangene Gewinne einen Vermögensschaden darstellen können, wird beim Betrug in tatbestandsspezifischer Weise beantwortet. Der Tatbestand setzt nicht nur eine durch Täuschung bedingte unbewusste Selbstschädigung voraus, sondern verlangt auch eine Vermögensverschiebung in der Weise, dass der vom Opfer aufgegebene Vermögenswert nach der Absicht des Täters in dessen Vermögen oder das eines begünstigten Dritten gelangen und dort zu einer rechtswidrigen Bereicherung führen soll.22 Im Unterschied zum Diebstahl wird hier zwar keine Identität des verlorenen Vermögensgegenstandes mit dem erstrebten Vorteil vorausgesetzt. Durch das Erfordernis der „Stoffgleichheit“ stellt freilich die ganz h.M. sicher, dass die Bereicherung denselben Vermögenswert betrifft.23 Auch hier bildet die Vermögensverfügung das maßgebliche Scharnier: Der Vorteil muss unmittelbar auf der den Schaden herbeiführenden Verfügung beruhen, sich als „Kehrseite“ des Schadens darstellen. Mit „Unmittelbarkeit“ ist zwar keine zeitliche Identität gemeint – dann müsste die Bereicherung zusammen mit dem Schaden objektiv vorliegen. Die Erlangung des erstrebten Vorteils darf aber nicht von weiteren Handlungen des Täters, Dritter oder des Opfers selbst abhängen.24 Ein entgangener Gewinn kann beim Betrug daher nur dann als relevanter Schaden angesehen werden, wenn die Gewinnchance, die der Geschädigte aufgibt und auf den Täter oder den begünstigten Dritten transferiert, bereits einen aktuellen Vermögenswert hat, den der Geschädigte verliert und der den Täter oder Dritten bereichert.25 Die Gefahr einer zu ausufernden Auslegung des Begriffs der vermögenswerten Exspektanz lässt sich in solchen Fällen zwar auch für den Betrugstatbestand nicht bestreiten (etwa wenn die Tatsache, dass der Täter bei der Verlosung von Aktienbezugsrechten mehr Lose erschwindelt, als ihm zustehen, und er dadurch seine eigenen Gewinnchancen auf Kosten der Chancen der anderen Teilnehmer erhöht, als hinreichende Vermögensverschiebung angesehen wird26). Sie wird freilich dadurch erheblich abgemildert, dass nur sehr vage Gewinnaussichten für den Täter im Allgemeinen wenig attraktiv sind und sich die Betrugshandlungen daher regelmäßig auf konkret fassbare
22
Vgl. NK-StGB/Kindhäuser (Fn. 5), § 263 Rn. 352. Vgl. LK-StGB/Tiedemann (Fn. 7), § 263 Rn. 256. 24 Vgl. BGHSt 34, 379, 391 und näher LK-StGB/Tiedemann (Fn. 7), § 263 Rn. 257 ff. 25 Vgl. LK-StGB/Tiedemann (Fn. 7), § 263 Rn. 262. 26 So BGHSt 19, 37, 42. 23
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oder durch Weiterveräußerung kapitalisierbare Anwartschaften oder Exspektanzen beschränken. Das Erfordernis der Unmittelbarkeit der Schadensherbeiführung und die Beschränkung des Schadens auf den Verlust bereits mit aktuellem Vermögenswert versehener Exspektanzen dienen beim Betrug somit keiner kriminalpolitisch gewollten Strafbarkeitsbegrenzung, sondern ergeben sich bereits aus dem Charakter des Delikts als Vermögensverschiebung durch unbewusste Selbstschädigung. Demgegenüber wird die Reichweite des Gefährdungsschadens (und damit spiegelbildlich auch der die Bereicherung herbeiführenden Exspektanzen) maßgeblich von kriminalpolitischen Erwägungen bestimmt. Eine allzu ausufernde Anwendung dieser Figur ist allerdings beim Betrug kaum möglich, weil die Einpreisung von vagen Zukunftsprognosen in das aktuelle Vermögen des Opfers nur dann betrugsrelevant werden kann, wenn der Täter sich von dem Transfer solcher Optionen in sein eigenes Vermögen (oder das eines begünstigten Dritten) einen ökonomischen Vorteil verspricht.
III. Die Übertragbarkeit des Unmittelbarkeitserfordernisses sowie der Notwendigkeit eines aktuellen Verlustes von Vermögenswerten auf den Untreuetatbestand Die Untreue ist kein Vermögensverschiebungsdelikt und setzt keine unbewusste Selbstschädigung voraus. Der Unrechtscharakter dieses Tatbestandes wird nicht durch Vermögensangriffe „von außen“ bestimmt, sondern durch Treuebruch „von innen“.27 Jedenfalls wenn man mit der h.M. den Missbrauchstatbestand als Unterfall des Treuebruchtatbestandes versteht und für beide gleichermaßen eine Vermögensfürsorgepflicht des Täters verlangt,28 die sich als qualifizierte Garantenpflicht darstellt, beruht der Strafgrund der Untreue auf der besonderen Verletzlichkeit des Inhabers des geschützten Vermögens. Dieser kann – so insbesondere bei juristischen Personen – oder will seine Geschäfte nicht (alle) selbst führen und vertraut sie einem Dritten zu treuen Händen an, der für die Wahrnehmung seiner Aufgaben freien Zugriff auf die Vermögenswerte seines Geschäftsherrn bekommt. Das tatbestandsmäßige Verhalten der Untreue besteht in der Verletzung der aus dieser qualifizierten Garantenstellung erwachsenden Pflichten. Schon bei oberflächlicher Betrachtung wird klar, dass eine „Vermögensverfügung“, die als Scharnier zwischen Täter- und Opfersphäre fungiert und den Übergang des betroffenen Vermögenswertes von der einen zur anderen Sphäre realisiert, bei der Untreue nicht erforderlich ist. Zwar erfasst der Untreuetatbestand selbstverständlich auch Fälle, in denen der Täter einen Vermögensgegenstand pflichtwidrig aus dem zu betreuenden Vermögen entfernt und sich selbst oder einem begünstigten Dritten zukommen 27
Vgl. nur LK-StGB/Schünemann (Fn. 3), § 266 Rn. 1. So seit BGHSt 24, 386, 387 (weitere Nachweise bei Schönke/Schröder/Perron, 28. Aufl. 2010, § 266 Rn. 2). 28
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lässt.29 Diese unterschlagungsähnlichen Konstellationen bilden jedoch nur eine von vielen möglichen Fallgruppen der Untreue. Angeklagt und verurteilt werden vielmehr auch Täter, die Gelder des Geschäftsherrn in dessen vermeintlichem Interesse zweckwidrig verwenden,30 Kredite zwar zweckentsprechend aber ohne ausreichende Sicherung vergeben31 oder die den Geschäftsherrn durch zweifelhafte Machenschaften mit Schadensersatzansprüchen Dritter32 oder vermögensrelevanten Sanktionen staatlicher Stellen33 belasten. Die Verschiebung von Vermögenswerten aus der Sphäre des Geschäftsherrn heraus in die Sphären begünstigter Dritter mag faktisch den Großteil der Untreuesachverhalte ausmachen – eine Beschränkung des Tatbestandes auf solche Fallgruppen lässt sich aber weder dem Wortlaut der Vorschrift entnehmen noch würde sie deren Schutzzweck entsprechen. Der Begriff der Vermögensverfügung ist bei der Untreue außerdem auch deshalb verzichtbar, weil diese keine Selbstschädigung voraussetzt, die von einer Fremdschädigung abgegrenzt werden müsste: Untreue ist immer Fremdschädigung. Ob diese Fremdschädigung in der Weise erfolgen muss, dass der Täter Vermögenswerte des Geschäftsherrn „unmittelbar“ in fremde Sphären verschiebt, oder ob es genügt, dass sein pflichtwidriges Verhalten Dritten den Zugriff auf das geschützte Vermögen eröffnet, ist daher keine Frage des Deliktscharakters sondern lediglich eine des Zurechnungszusammenhanges zwischen Tatverhalten und Erfolg. Dieser Zurechnungszusammenhang setzt nach den allgemeinen Regeln voraus, dass der Erfolg sich als Verwirklichung der vom Täter pflichtwidrig geschaffenen Gefahr für das zu betreuende Vermögen darstellt, und dies kann grundsätzlich auch bei mittelbaren Fremdschädigungen der Fall sein.34 Aber auch der tatbestandliche Erfolg der Untreue unterscheidet sich bei genauerer Betrachtung von demjenigen des Betruges. Zwar wird von der h.M. ebenfalls der Eintritt eines Vermögensschadens verlangt, weil beide Tatbestände dasselbe Rechtsgut Vermögen schützen und daher in gleicher Weise dessen Beeinträchtigung voraussetzen.35 Allerdings verwendet das Gesetz unterschiedliche Formulierungen: Während der Betrug eine „Beschädigung“ voraussetzt, lässt die Untreue die Zufügung eines „Nachteils“ genügen. Das Wörterbuch von Wahrig definiert „Nachteil“ als den allgemeineren Begriff, als „schlechte Eigenschaft; Verlust, Schaden; ungünstige Lage“,36 während „Beschädigung“ als „Schaden zufügen“ 29
Vgl. Schönke/Schröder/Perron (Fn. 28), § 266 Rn. 36 m.w.N. So etwa bei der Haushaltsuntreue (vgl. z. B. BGHSt 43, 293), beim Sponsoring (vgl. BGHSt 47, 187) oder bei der Bildung schwarzer Kassen (vgl. BGHSt 51, 100, 112). 31 Vgl. BGHSt 46, 30, BGHSt 47, 148. 32 Vgl. BGH NStZ 2000, 375, 376. 33 Vgl. BGHSt 51, 100, 117 f., OLG Hamm wistra 1999, 350. 34 Vgl. näher dazu unten IV.2. 35 Vgl. LK-StGB/Schünemann (Fn. 3), § 266 Rn. 164 m.w.N. 36 Vgl. Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Neuausgabe 1997, Stichwort „Nachteil“; siehe auch Duden online http://www.duden.de/rechtschreibung/Nachteil (abgerufen am 8. 11. 2012) sowie BVerfGE 126, 205. 30
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und „Schaden“ als Unterfalls des Nachteils, nämlich als „Verlust, Beeinträchtigung“, beschrieben wird.37 Diese unterschiedliche Wortwahl ist kein Zufall, sondern korrespondiert mit dem jeweiligen Unrechtscharakter der beiden Tatbestände. Das Wesen des Betruges besteht in der Vermögensverschiebung, die eine Bereicherung des Täters (oder Dritter) zu Lasten des Opfers bedeutet und als Kehrseite dieser angestrebten Bereicherung einen Verlust des betreffenden Vermögenswertes beim Opfer voraussetzt. Schon die Täuschungshandlung zielt daher auf die Schädigung des Opfers als notwendiges Zwischenziel der Bereicherung. Der Untreuetatbestand enthält dagegen keine Bereicherungsabsicht und beschränkt sich auch nicht auf das Verbot von Vermögensbeschädigungen. Die spezifischen Garantenpflichten des Untreuetäters reichen vielmehr wesentlich weiter und umfassen je nach konkreter Stellung regelmäßig auch die sorgfaltsgemäße Verwaltung und Mehrung des anvertrauten Vermögens.38 Ob Verstöße gegen diese Pflichten zu einem negativen Ergebnis und damit zu einem außerhalb der Tathandlung liegenden Taterfolg führen, kann daher nicht allein anhand eines Vergleiches der Vermögenslage vor und nach der pflichtwidrigen Handlung erfolgen. Vielmehr muss auch die Entwicklung berücksichtigt werden, die das Vermögen bei pflichtgemäßem Verhalten genommen hätte. Unterlässt der Täter beispielsweise treuwidrig die Wahrnehmung von Gewinnchancen, so kann auch dies zu einer „ungünstigen Lage“ führen. Ein untreuerelevanter „Nachteil“ ist daher nicht mit dem Verlust von Vermögenswerten gleichzusetzen, sondern er kann sowohl begrifflich als auch aus teleologischer Sicht ebenso in der Form des Ausbleibens zukünftiger Gewinne eintreten, sofern der Vergleich der tatsächlichen mit der ansonsten zu erwartenden Vermögensentwicklung ungünstig bzw. negativ ausfällt.39 Die nähere Betrachtung der beiden Tatbestände zeigt somit, dass die Erfordernisse eines Unmittelbarkeitszusammenhanges zwischen Tatgeschehen und Taterfolg sowie einer Minderung des aktuellen Vermögens zwar beim Betrug unverzichtbar sind, weil sie den spezifischen Unrechtscharakter dieses Deliktes prägen, ihre Übertragung auf die Untreue aber deren Reichweite begrifflich wie teleologisch sachwidrig einschränkt. Auf der anderen Seite ist allerdings spätestens nach der Grundsatzentscheidung des BVerfG vom 23. 6. 2010 unbestreitbar, dass der Untreuetatbestand durch eine zumindest fallgruppenorientierte Auslegung stärker konkretisiert und präzisiert werden muss. Insbesondere kommt dem Nachteilserfordernis insoweit eine zentrale Bedeutung zu, weil die versuchte Untreue vom Gesetzgeber bewusst straflos gelassen wurde. Es stellt sich daher die Frage, wie die gebotene Präzisierung ohne Anlehnung an die Betrugsdogmatik auf untreuespezifische Weise erfolgen kann. Dieser Frage soll im folgenden Teil nachgegangen werden.
37 Vgl. Wahrig (Fn. 36) Stichwort „Schaden“; siehe auch Duden online http://www.duden. de/rechtschreibung/Beschaedigung (abgerufen am 8. 11. 2012). 38 Vgl. z. B. NK-StGB/Kindhäuser (Fn. 5), § 266 Rn. 60. 39 Vgl. auch BVerfGE 126, 205: Nachteil als Vergleich zweier Vermögenslagen.
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IV. Untreuespezifische Bestimmung von Taterfolg und Zurechnungszusammenhang 1. Taterfolg Vermögensnachteil Die Verwirklichung des Untreuetatbestandes hängt davon ab, dass zu dem Handlungsunrecht der Pflichtverletzung das Erfolgsunrecht des Vermögensnachteils hinzutritt und dieser Nachteil sich als Verwirklichung der durch die Pflichtverletzung geschaffenen Gefahr für das Vermögen des Geschäftsherrn darstellt. Das Erfordernis eines selbständigen Erfolgsunrechts wird in der Praxis freilich nicht immer ernst genug genommen. Insbesondere führt, wie auch das BVerfG zu Recht erkannt hat, die sehr großzügige Anerkennung von Gefährdungsschäden zu einer „Verschleifung“ der Tatbestandsmerkmale „Treuepflichtverletzung“ und „Nachteil“:40 Da den meisten Formen des pflichtwidrigen Umgangs mit fremdem Vermögen die Gefahr von dessen Schmälerung (oder zu geringer Mehrung) anhaftet, kann mittels einer großzügigen Umrechnung von zukünftigen Verlustwahrscheinlichkeiten in aktuelle Wertminderungen fast jedes Handlungsunrecht zu einem Erfolgsunrecht umdefiniert werden. Die einfachste Lösung des Problems wäre der Verzicht auf die Figur des Gefährdungsschadens. Dieser Verzicht kann allerdings nicht durch eine bloße Änderung der Terminologie realisiert werden, wie es der 1. Strafsenat des BGH versucht hatte.41 Auch wenn man den „Gefährdungsschaden“ als „realen“ Schaden bezeichnet, beruht diese Realität auf der Einpreisung einer bloßen Zukunftsprognose in das aktuelle Vermögen. Erforderlich wäre vielmehr ein Verbot der Umrechnung zukünftiger Entwicklungen in aktuelle Vermögenswerte, weil ja gerade die Unsicherheit der Zukunft diese Umrechnung prekär macht. Ein solches Verbot würde freilich die Aufgabe des wirtschaftlichen Vermögensbegriffs bedeuten – die Wirtschaft rechnet ständig Zukunftserwartungen in aktuelle Vermögenswerte um und treibt mit diesen virtuellen (positiven oder negativen) Werten Handel – und den Schutzbereich des Untreuetatbestandes drastisch verkleinern. Das BVerfG hat stattdessen – im Anschluss an bilanzrechtliche Ansätze des Schrifttums – verlangt, dass das Ausmaß der durch das Verlustrisiko verursachten Schmälerung des gegenwärtigen Vermögens unter Hinzuziehung von Wirtschaftsprüfern konkret beziffert wird.42 Diese Forderung hat auf den ersten Blick viel für sich, weil so die Unsicherheit der Prognose durch die Sicherheit eines in der Wirtschaft anerkannten Umrechnungs- und Bewertungsverfahrens ersetzt wird. Allerdings muss diese Umrechnung nach den Regeln des Bilanzrechts erfolgen, welches nicht die Gewährleistung einer hinreichenden Bestimmtheit des Untreuetatbestands zum Ziel hat. Die Bilanz bildet vielmehr die zentrale Informationsgrundlage für Un40
Vgl. BVerfGE 126, 228. Vgl. BGH NJW 2009, 2390 (zu § 263). 42 BVerfGE 126, 211, 228 f. 41
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ternehmensinhaber, Gläubiger und Anleger über den Zustand des Unternehmens und wird je nach Zielgruppe und konkretem Bilanzzweck anhand unterschiedlicher Vorgaben erstellt.43 So sind Bilanzen nach deutschem Handelsrecht vor allem an den Gläubigerinteressen orientiert und müssen wegen des Gebots der vorsichtigen Bilanzierung Rückstellungen für Verlustrisiken vorsehen, während Gewinne erst positiv berücksichtigt werden dürfen, wenn sie tatsächlich realisiert worden sind.44 Eine Anlehnung der Schadensbestimmung an diese Vorschriften würde daher tendenziell zu einer Überbewertung der Verlustrisiken und damit zu einer unangemessenen Ausdehnung der Figur des Gefährdungsschadens führen. Ein Erfolgsunrecht im Sinne des Untreuetatbestands kann aber nicht allein damit begründet werden, dass wegen des durch das pflichtwidrige Verhalten verursachten Verlustrisikos in der Handelsbilanz eine Rückstellung vorgenommen werden muss.45 Erforderlich ist vielmehr, dass diese Rückstellung auch zu einer aktuellen Belastung führt, die sich als Vermögensnachteil darstellt. Ein solcher Nachteil kann z. B. in der Notwendigkeit der Aufstockung des Eigenkapitals oder erhöhten Kosten bei der Beschaffung von Fremdkapital bestehen. Bei der Kredituntreue kommt hinzu, dass bei höheren Risiken im Allgemeinen höhere Kreditzinsen verlangt werden und der Nachteil deshalb – neben dem Ausfallrisiko der Rückforderung der Kreditsumme – regelmäßig auch in der Berechnung eines zu niedrigen Zinssatzes liegen wird. Eine genaue Bezifferung des sich bereits aktuell manifestierenden Gefährdungsschadens sollte aber – entgegen der Forderung des BVerfG – nicht verlangt werden und ist, wenn die Konkretisierung von weiteren unternehmerischen Aktivitäten abhängt, häufig auch gar nicht leistbar. Feststehen muss jedoch, dass das Verlustrisiko sich in einer Weise manifestiert, die bereits zu gegenwärtigen finanziellen Einbußen führt. Lässt sich dagegen noch keine aktuelle Belastung feststellen, so liegt auch kein gegenwärtiger Schaden vor.46 Was die Einbeziehung entgangener Gewinne in den Nachteilsbegriff angeht, so hilft, wie schon erwähnt, das Bilanzrecht nicht weiter: Gewinne dürfen gem. § 252 I Nr. 4 HGB erst dann in eine Handelsbilanz eingestellt werden, wenn sie vor dem Stichtag tatsächlich realisiert wurden. Die Vermögensbetreuungspflicht beschränkt sich jedoch nicht auf den Schutz des aktuellen Vermögensbestandes, son43
Vgl. z. B. Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 4. Aufl. 2006, Einführung Rn. 1, 5 ff. Vgl. § 252 I Nr. 4 HGB und dazu Merkt, in: Baumbach/Hopt (Hrsg.), Handelsgesetzbuch, 35. Aufl. 2012, § 252 Rn. 10 ff. 45 Dies gilt grundsätzlich auch für Abschreibungen an Rückzahlungsforderungen bei Bankkrediten, die gemäß §§ 253, 340e HGB in der Bilanz von Banken vorzunehmen sind. Solange die Forderung nicht an Dritte veräußert werden soll oder zumindest kein deutlich unter dem Nominalwert liegender Marktpreis für die Veräußerung der Forderung festgestellt werden kann, fehlt es an einem gegenwärtigen „Nachteil“. Vgl. zu dieser Problematik auch Rübenstahl, HRRS 2012, 501. 46 Die Gefahr einer Sanktion einer politischen Partei durch den Bundestagspräsidenten wegen der Nichtoffenlegung von Parteispenden oder des Entzugs des Gemeinnützigkeitsstatus wegen der Machenschaften eines Vereinsvorstands begründet entgegen BGHSt 51, 100, 117, OLG Hamm wistra 1999, 350 daher noch keinen gegenwärtigen Vermögensnachteil. 44
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dern ist auch auf dessen Weiterentwicklung und Mehrung gerichtet. Unterlässt es der Täter pflichtwidrig, Gewinnchancen für den Geschäftsherrn wahrzunehmen, so kann er diesem auch dadurch einen Nachteil i.S. einer ungünstigeren Vermögenslage zufügen. Problematisch ist freilich, dass die Zukunft auch in dieser Richtung zumeist unsicher ist. Zwar lässt sich dieses Problem formal dadurch umgehen, dass man die Gewinnaussichten mit der h.M. als bereits das aktuelle Vermögen mehrende Expektanzen ansieht. Spiegelbildlich zum Verlust von Vermögenswerten ist dann aber ein realer finanzieller Zuwachs zu verlangen, etwa in der Form des Anstiegs von Börsenkursen oder eines ermittelbaren Marktpreises, zu welchem die Exspektanz gegen Geld veräußert werden könnte, der durch die Nichtwahrnehmung der Gewinnchance wieder verloren geht. Über den Verlust vermögenswerter Exspektanzen hinaus kann der Nachteil, wie bereits dargelegt,47 aber auch durch einen Vergleich der tatsächlichen Vermögenslage mit derjenigen bestimmt werden, die sich bei pflichtgemäßem Verhalten ergeben hätte. Freilich stellt sich hier die Unsicherheit von Zukunftsprognosen als ein noch viel größeres Problem dar: Während bei der Belastung des Geschäftsherrn mit Verlustrisiken notfalls auch abgewartet werden kann, ob tatsächlich ein Schaden eintritt, bevor ein Strafverfahren eingeleitet wird, lassen sich vereitelte Gewinnchancen zumeist nicht in vergleichbarer Form verifizieren. Jedenfalls wenn die Gewinnchance wegen der Nichtwahrnehmung ersatzlos untergegangen ist, kann der Nachteil nur anhand eines hypothetischen Vergleichs festgestellt werden. Wegen der prinzipiellen Unsicherheiten solcher Verfahren bleiben dann aber häufig Zweifel bestehen, die sich nach dem Grundsatz in dubio pro reo zugunsten des Täters auswirken48. Außerdem ist dieser Nachteil ein zukünftiger und wird erst zu dem Zeitpunkt gegenwärtig, zu dem sich die Gewinnchance tatsächlich realisiert hätte. Entgangene Gewinne können daher zwar grundsätzlich einen untreuerelevanten Nachteil darstellen. Ihr Nachweis setzt jedoch voraus, dass entweder bereits die Gewinnaussicht als solche einen gegenwärtig realisierbaren finanziellen Mehrwert begründet oder dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Gewinn bei pflichtgemäßem Täterverhalten eingetreten wäre. 2. Zurechnungszusammenhang Neben der Feststellung des Vermögensnachteils ist für die Verwirklichung des Untreuetatbestands weiterhin erforderlich, dass dieser Nachteil in einem ausreichenden Zurechnungszusammenhang zu dem pflichtwidrigen Täterverhalten steht, d. h. dass er sich als Verwirklichung der vom Täter geschaffenen Gefahr für das Vermögen des Geschäftsherrn darstellt. Im Hinblick auf die hier in Frage stehende Unmittelbar47
Siehe oben III. In dem von BGHSt 52, 323, 336 entschiedenen Siemens-ENEL-Fall bestanden ausnahmsweise keine Zweifel, da der Angeklagte die Verfügungsgewalt über die schwarze Kasse hatte und daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die zuvor verlorenen Gelder wieder in das Firmenvermögen von Siemens hätte zurückführen können. 48
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keit der Nachteilsherbeiführung sind dafür vor allem zwei Aspekte der allgemeinen Zurechnungslehre bedeutsam: Erstens wie sich ein größerer zeitlicher Abstand zwischen der Tathandlung und dem Taterfolg auf die Zurechnung auswirkt und zweitens wie Sachverhalte zu beurteilen sind, in denen die Realisierung des Schadens (oder die hypothetische Realisierung des entgangenen Gewinns) von Handlungen Dritter abhängt. Was den zeitlichen Abstand angeht, so kennt die allgemeine Zurechnungslehre keine Einschränkungen.49 Ob Spätfolgen, die erst Jahrzehnte später eintreten (z. B. ein Gebäude stürzt 20 Jahre nach der Errichtung bei einem Erdbeben aufgrund eines Konstruktionsfehlers ein), eine strafrechtliche Haftung begründen, wird allein als Frage der Verjährung angesehen. Gründe, warum dies bei der Untreue anders sein sollte, sind nicht erkennbar. Wird etwa ein Kredit mit einer Laufzeit von 20 Jahren pflichtwidrig ohne ausreichende Sicherung vergeben, so dürfte zwar regelmäßig schon zum Zeitpunkt der Kreditgewährung ein feststellbarer Schaden vorliegen.50 Sollte dieser „Anfangsschaden“ aber ausnahmsweise zu verneinen sein, kann der Nachteil auch noch zum Ende der Laufzeit eintreten, etwa wenn der Kreditnehmer zunächst alle seine Verpflichtungen erfüllt, nach 20 Jahren aber nicht mehr in der Lage ist, die verbleibende Restschuld zurückzuzahlen. Auch dieser Ausfall stellt sich als Verwirklichung der Pflichtverletzung dar, sofern die Restforderung aus der bei korrektem Verhalten erlangten Sicherheit hätte befriedigt werden können. Die Tat wäre im Übrigen auch nicht verjährt, weil die gemäß § 78 a StGB maßgebliche Tatbeendigung nach der Rechtsprechung des BGH erst mit der Realisierung des Verlustrisikos eintritt.51 Würde die Figur des Gefährdungsschadens in der hier vorgeschlagenen Weise eingeschränkt, so müsste für die Bejahung der Untreuestrafbarkeit zwar in mehr Fällen als heute abgewartet werden, ob sich das Verlustrisiko tatsächlich realisiert. Zusätzliche Bestrafungshindernisse wegen des Zeitablaufes würden sich aber nicht stellen. Gleiches gilt spiegelbildlich für entgangene Gewinne. Auch hier ist für die Zurechnung unerheblich, wann sich die nicht wahrgenommene Gewinnchance bei korrektem Verhalten realisiert hätte. Es genügt vielmehr, dass bei pflichtgemäßem Verhalten der Gewinn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem vor der Verurteilung liegenden Zeitpunkt eingetreten wäre und sich als Verwirklichung der pflichtgemäßen Vermögensfürsorge dargestellt hätte. Die zweite Frage, die ich bereits an anderer Stelle erörtert habe,52 ist die nach etwaigen Unterbrechungen des Zurechnungszusammenhangs durch das Eintreten Dritter in den Kausalverlauf. Viele der derzeit als Untreue eingestuften Fallkonstellationen sind dadurch gekennzeichnet, dass der Täter durch sein pflichtwidriges Ver49
Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, 28. Aufl. 2010, vor § 13 Rn. 92 m.w.N. Jedenfalls weil dem Kreditnehmer ein zu niedriger Zinssatz in Rechnung gestellt wird (siehe oben IV.1.). 51 Vgl. BGH NStZ 2001, 650. 52 Perron, FS Tiedemann, 2008, 737, 744 f. 50
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halten Dritten die Möglichkeit eröffnet, auf das Vermögen des Geschäftsherrn zuzugreifen. Beispiele hierfür bilden Fälle der unordentlichen Buchführung, die verhindert, dass berechtigte Forderungen gegen Dritte durchgesetzt und unberechtigte Forderungen Dritter abgewehrt werden können,53 oder Fehlverhalten beim Umgang mit Parteispenden oder Vereinsgeldern, die den Bundestagspräsidenten oder das Finanzamt veranlassen, Sanktionen in Form von Strafzahlungen zu verhängen oder dem Verein den Status der Gemeinnützigkeit zu entziehen.54 In allen diesen Fällen stellt sich die Frage, ob der eigentliche Schaden nicht erst durch das eigenverantwortliche Handeln dieser Außenstehenden entsteht und deshalb nicht dem Täter angelastet werden kann. In der allgemeinen Zurechnungslehre wird in der Tat darüber gestritten, ob das Autonomieprinzip die Haftung des lediglich mittelbaren Verursachers sperrt oder ob dieser zumindest dann für das Verhalten des Dritten einzustehen hat, wenn dieses aufgrund konkreter Anhaltspunkte für ihn vorhersehbar war.55 Freilich betrifft diese Kontroverse nur Fälle, in denen der Dritte rechtswidrig handelt, während dem Täter unstrittig alle Folgen zuzurechnen sind, die auf vorhersehbarem rechtmäßigem und sachgemäßem Verhalten Dritter beruhen.56 Deshalb müssen z. B. Sanktionen, die wegen des Fehlverhaltens des Täters gegen den Inhaber des geschützten Vermögens zu Recht verhängt werden (Strafzahlungen für nicht deklarierte Parteispenden, Entzug der Gemeinnützigkeit etc.), dem Täter selbstverständlich angelastet werden. Umstritten ist dagegen, ob und wann eine Zurechnung bei rechtswidrigem Verhalten Dritter erfolgen soll (z. B. der Geltendmachung nicht berechtigter Forderungen, die wegen unordentlicher Buchführung nicht abgewehrt werden können).57 Die Untreue ist jedoch auch von diesem Streit nicht betroffen.58 Grundlage der Haftung des Untreuetäters ist nämlich nicht lediglich dessen Verantwortung für eigenes Tun (Ingerenzhaftung), sondern seine spezifische Schutzgarantenstellung für das betreute Vermögen. Aus dieser Garantenstellung folgt über die Pflicht zur Abwehr von rechtswidrigen Angriffen Dritter hinaus auch die Pflicht zur Unterlassung von Handlungen, die Dritten derartige Zugriffe auf das geschützte Vermögen ermöglichen. Wolfgang Frisch hat dies schon in seiner 1988 erschienenen Monografie „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs“ klar und deutlich herausgestellt: „Es wäre grotesk und ein Wertungswiderspruch, wollte man jemanden zur Abwendung von bestimmten Beeinträchtigungen verpflichten, diesem zugleich aber Handlungen, die die Gefahr solcher Beeinträchtigungen schaffen, erlauben.“59 Ermöglicht der 53
Vgl. BGHSt 47, 8. Vgl. BGHSt 51, 100, 117 f., OLG Hamm wistra 1999, 350. 55 Vgl. etwa Frisch, JuS 2011, 116, 120 f. 56 Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele (Fn. 49), vor § 13 Rn. 102. 57 Vgl. dazu Frisch, JuS 2011, 121. 58 Zu früher vertretenen Gegenansichten vgl. Saliger, ZStW 112 (2000), 577 mit Fn. 68. 59 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 353. Siehe auch Frisch, JuS 2011, 121. 54
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Täter Dritten den Zugriff auf das geschützte Vermögen, so liegt darin eine unerlaubte Risikoschaffung im Sinne von § 266 StGB, die sich dann in einem Vermögensnachteil realisiert, wenn der Dritte tatsächlich zugreift, sei es auch in rechtswidriger Weise. Das Erfordernis eines Unmittelbarkeitszusammenhangs zwischen Pflichtverletzung und Schaden ist bei der Untreue daher nicht nur wegen der mangelnden Vergleichbarkeit dieses Delikts mit dem Betrug fehl am Platze, sondern es wäre auch mit den untreuespezifischen Zurechnungsregeln nicht vereinbar.
V. Fazit Untreue und Betrug schützen zwar dasselbe Rechtsgut. Sie erfassen aber unterschiedliche Angriffsformen und unterscheiden sich deshalb nicht nur in den Anforderungen an Täterqualifikation und Tathandlung, sondern auch der Taterfolg sowie der Zurechnungszusammenhang zwischen tatbestandsmäßigem Verhalten und Erfolg müssen unterschiedlich bestimmt werden. Für die Untreue bedeutet dies, dass als Taterfolge nicht nur Vermögensschäden, sondern auch ausbleibende Gewinne in Betracht kommen und dass zwischen dem Tatverhalten und dem Taterfolg kein Unmittelbarkeitszusammenhang bestehen muss. Auf der anderen Seite besteht nicht zuletzt wegen der faktischen Wirkungen des Verzichts auf eine Bereicherungsabsicht bei der Untreue die Gefahr, dass die Figur des Gefährdungsschadens in der Praxis überdehnt und die Entscheidung des Gesetzgebers, den Versuch der Untreue straflos zu lassen, unterlaufen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Gefahr zutreffend erkannt, aber mit dem Verweis auf das Bilanzrecht einen wenig geeigneten Losungsweg vorgeschlagen. Stattdessen sollte darauf abgestellt werden, ob die Gefahr eines zukünftigen Verlustes sich bereits in gegenwärtigen realen, d. h. nicht nur bilanzmäßigen Vermögensnachteilen (oder spiegelbildlich die Erwartung eines zukünftigen Gewinnes in realen Vermögenszuwächsen) manifestiert hat. Wo dies nicht der Fall ist, kann noch nicht von einem hinreichend selbständigen Erfolgsunrecht gesprochen werden. Diese Restriktion dürfte in einigen Teilbereichen gegenüber der jetzigen Praxis zu einer deutlichen Strafbarkeitseinschränkung führen. Sollte dies als unbefriedigend empfunden werden, so kann der Gesetzgeber durch Einführung fallgruppenspezifischer Gefährdungstatbestände Abhilfe schaffen. Die Anforderungen an den Zurechnungszusammenhang zwischen Tatverhalten und Erfolg sind bei der Untreue wesentlich geringer als beim Betrug. Dies liegt am Wesen der Vermögensbetreuungspflicht, die als qualifizierte Garantenpflicht den Täter zu einem umfassenden Schutz des anvertrauten Vermögens verpflichtet. Wegen dieser Garantenpflicht ist der Täter innerhalb seines Aufgabenbereiches grundsätzlich für alle Gefahren „zuständig“, deren Verwirklichung er verhindern könnte, so dass ihm auch solche Vermögensnachteile zugerechnet werden können, deren Realisierung vom Verhalten Dritter abhängt. Sollte eine Beschränkung dieses weiten Verantwortungsbereiches als kriminalpolitisch notwendig angesehen werden,
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so kann diese nicht auf der Ebene der objektiven Zurechnung geleistet werden, sondern sie muss bei der Bestimmung der Pflichtverletzung oder im subjektiven Tatbestand erfolgen.
Die Vermögensgefährdung bei der Untreue im koreanischen Strafrecht Von Chenchel Ryu
I. Einleitung Beim traditionellen Vermögensdelikt galt die rechtswidrig vermögensverschiebende Handlungsweise als Tatbestandskennzeichen des einzelnen Vermögensdelikts, was die Strömung der Zeit widerspiegelt, in der das Vermögen meistens aus Hab und Gut bestand. Seit 1800 wird das Vermögen des Bürgers und des Vermögenseigentümers geschützt, indem die Aufgabe des das Vermögen des Dritten Verwaltenden im Lauf der Zeit als die Vermögenschutzpflicht ins Strafgesetz integriert wurde. Damals war der Verbindungsknoten zwischen dem Verwaltungspflichtigen und dem Eigentümer ein bestimmtes Treueverhältnis, und es war eingeschränkt und konkret benannt, wer dem Treueverhältnis angehört. Es war aber nicht einfach, den Aufgabenkreis des für den Eigentümer Arbeitenden konkret und klar zu definieren. Schließlich wurde das Subjekt der Untreue als jenes definiert, das die Geschäfte des Anderen übernimmt und erledigt. Am Anfang war der Kreis der Subjekte der Untreue so eingeschränkt und das Treueverhältnis wurde allzu sehr betont, sodass sich der Geltungsbereich der Untreue nicht recht einschränken ließ. Außerdem soll man kritisch überprüfen, ob einerseits die Untreue durch strafgesetzliche Zwänge das Verhältnis der Herrschaft und Abhängigkeit nicht zementiert, andererseits ob man die zivilrechtliche Angelegenheit unnötig oder allzu strafgesetzlich zu lösen versucht, weil die Untreue bei den Vermögen verwaltenden Büroarbeitern fast immer möglich ist. In den modernen Vermögensdelikten wurde der Treubruch für das schwierigste Delikt gehalten. Das kommt nicht daher, dass die theoretische Struktur selbst so tiefgründig ist, sondern gründet sich darauf, dass das Verständnis für den Entstehungsprozess, das Wesen und den Tatbestand der Untreue so unterschiedlich ist. In dieser Arbeit wird die Frage des „Vermögensschadens“ neu beleuchtet, der zu den Tatbeständen des Treubruchs gehört. Zwar gibt es umstrittene Punkte in der Auslegung der Untreue: z. B. das Merkmal des Deliktes, das Subjekt und die Handlung der Untreue. Doch sind die Fragen in der Diskussion um das Vorliegen des Vermögensschadens nicht zu übersehen. In den meisten Theorien und der Rechtsprechung wird auch „die Gefährdung des Vermögens“ im Sinne der wirtschaftlichen Definition des Vermögens zum Vermögensschaden gezählt. Durch diese Interpretation wird einerseits
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die Regelung des Versuchs der Untreue sinnlos, andererseits bricht die Grenze der Strafbarkeit der Untreue durch die Erweiterung ihrer Strafbarkeit so weit ein, dass sie als „Abwasserbeseitigungsterminalanlage der Vermögensdelikte“ kritisiert wird.1 In dieser Arbeit werden zuerst die Merkmale der Regelung der Untreue im koreanischen Strafgesetzbuch (korStGB) analysiert. Sodann wird versucht zu erklären, welche „Risiken“ die Interpretation verursacht, „die Vermögensgefährdung“ der Kategorie des Vermögensschadens zuzuordnen.
II. Die Geschichte der Untreue im korStGB 1. Der Vorgang der Gesetzgebung des Untreuedelikts Die Regelung der strafgesetzlichen Untreueregelung in Korea stand unter dem direkten Einfluss der japanischen, die zum ersten Mal im Entwurf von 1901 enthalten war. In § 262 wurde sie als das Treubruchsdelikt geregelt, das eine Strafbarkeit vorsieht „entweder wenn ein für andere die Büroarbeit Verwaltender ihnen Schaden zufügt oder wenn er ihnen einen Vermögensschaden anrichtet, indem er etwas zu seinem eigenen Vorteil oder zu dem Vorteil eines Dritten tut, das außer seinen Befugnissen steht“.2 Dann wird das Untreuedelikt in dem Japanischen Strafgesetz von 1907 geregelt: „Wenn ein für andere die Büroarbeit Verwaltender wegen seines eigenen Interesses bzw. des Interesses eines Dritten ihnen einen Vermögensschaden zufügt, indem er etwas Pflichtwidriges mit der Absicht tut, um ihnen Schaden zuzufügen“, wird er zu einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder zu einem Strafgeld bis zu 500.000 Yen verurteilt. Dies ist noch in § 247 des aktuellen japanischen Strafgesetzes bewahrt. In § 442 Abs. 2 des Strafgesetzentwurfs von 1940, der den größten Einfluss auf die Strafgesetzgebung Koreas ausübte, wird der Treubruch wie folgt definiert: „Wenn ein für andere die Büroarbeit Verwaltender ihnen einen Vermögensschaden zufügt, indem er etwas Pflichtwidriges tut und damit rechtswidriges Interesse daraus zieht oder einen anderen solches Interesse ziehen lässt, wird wie in dem letzten Paragraphen bestraft.“ In § 355 Abs. 1 des 1953 aufgestellten korStGB wird die Unterschlagung und dann im zweiten Absatz die Untreue wie folgt geregelt: „Wenn ein für andere die Büroarbeit Verwaltender mit der pflichtwidrigen Handlung auf sein eigenes Interesse 1
S. 5.
Mun, Hyungsup, Eine Studie über Untreue, Dissertation an der Honamuniversität, 2001,
2 Im Gesetzgebungsgrund von 1901 wird erklärt: „Es passiert nicht selten, dass ein für Andere ihre Büroarbeit Verwaltender Anderen Schaden zufügt, indem er auf sein eigenes Interesse zielt oder etwas tut, was außer seinen Befugnissen oder Aufträgen steht. In diesen Fällen reicht der Rechtsschutz selbst durch den zivilrechtlichen Schadenersatz oft nicht aus und darüber hinaus wird die öffentliche Ordnung oft durch etwas gestört, was nichts anderes ist als die weiteren Vermögensdelikte in diesem und auch dem folgenden Paragraphen; daher wird versucht, die Schäden mit diesem Paragraphen zu verhindern.“
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zielt oder wenn er den Dritten daraus Interesse ziehen lässt, damit der Andere einen Vermögensschaden erleidet, wird er ebenso wie im letzten Absatz bestraft.“ Und in § 359 wird die Strafe für den Versuch des § 355 Abs. 2 geregelt. 2. Das rechtsvergleichende Merkmal der Untreue im korStGB a) Die Gliederung des Gesetzbuchs und das Wesen der Untreue Die Regelung der Untreue im korStGB wurde vom deutschen Recht über das japanische aufgenommen und hat mit der eigenen Gestalt ihre Wurzeln in den Vermögensdelikten geschlagen. So wird sie nicht mit dem Betrug verbunden, sondern ist mit der Unterschlagung in dem gleichen Kapitel geregelt. Zwar scheint diese Gliederung dem japanischen Strafgesetzentwurf zu folgen, aber der eigentliche Grund der Gesetzgebung ist nicht vollkommen geklärt.3 Die Position der Vermögensdelikte im Gesetzbuch könnte entweder das Ergebnis der feinen und genauen Logik oder das der intuitiven und beliebigen Einordnung sein. Wenn es tatsächlich so wäre, dann wäre es nicht unbedingt nötig, die Gemeinsamkeiten der bestimmten Delikte in dem gleichen Kapitel zu extrahieren, um ihr Wesen zu verstehen und die Regelung zu interpretieren.4 Im korStGB befinden sich die Vermögensdelikte paarweise jeweils in dem gleichen Kapitel: Diebstahl mit Raub, Betrug mit Erpressung und Unterschlagung mit Untreue. Aus dieser Gliederung lässt sich herleiten, dass die Vermögensdelikte im korStGB nach der Handlungsart aufgeteilt werden.5 Danach lassen sich Raub und Diebstahl so erklären, dass sie gegen den Willen des Opfers ausgeübt werden, während Betrug und Erpressung aufgrund eines fehlerhaften Willens geschehen. Damit stellt sich die Frage: Was ist die gemeinsame Handlungsart bei Unterschlagung und Untreue? Es kann logisch gesehen die verräterische Handlung des das Vermögen Verwaltenden oder des die Büroarbeit des Anderen Ausführenden sein.
3 In diesem Entwurf war die Untreue anders als in der aktuellen Regelung in dem gleichen Artikel mit der Unterschlagung geregelt und hat den Fall ausgeschlossen, in dem man dem Vermögensbesitzer absichtlich Schaden zuzufügen versucht. Ein Tatbestand der Untreue „eigenes Interesse zu ziehen oder den Dritten Interesse daraus ziehen zu lassen“ entsprach dem der Unterschlagung. Das war ein wichtiger Verbesserungsvorschlag, weil die Artikel eins und zwei durch die Regelung den Artikeln eins und zwei von Raub, Betrug und Erpressung entsprechen, so dass die Vermögensunterschlagung in dem Artikel eins und Interessenunterschlagung in dem Artikel zwei getrennt geregelt werden konnten. 4 Vgl. Oh, Youngkeun, die rechtsvergleichende Studie der Vermögensdelikte im Koreanischen und Deutschen Strafgesetz, Strafgesetzstudie Nr. 11, S. 188. 5 Lee, Jaesang, Einzelheiten des Strafgesetzes, 6. Aufl., S. 245.
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In verbreiteten Theorien6 und der Rechtsprechung7 wird das Wesen der Untreue entsprechend der Verratstheorie verstanden, in der das Wesen der Untreue als Verletzung des treuhänderischen Verhältnisses bzw. als Überschreitung des Prinzips von Treu und Glauben in der inneren Beziehung angesehen wird. Das heißt, der Kern des Treubruchs liege in der Verletzung der Pflicht, das Vermögensinteresse des Anderen im inneren Verhältnis zu schützen. Dagegen gibt es auch eine andere Ansicht, die das Wesentliche der Untreue in der Überschreitung der „Büroarbeitsverwaltungspflicht“ sucht.8 Nach dieser Auffassung soll „die pflichtwidrige Handlung“ nicht als Verratshandlung, sondern als die Handlung des Treubruchs interpretiert werden, weil das Subjekt der Untreue im korStGB im Gegensatz zum deutschen Tatbestand des Verrats kein „treuhänderisches Verhältnis“ fordert. Also gelte die Verratstheorie nicht. Den Anfang der Debatte um das Wesen der Untreue eröffnete die Entfaltung der Deutung der Vermögensdelikte, deren Grund auf den jeweiligen Stellen der Delikte im Gesetzbuch und den daraus zu schließenden Handlungsarten liegt.9 Die meisten Vermögensdelikte lassen sich zumindest unter dem Gesichtspunkt der Gemeinsamkeit bei der treubrüchigen Handlung halten. Ungeachtet dessen, ob es gegen den Willen sei oder ob es ein fehlerhafter Wille sei, bricht jede dem Vermögen des Anderen schadende Handlung die Treue sowohl gegenüber dem Betroffenen als auch gegenüber der Gesellschaft. Trotzdem darf die Untreue bloß gegenüber der Gesellschaft nicht als strafgesetzlicher Gegenstand gelten. Doch wird es unter Umständen als Tatbestand aufgenommen, ausschließlich wenn einer in einem bestimmten Verhältnis dem Vermögen des Anderen durch die Untreue schadet. Im korStGB werden diese Fälle als Unterschlagungs- und Untreuefälle unterschieden.10 Es ist nicht ange6 Kim, Seongdon, Einzelheiten des Strafgesetzes, 2. Aufl., S. 409; Kim, Ilsu/Seo, Bohak, Einzelheiten des Strafgesetzes, 7. Aufl., S. 482; Park, Sangki, Einzelheiten des Strafgesetzes, 7. Aufl., S. 398; Bae, Jongdae, Einzelheiten des Strafgesetzes, 6. Aufl., S. 537; Ryu, Paul K., Das Strafrecht (Vorlesung der Einzelheiten (Nr. 1), S. 290; Lee, Haengguk, Einzelheiten des Strafgesetzes, S. 430; Lim, Yung, Einzelheiten des Strafgesetzes (neubearbeitete und ergänzte Fassung), S. 441; Jeong, Seonggun/Park, Kwangmin, Einzelheiten des Strafgesetzes, 3. Aufl., S. 456. 7 Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist es „die pflichtwidrige Handlung in der Untreue, wenn man einerseits die Handlungen nicht vornimmt, die nach der konkreten Situation wie z. B. dem Inhalt und dem Charakter des Geschäfts, den Regelungen des Gesetzes, dem Inhalt des Vertrags bzw. dem Prinzip von Treu und Glauben vorgenommen werden sollen, oder wenn man andererseits die Handlungen vornimmt, die nicht vorgenommen werden sollen, damit das treuhänderische Verhältnis mit dem Auftraggeber nicht verraten wird“ (die Rechtsprechung vom Obersten Gerichtshof (kOGH) vom 09. 07. 2004, 2004 To 810). 8 Mun, Hyungsup (Fn. 1), S. 33; Huh, Iltae, Der Begriff des Handlungssubjekts und des Verlustes in der Untreue, Vergleichende Studie des Strafgesetzes, 6. Band, 2004, S. 141. 9 Die Verratstheorie wird damit begründet, dass es im Gesetzbuch im Tatbestand nicht „Missbrauch seiner Befugnis“, sondern „pflichtwidrig“ heißt. 10 Unterschlagung und Untreue stehen an der gleichen Stelle des Gesetzbuchs, was doch nicht heißt, dass das Wesen der beiden Delikte gleich ist. Zwar gibt es verschiedene Theorien von Unterschlagung und Untreue, aber hier werden sie nicht näher dargestellt, um das Thema
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messen, einen Verrat einer Partei immer für einen kriminellen Bestrafungsgegenstand zu halten, weil das Treueverhältnis zwischen zwei Parteien in der bestimmten Beziehung auf dem Grund des gegenseitigen Vertrauens beruht. Daher würde es nicht nur der „Void for Vagueness Doctrine“ entgegenstehen, sondern auch die Strafwürdigkeit der Handlung selbst wäre nicht geeignet, die einfache Verratshandlung als Tatbestand aufzunehmen. Daher soll im ganzen Kontext der Untreue beurteilt werden, wie man die Person in der bestimmten Beziehung interpretieren soll: wer „die Büroarbeit des Anderen verwaltet“, wer „eine Befugnis hat, die Büroarbeit des Anderen zu verwalten“, oder wer „eine Verfügungsbefugnis über das Eigentum des Anderen“ hat. Wenn die beschränkende Funktion des Tatbestandes in § 355 Abs. 2 des korStGB berücksichtigt wird, lässt sich das Wesen nicht allein mit der Verratstheorie oder der Befugnismissbrauchstheorie erklären. Eher würde es mit der Theorie befugnismissbrauchenden Verrats angemessener verstanden. Falls es nicht dem Zweck der Gesetzgebung im korStGB entspricht, alle Fälle der Treuverhältnisverletzung zu bestrafen, dann wäre es besser, die Untreuevorschrift so zu verstehen, dass derjenige wegen Untreue bestraft wird, der eine Vermögensgefährdung des Besitzinhabers mit einer befugnismissbrauchenden Verratshandlung in der innerlichen Beziehung herbeiführt und eigenes Interesse daraus zieht oder den Dritten Interesse daraus ziehen lässt. b) Die Strafregelung des Versuchs in der Untreue Im dStGB wird der Versuch der Untreue nicht bestraft. Die Handlung der Untreue tritt erst mit der Beschädigung des Vermögens auf. So fällt die Untreue als Verletzungsdelikt lediglich dann in den Bereich der Strafbarkeit, wenn ein Vermögensschaden durch die Verletzungshandlung tatsächlich entsteht. Selbst wenn ein die vermögensrelevante Büroarbeit des Anderen Verwaltender eine Untreue begeht, ist er insofern nicht zu bestrafen, als kein tatsächlicher Schaden bei dem Vermögensinhaber eintritt. Im korStGB wird dagegen auch der Versuch der Untreue bestraft, also auch wenn die Beschädigung des Vermögens nicht entsteht. So wird die Strafbarkeit des Versuchs bei der Untreue anerkannt. Im dStGB ist sowohl die Untreue als auch der Betrug im 22. Abschnitt geregelt. Dort gibt es zwar die Bestrafungsregel für den Versuch beim Betrug, aber nicht bei der Untreue. Bei beiden Delikten wird ein „Vermögensschaden“ vorausgesetzt: wenn der Schaden sich nicht verwirklicht, dann besteht die Untreue überhaupt nicht, während der Betrug in diesem Fall als Versuch bestraft wird. Im korStGB wird die Untreue hingegen als Versuch bestraft, wenn der Schaden nicht eintritt oder das Vermögensinteresse sich nicht verwirklicht. In diesem Kontext lässt sich die Intention des des Vermögensschadens näher zu erörtern. Trotzdem gilt es als „Pflicht“ im Sinne der Untreue, durch den Auftrag das Vermögen von Anderem zu bewahren. Meiner Ansicht nach werden die jeweiligen Arten der Handlung unterschiedlich geregelt, indem die Handlungsobjekte der beiden Delikte sich unterscheiden.
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koreanischen Gesetzgebers so interpretieren, vorsichtig und strikt zu regeln, welche verräterische Handlung zum Gegenstand der Bestrafung werden soll. Dies wird dreifach beschränkt: hinsichtlich des Handlungssubjektes per „ein die Büroarbeit des Anderen Verwaltender“, hinsichtlich der Handlung per „die pflichtwidrige Handlung“ und hinsichtlich der Folge per „die Verwirklichung des Vermögensschaden vom Besitzer durch den Bezug des Vermögensinteresses“. Und dann wird es mit der Bestrafungsregel für den Versuch der Untreue versehen. Wenn das Handlungsobjekt sich als der Verwaltende und die Verratshandlung als die pflichtwidrige herausstellt, dann kann die Forderung „die Verwirklichung des Vermögensschaden beim Besitzer durch den Bezug des Vermögensinteresses“ als die Unterscheidung zwischen Versuch und vollendetem Verbrechen fungieren. Also wird es in Korea zur Frage des Strafniveaus, in Deutschland demgegenüber zur Frage der Unterscheidung zwischen Versuch und dem vollendeten Verbrechen, ob sich der Vermögensschaden bei der Untreue verwirklicht oder nicht. Daher ist die Erweiterung der Kriterien des Strafgesetzes in Korea nicht so nötig wie im deutschen Strafrecht.
III. Sinn des Vermögensschadens bei der Untreue 1. Sinn des Vermögensschadens Damit die Untreue zum vollendeten Verbrechen wird, muss durch die Untreuehandlung ein Vermögensschaden eintreten. Dabei muss Kausalität zwischen der Untreuehandlung und dem Vermögensschaden bestehen. Nach allgemeiner Ansicht wird der Vermögensschaden ebenso wie das Vermögensinteresse nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt. Daher versteht sich der Vermögensschaden als die Abnahme des ganzen Vermögens des Besitzers: unabhängig davon, ob es sich um einen positiven Schaden, die Verminderung des bestehenden Vermögens, oder um den negativen Schaden, d. h. den Verlust des in der Zukunft zu erwartenden Interesses handelt. Wenn das ganze Vermögen durch die schadenentsprechende Gegenleistung nicht abnimmt, wird der Vermögensschaden nicht anerkannt. Trotzdem lässt sich der Schadenersatzanspruch oder der Entschädigungsanspruch als Gegenleistung nicht als Vermögensinteresse ansehen. Insoweit gibt es in der Interpretation der Untreue keine andere Meinung. Die meisten der oben dargestellten Ansichten zum Vermögensschaden bei der Untreue sind darauf gestützt, dass die Begriffe des Vermögens oder des Schadens bei der Untreue identisch sind mit denen beim Betrug. Auch in Deutschland ist es sowohl allgemeine Meinung als auch ständige Rechtsprechung, das Problem des Vermögensschadens bei der Untreue von dem aus dem Tatbestand des Betrugs entlehnten Begriff des Vermögensschadens her lösen zu können.11 Im korStGB ist zwar „der 11 Im deutschen Strafgesetzbuch sind Untreue und Betrug im gleichen Abschnitt geregelt. Beim Betrug wird der „Vermögensschaden“ ausdrücklich geregelt.
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Vermögensschaden“ nicht geregelt, aber nach den mehrheitlichen Ansichten soll der Schaden als Tatbestandsmerkmal des Betrugs angesehen werden, um ein individuelles Rechtsgut gegen Vermögensdelikte zu schützen. Demgegenüber gilt der Vermögensschaden in der Rechtsprechung nicht als Tatbestandsmerkmal des Betrugs. Es muss kritisch überprüft werden, warum die Untreue und die Unterschlagung in dem gleichen Kapitel des Strafgesetzbuchs platziert sind und ob der Begriff des nicht ausdrücklich geregelten „Vermögensschadens“ beim Betrug entlehnt wird, um den „Vermögensschaden“ in der Untreue zu deuten. Auch in Deutschland wird kritisiert, dass die Konkretisierung des Vermögensschadens bei der Untreue ausschließlich auf die Erkenntnisse beim Tatbestand des Betruges angewiesen ist, sodass die strukturellen Unterschiede der beiden Delikte übersehen werden. Anders als bei den anderen Vermögensdelikten wird der „Vermögensschaden“ bei der Untreue als ein Tatbestandselement ausdrücklich geregelt. Beim Betrug, bei der Erpressung und beim Raub wird das Vermögensinteresse gleich verstanden, aber der Vermögensschaden nicht. In der Rechtsprechung wird der Vermögensschaden nicht als Bestandteil des Betrugs beurteilt.12 Das Merkmal der Gesetzesvorschrift soll auch bei der Deutung und Anwendung der Untreue berücksichtigt werden. Es soll daher nur dann den Tatbestand der Untreue erfüllen, wenn ein die Büroarbeit des Anderen Verwaltender durch die pflichtwidrige Handlung dem Anderen einen Vermögensschaden zufügt, indem er ein Vermögensinteresse daraus zieht oder den Dritten es ziehen lässt. Der Vermögensschaden ist zwar sowohl in § 355 Abs. 2 des korStGB als auch in § 266 des dStGB erforderlich, aber die Untreue im korStGB erfordert anders als im deutschen die Entstehung des Vermögensschadens in Verbindung mit dem Vermögensgewinn.13 Wenn man den Vorgang der Gesetzgebung in Korea in Betracht zieht, mangelte es an Reflexionszeit, was sich nicht nur bei der Untreue sondern auch bei den Tatbeständen der anderen Delikte widerspiegelt. Es mangelt auch an Materialien, mit denen man über den Willen des Gesetzgebers nachsinnen kann. Trotzdem darf der Wortlaut des Strafgesetzbuchs keinesfalls übersehen werden.14 Schließlich soll betont werden, dass die über den Wortlaut hinausgehende Deutung des § 355 Abs. 2 nicht zugelassen werden darf. Denn es ist der Wille des Gesetzgebers, möglichst den Anwendungsbereich der Untreue zu beschränken, dessen ausdrückliche Bestimmungen eben dreifache Einschränkungen sind: Handlungssubjekt (ein die Büroarbeit des Anderen Verwaltender), Untreuehandlung (nur in dem einen Vermögensschaden verursachenden Fall) und Vermögensgewinn unter Bezug auf den Vermögensschaden. Der Tatbestand „die Entstehung des Vermögens-
12 Nach überwiegender Ansicht soll der Vermögensschaden auch beim Betrug verlangt werden. 13 Somit hält Shin die Untreue im korStGB für die ungerechtfertigte Bereicherung. Shin, Dongwon, Das Verhältnis zwischen Unterschlagung und Untreue, FS Oh, Youngkeun, S. 315 ff. 14 Perron, GA 2009, 219, 231.
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schadens“ v. a. beschränkt die Untreuehandlung und bildet die Grenze zwischen dem Versuch und der vollendeten Straftat der Untreue. 2. Probleme bei der Ausweitung der „Entstehung des Vermögensschadens“ Der „Vermögensschaden“ soll nach einigen Ansichten und der Rechtsprechung auch den Fall der Vermögensgefährdung umfassen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Verletzung des Treueverhältnisses das Gefährdungsdelikt begründet. Darüber hinaus heißt es in dem auch die Vermögensgefährdung als Vermögensschaden interpretierenden Urteil: „Für die Vollendung dieser Delikte ist die Summe des Vermögensschadens nicht konkret zu bestimmen.“15 Bei der Untreue wird auch der Versuch bestraft und der Beginn der Handlung beweist Absicht zur Untreue. Trotz des Beginns der Untreue bleibt es beim Versuch, wenn entweder kein Vermögensschaden eintritt oder wenn der Vermögensgewinn nicht herbeigeführt wird oder wenn es keine Kausalität zwischen der Untreue und der Entstehung des Vermögensschadens gibt. Also wird die Untreue als Verletzungsdelikt erst dann zum vollendeten Delikt, wenn sich der Vermögensschaden als Folge der Untreue ereignet. Wenn die Vermögensgefährdung schon als vollendete Straftat interpretiert wird, indem die Untreue als Gefährdungsdelikt vorausgesetzt wird, dann ist es keine Interpretation der strafgesetzlichen Vorschrift, sondern die Erhöhung des Strafpegels aus kriminalpolitischen Gründen. Unter den Vermögensdelikten liegt der Sinn der Untreue darin, die privatrechtliche Ordnung zu regeln. Der infolge der Untreue des die Büroarbeit des Anderen Verwaltenden hervortretende Vermögensschaden betrifft das privatrechtliche Verhältnis zwischen dem Verwalter und dem Vermögensbesitzer (dem Anderen), was prinzipiell nach der privatrechtlichen Ordnung gelöst werden soll. Der Grund der Strafbarkeit der Untreue liegt primär in der Untreuehandlung, aber das Wesentliche ist, dass der Vermögensschaden durch die Untreuehandlung eintritt. Wenn die Vermögensgefährdung schon als vollendete Untreue gelten kann, wie es in einigen Ansichten und Urteilen erscheint, dann kann auch die Untreuehandlung schon als die vollendete Untreue angesehen werden. Schließlich enthalten die meisten Untreuehandlungen schon das Risiko der Vermögensgefährdung. Also kann die Erweiterung der Grenze des Vermögensschadens nicht der Kritik entkommen, dass sie erstens gegen das Gesetzlichkeitsprinzip verstößt und zweitens, dass sie das Wesen der Untreue entstellt und schließlich, dass Zivilsachen dadurch zu sehr kriminalisiert werden. Zurzeit wird die Untreuestrafbarkeit gegen alle wirtschaftlich zu verurteilenden Zuwiderhandlungen als die allmächtige Waffe angewendet. In der heutigen komplizierten Gesellschaft sind die meisten Subjekte der Untreue die „die Büroarbeit des Anderen Verwaltende“, die wirtschaftlichen Vertreter der Körperschaften, die für Besitzer bzw. Kapitalisten arbeiten und daher immer in der Lage sind, die Untreue zu 15
kOGH vom 27. 04. 1999, 99 To 883.
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begehen. Kommt es zu dem Problem eines Vermögensschadens in einem bestimmten wirtschaftlichen Bereich, dann wollen Strafverfolgungsbehörde und Gerichtshof allzu leicht die Untreue anwenden. In dieser Wirklichkeit wird die von Anfang an unklare Grenze der Untreue durch die unangemessene Erweiterung des Anwendungsbereichs umso unklarer.16 Anders als im dStGB gibt es im korStGB keine klare Unterscheidung zwischen Befugnismissbrauch und der Verletzung des Vertrauens; damit wird die Grenze der Strafbarkeit der Untreue sowohl angesichts des Subjekts als auch der Versuchsbestrafungsregel so unscharf, dass die Untreue als „Abwasserbeseitigungsterminalanlage der Vermögensdelikte“17 kritisiert wird. In diesem Zusammenhang hat Hellmuth Mayer einmal Folgendes geschrieben: „Sofern nicht einer der klassischen alten Fälle der Untreue vorliegt, weiß kein Gericht und keine Anklagebehörde, ob § 266 vorliegt oder nicht.“18 Heute ist diese Meinung immer noch gültig.
IV. Die Unterscheidung zwischen Vermögensschaden und Vermögensgefährdung 1. Das Problem der Gleichsetzung von beiden In der Deutungstheorie des korStGB wird der Begriff des „Vermögensschadens“ beim Betrug unter dem Einfluss Deutschlands entwickelt und bei der Untreue angewendet, so dass eine Mehrheit für die Ansicht eintritt, der Begriff beim Betrug sei gleich mit dem bei der Untreue. Darüber hinaus wird der Vermögensschaden nicht als die rechnerisch überprüfbare Verminderung einschränkend aufgefasst, sondern schon die Entstehung der konkreten Vermögensgefährdung gilt als Vermögensschaden. So gelte die Vermögensgefährdung in der Untreue als Vermögensschaden.19 Der Begriff der „schadensgleichen Vermögensgefährdung“ wurde von der deutschen Judikatur entwickelt, um die Verschiebung des vollendeten Untreuetatbestandes in bestimmten Fällen zu verhindern. Danach ist der Betrug ein Vermögensdelikt, bei dem der Täter sich selbst oder dem Dritten auf rechtswidrige Weise einen Vermögensgewinn verschafft. So kommt das Verbrechen mit dem Vermögensgewinn zum Abschluss, aber der Zeitpunkt des vollendeten Verbrechens ist der, in dem der Vermögensschaden beim Opfer eintritt. Wenn es anerkannt wird, dass die bloße Vermögensgefährdung gegebenenfalls schon die tatsächliche Wertminderung des betroffenen Vermögens ergibt, dann wird die Vollendung des Tatbestandes auch in diesem Zeitpunkt anerkannt. Diese Vorverlegung des Zeitpunktes der vollendeten Untreue lässt sich unter Umständen 16
Perron, GA 2009, 219, 231. Mun, Hyungsup (Fn. 1), S. 2. 18 Hellmuth Mayer, in: Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Band, 1954, S. 337. 19 Lee, Jaesang (Fn. 5), Rn. 18/40, 21/21. 17
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in einem bestimmtem Kreis gut aufnehmen. Beim Betrug gibt es eine Reihe von Teilhandlungen zwischen der sich aus der Täuschung ergebenden Vermögensverfügung und dem tatsächlichen Gewinn des Vermögensinteresses, so dass es schwer ist festzustellen, in welchem Zeitpunkt der Vermögenswert vom Vermögensverfügenden zu dem Empfänger des Vermögensgewinns verschoben wird. Beim Vertragsbetrug z. B. ist es sinnvoll anzunehmen, dass die Vermögenslage schon beim Vertragsschluss verschlechtert ist, obwohl der Verlust erst dann auftritt, wenn der Preisüberschuss beim Kauf bezahlt wird. Wenn man in solchen Fällen auch die Vermögensgefährdung vor der Entstehung des tatsächlichen Schadens als Vermögensschaden ansieht, beeinflusst das Ergebnis nicht die Strafbarkeit des Betrugs, sondern nur die Unterscheidung zwischen dem Versuch und dem vollendeten Delikt des Betrugs. Daher lässt sich die Vorverlegung des Zeitpunktes der vollendeten Untreue unter Umständen als angemessene Interpretation aufnehmen. Im deutschen StGB ist die Untreue anders als der Betrug kein Vermögensverschiebungsdelikt; außerdem setzt sie nicht die Verfolgung eines illegalen Vermögensgewinns voraus, so dass sich einerseits der Anwendungsbereich des Untreuetatbestands beträchtlich erweitert und andererseits der Gesetzgeber keine Strafregelung eines Untreueversuchs vorschreiben muss. Wenn man in dieser Situation schon die Vermögensgefährdung wie beim Betrug als Vollendung der Untreue anerkennt, dann würde einerseits der Strafpegel geändert – Bestrafung wegen Vollendung statt wegen Versuchs – und andererseits verändert sich auch die Grenze zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit. Daher wäre es sinnvoller, das Anforderungsniveau bei der Untreue höher als beim Betrug anzusetzen: inhaltlich die tatsächliche Entstehung eines Vermögensschadens zu verlangen und formal die Grenze zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit klarer zu ziehen.20 Im korStGB wird der Untreueversuch nach § 355 bestraft. „Die Vermögensgefährdung“ wird auch beim Untreuetatbestand als Vermögensschaden anerkannt. Der Begriff des Vermögensschadens wird vom Betrug entlehnt und auf den Begriff bei der Untreue angewendet. Im dStGB gibt es dagegen keine Strafregelung für den Versuch der Untreue; so sind die Urteile, die auch die „schadensgleiche Vermögensgefährdung“ durch ausdehnende Auslegung in den Bereich des Vermögensschadens einschließen, und auch die entsprechenden mehrheitlichen Ansichten einigermaßen verständlich. Der Grund der Versuchsbestrafung im korStGB liegt darin, dass der kriminelle Wille des Täters schon die Wirksamkeit der Rechtsordnung und die Rechtsstabilität beeinflusst, auch wenn sein Handlungstatbestand noch nicht die Vollendung der Straftat erreicht. Einerseits wird der Bereich der Strafbarkeit durch die Bestrafung des Versuchs bei der Untreue erweitert. Aber andererseits sieht diese Regelung vor, dass der noch nicht zur Vollendung des Verbrechens gelangte Versuch nicht als Vollendung des Verbrechens bestraft werden darf. Das würde gegen das Gesetzlichkeitsprinzip verstoßen. Bei der Untreue ist es freilich ein Versuch, wenn der Vermögensschaden nicht eintritt, aber es soll auch als Versuch bestraft werden, wenn es 20
Perron, GA 2009, 219, 232.
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nur zu einer Vermögensgefährdung kommt. Wenn die „schadensgleiche Vermögensgefährdung“ als die Entstehung des Vermögensschadens aufgefasst wird, wie es in den mehrheitlichen Ansichten und auch in Urteilen zu finden ist, dann soll klar angegeben werden, welche Gefahr die „schadensgleiche Vermögensgefährdung“ ist. Die Literatur scheint es nicht leicht zu finden, eine Richtlinie dazu anzugeben. 2. Die Erforderlichkeit der Unterscheidung a) Der gesetzgeberische Gesichtspunkt In § 266 Abs. 1 dStGB wird der Versuch der Untreue anders als im korStGB nicht bestraft.21 Es wird als „legislative Entscheidung“ angesehen, den Versuch beim Betrug zu bestrafen, aber nicht bei der Untreue. Und „die Entstehung des Vermögensschadens“ wird für die Vollendung der Untreue als eines Verletzungsdelikts gefordert. Der Bundesgerichtshof der Bundesrepublik Deutschland benutzt den Begriff „die schadensgleiche Vermögensgefährdung“, um die bei der Anwendung des gesetzgeberischen Willens entstehende Lücke durch Auslegung zu kompensieren. Nach diesem Standpunkt soll sich der wirtschaftliche Wert des Vermögens schon beim Eintritt der konkreten Vermögensgefährdung vermindern. Beim Risikogeschäft z. B. werde die pflichtwidrige, gefährliche Handlung gleich zum Vermögensschaden. Das Vermögen im Sinne eines wirtschaftlichen Vermögens soll schon durch das Risiko verschlechtert oder vermindert werden.22 In § 355 Abs. 2 korStGB heißt es: „Wenn ein für andere ihre Büroarbeit Verwaltender mit der pflichtwidrigen Handlung auf sein eigenes Interesse zielt oder wenn er den Dritten daraus Interesse ziehen lässt, damit der Andere einen Vermögensschaden erleidet, wird er ebenso wie im letzten Absatz bestraft.“ Die Regelung „das Erleiden des Vermögensschadens“ darf nicht weiter als die konkrete Entstehung des Vermögensschadens ausgelegt werden. Wenn kein konkreter Vermögensschaden eintritt, dann kann § 359 angewendet und als Versuch der Untreue bestraft werden. Es würde gegen die Regelung des Versuchs in § 359 verstoßen und wäre eine gegen das Gesetzlichkeitsprinzip verstoßende Analogie, wenn „die Vermögensgefährdung“ als „das Erleiden des Vermögensschadens“ interpretiert würde. b) Der begriffliche Gesichtspunkt Die Entstehung des Vermögensschadens ist freilich nicht identisch mit dem Risiko der Vermögensgefährdung. Die beiden Begriffe gleichzusetzen würde bedeuten, 21
Mun, Hyungsup, Die Vermögensgefährdung bei der Untreue, Mudungchunchu Nr. 6, 2002, S. 147. Hier wird nach der Analyse der Urteile behauptet, die Gefahr sei in manchen Fällen nach dem gesetzlichen Urteil die Gefahr, die aber nach dem wirtschaftlichen Vermögensbegriff schon als tatsächlicher Schaden anerkannt werden kann. 22 Murmann/Lee, Wonsang (Übersetzer), Untreue (§ 266 dStGB) und Risikogeschäft, Korean Criminological Review Vol. 20. No. 4, 2009, S. 39.
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dass das Risiko der tatsächlichen Vermögensgefährdung zum „Schaden“ als dem Tatbestand der Untreue gehören würde, indem die Begriffe des Schadens und der Gefährdung nach der wirtschaftlichen Vermögenstheorie interpretiert würden. In der Kreditwirtschaftsgesellschaft besteht jedoch immer ein Risiko. Daher würde es eigentlich den Versuch der Untreue gar nicht geben und damit würde der Bereich der Strafbarkeit ungerecht erweitert, wenn der tatsächliche Schaden mit der tatsächlichen Vermögensgefährdung identifiziert würde.23 Nach dieser Ansicht steckt die Sorge hinter der Identifizierung, ob die Untreue nach der Untreuehandlung durch die Ausgleichung des Schadens nicht als die vollendete Untreue bestraft werden kann, wenn das Risiko der Vermögensgefährdung nicht als Schaden anerkannt wird. Das ist aber eine grundlose Sorge, die daraus hervorgeht, dass man den Begriff des Schadens als gesetzlichen Begriff eng im Sinne eines abschließend eingetretenen Schadens interpretiert. Es ist kein Problem, die Untreuehandlung, die nach der gesetzlichen Einschätzung nur ein Risiko ist, gleich als die vollendete Untreue zu bestrafen, wenn bei wirtschaftlicher Einschätzung ein Vermögensschaden vorliegt. Also ist die Ansicht, in der das Risiko der Vermögensgefährdung zum Begriff des Schadens gehört, nichts weiter als ein Versuch, den Mangel der gesetzlichen Vermögenstheorie zu korrigieren. Die wirtschaftliche Position wäre dann ganz und gar nichts wert oder wenigstens weniger wert und der Vermögensschaden würde anerkannt, wenn das Recht, das gesetzlich selbst noch bewahrt ist, nicht mehr wirksam wäre oder schwer wirksam würde. Also sollte man entscheiden, dass es einen Vermögensschaden nicht nur beim Entstehen des Vermögensschadens, sondern auch bei der Vermögensgefährdung gibt, wenn die Vermögensschadensfrage nicht durch gesetzliche Urteile, sondern durch wirtschaftliche Einschätzung entschieden wird. In diesem Fall ist es nicht mehr das „Risiko“, sondern schon der „Schaden“ selbst. Um den Begriff der Vermögensgefährdung zur Erklärung des Vermögensschadens zu benutzen, soll es nur dann ein Vermögensschaden sein, wenn der Wert des Vermögens durch das Risiko unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten vermindert wird, was im Wege der Schätzung festzustellen wäre. Es wäre berechtigt, dass es nicht mehr als „das Risiko“, sondern als „der Schaden“ ausgedrückt wird, wenn das Risiko des Vermögensschadens unter Umständen für einen „Vermögensschaden“ nach wirtschaftlichen Maßstäben gelten kann. Fraglich wäre nur der Maßstab, nach dem man beurteilen kann, welches Risiko auch nach dem wirtschaftlichen Vermögensbegriff als Vermögensschaden angesehen werden soll. In dem Begriff der „Gefahr“ ist die Möglichkeit ihrer tatsächlichen Verwirklichung inbegriffen.24 So ist das Wort „Vermögensgefährdung“ ein unbestimmter Begriff, bei dessen Verwendung das Ausmaß der erforderlichen Gefährdung schwer abzuschätzen ist. Aus diesem Grund wird das Ausmaß mit dem Ausdruck „schadensgleiche Vermögensgefährdung“ erklärt, das heißt, das Ausmaß soll ähnlich dem tat23
Mun, Hyungsup (Fn. 21), S. 45. An, Kyungok, Korean Journal of Comparative Crimnal Law, Vol. 2 Nr. 2, 2000, S. 26. Die Gefahr sei nur eine Vorstufe des endgültigen Schadens, also es ist nur eine objektive Möglichkeit des Schadens. 24
Die Vermögensgefährdung bei der Untreue im koreanischen Strafrecht
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sächlichen Vermögensschaden sein. Diese Formulierung ist in dem Fall teilweise berechtigt, in dem die gefährliche Situation für den Vermögensschaden vorausgesetzt wird. Es gibt nämlich die Fälle, in denen man annehmen soll, dass der Vermögensschaden durch die Untreuehandlung tatsächlich eingetreten ist, der selbst bei einer Berechnung noch nicht als wirklich eingetreten erscheint, selbst wenn der Wert des Vermögens nicht vermindert ist oder der Wert nicht zunimmt, der sich eigentlich vermehren sollte.25 Der Begriff „Vermögensgefährdung“ selbst ist zwar nicht mit dem „Vermögensschaden“ zu identifizieren, doch lässt er sich gegebenenfalls wegen der schon aufgetretenen Verminderung des wirtschaftlichen Vermögenswertes in Extension des „Vermögensschadens“ miteinbeziehen. Um anzuerkennen, dass die Vermögensgefährdung bei der Untreue mit dem Auftreten des Vermögensschadens identisch ist, soll einerseits die Gefahr in dem Zeitpunkt der Untreue anschaulich sein und es soll andererseits keine Möglichkeit der Verlustersetzung vorhanden sein. Schließlich sollte es in Bezug auf die Art und Weise der Untreue beurteilt werden, in welchem Fall man es anerkennen soll, dass der konkrete Vermögensschaden ohne Möglichkeit der Verlustersetzung tatsächlich eingetreten ist. Es wäre aber unangemessen, den Fall in Abgrenzung von dem Begriff des Vermögensschadens als Vermögensgefährdung zu bezeichnen. Der Fall soll auch Vermögensschaden genannt werden; damit lässt es sich ausschließen, die reine Vermögensgefährdung, die nicht als Vermögensschaden anzusehen ist, als das vollendete Delikt zu bestrafen, indem sie mit dem Vermögensschaden bei der Untreue identifiziert wird. Also soll die einfache Gefahr ohne Möglichkeit des tatsächlichen Schadens oder das reine „Risiko der Verschlechterung“ der Vermögenslage von dem Vermögensschaden ausgeschlossen werden. Es gibt auch den Präzedenzfall, in dem ein Treugeber einer Immobilie die Immobilie dem Dritten gekauft und Teilzahlungen dafür bekommen hatte, aber an dem Zahlungstag des Restbetrags die Aufnahme des Restbetrags abnahm und die Immobilie auf seinen Namen vormerkte. Dazu wird folgendermaßen geurteilt: „Der Zeitpunkt der Schadenszufügung ist zwar nicht im Fall der tatsächlichen Schadenszufügung einzuschränken, doch muss die Gefahr des Eintritts des tatsächlichen Schadens vorhanden sein. Falls der anvertraute Auftrag aber nur die Eintragung der treugegebenen Immobilie ist, gibt es durch die pflichtwidrige Handlung des Käufers keine Gefahr, den Besitzrechtsübertragungsanspruch des Käufers in die Unmöglichkeit der Erfüllung fallen zu lassen, oder auch keine Gefahr des Schadens. So erfüllt es keinen Tatbestand.“26 In der Diskussion über die Vermögensgefährdung steht im Zentrum hauptsächlich die Frage des Merkmals der Untreue. Es bleiben noch wenig häufig vertretene Ansichten, sie als Gefährdungsdelikt anzusehen.27 Trotzdem besteht der Oberste Ge25
Mun, Hyungsup (Fn. 21), S. 146. Hier wird zutreffend dargestellt, dass es eigentlich keine tatsächliche Differenz gibt, wenn die Verminderung des jetzigen Vermögenswertes nicht als die Gefahr, sondern als der tatsächliche Schaden anerkannt wird. 26 kOGH vom 20. 08. 1985, 84 To 2109. 27 Lee, Jaesang (Fn. 5), Rn. 21/1.
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richtshof Koreas auf der Gefährdungsdeliktstheorie: „Die Untreue ist ein Gefährdungsdelikt, das die Feststellung des Betrags eines Vermögensschadens nicht erfordert, sondern sofort gegeben ist, wenn die Vermögensgefährdung oder die Gefahr besteht, die Vermögensrechtserfüllung unmöglich zu machen. Wenn der Angeklagte auf pflichtwidrige Weise unrechte Kreditgeschäftshandlungen vorgenommen hat, dann liegt Untreue vor.“ In diesem Fall ist als Schadensbetrag nicht nur der über den Wert der Bürgschaft nach Maßgabe der Vorgaben ordnungsgemäßer Kreditvergabe zu hohe Betrag anzusehen, sondern auch der ganze Betrag, der vermögensrechtlich nicht zu leisten ist oder Schaden nach sich ziehen kann.28 Unlängst wurde ein Urteil gegen die Mitarbeiter einer Finanzfirma namens „Saemaul“, die wegen Untreue angeklagt wurden, gefällt, weil sie gegen die Regel der Kreditlinie für ein und dieselbe Person verstoßen und einen Überziehungskredit gegeben haben. Nach überwiegender Ansicht wird die Entscheidung abgelehnt, während nach anderer Meinung kritisiert wird, dass die Mehrheitsmeinung nicht angemessen ist und gegen frühere Urteile des Oberstern Gerichtshofs verstoße, in denen die Untreue als Gefährdungsdelikt angesehen wurde: „Zum ,Vermögensschaden‘ als Kriterium der Untreue gehört nicht nur ein tatsächlicher Schaden, sondern auch die Vermögensgefährdung.“29 Der Oberste Gerichtshof hält die Untreue für ein Gefährdungsdelikt und setzt eine Vermögensgefährdung mit dem Vermögensschaden gleich; so wird der Bereich der Bestrafung des vollendeten Delikts erweitert und auch die Extension der Untreuestrafbarkeit. Daraus ergibt sich für den Gerichtshof der Vorteil, die Mühe bei der Untreuebestrafung zu sparen, den Vermögensgewinn mit dem Verlust konkret zu verrechnen. Man braucht nur den Betrag der Gefährdung abzuschätzen, statt den des Vermögensverlusts, der mit dem Vermögensgewinn eng verbunden ist. Der Reiz des Begriffs „Vermögensgefährdung“ liegt darin, eben den sich durch Untreue ergebenden Vermögensgewinn und Vermögensverlust auszurechnen, was aber kein Begriff sein kann, der logisch nach dem Charakter der Untreue möglich wäre. Eher ist es ein begriffliches Instrument, mit dem das Erfordernis der genauen Abrechnung des Verlusts umgangen werden kann. Daher soll es als gegen das Gesetzlichkeitsprinzip verstoßend kritisiert werden.
V. Schlusswort Es ist der Standpunkt der Urteile und des ihn unterstützenden Gelehrtenkreises in Korea, die Vermögensgefährdung zum Vermögensschaden gehören zu lassen. Das kommt einerseits daher, dass die koreanische Auslegungslehre eng mit der deutschen zusammenhängt. Andererseits zeigt sich hier auch eine Grenze der theoretischen Rechtswissenschaft, die die Rechtspraxis nicht berücksichtigt. 28 29
kOGH vom 04. 11. 2000, 99 To 334. kOGH vom 19. 06. 2008, 2006 To 4876.
Humes Dilemma – oder: Was ist Geld? „Geldschöpfung“ der Banken als Vermögensrechtsverletzung Von Michael Köhler*
„Ein Gewinn, dessen Herkunft zu denken gibt“ (Ludwig v. Mises)
I. Einleitung – These und Methode Die „Geldschöpfung“ der Banken beeinträchtigt strukturell die Wertstabilität des Geldes und verletzt die Vermögensrechte anderer. Begründet wird diese These durch Überlegungen zur Geldtheorie, die methodologisch der freiheitsgesetzlichen Rechtswissenschaft verpflichtet sind.1 Gemäß dem Grundsatz allgemeiner gesetzlicher Selbstbestimmung ist besonders die Teilhabe am gesellschaftlichen Vermögenserwerb zu ordnen – entgegen den existierenden Grundungleichheiten in der Aneignung der Produktionsgrundlage und des Produktivitätsfortschritts. Dem Geld kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Als allgemeiner Wertrepräsentant ist es das Medium für den Leistungsaustausch, für die Wertaufbewahrung, für die Vermögensbildung. Die Gewährleistung seiner Wertstabilität ist daher eine Hauptaufgabe des Rechtsstaates. Im Gegensatz dazu steht die langfristige Tendenz zur Vergrößerung der Geldmengen im Zuge von Kreditausweitung und Staatsverschuldung – zu einer Währungsinflation2, die mit Vermögensverschiebungen einhergeht. Dies ist systemisches Unrecht. Behoben werden muß vor allem der Widerspruch zwischen der ökonomischen Geldlehre und Rechtsgrundsätzen. Die empirische Geldtheorie analysiert die Geldnachfrage, das Geldangebot, die „Geldschöpfung“ durch das Bankensystem (Zen* Verf. ist Frau RiOLG i. R. Dr. Marlene Brockstedt, Kiel, für kritische Lektüre des Textes, Herrn Prof. Dr. Johannes Köndgen, Universität Bonn, für weiterführende Hinweise zum geltenden Recht sehr dankbar. 1 Grundlegend E. A. Wolff, in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, Bedingungen der Strafrechtsreform, 1987, S. 137 ff. – s. Köhler, in: Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, 1999, S. 103 ff.; ders., FS Mestmäcker, 2006, S. 315 ff. – Zur handlungssystematischen Einordnung der Ökonomie s. Aristoteles, Politik, I, 9, 1257b, in: Aristoteles Werke Bd. 9, übers. u. eingel. von Schlütrumpf, 1991, S. 26: Kritik des schrankenlosen Gelderwerbsstrebens (der „Chrematistik“). 2 Zur Inflationstheorie s. Issing, Einführung in die Geldtheorie, 15. Aufl. 2011, S. 192 ff.; empirisch s. Huber, Monetäre Modernisierung, 2. Aufl. 2011, S. 37 ff. m. w. N.
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tralbank, Geschäftsbanken), die Geldmengen sowie die Auswirkungen von Mengenänderungen.3 Zentrale Bedeutung dafür hat die zirkulierende Geldmenge, die aus Bargeld sowie Buch- oder Giralgeld (Sichtguthaben) für den überwiegend bargeldlosen Zahlungsverkehr besteht.4 Daß die Geldeinheiten nicht beliebig vermehrt werden dürfen, entspricht zwar der allgemeinen Vorstellung; die „Preisstabilität“ nimmt sogar verfassungsrechtlichen Rang ein.5 Aber die Wertstabilität des Geldes ist im gegenwärtigen System der „Geldschöpfung“ nicht gewährleistet. Diese erfolgt zunächst durch die Zentralbank, indem sie Bargeld produziert, vor allem aber den Geschäftsbanken Kredite einräumt. Sodann können diese aus Sichteinlagen (insbes. Girokonten), die nur teilweise für Auszahlungen gedeckt zu sein brauchen („Mindestreserve“), ein Vielfaches der Einlagensummen an „neuem“ Geld „schaffen“, das ihnen als Fonds zur Kreditausweitung dient und in herausragendem Umfang die zirkulierende Geldmenge (M 1) erhöht, wie im Weiteren noch näher darzulegen ist. Darauf hat zwar die Zentralbank Einfluß, insbesondere durch die Festlegung von prozentualen Mindestreserve-Einlagen der Geschäftsbanken (gegenwärtig im Euroraum: 2 %). Aber die Komplexität der Geldmengenzusammensetzung eröffnet den Banken weite Spielräume einer im Geschäftsinteresse optimal ausgedehnten Kreditgebung.6 Die Kernfrage der Geldmengenregulierung wird unter gesamtwirtschaftlichen Konzepten betrachtet.7 So setzen die klassische Ökonomie (Adam Smith, David Ricardo, John Stuart Mill u. a.) und ihr nahestehende Ansätze (wie die ordoliberale Wirtschaftstheorie) die gesellschaftlichen Vermögensverhältnisse voraus und be3 Eingehend Issing (Fn. 2), S. 1 ff., 5 ff. (Geldfunktionen, Geldmengenbestimmung), 22 ff., 53 ff. (Geldnachfrage, -angebot); Jarchow, Grundriß der Geldtheorie, 12. Aufl. 2010, S. 1 ff., 75 ff. (Geldschöpfungspotential) mit beispielhaften Mengenangaben; Woll, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 14. Aufl. 2003, S. 559 ff.; technisch differenziert Schilcher, Geldfunktionen und Buchgeldschöpfung, 1958, S. 104 ff.; auf dem Hintergrund makroökonomischer Konzepte Neldner, Die Bestimmungsgründe des volkswirtschaftlichen Geldangebotes, 1976, S. 13 ff., 21 ff.; zu Geldmengenkonzepten kritisch Gebauer, FS Kloten, 1996, S. 243, 247 ff. 4 M 1 umfaßt das Bargeld und die Sichteinlagen, M 2 Spar- und Termineinlagen, M 3 noch weitere Verbindlichkeiten mit Geldfunktion; vgl. Jarchow (Fn. 3), S. 4 ff. mit Beispiel zum bedeutenden Umfang der Sichteinlagen. 5 Vgl. Art. 88 Grundgesetz, Art. 128 EUV – Europäische Zentralbank (EZB); sowie Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (Amtsblatt C 83 vom 30. 03. 2010); eingehend Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 183 ff., 195 ff., 226 ff. (Preisstabilität als „Grundnorm“, jedoch Mangel an Festlegung und Verwirklichung); s. auch Humm, Bankenaufsicht und Währungssicherung, 1989, S. 45 ff.; zum früheren Geld- und Währungsrecht s. Schmidt, Geldrecht, Kommentar, 1983, A 1 ff., A 27 ff. 6 s. differenziert Issing (Fn. 2), S. 62 ff., 80: Geldmenge insofern „endogene Größe“; S. 84 ff. zur Empirie; zur Inflationstheorie S. 192 ff., 214 (Bedeutung veränderten Zirkulationsmenge), S. 237 ff., 245 ff. (Verteilungsfolgen); s. auch Jarchow (Fn. 3), S. 11 ff.; Woll (Fn. 3), S. 597 ff., 604 ff.; zu den „sozialen Kosten“ Mankiw, Makroökonomik, 6. Aufl. 2011, S. 126 ff., 141; Huber (Fn. 2), S. 11 ff., 73 ff. 7 Überblick bei Neldner (Fn. 3), S. 13 ff.; s. eingehend Jarchow (Fn. 3), S. 142 ff., 156 ff.; Felderer/Homburg, Makroökonomik und neue Makroökonomik, 9. Aufl. 2005, S. 51 ff., 97 ff. mit Resümee zum ungeklärten Grundsatzstreit, S. 186 f.
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stimmen das Geld als stabilen Tauschwertträger, der die realökonomischen Bewertungen repräsentieren, aber nicht von sich aus verändern soll – die sog. Neutralität des Geldes.8 In klassischer Tradition sieht sich auch der sog. Monetarismus, der mittels Analyse realwirtschaftlicher Nachfrageelemente das stabile („optimale“) Geldangebot zu bestimmen sucht.9 Hingegen tritt die einflußreiche Theorie von John M. Keynes im Hinblick auf das Phänomen der strukturellen Massenarbeitslosigkeit für staatliche Wirtschaftsinterventionen ein, die durch Stärkung der „effektiven Nachfrage“ auf Vollbeschäftigung zielen.10 Darauf beruhen Konzepte, durch Geldmengenausweitung und Zinssenkung Investitionen, Beschäftigung und Konsum zu fördern oder durch kreditfinanzierte staatliche Ausgabenprogramme (Fiskalpolitik) Nachfrage zu generieren. Diese Prinzipiengegensätze sind unausgetragen. Faktisch dominiert die an aufgewiesene Grundsätze nicht gebundene Tendenz zur Geldmengenausdehnung durch das Bankensystem. Diese ist auch bedingt durch die enorme Kreditfinanzierung der Staatstätigkeit11, in der sich das ungelöste Problem des Sozialstaates niederschlägt. Herauszustellen sind vor allem die vermögensrechtlichen Implikationen des „Geldschöpfungs“-Systems. Sie zeigen sich an der das ökonomische Wachstum (des Bruttoinlandprodukts) weit überragenden Geldmengenausdehnung.12 Daraus kann nur Währungsinflation resultieren, besonders spürbar bei Vermögensgütern. Die analytische Literatur erörtert zwar das inflationäre Geldmengenwachstum, stellt aber die Rechtseinbußen in eine utilitaristische Vertretbarkeitsbeurteilung ein. Daß dem zugleich eine „Erhöhung des Sach- und Finanzvermögens des Geldproduzenten“ entspricht13, wird nur vereinzelt erwähnt. Aber die Nutzungsan8 Vgl. zu den Grundlagen Ricardo, Principles of Political Economy and Taxation/Grundsätze der Volkswirtschaft und Besteuerung, nach 3. Ed. 1821, Ausg. Waentig 1923, Kap. XXVII, S. 360, 365 ff., 370 ff.; Mill, Principles of Political Economy, III, Chap. 7, § 1/ Grundsätze der politischen Ökonomie, 1921, Bd. II, S. 1 ff., 3 (Wahrung der Werthaltigkeit); zusf. zur Rolle des Geldes Felderer/Homburg (Fn. 7), S. 72 ff., 180 f.; Überblick zur Debatte im 20. Jh. von Wagener, FS Kloten, 1996, S. 71 ff., 86 ff. 9 Vgl. Friedman, The Optimum Quantity of Money and Other Essays, 1969/Die optimale Geldmenge, 1976, S. 9 ff.; ders., in: Sills (Ed.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 10, 1968, S. 432 ff. 10 Vgl. Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money (1936)/Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, übers. v. Waeger, 1936, bes. S. 186 ff., 205 ff., zusf. S. 314 ff. („Vermehrung der Menge des Kapitals“); kritisch dazu Friedman, in: Friedman/Patinkin/Moggridge (Hrsg.), Lord Keynes – opus und vita heute, 1989, S. 33 ff.; umfassend Klausinger, Theorien der Geldwirtschaft. von Hayek und Keynes zu neueren Ansätzen, 1991, zusf. S. 216 ff., 225 ff.; vgl. eingehend Felderer/Homburg (Fn. 7), S. 97 ff., 155 ff.; zur keynesianischen Geldmengenexpansion Fuhrmann, Geld und Kredit. Prinzipien monetärer Makroökonomik, 2. Aufl. 1994, S. 81 ff., 224 ff.; Jarchow (Fn. 3), S. 156 ff.; 174 ff.; zur Auseinandersetzung mit dem Monetarismus vgl. Leeson (Ed.), Keynes, Chicago and Friedman, Vol. I, 2003. 11 Zur Empirie vgl. Huber (Fn. 2), S. 81 ff. 12 Vgl. Huber (Fn. 2), S. 33 f., 75 ff.: von 1992 – 2008 Geldmengenwachstum um 189 %, das Vierfache des BIP. 13 Vgl. Woll (Fn. 3), S. 573; erhellend von Mises, Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, 2. Aufl. 1924/Nachdruck 2005, S. 264 ff., 310 ff.; eingehend sodann Huerta de Soto,
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eignung neugeschaffenen Geldes kann nur auf Kosten anderer gehen. Die Grundstrukturfrage, ob nicht die private Macht zur Geldmengenausweitung und zu Vermögensverschiebungen die Grundsätze einer gerechten Wirtschaftsordnung verletzt, wird jedoch vorherrschend nicht gestellt. Die Rechtslehre gleicht diesen Mangel nicht aus. Zwar behandelt das Zivilrecht den Geldwert unter dem durch die Inflationserfahrung im 20. Jahrhundert dringend gewordenen Gebot, den Nennwertgrundsatz für Geldschulden zu modifizieren – in der Einsicht, daß das Nominalprinzip die Staatspflicht der Geldwerterhaltung eigentlich voraussetzt.14 Aber die richterliche Wertanpassung in Einzelfällen kann nur eine sekundäre Notordnung sein. Die „Preisstabilität“ ist immerhin verfassungsrechtlich verankert.15 Jedoch wird in der Verfassungsdoktrin die Synthese mit der Eigentumsgarantie nicht vollzogen. Teils wird die personale Qualität verneint bzw. der Rechtsgehalt auf eine „objektive Staatszielbestimmung“ unklarer Bedeutung reduziert, teils wird die Zugehörigkeit zum Eigentumsgrundrecht zwar erkannt, aber es fehlt eine Konkretisierung.16 Praktisch verbindet sich daher der Grundsatz der Wertstabilität nicht mit dem Geldbegriff. Anstatt der gebotenen rechtsregelhaften Bestimmung bleibt die Geldmenge der „diskretionären“ Steuerung durch eine Exekutivbehörde (im Euroraum: die Europäische Zentralbank), damit der Ökonomie mit ihren internen Gegensätzen und einem „pragmatischen“ Politikstil überlassen. Die weiterreichende Frage, ob (Verbraucher-)„Preisstabilität“ überhaupt eine zutreffende Anforderung ist, bleibt ganz außer Betracht. Die Verfassungsrechtsdoktrin versagt sich einer fundamentalen Grundrechtsgewährleistung. Im Folgenden wird der Begriff des Geldes prinzipienorientiert erörtert; methodologisch impliziert dies die Integration der Ökonomie in das Rechtssystem und seine Grundlagen.17 Der normative Begriff des Geldes schließt die Tauschwertstabilität ein und verbietet daher eine die Vermögensverhältnisse verschiebende Wertänderung. Das Maß der zirkulierenden Geldeinheiten darf danach der Transaktionendynamik der Ökonomie nur vermögensgerecht angepaßt werden. Das ist allein Aufgabe des Geld, Bankkredit und Konjunkturzyklen, 2011, S. 219 ff., 244 ff., zusf. 373; s. auch Huber (Fn. 2), S. 85 ff. 14 s. Schmidt (Fn. 5), D 21 ff., 40 ff., 43 (Nennwertgrundsatz), D 90 ff. (Wertanpassung). 15 s. oben (Fn. 5); dazu eingehend Herrmann (Fn. 5). 16 Subjektivrechtlichen Gehalt abweisend, BVerfG v. 31. 3. 1998 – Maastricht – E 97, 350, 370 f.; ebenso die überwiegende Auffassung i. d. Literatur, s. Maunz/Dürig/Papier, GG, Loseblattausgabe, 59. Lfg. (Juli 2010), Art. 14 Rn. 184 ff. m. w. N., der selbst zu Art. 14 zuordnet, aber ohne Konkretisierungsansatz; den Eigentumsschutz auf Art. 88 GG und den „Standard des AEU-Vertrages“ verkürzend auch Maunz/Dürig/Herdegen, GG, Loseblattausgabe, 60. Lfg. (Oktober 2010), Art. 88 Rn. 39; weitergehend zur Eigentumsgarantie, jedoch unbestimmt s. Herrmann (Fn. 5), S. 227 f., 331 ff.; zur Hilflosigkeit der Verfassungsmethodologie gegenüber der „pathologischen Inflation“ s. bezeichnend Suhr, in: Starbatty (Hrsg.), Geldordnung und Geldpolitik in einer freiheitlichen Gesellschaft, 1982, S. 90 ff., 104 ff. 17 Methodenkritisch zum Positivismus der ökonomischen Theorie und für handlungstheoretische Fundierung, von Mises, Erinnerungen, 1979, S. 79 ff.; Huerta de Soto (Fn. 13), S. 185 ff.
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Rechtsstaates. Die „Geldschöpfung“ der Banken unterliegt rechtsprinzipieller Kritik und muß beendet werden.
II. Der Rechtsbegriff des Geldes – Voraussetzungen, Wertmomente, Funktionen Geld (von „gelten“, „vergelten“)18 ist rechtsverbindlicher Wertträger, eingeteilt in arithmetische Einheiten, der die Wertrelationen zwischen Gütern repräsentiert; es dient dem vertragsförmigen Leistungsaustausch, der („unverderblichen“) Wertaufbewahrung, der Teilhabe an der gesellschaftlichen Vermögensgrundlage (Kapitalbildung). Als abstrakt-allgemeinster Träger von ökonomischem Wert entwickelt sich das Geld innerhalb vertragsförmiger Marktbeziehungen, die nicht nur auf den vereinzelten Austausch reduziert sind, sondern eine gewisse Breite und Regelmäßigkeit aufweisen. Verbände (Familien) leben also nicht mehr nur in gänzlicher Autarkie für sich – John Locke bildet als idealtypisches Beispiel die abgeschlossene Existenz auf einer Insel19, sondern sie eignen produktiv mehr an, um im Austausch mit anderen einen erweiterten Bedarf zu befriedigen, also über das Notwendige (necessity) hinaus einen Mehrwert für ihr Wohlergehen (overplus, convenience) zu realisieren. Die Rechtsform ist der Vertrag, zunächst noch im vorstaatlichen Naturzustand, womit sich die Vertragsparteien einander anerkennend, formal verbindlich um die Leistung des anderen erweitern, bezogen zuerst auf den unmittelbaren Tausch von Gütern.20 Dessen Grund- und Maßprinzip ist der wechselseitige Bedarf.21 Gemeint ist damit aber nicht das bloß ohnmächtige Bedürfnis. Vorausgesetzt wird vielmehr der seiner18 Vgl. historisch und sprachlich Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 1871, S. 250, 253 ff., in: Gesammelte Werke, Bd. I, hrsg. mit Einl. von Hayek, 2. Aufl. 1968; ders., Geld, 1892/1909, in: Gesammelte Werke, Bd. IV, 2. Aufl. 1970, S. 1 ff. – Grundlegend Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 8, 1133a ff., in: Werke, Bd. 6, übers. u. komment. von Dirlmeier, 6. Aufl. 1974, S. 106 ff.; Locke, Second Treatise of Government, Chap. V, §§ 47 ff., Ed. Laslett, 1988, S. 300 ff.; theoriegeschichtlich s. Schumpeter, Das Wesen des Geldes, 1970, S. 40 ff. 19 s. Locke (Fn. 18), Chap. V, § 48 (Ed. 1988), S. 301. 20 Zu den kategorischen Implikationen des Vertrages Locke (Fn. 18), Chap. II, § 14 (Ed. 1988), S. 277: „Truth and keeping of Faith belongs to Men, as Men, and not as Members of Society“; sodann Kant, Metaphysik der Sitten, Teil 1: Rechtslehre (1797), Einl. § B (AAVI, S. 230); Hegel, in: Hoffmeister (Hrsg.), Grundlinien der Philosophie des Rechts, 4. Aufl. 1954, §§ 71, 72, S. 78, 79; dazu gründlich Molkentin, Das Recht der Objektivität, 2003, S. 430 ff., 448 ff. 21 Grundlegend Aristoteles (Fn. 18), V, 8, 1132a ff. (Werke, Bd. 6, 1974), S. 105 ff. mit Beispielen; zur Irrelevanz des bloßen Bedürfnisses s. Kant (Fn. 20), Einl. § B (AAVI, S. 230); Hegel (Fn. 20), § 245 Anm. S. 201 spricht im Hinblick auf den gesellschaftlichen Austauschprozeß treffend vom „selbst produktiven Konsumenten“; zur hier nur skizzierten Werttheorie s. grundlegend Hegel (Fn. 20), §§ 63, 77, S. 70 f., 81; zur Kritik der ökonomischen Wertlehren s. Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, 2. Aufl. 1976, insbes. zur Arbeitswertlehre S. 55 ff., 63 ff.; s. auch Köhler (Fn. 1); ders., FS Mestmäcker, 2006, S. 315 ff.
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seits handlungsmächtige, produktive Vertragspartner – also das ökonomisch selbständige Subjekt, das ein eigenes Lebenskonzept handelnder Selbstverwirklichung hat und demgemäß als Mitkonstituent der Privatrechtsordnung auch gegenständliche Güter sich zuordnet. Darauf beruht der Begriff des Wertes. Die Beteiligten gehen aus vom je subjektiv-besonderen Gebrauchswert der Gegenstände, das heißt: deren Nutzenmaß in der Ordnung ihrer eigenen Bedürfnisse, und suchen, einander als gleichberechtigt anerkennend, die Tauschgegenstände in deren je bestimmtem Maß (Qualität/Quantität) äußerlich gleichzusetzen (z. B. x Tierfelle bestimmter Qualität = y Nahrungsmittel).22 Dadurch stellt sich ein relativer äußerer Tauschwert der jeweiligen Gütermaße von gewisser durchschnittlicher Objektivität heraus, der jedoch keine andere (objektiv-materiale) Basis hat als jene internen, allerdings für sich schon relativ stabilen Gebrauchswertrelationen. Die zugrundeliegende Wert-Theorie setzt also an einem subjektiv-besonderen Element an, ist aber nicht subjektivistisch. Die theoriegeschichtliche Entgegensetzung von subjektiver und objektiver (insbesondere der klassischen, auf die Arbeitskosten abstellenden) Wertlehre bleibt also zu abstrakt. Es handelt sich vielmehr um einen objektiven Wertbegriff auf subjektrechtlicher Grundlage. Schon durch die maßgebenden äußeren Handlungszusammenhänge der Selbsterhaltung gehen objektive Bezüge der Lebensnotwendigkeit in die Wertsetzungen mit ein und verleihen den Tauschgegenständen eine objektive Wertigkeit von gewisser Stabilität, wenn auch nicht Unveränderlichkeit (z. B. hinsichtlich notwendiger Lebensmittel). Vor allem aber folgt aus den Freiheits- und Besitzrechtsprinzipien eine eigentümliche objektive Wertbestimmung. Legitimerweise vorausgesetzt ist ihr eine selbständige privatrechtliche Existenz, modern formuliert: eine allgemeine, grundgleiche Teilhabe an der substantiellen Produktionsgrundlage. Daraus resultiert von selbst ein Wertgrundsatz, der die allseitige und in vertraglicher Konkretisierung: wechselseitige Mehrwertbeteiligung, also den beiderseitigen Nutzen sichert und ausbeuterische Verhältnisse ausschließt, in denen eine Vertragspartei ihre Haut zu Markte tragen muß. Dessen erste freiheitliche Formulierung findet sich, in Transformation der älteren Doktrin vom gerechten Preis, bei John Locke, der die Legitimation erweiterter Substanzaneignung und Produktion mit dem Güteraustausch verbindet.23 Diese Wertbestimmung beruht aber nicht auf einem objektiv-teleologischen (theologischen) Menschen- und Gesellschaftbild, wie es das ältere Naturrecht vorstellt; auch die objektive Arbeitswertlehre der klassischen Ökonomie (David Ricardo) hängt davon noch ab. Vielmehr folgt sie aus dem Prinzip allgemeiner Selbstbestimmung – dem universalen Menschenrecht, das sich in gegenständlicher Hinsicht als besitzrechtliche Teilhabe auslegt; dessen systematische Verwirklichung steht allerdings noch weithin aus. Sol22
Präzisiert durch das Theorem vom (abnehmenden) Grenznutzen/-wert der Güter; vgl. zusf. Paulsen, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Bd. I, 7. Aufl. 1966, S. 143 ff.; theoriegeschichtlich s. Hayek, Einl. zu Menger, Gesammelte Werke, Bd. I, 1968, S. VIII ff. (Grenznutzenlehre Mengers parallel zu Jevons und Walrass). 23 s. Locke (Fn. 18), § 48 (Ed. 1988), S. 301; dazu eindringlich Priddat, Das Geld und die Vernunft, 1988, S. 33 ff., 54 ff., 63 ff. (Inselbeispiel), zusf. S. 80 f.
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che Teilhabe ist nicht reduziert auf Austauschbeziehungen bei vorausgesetzten („historischen“) Aneignungsverhältnissen, wie der minimalstaatliche Liberalismus (Robert Nozick), die ihm nahestehende neoklassische Ökonomie, aber auch die „österreichische Schule“ mit ihrer subjektiven Theorie des Handelns und des Wertes annehmen.24 Vielmehr liegt im Prinzip allgemeiner Selbstbestimmung schon die Rücksicht auf den anderen in einem fundamental rechtseinräumenden Sinne. Darauf beruht eine Theorie subjektiver Teilhaberechte, die sich kritisch nicht nur auf das libertäre Ökonomie- und Staatsverständnis, sondern auch auf den Paternalismus des Wirtschafts- und Sozialinterventionsstaates bezieht und hierin mit der liberalen Kritik ein Stück weit übereinkommt. Werttheoretisch muß demnach schon in der Grundlage der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse die substantielle Selbständigkeit der Personen verankert werden und dadurch zu stabilen Tauschwertrelationen führen. Soweit diese Basis freilich noch an Defiziten leidet, muß das Problem des Sozialstaates in dieser Grundlage gelöst werden, z. B. hinsichtlich ursprünglicher Rechte der Person auf Bildung, auf gesellschaftlichen Vermögenserwerb. Hingegen bleibt der vorherrschende Interventionismus nachträglichen „Umverteilens“ nach Gutdünken prinzipienlos. Für den Begriff des Geldes muß deshalb der Begründungszusammenhang mit den wirklichen, legitimen Produktions- und Austauschverhältnissen maßgebend bleiben. Als universaler Wertrepräsentant und als Tauschmedium reflektiert es nämlich die in den basalen Verhältnissen gesetzten Wertrelationen, hat also die im vertraglichen Austausch vorausgesetzte Wertkontinuität kategorisch zu wahren.25 Das Geld als das die Tauschwertrelationen aller Güter repräsentierende Medium, unterteilt in Recheneinheiten, tritt auf einer Seite des Tauschverhältnisses an die Stelle eines Gutes. Dadurch löst sich der Austausch von der zeitlichen und örtlichen Enge der jeweiligen Marktverfügbarkeit erstrebter Güter. Das Geld erweitert, erleichtert, rationalisiert also die Austauschbeziehungen.26 Es ist nicht „von Natur“ aus da, sondern beruht auf Gemeinschaftbildung, muß unter den Beteiligten anerkannt und letztlich auch institutionell in Geltung gesetzt sein.27 Entwicklungsgeschichtlich bildet es sich über die Zwischenform des indirekten Tauschs heraus, bei dem im ersten Tauschgeschäft eine Ware nur als Tauschwertgegenstand für ein intendiertes weiteres Geschäft erworben wird (z. B. werden Nahrungsmittel gegen Tierfelle veräußert, 24
Vgl. zusf. Huerta de Soto (Fn. 13), S. 185 ff. Vgl. bereits Hume, Of Money/Über Geld (1752), in: Politische und ökonomische Essays, Bd. 2, Ed. Bermbach, 1988, S. 205 ff.; zur Geldpolitik der Klassik (Anpassung an Wachstum, Vermeidung von Deflation), s. Felderer/Homburg (Fn. 7), S. 181. 26 Vgl. (allerdings einseitig) Hume (Fn. 25), S. 205: „Geld ist keine Handelsware, sondern nur das Instrument, auf das Menschen sich geeinigt haben, um den Tausch von Waren zu erleichtern. Es ist nicht eines der Räder des Handels, sondern das Öl, das die Räder leicht und glatt laufen lässt […].“ 27 Aristoteles (Fn. 18), V, 8 (1133a), Werke Bd. 6, S. 106 f.; Locke (Fn. 18), § 47 (Ed. 1988), S. 300: „by mutual consent“; gegen den positivistischen Reduktionismus der „staatlichen Einrichtung“; s. Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (Fn. 18), S. 253 ff.; von Mises (Fn. 13), S. 43 ff. (Grenzen staatlicher Macht). 25
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wofür dann etwas anderes eingetauscht werden soll).28 Damit beginnt eine fortschreitende Abstraktion hin zu einer „Ware“ mit der ausgezeichneten Werteigenschaft, für die Beteiligten auf umfassend allgemeine Weise die Güterwertrelationen zu repräsentieren und dementsprechend als Tauschmedium zu fungieren – verbreitet waren dies unter kulturell spezifischen Bedingungen besonderer Wertschätzung die schwierig zu beschaffenden Edel- und Schmuckmetalle Gold und Silber. Mit Einführung des Geldes wird von „relativen Preisen“ als Tauschwertbeziehung zwischen Waren zu „absoluten“, nur durch die Geldeinheiten ausgedrückten Preisen übergegangen.29 Ursprünglich – im Naturzustand – beruhte der Tauschwert des Geldes auf dem inneren Wert (intrinsic value, lat. bonitas intrinsica) seiner stofflichen Eigenschaft, da es eine äußere Garantie der vertragsrechtlichen Wertverbindlichkeit sonst nicht gab. Daß ein Gegenstand Geld wird, setzt einen Akt normativer Anerkennung voraus.30 Diese allgemeine In-Geltung-Setzung vollzieht zunächst der Rechtsverkehr selbst, wird aber schon früh durch die Rechtsorganisation des Staates gesichert. Mit dem Geld als allgemeinem Wertrepräsentanten zum vertraglichen Güteraustausch verbindet sich in einem weiteren Reflexionsschritt, der schon gefestigtere Beziehungen voraussetzt, die Funktion der „unverderblichen“ Wertaufbewahrung. Nimmt nämlich die Lebensorganisation über die unmittelbare Bedarfsbefriedigung hinaus eine zukunftsoffene Perspektive ein, so ermöglicht das Geld auch insofern legitime Wertaneignung und gewährt höhere Sicherheit gegenüber ungewissen Zukunftsentwicklungen.31 „Unverderblichkeit“ verweist zunächst darauf, daß das Geld nicht wie natürliche Lebensmittel binnen kurzer Zeit seinen Gebrauchswert verliert, bedeutet aber im übertragenen Sinne sodann, daß die stabile Tauschwertrepräsentanz zu seinem substantiell freiheitsrechtlich Begriffsgehalt gehört. Die Funktion des Geldes als Wertaufbewahrungsmittels wirkt daher auch zurück auf den erweiterten, wenn auch nach dem Leistungsvermögen der Personen ungleichen Umfang der Teilhabe an Produktionsgrundlage und Produktionsertrag32: so trägt es Kapitalbildungsfunktion und wird zum Medium eines in gesellschaftlicher Selbständigkeit gesicherten „Wohlstandes für alle“, sogar des „ruhigen Verlangens nach Reichtum“ (Francis Hutcheson).33 In der freiheitlichen Privatrechtsgesellschaft gewinnt 28
Erhellend von Mises (Fn. 13), S. 2 ff. Vgl. Schumpeter (Fn. 18), S. 218, 219 – freilich reduzierend: „willkürlich zu wählende“, „kritische Ziffer“. 30 s. Locke, in: Kelly (ed.), Locke on Money, 1991, Vol. II, S. 399, 410: „The intrinsic value of silver, considered as money, is that estimate which common consent has placed on it, whereby it is made equivalent to all other things […]: and thus, as the wise man tells us, money answers all things“ (gemeint ist Aristoteles). 31 Vgl. Locke (Fn. 18), V, §§ 47 ff. (Ed. 1988), S. 300 ff.; als Mittel gegen künftige Unsicherheit herausgestellt von Keynes (Fn. 10), S. 188 ff. („Liquiditätsprämie“); dazu Klausinger (Fn. 10), S. 218 f. 32 Grundlegend Locke (Fn. 18), V, §§ 47 ff. (Ed. 1988), S. 300 ff.; zutreffend Woll (Fn. 3), 564 f. 33 s. Hutcheson, zit. nach Hirschmann, Leidenschaften und Interessen, 1980, S. 72 ff. 29
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diese Funktion allgemeine vermögensrechtliche Bedeutung. Die Person ist nicht autark im alten Sinne, sondern in funktionenteilende Produktionen der Arbeitsund Konsumgesellschaft34 integriert, in der sich insbesondere Kapital und Arbeit mittels individueller und kollektiver Verträge verbinden. In der wechselseitigen Abhängigkeit organisiert sich teilhaberechtliche Selbständigkeit, die sich wertgerecht auszahlt. Der Ertrag der gemeinsamen Produktion verteilt sich als Kapitalrendite und Arbeitslohn in Form von Geldeinheiten. Die Geldform repräsentiert also für alle Beteiligten das Wertmaß ihrer Teilhabe am Produktionsprozeß, insbesondere auch in Form von Ersparnissen zur Kapitalbeteiligung. In Anlehnung an eine Definition von Schumpeter35 ist Geld insofern eine „Anweisung“ auf die wertgerechte Teilhabe der Person am gesellschaftlichen Produktionsvermögen und -ertrag.
III. Die Geldwertstabilität – das Verbot vermögensverschiebender Wertveränderung Der Geldwert (Tauschwert) ist konstitutives Begriffsmerkmal des Geldes.36 Ursprünglich sind es die vertraglichen Austauschakte, durch die sich zunächst die direkten Tauschwertrelationen zwischen Gütern/Leistungen herstellen. Werden diese in den Einheiten eines allgemein wertvollen Gutes als anerkannten Tausch- und Wertaufbewahrungsmittels ausgedrückt, so impliziert dies selbst schon eine „Eichung“, wodurch das Geld seinen objektiv-allgemeinen Tauschwert gewinnt und sich tendenziell als „reale Geldmenge“ stabilisiert. Mit der staatlichen Rechtsorganisation tritt die sichernde Formalisierung hinzu. Beide Bestimmungsmomente materialer und formeller Art gehören zusammen. Denn die Institutionalisierung des Geldes hat als Akt gesetzlicher Selbstbestimmung (Souveränität) Bezug auf eine bestimmte gesellschaftliche Basis von Güterwertrelationen, die es insgesamt repräsentiert. Demgegenüber gibt es keinen legitimen Standpunkt „objektiven“ Wertens, etatistischer Willkürsetzung oder interventionistischen Beliebens. Der Begriff des Geldes als allgemeinen Wertrepräsentanten mit Tauschmittel-, Wertbewahrungs-, Kapitalbildungsfunktion impliziert die intertemporal gleichmäßige Werterhaltung, besonders im Hinblick auf zeitlich gestreckte Aktionsformen (z. B. Kreditbeziehungen, Vorsorgedispositionen). Dieser Werterhaltungsgrundsatz bedeutet nicht die Stabilität von Güterpreisen („Preisstabilität“), sondern bezieht sich auf die Wertreprä-
34 Rechtsbegrifflich grundlegend Hegel (Fn. 20), §§ 181 ff., 199, 200; aktualisierend Köhler, FS Mestmäcker, 2006, S. 315 ff. 35 s. Schumpeter (Fn. 18), S. 210: „Anweisung auf das Sozialprodukt“ als Kauf-Guthaben. 36 Vgl. Aristoteles (Fn. 18), V, 8, 1133b, Werke, Bd. 6, S. 107 (Wertbeständigkeit); Menger, Geld (Fn. 18); Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie auf Grundlage des Marginalprinzips, Bd. 2, 1922/Neudruck 1969, S. 145 ff.; von Mises (Fn. 13), S. 73 ff.; zur Statistik Issing (Fn. 2), S. 192 ff.
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sentation des Geldes selbst.37 Diese Unterscheidung einer Wertstabilität oder -instabilität „von Seiten der Gütersphäre“/„von Seiten des Geldes“ ist idealtypisch, ihre empirische Beziehung auf die ökonomische Realität problematisch. Die Güterwertrelationen, ausgedrückt in Geldpreisen, können sich infolge veränderter Angebotsund Nachfrage-Bedingungen, etwa aufgrund von Knappheiten oder Innovationen, ändern. So sind auch langfristige Preisveränderungen durch den Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft, durch Produktivitätsfortschritte bedingt, denen ein reicheres Güterpotential und wachsende Realeinkommen entsprechen.38 Aber das Geld selbst als „geeichter“ Wertrepräsentant des gesamten allgemeinen und besonderen Vermögens („answers all things“) darf seine allgemeine Maßstabsfunktion nicht verlieren.39 Denn Maßveränderungen nur auf Seiten des Geldes (z. B. historisch durch Goldimporte aus den Kolonien, durch Münzverschlechterung oder Mehrproduktion von Papiergeld) verformen die realen Austauschrelationen und verschieben die Besitzverhältnisse. Die „Geldschöpfung“ im privaten Nutzungsinteresse ist hier der kritische Fall. Das normative Prinzip kann auch als „Neutralität“ des Geldes bezeichnet werden. Allerdings schließt der Grundsatz der Tauschwertstabilität im Hinblick auf die Wachstumsprozesse der modernen Ökonomie ein dynamisches Moment selbst mit ein. Der Zunahme von Transaktionen genügt eine konstante Geldmenge nicht; sie erfordert vielmehr neben einer erhöhten Zirkulationsgeschwindigkeit auch maßgerechte Mengenanpassungen. Der Werterhaltungsgrundsatz muß daher konkretisiert werden. Er bedeutet nicht Konstanz der Geldmenge.40 Der Grundsatz der Geldwertstabilität ist in abstracto nahezu allgemein anerkannt41, wenngleich in der Folge der keynesianischen Theorie faktisch die Förderung ökonomischer Expansionsprozesse mittels inflationärer Geldmengenvergrößerung vorherrscht. Wie aber Knut Wicksell bemerkte, liegt „schon in dem Begriffe Wertmesser“, analog zu physikalischen Maßeinheiten, „daß dasjenige, was alles andere 37 Vgl. die Begriffsexposition von Menger, Geld (Fn. 18), S. 66 ff., 81 ff. („Idee eines universellen und unwandelbaren Massstabes des inneren Tauschwertes der Güter“). 38 Zu den Bestimmungsfaktoren von Wieser, in: Elster/Weber/Wieser (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl. 1927, Bd. 4, S. 681, 702 ff. 39 Vgl. Menger, Geld (Fn. 18), S. 81. 40 Zur Analyse s. von Mises (Fn. 13), S. 73 ff., 103 ff.; ders. (Fn. 17), 35 ff.; zu „Stabilität“ und „Neutralität“ des Geldes grundlegend Koopmanns, in: Hayek (Hrsg.), Beiträge zur Geldtheorie, 1933, S. 211 ff.; theoriegeschichtlich Wagener, FS Kloten, 1996, S. 71 ff., der von „Stabilisierung in der Transformation“ spricht, indessen die private Geldschöpfung voraussetzt (s. S. 87 f.). 41 Vgl. Aristoteles (Fn. 18), V, 8, 1131b, Werke Bd. 6, S. 107; Locke, Some Considerations of the Consequences of the Lowering of Interest, and Raising the Value of Money, 1692, in: Locke on Money, ed. Kelly, 1991, Vol. I, S. 203, 233 ff.; Ricardo (Fn. 8), Kap. XXVII, S. 360 ff., 370 ff.; zusf. Mill (Fn. 8), Bd. II, S. 1 ff., 3; Menger, Geld (Fn. 18), S. 81 ff.; Wicksell (Fn. 36), S. 145; von Mises (Fn. 13), S. 73 ff.; Schumpeter (Fn. 18), S. 7 ff., theoriegeschichtlich S. 40 ff., 72 ff. (Mengenregulierung entscheidender Gesichtspunkt); s. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl. 1990, S. 255 ff.; beobachtend Issing (Fn. 2), S. 192 ff.
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messen soll, selber konstant bleibe“.42 Dementsprechend pointierte in jüngerer Zeit John F. Nash: „[…] Money should have the function of a standard of measurement and thus […] it should become comparable to the watt or the hour or a degree of temperature. That variety of money would be intrinsically free of ,inflationary decadence‘“.43
Diese im allgemeinen Bewußtsein verwurzelte Idee eines stabilen Wertmaßstabes hat nicht nur den praktischen Vorzug verläßlicher Vergleichbarkeit, übrigens auch im internationalen Austausch.44 Vielmehr ist sie eine kategorische, d. h. mit selbstbestimmtem Dasein verbundene Gesetzmäßigkeit. So wird die Eigenschaft des Geldes, stabiler Tauschwertträger über die Zeit zu sein, im Grunde bei jedem Austauschvertrag Ware/Leistung gegen Geld vorausgesetzt – als Teil der dem Vertrag immanenten Anerkennung der Rechtssubjekte. Der unbedingte Sinngehalt des Austauschverhältnisses liegt nämlich in der durch die gegenseitigen Leistungen erweiterten Selbstverwirklichung der Personen. Nun bleibt aber jeder, der gegen Geld eine Leistung erbringt, in seiner Selbstorganisation zeitlich einen Schritt hinter seinem Vertragspartner zurück. Erhält der Verkäufer doch mit Geld etwas, was er in einem vom Naturaltausch unterschiedenen weiteren Umsatzakt wertrealisierend einzusetzen vermag, und er kann dies auch länger aufschieben.45 Genau genommen hat also jeder Austausch gegen Geld ein Kreditelement. Diese Vermitteltheit darf aber im Vergleich zum Naturaltausch, dessen Enge das Geld zwar überwinden soll, dessen Wertgerechtigkeit aber maßgebend bleibt, kein Grund für einen Wertverlust sein. Positiv gewendet: die Geldform soll Zukunftsdispositionen unter sonst unsicheren Bedingungen ermöglichen. Auf die intertemporale Tauschwertstabilität des Geldes als gesicherte Rechtsbedingung allen Austauschs bezieht sich daher das berechtigte Vertrauen in die „Währung“ – ein für sich sprechendes Wort. Gewährleistet wird zwar nicht, daß die realen Güterwertrelationen (Warenpreise) unverändert bleiben. Aber der Repräsentant der Güterwerte im Ganzen muß diesen stabilen Wertbezug bewahren. Verlöre hingegen das Geld, wenn auch nur „schleichend“, an Tauschwert (Kaufkraft) bezüglich der Gesamtheit der Güter, so wäre der Veräußerer strukturell stets im Hintertreffen. Grundungleichheit der Personen statt wechselseitige Anerkennung würde die Verhältnisse prägen. Offensichtlich wird dies bei gesellschaftlichem Austausch in längerfristiger Perspektive. Ob Dauerrechtsverhältnisse, Kreditgeschäfte, Anlagen für die Altersvorsorge – mißachtet man das kategorische Vermögensrechtsmoment der Geldwertstabilität, so erhält die eine Vertragspartei stets weniger als zugesagt, und jeder Vertrag wird infiziert durch ein Element, wenn nicht des Unredlichen, so doch der naturzuständlichen Unsicherheit. Verlust an Rechtschaffenheit greift 42
Vgl. Wicksell (Fn. 36), S. 145. s. kritisch zu Keynes, Nash, Ideal Money and asymptotically Ideal Money (Quelle: Internet). 44 Erhellend bereits Menger, Geld (Fn. 18), S. 84 ff. 45 s. Wagener, FS Kloten, 1996, S. 85 unter Bezugnahme auf Koopmanns (Fn. 40); zur Kreditbeziehung, die generell in der Ungleichzeitigkeit von Leistung und Gegenleistung liegt s. Schumpeter (Fn. 18), S. 206 ff., 209. 43
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Platz. Die Mächtigen mögen einer erwarteten Inflation etwa durch Zins- und Preisaufschläge einigermaßen begegnen können; die anderen bleiben auf der Strecke. Negativ verallgemeinert hebt dies das gesamte gesellschaftliche Austauschverhältnis auf.46 Besonders bedeutsam ist die Geldwertstabilität für die Vermögensteilhabe der Nicht-Kapital-Besitzer. Aufgrund von Arbeitsverträgen wird die Mehrwertproduktion in den Unternehmen zunächst der Kapitalseite zugeordnet, während der Arbeiter in Geldeinheiten entlohnt wird, wovon er Ersparnisse investieren kann. Mit deren intertemporalem Wertverlust wird die vorausgesetzte Grundgleichheit in der Wertteilhabe negiert. Die Geldwertstabilität ist also kategorisches Element des allgemeinen Vermögens, dem richtigerweise auch ein subjektives Recht aller Beteiligten entspricht. Verfassungsrechtlich muß der irreführende Gesichtspunkt der „Preisstabilität“ durch den Grundsatz der Geldwertstabilität als Teil der Eigentumsgarantie ersetzt werden.
IV. Zur Bestimmung der tauschwertstabilen Geldmenge – „Humes Dilemma“ Die weitere Bestimmung der Tauschwertstabilität muß sich hier auf rechtliche Gesichtspunkte beschränken. Methodisch handelt es sich nicht etwa um einen vorgegebenen „absoluten Maßstab“ oder einen Anpassungsautomatismus, sondern um die rechtsprinzipielle Gestaltung des Geldwesens in der dynamischen Ökonomie einer Gesellschaft selbständiger Bürger. Der Gesichtspunkt ist also normativ-kritisch, nicht nur empirisch-analytisch. Zugrunde liegen privatrechtliche, realökonomische Produktions- und Austauschbeziehungen, aus denen sich die Bestimmungsgründe für die maßgerechte reale Geldmenge allein ergeben müssen. Auch wenn diese von kontingenten (historischen) Elementen nicht zu lösen sind, so sind sie doch in der Logik gesellschaftlich-ökonomischen Handelns begründete Wertsetzungen; daher hängen sie auch vom Entwicklungsstand der Ökonomie (z. B. einer statisch-einfachen oder aber dynamischen, kapitalintensiven Ökonomie) ab. Wie nun die werthaltige Basis des ökonomischen Prozesses in der wechselseitigen Bestimmung von konzeptionell gesteuerten Angebots- und Nachfragebezügen besteht, so müssen auch die Nachfrage nach Geld als allgemeinem Wertrepräsentanten für verschiedene Verwendungsweisen und das korrespondierende Angebot zunächst als gesellschaftlich-privatrechtliches Verhältnis aufgefaßt werden. Deshalb ist primär maßgebend die „Geldnachfrage“ der Wirtschaftssubjekte, und zwar nicht als bloßer „Wunsch“, sondern als produktive Nachfrage für differenzierte Verwendungsweisen, insbesondere der Kassenhaltung für Zahlungszwecke.47 Da die Subjekte sich an Le46
Eindrucksvoll Mill (Fn. 8), Bd. II, S. 97, 99, 101 – dazu noch im Folgenden. Vgl. historisch-kritisch bereits Menger, Geld (Fn. 18), S. 73 ff.; die historische Seite des Bestimmungsvorgangs betont von Mises (Fn. 13), S. 85 ff.; zum mikroökonomisch orientierten Konzept der „österreichischen Schule“ s. Huerta de Soto (Fn. 13), S. 185 ff.; zur Analyse der Geldnachfrage Friedman, The Optimum Quantity of Money and Other Essays/Die opti47
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benskonzepten orientieren, ist diese Basis relativ stabil. Die Begriffe „Geldnachfrage“ und „Geldangebot“ sind indessen zweideutig. Zunächst haben sie jene privatrechtlich-ökonomische Bedeutung, bezogen auf das nachgefragte, zum Austausch angebotene Wirtschaftsgut Geld, wobei sich das Angebot aber selbst mit einer Nachfrageseite verbindet, da für vorgehaltenes Geld seinerseits Investitionsmöglichkeiten am Kapitalmarkt gesucht werden mögen. Wechselseitig von beiden Seiten her ergeben sich also die Bestimmungsgründe aus der realökonomischen Grundlage und sind daher objektivierbar, willkürfrei, relativ stabil: das „Geldangebot“ entspricht material und nicht nur formal der autonomen „Geldnachfrage“.48 Im zweiten und vorherrschenden Sinne beziehen sich indessen die Begriffe „Geldnachfrage“ und „Geldangebot“ auf die Totalität der Geldmenge. In Betracht kommt damit ein gesamtwirtschaftlich-allgemeiner Bestimmungsgrund, der aber seinerseits auf die Werte schaffende Basis der Ökonomie und ihre objektive Entwicklung rekurrieren muß. Keineswegs kann diese Angebots-Nachfragebeziehung, die Festlegung der „Geldmenge“ beliebig sein, wie es aber die technische Leichtigkeit des Gelddruckens nahelegen könnte. Vielmehr folgt aus dem impliziten Bezug der Geldnachfrage auf die prinzipielle Tauschwertstabilität normativ auch die Stabilität der Geldmenge oder doch die regelhafte, an Wertstabilität orientierte „Verstetigung“ ihres Wachstums.49 Das Geldangebot kann daher nur resultieren, einesteils aus dem Austauschprozeß mit erspartem Geldvermögen selbst (insbesondere auf dem Kapitalmarkt gegen Zins), anderenteils aus einer Geldmengenveränderung, die in einer sich dynamisch transformierenden Ökonomie gerade um der Tauschwertstabilität willen geboten sein kann. Beide Seiten müssen also aus dem zugrundeliegenden gesellschaftlichen Wertbildungsprozeß regelhaft bestimmt werden. Zu kritisieren ist daher eine empirischanalytische „Geldangebotstheorie“, die das Geldangebot als von der Nachfrage unabhängige, instrumentale Größe voraussetzt, deren Bestimmungssubjekt das Bankensystem ist. Besonders die Logik der Kreditgebung liegt jedoch ausschließlich in autonomen Austauschverhältnissen bezüglich ersparten Geldes nach Bewertungen des Kapitalmarktes, und – wie sich noch genauer zeigen muß – nicht in einer „Geldschöpfung ex nihilo“.
male Geldmenge (Fn. 9); darin ders., The Quantity Theory of Money: A Restatement (zuerst 1956)/Die Quantitätstheorie des Geldes: eine Neuformulierung (1976), S. 77 ff., 92 f.: „Stabilität der Geldnachfrage (gründe) in der funktionalen Beziehung zwischen der nachgefragten Menge und den sie bestimmenden Variablen“; s. auch ders., in: Sills (ed.), International Encyclopedia of the Social Sciences (Fn. 10), S. 432 ff.; dazu Thieme, in: Starbatty (Hrsg.), Geldordnung und Geldpolitik in einer freiheitlichen Gesellschaft, 1982, S. 18 ff., 22 ff.: mikroökonomisch fundierte Nachfragetheorie; empirisch-analytisch Issing (Fn. 2), S. 22 ff. 48 Friedman, The Optimum Quantity of Money and Other Essays/Die optimale Geldmenge (Fn. 9), bleibt auf die Nachfrageanalyse konzentriert, so ausdrücklich ders. (Fn. 47), S. 78 ff.; dazu und zu seinen praktischen Vorschlägen eingehend Polleit, in: Pies/Leschke (Hrsg.), Milton Friedmans ökonomischer Liberalismus, 2004, S. 25 ff.; analytisch zum Geldangebot Issing (Fn. 2), S. 53 ff.; kritisch dazu Gebauer, FS Kloten, 1996, S. 243, 247 ff. 49 Vgl. dazu Thieme (Fn. 47), S. 24 ff.
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Ausgeschlossen sind demnach Bestimmungsgründe, welche die allgemeine Repräsentationseigenschaft des Geldes für die in den Austauschbeziehungen begründeten Wertrelationen mißachten. Verboten ist daher vor allem die Veränderung des eingerichteten Wertmaßstabes zu spezifischen Gunsten bzw. Lasten bestimmter am gesellschaftlichen Austauschverhältnis beteiligter Personen. Die im Geld verkörperte Wertrepräsentanz muß aber auch gleichmäßig gewahrt bleiben in einer sich verändernden Ökonomie. Wertstabilität erfordert folglich nicht eine konstante Geldmenge50, sondern bezieht sich auch auf deren Veränderung: ihre Ausweitung muß der privatrechtlich-realökonomischen Wertschaffung entsprechen, darf also nicht zu inflationär vermögensschädigender Tauschwertminderung führen, wie umgekehrt nicht die deflationäre Verminderung oder Nichtausweitung der Geldmenge eine ungerechtfertigte Bereicherung an Geldvermögen zur Folge haben darf. Wer z. B. Geld jederzeit verfügbar hält (Kassenhaltung), verzichtet zwar auf eine eigene Investition oder auf Darlehensvergabe gegen Zins, wählt aber eine legitime Funktion des Geldes. Deshalb muß er darauf vertrauen dürfen, daß ihm der darin repräsentierte Anteil am gesellschaftlichen Vermögen erhalten bleibt und nicht etwa durch Inflation zugunsten anderer entzogen wird. Andererseits darf er nicht erwarten, einen ungerechtfertigten Wertzuwachs seiner Geldeinheiten infolge einer reduziert bleibenden Geldmenge zu erzielen. Das Beispiel verweist auf die normative Zweiseitigkeit des Geldmengenproblems. Die hauptsächliche Regelungsaufgabe betrifft somit die Geldmengenausweitung in einer Ökonomie, die etwa infolge von Produktivitätssteigerungen im Wert ihrer Transaktionen zunimmt. Die Geldmengenvergrößerung ist entweder erlaubt, sogar geboten, um in der Veränderung den Tauschwert des Geldes zu erhalten und zugleich die realen Mehrwertsteigerungen in die Wertrepräsentation einzubeziehen. Verboten sind damit sowohl deflationäre, als auch inflationäre Vermögenswertverschiebungen, die vom Geld ausgehen. Ein Kriterium, um die Geldwertstabilität als solche direkt zu beurteilen, ist die statistische Entwicklung des Güterpreis-Niveaus.51 Freilich kann der Schluß von der Güterpreisentwicklung auf den Status des Geldwertes selbst zumeist nur annäherungsweise gezogen werden; er erfordert die Abgrenzung von bloß güterseitigen Preisveränderungen. Methodische Einwände richten sich auch gegen die Auswahl der in den Index aufgenommenen Güter, die Nutzenpräferenzen unterstellen muß, die nicht allgemeingültig sind. Aber immerhin spricht eine bei vielen Gütern beobachtete langfristige Gleichgerichtetheit von Preissteigerungen für die mangelnde Wertstabilität auf der Geldseite selbst. Indessen ist die statistische Stabilitätsbeurteilung nur indiziell. Entscheidend bleibt, ob die Bestimmungsgründe der Geldmengenveränderung im Hinblick auf die realökonomischen (güterwirtschaftlichen) Verhältnisse sachgemäß sind, also die wohlerworbenen Wertzuordnungen im Wachstum des Sozialprodukts auch in der entsprechenden 50 Kritisch auch zur „österreichischen Schule“, Wagener, FS Kloten, 1996, S. 80 ff.; zur Deflation Issing (Fn. 2), S. 272 ff. 51 Vgl. zur Problematik der Geldwertmessung Menger, Geld (Fn. 18), S. 87 ff.; kritisch von Mises (Fn. 13), S. 170 ff.; eingehend Schumpeter (Fn. 18), S. 254 ff.; zur Indexierung der Verbraucherpreise Issing (Fn. 2), 194 ff.
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Geldmenge widerspiegeln, abzugrenzen von Vermögensverschiebungen durch bloß monetäre Einflüsse. Maßgebende Orientierung bietet die Quantitätstheorie.52 Danach verändert sich die Kaufkraft des Geldes im umgekehrten Verhältnis zu seiner Menge, so daß deren Vermehrung oder Verminderung unter sonst gleichen Umständen zur proportionalen Verringerung oder Vergrößerung des Geldwertes, also zu entsprechender Steigerung oder Herabsetzung der Warenpreise führt.53 Das entspricht dem Vorverständnis, ist aber zu ungenau, da noch andere Variable insbesondere der Einfluß der Umlaufgeschwindigkeit einzubeziehen sind. In Betracht kommt auch ein maßgerechter Geldmengenzuwachs, der in einer real wachsenden Ökonomie der Stabilität des Geldwertes dient. Differenziertere Fassungen schließen daher die Quantitätstheorie an die Struktur der Geldnachfrage an und beziehen auch die Erweiterung der Transaktionen mit ein. Im Grundansatz geht es um „some fairly definite real quantity of money that people wish to hold under any given circumstances“54, wohingegen die bloß monetär verursachte Erhöhung der Güternachfrage, z. B. durch gesteigerte Papiergeldemission, letztendlich das Preisniveau insgesamt erhöht. Die empirische Evidenz der so verstandenen Quantitätstheorie ist eindrucksvoll.55 Eine inflatorische Veränderung der Geldmenge wirkt sich vermögensbeeinträchtigend indessen nur aus, wenn sie in privilegierter Zuordnung erfolgt. Um diese Unterscheidung zu illustrieren, hat bereits die klassische Geldtheorie den Vergleichsfall gebildet, dass die Geldmenge sich zeitgleich und proportional bei allen vermehrt und dann zwar den Tauschwert aller Güter gegen die Geldeinheiten gleichmäßig erhöht, oder umgekehrt deren Kaufkraft proportional mindert – ohne daß aber irgend jemand einen Nachteil oder Vorteil davon hätte: es verändern sich nur die Rechengrößen. Die Geldmengenerhöhung bliebe also neutral hinsichtlich der den Personen in Geld52 s. Locke (Fn. 41), S. 233 ff., 258 ff.; Ricardo (Fn. 8), Kap. XXVII, S. 360 ff.; Mill (Fn. 8), III, Chap. 8, §§ 2, 3, S. 1 ff., 17 ff.; Wicksell (Fn. 36), S. 160 ff., 180 ff.; von Mises (Fn. 13), S. 105 ff.; zu ihm Pallas, Ludwig von Mises als Pionier der modernen Geld- und Konjunkturlehre, 2005, S. 59 ff., 72 ff.; von Wieser (Fn. 38), S. 681, 702 ff.; theoriegeschichtlich Schumpeter (Fn. 18), S. 50 ff.; 75 ff. zur Leistung J. St. Mills; s. fortentwickelnd Friedman (Fn. 47); ders., The Optimum Quantity of Money and Other Essays/Die optimale Geldmenge (Fn. 9); ders., in: Sills (ed.), International Encyclopedia of the Social Sciences (Fn. 9), S. 432 ff., insbes. auch mit empirischen Bezügen; ihm folgend Mankiw (Fn. 6), S. 115 ff.: Geldmengenwachstum wichtigster Bestimmungsgrund der Inflation; s. auch Issing (Fn. 2), S. 214: Inflationsursache auf Nachfrageseite durch Geldschöpfung finanzierte Ausdehnung der monetären Gesamtnachfrage; differenzierte Darstellung der Quantitätstheorie, ders., S. 140 ff. mit Auswertung empirischer Studien zum langfristig evidenten Zusammenhang zwischen Geldmengenwachstum und Inflation. 53 So die Formulierung von Wicksell (Fn. 36), S. 160, zur Kritik 163 ff., 180 ff.; die Kritik an der einfachen Fassung resümiert Issing (Fn. 2), S. 140 ff. insbes. im Hinblick auf Sonderkonstellationen. 54 s. Friedman, in: Sills (ed.), International Encyclopedia of the Social Sciences (Fn. 9), S. 434. 55 Vgl. Friedman, in: Sills (ed.), International Encyclopedia of the Social Sciences (Fn. 9), S. 442 ff.; Issing (Fn. 2), S. 148 ff. m. w. N.
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einheiten zustehenden Vermögenswerte. Eindrücklich hat dies J. St. Mill erläutert.56 Anders verhält es sich hingegen, wenn die Veränderung der Geldmenge in ungleicher Zuordnung erfolgt und sich nach und nach in der Zirkulation durchsetzt. Die Ablösung vom intrinsisch wertvollen Geldstoff wie Gold und Silber und die technisch leicht mögliche Produktion von Papiergeld oder die Schaffung von Kreditgeld ohne werthafte (Gold-)Deckung erleichtern zugleich eine solche Geldmengenausdehnung mit inflatorischen Wirkungen auf die Vermögensverhältnisse. In den Blick rückt die „Geldschöpfung“ oder „Geldproduktion“ („money manufactoring“), sei es unmittelbar durch den Staat, sei es durch Privatpersonen (Banken) im partikularen Interesse.57 Schon David Ricardo hat das Problem treffend formuliert.58 Durch „Geldschöpfung“ in privilegierter Zuordnung vermehrt, ist das Geld nicht neutral hinsichtlich der Güterpreisrelationen. Denn die „Geldschöpfer“ und die nächst ihnen über das neue Geld verfügenden Kreditnehmer profitieren – wie besonders David Hume und in neuerer Zeit Ludwig von Mises dargelegt haben59 – davon, daß zunächst noch das bisherige Preisniveau (z. B. für Investitionsgüter, Immobilien, sonstige Vermögensgüter, langlebige Konsumgüter, Dienstleistungen) gilt. Alle Nachfolgenden im gesellschaftlichen Austausch erhalten und haben Geld, das 56 Vgl. Mill (Fn. 8), III, Chap. 8, § 2, S. 15: „Angenommen, es käme zu jedem Pfund, Schilling oder Penny, die jemand besitzt, plötzlich ein weiteres Pfund, ein weiterer Schilling oder Penny hinzu. Es würde dann eine gewachsene Nachfrage von Seiten des Geldes, folglich ein vermehrter Geldwert oder Preis für Dinge aller Arten vorliegen. Dieser gewachsene Wert würde niemandem nutzen, würde keinen Unterschied ausmachen, außer dass man nun mit Pfunden, Schillingen und Pence in höheren Zahlen rechnen müsste“. – Übers. teilweise korr. v. Köhler; ähnlich schon Hume (Fn. 25), S. 205 ff.; ders., Of Interest/Über Zinsen, 1752, in: Politische und ökonomische Essays, Bd. 2, Ed. Bermbach, 1988, S. 219, 222; daran anschließend Friedman, The Optimum Quantity of Money and Other Essays (Fn. 9), S. 14 ff.: Geldabwurf, allerdings mit ungleicher Zufallsverteilung. 57 Zur „wenig erbaulichen Geschichte“ insbes. der Papiergeld-Emission s. Wicksell (Fn. 36), S. 188 ff.; ins Bild gesetzt von Goethe, Faust, 2. Teil, 1. Akt, Lustgarten, 5987 ff., Papiergeldschaffung für den Kaiser („und meinen Leuten gilts für gutes Gold?“) durch Mephistopheles; der gewitzte Narr kauft davon Immobilien; s. Goethe, Faust, Kommentare von Schöne, 1999, S. 455 ff. 58 Vgl. Ricardo (Fn. 8), S. 370, 365: „Ein Geldumlauf ist am vollkommensten, wenn er gänzlich aus Papiergeld besteht, aber Papiergeld von einem gleichen Wert wie das Gold, das es zu vertreten beansprucht“; dadurch werde „das kostspieligste durch das billigste Mittel (ersetzt).“ […] „Indessen lehrt die Erfahrung, dass weder ein Staat, noch eine Bank jemals die uneingeschränkte Macht der Papiergeldausgabe besessen hat, ohne diese Macht zu missbrauchen. Die Ausgabe von Papiergeld sollte daher in allen Staaten einer gewissen Beschränkung und Kontrolle unterliegen“; s. auch ders., The high Price of Bullion, a Proof of the Depreciation of Bank Notes (1810)/Der hohe Preis der Edelmetalle, ein Beweis für die Entwertung der Banknoten, in: Ricardo, Grundsätze pol. Ökonomie (1821/1923), Ausg. von Neumark, 1972, S. 319 ff. 59 s. Hume (Fn. 25), S. 205 ff., 209 ff.; von Mises (Fn. 13), S. 118 ff., 178 ff. (soziale Begleiterscheinungen); historisch illustrierend („glückliche Goldgräber“) auch von Wieser (Fn. 38), S. 702 ff.; zu den dauerhaften Distributionswirkungen des Übergangsprozesses s. auch Friedman, The Optimum Quantity of Money and Other Essays (Fn. 9), S. 26 ff.; zur Geschichte des Argumentes Huerta de Soto (Fn. 13), S. 244 ff., 373, 421 ff.
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durch die Vermehrung der Zirkulationsmenge, die sich nach und nach ausbreitet, stetig an Wert verliert. Der Vorgang wirkt wie das Münzverschlechtern. Langfristig entspricht also dem Gewinn der Geldschöpfung für die einen, die an privilegierter Stelle in der Produktions- und Handelskette sitzen – die Banken, die den Kredit nehmenden Produzenten und Kaufleute, der Wertverlust für die breite Masse der anderen, die nachfolgend in den Zirkulationsprozeß einbezogen werden. Empirisch wird das bestätigt durch die Inflationswirkungen, die vorwiegend in einer Umverteilung von den Gläubigern zu den Schuldnern, von den Sparern bzw. privaten Haushalten zu den Unternehmen bestehen.60 Selbst wenn die Geldmengenausweitung an sich realökonomisch indiziert ist, führt die privilegierte Zuordnung zu einer durch nichts legitimierten Vermögensverschiebung. Der kategorische Rechtsgrundsatz der interpersonal gleichmäßigen Tauschwertstabilität des Geldes wird strukturell verletzt. Deshalb zweifelte David Hume am Nutzen von „Papierkredit und Banken“ sowie an „künstlicher“ Kredit-Vergrößerung und plädierte nach dem Vorbild der berühmten Bank von Amsterdam für eine staatliche Bank mit 100 %-Reservehaltung für die Einlagen.61 Die Gefahr mißbräuchlicher Geldproduktion hat immer wieder zu der Forderung geführt, die Währung an einen intrinsisch wertvollen Stoff zu binden.62 Aber die Konstanz der Geldmenge ist nicht die Alternative zur privat-privilegierten Geldvermehrung. Unter normativem Aspekt entscheidend kommt es nämlich nicht nur auf die Änderung der Geldmenge, sondern auf die ungerecht-vermögensverschiebende Zuordnung in der konkreten Form der „Geldschöpfung“ an. „Humes Dilemma“ – so könnte man deshalb das eigentliche Regelungsproblem nennen: zwar einer in ihrer Produktivität fortschreitenden Ökonomie mit wachsenden Transaktionen durch Erhöhung der zirkulierenden Geldmenge zu genügen, dabei aber das vermögensrechtliche Gebot interpersonal gleichmäßiger Tauschwerterhaltung strikt zu wahren. Hume selbst hat sich für eine Währungs-Politik des Staates ausgesprochen, welche die Geldmenge „wenn möglich“ weiter steigen läßt; damit kann indessen nicht die künstliche Kreditgeld-Vermehrung durch Banken gemeint sein, sondern nur die Beschaffung von zusätzlichem Edelmetall-Geld durch den Staat. Zur Begründung führt er an, „dadurch würde (scl. der Magistrat) den Geist des Fleißes einer Nation wach halten und den Bestand an Arbeit vergrößern“.63 Er stellt also die vorteilhafte Wirkung der Veränderungsphase, den erwarteten allgemeinen Nutzen der monetär erzeugten konjunkturellen Belebung heraus. Dem Pragmatismus, der in David Humes Argument liegen könnte, hat John Stuart Mill die kategorische normative Schranke entgegengehalten: die Vorteile, die man sich von der monetär angereg60 Vgl. Issing (Fn. 2), S. 238 ff., 245 ff.; Woll (Fn. 3), S. 599 ff., 604 ff.; Pallas (Fn. 52), S. 263 ff., 268. 61 Vgl. Hume (Fn. 25), S. 207 ff.; dazu historisch Huerta de Soto (Fn. 13), S. 68 ff. 62 Vgl. Hume (Fn. 25), S. 207 ff.; Ricardo (Fn. 8), S. 370, 365; Kant (Fn. 20), nach § 31 „Was ist Geld?“ (AA VI, S. 286 ff.); von Mises (Fn. 13), S. 376 ff., 401 ff. (Goldwährung); dazu Pallas (Fn. 52), S. 203 ff.; theoriegeschichtlich Huerta de Soto (Fn. 13), S. 436 ff.; zur Waren-Reservewährung s. Wagener, FS Kloten, 1996, S. 71 ff.; Nash (Fn. 43). 63 Vgl. Hume (Fn. 25), S. 211 f., s. auch 209 f.
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ten Konjunktur verspricht, könnten, wenn sie an einer Stelle der Gesellschaft eintreten mögen, nicht die ungerechte Benachteiligung anderer legitimieren. Treffend kritisiert er das prä-keynesianische Konzept: „Ein anderer Trugschluß … ist der Satz, dass eine Zunahme des Geldes die gewerbliche Tätigkeit belebe“ … „Auf keine andere Weise kann eine allgemeine und dauernde Preissteigerung oder, mit anderen Worten, eine Geldentwertung irgendjemandem einen Vortei bringen, außer auf Kosten irgendeines anderen“.
Ein Vorteil ergebe sich zwar für Kreditnehmer, jedoch: „Nur so kann eine allgemeine Preissteigerung für die Produzenten und den Handel eine Quelle des Vorteils sein, indem sie den Druck ihrer feststehenden Lasten vermindert. Dies könnte aber als Vorteil nur angesehen werden, wenn Integrität und Vertrauen (integrity and good faith) für die Welt und besonders für Gewerbe und Handel keinerlei Bedeutung hätten“.64
Auf Währungsstabilität beruht entscheidend die freiheitliche Existenz der Person zumal in einer auf arbeitsteiligen Austausch angewiesenen Gesellschaft; die mit Inflation verbundene Vermögensrechtsverletzung gegenüber einigen/vielen kann durch einen angeblichen Gesamtnutzen, der doch nur der Vorteil einiger anderer ist, nicht legitimiert werden. Maßgebende normative Gesichtspunkte sind damit entwickelt. Soweit eine wachsende Ökonomie die Vergrößerung der zirkulierenden Geldmenge erfordert, muß das „Angebot“ der „Nachfrage“ entsprechend maßgerecht sein und zugleich dem Vermögen aller zugutekommen; denn auch in der dynamischen Veränderung der Wertbildungsprozesse muß der Tauschwert des Geldes in seiner vermögensrechtlichen Zuordnung gewahrt werden. Jede künstliche, privilegierte Geldvermehrung tendiert dagegen zu einer vorsätzlichen Vermögensschädigung. Das sich abzeichnende Konzept nimmt so zwar die Stabilitätsdoktrin der Klassik auf. Aber die systematische Unterscheidung zwischen besitzrechtlichen Grundverhältnissen und Geldordnung bezieht sich kritisch sowohl auf den klassischen, als auch auf den interventionistischen Ansatz. Die erforderliche Veränderung der Geldmenge muß sich strikt darauf beschränken, die Expansion dem sich entfaltenden Produktionspotential und dem Wachstum der Transaktionen anzupassen, also eine deflationäre Geldverknappung auszuschließen65, z. B. auch durch äußere Geschehnisse bedingte Zusammenbrüche des Kredites zu beheben.66 Der Kritik unterliegen damit alle instrumentalen Vorstellungen, die mittels „Geldschöpfung“ eine umverteilende Kapitalausweitung und künstliche Anregung des Wirtschaftsprozesses intendieren. Das makroökonomische 64 Vgl. Mill (Fn. 8), III, Chap. 13, §§ 4 f., S. 97, 99, 101 (Übers. teilweise korr. v. Köhler); dies entspricht seinem „Regelutilitarismus“, s. Utilitarianism (1871)/Utilitarismus, 1976, Kap. 5, S. 124, 128 ff. 65 s. auf klassischer Grundlage skizzierend Felderer/Homburg (Fn. 7), S. 181. 66 Z. B. sicherte der Bankier Salomon Heine 1842 dank seiner internationalen Verbindungen den Kredit für die niedergebrannte Stadt Hamburg; vgl. Oppens, Hamburg, 1981, S. 161 ff.
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Systemgleichgewicht auf hohem Niveau des produktiven Einbezuges aller („Vollbeschäftigung“) wird zwar durch eine gerechte Geldmengenanpassung gestützt, wie schon Hume annahm; substantiell wird es sich aber nur aus teilhaberechtlich ausgeglichenen Produktions- und Austauschverhältnissen, mithin einer nachhaltigen „selbst produktiven“ Nachfrage der Gesellschaftsmitglieder ergeben. Dies erfordert jedoch Reformen in den realen Produktionsverhältnissen. Dem genügen aber weder die (neo-)klassische Ökonomie, noch die „keynesianische Revolution“.67 Die Klassiker bis hin zum Ordoliberalismus setzen eine grundungleiche Besitzlage voraus, die der Sozialstaat nicht zureichend behebt; so erweist sich in der strukturellen Massenarbeitslosigkeit als dem andauernden Problem der kapitalistischen Gesellschaft, daß das „natürliche Gleichgewicht“ der Märkte nicht gewährleistet ist. Das gibt zwar Keynes’ Analyse ihr Gewicht, resultiert doch die mangelhafte „effektive Nachfrage“, der die strukturelle Unterbeschäftigung entspricht, aus der gespaltenen Grundstruktur. Daran ändert jedoch auch sein Konzept nichts, sondern tendiert dazu, die fragile Basis noch weiter zu untergraben. Dazu zählt besonders eine illusionär-künstliche Nachfrage mittels Kreditgeldschöpfung, die im Produktionsverhältnis selbst nicht begründet ist und in die Sackgasse der „Stagflation“ führt.68 Generell läßt der Interventionsstaat einerseits die grundlegenden Ungleichheitsverhältnisse bestehen, verfolgt aber andererseits Umverteilungsintentionen, sei es direkt durch Sozialhilfe, sei es durch Investitionsanregung und „Beschäftigung“.69 Schon in der frühen Krisenanalyse wurden diese zwei Holzwege benannt – die direkte Alimentierung und die künstliche Arbeitsbeschaffung.70 In jüngerer Zeit wird der scheinbare Königsweg gegangen, den einen zu geben, den anderen aber nicht zu nehmen, sondern die Kosten in Form enormer Staatsverschuldung vorläufig zu verschieben. Die „Finanzierung“ des Sozialstaates erfolgt mittelbar auch im Kreditwege. Schuldenfinanzierte Sozialausgaben und die nachfolgende Währungsinflation erscheinen als „vertretbar“, weil die basalen Vermögensverhältnisse ungleich, die Massenerwerbslosigkeit ungerecht sind. Aber ein solches Ausspielen der Inflation gegen die Arbeitslosigkeit ist grundsätzlich verfehlt. Denn dadurch verletzt man eine allgemeine Basisvoraussetzung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Geboten sind also einesteils gesellschaftliche Grundlagenreformen, die vor allem ein „Recht auf Arbeit“, auf Teilhabe am Produktivitätsfortschritt mit einschließen, anderenteils das Festhalten an der vermögensgerechten Wertstabilität des Austauschmediums Geld.
67 Hierzu die theoriegeschichtlich-systematischen Kritiken bei Köhler (Fn. 1); ders., FS Mestmäcker, 2006, S. 315 ff. 68 Vgl. zum Stagflationsproblem (Auftreten hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit) Felderer/Homburg (Fn. 7), S. 242 ff. insbes. zur Kritik Friedman (Fn. 10), S. 37 ff. zur Erfahrung der 70-er/80-er-Jahre. 69 Exemplarisch das Hauseigentums-Programm in den USA für einkommensschwache Schichten; informativ Rajan, Fault Lines – Verwerfungen, 2012, S. 9 ff., 39 ff. („gebt ihnen Kredite“); zu Keynes s. oben bei N 10. – Der für Arbeit gebrauchte Terminus „Beschäftigung“ (employment) ist gedankenlos. 70 Vgl. Hegel (Fn. 20), § 245.
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Vermögensrechtlich ist es also nicht gleichgültig, welchem Zweck die Geldmengenausweitung dienen soll und wem sie zugutekommt. So würde eine durch aktive Wirtschaftspolitik des Staates betriebene Kreditausweitung den privatautonomen Wirtschaftsprozeß bevormunden und – im Extrem totalitärer Staatsformen – letztlich verdrängen. Ähnliches gilt für eine Geldschaffung, die den (vermeintlichen) Fortschritt in der Entwicklung produktiverer Konzepte durchzusetzen unternimmt: die Kreditinflation, so schrieb einmal Schumpeter, solle Ressourcen von bisherigen Zielen abziehen und sie „neuen Männern und neuen Zielen zur Verfügung“ stellen.71 Aber damit werden die privatwirtschaftlichen Entscheidungen über die Geldverwendung insbesondere am Kapitalmarkt unterlaufen, und zwar mittels inflationärer Vermögensverschiebung. Schließlich beansprucht auch Keynes’ Konzept der „Vermehrung des Kapitals“, um Investitionen bis zur Vollbeschäftigung anzuregen, ein Steuerungswissen, das zwar einen gerechten Zweck verfolgen mag, aber doch auf eine Außerkraftsetzung autonomer Wirtschaftsprozesse gerichtet ist.72 Bemerkenswert ist hier Keynes‘ Wendung gegen erspartes Kapital („Rentiers“), das er zu entwerten vorschlägt. Aber dieses wird vielfach aus produktiver Arbeit stammen (z. B. Ersparnisse zur Altersvorsorge).73 Bedienen sich keynesianische Ansätze der Geldmengenvergrößerung, um über Zinssenkungen die „effektive Nachfrage“ zu stimulieren, so steht nicht nur der Erfolg dahin, da die künstliche, nicht „selbst produktive“ Nachfrage letztlich die Investition nicht lohnt. Ausgeblendet bleibt vor allem die ungerechte Vermögensverschiebung, die von der privilegierten Induktion „frischen Geldes“ ausgeht. Im Vergleich zu den bisher kritisierten Konzepten scheint die Geldmengenexpansion mittels Zirkulationskredites durch Banken der modernen dynamischen Ökonomie, der das Festhalten an einer starren Geldmenge nicht genügen konnte, zu entsprechen, und historisch hat sie diesen Übergang gefördert. Jedoch bedeutet die konkrete Form der Geldvermehrung gleichfalls eine autonomie- und vermögensrechtsverletzende Anmaßung. Die eigentlich öffentliche Aufgabe der „Geldschöpfung“ privilegierten Personen mit natürlichem Eigeninteresse zu überlassen, konfundiert grundverschiedene Funktionen; es impliziert ungerechtfertigte Wertverschiebungen und führt übrigens zu Fehlallokationen des Kapitals und deshalb zu Wirtschaftskrisen.74 Die Grundsatzkritik konzentriert sich daher auf das System der „Geldschöpfung“ durch die Banken.75 71 So Schumpeter, in: Seidl/Stolper (Hrsg.), Aufsätze zur Tagespolitik, 1993, S. 78, 86 ff., 89 f.; instrumentalistisch auch ders. (Fn. 18), S. 389 ff., 397; dazu Wagener, FS Kloten, 1996, S. 73; eindringliche Kritik von Koopmanns (Fn. 40), S. 347 f. 72 Während Keynes (Fn. 10), S. 314 ff. die Rolle des Staates herausstellte, behandelt die keynesianische Analyse fiskalpolitische und geldpolitische Maßnahmen der Konjunkturbelebung parallel, s. Jarchow (Fn. 3), S. 174 ff. 73 Vgl. Keynes (Fn. 10), S. 317 f.: „Vermehrung der Gesamtmenge des Kapitals, bis es aufhört knapp zu sein, sodaß der funktionslose Investor nicht länger einen bonus erhalten wird“; zur Legitimation des Zinses im Anschluß an Locke eingehend Priddat (Fn. 23), S. 40 ff., 111 ff. 74 Zur hier ausgeblendeten Krisentheorie s. von Mises (Fn. 13), S. 347 ff., 374 f.; zu ihm Pallas (Fn. 52), S. 273 ff.; von Hayek, Geldtheorie und Konjunkturtheorie, 2. Aufl. 1976,
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V. Die „Geldschöpfung“ der Banken mittels Sichteinlagen – rechtsbegriffliche Kritik „Aliud est credere, aliud deponere“ (Ulpian)
Maßgebender Ausgangspunkt der Analyse sei zunächst der Normalfall des Kreditgeschäftes aufgrund von Einlagen76: das Darlehen stammt entweder aus eigenen Mitteln des Bankhalters oder aus darlehensweise erhaltenen Kundengeldern, besonders unter Kündigungsfrist rückzahlbaren „Spar“- und befristeten „Termineinlagen“. Zu unterscheiden sind diese von jederzeit verfügbaren sog. „Sichteinlagen“ (Girokonten). Ökonomisch betrachtet sind jene Mittel Ersparnisse, welche der Berechtigte, anstatt sie zu konsumieren, aufzubewahren (Kassenhaltung) oder selbst zu investieren, einer anderen Person zeitweise zur Verfügung stellt.77 Das Darlehen besteht im Anvertrauen eines Kapitals oder einer anderen vertretbaren Sache auf bestimmte Zeit gegen Zinszahlung, damit der andere darüber zum eigenen Nutzen verfüge. Der Darlehensgeber verliert also das Recht am Gegenstand, der Nehmer erwirbt es mit der Verpflichtung, bei Fälligkeit Gegenstände „von gleicher Art und Güte“ zurückzugewähren.78 Die Bestimmung „von gleicher innerer Güte“ (lat. bonitas intrinsica) konkretisiert diese Pflicht für vertretbare Sachen (z. B. Wein), dann aber auch für Geld hinsichtlich seines Tauschwertes; sie ist nach der erinnerten Wertbegründung eigentlich selbstverständlich, scheint aber mit der strukturellen Währungsinflation 81 ff., 85 ff.; ausführlich, auch mit empirischen Studien, Huerta de Soto (Fn. 13), S. 281 ff., 333 ff. 75 Detailliert Issing (Fn. 2), S. 58 ff.; bahnbrechend von Mises (Fn. 13), S. 264 ff.; zu ihm Pallas (Fn. 52), S. 43 ff., 72 ff.; s. auch zur Veränderung des Zinsniveaus Wicksell (Fn. 36), S. 220 ff. („unerschöpflicher Darlehensfonds“); theoriegeschichtlich und systematisch Schumpeter (Fn. 18), S. 79 ff., 176 ff., 186 ff. („bankmäßige Geldschöpfung“); neuerdings eingehend Huerta de Soto (Fn. 13), S. 119 ff.; s. auch Huber (Fn. 2), S. 11 ff., 73 ff. 76 Vgl. exemplarisch § 1 des Kreditwesengesetzes der Bundesrepublik Deutschland: Bankgeschäfte … „1. die Annahme fremder Gelder oder anderer unbedingt rückzahlbarer Gelder des Publikums … (Einlagengeschäft)“, „2. die Gewährung von Gelddarlehen und Akzeptkrediten (Kreditgeschäft)“; s. zunächst Boos/Fischer/Schulte-Mattler, Kreditwesengesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2012, § 1, Rn. 32 ff.; zum Folgenden Canaris, Bankvertragsrecht, 2. Aufl. 1981, Rn. 1163 ff.; Staudinger/Hopt/Mülbert, BGB, 12. Aufl. 1989, Vorbem. zu §§ 607 ff., Rn. 12 ff., 18 ff.; auf international vergleichender Basis s. Huerta de Soto (Fn. 13), S. 81 ff., 119 ff. 77 Systematisch erhellend Wicksell (Fn. 36), S. 216 ff. 78 Vgl. § 607 Abs. 1 BGB ursprünglicher Fassung: „Wer Geld oder andere vertretbare Sachen als Darlehen empfangen hat, ist verpflichtet, dem Darleiher das Empfangene in Sachen gleicher Art, Güte und Menge zurückzuerstatten“. In der Neufassung des Darlehensvertragsrechts aufgrund europäischer Richtlinie in §§ 488 ff. BGB i. d. F. der Neubekanntmachung ab 01. 01. 2002 heißt es nun nur noch farblos: „ist verpflichtet, […] bei Fälligkeit das zur Verfügung gestellte Darlehen zurückzuzahlen“ (§ 488 Abs. 1). – Zur klassischen, römischrechtlichen Formulierung, vgl. Corpus Iuris Civilis, D. 12, 1, 3, Pomponius libro 27 ad Sabinum: beim Darlehen sei eine Sache derselben Art und in derselben Güte („et eadem bonitate“) zurückzugewähren; vgl. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1. Abschn., 2. Aufl. 1971, S. 330; detailliert Huerta de Soto (Fn. 13), S. 2 ff.
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in Frage gestellt. Richtigerweise ist es aber umgekehrt: der alte, römischrechtliche Grundsatz enthüllt den Inflationismus als Vermögensrechtsverletzung. Ökonomisch handelt es sich um ein echtes Kreditgeschäft, nämlich „Tausch gegenwärtiger gegen künftige Güter“.79 Der Zins ist der Marktpreis für den vorläufigen Verzicht auf den in der Geldwerteinheit repräsentierten Inbegriff von Gegenwartsgütern zugunsten des Kreditnehmers. Seine Höhe richtet sich nach dem Kreditmarkt, bestimmt sich also als „natürlicher Zins“ für relativ knappe, durch Ersparnisse begrenzte Investitionsmittel bei ausgeglichener Nachfrage, die ihrerseits am erwarteten Investitionsertrag – der Kapitalrendite – orientiert ist. Der Darlehenszins hat so maßgebende Informations- und Steuerungsfunktion für lohnend erscheinende Kapitalallokationen und Produktionsprozesse.80 Das Kreditgeschäft der Bank beruht auf Eigenmitteln oder fremden Kreditmitteln. Die Dienstleistung des Bankiers, sachkundig Kredit zu vermitteln, bringt ihm den grundsätzlich legitimen Zinsgewinn ein. Das „Geldangebot“ wird indessen in der Nachfragefunktion bestimmt durch die autonomen Verwendungsentscheidungen der Marktteilnehmer aufgrund einer begrenzten Gesamtmenge; durch Kredit wird kein neues Geld geschaffen. Rechtlich problematisch ist hingegen die Verwendung der „Sichteinlagen“ („Depositen“ von lat. depositum, das zur Verwahrung Hinterlegte). Diese sind für den Kunden stets verfügbar, also jederzeit rückzahlbar, so wie es schon im römischen Recht galt: „was, wann immer und wo Du willst“.81 Entsprechend der überragenden Bedeutung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs ist ihr Umfang heute beträchtlich. Für seine Einzahlung durch Bargeld oder Überweisung (Buch- oder Giralgeld) erhält der Einleger eine nominell gleichwertige Forderung gegenüber der Bank, die auf Papiergeld als das alleinige gesetzliche Zahlungsmittel82 gerichtet ist. Sie ist an dessen Stelle im Zahlungsverkehr als gleichwertiges „Umlaufmittel“ anerkannt, fungiert und zirkuliert selbst als Geld. Vom Girokonto kann der Inhaber bekanntlich nach Belieben Bar-Abhebungen, Überweisungen, Anweisungen tätigen. Die Sichteinlage ist deshalb nach der rechtlichen und ökonomischen Definition kein Darlehen, da der Einleger die Verfügungsbefugnis über den Geldbetrag vollen Umfanges behält: „Der Hinterleger von Geldbeträgen … (erwirbt) im Austausch für die hinterlegte Summe eine jederzeit fällige Geldforderung, die ihm ganz die gleichen Dienste leistet wie jene Summe“ … „Ein Kreditgeschäft (scl. zwischen Einleger und Bank) liegt hier … nicht 79
Vgl. von Mises (Fn. 13), S. 267. Vgl. Hume (Fn. 56), S. 219 ff.; Ricardo (Fn. 8), Kap. XXVII, S. 372 ff.; Wicksell (Fn. 36), S. 217 ff.; von Hayek (Fn. 74), S. 69 ff., 75 ff.; Huerta de Soto (Fn. 13), S. 198 ff., 245 ff.; zur Legitimität im Anschluß an Locke Priddat (Fn. 23), S. 40 ff., 111 ff. 81 s. Corpus Iuris Civilis, Ulpian, D. 16, 3, 24: „Quae, quando et ubi voles“; dazu Geiger, Das Depositum irregulare als Kreditgeschäft, Diss. Freiburg/Br. 1962, S. 56 f. 82 s. für den Euro, § 14 Abs. 1 BBankG: „Die Deutsche Bundesbank hat unbeschadet des Artikels 128 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union das ausschließliche Recht, Banknoten im Geltungsbereich dieses Gesetzes auszugeben. Auf Euro lautende Banknoten sind das einzige unbeschränkte gesetzliche Zahlungsmittel ….“; vgl. auch AEUV, Art. 128. 80
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vor, da das wesentliche Moment, der Tausch gegenwärtiger gegen künftige Güter, fehlt … Die Forderung, die er durch die Deponierung erworben hat, stellt für ihn ein Gegenwartsgut dar“.83
Daraus ist eigentlich zu schließen, daß Sichteinlagen nicht zugleich Gegenstand eines Darlehens an die Bank und sodann an Dritte sein können. Es gäbe danach zwischen dem Sichteinlagen- und dem Kreditgeschäft der Banken keine rechtliche und ökonomische Verbindung. Das dürfte auch der unbefangenen Vorstellung der Bankkunden entsprechen. Faktisch liegen die Dinge indessen ganz anders: vor allem die Sichteinlagen sind die Basis einer durchaus nicht marginalen, sondern potenzierend-vervielfältigenden „Geldschöpfung“ durch Darlehensvergaben – in grundsätzlich fragwürdiger Weise. Das geldtechnische Medium dafür sind die gegenüber dem Bargeld eigenständigen Forderungen auf Geldsummen, die gleich dem Geld zirkulieren. Solange das Einlösungsvertrauen besteht, bleiben die ursprünglichen Einlagen – früher in Bezug auf werthaltiges Münzgeld (Gold oder Silber), heute auf Papiergeld – dem Bankensystem als Ganzem erhalten. Die Bank kann sich mit einer nach Wahrscheinlichkeit berechneten „Mindestreserve“ begnügen.84 Diese bloße „Teildeckung“ (engl. fractional reserve banking) ermöglicht es, den ursprünglich identischen Gegenstand – die Geldeinheit – noch zusätzlich zur Kreditvergabe zu verwenden. Dem Umfang nach beruht diese Geldschöpfung zunächst auf der „monetären Basis“ des Zentralbankgeldes und ist begrenzt durch die erfahrungsgemäß erforderliche Mindestreserve für den möglichen Abzug von Einlagen, besonders durch Bargeldauszahlungen. Dem gesamten Bankensystem bleiben aber bei fortschreitend bargeldlosem Zahlungsverkehr die überwiesenen Beträge als erneute Einlagen weitestgehend erhalten. Zu berücksichtigen ist sodann, daß jeder gegebene Kreditbetrag als neue Einlage gilt, aus der – abzüglich der Mindestreserve – wiederum Kreditgeld „geschaffen“ werden kann – und in den folgenden Schritten so weiter. Dieses Geldschöpfungspotential wird noch durch die Möglichkeit der Banken erweitert, sich mittels Hinterlegung von Wertpapieren bei der Zentralbank Geld zur Krediterteilung zu beschaffen. Die Einzelheiten sind eindrucksvoll genug, brauchen hier indessen nicht ausgebreitet zu werden.85 Beispielsweise kann aus einer Einlage von 100 000.– Geldeinheiten bei hypothetisch angenommener (hoher) Mindestreserve von 10 % degressiv fortschreitend ein Kreditvolumen von zusätzlich 900 000.– Einheiten, also ein verneunfachter 83
von Mises (Fn. 13), S. 272. von Mises (Fn. 13), S. 271: „Der Verpflichtete (scl. die Bank) kann erwarten, dass diese Forderungsrechte, solange ihre Inhaber nicht das Vertrauen in die prompte Einlösung verlieren […], im Verkehr verbleiben werden. Er ist daher in der Lage, größere Verpflichtungen zu übernehmen, als er in jedem Augenblick zu erfüllen vermag; es genügt, wenn er Vorsorge trifft, jenen Teil der Forderungen prompt befriedigen zu können, der ihm gegenüber gerade geltend gemacht wird“. 85 Vgl. Issing (Fn. 2), S. 53 ff.; grundlegend Wicksell (Fn. 36), S. 191 ff., 220 ff.; von Mises (Fn. 13), S. 264 ff., 303 ff.; Huerta de Soto (Fn. 13), S. 119 ff., 143 ff., vergleichend mit Geldfälschung, 170 ff. 84
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Fonds für Darlehensausleihungen generiert werden. Bei einem wie gegenwärtig auf 2 % reduzierten Mindestreservesatz vervielfältigt sich das Kreditvolumen aus Sichteinlagen entsprechend. Von einer quantité negligeable kann daher nicht die Rede sein. Vielmehr wird die volkswirtschaftliche Geldmenge M 1 maßgeblich vermehrt. Der Vorgang ist also grundverschieden von der „normalen“ Darlehensgewährung aus Darlehen. Dazu erklärt von Mises86: „Wo immer wir sonst Darlehen gewährt sehen, werden diese aus bestehenden und verfügbaren Vermögensmassen erteilt. […] Anders Banken, die […] Guthaben, über die jederzeit verfügt werden darf, eröffnen. Ihnen steht ein Fonds zur Darlehensgewährung über ihre eigenen und die ihnen zur Verfügung gestellten fremden Mittel hinaus zu“.
In der Gewinn- und Verlustrechnung der Bank „steht ein Gewinn verzeichnet, dessen Herkunft zu denken gibt: Gewinn aus dem Darlehensgeschäft. Ein Teil dieses Gewinns stammt […] aus der Verleihung fremder Gelder, der andere Teil fließt aus der Gewährung von Zirkulationskredit. Diesen Gewinn macht die Bank“ und nicht der Einlagenkontoinhaber. Dieser Vorgang wird „Geldschöpfung aus dem nichts“, lateinisch: „creatio ex nihilo“, genannt. Diese Wendung evoziert die allein Gott zugeschriebene Fähigkeit zur Erschaffung der Welt.87 Da dies dem Menschen unmöglich ist, kann die Beziehung auf Geld nur blasphemisch oder ironisch gemeint sein. Weltlich betrachtet handelt es sich denn auch um eine durch Privatpersonen – die Banken – erfolgende Vermehrung der nominellen Geldeinheiten per Kreditgewährung aufgrund von Sichteinlagen, die ihrerseits als verselbständigte Umlaufmittel auch den Einlegern als Geld verfügbar sind. Dieselbe Geldwerteinheit wird somit durch die Unterscheidung von Einlage (ursprünglich: Sachgeld) und Forderung (Buchgeld/ Umlaufmittel) quasi verdoppelt.88 Da die Einlage dem Kontoinhaber zur Verfügung steht, kann die Krediterteilung nicht aus Darlehen stammen: „Ein Kreditgeschäft (scl. zwischen Einleger und Bank) liegt hier […] nicht vor, da das wesentliche Moment, der Tausch gegenwärtiger gegen künftige Güter, fehlt“.89
Gestellt ist damit die Rechtsfrage: Wie sollte dieselbe Geldwerteinheit dem Einleger verfügbar bleiben und zugleich der Bank für Darlehensgebung nutzbar sein dürfen? Sie entscheidet sich zunächst an der Vertragsqualität der Sichteinlage. Überwiegend wird angenommen, daß es sich typologisch um einen Verwahrungsvertrag handelt, freilich einen „unregelmäßigen“, insofern das Eigentum am Sachgegenstand Geld auf die Bank übergeht und deshalb die Vorschriften des Darlehensrechts insbesondere über die Rückgewähr anzuwenden sind (sog. unregelmäßiger Verwahrungs-
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von Mises (Fn. 13), S. 275, 276 (Hervorheb. v. Verf.). Die Bibel, Altes Testament, Buch Genesis, I, 1: „Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“. 88 s. pointiert Schumpeter (Fn. 18), S. 176 ff., 187: „auf einmal verdoppelt“. 89 von Mises (Fn. 13), S. 272; s. auch Schumpeter (Fn. 18), S. 187: Es wäre also „falsch, den ursprünglichen Deponenten zum wahren Kreditgeber zu stempeln. Denn Kreditgeben ist gerade das, was er nicht tun wollte […]“. 87
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vertrag, lat. depositum irregulare).90 Ein Teil der Lehre verneint allerdings – entgegen dem Wortlaut („hinterlegt“) und der systematischen Stelle der Norm – den Typus des Verwahrungsvertrages und nimmt einen sogenannten „Typenverschmelzungsvertrag“ mit Verwahrungs- und Darlehenselementen an.91 Indessen besteht darin Übereinstimmung, daß die Verwahrung im Interesse des Einlegers an jederzeitiger Verfügbarkeit im Vordergrund stehe. Dem entspricht es, daß für Sichteinlagen (Girokonten) üblicherweise keine Zinsen gezahlt werden. Sind Zinsen, wenn auch in einem geringen Maße, vereinbart, wird deutlich, daß auch die Bank „ein Interesse“ an Sichteinlagen für das eigene Kreditgeschäft hat.92 Aber ist dies durch die Verwahrungsqualität des Vertrages nicht ausgeschlossen? Die Frage geht zurück bis auf das römische Recht.93 Der Verwahrungsvertrag verpflichtet den Verwahrer (Depositar) von Sacheigentum, wozu auch Münz- oder Papiergeld zählt, zur Obhut für den Hinterleger (Deponenten) und verpflichtet ihn zu jederzeitiger Rückgabe auf Verlangen; der Verwahrer ist also Fremdbesitzer ohne Gebrauchsbefugnis. Im römischen Recht haftete daher der Depositar bei Veruntreuung strafweise auf den doppelten Betrag (das duplum), der Gebrauch der Sache galt als Nutzungsentwendung (furtum usus). Die Verwahrung von Geld – das monetäre depositum – bot in geschlossener Form (z. B. ein Sack Goldmünzen) keine Besonderheiten. Anders verhielt es sich, wenn die Münzen offen deponiert wurden (sog. offenes Depot). Damit ging das Eigentum auf den Verwahrer über, freilich mit der Verpflichtung, gleichwertige Geldeinheiten für den Hinterleger bereitzuhalten. Da aber das offene Depot mit dem konsentierten Eigentumsübergang auf den Depositar ein vertragsrechtlich untypischer Fall war, wurde seine Zuordnung zum depositum oder zum mutuum (Darlehen) problematisch.94 90 Vgl. exemplarisch §§ 688 ff., 700 BGB; dazu Canaris (Fn. 76), Rn. 1163 ff.; Staudinger/Hopt/Mülbert (Fn. 76), BGB, Vorbem. zu §§ 607 ff., Rn. 12 ff., 18 ff.; MK-BGB/Henssler, 5. Aufl. 2009, § 700 Rn. 15 ff.; Erman/Herrmann, BGB, Bd. I, 13. Aufl. 2011, § 700 Rn. 1; Jauernig/Mansel, BGB, 14. Aufl. 2011, § 700 Rn. 1. 91 Vgl. Staudinger/Reuter, BGB, 2006, § 700 Rn. 1 – 3; ebenso Erman/Herrmann (Fn. 90), BGB; ähnlich Jauernig/Mansel (Fn. 90), BGB, Rn. 1: weder Darlehen noch Verwahrung, sondern „Schuldverhältnis eigener Art“ („Hinterlegungsdarlehen“) mit Eigentumsübergang auf Verwahrer, aber überwiegendem Verwahrungsinteresse; rechtsvergleichend Huerta de Soto (Fn. 13), S. 84 ff. 92 Vgl. Staudinger/Hopt/Mülbert (Fn. 76), BGB, Rn. 27: nicht unmittelbar Geschäftszweck, lasse daher Vertragstyp unberührt; realitätsnah Staudinger/Reuter (Fn. 91), BGB, Rn. 3: das Interesse der Bank an den zinslosen oder nur gering zu verzinsenden Einlagen sei „mindestens ebenso groß wie das Interesse des Hinterlegers“; s. auch MK-BGB/Henssler (Fn. 90), Rn. 15. 93 Vgl. zunächst Kaser (Fn. 78), S. 534 ff.; Honsell/Mayer-Maly/Selb, Römisches Recht, aufgrund des Werkes von Jörs/Kunkel/Wenger neu bearbeitet, 4. Aufl. 1987, S. 301 ff., 303 f. zum depositum irregulare bei Geld, insbes. Zulassung von Offizialzinsen. 94 Vgl. Niemeyer, Depositum Irregulare, Diss. Halle 1888, zusf. S. 74 ff., zur widersprüchlichen Quellenlage; Geiger (Fn. 81), S. 1 ff., 54 ff.: mutuum; differenzierend Benöhr, SZ 89 (1972), 437 ff.; Litewski, Revue Internationale des Droits de l’Antiquité XXI (1974), 215 ff.; XXII (1975), 285 ff., zusf. 312 ff.; Gordon, Studi in Onore di Arnaldo Biscardi, III, 1982, S. 363 ff.: Typendifferenzierung für Bankgeschäfte; s. auch Kaser (Fn. 78), S. 534 ff.; Honsell/Mayer-Maly/Selb (Fn. 93); eingehend Huerta de Soto (Fn. 13), S. 16 ff., zusf. 24.
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Plausibel werden die Entscheidungen der römischen Juristen als Konkretisierung klar unterschiedener Vertragstypen besonders im Hinblick auf Geschäfte mit Bankhaltern.95 Typologischer Ausgangspunkt blieb zunächst die Verwahrung mit der Pflicht zur Vorhaltung der hinterlegten Geldwerteinheiten. Wenn aber der Deponent dem Gebrauch zu eigenen Zwecken des Depositars zustimmte und sich gar Zinsen zusagen ließ, so verschob sich die Interessenlage hin zum Typus des Darlehens. Besonders Ulpian sprach sich in solchen Konstellationen für Darlehensrecht aus.96 Aber grundlegend für solche vertraglichen Konkretisierungen blieb die von ihm formulierte typologische Alternative: „Aliud est credere, aliud deponere“ („Kredit geben ist das eine, zur Verwahrung hinterlegen das andere“).97 An diesem Gegensatz ist bei Identität des Gegenstandes „Geldwerteinheit“ nicht vorbeizukommen. Ökonomisch und rechtlich bestand seinerzeit Identität der Geldart: Geld war Münzgeld, von dem, mangels einer geldgleichen Zirkulation von Banknoten und Wertpapieren, größere Mengen aufbewahrt werden mußten. Derselbe Gegenstand konnte also nur entweder für den Deponenten jederzeit verfügbar oder aber einem anderen als Kredit nutzbar sein. Selbst wenn man von der Möglichkeit der Verfügung des Deponenten über die hinterlegte Geldeinheit durch Anweisung ausgeht, so hätte dem die Erlaubnis zur anderweitigen Nutzung des Geldes für Kreditgeschäfte widersprochen – ein abredewidriges Verhalten gegenüber dem Anweisungsnehmer. Wie man es auch wendet: Ulpians Alternative hat Bestand. Hinsichtlich derselben Geldwerteinheit ist eine Kumulation von Haupt-Zwecken, einerseits der Verwahrung zu ständiger Verfügbarkeit des Deponenten, andererseits der eigenen Nutzung durch befristete Kreditvergabe, rechtslogisch unmöglich; die Typenverschmelzungs-lehre ist insofern unhaltbar. Die Beurteilung erscheint somit eindeutig: die „Sichteinlage“ ist kein Darlehen, da der Einleger durch die ihm zustehende Geldforderung im Kontokorrent die volle Nutzungsmöglichkeit behält und realisiert. Also handelt es sich vertragsrechtlich um eine Verwahrung, die eine anderweite Nutzung zur Krediterteilung ausschließt. Die Geldeinheit zirkuliert heute allerdings nicht mehr in der einfachen Form werthaltiger Edelmetallmünzen, sondern in veränderter Repräsentationsform als Buchgeld und Grundlage für Zirkulationskredit.98 Die Zwecke der Verwahrung und der Darlehensgebung scheinen zu koexistieren, und in der Vertragsbeziehung zwischen Einleger und Bank scheint keine Rechtsverletzung vorzuliegen, jedenfalls dann nicht, wenn man – was allerdings klarer Vertragsbestimmungen bedürfte – entgegen der heute verbreiteten Unkenntnis den informierten Konsens der Einleger zum Kreditgeschäft der Bank aus Sichteinlagen voraussetzt. Die Nutzung dieser Gelder für 95 Überzeugend Gordon, Studi in Onore di Arnaldo Biscardi, III, 1982, S. 366 ff.; zur typologischen Differenzierung Ulpians Benöhr, SZ 89 (1972), S. 437 ff. 96 Vgl. besonders Ulpian D. 12, 1, 9, 9; s. Gordon, Studi in Onore di Arnaldo Biscardi, III, 1982, S. 367; eingehend auch Geiger (Fn. 81), S. 46 ff. 97 Vgl. Ulpian D. 42, 5, 24, 2; zum Zusammenhang Gordon, Studi in Onore di Arnaldo Biscardi, III, 1982, S. 367 f. 98 Grundlegend von Mises (Fn. 13), S. 267 ff.
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das aktive Kreditgeschäft erschiene dann nach dem Grundsatz: „volenti non fit iniuria“ gestattet und alle Beteiligten könnten zufrieden sein.99 Die historische Versuchung des Bankiers, zur Verwahrung hinterlegte Goldmünzen gewinnbringend auszuleihen, – diese eigentliche Veruntreuung hat sich im Banking-System mit Teildeckung scheinbar in ein Privileg zur Geldschöpfung verwandelt.100 Aber die im römischrechtlichen System zwingende Alternative Ulpians: entweder Verwahrung oder Darlehen, löst sich durch die Unterscheidung der Geldarten nur scheinbar in ein „sowohl – als auch“ auf. Der strukturelle Widerspruch besteht fort – im Verhältnis zur Allgemeinheit der Geldvermögensbesitzer, aber auch wiederum zum Einleger.
VI. Das Unrecht der privaten „Geldschöpfung“ Die rechtliche Beurteilung klärt sich vollständig, wenn man den Gesichtspunkt des im Geldwert repräsentierten „allgemeinen Vermögens“ hinzunimmt. Dieses ist der vertraglichen Privatautonomie, geschweige denn dem eigenmächtigen Zugriff der Banken, nicht verfügbar. Der analysierte Vorgang besteht nämlich in einer Geldvermehrung aus einem sich ständig erneuernden, konkurrenzlos billigen „Fonds“, zugespitzt: einem „Geschenk“ (Huerta de Soto) von zeitlich unbegrenzt und praktisch zinslos zur Verfügung stehenden Einlagengeldern zur Weiterverleihung gegen Zins. Dieser „Fonds“ ist eine Quelle der Bereicherung, die nur zum Vermögensnachteil anderer zustande kommen kann. Im Hinblick auf die Entwertungsfolgen der Geldmengenexpansion haben bedeutende Autoren wie David Hume, David Ricardo, John Stuart Mill die Banknotenproduktion, ebenso wie die Papiergeldvermehrung, ohne vollständige Deckung durch das eigentliche Zahlungsmittel, früher Edelmetall-Münzen, hart kritisiert; die „österreichische Schule“ der politischen Ökonomie hat diese Kritik mit der Analyse des Zirkulationskredites aus Sichteinlagen vertieft.101 In der Tat liegt hierin ein systemisches Unrecht. Verteidigt wird zwar das System der Kreditgeldschöpfung mit dem erörterten Erfordernis, daß der Intensivierung, Produktivitätssteigerung, Vermehrung der Transaktionen in einer dynamischen Ökonomie die Veränderung der zirkulierenden Geldmenge entsprechen müsse102 – oder in der keynesianischen Wendung: daß das mangels effektiver Nachfrage unausgelastete Produktionspotential der Geldmengenex99
In diesem Verhältnis daher wohl unberechtigt der Veruntreuungsvorwurf von Huerta de Soto (Fn. 13), S. 25 ff.; indessen lassen die AGB der Banken über die Kontokorrent-Konten die Einlagenverwendung unerwähnt. 100 Vgl. zur Veruntreuungsgeschichte Huerta de Soto (Fn. 13), S. 25 ff. 101 Vgl. Hume (Fn. 25), S. 207 ff.; Ricardo (Fn. 8), Kap. XXVII, S. 360 ff.; Mill (Fn. 8), III, Chap. 8, §§ 2, 3, S. 1 ff., 17 ff.; von Mises (Fn. 13), S. 264 ff.; s. auch von Hayek (Fn. 74), S. 81 ff., 103, unter dem Gesichtspunkt der Konjunkturschwankung. – Zur Auseinandersetzung zwischen Currency- und Banking-Schule eingehend Huerta de Soto (Fn. 13), S. 421 ff., 436 ff. 102 Vgl. die Wechselseitigkeit herausstellend von Wieser (Fn. 38), S. 691, 706 (historische Perspektive).
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pansion bedürfe. Die Kreditausweitung der Banken, so die sog. Banking-Schule, antworte nur auf die „Geldnachfrage“ für die vermehrten Transaktionen einer wachsenden Ökonomie bzw. rege diese an; mit der Rückzahlung der Darlehen werde das zusätzliche Kreditgeld auch wieder vernichtet („Rückstrom“). So bestehe eine „Elastizität“ der Geldmenge, die sich ohne inflationäre Veränderung des Tauschwertes den Bedürfnissen der wachsenden Verkehrswirtschaft gleichsam automatisch anpasse.103 Idealtypisch habe man sich die Kreditgebung für ein zugrundeliegendes „gesundes“ Geschäft der Realwirtschaft (z. B. mit Handelswechsel) vorzustellen, mit dessen erfolgreicher Abwicklung das geschaffene Kreditgeld wieder liquidiert werde. Zwar wird damit ein zentrales Element des Kreditsystems überhaupt herausgestellt: es paßt, neben der erhöhten Umlaufgeschwindigkeit, auch die zirkulierende Geldmenge dem Expansionsprozeß der Austauschbeziehungen an. Die Wechselseitigkeit und Gleichgewichtigkeit zeigt sich an der „Deckung“ kurzfristiger Kredite durch zugrundeliegende Geschäfte. Die Lösung von „Humes Dilemma“ erfordert indessen eine begrenzte und vermögenswertneutrale Geldmengenausweitung. Im geltenden System der „Geldschöpfung“ durch Kredit existiert jedoch keine Regel, die jenen Automatismus garantierte und zugleich die inflationäre Vermögensverschiebung zugunsten der „Geldschöpfer“ vermiede. Vielmehr tendiert der nicht an autonom marktorientierte Kreditgebungsentscheidungen der Geldhalter gebundene, sondern eigenmächtig geschaffene Zirkulationskredit zu einer rein „geldseitig“ bedingten Expansion. Das zeigt sich im Vergleich mit dem „normalen“ Kapitalmarkt. In der freien, grundrechtlich garantierten Wettbewerbswirtschaft sind Transaktionsentscheidungen, z. B. für eine Investition einerseits und ihre Kreditierung andererseits, Sache des Kapitalmarktes, auf dem die Wirtschaftssubjekte nach autonomen Wertsetzungen über die Verwendung ihrer Geldmittel entscheiden. Ein äußerlich-objektives Kriterium wie etwa ein „gesundes Geschäft“ existiert, abgesehen von allgemeinen rechtlichen Verbotsgrenzen (z. B. des Kriegswaffenhandels), nicht. Solche freien Allokationsentscheidungen schließen, worauf Keynes aufmerksam gemacht hat, die Ausdehnung der zirkulierenden Geldmenge aus einem zunächst aufbewahrten Teil der gesamten Geldmenge (Kassenhaltung etwa in „Sichteinlagen“) mit ein. Eine maßgebende Orientierung bietet der Zinssatz, in dem sich die relative Knappheit der Kreditmittel ausdrückt; in der Angebots-Nachfrage-Funktion stellt er sich auf eine „natürliche“, durch die bewertenden Austauschakte bestimmte Höhe ein. Dieses vermögensgerechte Kreditsystem, das auf personaler Autonomie hinsichtlich der Geldverwendung beruht, wird nun durch die eigenmächtige Kredit-Geldschöpfung
103 Dazu von Wieser (Fn. 38), S. 691 („Rückstromgesetz“); theoriegeschichtlich eingehend Huerta de Soto (Fn. 13), S. 436 ff.; zur Kritik Ricardo (Fn. 8), Kap. XXVII, S. 372 ff.; Wicksell (Fn. 36), S. 208 ff., 217 ff; von Mises (Fn. 13), S. 302 ff., 310 ff., 317, zusf. 324; von Hayek (Fn. 74), S. 95 ff., 103 ff.; s. auch die Erörterung von Forstmann, Geld und Kredit, Bde. 1, 2, 1952, S. 75 ff., 89 ff.; Versuch materialer Eingrenzung s. ders. (Bd. 1, 1951), S. 95 ff.
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aus den Angeln gehoben.104 Aufgrund ihres an sich legitimen Gewinnerzielungsinteresses sind die Banken tendenziell nicht auf Kreditbeschränkung, sondern auf Expansion aus. Liegt es doch in ihrer Geldschöpfungs-Macht, „die zirkulierende Gesamtmenge des Geldes ins Grenzenlose zu vermehren … derart, dass eine Steigerung des Geldbedarfs, die sonst zu einer Steigerung des inneren objektiven Tauschwertes des Geldes führen müsste, in ihren Wirkungen auf die Geldwertgestaltung paralysiert wird“.105 Diese Form der Kreditexpansion entzieht anderen ihr wohlerworbenes Geldvermögen. Ökonomisch verhält es sich nämlich anders als die Banking-Schule behauptet: nicht nur der „Geldbedarf“ bestimmt die zur Versorgung der Wirtschaft erforderliche Geldschöpfung, sondern das expansive Angebot schafft sich auch selbst die ausgedehnte Nachfrage, z. B. nach Investitions-, Immobilien-, Konsumkrediten. Die über die reellen Ersparnisse hinaus zusätzlich „geschaffenen“ Kreditmittel drücken den Zinssatz zunächst unter dasjenige „natürliche“ Niveau, das sich beim knappen Darlehens-Fonds nur aus Ersparnissen ergäbe.106 Geldvermögen, welches die Wirtschaftssubjekte als Sichteinlagen verfügbar halten und gerade nicht ausleihen wollen, wird, von den Banken zu Kreditmitteln „umgewidmet“, zur wertmindernden Konkurrenz auf dem Kapitalmarkt. So werden ordentliche Ersparnisse entwertet, wie man seit langem beobachten kann: Sparguthaben werden nicht nennenswert verzinst. Beide Faktoren der angebots- und nachfragebedingten Erhöhung der Geldmenge im Kreditwege führen tendenziell zu einem monetären Ungleichgewicht. Dem Geld- und Kreditsystem, das durch endogene Geldschöpfungsmacht im privaten Gewinnerzielungsinteresse geprägt ist, eignet strukturell eine expansiv-inflationistische Tendenz107 – und zwar mit ständig vermögensverschiebenden Wirkungen. Selbst wenn es gelänge die private Geldschöpfungsmacht der Banken durch diskretionäre „Steuerung“ nach einer „Zielmenge“108, insbesondere mittels Mindestreservevorschriften oder anderer Instrumente der Zentralbank, so einzuschränken, 104 Vgl. Wicksell (Fn. 36), S. 221: „Die Banken sind ja nicht wie Privatpersonen in ihrem Kreditgeben auf ihre eigenen Vorräte oder auch nur auf die Mittel, welche die Sparer ihnen zur Verfügung stellen, beschränkt. Dadurch dass sie in ihrer Hand die Privatkassenbestände vereinigen, […] kommen sie in den Besitz eines monetären Darlehensfonds, der stets elastisch und unter gewissen Voraussetzungen unerschöpflich ist“. 105 von Mises (Fn. 13), S. 317. 106 Erhellende Analysen von Ricardo (Fn. 8), Kap. XXVII, S. 372 ff.; Wicksell (Fn. 36), S. 220 ff. und von von Hayek (Fn. 74), S. 81 ff., 95 ff. (im Hinblick auf monetäre Ursachen wiederkehrender Konjunkturkrisen); überzeugend Gebauer, FS Kloten, 1996, S. 243 ff., 259 ff. zur Äquivalenz von Geldangebot und -nachfrage, zur diesbezüglichen Grundlosigkeit der Zentralbankpolitik, zur entscheidenden Rolle des Zinses. 107 So von Hayek (Fn. 74), S. 81 ff., unterscheidend von einer inflationistischen Ideologie etwa durch Geldproduktion der Notenbank; s. bereits Wicksell (Fn. 36), S. 222 ff.: strukturelle Dominanz der Inflation. 108 Historisch zu Regulierungsansätzen am Kriterium der „volkswirtschaftlich nötigen Geldmenge“ Lütge, Einführung in die Lehre vom Gelde, 1948, S. 72 ff., 83 ff.; zum heutigen System und seinen Wirkmängeln insbes. der endogenen Bestimmungsgründe s. Issing (Fn. 2), S. 58 ff., 70 ff.; Gebauer, FS Kloten, 1996, S. 243, 247 ff.
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daß der Tauschwert der Geldeinheiten sich immerhin nicht vermindert – faktisch ist freilich nicht einmal die eingeschränkt definierte „Preisstabilität“ gewährleistet: dann bleibt doch, worauf von Mises hinweist, der für andere nachteilige Entzug der Kaufkraftsteigerung, wie sie ohne die künstliche Ausdehnung der Geldmenge eingetreten wäre. Dies zugunsten der Allgemeinheit aller Wirtschaftssubjekte auszugleichen, wäre wiederum Sache staatlicher Geldschöpfung, nicht aber privilegierter Aneignung von Privatpersonen. In jedem Falle wirkt sich also die Kreditausweitung der Banken in der Übergangszeit ungleich auf den Tauschwert der Geldeinheiten und damit auf die Vermögensverhältnisse aus. Dagegen gilt das primäre Grundsatzargument: Wer systemisch privilegiert über das neue Geld verfügt, realisiert bei vorläufig noch unangepaßtem Güterpreisniveau einen Vermögensvorteil, dem ein Verlust anderer entspricht – und zwar ohne vermögensrechtlich haltbaren Grund. Daher bleibt das heute herrschende Konzept, den Banken die Machtbefugnis zur Geldschöpfung zwar zu überlassen, sie aber durch die Zentralbank einzuschränken, unzureichend. Das Unrecht des „Geldschöpfungs“-Systems entwickelt sich demnach in folgenden Elementen: Das Privileg zur Geldschöpfung ist zunächst ein Widerspruch der Privatrechtsordnung.109 Was ursprünglich Verwahrung ist – die eingelegte Geldsumme soll ausschließlich dem Deponenten zur Verfügung stehen, also gerade nicht als Darlehen übertragen werden – wird doch von der Bank zugleich wie ein Darlehen zur Krediterteilung genutzt. Dadurch wird die schon in Ulpians Sentenz formulierte privatrechtliche Autonomie des Geldinhabers in der Verwendung seiner Mittel verletzt. Ein Teil der Lehre behauptet zwar eine Vereinbarkeit („Typenverschmelzungsvertrag“), verkennt aber, daß eine solche zweifache Zuordnung des wertmäßig identischen Vermögensgegenstandes unmöglich ist. Logisch möglich wird der behauptete Übergang vom Typus der Verwahrung zur Typen-Kumulation nur durch die quasi-Verdopplung der ursprünglich einen Geldwerteinheit. Denn nur dadurch kann diese zugleich von verschiedenen Personen in Form von Umlaufmitteln/Zirkulationskredit genutzt werden. Die Banken produzieren so durch Kreditvergabe aus einem unerschöpflichen Fonds von Sichteinlagen fortlaufend „frisches“ Geld, dessen zunächst noch nicht inflationierten Tauschwert sie sich durch Darlehensgewährung zunutze machen. Das „Privileg“ erweist sich als Anmaßung. Privatrechtssystematisch steht dies im Gegensatz zum ursprünglichen Verwahrungsinhalt des Vertragsverhältnisses, wie das Gesetz es typisiert, und woran die vorherrschende Lehre immerhin festhält. Denn wie sich zeigt, bleibt dem Einleger die wertidentische Geldeinheit letztlich nicht erhalten. Dieser strukturelle Widerspruch zur vertragstypischen Verwahrungspflicht entspricht dem Verstoß gegen die Pflicht gegenüber der Allgemeinheit, den interpersonal gleichmäßigen Geldwert zu bewahren. 109
Huerta de Soto (Fn. 13), S. 130 ff. definiert das Problem als Gegensatz „subjektiver“ Einschätzungen der Beteiligten. Indessen handelt es sich um einen objektiven Widerspruch der (Privat-)Rechtsordnung, der auch die Grundlagen einer stabilen Vermögenswertzuordnung im Medium des Geldes betrifft. Deshalb kommt es auch weniger auf das Verhalten der Bankleute an, als vielmehr auf die Reform der objektivrechtlichen Grundstruktur.
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Letztere ist in erster Linie eine verfassungsrechtliche Staatspflicht, die der Währungshoheit entspricht, und worauf sich das Währungsvertrauen der Allgemeinheit bezieht.110 Der Widerspruch zum Grundsatz der Tauschwerterhaltung des Geldes teilt sich allen Rechtsbeziehungen mit. Verletzt wird schon der anfängliche Verwahrungsvertrag (das depositum irregulare). Ulpians typologische Alternative bleibt auch bei heute geltender Vertragsfreiheit unabweisbar. Gibt nämlich die Bank den mit der Geldschöpfung verbundenen Kredit aus der Sichteinlage, so liegt bereits in dieser zweifachen Zuordnung ein Wertentzug. Daß in den AGB die Einlagenverwendung verschwiegen wird und ungeregelt bleibt, kommt mithin nicht von ungefähr. Denn die für die Einlage erworbene Forderung des Deponenten ist durch die zusätzliche Verwendung zur Krediterteilung nicht nur mit dem Risiko des Teildeckungsbankings belastet, sondern im Ansatz schon wertgemindert. Am hypothetischen Beispiel einer Einlage von Goldmünzen wird dies deutlich; verliert doch die als Geldsubstitut per Überweisung zirkulierende Forderung an Wert, soweit sie nicht mehr zu 100 % durch Goldmünzen unterlegt ist. Das zeigt sich im Krisenfall eines Bankenruns. Die Wertminderung durch Erhöhung der Zirkulationsmenge wird nicht etwa ausgeglichen durch den der Deflationsvermeidung entsprechenden Zuwachs von Geldeinheiten; denn diese werden privat angeeignet. Die „Geldproduktion“ aus der Einlage impliziert also den strukturellen Widerspruch, daß die Bank ihre Pflicht, das monetäre depositum in wertmäßig „gleicher Güte“ zurückzuerstatten, nicht mehr einhalten kann. Für die Allgemeinheit der am gesellschaftlichen Vermögenserwerb beteiligten Personen bedeutet sodann das künstlich vervielfachte Kreditgeld, daß ihr ordentliches Darlehensangebot aus Ersparnissen im Wert gemindert wird. Die breite Masse der Gesellschaftsmitglieder wird dadurch in ihrem Recht eingeschränkt, mit knappen Ersparnissen als dem eigentlichen Investitions-Fonds durch Darlehenserteilung Vermögen zu bilden und so am stetig wachsenden Kapitalstock der Gesellschaft teilzuhaben. Empirisch zeigt sich dies an der sekundären Bedeutung der Sparund Termineinlagen (der Geldmenge M 2) für das Kreditgeschäft. Die rechtmäßige Alternative ist aber, Kredite zunächst ausschließlich aus dem produzierten Mehrwert und entsprechenden Ersparnissen zu finanzieren – Darlehen allein aus Darlehensmitteln. Das hinzutretende objektive Erfordernis, die Geldmenge an die wachsenden Transaktionen einer dynamischen Ökonomie anzupassen, dürfte nur durch staatliche Geldschöpfung erfüllt werden. Der Zins behielte dann seine Funktion, die realen Tauschrelationen von Gegenwartsgütern gegen Zukunftsgüter zu repräsentieren, also eine verläßliche Bewertungsgrundlage für Kapitalinvestitionen zu bieten, die auch auf künftige Nachfrage rechnen können. Die privilegierte „geldschöpferische“ Kreditausweitung infiziert schließlich alle anschließenden Kreditgeschäfte mit einem unredlichen Element, das dem Inflations110 Vgl. zur objektivrechtlichen Pflichtseite Herrmann (Fn. 5), S. 336 f. (unklarer Begründungszusammenhang).
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potential des neugeschaffenen Geldes geschuldet ist: jeder Darlehensnehmer verspricht zwar implizit, Geldeinheiten „gleicher Güte“, also gleichen Tauschwertes zurückzugeben. Er kann und will diese Verpflichtung aber nicht einhalten, weil im systemischen Gesamtvorgang die Wertminderung der nominell zurückzuzahlenden Geldeinheiten angelegt ist. Diese fortwährende, sich aufsummierende Schädigung des allgemeinen Vermögens und der subjektive Teilhabe daran würde durch den hypothetischen Vergleich komplexer Vermögensstände sichtbar. Eigentlich müßte sich nämlich in der ihre Produktivität ständig steigernden Ökonomie einer freiheitlichen Gesellschaft die Erhöhung des Sozialprodukts (des „allgemeinen Vermögens“) in realen Einkommenssteigerungen für alle am gesellschaftlichen Arbeitsprozeß Beteiligten niederschlagen – und zwar auch durch stetigen Anstieg der „Kaufkraft“ der Geldeinheiten bei relativ stabilen Geldmengen, aber auch durch objektiv-allgemeine Geldschöpfung zwecks Deflationsausgleich. Dadurch stiege der relative Anteil der für Investitionen zur Verfügung stehenden Ersparnisse in breiten Schichten der Gesellschaft. Dies schlüge sich folglich in einem stetigen, tendenziellen Sinken des „natürlichen“ Kapitalzinses nieder.111 Die resultierenden Investitions- und Arbeitserfordernisse wären teilhabegerecht zu regeln. Dagegen wird die wirkliche Entwicklung seit langem durch privilegierte Aneignung, strukturelle Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung zwecks sozialen Ausgleichs, aber auch durch monetäre Instabilität geprägt. Zusammengefaßt sind also die strukturellen Unrechtsmomente der „Geldschöpfung“ aus Sichteinlagen die folgenden: Privilegierte Nutzung vervielfältigt neugeschaffener Geldeinheiten durch Personen, denen dies vermögensrechtlich nicht zusteht, – Wertminderung der primären Einlagen, – vorläufige Senkung des Darlehenszinses unter das „natürliche“ Niveau, daher Wertminderung der zur Darlehensgebung und Vermögensbildung vornehmlich berechtigenden Ersparnisse, – Vermögenswertverschiebungen erheblichen Ausmaßes durch nachfolgende, sich interpersonal ungleich auswirkende Währungsinflation. – So widerspricht die privilegierte „Geldschöpfung“ der grundlegenden Gerechtigkeitsfunktion, den Tauschwert des Geldes für alle am gesellschaftlichen Erwerbsprozeß Beteiligten gleichmäßig zu wahren. Die „creatio ex nihilo“ liegt außerhalb menschlicher Macht. Was so genannt wird, geht auf Kosten der Vermögensrechte anderer. Das System des gesellschaftlichen Vermögenserwerbs mittels Geldes wird tiefgehend korrumpiert und infolgedessen krisenanfällig.
VII. Das Privileg privater „Geldschöpfung“ nach geltendem Recht Das historisch entwickelte System privater „Geldschöpfung“ ist in einer grundsätzlich-vorpositiven („naturrechtlichen“) Bedeutung Unrecht. Zwar ist es keine 111
Zum niedrigen „natürlichen“ Zinssatz als Wohlstandsindiz, s. Hume (Fn. 56), S. 219 ff.
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Geldfälschung im strafgesetzlichen Sinne112, aber gemessen an einem vorpositiven materiellen Verbrechensbegriff113 ein vergleichbares Vermögensverschiebungsdelikt. Die private Produktion von Buch-/Giralgeld hat ähnlich der Fälschung von Sachgeld zwei Momente. Zum einen erfolgt eine Vermögensschädigung durch die ungleich sich auswirkende Wertminderung der Geldeinheiten oder die Paralysierung ihrer Werterhöhung, zum anderen liegt darin die Anmaßung einer eigentlich staatlich zu verantwortenden Aufgabe, nämlich der Bestimmung der Geldmenge (Währungshoheit); letzterem entspricht die dem Rechtsstaat verbotene Selbstentäußerung eines Souveränitätsrechts.114 Zur Beurteilung nach geltendem Recht ist methodisch bemerkenswert, daß die „Geldschöpfung“ der Banken, jene doppelte Zuordnung der Sichteinlagen – als Zahlungsmittel für den Einleger und als Grundlage des Kreditgeschäftes der Banken – in keiner Quelle positiven Rechts gestattet wird und auch nicht vertraglich geregelt ist. In der Satzung der EZB, insbesondere in der Norm über die Festlegung von Mindestreserven (Art. 19)115, wird sie nicht genannt. In der staatenbündischen Ordnung der EU bedürfte es im Übrigen der Koordination mit Normgehalten nationalstaatlichen Rechts, die der internationalrechtlichen Regelung zugrunde liegen. Aus der Sicht des deutschen Rechts wird jedoch die privilegierte „Geldschöpfung“ durch keines der für die Regelungsmaterie konstitutiven Gesetze erlaubt. Man setzt sie freilich allenthalben voraus. Die „creatio ex nihilo“ setzt sich in der juristischen Methodologie fort, die in einer erstrangigen Gerechtigkeitsfrage die Verfassungsbindung (Währungshoheit) und den Gesetzesvorbehalt (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) vernachlässigt. 112
Strafbare Geldfälschung (exemplarisch § 146 StGB Bundesrep. Deutschland), ist insbes. das Nachmachen gültigen, echten Geldes, also eines vom Staat oder durch ihn ermächtigten Stelle als (versachlichter) Wertträger beglaubigten, zum Umlauf bestimmten Zahlungsmittels; vgl. Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, Rn. 1 ff.; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, BT II, 9. Aufl. 2005, S. 226 ff. (Schroeder): Rechtsgut sei „die Sicherheit und Funktionsfähigkeit des Geldverkehrs“. Das ist nicht unrichtig, aber zu unspezifisch: Betroffen ist mit der Tauschwertfunktion das (allgemeine) Vermögen – Schroeder (S. 228) spricht denn auch treffend vom „effektiven Schaden“ durch In-Verkehr-bringen gefälschten Geldes und ordnet das Rechtsgut als „staatsunabhängig“, also gesellschaftlich ein (S. 227); historisch und sachlich aufschlußreich zur Mehrschichtigkeit der „Münzverbrechen“ s. von Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 12. Aufl. 1836, S. 167 ff. („betrügliche Verfertigung […]“, „jede Münzfälschung ohne Ausnahme enthält zugleich einen Betrug am Publicum und eine Verletzung des Münzregals“, S. 167, 169); vgl. bereits die Constitutio Criminalis Carolina/Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, Art. 111: „wann eyner betrieglicher weiß.“ (Ausg. Radbruch/ Kaufmann, 4. Aufl. 1975, S. 76). 113 Zum materiellen Verbrechensbegriff grundlegend E. A. Wolff (Fn. 1), S. 137 ff., 209 ff.; s. auch Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 22 ff. 114 Vgl. Hobbes, De cive/Vom Bürger, Kap. XIII, 2 ff., Ausg. Gawlick, 1959, S. 205 ff.; Rousseau, Contrat Social, L II, Chap. 1, in: Oeuvres complètes, III, 1964, S. 368: „La Souveraineté est inaliénable“; dazu Köhler, FS Puppe, 2011, S. 1461 ff. m. w. N.; zur Währungshoheit als Element der Souveränität s. zusf. Herrmann (Fn. 5), S. 99 ff. 115 Vgl. Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, in: Amtsblatt C 83 vom 30. 03. 2010, S. 238.
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Angelpunkt des positiven Rechts, übrigens auch für die international-europäische Koordination, ist das Staatsverfassungsrecht.116 Danach ist die „Geldschöpfung“ als Kern des Währungswesens aus den dargelegten Gründen ein ausschließliches Hoheitsrecht des Staates und zugleich Staatspflicht.117 Die ausdrückliche Übertragung eines wesentlichen Teils auf Privatpersonen – die Banken – oder die Ermächtigung dazu finden sich in der Verfassung nicht. Dies als „Privileg“, das es ist, zu formulieren, wäre im Rechtsstaat unmöglich. Es ist also ein bloßes historisches Faktum, das sich seiner Fragwürdigkeit wegen im alltäglichen Leben verbirgt. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit wird selten angesprochen. Teilweise wird behauptet, die Buchgeldschöpfung gründe sich auf die Berufsfreiheit („Geldangebotsfreiheit“), die dann erst in einem zweiten Schritt durch öffentliche Belange eingeschränkt werde.118 Aber wie sich dies zur Währungshoheit des Staates und ihrer Pflichtseite verhält, bleibt völlig offen: die Geldarten, die Geldmenge und deren wesentliche Bestimmungsgründe zu regeln, ist fraglos in erster Linie eine objektiv-allgemeine Angelegenheit. Soweit man richtigerweise die Währungshoheit betroffen sieht, wird die faktische Wahrnehmung einer Funktion festgestellt, die – eigentlich – „allein staatlichen Stellen übertragen wurde“. Die Banken seien jedoch „in diese Funktion – insbesondere im Zuge der Entwicklung des unbaren Zahlungsverkehrs – allmählich hineingewachsen, und zwar mit Duldung und Förderung seitens des Trägers der Geldhoheit“; daher komme ihnen eine „vom Staat abgeleitete, besondere währungspolitische Stellung zu“, letztlich mit „mittelbaren Hoheitsaufgaben“. Andererseits aber seien sie privatwirtschaftlich organisiert und an Gewinnmaximierung orientiert.119 Dagegen gilt jedoch: das Souveränitätsrecht ist, auch im Hinblick auf seine Pflichtseite, unveräußerlich insbesondere nicht auf Privatpersonen übertragbar, und gewiß nicht ohne grundgesetzliche Ermächtigung durch schlichte „Duldung“. Auf methodisch unhaltbare Weise das nicht erfindliche „Sollen“ aus dem „Sein“ erschließen zu wollen, spiegelt nur Verlegenheit wider. Der zivilrechtliche Verwahrungsvertrag120 regelt die analysierte „Geldschöpfung“ durch Zirkulationskredit nicht. Das Gesetz knüpft die Anwendung des Darlehensrechts an die Eigentumsübertragung hinsichtlich des zu verwahrenden Gegenstandes. Die Regelung bezieht sich ausdrücklich nur auf Sacheigentum, betrifft mithin die Konstellation, daß der Verwahrer von Geldeinheiten diese zwischenzeitlich – bis zum jederzeitigen Rückgewährverlangen – soll verwenden dürfen und deshalb Eigentum erwirbt. Die angeordnete Geltung des Darlehensrechts formt daher den ursprünglichen Obhutsanspruch um: nicht dieselben, sondern gleichwertige Gegen116 Zum Verhältnis der öffentlichrechtlichen Teil-Verfassungen, s. Köhler, FS Puppe, 2011, S. 1461 ff. 117 s. für Deutschland Art. 73 Ziff. 4 Grundgesetz; zur umfassenden Regelungskompetenz, einschließend das Buch- und Giralgeld, s. Maunz/Dürig/Uhle, GG, Loseblattausgabe, 58. Lfg. (April 2010), Art. 73 Rn. 78 ff., 85. 118 s. Herrmann (Fn. 5), S. 297, 294 ff. 119 s. zusf. Humm (Fn. 5), S. 52 f. m. w. N. 120 Exemplarisch § 700 BGB.
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stände (Geldwerteinheiten) sind vorzuhalten und zurückzugeben. Das „Irreguläre“ besteht in der Umwandlung einer Sachverwahrung in eine Geldsummenverwahrung; aber die begrenzte Analogie zum Darlehensvertrag ändert nichts an der dominanten Verwahrungstypizität des Vertrages.121 Die Anwendung des Gesetzes auf nicht in Sacheigentum (Papiergeld), sondern von vornherein in Forderungen bestehende Einlagen ist methodisch bereits eine analoge Gesetzesanwendung. Die fragliche doppelte Zuordnung von Sichteinlagen: einesteils die fortdauernde Nutzung durch den Einleger mittels Geldsubstituten (Girokonto) und anderenteils die zusätzliche Nutzung der Einlage als Darlehensfonds durch die Bank, wird jedenfalls in dieser Norm überhaupt nicht geregelt. Das gesetzliche Privatrecht gestattet also die eigenmächtige Geldvermehrung aufgrund von Sichteinlagen nicht. Auch die Vertragsfreiheit vermag es nicht, sie auf die vertragliche Einrichtung von Girokonten zu stützen, wenn denn der Kontoführungsvertrag (mit AGB) diesen Verwendungszweck enthielte, was gegenwärtig nicht der Fall ist. Denn die Schaffung des Geldes und die Regelungen bezüglich seiner Menge betreffen die Allgemeinheit der Bürger. Daher unterfallen sie nicht der Eigenmacht bestimmten Privatpersonen, also auch nicht vertraglicher Regelungsbefugnis, sondern allein der öffentlich-gesetzlichen Währungshoheit des Rechtsstaates. Nächst dem Verfassungsrecht kommt in Betracht das Aufsichtsrecht zum Schutze der Einleger und der Allgemeinheit, also der im Bankgewerbe betroffenen privaten und gesellschaftlichen Vermögensinteressen. Wiederum exemplarisch zur deutschen Rechtslage: Das maßgebende Kreditwesengesetz führt zwar das Einlagengeschäft und das Kreditgeschäft als wichtigste Bankgeschäfte nacheinander auf. Es bestimmt aber nicht hinreichend den Begriff der Einlage, regelt nicht das Verhältnis von Einlagen- und Kreditgeschäft und enthält daher auch nichts über die Verwendung speziell von Sichteinlagen: als Gegenstand des Geld schöpfenden Kreditgeschäftes sind diese nicht vorgesehen. Das ist methodologisch bemerkenswert, weil es sich gewiß um wesentliche Regelungsaspekte handelt, auch was verfassungsrechtlich schutzwürdige Rechtsgehalte, die Vermögensrechte der Einleger und die Geldwertstabilität, angeht. Schweigt der Gesetzgeber zur Nutzung der Sichteinlagen für das Kreditgeschäft, so kann man sie nicht einfach als erlaubt ansehen. Die Rechtsanwendung indessen definiert den gesetzlich unbestimmten Begriff der Einlage und fasst unter aufsichtsrechtlichem Aspekt Darlehens- und Sichteinlagen zunächst zusammen.122 Diesen Einlagenbegriff verbindet sie sodann unterschiedslos mit dem Ziel der Ansammlung von Mitteln „zu eigenen Zwecken“, „um damit gewinnbringend zu arbeiten“. So wird, ungeachtet der privatrechtlichen Unterscheidung zwischen Spar- und Termineinlagen, die der Bank als Darlehen gegeben werden, und Sichteinlagen zur Verwahrung, undifferenziert auch für letztere der Verwendungszweck der Krediter121
Vgl. bereits oben; sehr klar Huerta de Soto (Fn. 13), S. 3 ff., zusf. S. 13. Zum gesetzlich nicht bestimmten Einlagenbegriff (Entgegennahme von Geldern von einer Vielzahl von Geldgebern „Nicht-Banken“ – in Dahrlehensform oder ähnlicher Weise – nicht banküblich besichert – unbedingt rückzahlbar), s. Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Fn. 76), § 1 Rn. 32 ff., 36 ff., 42; BGH WM 1995, 874 f.; BVerwG NJW 1985, 929 ff. 122
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teilung als Begriffsmerkmal behauptet.123 Aber das ist methodisch, auch auf verfassungsrechtlichem Hintergrund, unabgeleitet. Zudem wird dieser Übergang vollzogen, ohne daß die vielschichtige und grundsätzliche wirtschaftliche und vermögensrechtliche Bedeutung des Vorgangs reflektiert würde. Sich in diesem Zusammenhang auf eine „bankwirtschaftliche Betrachtungsweise“ zu berufen124, wäre juristisch nicht tragfähig; denn der Faktizität ökonomischer Interessen kommt keine normative Kraft zu. Methodengerecht wäre es hingegen, den vermögensrechtlichen Schutzzweck des Gesetzes – denn „gesamtwirtschaftliche“, „währungspolitische“ Erwägungen beruhen letztlich auf diesem subjektivrechtlichen Grund – gemäß den zivilrechtlichen Zuordnungen, also privatrechtsakzessorisch, zu bestimmen.125 Der traditionell geduldete Vorgang, daß die Banken Sichteinlagen, die für den Zahlungsverkehr des Deponenten sicher zu verwahren sind, eigenmächtig wie erhaltene Darlehen nutzen und neues Geld „schöpfen“, ist also ohne gesetzliche Basis und entbehrt der verfassungsrechtlichen Grundlage.
VIII. Zusammenfassung – Folgerungen Das „Geldschöpfungs“-Privileg der Banken widerspricht dem Rechtsgrundsatz der Tauschwertstabilität des Geldes und verletzt die Vermögensrechte anderer. Es hat keine Grundlage im geltenden Recht. Eine prinzipien- und verfassungsorientierte Gesetzgebung wird es daher klarstellend aufheben. Dem Erfordernis, die Geldmenge im Hinblick auf eine an Transaktionen wachsende Ökonomie zu verändern, muß durch staatliche Geldschaffung entsprochen werden – in Kritik an der „diskretionären“ zugunsten einer „regelgebundenen“ Geldpolitik.126 Der rechtliche Gesichtspunkt ist nicht die Kreditgeldschöpfung zur Konjunkturbelebung oder Wirtschaftslenkung, sondern der Gleichlauf von wachsendem Sozialprodukt und monetärer Wertrepräsentation durch eine maßgerecht stetige
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Vgl. Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Fn. 76), Rn. 33 ff., 36 f., 38 f., 42; s. auch Canaris (Fn. 76); Staudinger/Hopt/Mülbert (Fn. 76). 124 Vgl. BVerwG NJW 1985, 929, 930; Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Fn. 76), Rn. 36; das Argument wird für die weitere Abgrenzung des Einlagenbegriffs gebraucht, nicht eindeutig für den hier kritisierten Kurzschluß; zum Schutzzweck des KWG s. eingehend Humm (Fn. 5), S. 139 ff., 156 ff.: „gesamtwirtschaftliche Erwägungen“. 125 Vgl. § 21 Abs. 4 RechKredVO: Spareinlagen nicht für Zahlungsverkehr bestimmt; Bezug auf Vermögensbildungszweck S. 3; zu § 21 Abs. 2 KWG a. F. s. Staudinger/Hopt/ Mülbert (Fn. 76), Rn. 31, 32; Canaris (Fn. 76), Rn. 1190 f. 126 Zum Leitbild s. Wicksell (Fn. 36), S. 217 ff.; vgl. zu alternativen Reformvorschlägen (Privatgeldschaffung in freier Konkurrenz, Rückkehr zu Fixkursstandard, Regelung gleichmäßigen Geldmengenwachstums) Polleit (Fn. 48), S. 25 ff., 41 ff.; s. auch Brunner, in: Starbatty (Hrsg.), Geldordnung und Geldpolitik in einer freiheitlichen Gesellschaft, 1982, S. 7 ff.; s. auch Huber (Fn. 2), S. 89 ff.: „Vollgeld“.
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Geldmengenausdehnung: Stabilität in der Transformation.127 Ein Übermaß des Kreditvolumens wird ebenso vermieden wie die Entwertung privater Ersparnisse durch privilegierte „Geldschöpfung“ der Banken. Das neue Geld ist somit ein begrenzter Fonds der Allgemeinheit, der nicht etwa dem Staat als Ertragsquelle, sondern proportional allen am gesellschaftlichen Vermögensbildungsprozeß Beteiligten zusteht. Dadurch erhöhen sich auch die Ersparnisse, woraus eine Zinssenkungstendenz resultiert. Aber es sind nur die vermehrten privaten Ersparnisse, die zur Kreditausweitung dienen können. Banken mögen davon im Maße eines Darlehensgebers oder -vermittlers profitieren, nicht als „Geldschöpfer“. Zuständig für die Geldmengenregelung ist allein der Staat als Träger der Währungshoheit, sei es auch in deren international-bündischen, konsensualen Ausübung zusammen mit anderen Rechtsstaaten, und zwar in der Organisationsform einer besonderen, auf den Grundsatz der vermögensgerechten Tauschwertstabilität des Geldes gesetzlich verpflichteten und justizförmig kontrollierbaren Behörde.
127 s. Wagener, FS Kloten, 1996, S. 85; treffend die Formulierung in: Starbatty (1982 – Diskussionsbericht z. Referat von Brunner), S. 114: „eine an der Entwicklung des Produktionspotentials ausgerichtete Geldmengenregel“.
Dogmengeschichte der Urkundenfälschung Von Luis E. Rojas Nicht nur im Bereich des Allgemeinen Teils des Strafrechts hat der Jubilar Wesentliches beigetragen. Sein Werk stellt eine entscheidende dogmatische Fortentwicklung der modernen Lehren der objektiven Zurechnung1 und des Vorsatzes2 dar – Kernbereiche der allgemeinen Verbrechenslehre. Die Schwerpunktsetzung auf das tatbestandsmäßige Verhalten des Delikts anstelle der Erfolgszurechnung hat auch im Bereich des Besonderen Teils des Strafrechts zu fruchtbaren theoretischen Erkenntnissen geführt. Vor allem bei der Betrugsdogmatik hat seine funktionale und normativierende Perspektive deutlich zur Weiterführung der Lehre der Täuschung und des Irrtums beigetragen. Sie bezieht sich auf die grundsätzliche Frage des Betrugs. Die Untersuchung von Täuschung und Irrtum schafft Klarheit über das dem Betrug eigene Unrecht. Schon in einer Abhandlung aus dem Jahre 1979 hat Wolfgang Frisch zur Klärung des Irrtumsbegriffs beim Betrug beigetragen, indem er die psychologisierende Sicht zugunsten eines funktionalen Ansatzes überwand3. Aber es sind zwei neuere Beiträge aus den Jahren 2007 und 2008, die eine neu fundierte funktionale und normativierende Perspektive der Lehre der Täuschung und des Irrtums beim Betrug entwerfen4. In ihnen wird eine gemeinsame Grundlage der Tatbestandsmäßigkeit der Täuschung herausgestellt, die sowohl das Verhaltensunrecht des ausdrücklichen und des konkludenten Täuschens, als auch der Täuschung durch Unterlassen beim Betrug fundiert5. Diese Grundlage kann nicht bloß die vermeintliche Diskrepanz zwischen Erklärung und Wirklichkeit sein. Sie besteht vielmehr darin, dass das Verhalten eine normative Bedeutung aufweist, die dem Recht auf Wahrheit des anderen widerspricht. Historisch gesehen fungiert das Recht auf Wahrheit als gemeinsame Grundlage des Unrechts der Fälschung und des Betrugs. Im Folgenden wird versucht, die historisch-dogmatische Wurzeln dieses Rechts auf Wahrheit am Beispiel der Urkundenfälschung zu untersuchen. Es handelt sich um eine dogmengeschichtlich orientierte Untersuchung, die dem Jubilar zum 70. Geburtstag in Hochachtung vor seinem beeindruckenden wissenschaftlichen Werdegang gewidmet ist. 1
Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988. Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983. 3 Frisch, FS Bockelmann, 1979, S. 648 f., 652, 660 f. 4 Frisch, FS Jakobs, 2007, und ders., FS Herzberg, 2008. 5 Insb. Frisch, FS Herzberg, 2008, S. 736 ff. 2
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I. Historischer Ursprung des Begriffs der Urkundenfälschung 1. Ursprung der Urkundenfälschung im Römischen Strafrecht Die Geschichte der Urkundenfälschung beginnt in der späteren römischen Republik. Zu dieser Zeit hatte das schriftliche Testament eine gewichtige Rolle im sozialen und rechtlichen Leben inne, da der Prätor an denjenigen die bonorum possesio über das Erbe gewährte, der ihm die tabulae testamenti vorlegte6. Dennoch kam dem schriftlichen Testament nicht immer diese Bedeutung zu. Vor diesem Zeitraum war die Erbfolge „ab intestato“ oder man errichtete ein Testament mündlich vor dem Volk bzw. in der Zeremonie der „mancipatio“. Beide Formen der Erbfolge wurden allmählich durch andere ersetzt, bis es schließlich möglich ist, die Erbfolge privat, heimlich und schriftlich in einem „testamentum per scripturam“ festzulegen7. Wahrscheinlich gewann die Testamentsfälschung im Kontext des Unterganges sozialer Regeln der römischen Aristokratie an Bedeutung, woraufhin sich Lucio Cornelio Silla gezwungen sah, die kriminale Rechtspflege dadurch zu verstärken, dass die „quaestione perpetuae“ zur öffentlichen Verfolgung bestimmter Verbrechen durch spezialisierte Gerichte etabliert wurden8. Eine dieser „quaestiones“ war die „quaestio de falsis“, von Silla im Jahr 81 v. Chr. bekannt gegeben, die gerade wegen seines Namens als „lex Cornelia de falsis“ bekannt wurde9. Ursprünglich umfasste die „quaestio de falsis“ lediglich die Testaments- und Münzfälschung, weshalb sie auch als „lex testammentaria nummaria“ bekannt wurde10. Mit Bezug auf die Testamente wurde unter Strafe gestellt: die Schaffung eines scheinbaren Testaments durch Nachmachen der Kalligraphie („scribere“), Stempeln von unechten Siegeln („signare“), Gebrauch des falschen Testaments vor Gericht („recitare“) und in Beziehung auf echte Testamente die Entstellung der Schrift („interlinere“), die Unterschiebung („subicere“), das unrichtige Öffnen („resignare“), die Beseitigung („delere“), Wegnahme („amovere“) oder Unterdrückung („celare“) des Testaments11. Die Erklärung dafür, dass die Fälschung von Tes-
6 Vgl. D’Ors, Studi in onore di Edoardo Volterra, vol. II, 1969, S. 545; Alejandre, Anuario de historia del derecho español (AHDE), N8. 42, 1972 (im Folgenden: AHDE 1972), 128. 7 Alejandre, AHDE 1972, 128 f. 8 Vgl. Green, The Journal of Criminal Law & Criminology, Vol. 90, N8. 4, 2000 (im Folgenden: Journal of Criminal Law 2000), 1096; auch Alejandre, AHDE 1972, 129. 9 Vgl. Green, Journal of Criminal Law 2000, 1096; Alejandre, AHDE 1972, 129; Malinverni, Teoria del falso documentale, 1958, S. 162 f. Fn. 35, bestreitet den bloßen prozessualen Charakter dieser lex. 10 Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899, S. 669 f.; D’Ors (Fn. 6), S. 544; Green, Journal of Criminal Law 2000, 1096. 11 D’Ors (Fn. 6), S. 545; Alejandre, AHDE 1972, 130; der ursprüngliche Inhalt der lex Cornelia de falsis ist, nach D’Ors, a.a.O., beim Digest, 48. Buch, Titel 10, lex II Paulus (im
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tamenten, Siegeln und Münzen bei einer lex zusammengefasst wird, liegt nach D’Ors in einem gemeinsamen Merkmal begründet, nämlich im Missbrauch von Zeichen („signum“)12. Nachträglich wird die „quaestio de falsis“ durch den Senatsbeschluss Libonianum aus dem Jahre 16. n. Chr. auf andere Urkunden erweitert, aber nur auf versiegelte Urkunden („cum consignatione“) und beschränkt auf die drei ursprünglich bestraften Verhaltensweisen des „scribere“, „signare“ und „recitare“13. Solche Urkunden waren etwa die „testaciones“, d. h. schriftliche Abfassungen von gerichtlichen Aussagen. Insofern erstreckte der Senatsbeschluss Libonianum die Strafe der lex Cornelia auf das „falsas testaciones facere“ und das Beibringen einer „falsa testimonia“ vor Gericht, aber bei diesen Fällen handelte sich lediglich um schriftliche Zeugenaussagen – noch nicht um falsche mündliche Aussagen14. Die Erstreckung der Strafe der lex Cornelia de falsis auf Fälschungen bei nicht versiegelten („sine consignatione“) und privatschriftlichen Urkunden, wie z. B. bürokratischen Unterlagen („album propositum“), schriftlichen Erlassen („rescripta“) und Klauseln („epistulae“), erfolgte erst Mitte des 3. Jahrhunderts durch die Jurisprudenz15. Die Ursachen dieser Erweiterung waren möglicherweise einerseits der verstärkte Gebrauch von Pergament und Leder anstatt der Tabellen und andererseits die Verbreitung der eigenhändig unterschriebenen Schriften ohne Siegel, die gerade deswegen auch des Schutzes bedurften16. Diese Erweiterung der lex Cornelia de falsis auf jegliche Urkunden erstreckte zugleich auch die Strafe auf alle bisher nur auf die Testamente beschränkte Verhaltensweisen17. Somit wird die Schaffung falscher wie die Verfälschung echter Urkunden bestraft, wodurch sich die Testamentsfälschung in die allgemeine Ordnung der Urkundenfälschung eingliedert und damit zugleich aufhört, eine selbständige Figur zu sein18. Insoweit kann erst ab dieser Periode, d. h. ab der Mitte des 3. Jahrhunderts von Urkundenfälschung die Rede sein19. 2. Schöpfung des Falsumsbegriffs durch die mittelalterliche italienische Lehre Trotzdem bedeutet das Taufen mit einem Namen noch nicht zugleich die Schöpfung eines Begriffs. Die kontinuierlichen Erweiterungen der lex Cornelia de falsis auf jegliche Urkundenfälschungen und andere unter der Bezeichnung „falsum“ zusammenzufassende Verhaltensweisen dienen praktischen Strafwürdigkeits- und StrafFolgenden: D.48.10.2), wiedergegeben, corpus iuris civilis, Band I, spanische Fassung von Rodríguez de Fonseca/ de Ortega, 1874 (S. 1148). 12 D’Ors (Fn. 6), S. 546. 13 D’Ors (Fn. 6), S. 546 f.; Alejandre, AHDE 1972, 131 f. 14 D’Ors (Fn. 6), S. 553 f. 15 D’Ors (Fn. 6), S. 548 f.; Alejandre, AHDE 1972, 133 f. 16 Alejandre, AHDE 1972, 134 f. 17 D’Ors (Fn. 6), S. 548 f. 18 Alejandre, AHDE 1972, 135. 19 Alejandre, AHDE 1972, 135.
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verfolgungskriterien20. Die Erweiterung, die ihren Höhepunkt im 3. Jahrhundert erreicht, geht sogar so weit, Täuschungsdelikte, die in keinem Zusammenhang mit den ursprünglichen Tatbeständen der lex Cornelia de falsis stehen, wie etwa der „stellionatus“, mit einzuschließen21. In diesem Zeitraum wird ein Begriff des „falsum“, der gemeinsame Merkmale der verschiedenen unter die Strafe dieser lex gestellten Verhaltensweisen festlegt, noch nicht entworfen. Sogar der berühmte Spruch des Paulus „was ist Fälschung, wahrscheinlich ist es, eine Schrift oder ein fremdes Instrument nachzumachen, oder die Klageschriften oder Rechnungen abändern, aber nicht, über die Summe zu lügen“ (Digest 48.10.23)22, wollte keinen Begriff aufstellen23. Der Begriff des „crimen falsi“ wurde nachträglich zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert im Werk der altitalienischen Doktrin bei den Glossen und Kommentierungen des corpus iuris civilis entwickelt24. Erst in dieser Periode wird ein Begriff des „crimen falsi“ aufgestellt und es werden die Merkmale erläutert, die bei den verschiedenen Verhaltensweisen gegeben sein müssen, um als „falsum“ betrachtet werden zu können25. Das erste Merkmal des „falsum“ ist die „mutatio veritatis“, dessen Begriff Azo zugewiesen ist: „falsum est immutatio veritatis“26. Dieser Begriff der Fälschung als Entstellung der Wahrheit weicht leicht von der zitierten Stelle ab, die von der „imitatio veritatis“ spricht. Es handelt sich um ein Zitat der 73. Novelle des Iustinianus27. Deswegen kann man sich fragen, ob das erste Merkmal des Begriffs als „imi20 Mommsen (Fn. 10), S. 670; durch den Senatsbeschluss Messalianum aus dem Jahre 20 n. Chr. wurde die Strafe des „falsum“ auf verschiedene unmoralische Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Justiz erweitert, wie Bezahlen, Vereinbaren oder sich Vereinigen, um Anwälte oder Zeuge beizubringen, oder sich Vereinigen, um unschuldige Personen in ein Verfahren zu verwickeln, D’Ors (Fn. 6), S. 555, während durch den Senatsbeschluss Geminianum aus dem Jahre 29 n. Chr. das Bezahlen, um einen Zeugen aufzurufen oder darauf zu verzichten, unter die gleiche Strafe gestellt wurde, D’Ors (Fn. 6), S. 539 f. 21 D’Ors (Fn. 6), S. 21; es ist bisher nicht geklärt worden, welche Rolle die Kategorie des „quasi-falsum“ genau spielte, vgl. dazu Merkel, Adolf, Kriminalistische Abhandlungen, Bd. II, 1867, S. 13, 25 f. 22 „Quid sit falsum, quaeritur: et videtur id esse, si quis alienum chirographum imitetur aut libellum vel rationes intercidat vel describat, non qui alias in computatione vel in ratione mentitur“. 23 Heinemann, Das Crimen Falsi in der altitalienischen Doktrin, 1904, S. 6 Fn. 24; dass dieser Spruch tatsächlich von Paulus stammt, stellt D’Ors (Fn. 6), S. 549 Fn. 77 und S. 552 Fn. 88, sogar in Frage. 24 Heinemann (Fn. 23), S. 5 f.: „die Schöpfer alles modernen Strafrechts“; die berühmten Juristen des späten Mittelalters sind Azo († circa. 1230), Candinus († circa. 1300), Bartolus († 1357), Baldus († 1400), Paulus de Castro († 1441), Angelus von Arezzo († 1451), Clarus († 1575), Decian († 1582) und Farinacius († 1618), Heinemann, a.a.O., S. 8 Fn. 29. 25 Heinemann (Fn. 23), S. 8 ff.; kritisch Merkel, A. (Fn. 21), S. 38. 26 Heinemann (Fn. 23), S. 8 f. 27 Vorwort: „Novimus nostras leges quae volunt ex collatione litterarum fidem dari documentis, et quia quidam imperatorum, superexistente iam malitia eorum qui adulterant documenta, haec talia prohibuerunt illud studium falsatoribus esse credentes, ut ad imitationem
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tatio veritatis“ oder aber als „immutatio veritatis“ aufzufassen ist. Auf den Unterschied bei den Wörtern ist jedoch kein großer Wert zu legen. Er ist nicht unüblich bei Juristen, die noch unter dem Einfluss des von Iustinianus auferlegten Verbots der Kommentierung (Codex 1.17.2) schrieben. Sie sahen sich dazu gezwungen, auch selbständige Gedanken an jedes Zitat der vom Iustinianus festgelegten Quellen anzupassen, um das mit der Strafe des „falsum“ (!) bedrohte Verbot der Kommentierung nicht zu übertreten28. Es ist daher wichtiger, den Gedanken richtig zu fassen, und nicht die Übereinstimmung mit der zitierten Quellenstelle in den Vordergrund zu stellen. Dazu kann ein Vergleich mit den aus gleicher Zeit stammenden Siete Partidas hinsichtlich der Bestrafung des „crimen falsi“ beitragen. Die Bedeutung der Siete Partidas ist nicht zu unterschätzen, denn einerseits erhalten sie die Regelung der Fälschung direkt aus den von Iustinianus fixierten römischen Quellen29, und andererseits übten sie viel Einfluss auf die europäische Kodifikation im 19. Jahrhundert aus30. Der Begriff des „falsum“ wird so erklärt: Setena Partida, Titulo VII, Ley I, „Que es falsedad, e que maneras son della. Falsedad es mudamiento de la verdad“ („Falsitas est mutatio veritatis, quae fit modis hic expressis. Hoc di cit“)31. Es ist zudem beachtlich, dass bei der ersten Glosse gerade Azo zitiert wird32. Diese historische Übereinstimmung legt nahe, dass das erste Merkmal des Falsumsbegriffs doch als Entstellung der Wahrheit aufgefasst werden kann33. Dennoch ist es damit noch nicht viel gewonnen, wenn nicht feststeht, was es unter Wahrheit zu verstehen ist. Auf die Frage „veritas quid est?“, antwortet die altitalienische Lehre: „ipse Deus“34. Davon abweichend wird die irdische Wahrheit als „notitia certae rei“ aufgefasst35. Diese Antworten mögen ein Grund dafür sein, dass der Wahrheitsbegriff in der modernen Literatur zur Urkundenfälschung nachträglich in Misskredit geraten ist. Um die Ratlosigkeit zu vermeiden, die der Wahrheitsbegriff häufig auszulösen scheint, schlägt Heinelitterarum semet ipsos maxime exercerent, eo quod nihil aliud est falsitas nisi imitatio veritatis“. 28 Vgl. dazu Heinemann (Fn. 23), S. 10 f. 29 Alejandre, AHDE 1972, 125 f. 30 Green, Journal of Criminal Law 2000, 1100. 31 Las Siete Partidas del sabio Rey don Alonso el IX, glossiert von dem Rechtsgelehrten Gregorio López, del Consejo Real de Indias de S.M., Bd. III, 1830, S. 406. 32 „Mudamiento de la verdad (1) Concordat cum authent. de instrum caut. et fide, in princ. col. 6. et dicitur immutatio secundum Azon C. eod. in summa, eod quod falsatores student mutare, quae vera sunt, ut falsa videantur verisimilia: adde 1. quid sit falsum, D. eod, unde non videtur falsum, quod primordio veritatis adjuvatur, I. cum filius, §. hoeres, D. de legat 2. vide Gloss. in 1. I. D. de condict sine causa“. 33 Green, Journal of Criminal Law 2000, 1102, hebt gerade diese Glosse des Gesetzbuchs der Partidas hervor und meint: „Here, for the first time are a definition of deceit („the alteration of the truth“) and a statement of moral values that apparently link these various offenses“; Malinverni (Fn. 9), S. 191 f., ist anderer Meinung und sagt, dass dieses Merkmal sowohl als „mutatio veritatis“ wie auch als „imitatio veri“ verstanden wurde. 34 Unter Hinweis auf die Bibel, Johannes, 14.6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“. 35 Heinemann (Fn. 23), S. 11 f.
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mann 1904 eine moderne Auslegung vor, die es wegen ihrer Klarheit wörtlich wiederzugeben gilt: „Dem Menschen ist es notwendig, aus der sich seiner Wahrnehmung darbietenden Außenwelt Schlüsse zu ziehen, die auf seine Betätigung verursachend wirken. Diese Schlüsse gewinnt er durch Anwendung von Betrachtungsregeln, welche durch Erfahrung gewonnen, ihm die Beziehungen der Wahrnehmungsobjekte klarlegen. Vorbedingung für die Richtigkeit der Schlüsse ist mithin, dass die Außenwelt sich seiner Beobachtung so darbietet, dass die durch sie ausgelösten Vorstellungen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen. Diese Eigenschaft des Wahrzunehmenden ist es, welche hier als veritas bezeichnet wird. Eine mutatio veritatis ist demnach eine Handlung, durch welche im Kreise der Wahrnehmungsobjekte, sei es durch Entstellung oder Unterdrückung vorhandener oder durch Hervorbringung neuer, Veränderungen vorgenommen werden, welche geeignet sind, Vorstellungen zu erwecken, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechen“36.
Das zweite Merkmal des Fälschungsbegriffs ist der Vorsatz („dolus“). Die Notwendigkeit des Vorsatzes zur Bestrafung aufgrund des „crimen falsi“ wird nicht bestritten37. Das Vorsatzerfordernis beruht beispielsweise auf einem Spruch des Ulpianius (Digest 48.10.9)38, der bei einer Testamentsfälschung ausdrücklich auf den „dolus malus“ hinweist. Über die genaue Bedeutung des Vorsatzes aber herrscht keine Einigkeit. Grundsätzlich bedeutet „dolus“ nur Handeln im Bewusstsein, zu delinquieren39. Die Frage, ob der Vorsatz bei der altitalienischen Doktrin auch das umfasst, was modern gesprochen als Rechtswidrigkeitsbewusstsein bezeichnet wird, d. h. das Bewusstsein der Rechtsverletzung, ist streitig. Anscheinend wurde ein solches Bewusstsein zur Annahme des Vorsatzes mehrheitlich nicht gefordert, so dass das Bewusstsein der ethischen Unzulässigkeit der Handlung ausreichte40. Das dritte Merkmal des „crimen falsi“ ist der Schaden eines anderen („praejudicium alterius“). Es hat jedoch im Unterschied zu den Elementen der „mutatio veritatis“ und des „dolus malus“ eher eine prozessuale Bedeutung. Beim Zweifel über die Täterschaft des „falsum“ ist ein Motiv („causa“) festzustellen, das die Fälschung mit dem Beschuldigten verbindet. Der Beweis wird durch Vermutungen erleichtert, die auf den Folgen der Tat beruhen. Hat die Tat dem Beschuldigten selbst Schaden verursacht, dann liegt kein Motiv vor, um seine Täterschaft zu vermuten. Anders wenn die Tat ihm einen Vorteil gebracht hat, denn er ist ein Indiz, das es erlaubt, seine Täterschaft zu vermuten. Nichtsdestotrotz wird dafür nicht gefordert, dass der Beschuldigte tatsächlich Vorteil erlangt hat, sondern lediglich, dass die Tat den Schaden bei
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Heinemann (Fn. 23), S. 12. Heinemann (Fn. 23), S. 13; Alejandre, AHDE 1972, 139; doch wird über die Bestrafung aufgrund des „quasi-falsum“ auch bei Fahrlässigkeit bestritten. 38 „Poena legis Corneliae irrogatur ei, qui quid aliud quam in testamento sciens dolo malo falsum signaverit signarive curaverit, item qui falsas testationes faciendas testimoniave falsa invicem dicenda dolo malo coierint“. 39 Heinemann (Fn. 23), S. 13 f. 40 Heinemann (Fn. 23), S. 15. 37
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einem anderen verursacht hat41. Diese eher prozessuale Bedeutung des „praejudicium alterius“ ist einer Wissenschaft, die noch nicht genau zwischen formellem und materiellem Strafrecht unterscheidet, nicht fremd. Daraus folgt auch, dass dieses Merkmal jedenfalls nicht im modernen Sinne des „Vermögensschadens“ aufgefasst wurde42. Zum einen bezieht sich die altitalienische Lehre, wenn sie über die Bedeutung dieses Merkmals diskutiert, nicht schlechthin auf das „crimen falsi“, sondern vielmehr auf Fälle der falschen Zeugenaussage und der Manipulationen bei Schriftstücken, bei denen grundsätzlich keine Nachteile auftreten43. Zum anderen wird gerade bei diesen Fällen kein tatsächlich eingetretener Schaden gefordert, sondern es reicht aus, dass die Handlung zum Schaden geeignet war („apta erat nocere“). Diese Schädigungsmöglichkeit wird im Fall der aufgrund von erkennbaren Mängeln nichtigen Urkunde in Frage gestellt, z. B. bei einer notariellen Urkunde, die bestimmte Förmlichkeiten aufweisen muss. Auch wenn die Fälschung raffiniert ausgeführt wird, schenkt niemand einer eklatant nichtigen Urkunde Glauben, und insofern kann sie bei anderen keine falsche Vorstellungen erwecken44. Dieser Fall der wegen erkennbarer Mängel nichtigen Urkunde zeigt, dass die Diskussion über die Schädigungsmöglichkeit zur Prüfung der Eignung der Fälschung, bei einem anderen einen Irrtum zu erwecken, wird. Zugleich ermöglicht die Diskussion über diesen Fall, das Verhältnis zwischen dem Merkmal der „mutatio veritatis“ und dem „praejudicium alterius“ klarzustellen. Eine „mutatio veritatis“ liegt vor, wenn durch sie die Möglichkeit gegeben ist, dass andere getäuscht werden. Die Ausdehnung, welche der Begriff der Schädigungsmöglichkeit zur Folge hat, ist eine solche, dass überall da, wo eine Möglichkeit der Täuschung vorliegt, auch die Möglichkeit einer Schädigung anzunehmen ist. Mit der Forderung, dass die Fälschung geeignet sein muss, anderen zu schaden, ist kein besonderes Begriffsmerkmal aufgestellt, sondern nur etwas hervorgehoben, was schon in der „mutatio veritatis“ enthalten ist45. Da demnach die „mutatio veritatis“ das wesentliche Merkmal des „crimen falsi“ ist, ist das Delikt nicht erst durch die Täuschung einer Person vollendet, sondern schon dann, wenn das Tun oder Unterlassen, welches geeignet ist, eine Täuschung und damit einen Schaden herbeizuführen, ausgeführt wird46. Im Ergebnis kann der von der altitalienischen Lehre entworfene Falsumsbegriff als eine vorsätzliche Entstellung der Wahrheit aufgefasst werden. Die Wahrheit wird in einem subjektiven Sinne verstanden, d. h. es handelt sich um eine Eigenschaft des Wahrnehmenden im Hinblick auf die Verhältnisse der Wahrnehmungsobjekte. Deshalb kann die „mutatio veritatis“ durch Entstellung oder Unterdrückung vorhandener oder durch Hervorbringung neuer Veränderungen im Kreis der Wahrnehmungsob41
Heinemann (Fn. 23), S. 20. Vgl. dazu Merkel, A. (Fn. 21), S. 22 f., 31 ff. 43 Heinemann (Fn. 23), S. 22. 44 Heinemann (Fn. 23), S. 24 f. 45 Heinemann (Fn. 23), S. 25. 46 Heinemann (Fn. 23), S. 26. 42
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jekte eine Vorstellung erwecken, die den tatsächlichen Verhältnissen der Objekte nicht entspricht. Dennoch wird zur Annahme des „crimen falsi“ nicht gefordert, dass dem Wahrnehmenden infolge der vorsätzlich realisierten Handlung oder Unterlassung tatsächlich ein Irrtum unterläuft. Es genügt, dass die Handlung geeignet ist, bei einem anderen eine falsche Vorstellung auszulösen47. Der Schaden eines anderen („praejudicium alterius“) ist infolgedessen kein selbständiges Merkmal des Falsumsbegriffs, sondern dient lediglich dazu, die Eignung der „mutatio veritatis“ zur Täuschung hervorzuheben, wenn sie zweifelhaft erscheint.
II. Rezeption des Falsumsbegriffs in der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts 1. Der Code pénal von 1810 und die französische Lehre Der Code pénal von 1810 enthält das Fälschungsdelikt („faux“) im ersten Abschnitt des Kapitels III über die Verbrechen und Delikte gegen den öffentlichen Frieden. Dieser Abschnitt wird in fünf Paragraphen eingeteilt, der erste über Münzfälschung (Artikel 132 – 138), der zweite über Verfälschung staatlicher Siegel, Banknoten, öffentlicher Schuldverschreibungen und Stempel (Artikel 139 – 144), der dritte über Fälschung bei öffentlichen und echten Urkunden und kommerziellen und Bankurkunden (Artikel 145 – 149), der vierte über Fälschung bei Privaturkunden (Art. 150 – 152), und der fünfte über Fälschungen bei Reisepässen, Marschrouten und Zeugnissen (Art. 153 – 162). Die Tatbestände aber, die die Urkundenfälschung umfassen (Art. 145 ff. CP), beschreiben grundsätzlich verschiedene Begehungsweisen. Sie klären die wesentlichen Merkmale des Delikts nicht48. Deswegen ziehen die Lehre und die Court de Casation den von den „alten Kriminalisten“ entworfenen Begriff des „crimen falsi“ heran: „kriminell absichtliche Entstellung der Wahrheit, die einen Schaden eines anderen verursacht oder verursachen konnte“49. Aber Garraud präzisiert, dass nicht schlechthin die Entstellung der Wahrheit bestraft wird, sondern diejenige, die sich auf ein Schriftstück bezieht: Entstellung der Wahrheit mit Bezug auf Tatsachen, die dieses Schriftstück zu beweisen geeignet ist50. Die Fälschung enthält wie jedes Delikt ein materielles und ein moralisches Element. Die Entstellung 47
Heinemann (Fn. 23), S. 26, vertritt die Auffassung, dass durch die Bildung dieses Delikts etwas geschaffen wird, das man „Schutz der Integrität des Wahrnehmungsvermögens“ nennen könnte, der nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die Gesamtheit von Bedeutung ist: „Das Gesellschaftsleben, in dem der eine auf den anderen angewiesen ist, kann sich nur dann gedeihlich entwickeln, wenn zwischen den einzelnen ein Vertrauensverhältnis besteht, welches verbietet, dass der Betätigungssphäre des einen durch den anderen falsches Material zugetragen wird, das jener möglicherweise zu eigenem Handeln verwendet“. 48 Garraud, Droit Pénal Français, Bd. III, 2. Aufl. 1899, S. 523 (Nr. 1027). 49 Chauveau/Hélie, Théorie du Code Pénal, Bd. II, 6. Aufl. 1887, S. 342 (Nr. 641; Hervorhebung im Original). 50 Garraud (Fn. 48), S. 497 (Nr. 1011, Fn. 7).
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der Wahrheit bei einem Schriftstück stellt das materielle Element, den „Körper“ des Delikts dar51. Damit die Fälschung strafbar sein kann, muss es sich um ein Schriftstück handeln, das als Titel zum Erwerb, zur Übertragung, zum Beweis eines Rechts, eines Zustandes oder einer Eigenschaft dient. Das Gesetz schützt dennoch weder das Schriftstück als solches – „an sich bloßes Zeichen ohne Wert“ –, noch die Form des Rechtsvorganges, sondern den dem Schriftstück und dem Rechtsvorgang geschenkten Glauben („fides“). Bei jeder Strafgesetzgebung besteht nicht bloße Affinität, sondern „eine unabdingbare Korrelation zwischen dem Beweissystem und dem Fälschungssystem“52. Die Fälschung stellt eine Entstellung oder Verfälschung bei einem Schriftstück dar, die falsche Vorstellungen bei denjenigen erwecken kann, denen es vorlegen wird, d. h. wo es dem Beweis dienen kann. Aber nicht jede schriftliche Lüge stellt eine Fälschung dar. Was das Delikt ausmacht ist der Verstoß gegen die fides publica, gegen dieses unabdingbare dem schriftlichen Beweis geschenkte Vertrauen – „die Seele aller sozialer Geschäfte“. Erst eine solche Lüge stellt einen Verstoß gegen das öffentliche Vertrauen („fides publica“) und diese Beweiskraft dar, die das Gesetz der schriftlichen Zeugenaussage zuschreibt53. Die Urkundenfälschung, d. h. die Entstellung der Wahrheit bei einem Schriftstück, muss, um strafbar sein zu können, unter eine der von den Artikeln 145, 146 und 147 des Code pénal beschriebenen Begehungsweisen subsumierbar sein. Diese Bestimmungen beschreiben Methoden der Entstellung der Wahrheit, die zur Fälschung dienen. Man unterscheidet grundsätzlich zwei verschiedene Methoden: die materielle Fälschung („faux matériel“) und die intellektuelle Fälschung („faux intellectuel“)54. Chauveau und Hélie sagen, dass diese Unterscheidung zwischen materieller und intellektueller Fälschung bei den soeben zitierten Bestimmungen des Code pénal stillschweigend zu Grunde liegt55, d. h. es handelt sich um keine vom Code pénal ausdrücklich genannte Unterscheidung. Die materielle Fälschung besteht darin, den verwendeten Gegenstand herzustellen oder total bzw. teilweise zu entstellen, soweit sie physisch erkennbar, feststellbar oder beweisbar ist56. Diese Vorgehensweise wird durch Nachmachen eines vorhandenen oder Herstellung eines neuen Titels ausgeführt. Sie besteht grundsätzlich in der materiellen Entstellung des Körpers des Schriftstücks, sei es durch Hinzufügung, Veränderung oder Beseitigung; z. B.: der Schuldner, der einen Beleg der Schuldbegleichung in Höhe von 1.000 Francs hat, und dem Beleg eine Nummer 2 hinzufügt bzw. die Summe auf 2.000 Fr. erhöht, begeht eine materielle Fälschung, „die das Auge wahrnehmen kann, weil die Verfälschung bei dem falschen Stück eine Spur hinterlässt, die
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Garraud (Fn. 48), S. 498 (Nr. 1012), S. 503 (Nr. 1016). Garraud (Fn. 48), S. 512 (Nr. 1021; Hervorhebung im Original). 53 Garraud (Fn. 48), S. 513 (Nr. 1023). 54 Garraud (Fn. 48), S. 525 (Nr. 1027). 55 Chauveau/Hélie (Fn. 49), S. 354 (Nr. 651). 56 Chauveau/Hélie (Fn. 49), S. 341 (Nr. 640).
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unter die sinnliche Wahrnehmung fallen wird“57. Die intellektuelle Fälschung besteht darin, nicht die Buchstaben des Schriftstücks, sondern die Substanz, nicht seine materielle Form, sondern seine Klausel zu entstellen, z. B. der Beamte, der andere Vereinbarungen als die von den Vertragsparteien angegebenen niederschreibt oder derjenige, der einen anderen dazu bringt, einen Kaufvertrag zu unterschreiben, wenn er glaubt, einen Vertretungsvertrag zu unterzeichnen58. Bei dieser Methode der Entstellung der Wahrheit „ist die Fälschung vor dem Augen nicht sinnlich wahrnehmbar, denn das Schriftstück verzerrt in dem Augenblick, in dem es erscheint, den Gedanken, den es zu äußern im Stande war“59. Die Fälschung hinterlässt m.a.W. bei dieser Methode keine sinnlich wahrnehmbare Spur. Die intellektuelle Fälschung kann sowohl von einem Beamten als auch von einer Privatperson begangen werden60. Damit die Fälschung ein Delikt darstellen kann, muss, wie bei jedem Delikt, ein moralisches Merkmal hinzukommen. Die Entstellung der Wahrheit muss, damit sie ein solches Verbrechen darstellen kann, in betrügerischer Absicht begangen werden. Es reicht dafür nicht aus, dass die Handlung bewusst und willentlich ausgeführt wird, sondern es ist darüber hinaus notwendig, dass sie einen bestimmten Zweck verfolgt, der der Fälschung eine kriminelle Bedeutung verleiht. Dieser Zweck besteht in der Absicht, einem anderen zu schaden61. Der Fälscher nimmt jedoch nicht den Standpunkt desjenigen ein, dem er schaden kann, sondern er geht von seinem persönlichen und subjektiven Standpunkt aus. Manchmal begeht er die Fälschung mit der Absicht, überhaupt niemanden zu schaden. Sein Zweck ist es, einen unzulässigen Vorteil für sich oder für einen anderen zu erzielen. Die besondere Absicht, die bei der Urkundenfälschung vom Gesetz vorgeworfen wird, besteht schlicht in dem Willen, eine Urkunde, deren Falschheit man kennt, als Beweis rechtswidrig in Anspruch zu nehmen62. Es ist also nicht notwendig, dass die das Verbrechen der Fälschung darstellende Entstellung der Wahrheit zu dem Zweck begangen wird, einen Vermögensvorteil zu erzielen; vielmehr reicht es aus, dass sie die Erreichung eines unerlaubten Ziels zum Zweck hat. Mit anderen Worten kann der Schaden, der tatsächlich oder nur möglicherweise aus der Fälschung hervorgeht, sowohl beim Vermögen als auch nur moralisch relevant sein63. Soweit das materielle und das moralische Element vorliegen, ist das Delikt vollständig. Die Zusammensetzung beider Merkmale ist, wie bei jedem Delikt, zweifellos notwendig, aber auch hinreichend. Indes erfüllt die Entstellung der Wahrheit nur dann das materielle Merkmal, sofern sie für einen anderen schädlich war oder sein konnte. Eben darum geht es bei der analytischen Unterscheidung zwischen der Ent57
Garraud (Fn. 48), S. 525 (Nr. 1027; Hervorhebung hinzugefügt). Chauveau/Hélie (Fn. 49), S. 341 f. (Nr. 640). 59 Garraud (Fn. 48), S. 525 f. (Nr. 1027). 60 Garraud (Fn. 48), S. 527 f. Fn. 37. 61 Chauveau/Hélie (Fn. 49), S. 364 (Nr. 660). 62 Garraud (Fn. 48), S. 574 f. (Nr. 1047). 63 Garraud (Fn. 48), S. 575 (Nr. 1048).
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stellung der Wahrheit und dem Schaden, dessen Ursache sie darstellt. Es handelt sich nicht um ein Sondermerkmal der Fälschung bei Schriftstücken, sondern im Gegenteil um eine allgemeine Forderung der meisten Delikte. Derjenige, der in verbrecherischer Absicht bei einem Schriftstück die Wahrheit auf eine Weise entstellt, die keinen schädigen kann, steht demjenigen gleich, der einen anderen mit einer untauglichen Substanz in dem Augenblick zu vergiften sucht, in dem er bereit tot ist64. Der Schaden setzt die Verletzung des Rechts eines anderen voraus, weshalb etwa bei der Verfälschung, die den Beweis einer rechtlich gegebenen Tatsache zum Gegenstand hat, so wie z. B. beim Schuldner, der seine Schuld beglichen hat, aber die Quittung verloren hat und deswegen eine falsche herstellt, das materielle Merkmal der Fälschung nicht erfüllt ist65. Der benachteiligte Dritte kann eine Person oder die Gemeinschaft selbst sein, wie etwa bei der Fälschung, die zum Gegenstand hat, den Fälscher von einer öffentlichen Verpflichtung zu entlasten66. Es geht grundsätzlich um einen Vermögensnachteil, aber das Gesetz schützt die Persönlichkeit in dem Kreis ihrer Betätigung gegen jeglichen unerlaubten Verstoß, z. B. bei der Beleidigung. Deshalb kann der Schaden auch einen bloßen moralischen Charakter haben67. Damit dieses Merkmal der Fälschung vorliegt, reicht die Schadensmöglichkeit aus68. Die Tatbestände der Artikel 145 – 147 des Code pénal zur Fälschung bei öffentlichen Urkunden und auch des Artikels 150 zur Fälschung bei Privaturkunden setzen zur Vollendung nicht den Gebrauch der gefälschten Urkunde voraus. Deswegen ist die Schadensmöglichkeit schon gegeben, wenn die Möglichkeit eines schädigenden Gebrauchs hinreichend vorliegt. Die Fälschung ist ein Vorbereitungsakt des Gebrauchs69, so dass sie nur dann strafwürdig ist, wenn sie einen schädigenden Gebrauch ermöglicht. Es reicht dafür auch aus, dass der Gebrauch seinerseits eventuell schädigend sein kann, da der Schadenseintritt vom Willen des Fälschers unabhängige Umstände voraussetzt70. Die Schadensmöglichkeit wird für den Fall der nichtigen Urkunde in Frage gestellt. Man unterscheidet etwa die Urkunden, die wegen substantieller Mängel nichtig sind und deswegen nicht schädlich sein können, von derjenigen, die nur aus formellen Gründen nichtig sind und deshalb je nach dem Gebrauch eventuell schädigend sein können71. Nichtsdestotrotz scheint die Urkunde selbst im Fall der substantiellen Nichtigkeit, z. B. wegen fehlender Zuständigkeit oder Fähigkeit des ausstellenden Beamten, ein gültiger Akt vom Standpunkt desjenigen aus zu sein, dem die Urkunde vorgelegt wird. Grundsätzlich wird wohl derje-
64 Garraud (Fn. 48), S. 498 (Nr. 1012); i.d.S. auch Chauveau/Hélie (Fn. 49), S. 382 (Nr. 672). 65 Garraud (Fn. 48), S. 582 f. (Nr. 1053). 66 Garraud (Fn. 48), S. 584 (Nr. 1054). 67 Garraud (Fn. 48), S. 589 (Nr. 1055). 68 Chauveau/Hélie (Fn. 49), S. 383 (Nr. 673). 69 A.A. Chauveau/Hélie (Fn. 49), S. 340 f. (Nr. 640), S. 364 Fn. 2. 70 Garraud (Fn. 48), S. 592 f. (Nr. 1056). 71 So Chauveau/Hélie (Fn. 49), S. 391 f. (Nr. 678).
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nige, dem eine solche Urkunde vorgelegt wird, nicht auf einen solchen Nichtigkeitsgrund achten72. Im Ergebnis übernimmt die französische Lehre des 19. Jahrhunderts den von der altitalienischen Lehre entwickelten Begriff des „crimen falsi“, um die wesentlichen Merkmale der Urkundenfälschung festzulegen. Der Code pénal bestraft schlicht den Beamten oder die Privatperson, die eine Fälschung („faux“) bei öffentlichen Urkunden (Art. 145 – 147 CP) oder bei Privaturkunden (Art. 150) begehen, und beschreibt anschließend verschiedene Begehungsweisen der Fälschung. Es handelt sich also nicht um die bloße Entstellung der Wahrheit, sondern um die Fälschung bei einer öffentlichen oder privaten Urkunde. Das Merkmal der Entstellung der Wahrheit wird damit konkretisiert. Es geht um die Entstellung der Wahrheit bei einem Schriftstück, d. h. mit Bezug auf die Tatsachen, die es zu beweisen geeignet ist. Zugleich wird auch das subjektive Merkmal des „crimen falsi“ konkretisiert. Es muss sich auch auf die Entstellung der Wahrheit bei einem Schriftstück beziehen. Die der Urkundenfälschung eigene Absicht besteht in dem Willen, eine falsche Urkunde als Beweis rechtswidrig in Anspruch zu nehmen. Letztendlich fordert der Code pénal weder bei der Fälschung einer öffentlichen Urkunde noch bei der Privaturkundenfälschung das Merkmal des Schadens eines anderen. Trotzdem erfüllt die Entstellung der Wahrheit bei einem Schriftstück nur dann das materielle Element des Delikts, wenn sie eine Schadensmöglichkeit darstellt. Diese Forderung besteht im Schaden im Sinne einer Rechtsverletzung des anderen. Da aber der andere sowohl Inhaber von Vermögensrechten als auch von anderen persönlichen Rechten ist, kann sich der Nachteil sowohl vermögensrechtlich als auch moralisch auswirken. Nichtsdestotrotz setzt der Code pénal zur Bestrafung der Urkundenfälschung den Gebrauch nicht voraus. Der Gebrauch der gefälschten Urkunde wird von der Fälschung abgekoppelt und durch die Tatbestände des Artikels 148 bei gefälschten öffentlichen Urkunden und des Artikels 151 bei gefälschten Privaturkunden erfasst. Deshalb reicht zur Bestrafung der Urkundenfälschung die bloße Möglichkeit des schädigenden Gebrauchs der gefälschten Urkunde aus.
2. Die strafrechtliche Kodifikation in Spanien und die Kommentare im 19. Jahrhundert Im Prozess der strafrechtlichen Kodifikation im Spanien des 19. Jahrhunderts kann man grundsätzlich drei Wendepunkte unterscheiden: das Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1822, das Gesetzbuch aus den Jahren 1848 – 1850 und dessen Reform von 1870. Das Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1822 hatte eine kurzlebige Geltung, aber seine Systematik wurde in den legislativen Prozessen übernommen, die zum Gesetzbuch aus den Jahren 1848/1850 und seiner reformierten Version von 1870 führten73. Das Strafgesetzbuch von 1822 kam noch unter dem Einfluss der Siete Partidas 72 73
Garraud (Fn. 48), S. 594 f. (Nr. 1057). Alejandre, AHDE 1972, S. 126.
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und des Fuero Juzgo, aber auch des damals neuen Code pénal von 1810 zustande74. Was die Urkundenfälschung anbetrifft, folgt dieses Strafgesetzbuch der Systematik des Code pénal, d. h. am Anfang werden die Tatbestände der Fälschung bei öffentlichen Urkunden (Art. 398 – 407), dann die der Privaturkundenfälschung (Art. 408 – 411) und zum Schluss die der Fälschungen bei weiteren Zeugnissen (Art. 412 ff.) genannt. Die spanische Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts wird grundsätzlich durch Kommentare zum Strafgesetzbuch betrieben. Einer der ersten Kommentare ist der von Florencio García Goyena, der jedoch in einem Zeitraum schreibt, in dem das Strafgesetzbuch von 1822 nicht mehr gültig war. Er vergleicht die Systematik des Code pénal, des spanischen Strafgesetzbuchs von 1822 und der Siete Partidas und erklärt diese letztgenannten für die vernünftigste Regelung, wobei die Setena Partida zitiert wird: „Fälschung ist Veränderung oder Entstellung der Wahrheit; 1. Buch, Tit. 7, Part. 7“75. Nachträglich nimmt Joaquín Francisco Pacheco bei den legislativen Nachweisen des Strafgesetzbuchs von 1848/1850 auf das Gesetzbuch von 1822 Bezug. Das Strafgesetzbuch von 1848/1850 folgt im Kapitel IV über die Verfälschung von Urkunden der Systematik des Code pénal, wobei es einen ersten Abschnitt über die Verfälschung öffentlicher und offizieller Urkunden und des Handels (Art. 226 – 227), einen zweiten über die Verfälschung von Privaturkunden (Art. 228) und einen dritten über die Verfälschung von Reisepässen und Zeugnissen (Art. 229) enthält. Vor der Kommentierung einzelner Tatbestände versucht Pacheco, einen Urkundenbegriff aufzustellen: „Es ist alles, was ein Recht gewährt oder begründet, alles, was eine Klage absichert, alles, was das beweist, an dem jemand ein Interesse hat“76. Artikel 226 betreffend, der den Beamten wegen Fälschung bei öffentlichen Urkunden durch verschiedene dort beschriebene Begehungsweisen bestraft, sagt Pacheco, dass „sie so weit gefasst sind, dass man sich kaum einen wirklichen Fall der moralischen Fälschung vorstellen kann, der von diesen nicht umfasst wird“77. Mit Bezug auf Artikel 227 über die von einer Privatperson begangene Fälschung bei öffentlichen Urkunden vergleicht er ihren Unrechtsgehalt mit der vom Beamten begangenen Fälschung und meint, dass „der durch Verfälschung materielle Nachteil gleichwertig sein kann“, aber das gesamte Delikt ist schlimmer, denn bei der vom Beamten begangenen Fälschung liegt „ein Missbrauch des öffentlichen Vertrauens vor, der eine höhere Bestrafung rechtfertigt“78. Schließlich hebt Pacheco hinsichtlich des Artikels 228 über die Fälschung bei Privaturkunden den Unterschied zur Verfälschung öffentlicher Urkunden hervor. Bei der letztgenannten ist nicht maßgeblich, ob ein Schaden eines Dritten vorliegt oder vorliegen konnte, denn ein solches Element wird vom Gesetz nicht gefordert, aber bei der Verfälschung von Pri74
Antón Oneca, Anuario de Derecho penal y Ciencias penales (ADPCP), Bd. XVIII, 1965, 270 f. 75 García Goyena, Código criminal español según las leyes y práctica vigentes, comentado y concordado con el penal de 1822, el francés y el inglés, Bd. II, 1843, S. 7 (Nr. 1030). 76 Pacheco, El Código penal Concordado y comentado, 2000, S. 760. 77 Pacheco (Fn. 76), S. 766. 78 Pacheco (Fn. 76), S. 768.
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vaturkunden erfordert das Gesetz einen Schaden, oder mindestens die Absicht, einen Schaden zu verursachen: „es ist richtig, dass man nur schwerlich eine Verfälschung begeht, ohne das Motiv zu haben, ein solches Ziel zu erreichen“79. Das 1870 reformierte Strafgesetzbuch hält an der Systematik des Gesetzbuchs von 1822 fest: es enthält einen ersten Abschnitt über die Verfälschung öffentlicher, offizieller und kommerzieller Urkunden und Telegramme (Art. 314 – 317), einen zweiten über die Verfälschung von Privaturkunden (Art. 318 – 319) und einen dritten über die Verfälschung von Anmeldungsnachweisen und Zeugnissen (Art. 320 – 325). Die wichtigste Kommentierung dieses Gesetzbuchs ist die von Alejandro Groizard y Gómez de la Serna, wobei das Delikt der Urkundenfälschung folgenderweise erläutert wird: Hierbei handelt es sich weder um „die reelle noch um die verbale Fälschung“, sondern um den „Mangel an Wahrheit bei der schriftlichen Erzählung der Dinge“80. Der Urkundenbegriff wird präzisiert als „das Schriftstück, Instrument oder Protokoll mit dem eine Sache bewiesen, nachgewiesen oder festgestellt wird: acta, documentum“81. Die unterschiedliche strafrechtliche Behandlung der Fälschung bei öffentlichen Urkunden und bei Privaturkunden liegt darin begründet, dass durch jene nicht nur Rechte des Einzelnen, sondern auch das öffentliche Vertrauen beeinträchtigt werden82. „Nur die betrügerische Entstellung der Wahrheit bei diesen Schriftstücken kann das Delikt der Fälschung öffentlicher Urkunde ausmachen“83. Mit Bezug auf Artikel 314, der den Beamten wegen Fälschung durch eine der dort beschriebenen Begehungsweisen bestraft, fragt Groizard: „Kann es eine Tat geben, die alle kennzeichnenden Merkmale der Urkundenfälschung erfüllt und die zugleich von keiner der acht Nummer des Artikels umfasst wird?“84. Die Entstellung der Wahrheit kann materiell oder nicht materiell ausgeführt werden. Obwohl das Strafgesetzbuch den Schwerpunkt auf die materielle Art der Fälschung setzt, kennt es doch auch die nicht materielle Fälschung. Es bestraft nicht nur die durch vollständige oder teilweise Schaffung falscher Urkunden eintretende Veränderung oder Entstellung der Wahrheit, sondern auch, dass man bewusst eine falsche Tatsache als wahr oder eine wahre als falsch feststehen lässt: „Was ein ausländisches Gesetzbuch nun kasuistisch ausformulierte, hat unseres auf eine allgemeine Formel gebracht“85. Artikel 316 betreffend, der das Vorlegen vor Gericht oder den Gebrauch der gefälschten öffentlichen Urkunden bestraft, kritisiert Groizard den Gesetzestext und schlägt vor, stattdessen die Absicht zur Täuschung oder zur Schädigung eines anderen zu fordern86. Bei Artikel 318 geht es um die Fälschung von Privaturkunden, 79
Pacheco (Fn. 76), S. 770. Groizard y Gómez de la Serna, El Código penal de 1870, concordado y comentado, Bd. III, 1899, S. 607. 81 Viada y Villaseca, Código penal reformado de 1870, Bd. II, 4. Aufl. 1890, S. 386. 82 Groizard y Gómez de la Serna (Fn. 80), S. 607 f. 83 Groizard y Gómez de la Serna (Fn. 80), S. 609. 84 Groizard y Gómez de la Serna (Fn. 80), S. 620 f. 85 Groizard y Gómez de la Serna (Fn. 80), S. 621. 86 Groizard y Gómez de la Serna (Fn. 80), S. 630 f. 80
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wobei ein wesentlicher Unterschied zur Fälschung öffentlicher Urkunden festgestellt wird, denn bei dieser letzten enthalte „die Entstellung und Veränderung der Wahrheit einen Verstoß gegen das öffentliche Vertrauen“, weswegen sie unabhängig von den Folgen der Tat bestraft wird. Bei der Fälschung von Privaturkunden aber liege „ein Angriff gegen die Rechte der Einzelne vor, die direkt durch die Verfälschung beeinträchtigt werden, weshalb der Schaden eines anderen oder die Absicht von dessen Verursachung ein wesentliches Merkmal dieser Delikte ist“87. Die bloße Verfälschung der Privaturkunde stellt kein Verbrechen dar, denn damit wird weder ein Privat- noch ein öffentliches Interesse beeinträchtigt. Damit sie zum Delikt wird, muss ein Schaden eines anderen oder wenigstens die Absicht, einen solchen zu verursachen, hinzukommen88. Ein Nachteil liegt nicht nur vor, wenn es um das Vermögen eines Dritten geht, sondern auch dann, wenn die Ehre und der Ruf beeinträchtigt werden89. Im Ergebnis folgen das Strafgesetzbuch von 1822 und das Gesetzbuch aus den Jahren 1848/1850 der gleichen Strafgesetzgebungstechnik des Code pénal in dem Sinne, dass dem Grunde nach die Begehung der Fälschung („falsedad“) unter Strafe gestellt wird, um dann anschließend unterschiedliche Begehungsweisen der Fälschung zu beschreiben. Seit dem auf der Setena Partida beruhenden lakonischen Begriff von García Goyena wird die Fälschung dementsprechend als „Veränderung oder Entstellung der Wahrheit“ aufgefasst. Nun bezieht sich die Entstellung der Wahrheit auf eine Urkunde, die in weitem Sinne als alles, was ein Recht beweist oder eine Klage absichert, verstanden wird. Dementsprechend geht es weder um die „reelle“ noch um die bloße „verbale Fälschung“, sondern um den Mangel an Wahrheit bei der schriftlichen Erzählung der Dinge. Die so aufgefasste Urkundenfälschung ist nur dann strafbar, wenn sie unter eine der im Strafgesetzbuch (Art. 398 CP 1822; Art. 226 CP 1848/50; Art. 314 CP 1870) beschriebenen Begehungsweisen der Fälschung fällt. Diese Begehungsweisen der Urkundenfälschung können sowohl materiell als auch nicht materiell erfolgen. Im Tatbestand der Fälschung von Privaturkunden (Art. 408 CP 1822; Art. 228 CP 1848/1850; Art. 318 CP 1870) wird im Unterschied zum Code pénal ausdrücklich gefordert, dass die Fälschung zum Schaden eines Dritten oder wenigstens in der Absicht, einen solchen Nachteil zuzufügen, begangen werden muss. Diese ausdrückliche Forderung zwingt die Lehre dazu, den Unrechtsgehalt der Fälschung öffentlicher Urkunden als Verstoß gegen den öffentlichen Glauben vom Unrecht der Privaturkundenfälschung als Angriff gegen die Rechte des Einzelnen abzugrenzen.
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Groizard y Gómez de la Serna (Fn. 80), S. 633. Groizard y Gómez de la Serna (Fn. 80), S. 636. 89 Viada y Villaseca (Fn. 81), S. 426.
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3. Die deutsche Strafrechtswissenschaft und das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 a) Die Diskussion über den Strafgrund der Fälschung Am Anfang der deutschen Strafrechtswissenschaft wird über die noch unklare Beziehung zwischen dem „crimen falsi“ und dem „stellionatus“ diskutiert. Die Diskussion wird in einem Kontext ausgelöst, in dem die Partikularrechte wie z. B. das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 und das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 galten und ein nationales Strafgesetzbuch noch nicht entstanden war. Deshalb versucht die Strafrechtswissenschaft dieser Zeit, ein auf dem Römischen Recht beruhendes Gemeinrecht zu entwerfen und insoweit diskutiert sie unter stetigen Hinweisen auf dessen Quellen. Es ist beachtlich, dass die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V (Constitutio Criminalis Carolina von 1532) von den römischen Quellen abwich und die Fälschung nach einer Strafgesetzgebungstechnik unter Strafe stellte (Art. 112 C.C.C.)90, die die Fälschung vom Betrug tendenziell abgrenzte und somit die Systematik der modernen Strafgesetzbücher vorwegnahm91. Gerade diese ausdifferenzierte Gesetzgebungstechnik ließ bestimmte Strafbarkeitslücken entstehen, die bald anhand einer dem weiteren, von der altitalienischen Lehre entwickelten Falsumsbegriff gemäßen Auslegung der Bestimmungen der Carolina geschlossen wurden92. Dieser Kontext kann wohl erklären, warum sich die Diskussion der deutschen Strafrechtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Strafgrund der Fälschung und die Beziehung zum Betrug konzentriert. Der Strafgrund kann nicht schon mit Blick auf den Handlungsunwert der Fälschung als Entstellung der Wahrheit erklärt werden. Schon um die Jahrhundertwende ist die Strafrechtswissenschaft auf der Suche nach einem Gut bzw. Recht, das korrelativ vor der Fälschungshandlung strafrechtlich schutzwürdig sein kann. Soweit ersichtlich ist der erste Vorschlag von Kleinschrod entworfen worden, in dem Sinne, dass durch die Verfälschung das Eigentum der Menschen verletzt werde. Die Verfälschung beschädigt jedoch nicht nur das Eigentum, sondern kann auch für andere 90
Art. 112 CCC: „Item welche falsch siegel, brieff, instrument, vrbar, renth oder zinßbücher, oder register machen, die sollen an leib oder leben, nach dem die felschung vil oder wenig boßhaftig vnd schedlich geschicht, nach radt der rechtuerstendigen, oder sunst als zu ende diser ordnung vermeldet, peinlich gestraft werden“. 91 Kienapfel, Urkunden im Strafrecht, 1967, S. 23, 33, nennt diese Strafgesetzgebungstechnik Prinzip der autononem Sonderverbrechen, wobei zuerst die Gewährschaftsträger individualisiert und dann unter Schutz genommen werden; vgl. auch Brockhaus, Zeitschrift für die Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS), 11/2008, 559; dieser Untersuchung fühlt sich der Autor dieses Beitrags sehr verpflichtet, obwohl er zu einem ihr entgegengesetzten Ergebnis kommt. 92 Vgl. Hälschner, System des preußischen Strafrechts, 2. Theil, 1868, S. 343; Kienapfel (Fn. 91), S. 34 f.; der Falsumsbegriff folgt dem Prinzip des vorgeschalteten Sammelbegriffs, demgemäß der Falsumsbegriff als Entstellung der Wahrheit vorgeschaltet wird und dann unterschiedliche Typen beschrieben werden, die den gemeinsamen Begriff exemplifizieren, ders., a.a.O., S. 23.
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Rechte nachteilig sein, wie z. B. bei der falschen Aussage das Leben gefährdet sein oder der verfälschte Wein die Gesundheit beeinträchtigen kann. Die grundsätzlich das Eigentum schädigende Verfälschung kann alsdann in ein Delikt gegen andere Rechte übergehen und wird deshalb als Verbrechen gegen das Eigentum betrachtet93. Aber das Eigentum wird insofern nicht im modernen juristischen Sinne verstanden, sondern vielmehr als eine Vorbedingung anderer Rechte, die bereits durch die Fälschung beeinträchtigt wird94. Das Verbrechen der Fälschung besteht nach Kleinschrod in einer Unterdrückung oder Veränderung der Wahrheit, die aber wiederum nicht an sich, objektiv betrachtet wird, denn die Wahrheit ist als solche unveränderlich. Subjektiv gesehen ist es jedoch möglich, dass jemand einen anderen dazu verleitet, etwas für wahr oder richtig zu halten, was es nicht ist95. Demnach ist das Eigentum des anderen schon verletzt, wenn dieser infolge der Verfälschung einem Irrtum unterliegen kann und mittelbar andere Rechte beeinträchtigt werden können. Damit dieses Verbrechen vorliegen kann, muss die Tat die Merkmale des dolus, der Unterdrückung oder Veränderung der Wahrheit und des erfolgten Schadens aufweisen96. Wenn die Verfälschung als ein Verbrechen gegen das Eigentum der Menschen betrachtet wird, kann es erst dann vollendet sein, wenn das Eigentum wirklich verletzt worden ist. Dementsprechend liegt nur ein Versuch vor, wenn etwa eine Urkunde verfälscht, aber von ihr noch kein Gebrauch gemacht wird, oder wenn Waren abgefertigt, jedoch noch nicht verkauft worden sind97. In die gleiche Richtung versteht Feuerbach den Betrug als Fälschung im weiteren Sinne, nämlich als die beabsichtigte rechtswidrige Täuschung anderer durch Mitteilung falscher oder Vorenthaltung wahrer Tatsachen98. Feuerbach zieht also die Kategorie des „crimen falsi“ heran, um die Fälschung im engeren Sinne, einschließlich der Urkundenfälschung, und den Betrug zugleich zu erklären99. Dementsprechend müssen beide Delikte die Merkmale der Entstellung der Wahrheit, des Schadens eines anderen und des dolus aufweisen. Das erste Merkmal wird als eine täuschende Handlung verstanden, die negativ durch Vorenthaltung wahrer Tatsachen („oppresio veritatis“) oder positiv durch tätige Mitteilung falscher Tatsachen („immutatio veritatis“) ausgeführt wird100. Zweitens muss die täuschende Handlung zum Nachteil der Rechte eines anderen durchgeführt werden, sei es als Verletzung der wirklichen Rechtsobjekte oder wenigstens als Widerspruch zum Recht des anderen auf die Unterlassung der täuschenden Handlung101. 93
Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts, Bd. II, 1. Teil, 1799, 140 f. Vgl. dazu Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 118. 95 Kleinschrod, ACR 1799, 141. 96 Kleinschrod, ACR 1799, 147 ff. 97 Kleinschrod, ACR 1799, 152 f. 98 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 2. Neudruck der 14. Aufl., Giessen 1847, Aalen 1986, § 410 (S. 647). 99 Feuerbach (Fn. 98), § 415 (S. 670). 100 Feuerbach (Fn. 98), § 411 (S. 661). 101 Feuerbach (Fn. 98), § 412 (S. 665). 94
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Diese Ansätze, die die Existenz eines Rechts auf Wahrheit nur dem Grunde nach andeuten, lehnt Klien entschieden ab: „Aber ein Recht auf Wahrhaftigkeit, d. h. ein Recht, von dem Andern zu verlangen, dass er im Reden und Handeln Wahrheit verkünde und Täuschung vermeide, giebt es nicht!“102. Die bloße Missachtung der Wahrheit ist im Bereich der Moral und der Ethik relevant. Damit ein Verhalten als rechtswidrig bewertet werden kann, muss es die Rechte anderer stören. Denn das Recht gebietet es nicht, positive Leistungen zum Vorteil anderer zu erbringen. Eine Störung der Rechte anderer liegt etwa vor, wenn sich jemand des Mittels der Sprache bedient oder sonst andere Handlungen unternimmt, wodurch bei einem mit Rechten begabten Wesen falsche Vorstellungen erweckt und nun vermittels dieser Täuschung dessen Rechte beeinträchtigt werden wie bei jemandem, der Gewalt ausübt103. Es gehört jedoch nicht zur Fälschung oder Verfälschung, dass ein Dritter durch das falsche Produkt wirklich schon getäuscht wurde. Somit stellt Klien sogar die Existenz eines Objekts des Fälschungsverbrechens in Frage. Objekt des Delikts kann die Wahrheit selbst nicht sein, „denn die Wahrheit bleibt stets, was sie war. Sie ist einer Veränderung oder Verfälschung niemals, sondern nur einer Unterdrückung oder Vorenthaltung unterworfen“104. Deswegen kann es ein Recht auf die unveränderliche Erhaltung der Wahrheit nicht geben. Aber schon Kleinschrod erkannte, dass die Wahrheit, die durch Verfälschung verändert wird, nicht die objektiv betrachtete Wahrheit an sich ist, sondern vielmehr die Wahrheit im subjektiven Sinne. Und es ist diese subjektive Wahrheit, die durch das Verhalten der Fälschung als Entstellung der Wahrheit beeinträchtigt werden kann, soweit jemand etwas für wahr oder richtig halten kann, was es nicht ist. Cucumus stellt klar, dass es zur Vollendung des Verbrechens der Fälschung nicht erforderlich ist, dass jemand dadurch tatsächlich getäuscht wird. Die eingetretene Täuschung ist eine Forderung des „stellionatus“, des Betrugs, zu dessen Vollendung also die bloße Lüge oder Verstellung nicht ausreicht. Damit das Verbrechen der Fälschung vollendet sei, müsse das Recht auf Wahrheit verletzt sein105. Soweit ersichtlich ist es also erst Cucumus, der 1829 zum ersten Mal das Recht auf Wahrheit ausdrücklich heranzieht, um den Strafgrund der Fälschung zu erklären. Das Recht auf Wahrheit ist jedoch nicht schon durch die bloße Handlung, etwa durch die Herstellung der Fälschung, sondern erst durch den Gebrauch derselben verletzt106. Dementsprechend wird das Recht auf Wahrheit erst dann verletzt, wenn durch die Handlung ein falscher Erkenntnissgrund erzeugt wird, der fortwirkt oder fortwirken kann. Dessen Schutz lässt sich jedoch nur dann rechtfertigen, wenn das Recht auf Wahrheit eine Vorbedingung für die Integrität anderer Rechte ist, wie z. B. das Leben, die Gesundheit oder
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Klien, Neues Archiv des Criminalrechts 1816, 138 f. Klien, NCR 1816, 139 f. 104 Klien, NCR 1816, 133. 105 Cucumus, Neues Archiv des Criminalrechts (1829), 516 f. 106 Cucumus, NCR 1829, 521 ff.
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das Eigentum107. Wie erst Anton Bauer endgültig klarlegte, geht es hierbei um das negative Recht, das alle Menschen innehaben, und zwar von anderen zu fordern, Entstellungen der Wahrheit, durch die andere Rechte beeinträchtigt werden können, zu unterlassen. In diesem Sinne stimmt Bauer Klien zu, dass es sich hier nicht um ein selbständiges Recht handelt, dessen Schutz aus ihm selbst gerechtfertigt werden kann. Das Recht auf Wahrheit ist nicht mehr als ein Ausfluss des allgemeinen Rechts aller, von anderen zu fordern, rechtsverletzende Handlungen zu unterlassen108. Es handelt sich mit anderen Worten beim Recht auf Wahrheit um eine Ausprägung des „neminem laede“109. Ein positives Recht auf Wahrheit in dem Sinne, dass man von einem anderen die positive Leistung, die Wahrheit zu erklären, einfordern kann, gibt es nur ausnahmsweise bei Verhältnissen des öffentlichen Rechts, wobei der Staat seinen Untertanen oder Bürgern solche positiven Pflichten auferlegen kann, oder bei bestimmten Verhältnissen des Privatrechts110. Darin liegt mit Bauer der unterschiedliche Strafgrund von Fälschung und Betrug. Der Strafgrund der Fälschung besteht in der Gefahr einer schädigenden Täuschung, die aus der Verletzung des Rechts auf Wahrheit entspringt. Beim Betrug liegt der Strafgrund darin begründet, dass ein Nachteil durch Täuschung tatsächlich eingetreten ist. Dementsprechend ist die Fälschung vollendet, wenn das Recht auf Wahrheit verletzt worden ist. Beim Betrug jedoch muss zur Vollendung die Täuschung tatsächlich erfolgen111. Eine andere Lehre zur Erklärung des Strafgrunds der Fälschung ist die Lehre von der fides publica als Gegensatz zum Recht auf Wahrheit. Das geschützte Objekt ist dieser Lehre nach, die zum ersten Mal in Deutschland von Roßhirt entworfen wurde, der gute Glauben im Sinne des öffentlichen Vertrauens („gemeines Gefühl“)112. Indes kommt dem Vorschlag von Roßhirt eine nicht zu unterschätzende interindividuelle Bedeutung zu, denn der gute Glauben wird im Sinne einer Beziehung, die eine Person mit einer anderen verbindet, aufgefasst. Ein Verstoß gegen den guten Glauben erlangt jedoch nicht nur im Rahmen dieser Beziehung, sondern auch beim öffentlichen Interesse Bedeutung. Deshalb kann die Vollendung bei der Fälschung nicht wie beim Betrug von den privatrechtlichen Folgen, der Schadensfeststellung, abhängen113. So verstanden weicht der gute Glauben in seiner interindividuellen Dimension von der Lehre des Rechts auf Wahrheit nicht zu sehr ab. Das, was diese letztgenannte Lehre Recht nennt, wird umformuliert im Sinne einer kognitiven Erwartung auf das Verhalten des anderen. Erst bei der Ansicht von Ortloff wird der gute Glauben als ein allgemeines Vertrauen aufgefasst, das sich auf bestimmte Echtheitsformen von Verhält107
Cucumus, NCR 1829, 685 f.; vgl. dazu Pawlik (Fn. 94), S. 118 f. Bauer, Lehrbuch des Strafrechtes, 2. Aufl. 1833, § 269 (S. 385 f.), siehe Fn. b) (S. 387). 109 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1968, AB 43, 44 (S. 344), die zweite allgemeine Pflicht des Menschen nach dem Ulpianus: „2. tue niemanden Unrecht“. 110 Bauer (Fn. 108), § 269 (S. 386). 111 Bauer (Fn. 108), § 272 (S. 391 ff.). 112 Roßhirt, Geschichte und System des deutschen Strafrechts, 3. Theil, 2. Abtheilung, 1839, S. 13. 113 Roßhirt (Fn. 112), S. 23. 108
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nissen und Sachen bezieht114, und somit schlägt dieser Begriff einen Weg ein, der sich allmählich von der Lehre des Rechts auf Wahrheit distanziert115. b) Die historische Bedeutung des Preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich die deutsche Strafrechtswissenschaft vornehmlich mit dem Strafgrund der Fälschung und dem Unterschied zum Betrug auseinander. Im Zeitraum vor dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 besteht kein dem Code pénal vergleichbares nationales Strafgesetzbuch, so dass sich die deutsche Lehre auf die Partikulargesetze beziehen musste. Weil das Augenmerk nur auf den Strafgrund der Fälschung gelegt wird, wird in diesem Zeitraum von der Lehre noch kein Urkundenbegriff entworfen116. Einen Wendepunkt markiert in diesem Sinne das Preußische Strafgesetzbuch vom 14. April 1851, dessen § 247 Absatz 2 eine Begriffsbestimmung der Urkunde enthält: „Unter Urkunde ist jede Schrift zu verstehen, welche zum Beweis von Verträgen, Verfügungen, Verpflichtungen, Befreiungen oder überhaupt von Rechten oder Rechtsverhältnissen von Erheblichkeit ist“.
Die Bestimmung hat ihren Grund in der Diskussion des preußischen Gesetzgebers über die Gefahr der Weite, die die Bestrafung der Fälschung bei jeglichen Schriftstücken erreichen konnte. Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts beginnt ein Prozess der Ausdehnung und Verbreitung des Lesens und Schreibens in der Bevölkerung, so dass es nicht mehr notwendig ist, einen Schreibenden zur Erstellung oder Veränderung einer Urkunde einzuschalten. Mit diesem Entwicklungsprozess rücken aber zugleich auch die Erfordernisse, die an den Inhalt einer Urkunde zu stellen sind, in den Vordergrund, um sie lediglich auf Schriftstücke mit Rechtswirkungen zu beschränken. Vorher kamen solchen Inhaltserfordernissen keine erhebliche Bedeutung zu, denn soweit ein Schreibender einzuschalten war, wurde die rechtliche Bedeutung der Schrift vorausgesetzt117. Deshalb zielte der preußische Gesetzgeber mit dieser gesetzlichen Begriffsbestimmung darauf ab, gerade den Anwendungsbereich der Strafe 114
Ortloff, Lüge, Fälschung, Betrug, 1862, S. 238 ff. Hälschner (Fn. 92), S. 336 (Fn. 1), 348 (Fn. 2), lehnt die Lehre des Rechts auf Wahrheit als Objekt der Fälschung ab und teilt die Ansicht Roßhirts in dem Sinne, dass sie die fides publica verletzt; im Hinblick auf den Betrug meint er aber: „hat niemand ein unbeschränktes Recht darauf, vom Andern die thatsächliche Wahrheit in allen Beziehungen mitgeteilt zu erhalten, so doch ein Recht darauf, nicht absichtlich zum Zwecke seiner Beschädigung in der Erkenntnis der Thatsachen irre geführt zu werden“ (S. 369); vgl. ders., Das gemeine deutsche Strafrecht, Bd. II, Besonderer Theil des Systems, 2. Abtheilung, 1887, S. 514 ff., zur Lehre der fides publica; bezogen auf die Urkundenfälschung, S. 540 f.; in diesem Sinne auch Merkel, A. (Fn. 21), S. 15 f., 34 f. 116 Merkel, P., Die Urkunden im deutschen Strafrecht. Eine historische und kritisch-dogmatische Untersuchung, 1902, S. 87 ff., S. 91. 117 Merkel, P. (Fn. 116), S. 33, 81 ff. 115
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auf die Fälschung von rechtlich erheblichen Schriftstücken einzuschränken118. Dementsprechend liegt eine strafrechtlich relevante Urkunde vor, wenn das Schriftstück eine erhebliche Tatsache beweisen kann. Seine Verfälschung muss tatsächlich geeignet sein, einen bestimmten Nachteil herbeizuführen. Das Recht eines Dritten muss tatsächlich durch die Verfälschung beeinträchtigt sein. Es geht also um einen teleologisch orientierten Begriff, der eher an die Gesetzgebungstechnik der Franzosen erinnert119. Hinter der kasuistischen Formel der „Beweiserheblichkeit“, „deren französiche Herkunft der schwerfällige deutsche Gesetzesstil gut zu kaschieren weiß“, steckt das Merkmal des römisch-französischen Fälschungsbegriffs, nämlich die Schadensmöglichkeit, das mittelalterliche „apta nocere“ in seiner französischen Ausprägung120. Die gesetzliche Begriffsbestimmung des § 247 Absatz 2 ist folgerichtig keine neue Schöpfung, „sondern lediglich ein Reflex des französischen Fälschungsbegriffs“121. Diese Gesetzgebungstechnik ist von Paul Merkel kritisiert worden: „Das deutsche Strafrecht war von den Urkunden ausgegangen, das französische von der Fälschung; Preußens Gesetzgeber vermengten beide Prinzipien und gelangten so zu einer von der Fälschungshandlung abhängigen Urkundendefinition, mit anderen Worten: man erklärte von allen Schriftsstücken diejenigen für Urkunden, durch deren Fälschungen Andere an ihren Rechten Schaden erleiden müssen“122.
Durch diesen Kompromiss unterschiedlicher Systeme wurde zugleich der Urkundenbegriff mit den von der französischen Lehre diskutierten Zweifeln über die Schadensmöglichkeit als Beweiserheblichkeit belastet123. Diese Klausel der „Erheblichkeit“ erhielt das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 aufrecht, jedoch nur als ausdrückliche Forderung bei der Fälschung von Privaturkunden (§ 267 RStGB). Der Gesetzgeber dieses ersten nationalen Strafgesetzbuchs entscheidet sich grundsätzlich dazu, die Begriffsbestimmung wegen der Unsicherheit einer Legaldefinition und der als zu weit angesehenen Einschränkung zu streichen, aber die Klausel der „Beweiserheblichkeit“ beizubehalten, jedoch nur mit Bezug auf die Fälschung bei Privaturkunden124. Dieses Merkmal der „Beweiserheblichkeit“ wird anschließend, gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, zum Drehpunkt der Diskussion125. Es war die Geburtsstunde der fein ausdifferenzierten und somit fruchtbaren deutschen Urkundendogmatik. 118
Merkel, P. (Fn. 116), S. 46 f. Merkel, P. (Fn. 116), S. 47. 120 Kienapfel (Fn. 91), S. 26 f., 275 f.; Prechtel, Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, 2005, S. 36. 121 Kienapfel (Fn. 91), S. 27 (Herv. im Original); spricht von einer „Verpflanzung“ der Schadensmöglichkeit aus dem französischen Fälschungsbegriff in die Definition der Urkunde. 122 Merkel, P. (Fn. 116), S. 47. 123 Kienapfel (Fn. 91), S. 27. 124 Prechtel (Fn. 120), S. 49 f. 125 Merkel, P. (Fn. 116), S. 285 ff., erwähnt sechs (6) Theorien nur über die Bedeutung dieses Merkmals um die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. 119
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III. Ergebnisse 1. Der Ursprung des Namens Urkundenfälschung liegt im Römischen Strafrecht, genauer im Zeitraum, in dem die von der lex Cornelia de falsis (81 v. Chr.) ursprünglich lediglich für die Testaments- und Münzfälschung vorgesehene Bestrafung auf die Fälschung bei allen öffentlichen oder privaten Urkunden erweitert wurde. Diese Erweiterung fand ab der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. durch die Jurisprudenz statt. 2. Einen Begriff des „crimen falsi“ stellt erstmals die altitalienische Lehre auf. Das Grundmerkmal des Begriffs ist von Azo bei einer Glosse zum corpus iuris civilis als Entstellung der Wahrheit („mutatio veritatis“) aufgefasst worden. Dieser Begriff des „crimen falsi“ als Entstellung der Wahrheit schließt die unterschiedlichen Verhaltensweisen, die im Römischen Strafrecht mit der Strafe des „crimen falsi“ geahndet waren, ein, z. B. die Testamentsfälschung, die Urkundenfälschung, die falsche Aussage und bestimmte Fälle der Käuflichkeit im Zusammenhang mit der Justiz. Das Verbrechen der Urkundenfälschung ist also eine Art des „crimen falsi“, und deswegen besteht es in der mit Vorsatz durchgeführten Entstellung der Wahrheit bei einer Urkunde. 3. Die Wahrheit wird in einem subjektiven, nicht objektiven Sinne aufgefasst. D. h. sie besteht nicht in einer Eigenschaft der Gegenstände selbst, sondern vielmehr in einer Eigenschaft des Wahrnehmenden im Sinne einer Kongruenz zwischen der Vorstellung und den Verhältnissen der wahrgenommenen Gegenstände. Dementsprechend ist Fälschung ein Verhalten, das eine Diskrepanz zwischen der Vorstellung des Subjekts und den Verhältnissen der wahrgenommenen Gegenstände, d. h. einen Irrtum auslöst oder auslösen kann. 4. Das Merkmal des Schadens eines anderen („praejudicium alterius“) ist weder ein zusätzliches noch ein wesentliches Element des Verbrechens der Fälschung. Es erfüllt vielmehr eine negative Funktion, d. h. es dient dem Ausschluss solcher Entstellungen der Wahrheit aus dem strafbaren Bereich, die nicht geeignet sind, ein Schaden zu verursachen, nämlich eine falsche Vorstellung auszulösen. Positiv gewendet geht es hierbei um eine Relevanzklausel der mutatio veritatis, d. h. sie macht das Verbrechen der Fälschung lediglich dann aus, wenn sie geeignet ist, ein Irrtum bei einem anderen zu verursachen. 5. Der Begriff des „crimen falsi“ in diesem Sinne, d. h. als vorsätzliche Entstellung der Wahrheit zum Nachteil eines Dritten, liegt sowohl den Bestimmungen des Code pénal über die Urkundenfälschung als auch der spanischen strafrechtlichen Kodifikation (1822 – 1848/50 – 1870) zugrunde. Es ist möglich, bei beiden Normenordnungen gemeinsame Merkmale festzulegen. Die Systematik ist so aufgebaut, dass zuerst ein Tatbestand über die Fälschung von öffentlichen Urkunden vorgesehen wird, dem ein Tatbestand über die Fälschung bei Privaturkunden folgt. Zweitens besteht die Technik der Strafgesetzgebung in der Beschreibung unterschiedlicher Verhaltensweisen der strafbaren Fälschung und es wird, mit Bezug auf die Privaturkunden, wenn nicht vom Gesetz selbst, dann doch von
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der Lehre ausdrücklich ein Schaden eines anderen als Element des Delikts gefordert. 6. Der Begriff des falsum in diesem Sinne liegt auch, vermittelt durch das Preußische Strafgesetzbuch, den Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 über Urkundenfälschung zugrunde, aber die Systematik ist anders ausgebildet: zunächst der Tatbestand der Urkundenfälschung und dann die Tatbestände der Fälschung bei öffentlichen Urkunden. Die Strafgesetzgebungstechnik beschreibt auch Begehungsweisen, aber nur in ihren Grundzügen. Mit Bezug auf die Fälschung von Privaturkunden wird eine Klausel der Beweiserheblichkeit vorgesehen, die die gleiche Funktion des Erfordernisses des Schadens eines anderen erfüllt, nun anders als Eigenschaft der Urkunden selbst und nicht als Eigenschaft des Verhaltens.
Ausdehnung und Einschränkung der Bestechungstatbestände: Das Beispiel der Schulfotografie Von Lothar Kuhlen
I. Die Bestechungsdelikte der §§ 331 ff.1 stellen Rechtspraxis und -dogmatik immer wieder vor interessante, teilweise auch überraschende Probleme. Ihre Entwicklung liegt im Trend einer „Expansion des Strafrechts“,2 der aktuell vor allem an der Internationalisierung einer strafrechtlichen Materie deutlich wird, die traditionell allein die Lauterkeit3 des öffentlichen Dienstes in Deutschland schützen sollte. Seit 1998 bezieht das EUBestG Amtsträger des EU-Auslandes in den Täterkreis der Bestechlichkeit ein.4 Das IntBestG aus dem gleichen Jahr stellt sogar die zu Geschäftszwecken erfolgende Bestechung von Amtsträgern weltweit unter Strafe und hat damit nicht nur den Anwendungsbereich von § 334 erweitert, sondern einen eigenständigen neuen Straftatbestand geschaffen.5 Die auch von Deutschland unterschriebene „Criminal Law Convention on Corruption“ des Europarats vom 27. 01. 1999 sieht eine noch wesentlich weitergehende Ausdehnung der deutschen Bestechungsdelikte auf die Korruption ausländischer Amtsträger vor.6 Freilich hat der Deutsche Bundestag das Zustimmungsgesetz zu dieser Konvention bislang nicht beschlossen und auch der Entwurf der Bundesregierung für ein „Zweites Korruptionsbekämpfungsgesetz“ aus dem Jahr 2007 ist nicht
1 Einführende Darstellung bei Kuhlen, JuS 2011, 673 ff. Paragrafen ohne Gesetzesangabe sind solche des StGB. 2 Dazu Silva Sánchez, Die Expansion des Strafrechts, 2003; ders., GA 2010, 307. 3 Oder wie sonst man das Rechtsgut der Bestechungsdelikte genauer umschreiben mag. Dazu NK-StGB/Kuhlen, 4. Aufl. 2013, § 331 Rn. 9 ff. 4 NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 332 Rn. 2. 5 NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 334 Rn. 3a-h. Eingehend dazu Horrer, Bestechung durch deutsche Unternehmen im Ausland. Strafrechtsentwicklung und Probleme, 2011; Münkel, Die Bestechung und die Bestechlichkeit ausländischer Amtsträger. De lege late und de lege ferenda, 2013, 3. Kapitel. 6 Im Einzelnen dazu, sowie zur „United Nations Convention on Corruption“ vom 31. 10. 2003, Münkel (Fn. 5), S. 255 ff.
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Gesetz geworden.7 Ohnehin ist es derzeit eine offene Frage, ob die Internationalisierung des deutschen Bestechungsstrafrechts durch den Gesetzgeber praktische Bedeutung gewinnen wird oder ob es bei ihrer einstweilen eher symbolischen Funktion bleibt.
II. Unbestreitbare praktische Relevanz hat demgegenüber die Ausweitung der deutschen Bestechungsdelikte für inländische Sachverhalte durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz von 1997. Insbesondere die Erstreckung der Tatbestände auf Empfang und Gewährung von Drittvorteilen8 und die Lockerung der Unrechtsvereinbarung bei Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung, wo nunmehr bereits Zuwendungen für die bloße „Dienstausübung“ genügen,9 haben dazu geführt, dass jedenfalls §§ 331 Abs. 1 und 333 Abs. 1 ihrem heutigen Wortlaut nach auf eine Vielzahl nicht strafwürdiger Verhaltensweisen anwendbar sind. Man kann die „uferlose Weite“ dieser Tatbestände10 zum Anlass nehmen, sie wegen fehlender Bestimmtheit für verfassungswidrig zu erklären.11 Das ist jedoch eine eher akademisch vertretbare, als praktisch aussichtsreiche Position. Ganz überwiegend findet man sich vielmehr mit der erheblichen Unbestimmtheit der §§ 331 ff. wie auch vieler anderer Straftatbestände ab.12 Zunehmend und zu Recht betont man jedoch, dass damit den Gerichten eine neue Aufgabe und Verantwortung zuwächst, nämlich durch entsprechende Auslegung der Gesetze für die diesen selbst noch fehlende Präzision zu sorgen und so dem Bürger eine Orientierung, wenn schon nicht am Strafgesetz, so doch am richterlich ausgelegten Strafrecht zu ermöglichen. Besonders klar hat diesen Zusammenhang das BVerfG in seinem Beschluss zur Untreue13 hergestellt, der einerseits annimmt, 7 Dies vor allem deshalb, weil sich der Bundestag nicht dazu entschließen konnte, eine Strafbarkeit der Vorteilsannahme und Bestechlichkeit von Abgeordneten einzuführen, die deutlich über den derzeitigen § 108e hinausgeht, der geradezu darauf angelegt ist, keine Anwendung zu finden, da er nur den Stimmenkauf oder -verkauf erfasst (kritisch dazu etwa BGHSt 51, 44 Rn. 47). 8 Dazu NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 47 ff. 9 Dazu NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 64, 80 ff. 10 So Knauer/Kaspar, GA 2005, 385, 391; LK-StGB/Sowada, 12. Aufl. 2010, § 331 Rn. 76. 11 So für § 331 Kaiser, Drittmittel, Sponsoring und Fundraising – rechtskonforme Finanzierung öffentlicher Aufgaben oder Einstieg in die Korruption?, 2008, S. 136 ff; Friedhoff, Die straflose Vorteilsannahme, 2012, S. 81 ff. 12 Wofür es gute Gründe gibt. Vgl. Kuhlen, Zur Praxis des Bestimmtheitsgrundsatzes in Deutschland, in: Hilgendorf/Liang (Hrsg.), Das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht, 2013. Zur Begrifflichkeit (Unbestimmtheit im rechtstheoretischen und im verfassungsrechtlichen Sinne) s. Kuhlen, in: Murmann (Hrsg.), Recht ohne Regeln? Die Entformalisierung des Strafrechts, 2011, S. 19, 22 f. 13 BVerfG NJW 2010, 3209.
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§ 266 sei mit dem Bestimmtheitsgrundsatz „noch zu vereinbaren“ (Rn. 85), andererseits betont, dass die Strafgerichte einem „Präzisierungsgebot“ unterliegen (Rn. 81), das verlangt, die dem Gesetz noch anhaftende Unbestimmtheit „im Wege der Auslegung“ nach Möglichkeit auszuräumen (Rn. 81),14 was für § 266 eine restriktive Auslegung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen erfordere.15 Unabhängig von dieser verfassungsrechtlichen Frage ist es jedenfalls strafrechtlich geboten,16 die zu weit gefassten Bestechungstatbestände so restriktiv zu handhaben, dass sie nur strafwürdige Handlungen erfassen.17 Dieses Sachgebot18 hat Vorrang vor Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Gesetzessystematik als klassischen Topoi der juristischen Methodenlehre und kann statt einer restriktiven Auslegung auch eine Reduktion des gesetzlichen Straftatbestandes erzwingen.19 Dass das ersichtlich wertungsabhängige Urteil über die Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen20 de lege lata eine bedeutsame Rolle bei der erforderlichen Abgrenzung zwischen zulässiger Kooperation von Amtsträgern und Privaten und strafbarer Korruption spielt,21 ist mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz zweifellos problematisch.22 Aber es gibt, solange man nicht die einschlägigen Strafgesetze wegen Unbestimmtheit für verfassungswidrig erklärt, dazu keine vernünftige Alternative.
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Dazu Saliger, NJW 2010, 3195 ff.; Kuhlen, JR 2011, 246, 248 ff. So BVerfG NJW 2010, 3209 Rn. 93 ff. zum Kreis der Vermögensbetreuungsverpflichteten, Rn. 96 ff. zur Pflichtwidrigkeit und Rn. 100 ff. zum Nachteil. 16 Zu dieser Unterscheidung Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 74 ff. 17 Vgl. dazu Frisch, FS für Walter Stree und Johannes Wessels, 1993, S. 69 ff.; Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 23 Rn. 34 ff. 18 Das man methodologisch der teleologischen Auslegung (oder Reduktion) zuordnen mag. 19 Eine Grenze findet es lediglich dort, wo ein den möglichen Wortsinn übersteigender Eingriff in den Gesetzeswortlaut gegen eine klare Entscheidung des Gesetzgebers verstößt. Dazu Kuhlen (Fn. 16), S. 60 ff. 20 Vgl. dazu die, in Auseinandersetzung mit der Position Frischs entwickelte, skeptische Beurteilung bei Kuhlen, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 77 ff.; aber auch Kuhlen, Grundfragen der strafbaren Steuerhinterziehung, 2012, S. 87 ff., 93 ff., 108 ff. und passim, wo in Übereinstimmung mit der von Frisch schon früher vertretenen Auffassung die Strafwürdigkeit als wichtiges und durchaus gehaltvolles Kriterium betrachtet und verwendet wird. 21 Dazu Lüderssen, Die Zusammenarbeit von Medizinprodukteindustrie, Krankenhäusern und Ärzten – Strafbare Kollusion oder sinnvolle Kooperation?, 1998, sowie NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 96 ff. 22 Nach Kargl, JZ 2005, 503, 505 etwa zeigt die in der Krehmendahl-Entscheidung BGHSt 49, 275 vorgenommene „tatbestandliche Restriktion“ des § 331 Abs. 1 „in frappierender Deutlichkeit, daß das Gesetzlichkeitsprinzip praktisch nicht mehr existiert“. Und Hettinger, JZ 2009, 370, 372 charakterisiert anläßlich des EnBW-Urteils BGHSt 53, 6 die §§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1 folgendermaßen: „Sie ergänzen die prozessualen Opportunitätsregeln in kongenialer Weise: man kann jederzeit zupacken, aber man muss nicht ,müssen‘“. 15
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Zu Recht hat deshalb der BGH für wichtige Fallgruppen23 durch energisch in den Gesetzeswortlaut eingreifende Tatbestandsrestriktionen die Straflosigkeit nicht strafwürdiger Handlungen sichergestellt, obwohl die herkömmlichen Auslegungsmethoden eine geradezu „wasserdichte Übereinstimmung“ dieser Handlungen mit den gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen ergaben.24 Im Einzelnen bestehen für derartige Einschränkungen der §§ 331 ff. verschiedene dogmatische Möglichkeiten.25 Welche von ihnen man wählt, ist auch praktisch wichtig, weil sie nicht ergebnisäquivalent sind. Von entscheidender Bedeutung bleibt aber doch das Urteil über die Strafwürdigkeit, genauer: über die trotz zunächst unproblematisch erscheinender Subsumierbarkeit unter §§ 331 ff. fehlende Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen. Die Wertung, ein Verhalten sei keine strafwürdige Korruption, es wäre ein „Unding“26 und könne „nicht sein“,27 deswegen nach §§ 331 ff. zu bestrafen, kann die präzise Formulierung der darauf gestützten Restriktion und deren Integration in eine plausible Dogmatik der §§ 331 ff. nicht ersetzen. Aber sie gibt der Suche nach einer dogmatisch einleuchtenden Lösung Antrieb und Richtung. Und wo sie unterbleibt, bietet28 die methodisch korrekte Auslegung des zu weit gefassten 23 Nämlich für die Einwerbung von Drittmitteln durch Universitätsangehörige (BGHSt 47, 295; dazu NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 103 ff.) und für die Annahme von Parteispenden durch Amtsträger (BGHSt 49, 275; dazu NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 106 ff.). 24 So die Formulierung von Kargl, JZ 2005, 503, 506 zu BGHSt 49, 275. Anders freilich Korte, NStZ 2005, 512, 513. 25 Etwa das Ansetzen beim Vorteilsbegriff (vgl. NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 39 ff.), bei der Interpretation von Handlungen als Äquivalenzbeziehung (NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 84 ff.), bei der normativen Qualifikation eines Beziehungsverhältnisses als Unrechtsvereinbarung (NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 96 ff.) oder bei der Rechtfertigung von Vorteilsannahmen oder -gewährungen durch eine Genehmigung (NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 125 ff.). 26 So die Formulierung von Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 365, wo es zum Tatbestand der Rechtsbeugung treffend heißt: „Es wäre ein Unding, wollte die Rechtsordnung den Richter auch für den Fall des Zweifels, und zwar für jeden hier denkbaren Fall, unter Entscheidungszwang stellen, ihm aber zugleich bei Strafe verbieten, möglicherweise falsche Entscheidungen zu treffen“. Die Rechtsbeugung ist übrigens kein beliebiges Beispiel zur Illustration der hier interessierenden Problematik. Denn da der Rechtsbeugungstatbestand gegenüber den Gesetzen (wie §§ 331 ff.), durch deren fehlerhafte Anwendung das Recht gebeugt werden kann, auf einer Metaebene angesiedelt ist, muss seine Auslegung der Unbestimmtheit dieser Gesetze und den daraus resultierenden Anwendungsproblemen Rechnung tragen, etwa durch die von Frisch, aaO, S. 365 ff. vorgeschlagene Einschränkung des tatbestandsmäßigen Verhaltens bei der Rechtsbeugung oder durch das (von der Rechtsprechung aufgestellte, dem Gesetzeswortlaut von § 339 nicht zu entnehmende) Erfordernis eines besonders gravierenden Rechtsverstoßes. Dazu NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 339 Rn. 46 ff. 27 So BGH NJW 2007, 3446 Rn. 15 in der zweiten Entscheidung zur Einwerbung von Parteispenden. 28 Soweit es nicht um Fälle geht, die sich der bereits praktisch eingebürgerten Restriktionskasuistik, etwa zu universitären Drittmitteleinwerbungen oder zur Gewährung von Parteispenden an Amtsträger, einfügen lassen.
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Gesetzes allein keine ausreichende Gewähr für die Vermeidung inakzeptabler Ergebnisse.
III. Letzteres soll in der Folge exemplarisch verdeutlicht und vertieft werden. Als Beispiel dient ein denkbar unspektakulärer Fall, der dennoch Rechtsprechung und Literatur seit Jahren beschäftigt und Anlass zu kontroversen Stellungnahmen gegeben hat, nämlich die Durchführung sog. „Schulfotoaktionen“.29 1. Bei einer solchen Aktion30 macht ein Fotograf an einem mit der Schulleitung vereinbarten Tag in der Schule Fotos von Klassen und einzelnen Schülern. Mit Hilfe der Lehrkräfte werden die Fotos anschließend an die Schüler und deren Eltern verteilt und diesen zum Kauf angeboten. Bei Annahme des Kaufangebots nehmen die Lehrer das vereinbarte Entgelt entgegen, andernfalls sammeln sie die Bilder wieder ein, anschließend werden Geld und Bilder dem Fotografen ausgehändigt. Bei derartigen Aktionen machten bislang vielfach die Fotografen der betreffenden Schule, orientiert am Umsatz oder an der Zahl der fotografierten Schüler, als „Rabatt“, „Sponsoring“ oder „Aufwandsentschädigung“ bezeichnete Zuwendungen, indem sie etwa einer Klassenkasse Geld oder der Schule Geld- oder Sachleistungen, z. B. einen Laptop, zur Verfügung stellten. Die Durchführung von Schulfotoaktionen ist erlaubt, das Ob und das Wie einer Fotoaktion stehen im pflichtgemäßen Ermessen der Schulleitung (Rn. 8). Umstritten ist, ob die Gewährung und Annahme entsprechender Zuwendungen für die Schule nach §§ 331 ff. strafbar ist. Der 1. Zivilsenat des BGH hat 2005 diese Frage verneint, weil der PC, um den es dort ging, der Schule als angemessene Gegenleistung für deren Mitwirkung an der Fotoaktion zugewendet worden und deshalb kein Vorteil im Sinn der §§ 331 ff. gewesen sei.31 Demgegenüber hat das OLG Celle in einem derartigen Fall im Jahr 2007 das Hauptverfahren gegen zwei Fotografen eröffnet, denen die Anklage Bestechung in mehreren besonders schweren Fällen nach §§ 334 Abs. 1, 3 Nr. 2, 335 Abs. 1 Nr. 1b, Abs. 2 Nr. 3 1. Alt. (gewerbsmäßiges 29 Vgl. dazu BGH NJW 2006, 225; OLG Celle StV 2008, 251; BGH StV 2012, 19; Scheuch, Juris PR-BGH ZivR 15/2006 Anm. 3; Busch, NJW 2006, 1100; Ambos/Ziehn, StV 2008, 253; Zieschang, StV 2008, 253; Schlösser, StV 2011, 300; Zöller, ZJS 2011, 550; Kuhlen, JuS 2011, 673, 678; Hecker, JuS 2012, 655. Aus der Kommentarliteratur: Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 331 Rn. 12, 24a; Schönke/Schröder/Heine, StGB, 28. Aufl. 2010, § 331 Rn. 29b a.E.; NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 88 – 88c; SSW-StGB/Rosenau, 2009, § 331 Rn. 44; AnwK-StGB/Sommer, 2011, § 331 Rn. 48; LK-StGB/Sowada (Fn. 10), § 333 Rn. 16; Online-Kommentar StGB/Trüg, § 333 Rn. 3. 30 Die im Einzelnen unterschiedlich ausgestaltet sein kann. Die folgende Darstellung entspricht der Sachverhaltsgestaltung, auf die sich der Beschluss des BGH v. 26. 05. 2011 bezieht, siehe BGH StV 2012, 19 Rn. 2 f. (in der Folge wird dieser Beschluss meist lediglich mit den entsprechenden Randnoten zitiert). Vgl. auch die eingehende Schilderung verschiedener Fälle bei LG Hildesheim 11.05.2010 – 16 KLs 4252 Js 103632/04 Rn. 21 ff. 31 BGH NJW 2006, 225, 228 mit krit. Anm. Busch, NJW 2006, 1100 ff.
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Handeln) zur Last legte.32 Die Strafdrohung beträgt für die „einfache“ Bestechung Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren,33 für den hier angeklagten besonders schweren Fall Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren! Das LG Hildesheim sprach mit Urteil vom 11. 05. 2010 die Angeklagten vom Vorwurf der Bestechung frei und begründete das im Anschluss an das Urteil des 1. Zivilsenats damit, dass die Zuwendungen an die Schule vertraglich vereinbarte angemessene Gegenleistungen für deren organisatorischen Aufwand und damit kein Vorteil im Sinn der §§ 331 ff. gewesen seien.34 Außerdem fehle es an der von §§ 331 ff. – jedenfalls als Bezugspunkt der Tathandlungen – vorausgesetzten Unrechtsvereinbarung.35 Der 3. Strafsenat des BGH hob mit Urteil vom 26. 05. 2011 den Freispruch auf und machte in der Urteilsbegründung deutlich, dass in derartigen Fällen regelmäßig von einer Strafbarkeit der Beteiligten nach §§ 332 Abs. 1, 334 Abs. 1 auszugehen sein dürfte. 2. Bei der Diskussion dieser Auffassung gehe ich von folgendem Grundfall aus. Schulleiter S vereinbart eine Schulfotoaktion mit dem Fotografen F, die unter Mitwirkung mehrerer Lehrer in der von S geleiteten Schule durchgeführt wird. F überweist der Schule, im Einverständnis mit S, einen Betrag von 500 E als „Aufwandsentschädigung“.36 Nach Auffassung des BGH ist es wichtig, zwischen unterschiedlichen Gestaltungen dieses Falles zu unterscheiden (Rn. 9, Rn. 13 f.). In der ersten (Fall 1) bietet F vor Abschluss der Vereinbarung über die Fotoaktion die Zuwendung an, um von S mit der Aktion betraut zu werden (Rn. 9). In der zweiten (Fall 2) wird die Zuwendung zusammen mit der Fotoaktion als Vergütung für den Aufwand der
32 OLG Celle StV 2008, 251, 252; krit. Zieschang, StV 2008, 253 ff.; Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 501; Schlösser, StV 2011, 300, 302 ff. 33 § 334 Abs. 1 S. 1. Für minder schwere Fälle sieht § 334 Abs. 1 S. 2 Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe vor. 34 LG Hildesheim (Fn. 30) Rn 104 ff. 35 Und zwar sowohl an dem Beziehungsverhältnis zwischen dienstlichem Handeln und Zuwendung – LG Hildesheim (Fn. 30) Rn. 133 ff. – als auch an der Regelwidrigkeit eines etwa doch anzunehmenden Äquivalenzverhältnisses – LG Hildesheim (Fn. 30) Rn. 142 ff. 36 Ob die Zuwendung so oder anders, etwa als „Rabatt“ oder „Sponsoring“ bezeichnet wird, kann in der Sache keinen Unterschied machen. Ebensowenig hängt die Anwendbarkeit der §§ 331 ff. davon ab, ob ein fester Betrag von 500,– E vereinbart wird oder ob sich diese Summe als Anteil an der Zahl der Fotografierten ergibt. Entscheidend ist vielmehr, dass die Summe ein angemessenes Entgelt für die bei Durchführung der Aktion erbrachten Leistungen der Schule ist (oder doch ein solches nicht übersteigt), was in der Folge unterstellt wird. Zur Angemessenheit s. einerseits Busch, NJW 2006, 1100, 1101 („es ist zweifelhaft, nach welchen sachlichen Kriterien die Angemessenheit der Gegenleistung der Schule zu bemessen ist“); andererseits LG Hildesheim (Rn. 30) Rn. 122 („Die Angemessenheit des Entgelts ist nicht schon deshalb ein untaugliches Abgrenzungskriterium, weil sie schwer zu bestimmen ist“); Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 500 f. (mit Hinweis darauf, dass eine Bemessung nach der Zahl der Abnehmer bedenklich ist, weil sie nicht darauf abzielt, ein angemessenes Entgelt für die Leistungen der Schule zu ermitteln).
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Schule bei Durchführung der Aktion vereinbart (Rn. 9). Diese Vereinbarung ist Bestandteil eines gegenseitigen zivilrechtlichen Vertrages.37 Im Fall 1 erfüllt F nach Auffassung des BGH „ohne weiteres“ den Tatbestand der Bestechlichkeit gem. § 334 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2 (Rn. 9). Denn er biete dem Amtsträger S einen Vorteil (500,– E) für einen Dritten (die Schule) als Gegenleistung dafür an, dass S eine Diensthandlung vornehmen solle, nämlich die Betrauung von F mit der Aktion.38 Da die Entscheidung des S „über das Ob und das Wie einer Fotoaktion“ in dessen dienstlichem Ermessen steht, beziehe sich die angestrebte Unrechtsvereinbarung auf eine gem. § 334 Abs. 3 Nr. 2 pflichtwidrige Handlung, so dass F nicht nur den (objektiven) Tatbestand der Vorteilsgewährung, sondern den der Bestechung erfülle.39 Entsprechend verwirklicht S, wenn er das Angebot der F annimmt, den Tatbestand des § 332 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2. Im Fall 2 bilde die Zuwendung selbst zwar keinen Vorteil für die Schule, wenn sie vertraglich vereinbart war.40 Ein Vorteil liege aber im Abschluss der Vereinbarung, auf den kein Anspruch bestand (Rn. 20 f.). Da Letzteres bei nahezu jedem „Vertragsschluss eines Amtsträgers in dienstlichen Angelegenheiten“ gelte (Rn. 21), sei eine „Abgrenzung des unlauteren korruptiven Kaufs einer Diensthandlung im formellen Gewand eines gegenseitigen Vertrages von den vielfältigen Fällen, in denen die öffentliche Verwaltung zur Erfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig öffentlich-rechtliche oder – etwa im Rahmen des Verwaltungsprivatrechts oder der Bedarfsverwaltung – zivilrechtliche Verträge schließt“, erforderlich (Rn. 22). Als Abgrenzungskriterium könne hierbei „die verwaltungsrechtliche Rechtmäßigkeit des Vertragsschlusses herangezogen und dabei insbesondere die Frage gestellt werden, ob die Diensthandlung in rechtlich zulässiger Weise von einer Vergütung abhängig gemacht werden darf“ (Rn. 22). Da keine verwaltungsrechtliche Grundlage dafür erkennbar sei, „von einem Fotografen für den organisatorischen Aufwand der Schule anläßlich einer Schulfotoaktion eine Vergütung zu beanspruchen“ (Rn. 23), werde „es rechtlich auch nicht als 37
BGH NJW 2006, 225 Rn. 29; LG Hildesheim (Fn. 30) Rn. 109. Entsprechend müsste in einer dritten Fallkonstellation, in der F die Zuwendung erst nach Abschluss der Vereinbarung über die Fotoaktion anbietet und gewährt, um auch zukünftig mit derartigen Aktionen betraut zu werden (Fall 3), der Tatbestand der Bestechung – und bei Einverständnis des S derjenige der Bestechlichkeit – „ohne weiteres“ erfüllt sein. 39 BGH StV 2012, 19 Rn. 7 f.; vgl. aber auch Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 499. 40 Da nur eine den Amtsträger oder einen Dritten besser stellende Leistung, „auf die kein rechtlich begründeter Anspruch besteht“, ein Vorteil sei (so Rn. 19 in Einklang mit der h. M.; näher dazu NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 39 ff.). Hiernach entfällt der Vorteilscharakter der Entschädigungszahlung nur, wenn sie wirksam vereinbart wurde. Davon wird hier in Einklang mit BGH NJW 2006, 225 Rn. 29 ausgegangen. Die Unwirksamkeit der Vereinbarung lässt sich nicht aus §§ 134 BGB, 331 ff. StGB herleiten, denn das wäre zirkulär (NKStGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 55). Ungeachtet seiner Auffassung, die Entschädigungsvereinbarung entbehre einer verwaltungsrechtlichen Grundlage, erklärt auch der 3. Strafsenat die Vereinbarung nicht für unwirksam. Er lässt diese Frage vielmehr offen und stellt gerade deshalb entscheidend auf den bereits im Vertragsschluss liegenden Vorteil ab (Rn. 20 f.). 38
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zulässig zu erachten sein, eine derartige Vergütung vertraglich zu vereinbaren“ (Rn. 27). Damit stehe dann „auch das Vorliegen einer Unrechtsvereinbarung in objektiver Hinsicht nicht in Zweifel“ (Rn. 28 ff). 3. Die Auffassung des 3. Strafsenats ist abzulehnen. Vor jeder dogmatischen Detailkritik ergibt sich das daraus, dass das Verhalten von S und F in keiner der Fallabwandlungen strafwürdig und insbesondere kein Korruptionsunrecht ist. Das gilt auch, wenn man mit dem BGH davon ausgeht, mangels verwaltungsrechtlicher Grundlage sei der Abschluss der Entschädigungsvereinbarung unzulässig gewesen.41 Dass ein Verhalten gegen irgendwelche Vorschriften, etwa die vom BGH erörterten „verwaltungskostenrechtlichen Normen“ (Rn. 25), verstößt, begründet ersichtlich nicht den Vorwurf einer strafwürdigen Korruption. Der Senat versucht auch gar nicht, diesen Vorwurf zu belegen, sondern führt zur42 Tauglichkeit der verwaltungsrechtlichen Rechtmäßigkeit des Vertragsschlusses als Abgrenzungskriterium lediglich an, die Lauterkeit des öffentlichen Dienstes sei „nicht beeinträchtigt, wenn das im Rahmen der Dienstgeschäfte vereinbarte Austauschverhältnis der geltenden Rechtslage entspricht“.43 Daraus folgt augenscheinlich nicht, dass umgekehrt jeder Rechtsverstoß diese Lauterkeit beeinträchtigt. Das Versäumnis, sich der Strafwürdigkeit einer unter die gesetzliche Tatbestandsformulierung passenden Verhaltensweise zu vergewissern, mag bei gut geschnittenen Straftatbeständen unschädlich sein. Bei §§ 331 ff. kann es zu gravierenden Fehlwertungen führen, wie die Schulfotoaktionen zeigen. Denn was ist, um mit Fall 2 zu beginnen, eigentlich anstößig daran, dass S für die Leistungen, die die Schule erbringt, mit F als dem Nutznießer dieser Leistungen eine angemessene Gegenleistung vereinbart? Das ließe sich leicht beantworten, wenn die Zuwendung dem S selbst zugute käme. Dann hätten wir es mit der korruptionstypischen Verknüpfung von privaten Tauschbeziehungen und dienstlichem Handeln zu tun. Darum geht es aber in unserem Fall nicht, da hier die Zuwendung an die Schule als Dritten erfolgt. Das macht einen erheblichen Unterschied,44 denn es ändert den Sinn der zwischen S und F getroffenen Vereinbarung. An die Stelle einer unzulässigen Verquickung von privatem Vorteil und dienstlichem Handeln tritt jetzt eine grundsätzlich sachgerechte Austauschbeziehung: die Schule erhält, der Fotograf gewährt eine angemessene Vergü41 Zur Problematik dieser Annahme siehe Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 500; Zöller, ZJS 2011, 550, 554, die auf die generelle Ermächtigung zum Abschluss öffentlich-rechtlicher Verträge durch §§ 54, 56 VwVfG hinweisen. Der Senat selbst drückt sich in dieser Frage eigentümlich unentschieden aus: „Fehlt aber eine normative verwaltungsrechtliche Grundlage für die Vergütung der Tätigkeit des Lehrkörpers, so wird es rechtlich auch nicht als zulässig zu erachten sein, eine derartige Vergütung vertraglich zu vereinbaren“ (Rn. 27). 42 Für die Beurteilung von Fall 2 entscheidenden. 43 Rn. 22 (Hervorhebung vom Verf.). 44 Dies gilt ganz unabhängig davon, dass der Gesetzgeber durchaus gute Gründe dafür hatte, die Annahme bzw. Gewährung von Drittvorteilen in die §§ 331 ff. mit einzubeziehen. Dazu bereits Kuhlen, NStZ 1988, 433, 436. Und es wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass man eventuell aus der Besserstellung der Schule einen mittelbaren Eigenvorteil des S oder anderer Lehrer ableiten könnte (so Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 500).
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tung für die Leistungen der Schule. Diese Austauschbeziehung begründet keinen Zweifel an der Lauterkeit des öffentlichen Dienstes. Ganz im Gegenteil müsste sich S, wenn er auf eine mögliche Vergütung dieser Leistungen verzichtet, fragen lassen, wie das eigentlich mit seiner Pflicht zu vereinbaren ist, die Vermögensinteressen der Schule zu wahren. Zudem wäre es eine fragwürdige Bevorzugung des F gegenüber zur Zahlung einer Entschädigung bereiten Wettbewerbern, wenn gerade ihm eine Verdienstmöglichkeit eröffnet würde, ohne dass er die damit verbundenen Leistungen der Schule vergütet. Tatsächlich müsste man also dem S ein ermessensfehlerhaftes Verhalten eher dann vorhalten, wenn er auf eine Entschädigung zu Lasten der Schule verzichtet, als umgekehrt dann, wenn er sie vereinbart.45 Jedenfalls vertritt er die öffentlichen Interessen besser, wenn er eine solche Vereinbarung zugunsten der Schule trifft, als wenn er dies unterlässt.46 Einer derartigen Vereinbarung haftet per se nichts Strafwürdiges und insbesondere nicht einmal ein Anschein von Korruption an. Letzteres ändert sich nicht dadurch, dass (auch) derartige Vereinbarungen missbräuchlich gestaltet werden können. So mag S unangemessen viel von F verlangen, und damit in einer wettbewerblich zu beanstandenden Weise eine starke Marktstellung ausnutzen.47 Oder er mag unangemessen wenig, im Extremfall: gar nichts, verlangen und so den F unlauter gegenüber konkurrierenden Fotografen bevorzugen, die bereit sind, eine Entschädigung zu zahlen.48 Auch könnte F die Vereinbarung treffen, um mit einer Fotoaktion betraut zu 45 So zutreffend Zöller, ZJS 2011, 550, 555 f. Auch das zeigt, wie fragwürdig die Annahme ist, das Fordern oder Vereinbaren einer Entschädigungsleistung durch die Schule sei verwaltungsrechtlich unzulässig. Denn diese Annahme, die die Entschädigung isoliert, anstatt im Zusammenhang der gesamten Fotoaktion betrachtet, macht der Schulleitung die sachgerechte Ausübung des Ermessens über das Ob und Wie von Schulfotoaktionen unmöglich, zu der sie voraussetzungsgemäß doch berechtigt und verpflichtet ist. 46 So zu Recht Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 501 f; Zöller, ZJS 2011, 550, 555 f. 47 Dazu Schreiber/Rosenau/Combé/Wrackmeyer, GA 2005, 265, 277. 48 Demgegenüber betrachtet es Busch, NJW 2006, 1100, 1102 offenbar als anstößig, dass dann, wenn die Schule eine Aufwandsentschädigung verlangt, „Fotografen, die dies ablehnen oder dazu nicht in der Lage sind, … der Zutritt zum Schulgelände verwehrt (wird)“. Mit dem gleichen Recht könnte und müsste man ganz allgemein beklagen, dass bei ökonomisch sachgerechtem Verhalten der öffentlichen Verwaltung Anbieter von Schreibwaren oder sonstigen Bedarfsgegenständen von der Lieferung ausgeschlossen werden, wenn sie ungünstigere Angebote machen als ihre Konkurrenten. Zutreffend demgegenüber BGH NJW 2006, 225 Rn. 18 ff.: die von einem Fotografen angebotene Aufwandsentschädigung bietet der Schule einen erheblichen Anreiz, diesem Anbieter gegenüber anderen den Vorrang zu geben, das ist jedoch sachlich angemessen. Das bleibt es übrigens auch dann, wenn es so sein sollte, dass die Schulleitung „bewußt die Zuwendung an die Schule einer Preisreduktion für die Eltern vorgezogen“ hat, was nach OLG Celle StV 2008, 251, 253 den „bösen Anschein der Käuflichkeit“ begründen könnte. Denn es ist wettbewerblich angemessen, dass die Leistung dem vergütet wird, der sie erbringt, hier also der Schule. Und wenn diese die Vergütung an Schüler weitergeben will, so dürfte dies nicht nur gerade denen zu Gute kommen, die sich für einen Kauf von Fotos entscheiden, was aber die Konsequenz der vom OLG für vorzugswürdig gehaltenen Preisreduktion wäre.
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werden, bei der er von den Eltern unangemessen hohe, also deutlich über dem Wettbewerbspreis liegende Zahlungen für die Fotos der Kinder verlangt. All das mag wettbewerbswidrig sein, hat aber mit Korruption noch nichts zu tun. Dies ändert sich erst, wenn eine Vergütungsvereinbarung mit Blick auf andere Diensthandlungen als die mit der Ermöglichung und Durchführung der Fotoaktion verbundenen getroffen wird. So ist es als Bestechung bzw. Bestechlichkeit strafbar, wenn F mit der Schule eine „Aufwandsentschädigung“ vereinbart, um die Chancen seines Kindes auf ein gutes Schulzeugnis zu erhöhen.49 In keiner der hier erörterten Fallvarianten gibt es Anhaltspunkte für eine Verknüpfung mit außerhalb der Fotoaktion selbst liegenden Diensthandlungen, ebensowenig für eine unter Wettbewerbsaspekten problematische Gestaltung. Die in Fall 2 getroffene Entschädigungsvereinbarung ist deshalb sachlich unbedenklich, solange man mit dem BGH zutreffend davon ausgeht, dass Schulfotoaktionen an sich zulässig sind.50 Dies wirkt sich auch auf die Beurteilung der anderen Fallgestaltungen aus. Dass F eine vertraglich nicht geschuldete Vergütung für die Schule nachträglich deshalb anbietet, um auch in Zukunft beauftragt zu werden (Fall 3), liegt in der Tat nahe. Aber daran ist ebensowenig auszusetzen wie an der sogleich getroffenen Verabredung (Fall 2), deren ökonomischer Sinn aus Sicht des F typischer- und legitimerweise ebenfalls darin besteht, sich durch eine für die Schule günstige Vertragsgestaltung den Vertragsabschluss zu sichern und den Vertragspartner auch für die Zukunft zu erhalten. Schließlich liegt auf der Hand, dass dann, wenn die in Fall 2 getroffene Vereinbarung nicht zu beanstanden ist, auch die ihr vorausgehende Forderung einer Vergütung durch S oder deren Angebot durch F (Fall 1) keine strafwürdige Korruption begründen. Es handelt sich damit nach der hier vertretenen Auffassung in allen drei Fällen um ein Verhalten von S und F, das unter dem Aspekt einer möglichen Korruption keine Bedenken hervorruft. Die Auffassung des BGH führt zu einer völlig anderen Bewertung. Fotograf und Schulleiter machen sich im Fall 2 wegen Bestechung bzw. Bestechlichkeit strafbar. Nur wenn sie auf die sachlich gerechtfertigte Entschädigung der Schule verzichten, bleiben sie straflos. Auch in den Fällen 1 und 3 sind S und F wegen Bestechlichkeit und Bestechung strafbar. Wiederum bleibt ihnen, um dies zu vermeiden, nur der Verzicht auf die sachlich angemessene Zuwendung an 49
Vgl. bereits NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 88b; ders., JuS 2011, 673, 679 Fn. 61. Ob das sachlich richtig ist, läßt sich unterschiedlich beurteilen. Jedenfalls vertretbar ist die Annahme, solche Aktionen hätten einen gewissen pädagogischen und Erinnerungswert für die Schüler (ich jedenfalls fände es schön, wenn ich Klassenfotos aus meiner Schulzeit hätte). Stattdessen könnte man Schulfotoaktionen aus pädagogischen Gründen ablehnen (vgl. Scheuch, juris PR-BGH ZivilR 15/2006 Anm. 3: „Kinder und Jugendliche sollten wenigstens während des Schulbesuchs vor Werbemaßnahmen geschützt werden“) oder die Auffassung vertreten, es sei nicht Aufgabe der Schule, Aktionen zu ermöglichen, an denen Private verdienen. Diese Frage darf aber nicht mit der – hier untersuchten – verquickt werden, ob es unter der Voraussetzung, dass Schulfotoaktionen durchgeführt werden dürfen, zulässig ist, die Schule für ihre Mitwirkung an derartigen Aktionen zu honorieren. 50
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die Schule. Dass die Beteiligten diese Auffassung verstehen, darf man nicht erwarten. 4. Eine eingehende dogmatische Analyse der Frage, ob Schulfotoaktionen den §§ 331 ff. unterfallen, ist an dieser Stelle entbehrlich. Die hier auftretenden Probleme wurden im Anschluss an die Entscheidung des 1. Zivilsenats des BGH aus dem Jahr 2005 in der Literatur intensiv erörtert. Unter Verarbeitung dieser Diskussion hat das LG Hildesheim den Freispruch der angeklagten Fotografen rechtlich sorgfältig und überzeugend begründet. Der BGH hat in Kenntnis der Argumentationslage anders entschieden, und darauf wird sich die Praxis einzustellen haben, sei es durch Verzicht auf Schulfotoaktionen, durch Verzicht auf Aufwandsentschädigungen oder durch mehr oder weniger detaillierte gesetzliche Regelungen. Da die Begründung des 3. Strafsenats über den begrenzten Bereich der Schulfotoaktionen hinaus bedeutsam ist, möchte ich aber doch noch einmal die m. E. wichtigsten dogmatischen Einwände gegen dessen Entscheidung nennen.51 Geht man vom Vorteilsbegriff aus, dem der BGH mit der h. M. folgt,52 so ist die vereinbarungsgemäß geleistete Zuwendung kein Vorteil für die Schule, weil diese einen vertraglichen Anspruch auf die Aufwandsentschädigung hat. Die Befürworter einer Strafbarkeit bestreiten das nicht, sondern weisen darauf hin, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Strafgerichte bereits im Abschluss der Vereinbarung über die Aufwandsentschädigung ein Vorteil für die Schule liegen könne.53 Demgegenüber wird ein im Vertragsschluß liegender Vorteil von denjenigen, die eine Strafbarkeit ablehnen, vielfach verneint, wenn (wie im Fall 2) ein angemessenes Verhältnis zwischen vereinbarter Leistung und Gegenleistung besteht.54 Die Annahme, dass bereits im Abschluss eines Vertrages die Zuwendung eines Vorteils liegen kann, ist praktisch zwingend, weil ansonsten „die Bestechungstatbestände stets durch die Vereinbarung eines Vertragsverhältnisses zwischen Amtsträger und Leistungsgeber ausgeschlossen werden“ könnten.55 Das verdeutlicht das Beispiel eines Bauinteressenten, der einen Amtsträger zur Erteilung einer rechtswidrigen Baugenehmigung veranlassen will. Er hat die Wahl zwischen verschiedenen Zuwendungsformen, kann z. B. den Amtsträger mit Bargeld, aber auch mit einem gut dotierten Beratervertrag oder Gutachtenauftrag belohnen. Der elegantere, weil weniger offensichtliche Anreiz durch Abschluss des Vertrages ist jedenfalls – und un51 Wiederum zunächst am Ausgangsfall einer zeitgleich getroffenen Vereinbarung über die Durchführung einer Schulfotoaktion und einer dafür zu entrichtenden Aufwandsentschädigung (Fall 2). 52 Und nimmt man, ebenfalls mit der h. M., ohne weiteres an, dass die Schule als Dritter im Sinn der §§ 331 ff. einzustufen ist, also als Begünstigter einer korruptiven Zuwendung in Betracht kommt (dazu NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 49 ff.). 53 So Busch, NJW 2006, 1100 f.; OLG Celle StV 2008, 251, 252; BGHStV 2012, 19 Rn. 20 f. 54 BGH NJW 2006, 225 Rn. 29; LG Hildesheim (Fn. 30) Rn. 117 ff.; Zieschang, StV 2008, 253, 254 f. 55 BGHSt 31, 264, 280; BGHStV 2012, 19 Rn. 20.
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strittig – dann ein Vorteil für den Beauftragten, wenn dieser keine dem Honorar angemessene Gegenleistung zu erbringen hat. Für die umstrittene Frage, ob ein Vorteil auch darin liegen kann, dass der Amtsträger mit einer angemessen dotierten Tätigkeit betraut wird, kommt es darauf an, ob eine solche Übertragung einen wirksamen Handlungsanreiz darstellt. Dagegen spricht zunächst, dass der erlangte Vermögensvorteil voraussetzungsgemäß durch die erbrachte Gegenleistung wertmäßig kompensiert wird. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass für Angehörige des öffentlichen Dienstes die Übertragung einer bezahlten Nebentätigkeit auch dann sehr attraktiv sein kann, wenn die Bezahlung lediglich ein angemessenes Entgelt für die Tätigkeit bildet. Wenn man beispielsweise Professoren durch marktüblich honorierte Gutachtenaufträge dazu motivieren kann, auch noch an den Wochenenden zu arbeiten, wäre es offensichtlich unrealistisch, die Erteilung derartiger Aufträge als Anreiz für korruptives Handeln auszuschließen.56 Die h. M. verdient also Zustimmung, freilich ist daran zu erinnern, dass ihr zufolge der Abschluss eines Vertrages lediglich ein Vorteil sein kann,57 ganz ebenso, wie er umgekehrt einen Schaden begründen kann, aber nicht muss.58 Dass die mit dem Vertragsschluss verbundene Chance einer Schule, als Gegenleistung für ihren Aufwand etwa einen Laptop oder einige hundert Euro zu erlangen, auf die Schulleitung ähnlich motivierend wirkt, wie die Chance, durch eine Nebentätigkeit persönliche Vorteile zu erlangen, scheint mir sehr zweifelhaft zu sein.59 Dass die Schulen per saldo durch Vereinbarung einer Schulfotoaktion mit Entschädigungsregelung besser gestellt würden, wird denn auch vom 3. Strafsenat nicht einmal zu begründen versucht,60 obwohl eine solche Begründung bei Vereinbarung einer angemessenen Auf-
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Näher dazu NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 56 ff. Dies hat übrigens, entgegen der Kritik „aus strafrechtlicher Sicht“ (so Busch, NJW 2006, 1100), auch der 1. Zivilsenat des BGH keineswegs übersehen. Vgl. BGH NJW 2006, 225 Rn. 29: „Wird aufgrund eines entgeltlichen Vertrags für eine geldwerte Leistung eine Gegenleistung erbracht, liegt darin zumindest dann kein Vorteil …, wenn die Gegenleistung als Entgelt nicht unangemessen ist und nicht schon der Vertragsschluss als solcher als Vorteil anzusehen ist“ (Hervorhebung vom Verf.). 58 Worauf jüngst BVerfG NStZ 2012, 496 Rn. 171 ff. (zu § 263) mit Nachdruck hingewiesen hat. 59 Jedenfalls in der deutschen Schulwirklichkeit, wo nach wie vor eine ausreichende staatliche Grundversorgung gewährleistet ist. Anders offenbar Busch, NJW 2006, 1100, 1102, der annimmt, Schulen seien auf derartige Zuwendungen „angesichts der knappen finanziellen Ressourcen für die sächliche Ausstattung der Schulen dringend angewiesen“, und dies nicht etwa als Argument für die Straflosigkeit, sondern für die Strafbarkeit derjenigen anführt, die sich bemühen, dieses Problem zu lösen. Zutreffend demgegenüber die Auffassung, es sei ein „evidenter Wertungswiderspruch“, wenn Amtsträger einerseits zur Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung, ja geradezu dazu angehalten werden, Einnahmen aus speziellen Entgelten für die von ihnen erbrachten Leistungen zu beschaffen, andererseits aber eben deshalb „kriminalisiert werden“ (so Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 501 m.w.H.). 60 Vgl. Rn. 20, wo lediglich einige Beispiele der persönlichen Besserstellung von Amtsträgern genannt werden. 57
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wandsentschädigung für die Schule angesichts der Vermögensneutralität der Vereinbarung unabdingbar wäre.61 Selbst wenn man den Abschluss der Entschädigungsvereinbarung als Vorteil für die Schule betrachten wollte, steht dieser aber mit keinem dienstlichen Verhalten des S in einem Beziehungsverhältnis, so dass es an einer Unrechtsvereinbarung fehlt. Die dienstlichen Leistungen der Schule bestehen zum einen in der Zustimmung des S zur Fotoaktion, zum anderen in den dazu von S oder anderen Lehrern geleisteten organisatorischen Beiträgen.62 Sie bilden die Gegenleistung für die Zahlung der Entschädigung durch den Fotografen, nicht aber für den Abschluss der Entschädigungsvereinbarung. Dieser und damit der vom 3. Strafsenat angenommene Vorteil könnte lediglich die Gegenleistung für ein außerhalb der getroffenen Vereinbarung liegendes dienstliches Handeln sein.63 Eine derartige Diensthandlung wäre, um bereits genannte Beispiele aufzugreifen, die Erteilung eines günstigen Zeugnisses für einen Schüler oder einer Genehmigung für einen Bauinteressenten. Nur wenn es um ein derartiges, außerhalb der getroffenen Vereinbarung liegendes dienstliches Handeln geht, stellt sich überhaupt die Frage, auf die die in der Rechtsprechung entwickelte Lehre vom Vertragsschluss als Vorteil eine (zutreffende) Antwort gibt: Macht es einen Unterschied, welche Form der Zuwendung die Beteiligten für den „unlauteren korruptiven Kauf einer Diensthandlung“ (Rn. 22) wählen, ob sie also dem Amtsträger Naturalien, Geld oder eben einen günstigen Vertragsschluss, typischerweise seine Betrauung mit einer bezahlten 61
Nach OLG Celle StV 2008, 251, 252 ist der „Vertragsschluss als solcher vorteilhaft für die Schule, weil bereits damit der Anspruch auf eine Zuwendung begründet wird, die anders nicht zu erlangen wäre.“ In der Tat: Ohne Vereinbarung kein Anspruch. Daraus folgt jedoch nicht, dass per saldo, also unter Berücksichtigung der Gegenleistung, der Vertragsschluss für die Schule vorteilhaft ist. Dies müsste man aber doch begründen, wenn man nicht jeden Vertragsschluss, also z. B. auch den Kauf von Büroklammern zum üblichen Preis (der ebenfalls einen nicht anders zu erlangenden Anspruch begründet), als Vorteil für die Schule werten und damit dem Vorteilsbegriff bei Austauschverträgen der öffentlichen Hand jede Eingrenzungsfunktion nehmen will. 62 Dass es sich dabei um dienstliche Tätigkeiten handelt, wird meist ohne Weiteres und m. E. zu Recht angenommen, denn es geht um Tätigkeiten zur Wahrnehmung dienstlicher Aufgaben (NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 66 ff.). Anders aber Schlösser, StV 2011, 300, 306. 63 NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 88a, b; zust. LG Hildesheim (Rn. 30) Rn. 133. Ähnlich Schlösser, StV 2011, 300, 307 f. Ebenso bereits KG NStZ-RR 2008, 373 (zust. Rettenauer, CCZ 2009, 35; Online-Kommentar StGB/Trüg, § 333 Rn. 3) in einem Fall, in dem der Angeklagte einer Universität 30.000 E für die Mitwirkung an einer ihm auferlegten Vertragsänderung anbot. Das KG verneinte hier zu Recht eine Unrechtsvereinbarung, weil das Angebot „keine sachwidrige Verknüpfung eines Lebenssachverhalts mit einem anderen“ enthielt, sondern Teil der Verhandlungen über das Mietverhältnis und dessen Abwicklung war (KG NStZ-RR 2008, 373, 376). Ebenso hat im Ergebnis zutreffend OLG Stuttgart NJW 1969, 943 das Beziehungsverhältnis in einem Fall verneint, in dem ein Notar pflichtwidrig nur einen Teil der ihm geschuldeten Gebühren erhob, um sich so einen Beurkundungsauftrag zu sichern (zust. NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 89; anders Usinger/Jung, wistra 2011, 452, 454 ff.).
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Nebentätigkeit,64 gewähren? Die h. M. verneint diese Frage zu Recht. Darin erschöpft sich aber auch die sachliche Berechtigung der Lehre vom Abschluss auch ausgewogener Verträge als Vorteil. Da es weder im Fall 2 noch in den anderen Fallabwandlungen darum geht, irgendein dienstliches Handeln des Schulleiters außerhalb der in die Vereinbarung einbezogenen Leistungen der Schule zu „kaufen“, besteht in keinem der Fälle ein Beziehungsverhältnis zwischen einem dienstlichen Handeln und dem Abschluss der Entschädigungsvereinbarung. Missachtet man diese Beschränkung,65 muss man – vom Ausnahmefall eines Kontrahierungszwangs abgesehen – jeden wirksamen Vertragsschluss eines Amtsträgers in dienstlichen Angelegenheiten einfach deshalb als Vorteil einstufen, weil er einen Anspruch begründet. Und man kann für jeden derartigen Vertrag ein Beziehungsverhältnis konstruieren, weil immer eine für die öffentliche Hand ungünstigere Gestaltung denkbar wäre und sich die tatsächlich gewählte günstigere als Gegenleistung dafür auffassen lässt, dass der betreffende Amtsträger (in dienstlicher Eigenschaft) den Vertrag abschließt. Diese Konstruktion66 würde ad absurdum geführt, wenn man in all diesen Fällen eine Unrechtsvereinbarung annehmen wollte. Der 3. Strafsenat erkennt dieses Problem (Rn. 21) und will es dadurch lösen, dass er verwaltungsrechtlich zulässige Vereinbarungen normativ aus dem Anwendungsbereich der §§ 331 ff. ausfiltert (Rn. 22). Findet man keine verwaltungsrechtliche Grundlage für eine spezielle Gestaltung, sei dagegen das Beziehungsverhältnis als Unrechtsvereinbarung anzusehen.67 Das sei eine „verwaltungsakzessorische“ Auslegung, wie sie etwa auch der Drittmittelentscheidung BGHSt 47, 295 zugrunde liege.68 In der Sache spricht gegen diese Auffassung, dass das mehr oder weniger zufällige, oft von der landesrechtlichen Gesetzes- oder Erlasslage abhängige, Fehlen einer Rechtsgrundlage nicht die spezifische Sachwidrigkeit ergibt, die eine Unrechtsvereinbarung i.S. der §§ 331 ff. begründet. Im übrigen trifft es m. E. nicht zu, dass die wichtigen Restriktionen der Bestechungstatbestände durch die Entscheidungen des BGH zur Einwerbung von Drittmitteln und Parteispenden durch Amtsträger verwaltungsakzessorisch, also in schlichter Anknüpfung an das Verwaltungsrecht, erfolgten. Sie beruhen vielmehr auf der komplexeren Herstellung praktischer Konkordanz 64
Dazu mit Rechtsprechungshinweisen NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 52. Und verzichtet darüber hinaus auf einen aus dem Vertragsschluss per saldo für die Behörde sich ergebenden Vorteil. 66 Die die Tatbestandsvoraussetzungen des Vorteils und des Beziehungsverhältnisses, das durch die gesetzlichen Begriffe „für“ (§§ 331 Abs. 1, 333 Abs. 1) und „als Gegenleistung für“ (§§ 331 Abs. 2, 332, 333 Abs. 2, 334) gefordert wird, für einen großen Bereich des öffentlichen Handelns jeder Funktion beraubt und deshalb erheblichen Bedenken unter dem Gesichtspunkt des Verbots der Entgrenzung oder Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen als Ausprägung des Analogieverbots begegnet. Vgl. BVerfG NJW 2010, 3209 Rn. 79, 153 ff. zu § 266; BVerfG NJW 2012, 496 Rn. 164 ff. zu § 263. 67 So Rn. 23 ff. für Aufwandsentschädigungen bei Schulfotoaktionen. 68 So Rn. 22 m.w.H. 65
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zwischen Wertungen verschiedener Rechtsgebiete, einer Methode, die material angemessener, gleichzeitig aber auch unsicherer ist als die verwaltungsakzessorische Auslegung oder Reduktion von Tatbeständen.69 Und schließlich war in den Fällen, zu denen diese Leitentscheidungen ergingen, bei angemessener Auslegung dieser Tatbestandsvoraussetzungen wirklich ein für den Amtsträger oder Dritten vorteilhaftes Beziehungsverhältnis gegeben, so dass eine normative Einschränkung erforderlich war. Das ist, wie ich zu zeigen versucht habe, bei der Schulfotoentscheidung des 3. Strafsenats anders. Sie schafft durch eine dogmatisch nicht überzeugende Ausweitung der Bestechungstatbestände erst die Notwendigkeit einer anschließenden Restriktion. In Wahrheit bricht sie also mit der noch jungen „Tradition“ einer gerichtlichen Korrektur der zu weit gefassten Bestechungsdelikte, was die Skepsis gegenüber diesem Modell der Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Strafrichter weiter verstärken wird.
69 Vgl. dazu NK-StGB/Kuhlen (Fn. 3), § 331 Rn. 107 ff., sowie zur Grundlagenproblematik Frisch, Verwaltungsakzessorietät und Tatbestandsverständnis im Umweltstrafrecht, 1993, S. 7 ff., 21 ff. und passim.
Verwaltungssponsoring als legitime Form der Vertragsgestaltung oder als Bestechung? Dargestellt am Beispiel der Schulfotografie anhand des Urteils des BGH vom 26. Mai 2011 – 3 StR 492/101 Von Werner Beulke
I. Jedem, der einmal Kinder im schulpflichtigen Alter hatte oder sich an seine eigene Schulzeit erinnert, kommt dieses alljährlich wiederkehrende Ritual wohl bekannt vor: Die Schüler sind aufgeregt, weil „der Fotograf“ in die Schule kommt, um die Kinder einzeln und im Klassenverband zu portraitieren. Sie werden klassenweise von einem aufsichtführenden Lehrer in einen entsprechenden Schulraum oder – heutzutage – auch häufig zu einem so genannten „Foto-Bus“ geführt, dort fotografiert und dann wieder zurück zum Unterricht geleitet. Die Lehrer teilen anschließend die Bilder an die Kinder aus, die diese mit nach Hause nehmen. Die Eltern trifft keine Abnahmeverpflichtung, vielmehr entscheidet die Familie gemeinsam, ob und bejahendenfalls welche Bilder gekauft werden. Sodann sammelt die Lehrkraft das für die ausgewählten Bilder fällige Geld sowie die nicht abgenommenen Bilder ein und leitet alles an den Fotografen weiter. Was wohl die wenigsten Eltern wissen dürften: Seit Jahren ist es gängige Praxis, dass die Schulfotografen den Schulen im Gegenzug für die geleistete Mithilfe als „Rabatt“, „Sponsoring“ oder „Aufwandsentschädigung“ betitelte Zuwendungen unterbreiten. Es handelt sich um Geldzahlungen oder Sachleistungen (zum Beispiel Computer oder Drucker), die einen unterschiedlichen Wert aufweisen, der von unter einhundert bis zu einigen hundert Euro reicht. Der Wert der jeweiligen Zuwendung bemisst sich inzwischen regelmäßig an den Schülerzahlen, nur noch ausnahms1 Abgedruckt in StV 2012, 19 m. Bespr. Hecker, JuS 2012, 655 u. Zöller, ZJS 2011, 550. Der Verfasser ist mit den Rechtsfragen, welche diesem Verfahren zugrunde liegen, seit mehreren Jahren befasst: Im Jahre 2007 erstellte er im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens in Bayern ein Gutachten, in welchem er einen hinreichenden Tatverdacht für eine Strafbarkeit wegen Bestechung verneinte (abrufbar unter: http://www.bvds-ev.de/files/Gutachten.pdf; Stand: 12. 11. 2012). Die Staatsanwaltschaft München stellte in der Folge das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts ein. Zudem äußerte er sich im Rahmen des vorliegenden Verfahrens gutachterlich zur Entscheidung des OLG Celle (StV 2008, 251) und trat als einer der Revisionsführer auf.
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weise dient der Umsatz des Fotografen als Referenzgröße. Bisweilen wird die Summe auch pauschal am Organisationsaufwand bemessen, der wiederum nicht zuletzt von den Schülerzahlen abhängt. Die auf diese Weise bemessenen Zuwendungen kommen dann entweder einzelnen Klassen oder der gesamten Schule zugute. Während früher zumeist der Schulrektor allein über die Auswahl des Fotografen entschied und mit diesem die „Sponsoringleistung“ vereinbarte, wurden in den letzten Jahren verstärkt Lehrerkonferenzen, Elternbeiräte oder die Schülermitverwaltung eingebunden und zum Teil auch der Schulträger von dem Vorgang in Kenntnis gesetzt, ohne dass sich insoweit ein überörtliches System etabliert hätte. Ob diese Praxis künftig aufrecht erhalten bleibt, ist angesichts einer neueren Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs fraglich. Die Richter hoben die Freisprüche zugunsten zweier Schulfotografen auf, die einer Schule eben solche Zuwendungen hatten zuteilwerden lassen und deshalb wegen Bestechung angeklagt worden waren. Dabei stellten sie entscheidend auf eine aus ihrer Sicht fehlerbzw. lückenhafte Beweiswürdigung ab. Dies allein wäre kaum einen Beitrag wert, würden nicht die obiter dicta über den Fall hinaus Sprengstoff für den Bereich des Verwaltungssponsorings bergen.2 Das Urteil des BGH fügt sich in eine Reihe anderer Urteile ein, durch welche in letzter Zeit „alte Zöpfe“ abgeschnitten und vermeintliche „Denkverbote“ überwunden wurden.3 Aber überzeugt dieser „Bildersturm“ aus strafrechtsdogmatischer Sicht? Dieser Frage soll im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden. Zu diesem Zweck wird zunächst der Verfahrensgang dargelegt (II.), ehe die Begründung des BGH (III.) sowie die bislang zum Thema „Schulsponsoring“ erschienene Literatur (IV.) näherer Betrachtung unterzogen werden. Sodann gilt es, die Entscheidung einer eigenen kritischen Würdigung zu unterziehen (V.). Abschließend wird hinterfragt, ob und bejahendenfalls auf welche Weise Schulfotografen den Schulen auch zukünftig noch Zuwendungen zukommen lassen dürfen (hierzu unter VI.).
2
So auch die Einschätzung aus anwaltlicher Sicht (vgl. z. B. http://www.wirtschaftsstraf recht.de/aktuelles/korruptionsrisiko-einfluss-auf-ermessensentscheidungen; Stand: 12. 11. 2012). 3 Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an das kontrovers diskutierte Urteil des LG Köln v. 07. 05. 2012 (Az.: 151 Ns 169/11; abgedruckt in NJW 2012, 2128), das die lege artis und mit Einwilligung der personensorgeberechtigten Eltern durchgeführte religiös motivierte Beschneidung eines muslimischen Jungen als rechtswidrige Körperverletzung gewertet hatte (hierzu u. a. Bartsch, StV 2012, 604; Beulke/Dießner, ZIS 2012, 338; Brocke/Weidling, StraFo 2012, 450; Fateh-Moghadam, German Law Journal 2012, 1131; Herzberg, ZIS 2012, 486; Jahn, JuS 2012, 850; Kempf, JR 2012, 436; Krüper, ZJS 2012, 547; Lack, ZKJ 2012, 336; Muckel, JA 2012, 636; Putzke, MedR 2012, 621; Rox, JZ 2012, 806).
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II. Die Staatsanwaltschaft Hildesheim klagte am 14. 12. 2006 drei Angehörige der Gesellschaft für Schulfotografie bzw. der Gesellschaft für Schul- und Kinderfotografie an und legte ihnen 16 besonders schwere Fälle der mittäterschaftlich begangenen Bestechung (§§ 334 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2, 335 Abs. 2 Nr. 3 Var. 1, 25 Abs. 2 StGB) zur Last. Die Schulfotografen hatten in den Jahren 2002 bis 2004 Fotoaktionen an niedersächsischen öffentlichen Schulen durchgeführt. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen vor, die vereinbarten und gewährten „umsatzabhängige[n] Rückvergütungen bzw. Geld- und Sachspenden an die Schulen“ seien – jedenfalls auch – darauf gerichtet gewesen, auf die Ermessensentscheidungen der Schulleiter bei Auswahl des Fotografen in sachwidriger Weise Einfluss zu nehmen.4 Die 5. Strafkammer des Landgerichts Hildesheim teilte diese Sichtweise nicht und lehnte mit Beschluss vom 18. 07. 2007 die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Die Entscheidung stützt sich maßgebend auf ein Urteil des 1. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 20. 10. 2005.5 Dieser hatte einen wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruch aus § 4 Nr. 11 UWG i.V.m. §§ 331, 333 StGB mit dem Argument verneint, der begünstigten Schule werde kein Vorteil im Sinne der Bestechungsdelikte zugewandt, weil die Zuwendungen auf einem gegenseitigen Vertrag beruhten und für sich genommen nicht unangemessen seien.6 Zudem verneinte das Landgericht eine Unrechtsvereinbarung u. a. mit der Begründung, wegen des Fehlens gesetzlicher oder ministerieller Regelungen, welche die Durchführung von Schulfotoaktionen betreffen, liege kein regelwidriges Verhalten der Schulleiter vor. Auch spreche gegen die Annahme einer Unrechtsvereinbarung, dass von keiner Seite Druck auf die Eltern ausgeübt worden sei, den Umsatz zu steigern. Schließlich begegne die Bejahung mittäterschaftlichen Handelns durchgreifenden Bedenken. Gegen diese Entscheidung legte die Staatsanwaltschaft Hildesheim am 24. 07. 2007 sofortige Beschwerde ein,7 welcher das OLG Celle hinsichtlich zwei der drei Angeklagten stattgab:8 Die vom Landgericht zur Verneinung des hinreichenden Tatverdachts herangezogene Entscheidung des BGH in Zivilsachen widerspreche der ständigen Rechtsprechung der Strafsenate des BGH zum Vorteilsbegriff. Demnach sei ein Vorteil i.S.d. §§ 331 ff. StGB auch bei Vorliegen eines gegenseitigen Vertrages, bei welchem Leistung und Gegenleistung in einem angemessenen Verhältnis stünden, nicht von vornherein ausgeschlossen. Vielmehr könne der Abschluss eines Vertrages bereits für sich 4
Vgl. dazu die Gründe des OLG Celle StV 2008, 251. BGH NJW 2006, 225. Dem zust. NK-StGB/Kuhlen, Bd. 2, 3. Aufl. 2010, § 331 Rn. 79d; SSW-StGB/Rosenau, 2009, § 331 Rn. 44. 6 BGH NJW 2006, 225, 228; hiergegen MK-StGB/Korte, Bd. 4, 2006, § 331 Rn. 253. 7 Sie beantragte darin, abweichend von der ursprünglichen Anklageschrift, das Verfahren hinsichtlich einer Tat nach § 154 Abs. 2 StPO einzustellen. 8 OLG Celle StV 2008, 251 m. Anm. Zieschang. 5
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genommen als Vorteil zu werten sein. Im Übrigen sei die Angemessenheit der Leistungen zweifelhaft, weil der Bezugspunkt für die gewährten Zuwendungen nicht der Aufwand der Schulen, sondern der jeweils erwartete Umsatz gewesen sei. Auch im Hinblick auf die erforderliche Unrechtsvereinbarung sei ein hinreichender Tatverdacht zu bejahen. Zwar hätten keine explizit einschlägigen Verwaltungsvorschriften bestanden, als die Schulfotoaktionen durchgeführt wurden. Jedoch seien die Sachzuwendungen als Spende bzw. als sonstige, mit Werbung verbundene Zuwendung im Sinne von Ziffer 2 des Erlasses des niedersächsischen Kultusministeriums vom 07. 09. 1994 bzw. des inhaltlich gleichlautenden Folgeerlasses vom 10. Januar 20059 anzusehen. Diese Norm, die auch Fälle indirekter Werbung erfasse, sehe zumindest die Benachrichtigung des Schulträgers vor, die nach Überzeugung des Gerichts in den Fällen, welche Gegenstand des Verfahrens waren, nicht erfolgt war. Das in Rede stehende Verhalten der Schulfotografen sei daher regelwidrig und somit unlauter. Der „böse Schein“ der Käuflichkeit folge überdies aus dem Verdacht, die Zuwendungen könnten konkrete Auswirkungen auf die Preisgestaltung gehabt haben. Anhaltspunkte hierfür seien dem Angebotsschreiben für das Jahr 2005 zu entnehmen, in dem ein Preisnachlass für die Eltern in Aussicht gestellt wurde, falls die Schule ihrerseits bereit wäre, auf eine Zuwendung zu verzichten. Dass die Eltern – etwa über die Elternbeteiligung im Rahmen der Schulkonferenz – Einfluss auf diese Entscheidung hätten nehmen können und somit eine gegen eine Unrechtsvereinbarung streitende Transparenz der Preisgestaltung vorgelegen hätte, sei nicht ersichtlich. Die „Üblichkeit“ der Verfahrensweise stehe der Bejahung der Unrechtsvereinbarung ebenfalls nicht entgegen, weil insofern nur gewohnheitsmäßig anerkannte Zuwendungen von geringem Wert, wie sie hier „ersichtlich“ nicht vorlägen, von der Strafbarkeit ausgenommen würden. Dass die Vorgehensweise in wettbewerbsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden sei, ließe das strafrechtliche Unrechtsurteil unberührt.10 Die 5. Strafkammer des Landgerichts Hildesheim sprach die Beschuldigten aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen vom Vorwurf der gemeinschaftlichen gewerbsmäßigen Bestechung frei.11 Gestützt auf die Aussagen der als Zeugen vernommenen Schulleiter stellten die Richter fest, dass die Angeklagten den Schulen bzw. 9 Der Erlass („Wirtschaftliche Betätigung, Werbung, Informationen, Bekanntmachungen und Sammlungen in Schulen sowie Zuwendungen für Schulen“) ist abrufbar unter http://www. mk.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=24745&article_id=6290&_psmand=8 (Stand: 12. 11. 2012). Unter Ziffer 2 heißt es: „Spenden oder sonstige Zuwendungen, die mit Werbung verbunden sind, können entgegengenommen werden, wenn der Werbeeffekt hinter dem pädagogischen Nutzen deutlich zurückbleibt. § 113 NSchG bleibt unberührt. Insbesondere ist die Zustimmung des Schulträgers zur Entgegennahme von Spenden, die der Inventarisierung bedürfen oder Folgekosten verursachen können, erforderlich. Im Zweifel haben sich die Schulen mit dem Schulträger in Verbindung zu setzen. […]“. 10 OLG Celle StV 2008, 251, 253 m. Anm. Zieschang. 11 LG Hildesheim, Urt. v. 11. 5. 2010, Az.: 16 KLs 4252 Js 103632/04; abrufbar unter http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc. id=JURE100065788&st=null&showdoccase=1¶mfromHL=true (Stand: 12. 11. 2012).
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einzelnen Klassen – mit Ausnahme eines Falles, in dem gar keine Zuwendungen ermittelt werden konnten – Geldzuwendungen in einer Höhe zwischen 96,07 E und 848,56 E12 bzw. Sachleistungen in der Größenordnung von 346,84 E bis 885,34 E13 gewährt hatten. In einem Fall wurde erst nach der Vereinbarung des Fototermins eine Zuwendung zugesagt und dies mit der langjährigen Zusammenarbeit mit der Schule begründet. Nach den Feststellungen des Landgerichts waren die Zuwendungen in keinem Fall ausschlaggebend für die Beauftragung; vielmehr waren die räumliche Nähe des Fotografen zur Schule, das Preis-/Leistungsverhältnis bzw. die Qualität der Bilder entscheidend. Festgestellt wurde überdies, dass die Zuwendungen an die Schulen nicht durch eine Überhöhung der Preise für die Bilder finanziert wurden. In rechtlicher Hinsicht nahm das Landgericht auf die Ausführungen des 1. Zivilsenats des BGH in besagter Entscheidung vom 20. 10. 2005 Bezug. Die Kammer ging – mit Ausnahme des Falles, in welchem die Zuwendung mit der langjährigen Zusammenarbeit zwischen dem Fotografen und der Schule begründet worden war – vom Zustandekommen eines gegenseitigen zivilrechtlichen Vertrag aus. Zwar sei ein strafbares Verhalten angesichts dieser Tatsache nicht von vornherein ausgeschlossen. Die gewährten Zahlungen bzw. Sachzuwendungen seien jedoch angesichts des erheblichen Aufwandes für die Schule nicht unangemessen, weshalb kein Vorteil erkennbar sei. Im Übrigen fehle es an einer Unrechtsvereinbarung. Die zur Drittmitteleinwerbung ergangene Rechtsprechung könne auf Fälle der vorliegenden Art nicht übertragen werden, da im fraglichen Zeitraum keine speziellen Regelungen zu Schulfotoaktionen existiert hätten. Jedenfalls seien derartige Aktionen nicht ersichtlich verboten gewesen. Gegen die für eine Unrechtsvereinbarung sprechende Regelwidrigkeit streite ferner, dass weder die Schulleitungen noch die Fotografen in irgendeiner Weise heimlich vorgegangen seien. Grund dafür, dass die Schulaufsichtsbehörden nicht informiert worden seien, sei die geltende Rechtslage. Häufig seien die „Elterngremien“ in die Auswahlentscheidungen einbezogen worden, sofern sie Interesse an der Fragestellung zeigten. Abgesehen davon seien die für die Vorteilsannahme durch Amtsträger entwickelten Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob eine Unrechtsvereinbarung vorliegt, nicht passepartoutartig auf die Schulfotografen anzuwenden, da diese regelmäßig gar nicht erkennen könnten, ob sich der Schulleiter die in Rede ste-
12 Es handelte sich dabei überwiegend um Rabatte, die an die Klassenkassen ausgekehrt wurden. In einem Fall wurden 200 E bar an den Schulleiter ausgehändigt, der davon Ausgaben für den Schulbetrieb tätigte (z. B. Reparatur der Schubkarre des Hausmeisters, Anschaffung eines Erste-Hilfe-Koffers für das Sekretariat; S. dazu LG Hildesheim, Urt. v. 11. Mai 2010, Az.: 16 KLs 4252 Js 103632/04, Rn. 45). In einem anderen Fall wurde von dem bei der Schule verbleibenden Rabatt ein Wandmosaik anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Schule verwendet (a.a.O., Rn. 69). 13 Hierbei handelte es sich bspw. um Laserdrucker, Digital- bzw. Videokameras, die zu Unterrichtszwecken verwendet wurden (LG Hildesheim, Urt. v. 11. Mai 2010, Az.: 16 KLs 4252 Js 103632/04, Rn. 54, 57, 63, 73).
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hende Zuwendung habe genehmigen lassen bzw. das ansonsten behördenintern vorgeschriebene Verfahren eingehalten habe. Die Staatsanwaltschaft rügte in ihrer auf 14 Fälle beschränkten Revision die Verletzung sachlichen Rechts.
III. Auf die Revision hin hob der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Freisprüche auf und verwies die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts Hildesheim zur Neuverhandlung zurück.14 Eingangs monieren die Richter, die vom Tatgericht getroffenen Feststellungen seien nicht geeignet, das Urteil auf Rechtsfehler zu untersuchen; insoweit sei die Beweiswürdigung lückenhaft.15 Konkret habe die Kammer versäumt festzustellen, mit welcher Motivation die Angeklagten den Schulen die jeweiligen Zuwendungen gewährt hätten – ob es darum ging, allein den organisatorischen Aufwand abzugelten oder ob die Leistungen darauf abzielten, die Schulleitung in der Entscheidung zu beeinflussen, wenn sie mit der Durchführung der Fotoaktion betrauen.16Abgesehen davon vermisst der BGH eine Auseinandersetzung mit Indizien, die aus seiner Sicht gegen den Abschluss eines die Leistungen legitimierenden Vertrages sprechen.17 In einem obiter dictum wird sodann ausgeführt, selbst falls die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer erneut feststellen sollte, bei den Zuwendungen habe es sich um eine vertraglich vereinbarte, angemessene Gegenleistung für Organisationsleistungen der Schule gehandelt, sei eine Verurteilung nicht von vornherein ausgeschlossen. Auch in diesem Fall könne es sich um Vorteile handeln, die auf der Grundlage einer Unrechtsvereinbarung gewährt wurden.18 Zur Begründung referiert der Senat zunächst die Definition des Vorteils im Sinne der Korruptionsdelikte als „Leistung […], welche den Amtsträger oder einen Dritten materiell oder immateriell in seiner wirtschaftlichen, rechtlichen oder persönlichen Lage objektiv besser stellt und auf die kein rechtlich begründeter Anspruch besteht“.19 Im Anschluss daran stellt er fest, dass der Abschluss eines Vertrages der Annahme eines Vorteils in diesem 14
BGH StV 2012, 19. Zusammenfassungen des Sachverhalts auch bei Hecker, JuS 2012, 655 sowie bei Zöller, ZfJ 2011, 550. 15 BGH StV 2012, 19. 16 BGH StV 2012, 19, 20. 17 BGH StV 2012, 19, 20. Konkret ging es dabei darum, dass Zuwendungen teilweise unregelmäßig gewährt wurden, in einem Fall erst nach der Vereinbarung des Fototermins ein Hinweis auf die Zuwendungen erfolgte und die Zahlungen als „Rabatt“ bzw. „Sponsoring“ bezeichnet wurden. 18 BGH StV 2012, 19, 20 f. 19 BGH StV 2012, 19, 21 unter Verweis auf BGH NStZ 2008, 216, 217 sowie auf Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 331 Rn. 11.
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Sinne nicht von vornherein entgegenstehe. Unter Bezugnahme auf frühere Entscheidungen des 4. Strafsenats wird sodann die These aufgestellt, dass in diesen Fällen der Vertragsschluss als solcher und die dadurch begründete Forderung den Vorteil darstelle, wenn hierauf kein Anspruch bestehe.20 Ein Anspruch auf Abschluss eines Vertrages sei allerdings – vorbehaltlich von Fällen des Kontraktionszwangs – nicht gegeben. Da der Senat erkennt, dass damit zahlreiche Leistungen an öffentliche Stellen einen Vorteil i.S.d. §§ 331 ff. StGB darstellen würden, schränkt er ein, es bedürfe „der Abgrenzung des unlauteren korruptiven Kaufs einer Diensthandlung im formellen Gewande eines gegenseitigen Vertrages von den vielfältigen Fällen, in denen die öffentliche Verwaltung zur Erfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig öffentlich-rechtliche oder – etwa im Rahmen des Verwaltungsprivatrechts oder der Bedarfsverwaltung – zivilrechtliche Verträge schließt.“21 Maßgebend sei, ob die Diensthandlung, die der Senat in den Tätigkeiten der Lehrkräfte im Zusammenhang mit einer Schulfotoaktion erkennt, aus verwaltungsrechtlicher Sicht zulässigerweise von einer Vergütung abhängig gemacht werden dürfe. Hierfür spreche nicht zuletzt der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung, der von der Rechtsprechung bereits zur Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit der Einwerbung von Drittmitteln fruchtbar gemacht worden sei. Die hiergegen vorgebrachten Bedenken22 – insbesondere, dass eine Zersplitterung der strafrechtlichen Beurteilung drohe – könnten in einem föderalen System nicht überzeugen; vielmehr sei dieser Umstand in den §§ 331 Abs. 3, 333 Abs. 3 StGB bereits angelegt.23 Eine entsprechende verwaltungsrechtliche „Erlaubnisnorm“ sei dem Senat mit Blick auf den zu beurteilenden Fall nicht bekannt. Insbesondere begründe weder das niedersächsische Verwaltungskostenrecht noch ein entsprechender ministerieller Erlass einen Anspruch auf Vergütung der Dienstpflichten von Lehrern im Zusammenhang mit der Durchführung von Fotoaktionen.24 Der Senat stellt klar, dass angesichts fehlender Regelungen wegen des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes kein „Gebührenerfindungsrecht“ der Verwaltung dahingehend existiere, durch vertragliche Regelungen eigene Ansprüche zu begründen. Dieser Grundsatz könnte auch nicht durch ein „Ausweichen in das Privatrecht“ umgegangen werden25. Sei demnach ein Vorteil i.S.d. §§ 331 StGB zu bejahen, stehe zugleich die Unrechtsvereinbarung fest. Der Grundsatz der Sozialadäquanz26 ändere
20
BGH StV 2012, 19, 21 unter Verweis auf BGH, Urt. v. 10. März 1983 (Az. 4 StR 375/ 82), sowie auf BGHSt 31, 264, 279 f. und BGH NStZ 2008, 216 f. 21 BGH StV 2012, 19, 21. 22 Der Senat verweist insoweit explizit auf den Aufsatz von Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498. 23 BGH StV 2012, 19, 21. 24 BGH StV 2012, 19, 21 f. 25 BGH StV 2012, 19, 22. 26 BGH StV 2012, 19, 22: „Schließlich lässt sich eine Sozialadäquanz nicht allein aus einer etwaigen ,Üblichkeit‘ herleiten, da dies bestehende Strukturen der Korruption verfestigen würde, denen durch die Strafrechtsbestimmungen gerade entgegengewirkt werden soll.“
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daran ebenso wenig wie der Umstand, dass die Vorteile nicht den Lehrkräften selbst zugeflossen sind.
IV. Im Schrifttum besteht weitgehend Einigkeit, dass eine Inkriminierung der in Rede stehenden Praxis dem Rechtsgefühl widerspricht. Selbst der niedersächsische Staatsanwalt Busch, der sich bereits im Jahr 2006 zum Urteil des 1. Zivilsenats des BGH äußerte, stellt zwar in Abrede, dass es bei der strafrechtlichen Bewertung von Sponsoringvereinbarungen zwischen Schulen und Fotografen um die Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung gehe. Er vertritt jedoch die These, sofern die auf Transparenz abzielenden schul-, vergabe- und dienstrechtlichen Regelungen eingehalten würden, fehle es an einer Unrechtsvereinbarung.27 Im Jahr 2008 widmete sich Zieschang dem Eröffnungsbeschluss des OLG Celle. Er konzentriert sich auf die Frage, ob es sich bei den in Rede stehenden Zuwendungen um Vorteile i.S.d. §§ 331 ff. StGB handelt, und verneint dies. Zieschang arbeitet heraus, dass das OLG Celle zwischen dem Anspruch auf und demjenigen aus dem Vertrag unterscheidet und mangels Ersterem einen Vorteil bejaht. Er hält diese Trennung für nicht sachgerecht. Nur sofern zwischen den Vertragsparteien eine unangemessen hohe Gegenleistung vereinbart werde oder Leistung und Gegenleistung sachwidrig gekoppelt würden, könne von einem Vorteil gesprochen werden.28 Bezogen auf den konkreten Fall sei eine Abgeltung des Organisationsaufwandes bzw. der Nutzung der Sachmittel der Schule sachgerecht; unangemessen erscheine hingegen eine Verbindung der Zahlung mit dem zu erwartenden Umsatz des Fotografen.29 Ambos/Ziehn äußerten sich im Jahr 2008 ebenfalls zu der Entscheidung des 1. Zivilsenats des BGH sowie zum Eröffnungsbeschluss des OLG Celle. Die Autoren widersprechen dem 1. Zivilsenat im Hinblick auf die Definition des Vorteils und führen aus, normative Erwägungen seien erst im Rahmen der Unrechtsvereinbarung zu berücksichtigen.30 Im Zusammenhang mit diesem Tatbestandsmerkmal differenzieren sie, wie Zieschang, zwischen schülerzahl- und umsatzabhängigen Zuwendungen. Im Falle der letztgenannten komme ein Verstoß gegen das in § 56 VwVfG enthaltene Koppelungsverbot in Betracht, wodurch der die Unrechtsvereinbarung kennzeichnende Anschein der Käuflichkeit begründet werde. Bei der gebotenen „normativen Gesamtbetrachtung“31 sei dieser Anschein jedoch zu verneinen, weil die Vorgehensweise der Schulfotografen zum einen sozialüblich sei und zum anderen im öffentlichen Interesse liege. Der Annahme der Sozialüblichkeit stehe dabei nicht der Wert der Zuwendung entgegen. Im Übrigen seien die Gemeinden dem Gebot der Sparsam27
Busch, NJW 2006, 1100, 1102 f. Zieschang, StV 2008, 253, 254 f. 29 Zieschang, StV 2008, 253, 255. 30 Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 500 f. 31 Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 501. 28
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keit und Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung verpflichtet. Die Situation gleiche daher auf den ersten Blick der Drittmittelproblematik. Die hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze – Notwendigkeit einer Anzeige bei der Aufsichtsbehörde und einer Genehmigung der Zuwendung durch diese – könnten jedoch nicht übertragen werden, weil sich hierdurch die sachwidrige Koppelung nicht auflöse, das Vertrauen in die Lauterkeit der Verwaltung nicht wiederhergestellt werden könne, Rechtszersplitterung drohe und der Zuwendungsgeber keinen Einfluss auf die ordnungsgemäße Durchführung des Anzeige- und Genehmigungsverfahrens habe. Der ultima-ratio-Grundsatz gebiete in diesen Fällen eine Lösung über das beamtenrechtliche Disziplinarrecht.32 Auch Kuhlen lehnt eine Strafbarkeit der Schulfotografen ab, stützt dies auf ein fehlendes Äquivalenzverhältnis zwischen der Sponsoringleistung und der Dienstausübung und leitet dies aus der „Freikartenentscheidung“33 des BGH her. Die Geldbzw. Sachleistungen dienten nur als Mittel zum Zweck der Dienstausübung. Der Abschluss der Sponsoringvereinbarung stehe wiederum in keinem synallagmatischen Verhältnis zur Dienstausübung.34 Schlösser geht in einem Beitrag aus dem Jahr 2011 auf den Schulfotografenfall ein. Er vertritt einen naturalistischen Vorteilsbegriff und bejaht einen Vorteil. Durch eine teleologische Auslegung des Begriffs der Diensthandlung – auch unter Berücksichtigung des ultima-ratio-Grundsatzes – gelangt er zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Tätigkeiten der Lehrkräfte im Rahmen der Schulfotoaktionen nicht um Diensthandlungen handelt.35 Hilfsweise wendet er sich der Frage zu, unter welchen Umständen eine Diensthandlung regelwidrig und damit als Hinweis für eine Unrechtsvereinbarung zu werten sei. Schlösser erwähnt in diesem Kontext drei mögliche Gegenindikatoren – Normenkollisionen, Erlaubnisnormen sowie Einschränkungen auf der Basis von Sozialadäquanz bzw. des ultima-ratio-Grundsatzes – die er allesamt als untauglich erachtet.36 Insbesondere könnten die §§ 54 VwVfG nichts daran ändern, dass eine regelwidrige Kopplung zwischen Leistung und Gegenleistung vorliege. Schließlich hat sich Zöller mit dem Urteil des 3. Strafsenats des BGH befasst. Er stimmt dem Gericht darin zu, dass der Vertragsschluss nicht per se das Vorliegen eines Vorteils beseitige. Allerdings, so Zöller im Ausgangspunkt wie Zieschang, könne die Frage nicht losgelöst von der Beziehung zwischen Leistung und Gegenleistung beurteilt werden. Zöller konzediert, dass der Begriff der Angemessenheit unbestimmt sei und favorisiert das Kriterium einer evidenten Verbesserung der wirtschaftlichen, rechtlichen oder persönlichen Lage des Zuwendungsempfängers. Insoweit seien die getroffenen Feststellungen des Tatgerichts zum organisatorischen Auf32
Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 502. BGHSt 53, 6. 34 NK-StGB/Kuhlen (Fn. 5), § 331 Rn. 79d-e; ders., JR 2010, 148, 151. 35 Schlösser, StV 2011, 300, 305 f. 36 Schlösser, StV 2011, 300, 308 f. 33
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wand der Schulen nicht ausreichend; jedoch sei ein Vorteil zumindest in den Fällen zweifelhaft, in denen weniger als 100 E zugewendet wurden.37 Zöller zweifelt auch an der Richtigkeit der Ausführungen des 3. Strafsenats zur Unrechtsvereinbarung. Diese setze eine Schutzgutsrelevanz voraus; d. h. die Zuwendung müsse den Anschein erwecken, die Amtswalter ließen die erforderliche Unbeeinflussbarkeit vermissen. Hiergegen sprächen im konkreten Fall jedoch zahlreiche Indizien: So sei festgestellt worden, dass die Zuwendungen nicht durch überhöhte Preise für die Fotos „rückfinanziert“ worden seien. Ferner hätten die Verantwortlichen die Auswahl des Fotografen von anderen Kriterien als der Zuwendung abhängig gemacht. Weiterhin sei die Form der Zuwendung weithin üblich. Auch erbrächten die Fotografen Leistungen, die sowohl im Interesse der Schüler, als auch der Eltern und letztlich der Schule selbst stünden. Die Vereinbarung der Zuwendungen sei schließlich nicht heimlich erfolgt. Umgekehrt sei eher davon auszugehen, dass sich ein etwaiger Verzicht des Schulleiters auf die Zuwendungen und die Wahl eines Anbieters, der bei vergleichbaren Preisen keine Zuwendung leiste, als ermessensfehlerhaft darstellen könnte.38 Schließlich spräche der Umstand, dass regelmäßig keine Anhaltspunkte dafür erkennbar seien, dass sich die Schulleiter erst aufgrund der Inaussichtstellung von Zuwendungen für die Beauftragung entschieden hätten, gegen die Annahme, es handele sich um eine Zuwendung „für“ eine Diensthandlung. Vielmehr erfolge die Zuwendung lediglich „anlässlich“ einer solchen. Ungeachtet dieser Einschätzung rät Zöller den mit entsprechenden Angeboten konfrontierten Schulleitern, unabhängig von der Existenz spezieller verwaltungsrechtlicher Regelungen die Absicht eines derartigen Vertragsschlusses gegenüber der jeweiligen Aufsichtsbehörde anzuzeigen und eine entsprechende Genehmigung zu beantragen.39
V. Der 3. Strafsenat reduziert die Frage, ob ein Vorteil i.S.d. §§ 331 ff. StGB und zugleich eine Unrechtsvereinbarung gegeben sind, im Wesentlichen auf die verwaltungsrechtliche Zulässigkeit der „Gebührenerhebung“ durch die Schulen. Zu Recht befürchteten Ambos/Ziehn bereits im Jahr 2008, der Bezug auf landesrechtliche Verwaltungsnormen könnte mit Blick auf die vorliegende Frage eine Rechtszersplitterung auslösen.40 Zwar geht der BGH – wie bereits hervorgehoben – explizit auf das Argument ein und hält diesen Umstand für in den §§ 331 ff. StGB angelegt. Doch erscheint schon dies fraglich. Die Vorschriften des 30. Abschnitts des StGB sollen nach verbreiteter Ansicht das Vertrauen der Allgemeinheit
37
Zöller, ZJS 2011, 550, 554 f. Zöller, ZJS 2011, 550, 555 f. 39 Zöller, ZJS 2011, 550, 556. Ebenso NK-StGB/Kuhlen (Fn. 5), § 331 Rn. 79e. 40 Ambos/Ziehn, NStZ 2008, 498, 501. 38
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in die Lauterkeit der öffentlichen Verwaltung sichern.41 Sollte es sich bei der durch das Bundesgesetz StGB geschützten „Allgemeinheit“ tatsächlich nur um die des jeweiligen Bundeslandes bzw. des Landkreises oder der jeweiligen Gemeinde handeln,42 und läuft man hierdurch nicht Gefahr, das – ohnehin schon vage – Telos der Normen weiter zu entwerten?43 Dürfen in Zukunft Kindergärten, Schulen und Universitäten selbst offen deklarierte Fördermittel nur annehmen, wenn spezifische Regelungen dies ausdrücklich zulassen? Soll das Verwaltungssponsoring generell allen Unternehmen verboten sein, mit denen der Profiteur unmittelbare oder mittelbare Geschäftskontakte unterhält? Das wäre ein in der Praxis wohl kaum durchsetzbares und auch nicht sinnvolles Ergebnis. Natürlich ist die Grundannahme des BGH richtig, dass allein der Abschluss eines Vertrages nicht die Rechtmäßigkeit der Gewährung eines Vorteils bewirkt. Dies ist jedoch in Rechtsprechung und Literatur inzwischen unstreitig, weshalb das Gericht insoweit nur offene Türen einrennt. Zöge man daraus jedoch den Schluss, Verträge, durch welche die öffentliche Hand begünstigt wird, seien ohne spezielle Rechtsgrundlage stets verboten, geriete der Sinn der Korruptionsbekämpfung aus dem Blickfeld. Es geht darum, verdeckte Zuwendungen, welche den Amtsträger im Rahmen seiner Entscheidungsfindung beeinflussen könnten, zu verhindern. Bei völliger Transparenz (bis hin zur Ausschreibung des Projekts), Einschaltung aller betroffenen Akteure (wie Lehrerkonferenz, Elternbeirat, Klassenkonferenz, …) und Meldung an die zuständige Aufsichtsbehörde ist das Schutzgut der Korruptionsdelikte, nämlich die Lauterkeit der öffentlichen Verwaltung, meines Erachtens nicht in Gefahr. Besteht dennoch ein Strafbarkeitsrisiko, bewirkt dies lediglich die aus wirtschaftlicher Sicht fatale Überregulierung des Marktes. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie die vom BGH für notwendig erachtete Regelung konkret aussehen soll. Insoweit erscheint es zunächst naheliegend, das Erfordernis der „Angemessenheit“ festzuschreiben. Jedoch findet sich dieses bereits in § 56 Abs. 1 S. 2 VwVfG, der Anforderungen an die Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Verträge normiert. Eben dieser Vorschrift unterfallen – entgegen der Ansicht des BGH – bereits dem Wortlaut nach sowohl Rabatt- als auch Sponsoringabreden44 der in Rede stehenden Art.45 Ein zusätzliches spezialgesetzliches Erfordernis der Ange41
Übersicht zum Meinungsstand zu dieser Frage bei LK-StGB/Sowada, Bd. 13, 2009, Vor § 331 Rn. 29 ff.; MK-StGB/Korte (Fn. 6), § 331 Rn. 2 ff. 42 Hierzu bereits Schreiber/Rosenau/Combé/Wrackmeyer, GA 2005, 265, 272. 43 Siehe dazu auch Knauer/Kaspar, GA 2005, 385, 404: „[…] das Vertrauen in die Lauterkeit der Verwaltung kann kaum durch ein Verhalten gestört werden, das andernorts etwa durch Landesgesetz als zulässig angesehen wird.“ 44 Zum Begriff des Sponsoring instruktiv Höltkemeier, Sponsoring als Straftat. Die Bestechungsdelikte auf dem Prüfstand, 2004, S. 52 ff.; Satzger, ZStW 115 (2003), 469, 470, 473; Schlösser, StV 2011, 300, 301. 45 Der öffentlich-rechtliche Charakter der in Rede stehenden Vereinbarungen folgt bereits daraus, dass es sich bei der Frage, ob dem Fotograf die Durchführung der Fotoaktion gestattet wird, um eine den schulrechtlichen Regelungen unterfallende Frage handelt und die Leistun-
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messenheit in den Schulgesetzen oder in untergesetzlichen Normen einzelner Bundesländer, Landkreise oder Gemeinden erscheint daher überflüssig und würde kein „Mehr“ an Rechtssicherheit bringen. Interpretiert man das Urteil des BGH hingegen so, dass eine spezielle Regelung zu den „Gebührenerhebungsmöglichkeiten“ der Schulen erforderlich ist, muss darüber nachgedacht werden, wie derartige Normen in der Praxis aussehen sollen. Wer soll die Gebühren erheben dürfen – der Träger der Schule als „Hausherr“ (regelmäßig die Kommunen) oder das jeweilige Bundesland als Dienstherr der Lehrkräfte? Letztere verrichten die im Zusammenhang mit dem Besuch des Schulfotografen erforderlichen Tätigkeiten zwar nach Ansicht des BGH in Erfüllung einer dienstrechtlichen Nebenpflicht und erwerben daher keinen gesonderten Vergütungsanspruch; gleichwohl müssen diese Dienste dem Fotografen bzw. (letztlich) den Eltern nicht zwangsläufig kostenlos angeboten werden. Wie konkret soll die Norm gefasst sein, um bei Festlegung des seitens des Fotografen aufzuwendenden Betrages sämtliche Handlungen von Lehrkräften, Hausmeistern und Reinigungskräften im Zusammenhang mit der Anfertigung von Klassenfotos zu erfassen? Muss das Geleiten der Schüler zum Fotoraum bzw. Foto-Bus, das Einsammeln des Geldes und das Austeilen der Fotos in einer gesonderten Gebührentabelle zum Ausdruck gebracht werden? Und wenn ja: Kann – und angesichts leerer Kassen: muss46 – ein umso höherer Betrag in Ansatz gebracht werden, je länger der Weg vom Klassenraum zum Fotozimmer ist? Oder soll sich die Höhe der Gebühr nach der Anzahl der betreuten Schüler richten? Oder nach beidem? Letztlich steht hinter diesen Details wieder die allgemeine Frage, welche Gegenleistung für die von der Schule erbrachten Leistungen angemessen ist. Derlei grotesk anmutenden Fragen stellen sich letztlich nur deshalb, weil der vom BGH eingeschlagene Weg schon grundsätzlich in die falsche Richtung weist. Bei richtiger Betrachtungsweise existiert nämlich das vom BGH behauptete Erfordernis spezieller Regelungen gar nicht. Der Senat hat bei seiner Forderung nach einer strengen Verwaltungsrechtsakzessorietät den entscheidenden Punkt übersehen, nämlich dass sich aus § 54 S. 1 VwVfG die Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Verträge ergibt, ohne dass es einer weiteren Rechtsgrundlage bedürfte. Die Vorschrift lautet wörtlich: „Ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts kann durch Vertrag begründet, geändert oder aufgehoben werden (öffentlich-rechtlicher Vertrag), soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen.“
Der letzte Halbsatz beinhaltet den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes. Der vom BGH gegen die Zulässigkeit von Vereinbarungen über die in Rede stehenden Zuwengen, die die einzelnen Lehrer im Zusammenhang mit der Fotoaktion erbringen, Diensthandlungen darstellen. 46 Bernsmann/Gatzweiler (Verteidigung bei Korruptionsfällen, 2008, Rn. 466, Fn. 610) weisen zu Recht darauf hin, dass bei der Nichtannahme einer angebotenen Sponsoring-Leistung eine Untreue des betreffenden Amtsträgers in Betracht kommt.
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dungen ins Feld geführte Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes ist weder in § 54 S. 1 VwVfG noch in anderen verwaltungsrechtlichen Regelungen zur Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Verträge als weiteres Erfordernis enthalten.47 Es handelt sich dabei nicht etwa um ein Versehen des Normgebers, weil dieser Grundsatz bereits seinem Sinn und Zweck nach Eingriffe des Staates in die Freiheitssphäre des Bürgers betrifft, nicht aber die Situation im Auge hat, dass sich der Bürger und die Verwaltung als vertragsschließende Subjekte „auf Augenhöhe“ begegnen. Hier verzichtet der Bürger freiwillig rechtswirksam auf die Beachtung dieses Grundsatzes.48 Dass die Schulleiter in irgendeiner Weise Druck auf die Fotografen ausgeübt hätten, so dass die Freiwilligkeit zu verneinen und von einer „Umgehung des Gesetzesvorbehalts“ durch Ausweichen in das Vertragsrecht auszugehen wäre, ist nicht ersichtlich, ganz abgesehen davon, dass dieser Zwang der öffentlichen Hand gegenüber den Fotografen dann wohl entschuldigende Wirkung entfalten müsste. Wie sonst auch darf der Vertragsschluss selbstverständlich nicht gegen gesetzliche Vorschriften verstoßen. Insbesondere darf das in § 56 Abs. 1 S. 2 VwVfG geregelte Koppelungsverbot nicht verletzt werden.49 Ob dies bei den in Rede stehenden Verträgen der Fall ist, ist verwaltungsgerichtlich – soweit ersichtlich – bislang nicht geklärt worden. Das BVerwG hat im Jahr 2000 in einer auf einen städtebaulichen Vertrag bezogenen Entscheidung wörtlich ausgeführt: 47 Bonk in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 54 Rn. 10, führt aus, dass durch § 54 VwVfG klargestellt worden sei, dass die Verwaltung ohne weitere Ermächtigungsgrundlage handeln dürfe. 48 In einer Entscheidung aus dem Jahr 1973 hat das Bundesverwaltungsgericht (E 42, 331, 335) wörtlich ausgeführt: „Das sicherlich bestehende, nämlich aus Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit den Grundrechten ableitbare Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für Eingriffe in ,Freiheit und Eigentum‘ erfasst verwaltungsrechtliche Verträge nicht, weil es bei ihnen, auch soweit Grundrechtspositionen berührt werden, angesichts der einverständlichen Mitwirkung der am Vertrag Beteiligten zumindest nicht in dem Sinne zu Eingriffen kommt, in dem dies bei jenem Erfordernis gesetzlicher Grundlage vorausgesetzt wird. Das alles schließt, wie hinzugefügt werden mag, selbstverständlich nicht aus, daß verwaltungsrechtliche Verträge in bestimmten Rechtsbereichen einem (speziellen) Erfordernis gesetzlicher Grundlage unterworfen oder sogar in einer Weise unzulässig sein mögen, an der nicht einmal eine gesetzliche Grundlage etwas zu ändern vermöchte. Es schließt erst recht nicht aus, daß in manchen Rechtsbereichen eine Art Vermutung gegen ihre Zulässigkeit sprechen mag und daß letztlich überhaupt die Auslegung der jeweils einschlägigen Bestimmungen darüber entscheidet, ob und in welchem Umfang von dem Mittel des verwaltungsrechtlichen Vertrages Gebrauch gemacht werden darf. Alles dies berührt nicht die Einsicht, daß der Abschluß verwaltungsrechtlicher Verträge einem allgemeinen Erfordernis gesetzlicher Grundlage nicht unterliegt.“ Siehe dazu aus grundrechtsdogmatischer Sicht näher Gurlit, Verwaltungsvertrag und Gesetz. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Verhältnis von vertraglicher Bindung und staatlicher Normsetzungsautorität, S. 387, 389 ff. m. zahlr. Nachw. 49 Korte (MK-StGB [Fn. 6], § 331 Rn. 107, Fn. 337) hält vorliegend die Wahrung des Koppelungsverbots für „sehr fraglich“, begründet dies allerdings nicht näher. Auch aus welchem Grund Schlösser (StV 2011, 300, 309) hier keine gegen die Unrechtsvereinbarung streitende Wirkung des öffentlich-rechtlichen Vertrages anerkennen will, ist – vor allem vor dem von ihm selbst zuvor betonten ultima-ratio-Grundsatz – nicht nachvollziehbar.
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„Auszugehen ist vom Zweck des schon vor dem Inkrafttreten des § 56 VwVfG entwickelten und in die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder übernommenen Koppelungsverbots. Es besagt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats […], daß – zum einen – durch einen verwaltungsrechtlichen Vertrag nichts miteinander verknüpft werden darf, was nicht ohnehin schon in einem inneren Zusammenhang steht und daß – zum anderen – hoheitliche Entscheidungen ohne entsprechende gesetzliche Ermächtigung nicht von wirtschaftlichen Gegenleistungen abhängig gemacht werden dürfen, es sei denn, erst die Gegenleistung würde ein der Entscheidung entgegenstehendes rechtliches Hindernis beseitigen (kein ,Verkauf von Hoheitsakten‘ […]).“50
Das Koppelungsverbot wird in der verwaltungsrechtlichen Literatur sehr eng ausgelegt und soll erst dann verletzt sein, wenn keine sachlich vertretbaren Gründe für die Verknüpfung der privaten Leistung mit der öffentlichen Gegenleistung bestehen; dies soll im Zweifel dann der Fall sein, wenn ein gesetzliches Verbot besteht.51 Ein Verbot der Annahme von Zuwendungen existiert jedoch in den schulrechtlichen Gesetzen nicht – im Gegenteil. Im Freistaat Bayern heißt es in Art. 84 Abs. 1 BayEUG52 : „Der Vertrieb von Gegenständen aller Art, Ankündigungen und Werbung hierzu, das Sammeln von Bestellungen sowie der Abschluss sonstiger Geschäfte sind in der Schule untersagt. Ausnahmen im schulischen Interesse insbesondere für Sammelbestellungen regelt die Schulordnung.“
Dem letztgenannten Satz entsprechend ist in § 24 Abs. 3 VSO53 zu lesen: „Wird durch erhebliche Zuwendungen Dritter die Schule bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt oder die Herstellung oder Anschaffung für Erziehung und Unterricht förderlicher Gegenstände ermöglicht, kann auf Antrag der oder des Dritten hierauf in geeigneter Weise hingewiesen werden. Unzulässig ist eine über die Nennung der zuwendenden Person oder Einrichtung, der Art und des Umfangs der Zuwendung hinausgehende Produktwerbung. Die Entscheidung trifft die Schulleiterin oder der Schulleiter nach Anhörung des Schulforums, bei Grundschulen nach Anhörung des Elternbeirats.“
Daraus lässt sich folgern, dass selbst erhebliche Zuwendungen Dritter – auch von Fotografen – an Schulen nicht bereits für sich genommen schulrechtlich unzulässig 50
BVerwGE 111, 162, 169. So Bonk (Fn. 47), VwVfG, § 56 Rn. 49a. Dort heißt es weiter: „Dient die vom Privaten zu erbringende Leistung einem anerkannten öffentlichen (auch finanziellen) Interesse des ör Vertragspartners und hat die Behörde für die Gegenleistung (ohne den Vertrag) gesetzliche Entscheidungsspielräume, wird der innere Zusammenhang zwischen beiden in der Regel nicht verneint werden, sofern nicht konkrete und triftige Gegengründe vorliegen und überwiegen.“ 52 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000, abrufbar unter http://www.gesetze-bayern.de/ jportal/portal/page/bsbayprod.psml?showdoccase=1&doc.id=jlr-EUGBY2000rahmen&doc. part=X&st=lr (abgerufen am 12. 11. 2012). 53 Schulordnung für die Grundschulen und Hauptschulen (Volksschulen) in Bayern (Volksschulordnung – VSO) vom 11. September 2008, abrufbar unter http://www.gesetzebayern.de/jportal/portal/page/bsbayprod.psml?showdoccase=1&doc.id=jlr-VoSchulO BY2008rahmen&doc.part=X&st=lr (abgerufen am 12. 11. 2012). 51
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sind. Gleiches lässt sich dem bereits erwähnten Erlass des niedersächsischen Kultusministeriums54 entnehmen.55 Fraglich ist, ob aus den auf den städtebaulichen Vertrag bezogenen Ausführungen des BVerwG mit Blick auf die fehlende explizite gesetzliche Regelung ein Kopplungsverbot zwischen den seitens der Fotografen gewährten Zuwendungen und den vom BGH ausdrücklich als Diensthandlungen erachteten Tätigkeiten der Lehrkräfte folgt. Insoweit sind die zitierten Ausführungen des BVerwG nicht aussagekräftig, weil sie sich auf einen gesetzlich explizit geregelten (§ 11 BauGB) Fall des öffentlich-rechtlichen Vertrages beziehen. Den vorliegend in Rede stehenden Sponsoringverträgen ist jedoch gerade immanent, dass sie nicht im Einzelnen gesetzlich normiert sind. Das Koppelungsverbot ist aus diesem Grund auf die grundsätzliche Zulässigkeit des Sponsorings zu beschränken. Diese ist, wie dargestellt, bereits nach der derzeitigen gesetzlichen Lage zu bejahen. Selbst wenn die in Rede stehenden Verträge zwischen Schulleitern und Fotografen gegen das Koppelungsverbot verstießen, wäre nicht zwingend von einer Unrechtsvereinbarung im Sinne der Korruptionstatbestände und damit einer Strafbarkeit der beteiligten Akteure auszugehen. Vielmehr könnte jedenfalls den Fotografen in der Regel zumindest kein vorsätzliches Handeln unterstellt werden56, denn die Frage, ob ein Verstoß gegen das Koppelungsverbot vorliegt, lässt sich kaum abstrakt-generell beantworten; vielmehr bedarf es nach Rechtsprechung des BVerwG einer sorgfältigen Analyse aller Umstände des Einzelfalls.57 Im Übrigen spräche der ultima-ratio-Grundsatz dagegen, aus der verwaltungsrechtlichen Nichtigkeit automatisch die strafrechtliche Unrechtsvereinbarung zu folgern.58 54
Runderlass des Niedersächsischen Kultusministeriums v. 10. Januar 2005 („Wirtschaftliche Betätigung, Werbung, Informationen, Bekanntmachungen und Sammlungen in Schulen sowie Zuwendungen für Schulen“), abrufbar unter http://www.mk.niedersachsen.de/portal/live. php?navigation_id=24745&article_id=6290&_psmand=8 (abgerufen am 12. 11. 2012). 55 Zwar heißt es in einem vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen im Dezember 2010 herausgegebenen Leitfaden „Schulsponsoring heute“ (abrufbar unter https://services.nordrheinwestfalendirekt.de/broschuerenservice/down load/70895/schulsponsoring.pdf; abgerufen am 12. 11. 2012) auf S. 12, bei der Schulfotoaktion handele es sich nicht um ein zulässiges Schulsponsoring i.S.d. § 99 NWSchulG. Indes bezieht sich diese Kritik ausschließlich auf die Modalitäten (Anfertigung der Fotos während der Unterrichtszeit, Weitergabe von Daten der Schüler zur Anfertigung von Ausweisen). Wörtlich heißt es dort: „Eine Verlegung von Fotoaktionen in die unterrichtsfreie Zeit ohne Einbindung der Schule in Organisation und Vertrieb der Fotomappen ist demgegenüber unbedenklich. […]“. 56 So KG StV 2009, 32, 34 unter Verweis auf MK-StGB/Korte (Fn. 6), § 331 Rn. 21. Das LG Stade hatte in einer Entscheidung aus dem Jahr 2005 (Beschl. v. 28. 01. 2005, Az.: 12 Qs 153/04, zit. nach juris) in einem Fall, bei dem es das Koppelungsverbot als verletzt ansah, einen unvermeidbaren Verbotsirrtum angenommen und diesen mit den zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses erst ein Jahr alten verschärften Korruptionstatbeständen begründet. 57 So BVerwGE 111, 162, 169. 58 In diesem Sinne Ipsen, NdsVBl. 2011, 209, 213 im Zusammenhang mit städtebaulichen Verträgen: „Es hieße, über das Ziel der Korruptionsbekämpfung hinauszuschießen, würde
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VI. Was folgt nun aus dem Urteil des BGH für zukünftige Kontakte zwischen Schulfotografen und Schulen? Die Bundesvereinigung Deutscher Schulfotografen e.V. erachtet die Gewährung von Zuwendungen, Aufwandsentschädigungen oder Rabatten bis zum Erlass der von den Richtern angemahnten Kostenregelungen für nicht (mehr) zulässig.59 In ähnlicher Weise interpretiert offenbar auch das Bayerische Kultusministerium das Urteil des BGH. In einem an alle staatlichen Schulen in Bayern, die staatlichen Schulämter sowie die Ministerialbeauftragten für die Realschulen, Gymnasien sowie FOS/BOS gerichteten Schreiben vom 14. November 2011 wird ausgeführt:60 „wir möchten Sie mit diesem Schreiben auf beiliegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 26. 05. 2011 (Az.: 3 StR 492/10) hinweisen. Dieser Entscheidung lag ein Sachverhalt in Niedersachsen zugrunde, in dem ein Schulfotograf für die Aufnahme von Klassenfotos in der Schule der die Schulfotoaktion betreuenden Lehrkraft oder der Schule ,als Aufwandsentschädigung‘ Zuwendungen in Form von Geld- oder Sachleistungen gewährte. Diese Praxis ist nach Auffassung des BGH rechtswidrig, sofern keine verwaltungsrechtliche Grundlage (etwa in Form einer Gebührenordnung) vorhanden ist, die es gestatten würde, von einem Fotografen für den organisatorischen Aufwand der Schule anlässlich einer Schulfotoaktion eine Vergütung zu beanspruchen. Vor dem Hintergrund, dass auch in Bayern keine derartige verwaltungsrechtliche Grundlage besteht, bitten wir Sie dafür Sorge zu tragen, dass die Entgegennahme von Zuwendungen im Rahmen von Schulfotoaktionen durch die Schule, durch die Lehrkräfte oder sonstiges Schulpersonal unterbleibt. Ein Verstoß gegen diese Vorgabe kann nicht nur dienstrechtliche sondern auch strafrechtliche Konsequenzen haben wie die zitierte Entscheidung belegt.“61 man jedenfalls prima facie den in Schriftform abgeschlossenen – wenngleich nichtigen – städtebaulichen Vertrag als Unrechtsvereinbarung werten und damit den geläufigen Korruptionspraktiken gleichstellen.“ 59 Siehe den Beitrag „Keine Gewährung von Aufwandspauschalen mehr möglich!“, abrufbar unter http://www.bvds-ev.de/files/BGH_Urteil_Zusammenfassung.pdf (abgerufen am 12. 11. 2012). 60 Abrufbar unter http://www.realschule.bayern.de/schulleitung/kms/archiv/11117555.pdf (abgerufen am 12. 11. 2012 – Kursivierungen im Original als Unterstreichung). 61 In dem freisprechenden Urteil des LG Hildesheim, Urt. v. 11. Mai 2010, Az.: 16 KLs 4252 Js 103632/04 heißt es unter Rz. 9 wörtlich: „[…] Im Zeitraum der angeklagten Taten gab es im Land Niedersachsen keine gesetzliche Regelung und keinen ministeriellen Erlass, wie von Seiten der Schulen mit Schulfotografieaktionen zu verfahren war. Erst nach Kenntnis der diesem Strafverfahren zugrunde liegenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen versandte die Landesschulbehörde Lüneburg unter dem Datum des 06. 05. 2005 sowie die Landesschulbehörde Hannover unter dem Datum des 23. 05. 2005 inhaltlich im wesentlichen gleichlautende Schreiben, in denen auf die Problematik der möglichen Strafbarkeit wegen Vorteilsnahme oder Bestechlichkeit hingewiesen wurde. Auch darin wurden jedoch keine bindenden Regelungen getroffen. In dem Schreiben heißt es unter anderem: […] ,Grundsätzlich steht es den Schulen frei, im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Betätigung das günstigste Angebot auszuwählen. Allerdings ist z. B. wie hier der Abschluss eines Vertrages, der die Rückzahlung von Geldbeträgen sowie die unentgeltliche Überlassung weiterer Fotos vorsieht – insbesondere
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Das Ministerium weist also zu Recht auf das derzeit bestehende Strafbarkeitsrisiko hin, verkennt dabei aber offenbar, dass es selbst die Möglichkeit hätte, dieses Risiko – durch einen die erläuterte Praxis legitimierenden, ministeriellen Erlass oder eine entsprechende Gesetzesinitiative – zu beseitigen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier der „schwarze Peter“ vom einen zum anderen geschoben wird: Der BGH urteilte, die Praxis sei strafbar, weil im Verwaltungsrecht keine spezielle, die Zuwendungen legitimierende normative Grundlage existiere. Das Ministerium, das eine solche Grundlage schaffen oder zumindest anstoßen könnte, begnügt sich seinerseits nunmehr mit dem Verweis auf das aus der Rechtsprechung des BGH resultierende Strafbarkeitsrisiko. Auch wenn (vorerst) keine entsprechenden Regelungen geschaffen werden sollten, darf nicht aus dem Blickfeld geraten, dass der 3. Strafsenat – nota bene in einem obiter dictum – lediglich zum Ausdruck gebracht hat, dass für eine „Gebührenerhebung“ für die Tätigkeiten der an einer Fotoaktion beteiligten Lehrkräfte nach geltender Rechtslage in Niedersachsen keine verwaltungsrechtliche Grundlage bestehe, was ein – freilich gewichtiges – Indiz für einen strafrechtlich relevanten Vorteil und eine Unrechtsvereinbarung sei. In zahlreichen anderen Entscheidungen hat der BGH in tragenden Erwägungen im Wege einer Gesamtschau untersucht, ob eine Unrechtsvereinbarung vorliegt.62 Dieser Umstand lässt sich bei der Beantwortung der Frage, welche Lehren für künftige Vereinbarungen zwischen Schulen und Fotografen zu ziehen sind, um das Risiko strafrechtlicher Verfolgung der an derartigen Absprachen Beteiligten zu minimieren, fruchtbar machen: Solange es keine entsprechenden Kostenregelungen gibt, wird es wesentlich darauf ankommen, die vom BGH als Indizien für das Vorliegen eines Vorteils bzw. einer Unrechtsvereinbarung gewerteten Umstände bereits in dem – aus Dokumentationsgründen zwingend schriftlich abzuschließenden – Vertrag zu widerlegen. Zunächst ist darin ausdrücklich festzuhalten, dass es sich um eine öffentlich-rechtliche Vereinbarung handelt, deren Zulässigkeit sich aus § 54 S. 1 VwVfG sowie den jeweiligen schulrechtlichen Landesregelungen ergibt und bei der es nicht darum geht, im Sinne des Urteils des BGH Diensthandlungen von Amtsträgern in irgendeiner Form „abzukaufen“. Weiterhin sind die vom BGH zum Thema Hochschulsponsoring63 entwickelten Vorgaben heranzuziehen.64 Zwar konnten die Richter in diesem Bereich auf verwaltungsrechtliche Regelungen zurückgreifen, die vorliegend gerade fehlen. Jedoch sind die Fälle wenn dies zu Lasten der die Kosten tragenden Erziehungsberechtigten geht –, wegen des oben genannten Tatbestandes des § 331 StGB rechtlich bedenklich.‘ […]“. 62 Zur Bedeutung dieser Vorgehensweise – Gesamtwürdigung der Umstände – grundlegend BGHSt 53, 6, 16 ff. („Freikartenentscheidung“) unter Verweis auf BGH NStZ 2008, 216, 218. Siehe in diesem Zusammenhang auch KG StV 2009, 32, 34. 63 BGHSt 47, 295, 303, 306, 308; 48, 44, 51; BGH NStZ-RR 2003, 171, 172. Hierzu u. a. Höltkemeier, Sponsoring als Straftat. Die Bestechungsdelikte auf dem Prüfstand, 2004, S. 190 ff. sowie Satzger, ZStW 115 (2003), 469, 492 ff. 64 So auch Bernsmann/Gatzweiler, Verteidigung bei Korruptionsfällen, 2008, Rn. 466, die sich dabei auf das Verwaltungssponsoring allgemein beziehen.
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insoweit vergleichbar, als das Schulrecht – wie dargestellt – das Sponsoring nicht von vornherein verbietet, sondern als ein grundsätzlich zulässiges Vertragsmodell erachtet, und sowohl die Entscheidung über Sponsoringaktionen den Schulleitern als Dienstaufgabe obliegt65 als auch die organisatorische Unterstützung den einzelnen Lehrkräften. Die Anforderungen des BGH zum Hochschulsponsoring sind daher sinngemäß zu übertragen.66 Das bedeutet: Der Wert der angebotenen Zuwendungen sollte sich nicht an dem zu erwartenden Umsatz des Fotostudios bemessen,67 sondern vielmehr im Hinblick auf den Aufwand der Schule im Zusammenhang mit der Fotoaktion angemessen sein. Zudem sollte die Schulleitung entsprechende Angebote vor Annahme der jeweiligen Zuwendung sowohl der Elternvertretung als auch der Lehrerkonferenz zur Kenntnis bringen, um auf diese Weise ebenso für Transparenz zu sorgen, wie durch die Anzeige des Angebots gegenüber der zuständigen Schulaufsichtsbehörde68 verbunden mit der Bitte um Genehmigung – selbst auf die Gefahr hin, dass die betreffende Behörde im vorauseilenden Gehorsam den Gehalt des BGH-Urteils überschätzt, ihre Zustimmung verweigert und die Annahme des Angebots untersagt.
VII. Das Urteil des 3. Strafsenats des BGH ist offenbar von dem Bestreben getragen, dem Rechtsanwender die Handhabung der vagen Korruptionsvorschriften zu vereinfachen. Der BGH möchte unter Zuhilfenahme des Verwaltungsrechts – konkret: des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes – geregelt finden, was die Vorschriften der §§ 331 ff. StGB an Rechtsklarheit vermissen lassen. Es ist jedoch nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, ein öffentlich-rechtliches Vertragsrecht zu schaffen, um der Strafjustiz die Arbeit zu erleichtern. Vielmehr ist der Strafrichter seinerseits dazu angehalten, die verwaltungsrechtlichen Regelungen – auch zur Zulässigkeit des Sponsorings – nachzuvollziehen. Diese sehen nun einmal die Möglichkeit vor, öffentlichrechtliche Verträge zu schließen, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Ungeachtet der Frage, ob die bloße Existenz einer verwaltungsrechtlichen Regelung, welche speziell die Zuwendung von Vorteilen an die öffentliche Hand durch Privatpersonen legitimiert, tatsächlich per se geeignet wäre, das Vertrauen der All65 Siehe bspw. den Runderlass des Kultusministeriums Sachsen-Anhalt „Werbung, Warenverkauf und Sponsoring an Schulen“ v. 09. September 1998 – 31 – 80105 – 2 (abrufbar unter http://www.mk-intern.bildung-lsa.de/Bildung/er-werbungsponsoring.pdf; abgerufen am 12. 11. 2012) sowie § 99 NW SchulG. 66 Zur sinngemäßen Anwendbarkeit der Grundsätze auf Städte und Gemeinden siehe Schreiber/Rosenau/Combé/Wrackmeyer, GA 2005, 265 ff. 67 So hatte der BGH in der Entscheidung St 48, 44 geurteilt. Siehe in diesem Zusammenhang auch die auf die Drittmittelförderung bezogenen Ausführungen von Satzger, ZStW 115 (2003), 469, 494. 68 Zur Bedeutung dieses Aspekts für die Beurteilung der Frage, ob eine Unrechtsvereinbarung vorliegt, Knauer/Kaspar, GA 2005, 385, 396. Siehe in diesem Zusammenhang auch BGHSt 53, 6, 17.
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gemeinheit in die Lauterkeit der Verwaltung zu stärken69, hat die nähere Analyse des Urteils ergeben, dass eine solche Spezialregelung bereits aus verwaltungsrechtlichen Gründen nicht erforderlich ist. Sowohl für die Fotografen als auch für die Schulleiter, die mit Schulfotoaktionen zu tun haben, ist die Rechtsanwendung durch das Urteil nicht eben erleichtert worden. In der derzeit ungeklärten Situation ist den Schulfotofragen wohl doch zu raten, vorsichtshalber auf jedwede Zuwendungen an Schulen zu verzichten. Die Landesgesetzgeber bzw. die zuständigen Landesministerien sind aufgerufen, diesen Zustand der Unsicherheit durch den Erlass klarstellender Regelungen zu beenden, damit ein erträgliches Maß an Rechtssicherheit für die mit der Thematik befassten Protagonisten erzielt wird. Notfalls können auch die Gemeinden entsprechende Nutzungssatzungen schaffen. Aus Nordfranken hört man, dass dort die erste gemeindliche Satzung erlassen worden ist, die es den Schulen gestattet (bzw. von ihnen fordert?), von den Fotografen für jeden fotografierten Schüler ein Entgelt von 2, 50 E zu verlangen. Diese Entwicklung zeigt, wie wenig klug es war, die Weichen zugunsten einer derartigen Rechtszersplitterung zu stellen. Der für den Einsatz des Strafrechts als Leitmotiv unverzichtbare ultima-ratio-Grundsatz wurde wieder einmal aus den Augen verloren.70 Die Diskussion wird weitergehen – nicht zuletzt angesichts des Geldmangels an öffentlichen Schulen, der aus Sicht von Schülern, Eltern, Lehrern und Schulleitern Sponsoringleistungen wünschenswert erscheinen lässt. Die Ausführungen dürften gezeigt haben, dass das Urteil des BGH Grundsatzfragen aufwirft, die weit über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus von Bedeutung sind. Es geht eben nicht nur darum, ob die bislang im Bereich der Schulfotografie übliche Sponsoringpraxis fortgeführt werden darf, sondern um die allgemeine Frage, inwieweit verwaltungsrechtliche Vorgaben für die Auslegung der Korruptionstatbestände von Bedeutung sind. Da sich Wolfgang Frisch bekanntermaßen gerne mit derartigen Grundsatzfragen beschäftigt, hoffe ich, dass auch der vorliegende Beitrag auf sein Interesse stößt. Ich wünsche dem Jubilar ein langes, gesundes Leben in ungebrochener Schaffenskraft!
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Diese Frage wirft bereits das LG Hildesheim in seinem Urt. v. 11. Mai 2010, Az.: 16 KLs 4252 Js 103632/04, Rn. 141, auf. Siehe auch Satzger, ZStW 115 (2003), 469, 498 zu der in die gleiche Richtung gehenden Frage im Zusammenhang mit der Einhaltung der Verfahrensregeln im Fall von Drittmittelförderung. 70 Zur Bedeutung dieses Grundsatzes im Rahmen der Korruptionstatbestände bereits Knauer/Kaspar, GA 2005, 385, 403; vgl. auch Beulke, FS Eisenberg, 2009, S. 245.
Tatbestandsgrenzen des Widerstandsdelikts (§ 113 I StGB) in dogmatischer Analyse Zugleich ein Beitrag zum sog. unechten Unternehmensdelikt Von Wilfried Küper
I. Nach § 113 I StGB wird wegen „Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte“1 bestraft, wer einem Amtsträger2, der zur Vollstreckung bestimmter Staatsakte – Gesetze, Verordnungen, Urteile, Gerichtsbeschlüsse – berufen ist, „bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder ihn dabei tätlich angreift“. 1. Die Vorschrift wirkt bei erster Lektüre umständlich und unübersichtlich. In ihrem Zentrum steht – als Bezugsobjekt des „Widerstandleistens“ und des „tätlichen Angriffs“ – die sog. „Vollstreckungshandlung“. Sie ist gleichsam die Eingangspforte für die Anwendung des Tatbestandes. Die „Vollstreckungshandlung“ wird zwar unter dieser Bezeichnung in § 113 I StGB nicht ausdrücklich erwähnt. Doch ergibt sich aus dem Sinnzusammenhang zwischen dem „zur Vollstreckung berufenen Amtsträger“ und der „Vornahme einer solchen Diensthandlung“ mittelbar, dass die „Diensthandlung“ des Amtsträgers in einer spezifischen Vollstreckungstätigkeit bestehen muss,3 Amtshandlungen ohne besondere „Vollstreckungsqualität“ also nicht ausreichen. Unter einer „Vollstreckungshandlung“ wird dabei allgemein eine amtliche Tätigkeit verstanden, welche auf die Vollziehung der in § 113 I StGB genannten Staatsakte in der Weise gerichtet ist, dass sie der Verwirklichung des zur Regelung eines bestimmten Einzelfalles konkretisierten, mit unmittelbarem Zwang durchsetzbaren
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So die Gesetzesüberschrift. Einbezogen ist auch ein „Soldat der Bundeswehr“. In § 114 I StGB sind Personen gleichgestellt, die – ohne Amtsträger zu sein – „Rechte und Pflichten eines Polizeibeamten haben“ oder „Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft sind“. Nach § 114 II StGB gilt § 113 StGB ferner „entsprechend zum Schutz von Personen, die zur Unterstützung bei der Diensthandlung zugezogen sind“. Diese Ergänzungen wie auch diejenige in § 114 III StGB bleiben im Folgenden außer Betracht. 3 Vgl. Teubner, DRiZ 1975, 243 (244). – In der Gleichstellungsklausel des § 114 I StGB wird die „Diensthandlung“ zudem ausdrücklich als „Vollstreckungshandlung“ bezeichnet. 2
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Staatswillens dient.4 „Konkretisierte Einzelfallregelung“ und „Durchsetzbarkeit mit hoheitlichem Zwang“ sind danach die beiden für eine „Vollstreckungshandlung“ konstitutiven Grundelemente. Nach der prägnanten Formulierung Paeffgens ist maßgeblich, „dass der Amtswalter mindestens konkludent zu erkennen gibt, dass er den durch ihn oder Dritte konkretisierten staatlichen Willen gegenüber einem bestimmten Bürger notfalls mit hoheitlichem Zwang durchzusetzen bereit ist“.5 Die reichhaltige Kasuistik der Rechtsprechung bietet eine Vielzahl auch in der Literatur überwiegend anerkannter Beispiele für derart „konkretisierte“ Vollstreckungsmaßnahmen.6 Außer den klassischen Vollstreckungshandlungen wie Festnahme, Durchsuchung, Beschlagnahme oder der Zwangsvollstreckung durch Gerichtsvollzieher gehören dazu etwa: die Durchführung einer polizeilichen Razzia zur Personenkontrolle; die Durchsetzung einer Blutentnahme; das Festhalten einer Person zwecks Feststellung der Identität; Ermittlungshandlungen aufgrund des Verdachts einer (bevorstehenden) Trunkenheitsfahrt; die Anhalte-Anweisung der Polizei gegenüber einem verkehrswidrig handelnden Fahrzeugführer. Solche und ähnliche Beispiele verdeutlichen, über die geläufigen Definitionen hinaus, ein wesentliches Element der „Vollstreckungshandlung“, nämlich ihren durch hoheitlichen Zwang sanktionierten Eingriffscharakter: Die Vollstreckungshandlung richtet sich derart gegen bestimmte (oder bestimmbare) Personen, dass für die Adressaten ein Zwang zur Duldung eines staatlichen Eingriffs in ihre Rechtssphäre entsteht.7
4 In dieser Richtung mit unterschiedlichen Formulierungen etwa Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 113 Rn. 7; Küper, Strafrecht BT – Definitionen mit Erläuterungen, 8. Aufl. 2012, S. 418; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 113 Rn. 3; LK-StGB/Rosenau, 12. Aufl. 2008, § 113 Rn. 18; MK-StGB/Bosch, 2. Aufl. 2012, § 113 Rn. 11; NK-StGB/ Paeffgen, 3. Aufl. 2010, § 113 Rn. 18; Rengier, Strafrecht, BT II, 13. Aufl. 2012, § 53 Rn. 4 f.; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 28. Aufl. 2010, § 113 Rn. 13; SK-StGB/Horn/Wolters, Loseblattausgabe, 63. Lfg. (März 2005), § 113 Rn. 5; Wessels/Hettinger, Strafrecht, BT 1, 35. Aufl. 2011, Rn. 624 f. – Aus der Rechtsprechung vgl. namentlich BGHSt 25, 313 (314) im Anschluss an RGSt 41, 82 (88): Vollstreckungshandlung ist „jede Handlung der dazu berufenen Person, welche die Verwirklichung des (die Regelung eines bestimmten Falles anstrebenden) nach Umfang und Inhalt durch das Gesetz oder die in § 113 StGB bezeichneten Staatsorgane bestimmten und begrenzten, notfalls zwangsweise durchsetzbaren Staatswillens bezweckt“. Vgl. ferner z. B. KG, StV 1988, 437; OLG Celle, NJW 1973, 2215; OLG Frankfurt a.M., NJW 1974, 572 (573). 5 NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 18; vgl. auch MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 11. 6 Vgl. zum Folgenden die Darstellungen bei LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 18 f.; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 11 f.; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 17 f.; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 13 f.; jew. mit Nachw. zu den Einzelheiten. 7 MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 11. Vgl. auch AK-StGB/Zielinski, 1986, § 113 Rn. 17, sowie bereits RGSt 41, 82 (88) mit dem Hinweis, dass dem „Recht zur zwangsweisen Durchsetzung des Staatswillens“ die „Zwangspflicht der von der Vollstreckung Betroffenen“ entspreche, „den einseitigen Eingriff des Beamten in den Kreis ihrer Rechte zu dulden“.
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Unter diesem Aspekt lassen sich größtenteils auch die Gegenbeispiele aufschlüsseln, in denen die Vollstreckungsqualität amtlichen Handelns verneint wird.8 Dies gilt z. B. für die schlichte Überwachungs- oder Ermittlungstätigkeit der Polizei oder für nicht erzwingbare Maßnahmen wie die polizeiliche Vernehmung eines Beschuldigten. Es gilt ferner für die keinem konkreten Einsatz dienende „Streifenfahrt“ von Polizeibeamten, die Beobachtung von Personengruppen, die Befragung von Straßenpassanten oder für Maßnahmen der allgemeinen Verkehrsüberwachung. In solchen Konstellationen fehlt, wenn nicht bereits eine „konkrete Einzelfallregelung“, so jedenfalls und insbesondere eine Maßnahme mit Eingriffscharakter. Freilich können sich derartige Tätigkeiten zu Vollstreckungshandlungen „verdichten“. So geht die allgemeine Beobachtungs- und Ermittlungstätigkeit der Polizei in einen konkreten Vollstreckungsakt über, wenn aufgrund von Verdachtsmomente oder zur Gefahrenabwehr gegen eine bestimmte Person vorgegangen wird. In diesen Zusammenhang gehören die schon erwähnten Fälle der Ermittlungshandlungen wegen des Verdachts einer Trunkenheitsfahrt oder das Haltegebot an einen Fahrzeugführer bei verkehrswidrigem Verhalten. 2. Natürlich gibt es in diesem Bereich auch Abgrenzungsprobleme. Sie betreffen namentlich die Frage des Übergangs von bloßer, nicht-vollstreckender Ermittlungsoder Beobachtungstätigkeit in die eigentliche Vollstreckungsmaßnahme. Ohne dass hier die Kasuistik dogmatisch aufgearbeitet werden kann, sei aus dem Material wenigstens ein paradigmatischer und zugleich problematischer Grenzfall herausgegriffen: das Haltegebot der Polizei gemäß § 36 V StVO im Rahmen einer „allgemeinen“ Verkehrskontrolle. Nach dieser Vorschrift dürfen Polizeibeamte Verkehrsteilnehmer „zur Verkehrskontrolle anhalten“ (S. 1), und die Verkehrsteilnehmer „haben die Anweisungen der Polizei zu befolgen“ (S. 4). Stellt dieses Haltegebot schon eine hinreichend konkretisierte Einzelfallregelung dar? Der BGH hat die Frage in weitgehender Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Judikatur bejaht:9 Fordere ein Polizeibeamter bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle („ohne besonderen Anlass“) einen Verkehrsteilnehmer zum Anhalten auf, so sei dies „bereits der Beginn einer bestimmten Vollstreckungshandlung“. Auch die „unmittelbare Vollstreckung des in einem Gesetz zum Ausdruck kommenden Staatswillens ohne vorausgehende gerichtliche oder behördliche Anordnung“ genieße den
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Dazu die in Fn. 6 erwähnten Darstellungen, mit weit. Hinw. BGHSt 25, 313 (315) mit Anm. Ehlen/Meurer, NJW 1974, 1776; Hassemer, JuS 1974, 669; Krause, JR 1975, 118 und Bespr. Teubner, DRiZ 1975, 243; vgl. auch BGH, VRS 46 (1974), 106 (107). – Zur OLG-Rechtsprechung vgl. OLG Düsseldorf, NZV 1996, 458 (459) mit weit. Nachw. und Anm. Geppert, JK, § 113 Nr. 4; Seier/Rohlfs, NZV 1996, 460. – Nach OLG Frankfurt a.M., NJW 1973, 1806 (1807) soll freilich bei einer Reifenkontrolle die „Ermittlungshandlung“ erst dann in eine Vollstreckungshandlung „einmünden“, wenn sich herausstellt, dass das kontrollierte Fahrzeug „mit den montierten Reifen nicht verkehrstüchtig war“. Dabei ging es allerdings nicht um ein Haltegebot nach § 36 V StVO. Vgl. auch OLG Frankfurt a.M., NJW 1973, 572 f. 9
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„Schutz des § 113 StGB“.10 § 36 V StVO ermächtige die Polizeibeamten, Verkehrsteilnehmer zur Verkehrskontrolle anzuhalten. Dieses von jedem Verkehrsteilnehmer zu befolgende Haltegebot diene der Vollstreckung des „im Gesetz verkörperten Staatswillens“, allgemeine Verkehrskontrollen zu ermöglichen, in einem Einzelfall: „Die Polizeibeamten, die eine allgemeine Verkehrskontrolle durchführen, handeln [daher] aufgrund eigener, selbständiger Entschließung zur unmittelbaren Verwirklichung des Gesetzeswillens“ und können „ihr Haltegebot notfalls mit Zwang durchsetzen“.11 Die Literatur stimmt dieser Beurteilung größtenteils vorbehaltlos zu.12 In einer Art „Miniaturdiskussion“, die sich zur Qualifizierung des Haltegebots entwickelt hat, werden aber auch Zweifel angemeldet,13 und es wird Kritik geäußert. Die Kritik macht geltend, dass die Anhalte-Anweisung erst bei einem „konkreten Verdacht“ gegen eine bestimmte Person – etwa dem Verdacht der Fahrunsicherheit – oder bei einem sonst „besonderen Anlass“ aus einer allgemeinen Ermittlungstätigkeit in eine Vollstreckungshandlung übergehe.14 Erforderlich sei deshalb, dass der Beamte das Haltzeichen gebe, um eine „zuvor festgelegte“ Maßnahme gegen den Adressaten zu treffen.15 Gegen solche Kritik wird zugunsten der BGH-Rechtsprechung angeführt, dass sich der Übergang von einer zunächst beabsichtigten allgemeinen Kontrolle zur konkreten Vollstreckungsmaßnahme „dynamisch“ und „fließend“ vollziehe: „Der Beamte wird seinen Willen regelmäßig auf eine Vollstreckungshandlung richten, wenn ein Fahrzeugführer anläßlich einer allgemeinen Verkehrskontrolle nicht anhält. Denn spätestens jetzt muß sich ihm der ,konkrete Verdacht‘ aufdrängen, daß mit dem Fahrzeug oder Fahrer etwas nicht in Ordnung ist.“16 10
BGHSt 25, 313 (315) im Anschluss an RGSt 41, 82 (85 f.). BGHSt 25, 313 (315). 12 Vgl. AK-StGB/Zielinski (Fn. 7), § 113 Rn. 17; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht, BT, 2. Aufl. 2009, § 45 Rn. 14; Eisele, Strafrecht, BT I, 2. Aufl. 2012, Rn. 1519; Fischer (Fn. 4), § 113 Rn. 7 a; Gössel/Dölling, Strafrecht, BT 1, 2. Aufl. 2004, § 63 Rn. 4; Kindhäuser, Strafrecht, BT I, 6. Aufl. 2011, § 36 Rn. 13; Krause, JR 1975, 119; Krey/Heinrich, Strafrecht, BT 1, 15. Aufl. 2012, Rn. 648; Küpper, Strafrecht, BT 1, 3. Aufl. 2007, Teil II, § 3 Rn. 37; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, BT 2, 9. Aufl. 2005, § 71 Rn. 7; Otto, Strafrecht, BT, 7. Aufl. 2005, § 91 Rn. 5; Rengier (Fn. 4), § 53 Rn. 5; Zöller/Fornoff/ Gries, Strafrecht, BT II, 2008, S. 165. 13 Nicht näher begründete Zweifel bei Lackner/Kühl (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 3; Schönke/ Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 13 a.E.; ohne weitere Begründung ablehnend NKStGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 18 mit Fn. 64. 14 Vgl. Bosch, Jura 2011, 268 (270); Ehlen/Meurer, NJW 1974, 1776 f.; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 19 a.E.; weniger deutlich MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 12. 15 Ehlen/Meurer, NJW 1974, 1776. – Im Fall BGHSt 25, 313, in dem ein alkoholisierter Fahrer angehalten wurde, wollen die Autoren deshalb eine „Vollstreckungshandlung“ nur anerkennen, wenn der Polizeibeamte die alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit bemerkt (besser wohl: vermutet) und daraufhin das Haltzeichen gegeben habe (NJW 1974, 1777). 16 Teubner, DRiZ 1975, 245. Ähnlich MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 12: „Das allgemeine Haltegebot des § 36 V StVO richtet sich zwar noch nicht gegen eine bestimmte Person [?], der Übergang zu konkreten Vollstreckungshandlungen gestaltet sich jedoch fließend, da 11
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Dieser interessante Gedanke bietet gewiss für viele Fälle eine pragmatische Lösung des Problems; er gibt jedoch keine prinzipielle und dogmatisch befriedigende Auskunft. Abgesehen davon, dass hierfür eine „Regel“ nicht ausreicht, die auf einer widerlegbaren Vermutung beruht,17 kann man die Qualität des Haltegebots als „Vollstreckungshandlung“ schwerlich von dem Umstand abhängig machen, dass (und ob) der Adressat dieses Gebot missachtet; das wäre eine perplexe Argumentation. Schon vor der Reaktion des Verkehrsteilnehmers muss vielmehr feststehen, ob das – nicht befolgte – Haltegebot einen Vollstreckungsakt darstellt. Deshalb lässt sich die grundsätzliche Entscheidung nicht umgehen, ob für den Vollstreckungscharakter eine „Verdachtslage“ im bezeichneten Sinn vorauszusetzen ist, die das Anhaltegebot als Initiative zu weiteren konkreten Maßnahmen ausweist, oder ob ihm generell Vollstreckungsqualität attestiert wird. Für diese Qualität spricht, dass auch das Haltegebot bei allgemeiner Verkehrskontrolle alle Kriterien erfüllt, die sonst für eine „Vollstreckungshandlung“ maßgebend sind: die zwangsweise durchsetzbare, den Staatswillen konkretisierende Regelung eines Einzelfalls gegenüber einer bestimmten – oder bestimmbaren – Person mit dem Charakter eines hoheitlichen Eingriffs in deren Rechtssphäre (Freiheitssphäre).
II. Die Tathandlungen des § 113 I StGB beschreibt der Gesetzeswortlaut einerseits als „Widerstandleisten“ gegenüber dem Vollstreckungsbeamten mit bestimmten Mitteln (Gewalt oder Drohung mit Gewalt), andererseits als „tätlichen Angriff“ auf den Amtsträger, jeweils „bei der Vornahme“ der Vollstreckungshandlung. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf das „Widerstandleisten“ und lassen die mit dem „tätlichen Angriff“ zusammenhängenden Fragen außer Betracht. 1. „Widerstandleisten“ ist nach allgemeiner Auffassung eine aktive, gegen den Vollstreckungsbeamten gerichtete Tätigkeit mit dem Ziel, die Durchführung der Vollstreckungshandlung zu verhindern oder zu erschweren.18 Bloß passives Verhalten („passiver Widerstand“, „Ungehorsam“) soll grundsätzlich nicht ausrei-
bei Weiterfahrt trotz Haltegebots der Beamte regelmäßig ohne deutliche Zäsur zu personenbezogenen Vollstreckungshandlungen übergehen wird.“ 17 Der aus dem Nicht-Anhalten möglicherweise resultierende „Verdacht“ kann sich z. B. erst einstellen, nachdem der Fahrzeugführer an dem Polizeibeamtem vorbeigefahren ist, also zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Haltegebot erledigt hat. Teubners Gedanke ist offenbar an dem Fall orientiert, dass der Fahrer trotz des Haltegebots auf den Polizeibeamten zufährt, um ihn zur Freigabe des Weges zu zwingen (DRiZ 1975, 245 l. Sp. oben). 18 Vgl. etwa Bosch, Jura 2011, 271; Kindhäuser (Fn. 12), § 36 Rn. 17; Küper (Fn. 4), S. 466; Lackner/Kühl (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 5; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 22; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 17; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 20; Schönke/ Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 40; Wessels/Hettinger (Fn. 4), Rn. 628. Aus der Rechtsprechung RGSt 4, 374 (376); BGHSt 18, 133 (134); 23, 46 (51); 25, 313 (314); weit. Nachw. bei Küper (Fn. 4), S. 467.
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chen.19 „Erfolgreich“ in dem Sinn, dass die Vollstreckungsmaßnahme tatsächlich vereitelt oder jedenfalls erschwert wird, braucht das Widerstandleisten nach dem Gesetz nicht zu sein. Der „Widerstandserfolg“ liegt insofern außerhalb des objektiven Tatbestandes. Auch eine „objektive Eignung“ der Handlung zur Herbeiführung dieses Erfolges wird üblicherweise nicht verlangt.20 Das Gesetz begnügt sich danach mit einer subjektiv auf die Beeinträchtigung der Vollstreckung gerichteten (aktiven) Tätigkeit. Weil das „Widerstandleisten“ im Hinblick auf die Verhinderung/Erschwerung der Vollstreckungsmaßnahme nicht „erfolgreich“ sein muss und unter diesem Aspekt auch Fälle des Versuchs in den Vollendungstatbestand einbezogen sind, wird das Widerstandsdelikt häufig als „unechtes Unternehmensdelikt“21 bezeichnet.22 Soweit mit dieser Terminologie nur hervorgehoben werden soll, dass der vollendete Tatbestand Versuchsfälle dieser Art mit umfasst – d. h. den Versuch, durch Widerstand die Vollstreckung zu beeinträchtigen –, ist die Redeweise vom (unechten) „Unternehmensdelikt“ unbedenklich. Irreführend wird sie aber, wenn etwa gesagt wird, dass in § 113 I StGB „die Versuchsstrafbarkeit mit der Vollendung als gleichrangig eingestuft“ und in der Versuchsvariante „unmittelbar zum Widerstand angesetzt“ werde.23 Denn die Eigenschaft eines „Unternehmensdelikts“ betrifft allein die Beziehung zwischen dem „Widerstandleisten“ und dessen (außertatbestandlichem) Erfolg in Form einer Beeinträchtigung der Vollstreckungsmaßnahme; sie betrifft jedoch 19 Zur Möglichkeit, eventuell ein garantenpflichtwidriges Unterlassen einzubeziehen, vgl. Kindhäuser (Fn. 12), § 36 Rn. 20; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 24; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 20; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 42 a.E. 20 Vgl. AK-StGB/Zielinski (Fn. 7), § 113 Rn. 26; Fischer (Fn. 4), § 113 Rn. 22; LK-StGB/ Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 22 a.E.; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 17; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 20 (mit weit. Nachw.); Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 40. 21 Während beim „echten“ Unternehmensdelikt der jeweilige Tatbestand ausdrücklich das Merkmal „unternimmt“ enthält, wie z. B. § 81 I StGB, und damit den Versuch der Vollendung gleichstellt (§ 11 I Nr. 6 StGB), werden als „unechte“ Unternehmensdelikte im Anschluss an H. Schröder (FS Kern, 1968, S. 457 [464 ff.]) meist Straftaten bezeichnet, deren tatbestandliche Handlungsbeschreibung materiell auch den Versuch mit umfasst, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen: Das Gesetz stellt eine erfolgsgerichtete Tätigkeit unter (Vollendungs-) Strafe, ohne dass der Eintritt des Erfolges gefordert wird. Dabei wird überwiegend ein Versuch mit untauglichen Mitteln zugelassen, ein Versuch am untauglichen Objekt dagegen ausgeschlossen. Vgl. zu den umstrittenen Einzelheiten näher etwa Burkhardt, JZ 1971, 352 (354 ff.); LK-StGB/Hilgendorf, 12. Aufl. 2007, § 11 Rn. 87 ff.; Schönke/Schröder/Eser/ Hecker, StGB, 28. Aufl. 2010, § 11 Rn. 47 ff.; SK-StGB/Rudolphi/Stein, Loseblattausgabe, 40. Lfg. (Februar 2005), § 11 Rn. 44 ff.; Sowada, GA 1988, 195 (198 ff.); Wolters, Das Unternehmensdelikt, 2001, S. 287 ff. Vgl. auch Küper (Fn. 4), S. 236 f., zum „Nachstellen“ in § 292 I Nr. 1 StGB. 22 Vgl. statt vieler AK-StGB/Zielinski (Fn. 7), § 113 Rn. 26; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 6, 22, 90; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 3; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 19; SK-StGB/Horn/Wolters (Fn. 4), § 113 Rn. 12; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 2, 40. 23 So NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 9, der hinzufügt: „Andernfalls liegt eine straflose Vorbereitungsphase vor.“
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nicht das „Widerstandleisten“ selbst. Der Widerstand muss vielmehr – mit Anwendung oder Androhung von Gewalt – tatsächlich „geleistet“ werden und darf seinerseits nicht nur versucht („unternommen“) sein. Ein bloßer „Widerstandsversuch“ wird von § 113 I StGB nicht erfasst24 – insofern handelt es sich nicht um ein „Unternehmensdelikt“ – und bleibt mangels Versuchsstrafdrohung auch im Übrigen tatbestandslos. 2. In den bisherigen Ausführungen ist das „Widerstandleisten“ – mit der wohl allgemeinen Auffassung – als eine der beiden Tathandlungen des § 113 I StGB verstanden worden, wie es auch der Gesetzeswortlaut nahelegt. Die Anwendung von und die Drohung mit Gewalt erscheinen aus dieser Sicht als finale Mittel zur Leistung von Widerstand („Widerstandsmittel“), vergleichbar etwa den Mitteln der Wegnahme beim Raub. Dieses Verständnis wäre jedoch äußerst ungenau und bedarf der Korrektur. Gewalt und Drohung mit Gewalt sind in § 113 I StGB zwar (Zwangs-)Mittel zur Beeinträchtigung – Verhinderung/Erschwerung – der Vollstreckungshandlung; sie stellen aber streng genommen keine Mittel zur Leistung von Widerstand dar. Anwendung und Androhung von Gewalt sind vielmehr selbst die eigentlichen und einzigen Tathandlungen des Widerstandsdelikts. Es gibt neben ihnen keine besondere, eigenständig definierbare Tathandlung des „Widerstandleistens“. Dieses Merkmal bezeichnet, obwohl als tatbestandsmäßige Handlung formuliert, nur die Zielrichtung und den Nötigungscharakter der eigentlichen Tathandlungen: Gewaltanwendung und Drohung mit Gewalt werden dadurch zu „Widerstandshandlungen“, dass sie dem Zweck dienen, die Durchführung der Vollstreckungsmaßnahme zu beeinträchtigen. Außerdem enthält das „Widerstandleisten“ einen gesetzlichen Hinweis darauf, dass für die Tathandlungen prinzipiell ein aktives Verhalten erforderlich ist. Soweit bisher vom Widerstandleisten als Tathandlung des § 113 I StGB die Rede war, sind die darauf bezogenen Aussagen entsprechend zu korrigieren und auf die Tathandlungen der Anwendung oder Androhung von Gewalt zu übertragen. Das gilt z. B. für die Bemerkung, dass nach § 113 I StGB der Widerstand tatsächlich „geleistet“ werden muss und nicht nur „versucht“ sein darf. Aus der Perspektive der eigentlichen Tathandlungen bedeutet dies, dass die Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung faktisch vollzogen („vollendet“) werden muss und ein bloß „unmittelbares Ansetzen“ zu diesen Widerstandshandlungen nicht ausreicht. 3. Die Akzentverschiebung vom „Widerstandleisten“ als angeblicher Tathandlung auf die Ausübung oder Androhung von Gewalt hat freilich zunächst nur klarstellende Bedeutung, ohne Einfluss auf die Ergebnisse. Auch kann man das Widerstandleisten weiterhin – wie es dem Gesetzeswortlaut entspricht – als tatbestandsmäßige Handlung des § 113 I StGB bezeichnen, sofern dabei die echte Tathandlung jeweils hinzugedacht wird (z. B. „Widerstandleisten durch Gewalt“). Möglicherweise hat die gesetzliche Beschreibung der Tathandlung als „Widerstandleisten“ zudem für die Auslegung Rele24 Vgl. LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 90 („handlungsbezogener Versuch“); MKStGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 66; missverständlich Deiters, GA 2002, 259 (263 f.); Fischer (Fn. 4), § 113 Rn. 22.
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vanz, sofern es dabei auf die Wortlautgrenzen ankommt. Jene Klarstellung vermeidet vor allem Missverständnisse, die entstehen können, wenn im Leisten von Widerstand die eigentliche Tathandlung gesehen wird. Diese Sicht verleitet dazu, das „Widerstandleisten“ unter Berufung auf den Unternehmenscharakter des Delikts als versuchsähnliche Handlung zu deuten25 und von hier aus in den Tatbestand Fälle einzubeziehen, in denen der Täter dadurch in „Versuchsform“ Widerstand leistet, dass er unmittelbar dazu ansetzt, Gewalt anzuwenden bzw. damit zu drohen, um die Vollstreckung zu vereiteln oder zu erschweren. Solche „Versuchsfälle“ sind indes aus § 113 I StGB ausgeschlossen, weil die Voraussetzungen der jeweiligen Tathandlung (Gewaltanwendung oder Drohung mit Gewalt) noch nicht verwirklicht sind. Daran ändert auch die Eigenschaft der Straftat als sog. „unechtes Unternehmensdelikt“ nichts. Denn sie betrifft allein – wie schon dargelegt worden und nunmehr zu präzisieren ist – die Beziehung zwischen den (ausgeführten) Tathandlungen und deren (außertatbestandlichem) Erfolg in Gestalt einer Beeinträchtigung der Vollstreckungshandlung, nicht aber die Qualität dieser Tathandlungen. Unternehmenscharakter hat das Widerstandsdelikt nur insofern, als in dessen Tatbestand unter der Voraussetzung einer jeweils vollendeten Widerstandshandlung der „Versuch“ enthalten ist, jenen Erfolg herbeizuführen.26
III. Das Gesetz hat die tatbestandlichen Widerstandshandlungen auf „Gewalt“ oder „Drohung mit Gewalt“ beschränkt, also auf die Anwendung spezifischer Nötigungsmittel. Andere mögliche Mittel, die Vollstreckung abzuwenden oder zu erschweren – wie z. B. eine Täuschung des Vollstreckungsbeamten –, sind nicht berücksichtigt. Das Unternehmensdelikt ist als spezielles Nötigungsdelikt (ohne notwendigen „Nötigungserfolg“) ausgestaltet. 1. Der Begriff der „Gewalt“ ist, ähnlich wie bei der allgemeinen Nötigung (§ 240 I StGB), auch im Kontext des Widerstandsdelikts prädestiniert für unübersichtliche Diskussionen mit zahlreichen Streitfragen.27 Lässt man die Details beiseite und konzentriert man sich auf den Kern, so ist aber bemerkenswert, dass der Gewaltbegriff bei § 113 I StGB überwiegend restriktiv verstanden und am Einsatz physischer Kraft mit körperlicher Zwangswirkung orientiert wird. So wird „Gewalt“ in 25 So heißt es z. B. bei Deiters, GA 2002, 263 f., dass beim Widerstand als sog. unechtem Unternehmensdelikt „auch bloße Versuchshandlungen den (objektiven) Tatbestand verwirklichen“, wobei aber der „untaugliche Versuch des Widerstandes“ straflos sei. Nach Fischer (Fn. 4), § 113 Rn. 21, ist Widerstandleisten das „Unternehmen, den Amtsträger … zur Unterlassung der Vollstreckungshandlung … zu nötigen oder diese zu erschweren“. Vgl. auch oben Fn. 23. 26 Fügt man in den Tatbestand ausdrücklich das Merkmal „unternimmt“ ein, so könnte er etwa lauten: „Wer gegen einen Amtsträger, der eine Vollstreckungshandlung vornimmt, bei deren Vornahme Gewalt anwendet oder ihm mit Gewalt droht und es unternimmt, dadurch die Vollstreckungshandlung zu verhindern oder zu erschweren …“ 27 Umfassend zum ganzen Komplex MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 18 ff.; NK-StGB/ Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 21 ff., 27 ff.; differenzierte Übersicht bei Bosch, Jura 2011, 271 f.
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diesem Zusammenhang etwa beschrieben als „eine durch tätiges Handeln bewirkte Kraftäußerung“, als „tätiger Einsatz insbesondere körperlicher Kraft gegen den Amtsträger“ oder als „physisch wirkender Zwang mittels physischen Kraftaufwandes“.28 Unter Einbeziehung seiner finalen Widerstandskomponente lässt sich dieser dem traditionellen Verständnis verpflichtete29 Gewaltbegriff folgendermaßen zusammenfassen:30 „Gewalt“ i. S. des § 113 I StGB ist eine in aktivem Handeln bestehende, gegen den Amtsträger gerichtete und von ihm – zumindest mittelbar – körperlich empfundene Kraftentfaltung, die nach der Vorstellung des Täters dem Ziel dient, die Vollstreckungshandlung derart zu verhindern/erschweren, dass der Amtsträger sie nicht vornehmen kann, ohne selbst erhebliche Kraft aufwenden zu müssen.31 Auch dieser grundsätzlich „restriktive“ Begriff der Gewalt enthält freilich noch einen beträchtlichen Interpretationsspielraum. Dabei geht es einerseits um die genauere Bestimmung der „körperlichen“ Zwangswirkung, zum anderen um die Unterscheidung zwischen der – im „Widerstandleisten“ vorgezeichneten – „aktiven“ Gewaltanwendung und dem nur „passiven“ Verhalten, während das Moment der „Kraftentfaltung“ eher geringere, vorwiegend indizielle Bedeutung hat. Eindeutige Fälle von Gewalt sind z. B. das Einschlagen auf den Vollstreckungsbeamten („Brachialgewalt“), aber auch das „Abschütteln“ eines auf dem Trittbrett des Fahrzeugs mitfahrenden Polizisten32 oder das rasche Zufahren auf den Beamten, um dessen Ausweichen zu erzwingen.33 Probleme bereiten Situationen, in denen der Vollstreckungsadressat dem Amtsträger lediglich den eigenen Körper als physische Barriere entgegensetzt, ohne darüber hinaus aktiv tätig zu werden. Das gilt etwa für das „Sich-Festklammern“ am Lenkrad34 oder für den Fall, dass jemand sich dem Vollstre28
So NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 21, 23. In gleicher Richtung etwa Fischer (Fn. 4), § 113 Rn. 23; Lackner/Kühl (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 5; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 23; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 18; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 18; jew. mit weit. Nachw.; aus der Rechtsprechung namentlich BGHSt 18, 133 (134 f.). 29 NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 21. Zum „traditionellen“ Gewaltbegriff vgl. etwa Küper (Fn. 4), S. 169, 171 f., mit weit. Nachw. 30 Im Anschluss an Rengier (Fn. 4), § 53 Rn. 8, und BGHSt 18, 133 (134 f.). 31 Kritisch zu dem zuletzt genannten Aspekt MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 20. – Tatsächlich dürfte es sich hierbei um kein notwendiges Element des bei § 113 StGB maßgebenden Gewaltbegriffs handeln, wohl aber um einen deutlichen „Indikator“ für die körperliche Zwangswirkung der Gewalt. 32 BGHSt 28, 87 (91 f.); LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 24; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 22; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 29; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 44. 33 BGH, NJW 1953, 672 f.; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 23; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 22; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 23. 34 Gewalt bejaht z. B. von BGH, VRS 56 (1979), 141 (144); LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 23; kritisch MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 20 (nur „aktive Unterstützung passiven Widerstandes“); NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 29.
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ckungsbeamten nur „in den Weg stellt“.35 Da grundsätzlich ein „mittelbarer“ physischer Zwang ausreicht, kann die Gewalt auch im Einsatz von und in der Einwirkung auf Sachen bestehen, sofern hiervon ein entsprechender körperlicher Zwang auf den Amtsträger ausgeht. In Betracht kommen dafür vor allem das Verbarrikadieren oder Verriegeln von Türen36 und die Errichtung ähnlicher gegenständlicher Zugangshindernisse. Mittelbar physische Gewalt übt ferner aus, wer auf die Reifen des verfolgenden Polizeifahrzeugs schießt,37 es mit dem eigenen Fahrzeug von der Fahrbahn abdrängt oder am Überholen hindert.38 Mangels Aktivität des Verhaltens soll dagegen keine Gewalt vorliegen beim bloßen Nicht-Öffnen einer verriegelten Tür, beim „Sitzenbleiben“ eines Festzunehmenden oder beim bloßen „Sich-Wegtragen-Lassen“.39 – Die Einzelheiten sind ein Thema für sich, das hier nicht weiter verfolgt werden kann. 2. Liest man § 113 I StGB genau, so folgt aus dem Gesetzeswortlaut nicht zwingend, dass die Gewalt gegen den Vollstreckungsbeamten ausgeübt werden muss und somit – anders als möglicherweise beim Nötigungsdelikt des § 240 I StGB40 – „Gewalt gegen Dritte“ ausscheidet. Soweit ersichtlich, wird dies jedoch allgemein vorausgesetzt, und die Möglichkeit einer gegen Dritte gerichteten Gewalt wird bisher nicht einmal erwogen, obwohl eine Gewaltanwendung dieser Art als Widerstandshandlung durchaus denkbar ist und sogar effektiv sein kann: z. B. eine gewaltsame Geiselnahme zur Verhinderung der Vollstreckung.41 Der Ausschluss von „Gewalt gegen Dritte“ lässt sich indessen aus der Funktion ableiten, die das an körperlichem 35 Gewalt bejaht von BayObLG, JR 1989, 24 mit zust. Anm. Bottke (25); LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 24; kritisch hingegen MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 20; NKStGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 29. 36 Gewalt bejaht von BGHSt 18, 133 (134); OLG Düsseldorf, NZV 1996, 458 (459): Verriegeln der Fahrzeugtür von innen; Lackner/Kühl (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 5; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 24; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 12), § 71 Rn. 17; Schönke/ Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 42; kritisch dagegen MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 20; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 26; Wessels/Hettinger (Fn. 4), Rn. 628; Zöller/ Steffens, JA 2010, 161 (163). 37 Vgl. LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 23; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 21; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 29. 38 BGHSt 14, 395 (398); 40, 233 (238); Lackner/Kühl (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 5; LKStGB/Rosenau (Fn. 4), § 133 Rn. 24; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 21; NK-StGB/ Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 29. 39 BGHSt 18, 133 (134); LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 24; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 20. 40 Zur – allerdings umstrittenen – Einbeziehung der „Gewalt gegen Dritte“ bei § 240 StGB („gewaltsame „Dreiecksnötigung“) vgl. etwa Fischer (Fn. 4), § 240 Rn. 26; Lackner/Kühl (Fn. 4), StGB, § 240 Rn. 11; NK-StGB/Toepel, 3. Aufl. 2010, § 240 Rn. 58 ff.; Schönke/ Schröder/Eser/Eisele, StGB, 28. Aufl. 2010, Vorbem. §§ 234 ff. Rn. 19. 41 Vgl. exemplarisch den Fall BGHSt 26, 70, sofern dort Gewalt gegen die Geisel angenommen werden kann: Geiselnahme (§ 239 b I StGB) zur Abwendung des Vollzugs eines Vollstreckungshaftbefehls. Vgl. zu der Entscheidung auch Wessels/Hettinger (Fn. 4), Rn. 455 ff. (wo § 113 I StGB verneint wird), mit weit. Nachw.
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Zwang orientierte Merkmal der „Gewalt“ im Kontext des Tatbestandes hat. Bei einer gewaltsamen Widerstandshandlung wird der Vollstreckung ein auf den Amtsträger physisch wirkendes Hindernis entgegengesetzt;42 die „Gewalt gegen einen Dritten“ wirkt als Vollstreckungshindernis dagegen lediglich psychisch. Für psychische Einwirkungen auf den Vollstreckungsbeamten ist aber allein die Tatbestandsalternative der „Drohung mit Gewalt“ zuständig. 3. Bei dieser Alternative ist das Gesetz gewissermaßen einen Mittelweg zwischen verschiedenen Arten der Drohung gegangen. Eine qualifizierte Drohung „mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“, wie z. B. in § 249 I oder §§ 252, 255 StGB, wird nicht verlangt; die für die Nötigung sonst kennzeichnende Drohung nur „mit einem empfindlichen Übel“ (§ 240 I StGB) reicht andererseits nicht aus. Ähnlich wie bei der Anwendung von Gewalt stellt sich hier die Frage, ob auch die angedrohte Gewalt gegen den Amtsträger gerichtet sein (d. h. er selbst mit Gewalt gegen die eigene Person bedroht werden) muss oder ob es genügt, dass ihm mit „Gewalt gegen einen Dritten“ gedroht wird, „Drohungs-“ und „Gewaltadressat“ also verschiedene Personen sein können. Der Gesetzeswortlaut schließt diese Möglichkeit nicht aus, und in der Literatur wird sie bisweilen befürwortet.43 Dagegen sprechen jedoch zwei Gründe. Zum einen deutet das auf den Widerstand gegen den Amtsträger bezogene (alternative) Junktim von „Gewalt“ und „Drohung mit Gewalt“ darauf hin, dass das Gesetz die Ankündigung von Gewalt als eine Art Vorstufe oder Vorläufer der effektiven Gewaltanwendung versteht und damit für die nur angedrohte Gewalt denselben Adressaten voraussetzt wie für die tatsächlich angewandte. Zum anderen – und das dürfte letztlich entscheidend sein – ist die Drohung mit „Gewalt gegen Dritte“ für den Vollstreckungsbeamten allenfalls die Ankündigung eines „empfindlichen Übels“, die bei § 113 I StGB als Widerstandshandlung nicht ausreicht. 4. Wer in der Literatur auf Nuancen achtet, findet bei den Erläuterungen des „Widerstandleistens“ häufiger den Hinweis, die Handlung müsse nicht objektiv „geeignet“ sein, die Durchführung der Vollstreckungshandlung zu beeinträchtigen.44 Dagegen wird für die Anwendung der Gewalt eben diese „Eignung“ mitunter – wenngleich eher beiläufig – vorausgesetzt.45 So soll „Gewalt“ in § 113 I StGB „eine durch tätiges Handeln bewirkte Kraftäußerung“ sein, welche „gegen die Person 42 SK-StGB/Horn/Wolters (Fn. 4); § 113 Rn. 13, wo entgegen der allgemeinen Auffassung dafür sogar „vis absoluta“ gefordert wird. 43 Vgl. LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 25 (Drohung mit Gewalt „gegen die Allgemeinheit“); MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 23; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 30; wohl auch Fischer (Fn. 4), § 113 Rn. 26. – Ausdrücklich anders aber z. B. Küper (Fn. 4), S. 467; Lackner/Kühl (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 5 a.E.; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 45; Wessels/Hettinger (Fn. 4), Rn. 629; OLG Hamm, NStZ 1995, 547 (548). 44 Vgl. oben Fn. 20. 45 Vgl. etwa Fischer (Fn. 4), § 113 Rn. 23; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 23 (Mitte); MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 18; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 21 („an sich geeignet“). Zur Rechtsprechung, in der ebenfalls ein Eignungserfordernis anklingt, vgl. RGSt 4, 375 (376); BGHSt 18, 133 (134 f.).
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des Vollstreckenden gerichtet und geeignet ist, den Vollzug der Vollstreckungshandlung zu erschweren oder zu verhindern“.46 Der erste Hinweis, der konsequenterweise für die Gewaltanwendung ebenfalls gelten müsste, harmoniert insofern mit der Struktur des Widerstandsdelikts als unechtes Unternehmensdelikt, als in dieser Deliktsform – wie sie üblicherweise aufgefasst wird – der Versuch enthalten ist, den angestrebten Erfolg mit untauglichen Mitteln herbeizuführen:47 im vorliegenden Kontext also mit einer zur Vereitelung/Erschwerung der Vollstreckung ungeeigneten Gewaltausübung. Dagegen impliziert der Hinweis auf ein Erfordernis der „Geeignetheit“, nimmt man ihn ernst, ein „Unternehmensdelikt“, das im Hinblick auf die Beeinträchtigung der Vollstreckungsmaßnahme den Charakter eines spezifischen Gefährdungsdelikts hat – wie denn auch sonst das Widerstandsdelikt manchmal als „Gefährdungsdelikt“ bezeichnet wird.48 Freilich kann man beim Widerstandsdelikt von einem „Gefährdungsdelikt“ auch sprechen, wenn auf ein objektives Eignungserfordernis verzichtet wird. Es handelt sich dann um ein rein „abstraktes“ Gefährdungsdelikt mit dem Inhalt, dass die generelle oder typische Gefahr ihre Grundlage bereits in der subjektiven Zweckrichtung der Gewalt hat, die Durchführung der Vollstreckung zu vereiteln oder zu erschweren. Das Erfordernis der „Eignung“ konkretisiert und objektiviert dagegen die Gefahr in der Richtung, dass sie bei einer hierzu ungeeigneten Widerstandshandlung ausgeschlossen und damit der Tatbestand nicht erfüllt ist („potentiell konkretes Gefährdungsdelikt“, „Eignungsdelikt“). Diese Restriktion des Tatbestandes ist berechtigt: Sieht man den Schutzzweck des § 113 I StGB, soweit er das Widerstandsdelikt betrifft, jedenfalls primär darin, die ungestörte Realisierung der staatlichen Vollstreckungstätigkeit zu gewährleisten,49 so muss eine Gewaltanwendung ausgeschieden werden, die den Vollzug des Vollstreckungsakts gar nicht verhindern oder erschweren kann. Da Adressat der Widerstandshandlung der Vollstreckungsbeamte ist, kommt es für die Beurteilung der „objektiven Eignung“ auf dessen Perspektive an. 5. Dieses Verständnis wirkt sich auch auf die genauere Interpretation der „Drohung mit Gewalt“ aus. Insoweit stellt sich – wie allgemein bei der „Drohung“ – die Frage, ob der Adressat die Ankündigung tatsächlich „ernst nehmen“, d. h. deren Verwirklichung zumindest für möglich halten muss („Opferperspektive“), 46
MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 18. – Hervorhebung nicht im Original. Vgl. die Hinw. oben Fn. 20. 48 Vgl. NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 19 („Gefährdungsdelikt“); MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 16 („strukturell einem Gefährdungsdelikt angenähert“). 49 Die Diskussion um die Schutzrichtung des § 113 StGB kann hier nicht genauer aufgenommen werden. Dass die Vorschrift, soweit sie den Widerstand betrifft, jedenfalls primär die staatliche Vollstreckungstätigkeit und nicht die Person (Freiheit) des Amtsträgers schützt, entspricht der herrschenden Auffassung; Nachw. bei MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 2 mit Fn. 13; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 2. Für eine allein am Schutz der Vollstreckungstätigkeit orientierte Schutzzweckbestimmung namentlich Deiters, GA 2002, 265 ff., 268 ff.; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 2; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 6; M. J. Schmid, JZ 1980, 56 (57 f.). 47
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oder ob es ausreicht, dass er sie nach Vorstellung und Willen des Täters ernst nehmen soll („Täterperspektive“).50 In den spärlichen Äußerungen zu dem für § 113 I StGB maßgebenden Drohungsbegriff wird regelmäßig die zweite Option bevorzugt.51 Der Drohende müsse „lediglich den Eindruck erwecken wollen, er werde zur Verhinderung der Diensthandlung Gewalt einsetzen“;52 es genüge, dass er „davon ausging, den Eindruck der Ernstlichkeit zu erwecken, und dies auch wollte“.53 Wird indes für die Widerstandshandlung deren Eignung zur Beeinträchtigung der Vollstreckung vorausgesetzt, so kann nur die Perspektive des vollstreckenden Amtsträgers entscheidend sein: Eine Ankündigung von Gewalt, die der Beamte nicht wenigstens in dem Sinn „ernst nimmt“, dass er mit der Möglichkeit der Gewaltanwendung rechnet, ist ungeeignet, die Durchführung des Vollstreckungsakts zu vereiteln oder zu erschweren.
IV. 1. Das Gesetz begrenzt den Tatbestand des § 113 I StGB nicht nur „instrumentell“ durch die Beschränkung der Widerstandshandlungen auf die Anwendung oder Androhung von Gewalt, sondern auch zeitlich-horizontal mit der Formulierung dass dem Amtsträger „bei der Vornahme“ der Vollstreckungshandlung in dieser Weise Widerstand geleistet werden muss. Diese zeitliche Begrenzung enthält zugleich eine sachliche: Das tatbestandliche Verhalten wird an eine Situation gekoppelt, die sich dadurch kennzeichnet, dass der Täter – schon und noch – mit dem hoheitlichen Eingriff eines zwangsweise durchsetzbaren Vollstreckungsakts konfrontiert ist. Man kann diese besondere Lage als „Vollstreckungssituation“ bezeichnen. Zeitlich verstanden umfasst die „Vornahme“ den Zeitraum vom Beginn bis zur Beendigung; die Vollstreckungshandlung muss bereits begonnen haben und darf noch nicht 50
Zur Fragestellung und zu den verschiedenen Auffassungen näher Küper (Fn. 4), S. 105 ff., mit weit. Nachw.; ausführlich Blanke, Das qualifizierte Nötigungsmittel der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr (usw.), 2007, S. 191 ff. 51 Vgl. LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 25; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 23; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 30; RGSt 9, 176 (178) zu § 117 StGB a.F.; BGH, NJW 1976, 976. 52 NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 30. Paeffgen sieht hier einen Zusammenhang mit § 113 StGB als unechtem Unternehmensdelikt: „Versuchs-Modalität im Rahmen des unechten Unternehmensdeliktes“. Die „Drohung mit Gewalt“ enthält selbst jedoch kein „Unternehmen“, sondern stellt eine (vollendete) Tathandlung dar, deren Inhalt unabhängig vom Unternehmenscharakter des Delikts bestimmt werden muss. Im Übrigen nähert sich Paeffgen der „Opferperspektive“ dadurch an, dass er mit einer angeblich vorherrschenden Auffassung (?) für den „Eindruck der Ernstlichkeit“ ein „gewisses Maß an Objektivierung (und Gefährdung des Rechtsgutes)“ verlangt, das am Eindruck eines „normativen Dritten“ auszurichten sei. Begründet wird dies freilich nicht. 53 So MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 23. Vgl. auch BGH, NJW 1976, 976, wo es heißt: „Es genügt, daß [der Täter] weiß oder billigend damit rechnet, die Drohung sei geeignet, in dem Dritten Furcht vor ihrer Verwirklichung hervorzurufen.“ (Übernommen von LK-StGB/ Rosenau [Fn. 4], § 113 Rn. 25).
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beendet sein.54 Beginn und Ende werden dabei allgemein nicht formell-vollstreckungsrechtlich („förmlich“), auf den jeweiligen Rechtsakt der Vollstreckung bezogen, sondern materiell-faktisch verstanden.55 Zur Vollstreckungssituation sollen deshalb auch Tätigkeiten des Amtsträgers gehören, die – schon oder noch – so eng mit dem eigentlichen Hoheitsakt zusammenhängen, dass sie als Bestandteil der Vollstreckungsmaßnahme angesehen werden können. Dies wird unter dem Gesichtspunkt des „Beginns“ der Vollstreckungshandlung etwa angenommen, sobald sich der Amtsträger bereits im „Kontaktbereich“ des von der Diensthandlung Betroffenen befindet,56 wie z. B. der Gerichtsvollzieher beim Betreten der Wohnung des Schuldners, in der eine Sachpfändung durchgeführt werden soll.57 Ebenfalls nicht „rein förmlich“58 wird die „Beendigung“ verstanden, die etwa beim „Abtransport sachlicher Hilfsmittel“59 ebenso wenig schon eingetreten sei wie in dem Fall, dass ein Polizeibeamter nach dem Vollzug einer hoheitlichen Maßnahme zu seinem in der Nähe geparkten Dienstfahrzeug zurückkehrt.60 Was den „Beginn“ der Vollstreckungsmaßnahme betrifft, so leuchtet dessen materiell-faktische Bestimmung im Grundsatz ein, mag sie auch manche Einzelfragen – die hier nicht erörtert werden können – offen lassen. Es wäre jedenfalls evident unplausibel, den Tatbestand des § 113 I StGB auf Widerstandshandlungen zu beschränken, die erst vorgenommen werden, wenn der formelle Vollzug der Vollstreckung einsetzt, also etwa der Gerichtsvollzieher „geeignete Pfandobjekte ergreift“ oder „nach ihnen sucht“.61 Dagegen vermag die zeitliche Erstreckung der „Beendigungsphase“ in eine dem Vollstreckungsakt folgende „Nachzone“ – wie z. B. die Rückkehr zum Dienstfahrzeug – nicht zu überzeugen. Hier ist eine förmlich-vollstreckungsrechtliche Bestimmung der Beendigung angemessener. Denn nach dem rechtlichen Abschluss des jeweiligen Vollstreckungsakts ist der Betroffene keinem hoheitlichen 54 Vgl. statt vieler Lackner/Kühl (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 4; Wessels/Hettinger (Fn. 4), Rn. 626. 55 Hierzu und zum Folgenden mit weit. Nachw. und Einzelheiten LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 13. 56 MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 14; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20; AG Tiergarten, NJW 1988, 3218. 57 RGSt 22, 227 (228 f.), mit anschaulichen Darlegungen zur Vollstreckungsmaßnahme als „fortlaufender Kette verschiedener Handlungen“. 58 LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20. 59 Dazu BayObLG, MDR 1988, 517: gewaltsame Hinderung eines „Versiegelungstrupps“ – nach Versiegelung einer Baustelle – am Verlassen des Geländes und am Abtransport von Hilfsmitteln. Vgl. auch LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 15. 60 Vgl. BGH, NJW 1982, 2081 (für den „tätlichen Angriff“); LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 15; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 16; Wessels/Hettinger (Fn. 4), Rn. 626; Zöller/Steffens, JA 2010, 161 f. Vgl. auch RGSt 41, 82 (84): Weg des Gerichtsvollziehers „aus der Wohnung“ nach Durchführung einer Zustellung als „Bestandteil des Dienstgeschäfts“. 61 Gegenbeispiele aus RGSt 22, 227 (228).
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Eingriff mehr ausgesetzt und kann auch dem Schutzzweck der Widerstandsnorm62 nicht mehr mit dem Ziel zuwiderhandeln, die Vollstreckung zu beeinträchtigen. Er kann nur noch damit faktisch zusammenhängende, in § 113 I StGB nicht geschützte „Annexhandlungen“ des Vollstreckungsbeamten stören. Es erscheint daher richtiger, eine „Beendigung“ bereits anzunehmen, wenn der Amtsträger keine Tätigkeit mehr vorzunehmen braucht, die der (definitiven) Durchführung des Vollstreckungsakts dient.63 2. Nach bisher unbestrittener Auffassung soll zur „Vornahme“ der Vollstreckungshandlung auch die Situation gehören, dass eine Vollstreckung erst „unmittelbar bevorsteht“.64 Die Einbeziehung ist kriminalpolitisch zweckmäßig, weil damit Fälle erfasst werden, in denen der Täter mit seinem Widerstand der Vollstreckungsmaßnahme gewissermaßen schon zuvorkommt und so u. U. verhindert, dass sie überhaupt „vorgenommen“ werden kann. Auch lässt sich teleologisch die Einbeziehung darauf stützen, dass der Betroffene bereits „unmittelbar“ dem mit Zwang durchsetzbaren staatlichen Eingriff ausgesetzt ist, der die Vollstreckungshandlung kennzeichnet, und deshalb einem Täter gleichgestellt werden sollte, gegen den die Vollstreckung schon stattfindet. Angesichts des Gesetzeswortlauts irritiert jedoch die Selbstverständlichkeit, mit der das „unmittelbare Bevorstehen“ unter die „Vornahme“ subsumiert wird.65 Denn eine erst „bevorstehende“ Vollstreckungshandlung, die nicht einmal begonnen hat, wird auch in weitestem Wortverständnis nicht „vorgenommen“. Immerhin bietet sich der Gedanke an, die Vereinbarkeit mit dem Wortsinn des Gesetzes dadurch herzustellen, dass das Wort „bei“ im Zusammenhang der „Vornahme“ nicht nur i.S. von „während“,66 sondern zugleich als unmittelbare zeitliche Nähe („nahe bei“) gedeutet wird. So verstanden liegt eine Widerstandshandlung „bei der Vornahme“ der Vollstreckungsmaßnahme auch dann schon vor, wenn der Vollstreckungsakt erst unmittelbar bevorsteht.
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Vgl. oben Fn. 49. Dies muss m. E. auch dann gelten, wenn man in § 113 I StGB die Person des Vollstreckungsbeamten (mit) geschützt sieht. Deren Schutz kann – beim Widerstandsdelikt – zeitlich nicht weiter reichen als der Schutz der Vollstreckungstätigkeit. Beim „tätlichen Angriff“ mag es sich anders verhalten. 64 So bereits RGSt 41, 181 (183) mit Hinw. auf RGRspr. 10 (1888), 179 (180). Im Schrifttum allg. Auffassung, vgl. etwa Fischer (Fn. 4), § 113 Rn. 7 a; Lackner/Kühl (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 4; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 13; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 18; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 15; Wessels/Hettinger (Fn. 4), Rn. 626; Zöller/Steffens, JA 2010, 162. 65 Eine gewisse Problematisierung findet sich lediglich bei NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 18, der eine Parallele zum unmittelbar bevorstehenden („gegenwärtigen“) Angriff bei der Notwehr andeutet. Zurückhaltung klingt an bei LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20. 66 Vgl. den Hinw. auf die frühere Fassung („in“ bzw. „während der Ausübung“) bei LKStGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20. 63
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3. Eine vergleichbare, aber davon zu unterscheidende Konstellation wird manchmal mit dem Stichwort des sog. „vorweggenommenen Widerstandes“ benannt.67 Hierbei geht es darum, dass der Täter in der Erwartung einer künftigen Vollstreckungsmaßnahme gegen deren Durchführung bereits Vorkehrungen trifft, die in der späteren Vollstreckungssituation fortwirken und dadurch die Vollstreckung vereiteln oder erschweren sollen. Er verbarrikadiert z. B. gewaltsam den Zugang zur Wohnung68 derart, dass der erwartete Gerichtsvollzieher sie später nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten betreten kann. Nach Ansicht des BGH, der dies als „Vorbereitung der Widerstandsleistung“ bezeichnet, soll es genügen, dass „der Täter die eigene Kraftentfaltung schon vor dem Beginn der Amtshandlung vorgenommen hat, wenn sie sich nur als Widerstandsleistung gegen den Beamten im Zeitpunkt seines Tätigwerdens auswirkt“. Es sei nicht einzusehen, warum der „vorbereitete Widerstand“, der oft wirksamer sei, anders behandelt werden sollte als der „nicht vorbereitete, der erst im Augenblick der Amtshandlung beginnt“.69 Dieses „vorweggenommene Handeln“ stelle sich immer dann als „Widerstandleisten“ dar, „wenn es im Hinblick auf die spätere Amtshandlung zu deren Verhinderung vorgenommen wird, der Täter also die Widerstandsleistung vorbereitet hat“.70 Diese Beurteilung hat in der Literatur ganz überwiegend Zustimmung71 und nur vereinzelt – vorsichtige – Kritik72 erfahren. Die Besonderheit der Fallgruppe des sog. vorweggenommenen Widerstandes wird freilich erst deutlich und relevant, wenn man voraussetzt, dass die für die Zukunft „erwartete“ Vollstreckungsmaßnahme noch nicht „unmittelbar bevorsteht“, weil andernfalls ohnehin eine Widerstandshandlung „bei“ deren Vornahme – im dargelegten Sinn – angenommen werden kann. Steht die Vollstreckung allerdings nicht schon unmittelbar bevor, so hat man es gleichsam mit einem „zeitlich gespaltenen“ oder „zeitversetzten“ Widerstand zu tun: Die auf eine Ausübung physischen Zwanges durch „Gewalt“ gerichtete Widerstandshandlung ist noch kein Verhalten „bei der Vornahme“ des Vollstreckungsakts; nur und erst ihre beabsichtigte Wirkung tritt in der späteren Vollstreckungssi67
LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 14; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 16. 68 Dass insoweit „Gewalt“ als physischer Zwang vorliegt, sei hier vorausgesetzt. Kritisch zum „Aussperren“ als Gewalt i. S. des § 113 I StGB aber etwa MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 20; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 26 mit Hinw. in Fn. 103; Seier/Rohlfs, NZV 1996, 460 f.; Zöller/Steffens, JA 2010, 163. 69 BGHSt 18, 133 (135 f.) mit Anm. Ruß, NJW 1963, 1165. 70 Davon soll eine „äußerliche Hindernisbereitung“ zu unterscheiden sein, die „als solche zunächst aber nicht gedacht ist und deren Ergebnis erst später vom Täter lediglich als schon vorhandenes Hindernis benutzt wird“ (BGHSt 18, 133 [135]). 71 Vgl. etwa AK-StGB/Zielinski (Fn. 7), § 113 Rn. 17; Gössel/Dölling (Fn. 12), § 63 Rn. 5 (bei „engem zeitlich-räumlichen Zusammenhang mit der drohenden Vollstreckungshandlung“); Kindhäuser (Fn. 12), § 36 Rn. 15; LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 20 („Grenzfall“); NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 18; Ruß, NJW 1963, 1165. 72 Vgl. Bosch, Jura 2011, 271; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 14; zweifelnd Lackner/ Kühl (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 5; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 5.
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tuation ein. Wird – was dogmatisch immerhin möglich (und kriminalpolitisch zweckmäßig) ist – in der Subsumtion das Gewicht auf den Wirkungszeitpunkt gelegt,73 in dem sich die Gewalt als physischer Zwang letztlich realisiert, dann lässt sich unter diesem Aspekt eine gewaltsame Widerstandshandlung „bei der Vornahme“ der Vollstreckung noch bejahen. Dem Sinn dieser zeitlichen Beschränkung entspräche das jedoch nicht. Denn er setzt ein Widerstandsverhalten voraus, bei dem der Täter dem hoheitlichen Eingriff einer erzwingbaren Vollstreckung bereits ausgesetzt ist.74 Nicht zuletzt erfordert in diesem Zusammenhang auch der Gesetzeswortlaut, dessen Grenzen nicht überschritten werden dürfen, stärkere Beachtung. Das „Widerstandleisten“ ist zwar, wie sich gezeigt hatte, nicht die eigentliche Tathandlung des Widerstandsdelikts, die vielmehr in der Anwendung (oder Androhung) von Gewalt besteht. Doch verlangt der für die Auslegung verbindliche Wortlaut des Gesetzes, dass der Täter im maßgeblichen Zeitraum mit Gewalt „Widerstand leistet“. Der von einer Vollstreckungshandlung Betroffene „leistet“ aber bei deren Vornahme keinen aktiven Widerstand mehr, wenn er nur abwartet, dass sich das früher errichtete Vollstreckungshindernis auf die Durchführung der Amtshandlung nachteilig auswirkt.
V. In seinem Urteil zum „vorweggenommenen“ oder „vorbereiteten Widerstand“ ist der BGH davon ausgegangen, dass die Ausklammerung dieser Konstellation aus dem Anwendungsbereich des § 113 I StGB zwangsläufig „zur Straflosigkeit führen“ müsste – ein Resultat, das nach Ansicht des BGH „auch in rechtspolitischer Hinsicht unerfreulich“ wäre.75 Nicht berücksichtigt, geschweige denn näher erörtert hat der Senat hierbei die Möglichkeit, den gewaltsamen Widerstand jedenfalls als Nötigung bzw. Nötigungsversuch aus § 240 I (§§ 22, 240 I) StGB zu bestrafen und damit jenes „unerfreuliche Ergebnis“ zu vermeiden. Ob diese Möglichkeit zutrifft, hängt von dem in mancher Hinsicht prekären Verhältnis ab, in dem das Widerstands- zum allgemeinen Nötigungsdelikt steht, wenn ein Widerstandsverhalten im konkreten Fall 73 Nach NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 18 „methodisch eigentlich nicht zu bezweifeln“. 74 Bosch (oben Fn. 72) hält die Einbeziehung des „vorweggenommenen Widerstandes“ deshalb nicht für überzeugend, weil ein Täter, der sich gezielt auf den Widerstand gegen die Vollstreckungshandlung vorbereite, nicht von einer „privilegierenden Affektsituation geleitet“ werde. Dieses Argument hat freilich seine Bedeutung verloren, nachdem der Gesetzgeber im 44. StÄG vom 1.11./5. 11. 2011 (BGBl. I, 2130) den Strafrahmen des § 113 I demjenigen des § 240 I StGB angeglichen hat. § 113 I StGB kann danach nicht mehr als eine „Privilegierung“ der Nötigung verstanden werden, in der ein (vermuteter) „Erregungszustand“ des Vollstreckungsadressaten Ausdruck gefunden hat. Deshalb trägt auch das Gegenargument nicht, dass die „privilegierende Ausnahmesituation vorweggenommen“ werde (so LK-StGB/Rosenau [Fn. 4], § 113 Rn. 20 a.E.). – Grundsätzliche Kritik an der „Privilegierungsthese“ zuletzt bei Zopfs, GA 2012, 259 (267 ff., 271 f.), mit weit. Nachw. 75 BGHSt 18, 133 (136). – Hervorhebung nicht im Original.
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die tatbestandlichen Voraussetzungen zwar der (versuchten) Nötigung erfüllt, nicht aber zugleich den speziellen – strengeren – Anforderungen des § 113 I StGB genügt.76 In aller Regel bleibt dann die Strafbarkeit wegen des Nötigungsdelikts unberührt. Doch kann der tatbestandlichen Begrenzung des Widerstandsdelikts u. U. der Gedanke zugrunde liegen, dass sie für die Strafbarkeit überhaupt – auch diejenige wegen Nötigung – ebenfalls gelten soll, weil das Gesetz insoweit eine abschließende Regelung mit „Sperrwirkung“ enthält.77 Die für § 113 I StGB kennzeichnende Begrenzung auf ein Verhalten „bei der Vornahme“ der Vollstreckungshandlung bindet den Tatbestand an die Konstellation, dass der Täter mit einem zwangsweise durchsetzbaren hoheitlichen Eingriff in seine Rechtssphäre konfrontiert ist.78 Liegt diese Sondersituation – wie beim „vorweggenommenen Widerstand“ – nicht vor, so ist kein Grund erkennbar, der i. S. einer „Sperrwirkung“ zugleich die Strafbarkeit wegen (versuchter) Nötigung ausschließen könnte. Mit dem Verhältnis von Widerstand und Nötigung kommt freilich ein Fragenkreis in den Blick, der ohnehin nicht mehr zum Thema der hier vorgelegten, auf den Tatbestand des Widerstandsdelikts beschränkten Analyse gehört, die Wolfgang Frisch mit herzlichen Glückwünschen gewidmet ist.
76 Vgl. zu den verschiedenen Konstellationen und den damit zusammenhängenden Streitfragen die zusammenfassende Übersicht bei Küper (Fn. 4), S. 467 ff., mit weit. Nachw. 77 „Paradefall“ ist das für § 113 I StGB nicht ausreichende Widerstandleisten durch Drohung nur mit einem „empfindlichen Übel“, bei dem nach heute dominierender Auffassung auch die Strafbarkeit wegen (versuchter) Nötigung ausgeschlossen ist. Vgl. dazu etwa Backes/ Ransiek, JuS 1989, 624 (629); Kindhäuser (Fn. 12), § 36 Rn. 60; Küpper, GS Meurer, 2002, S. 123 (125 f.); LK-StGB/Rosenau (Fn. 4), § 113 Rn. 95; MK-StGB/Bosch (Fn. 4), § 113 Rn. 65; NK-StGB/Paeffgen (Fn. 4), § 113 Rn. 90; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 4), StGB, § 113 Rn. 68; SK-StGB/Horn/Wolters (Fn. 4), § 113 Rn. 23; Wessels/Hettinger (Fn. 4), Rn. 629; Zöller/Steffens, JA 2010, 167; Zopfs, GA 2000, 527 (535 ff., 542), GA 2012, 269 ff. Vgl. auch Deiters, GA 2002, 269 ff., der die Straflosigkeit aus einem „Exklusivverhältnis“ zwischen Widerstands- und Nötigungsdelikt ableitet. 78 Vgl. oben IV.1. – Abschluss des Manuskripts: September 2012.
Kriminologische und strafrechtliche Aspekte des Glücksspiels Von Jörg Kinzig1
I. Einleitung Obwohl ich dem Jubilar bisher gar nicht so häufig begegnet bin, habe ich dennoch gerne den Herausgebern zugesagt, mich an der Festschrift zu seinen Ehren zu beteiligen. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass ein Zusammentreffen mit oder besser gesagt eine der sehr vielen Tätigkeiten von Wolfgang Frisch für mich von nicht unerheblicher Bedeutung gewesen ist. Es muss im Frühsommer des Jahres 2003 gewesen sein, als ich Wolfgang Frisch in Freiburg zwischen dem Kollegiengebäude I und dem Stadttheater begegnet bin. Hoch erfreut und erleichtert war ich, als mir der geschätzte Kollege damals eine sehr positive Rückmeldung zu meiner Habilitationsschrift über die organisierte Kriminalität gab, deren Zweitbegutachtung er zuvor übernommen hatte.2 Mittlerweile auch bereits einige Zeit als Hochschullehrer unterwegs, ist mir jetzt besser bewusst, dass eine solche Begutachtung – und sei die zu bewertende Arbeit noch so interessant – jedenfalls eines immer kostet: eine Menge Zeit. Dafür, diese Zeit umgehend für mich investiert zu haben, möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich bei Wolfgang Frisch bedanken. Zwei Faktoren schulde ich die Wahl meines Themas, von dem ich hoffe, dass es auch das Interesse des Jubilars weckt: Zum einen erhielt ich vor wenigen Wochen ein Schreiben des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein. Darin wurde ich gefragt, ob ich als Direktor des Instituts für Kriminologie von meinem mir zustehenden Recht3 Gebrauch machen wolle, zwei Mitglieder des Fachbeirats vorzuschlagen, der nach dem am 01. 07. 2012 mit Ausnahme Schleswig-Holsteins in allen anderen 15 Bundesländern in Kraft getretenen neuen Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in
1 Für wertvolle Vorarbeiten zu diesem Beitrag danke ich meiner Mitarbeiterin, Frau Effi Trumpp. 2 Kinzig, Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, Habil.-Schr. Freiburg 2004. 3 Dieses Recht ergibt sich aus § 10 Abs. 1 Nr. 3 der Verwaltungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Länder bei der Glücksspielaufsicht nach § 9 Abs. 3, die ländereinheitlichen Verfahren nach § 9a und die Einrichtung des Fachbeirats nach § 10 Abs. 1 S. 2 Glücksspielstaatsvertrag (VwVGlüStV).
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Deutschland (GlüStV) einzusetzen ist.4 Dieser Fachbeirat hat nach § 10 Abs. 1 GlüStV die Aufgabe, die Länder bei der Sicherstellung eines ausreichenden Glücksspielangebots zu beraten. Zu den für die Besetzung des Fachbeirats zu machenden Vorschlägen bestimmt § 10 Abs. 1 Nr. 3 VwVGlüStV, dass selbige „die Bekämpfung der Kriminalität und die Forschung im Bereich der Kriminalität im Zusammenhang mit Glücksspielen einschließlich Gewährleistung der Integrität des sportlichen Wettbewerbs bei der Veranstaltung und dem Vertrieb von Sportwetten abdecken“ sollen. Vorschlagsberechtigt sind nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 VwVGlüStV neben dem Institut für Kriminologie der Universität Tübingen die Kriminologische Zentralstelle e.V. in Wiesbaden, das Institut für Kriminologie der Universität zu Köln, die Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel sowie das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. (KFN) in Hannover.5 Zum anderen wurde ich Ende des Jahres 2011 von einer Anwaltskanzlei aus dem süddeutschen Raum angefragt, ob ich ein Gutachten eines kriminologischen Kollegen in einem Zivilrechtsstreit kritisch zu würdigen bereit wäre. Er hatte im Auftrag des entscheidenden Gerichts, vereinfacht formuliert, dazu Stellung genommen, ob die Neuvermietung von bisher als Bar bzw. Club in einer Großstadt genutzten Räumlichkeiten zum Betreiben einer Spielothek eine kriminalitätsfördernde Wirkung zeitigen könne. Diese beiden Umstände haben mich dazu verleitet, in diesem Beitrag „kriminologische und strafrechtliche Aspekte des Glücksspiels“ zu vertiefen. Dabei benutze ich das Verb „verleitet“ durchaus bewusst, da das nun folgende Unterfangen mit gewissen Fallstricken, konkret gesagt möglichen Fehlerquellen, versehen ist. Denn das Rechtsgebiet des erlaubten wie unerlaubten Glücksspiels ist dadurch gekennzeichnet, dass es, wie sonst in kaum vergleichbarer Weise, nicht nur durch eine Fülle unterschiedlicher nationaler Rechtsquellen – vom Glücksspielstaatsvertrag, dem Rennwett- und Lotteriegesetz bis hin zur Gewerbeordnung und dem StGB – geregelt wird, sondern darüber hinaus auch europarechtliche Vorgaben eine eminente Rolle spielen. Um die zum unerlaubten Glücksspiel vorhandenen strafrechtlichen Regelungen besser verstehen zu können, möchte ich im Anschluss an diese Einleitung (I.) zunächst einige zentrale Basisdaten zum Glücksspielmarkt, den Betreibern von Glücksspielen sowie den an ihnen Teilnehmenden, also den Spielern, referieren (II.). Daraufhin will ich kurz anreißen, welchen Regelungen der Glücksspielmarkt insgesamt unterliegt, wobei ich mich aus noch zu erläuternden Gründen insbesondere mit der 4 Zur Gesetzgebung vgl. etwa für Baden-Württemberg den Gesetzentwurf der Landesregierung: Gesetz zu dem Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrag und zu dem Staatsvertrag über die Gründung der GKL Gemeinsame Klassenlotterie der Länder v. 17. 04. 2012, LTDrs. 15/1570; Gesetzesbeschluss v. 20. 06. 2012, LT-Drs. 15/1934; Gesetz v. 26. 06. 2012, GBl 2012 Nr. 10, S. 385 – 436. 5 Wieso nicht andere kriminologische Lehrstühle oder Forschungseinrichtungen vorschlagsberechtigt sind, ist mir nicht bekannt.
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Problematik der Geldspiele mit Gewinnmöglichkeit6 in Spielhallen und Gaststätten beschäftigen werde (III.). Vor diesem Hintergrund möchte ich einen normativen Ausschnitt aus dem Glücksspielsektor fokussieren und einen kurzen Überblick über die strafrechtliche Erfassung des Glücksspiels im StGB geben (IV.). In einem weiteren Abschnitt werde ich rechtstatsächliche und kriminologische Erkenntnisse zu den §§ 284 ff. StGB und zum Bereich des Glücksspiels liefern (V.). Dabei möchte ich auch kurz dem Zusammenhang zwischen pathologischem Glücksspiel und Delinquenz, den steigenden Überfällen auf Spielhallen und der häufig postulierten Verbindung zwischen dem Glücksspiel und der organisierten Kriminalität nachgehen. Meine Ausführungen werde ich durch zusammenfassende Thesen abrunden (VI.).
II. Zentrale Basisdaten zum Glücksspielmarkt, den Betreibern von Glücksspielen sowie den an ihnen Teilnehmenden, den Spielern Nach einer Analyse der Forschungsstelle Glücksspiel in Stuttgart-Hohenheim7 für das Jahr 2009 betrug allein der Gesamtumsatz auf dem regulierten Glücksspielmarkt in Deutschland 24,912 Milliarden Euro. Die öffentlichen Einnahmen aus diesem Sektor hätten sich auf 3,755 Milliarden Euro belaufen. Als weiteres Eckdatum wird in diesem Bericht die Anzahl der Spielbanken (inkl. Dependancen) in der Bundesrepublik mit 84 angegeben. Im Bundesgebiet seien zudem 23.139 Lotto-TotoVerkaufsstellen zu verzeichnen. Die Anzahl der gewerblichen Unterhaltungsautomaten mit Geldgewinnmöglichkeit habe damals 227.000 betragen. Insgesamt seien vor allem drei Bereiche für die Generierung der genannten Spieleinsätze in Höhe von knapp 25 Milliarden Euro verantwortlich. Marktführer seien die in Spielhallen und Gaststätten aufgestellten Geldspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit, an denen allein 9,25 Milliarden Euro eingesetzt worden seien. Es folgten der Deutsche LottoToto-Block (DLTB), zu dem u. a. das Zahlenlotto und das Spiel 77 gehören, mit einem Einsatz von 7,00 Milliarden Euro sowie die Einnahmen der Spielbanken aus Roulette, Kartenspielen und Glücksspielautomaten mit 6,86 Milliarden Euro. Die weiteren in dieser Statistik genannten Spieleinsätze bei den Klassenlotterien (447 Millionen Euro), den Fernsehlotterien (630 Millionen Euro), aus dem PSund Gewinnsparen bei den Sparkassen/Volks- und Raiffeisenbanken (469 Millionen Euro) sowie den Pferdewetten mit 251 Millionen Euro sind zwar auch beträchtlich, liegen aber hinter den drei großen Sektoren deutlich zurück.
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Als Synonym verwende ich in diesem Beitrag auch den Begriff Geldspielautomat. Barth, Der deutsche Glücksspielmarkt 2009. Kurzfassung 2012, im Internet unter https:// gluecksspiel.uni-hohenheim.de/fileadmin/einrichtungen/gluecksspiel/Oekonomie/Gluecksspiel markt09Krzfsg.pdf. 7
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Weitgehend ähnliche, in einem Punkt aber abweichende Zahlen lassen sich dem Jahrbuch Sucht 2012 entnehmen.8 Danach beliefen sich die Umsätze auf dem Glücksspiel-Markt im Jahr 2010 sogar auf 31,51 Milliarden Euro (2009: 31,77 Milliarden Euro). Die im Vergleich zur Studie der Forschungsstelle Glücksspiel um rund 7 Milliarden Euro höheren Zahlen kommen allein dadurch zustande, dass das Jahrbuch Sucht die Umsätze aus Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit in Spielhallen und Gaststätten bereits im Jahr 2009 mit 16,160 Milliarden Euro, im Jahr 2010 sogar mit 17,210 Milliarden Euro bezifferte. Damit übereinstimmend gab der Verband der Deutschen Automatenindustrie e.V., ein Spitzenverband der Automatenwirtschaft, zuletzt für das Jahr 2011 seinen Umsatz mit Geld-Gewinn-Spiel-Geräten (Bruttospielerträge/Kassen), der sich aus den Einnahmen abzüglich der ausgeschütteten Spielergewinne errechnet, mit 4,140 Milliarden Euro an. Dies bedeute ein Zuwachs von 5,1 % gegenüber dem Vorjahr 2010.9 Diesen Abschnitt abschließend seien zur Bedeutung und dem Umfang des Glücksspielmarktes noch einige weitere Daten vorgestellt, die von der Deutschen Automatenwirtschaft, dem Zusammenschluss der Spitzenverbände der Automatenwirtschaft veröffentlicht wurden.10 Diese gliedere sich in ca. 6.000 mittelständische Unternehmen in den Bereichen Industrie, Großhandel und Automatenaufstellung und biete über 70.000 moderne Arbeitsplätze bei 75 % weiblichen Beschäftigten. Bundesweit seien insgesamt ca. 235.000 Geld-Gewinn-Spielgeräte (GGSG) aufgestellt. Diese verteilten sich zum einen auf ca. 60.000 Gaststätten mit rund 70.000 GGSG, zum anderen auf ca. 8.000 Spielstättenstandorte mit rund 165.000 GGSG. Jährlich erhalte der Staat aus dieser Branche mehr als 1,45 Milliarden Euro an Steuern und sonstigen Abgaben. Davon entfielen mehr als 400 Millionen Euro auf kommunale Vergnügungssteuern. Zur Frage der Teilnehmer, der Spieler von Glücksspielen, sind unter anderem Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) vorhanden, die in drei Wellen in den Jahren 2007, 2009 und 2011 jeweils 10.000 Personen zwischen 16 und 65 Jahren nach der Teilnahme an Glücksspielen repräsentativ befragt hat.11 8 Meyer, Glücksspiel – Zahlen und Fakten, in: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hrsg.): Jahrbuch Sucht 2012, S. 125 – 143. 9 Verband der Deutschen Automatenindustrie e.V.: Presseinformation vom 16. Januar 2012, im Internet unter http://www.vdai.de/ima2012/bericht-gauselmann-christiansen.pdf; ähnliche Daten liefert ein Gutachten des Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München (ifo): Wirtschaftsentwicklung Unterhaltungsautomaten 2011 und Ausblick 2012 im Auftrag des Arbeitsausschusses Münzautomaten (AMA), 2012, im Internet unter https://glu ecksspiel.uni-hohenheim.de/markt. 10 Abrufbar unter http://www.automatenwirtschaft.de/daten-und-fakten.html. 11 Siehe zuletzt Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland. Ergebnisse aus drei repräsentativen Bevölkerungsbefragungen 2007, 2009 und 2011. Köln, im Internet unter http://www.bzga.de/forschung/studienuntersuchungen/studien/gluecksspiel.
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Danach hätten zuletzt im Jahr 2011 86,0 % der 16 bis 65-Jährigen Glücksspielerfahrung gehabt, also irgendwann im Leben schon einmal an einem Glücksspiel teilgenommen. 64,9 % seien dabei auf das Lottospiel „6 aus 49“, 50,7 % auf Sofortlotterien (Rubbel- und Aufreißlose, Lose auf Jahrmärkten, Instant-Games im Internet, Angebote von den Lottogesellschaften und anderen Anbietern) und jeweils ca. 23 % auf das Spielen an Geldspielautomaten in Spielhallen, Gaststätten etc. sowie das privat organisierte Glücksspiel entfallen. In den letzten zwölf Monaten vor der Erhebung habe gut die Hälfte der Befragten (50,7 %) irgendein Glücksspiel gespielt, darunter mehr männliche (56,5 %) als weibliche Personen (44,8 %). Während bei einzelnen Spielmöglichkeiten ein Rückgang zu verzeichnen gewesen sei, sei beim Spielen an Geldspielautomaten ein Anstieg zu beobachten. So hätten im letzten Jahr 2,9 % der Befragten von einer solchen Spielmöglichkeit Gebrauch gemacht, bei einer relativ stärkeren Zunahme in der Altersgruppe von 18 bis 20 Jahren. Wiederum bezogen auf die 16 bis 65-jährige Gesamtbevölkerung habe knapp jeder fünfte Bundesbürger bis zu 10 Euro monatlich für Glücksspiele ausgegeben. Pro Monat investierten 18,7 % 10 bis 50 Euro, weitere 4,8 % zwischen 50 und 100 Euro und 5,1 % über 100 Euro. Männliche Befragte hätten bei allen drei Erhebungen häufiger höhere Geldbeträge eingesetzt als weibliche Personen. Die Untersuchung des Jahres 2011 kommt bevölkerungsweit auf eine Schätzung der 12-Monats-Prävalenz des (wahrscheinlich) pathologischen Glücksspiels von 0,49 % (männliche Befragte: 0,58 %, weibliche: 0,39 %) und des problematischen Glücksspiels von 0,51 % (männliche Befragte: 0,73 %, weibliche: 0,28 %). Wie auch in den vorangegangenen Studien der BZgA sei mit dem South Oaks Gambling Screen (SOGS) ein international verbreitetes Verfahren zur Klassifizierung des Schweregrades glücksspielassoziierter Probleme bzw. Symptome eingesetzt worden.12 Damit wären, hochgerechnet auf die Bevölkerung in Deutschland, 275.000 Personen vom problematischen und 264.000 Personen vom pathologischen Glücksspiel betroffen. Am stärksten mit glücksspielassoziierten Problemen belastet hätten sich 21- bis 25-jährige Männer erwiesen. Zudem erhöhe ein niedriger Bildungsabschluss, ein Migrationshintergrund und Arbeitslosigkeit das Risiko für problematisches oder pathologisches Problemspielverhalten. Dessen Auftretenshäufigkeit hänge auch von der Glücksspielgesamtaktivität resp. der individuellen Glücksspielwahl ab. Als Problemspieler klassifizierte Befragte fänden sich am häufigsten unter Befragten, die Sportwetten angeben (zwischen 10,1 % und 16,0 % je nach Wette). Auch das Spielen an Geldspielautomaten rangiere mit einem entsprechenden Anteil (8,6 %) auf den vorderen Plätzen. Vergleichsweise selten seien Problemspieler dagegen unter den Lotteriespielern vertreten (bis zu 2 %).
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Zur Methodik ausführlich Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Fn. 11), S. 30 f. Beim SOGS werden zur Bestimmung dieser Kategorien 20 Items herangezogen und jeweils ein Punkt vergeben. Gesamtwerte von fünf Punkten oder mehr wurden in der Studie der BZgA als „wahrscheinlich pathologisches Glücksspiel“, drei oder vier Punkte als „problematisches Glücksspiel“ eingestuft.
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Die deutsche Suchthilfestatistik13 weist seit einiger Zeit das pathologische Spielen neben Alkohol, Cannabis, Opioiden, Kokain und Stimulanzien unter den Profilen der wichtigsten Hauptdiagnosegruppen aus. Danach hätten die Fallzahlen dieser nicht stoffgebundenen Sucht mit 8.265 Hauptdiagnosen „Pathologisches Glücksspielen“ in ambulanten und stationären Einrichtungen erstmals die Zahlenwerte der Substanzen Kokain und Stimulanzien übertroffen. Ziehe man die Fallzahl der betreuten Patienten als Kriterium heran, rangiere damit „Pathologisches Glücksspielen“ nunmehr erstmals hinter Alkohol, Opioiden und Cannabis auf Platz vier der problematischsten Süchte in Deutschland. Mit einem Verhältnis von 1:7,8 seien auch hier wesentlich mehr Männer von der Störung betroffen, wobei der Männeranteil noch höher als bei allen substanzbezogenen Störungen sei. Die Hauptdiagnose „Pathologisches Glücksspielen“ hänge häufig mit folgenden Einzeldiagnosen zusammen: Alkohol (ambulant: 11 %, stationär: 29 %), Tabak (ambulant: 21 %, stationär: 76 %), Cannabis (ambulant: 4 %, stationär: 13 %) und begrenzt Kokain (ambulant: 2 %, stationär: 76 %). Pathologische Spieler gehörten zu den älteren von Sucht betroffenen Patienten (ambulant: 35 Jahre, stationär: 38 Jahre). Spieler an Geldspielautomaten bildeten in den Einrichtungen nach wie vor mit Abstand die größte Gruppe. Bei 74,3 % der Klienten sei im Jahr 2010 ein pathologisches Spielverhalten in Bezug auf Geldspielautomaten diagnostiziert worden, in 6,3 % der Fälle bezüglich Glücksspielen in Spielbanken, in 6,0 % bezüglich Wetten und bei 13,4 % in anderen Spielformen.14
Exkurs: Pathologisches Glücksspiel und die Anwendung der §§ 20, 21 StGB Das nach beiden genannten Erhebungen erhebliche Aufkommen an pathologischem Glücksspielverhalten wirft die Frage auf, wie die Rechtsprechung damit umgeht, wenn im Strafverfahren eine solche Störung diagnostiziert wird. Der BGH hat zur Frage, ob bei einem pathologischen Glücksspielverhalten die Schuld nach § 21 StGB vermindert oder nach § 20 StGB gar ausgeschlossen sein kann, soweit ersichtlich, zum ersten Mal im Jahr 1988 Stellung bezogen.15 In diesem Fall hatte das Landgericht den Angeklagten u. a. wegen schweren Raubs zu neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Motiv für seine Überfälle seien Schulden in Höhe von 20.000 DM aus Spielbankverlusten gewesen. Der BGH verwarf die Revision, die eine Anwendung des § 21 StGB erreichen wollte. Ob es eine eigene einheitliche psychische Störung „Spielsucht“ oder „Spielleidenschaft“ gebe, sei, so die Karlsruher 13
Steppan/Pfeiffer-Gerschel, Suchtkrankenhilfe in Deutschland 2010. Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS), 2011, im Internet unter http://www.suchthilfestatistik. de/cms/images/publikationen/jahresbericht %202010 %20dshs.pdf, S. 45 f. 14 Meyer (Fn. 8), S. 133. Danach waren Mehrfachnennungen möglich. 15 BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 7; vgl. auch BGH StV 1993, 241.
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Richter, umstritten und erscheine fraglich. Der in der wissenschaftlichen Diskussion verwendete Begriff des „pathologischen Spielens“ bedeute jedenfalls nicht ohne weiteres, so der BGH unter Bezug auf psychiatrische Literatur, dass, wer damit behaftet sei, schon allein deshalb eine krankhafte seelische Störung oder eine schwere andere seelische Abartigkeit i.S. von § 20 StGB aufweise. Noch im gleichen Jahr führte der 1. Strafsenat aus, dass maßgebend für eine Beurteilung der Schuldfähigkeit sei, inwieweit das gesamte Erscheinungsbild des Täters psychische Veränderungen der Persönlichkeit aufweist, die, wenn sie nicht pathologisch bedingt sind, als andere seelische Abartigkeit in ihrem Schweregrad den krankhaften seelischen Störungen gleichwertig sind. In Anlehnung an seine Rechtsprechung zur Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei Drogenabhängigen führte der BGH aus, dass diese Folge nur ausnahmsweise gegeben sei, wenn z. B. die Drogensucht zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt oder der Täter bei Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen gelitten habe.16 In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahre 2004 hob der BGH die Verurteilung eines Angeklagten unter anderem wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren zehn Monaten auf.17 Zudem hatte die Kammer die Unterbringung nach § 63 StGB angeordnet. Grund für die Annahme des § 21 StGB sei, so das Landgericht, dass bei dem Angeklagten „das psychiatrische Krankheitsbild des pathologischen Spielens“ vorliege. Er habe die Straftaten begangen, um an Geld für Automatenglücksspiele zu gelangen. Auch hier blieb der BGH bei seiner bereits referierten Argumentation. Eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit sei beim pathologischen Spielen nur ausnahmsweise dann gegeben, wenn die Sucht zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt oder der Täter bei Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen gelitten habe. Auch wenn der Angeklagte während des Tatzeitraums nahezu täglich mit dem aus seinen Straftaten erlangten Geld an Automaten gespielt habe, belege dieser äußere Zusammenhang zwischen seiner Spielleidenschaft und seiner Straffälligkeit allein keine strafrechtlich relevante Beeinträchtigung seiner Schuldfähigkeit, zumal der Angeklagte davor vielfach mit ähnlichen Delikten in Erscheinung getreten sei. Diese restriktive Haltung der Karlsruher Richter dauert an. Bis zum heutigen Zeitpunkt sind keine Urteile erkennbar, in denen der BGH wegen der Diagnose Spielsucht eine verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB, geschweige denn eine Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB zugebilligt hat.18 16
BGH NStZ 1989, 113 m. zust. Anm. Kröber JR 1989, 380. BGH NStZ 2004, 31; vgl. auch BGH NStZ 2005, 281 sowie BGHSt 49, 365 (369 ff.) m. Anm. Schöch JR 2005, 296 und Schramm JZ 2005, 418. 18 Vgl. zuletzt BGH 1 StR 122/11 v. 08. 06. 2011; ähnlich restriktiv Brandl, Spielleidenschaft und Strafrecht: eine Betrachtung zu den Glücksspieltatbeständen der §§ 284 ff. StGB, Diss. Augsburg 2003, S. 221 ff., Hoch, in: Ihno/Grüsser-Sinopoli, Glücksspiel in Deutschland. Ökonomie, Recht, Sucht, 2008, S. 156 ff.; aus der Kommentarliteratur vgl. nur Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 20 Rn. 41, LK-StGB/Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn. 161 m.w.N. Einen gewissen Ausreißer stellt die Entscheidung des AG München NStZ 1996, 334 m. Anm. Kel17
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Demgegenüber ist die psychiatrische Literatur bei der Bewertung einer Spielsucht als eine die Schuldfähigkeit beeinträchtigende Störung teilweise großzügiger. So führt z. B. Kellermann aus, dass die Steuerungsfähigkeit bei glücksspielsüchtig gewordenen Menschen aus forensisch-suchtpsychiatrischer Sicht bei eindeutigen Beschaffungsdelikten ebenso vermindert sei wie die der Drogenabhängigen.19
III. Zentrale Regelungen des Glücksspielmarktes Traditionell werden im Glücksspielrecht zwei Materien unterschieden, das kompetentiell auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützte Recht der Wirtschaft, zum anderen das in der Gesetzgebungskompetenz der Länder stehende Recht der Spielbanken, Sportwetten und Lotterien.20 Das gewerbsmäßige Aufstellen von Spielgeräten und damit auch der mit einem besonderen Suchtpotential behafteten Geldspielautomaten wird seit langem durch die §§ 33c ff. GewO erfasst. Leitende aber fragliche Begründung des Gesetzgebers für eine bundesrechtliche Kompetenz war, dass u. a. „bei der Aufstellung kostspieliger Automaten“ die wirtschaftliche Bedeutung der Veranstaltungen überwiege.21 Mit der Föderalismusreform des Jahres 2006 wurde Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG dann dahingehend geändert, dass sich seitdem die Gesetzgebung des Bundes für das Recht der Wirtschaft nicht mehr auf das „Recht der Spielhallen“ erstreckt. Nach der herrschenden Meinung sollte dadurch aber nicht die Geltung der §§ 33c ff. GewO in Frage gestellt werden. So könne der Bund weiter die Zuständigkeit für Regelungen beanspruchen, die sich auf die Spielgeräte als solche und die Aufstellung beziehen.22 Grundnorm ist § 33c Abs. 1 GewO, wonach derjenige einer Erlaubnis der zuständigen Behörde bedarf, der gewerbsmäßig Spielgeräte, die mit einer den Spielausgang beeinflussenden technischen Vorrichtung ausgestattet sind, und die die Möglichkeit eines Gewinnes bieten, aufstellen will. Die GewO enthält auch Bußgeldtatbestände. So kann der vorsätzliche oder fahrlässige Verstoß gegen die Erlaubnispflicht des § 33c Abs. 1 GewO nach § 144 Abs. 1 Nr. 1d, lermann dar, indem die Angeklagte auch wegen ihrer Glücksspielsucht wegen Schuldunfähigkeit vom Vorwurf der Ausübung verbotener Prostitution freigesprochen wurde. Das Urteil wurde freilich vom LG München (NStZ 1997, 283 m. Anm. Stoll) aufgehoben und die Angeklagte unter Annahme des § 21 StGB verurteilt. Das BayOblG verwarf die hiergegen geführte Revision. 19 Kellermann, StV 2005, 295; differenzierend auch Kröber, Pathologisches Glücksspielen: Persönlichkeitsmerkmale und forensische Aspekte, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, 2009, S. 96. 20 Recht instruktiver Überblick bei Lippert, JA 2012, 124; vgl. auch Ennuschat, in: Tettinger/Wank/Ennuschat, Gewerberecht, 8. Aufl. 2011, § 33 h Rn. 2 ff.; Ennuschat, in: Pielow, Gewerberecht, Stand: 01. 07. 2012, § 33 h Rn. 1. 21 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung vom 05. 06. 1978, BT-Drs. 8/1863, S. 10. 22 Ennuschat, in: Tettinger/Wank/Ennuschat (Fn. 20), Gewerberecht, § 33i Rn. 4; Lippert, JA 2012, 125.
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Abs. 4 GewO mit einer Geldbuße bis zu 5.000 Euro geahndet werden. Erst bei einer beharrlichen Wiederholung der bezeichneten Zuwiderhandlung wird daraus nach § 148 Nr. 1 GewO eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe geahndet werden kann. Die Vorschriften der GewO werden ergänzt durch die Verordnung über Spielgeräte und andere Spiele mit Gewinnmöglichkeit (SpielV), die Maßnahmen zur Eindämmung der Spielsucht vorsieht. So dürfen etwa nach § 3 Abs. 2 SpielV in Spielhallen oder ähnlichen Unternehmen nur zwölf Geld- oder Warenspielgeräte aufgestellt werden, die zudem einen gewissen Mindestabstand aufweisen müssen. Zudem sieht § 13 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SpielV u. a. vor, dass die Summe der Verluste (Einsätze abzüglich Gewinne) im Verlauf einer Stunde 80 Euro, die Summe der Gewinne abzüglich der Einsätze im Verlauf einer Stunde 500 Euro nicht übersteigen darf. Wie bereits erwähnt, ist für die im Bereich der Gesetzgebungskompetenz der Länder stehende Materie am 01. 07. 2012 mit Ausnahme Schleswig-Holsteins in allen anderen 15 Bundesländern der neue GlüStV in Kraft getreten. Er bestimmt in § 1 S. 1 GlüStV als seine gleichrangigen Ziele „1. das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen, 2. durch ein begrenztes, eine geeignete Alternative zum nicht erlaubten Glücksspiel darstellendes Glücksspielangebot den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken sowie der Entwicklung und Ausbreitung von unerlaubten Glücksspielen in Schwarzmärkten entgegenzuwirken, 3. den Jugend- und den Spielerschutz zu gewährleisten, 4. sicherzustellen, dass Glücksspiele ordnungsgemäß durchgeführt, die Spieler vor betrügerischen Machenschaften geschützt, die mit Glücksspielen verbundene Folge- und Begleitkriminalität abgewehrt werden und 5. Gefahren für die Integrität des sportlichen Wettbewerbs beim Veranstalten und Vermitteln von Sportwetten vorzubeugen.“ Um diese Ziele zu erreichen, sind nach § 1 S. 2 GlüStV „differenzierte Maßnahmen für die einzelnen Glücksspielformen vorgesehen, um deren spezifischen Sucht-, Betrugs-, Manipulations- und Kriminalitätsgefährdungspotentialen Rechnung zu tragen.“ § 2 GlüStV trifft Bestimmungen über den Anwendungsbereich, wobei die Länder nach § 2 Abs. 1 mit dem GlüStV die Veranstaltung, die Durchführung und die Vermittlung von öffentlichen Glücksspielen regeln. Des Weiteren wird u. a. unterschieden nach Spielbanken, Geld- oder Warenspielgeräten mit Gewinnmöglichkeit in Spielhallen oder Gaststätten, Pferdewetten sowie Gewinnspielen im Rundfunk. Nach § 2 Abs. 3 S. 1 GlüStV gelten allerdings für Spielhallen, soweit sie die, wie wir gesehen haben, unter Suchtaspekten besonders problematischen Geld- oder Warenspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit bereithalten, nur die §§ 1 bis 3, 4 Abs. 1, 3 und 4, §§ 5 bis 7 sowie die Vorschriften des Siebten und Neunten Abschnitts des GlüStV. Das Glücksspiel selbst ist in § 3 Abs. 1 S. 1 GlüStV definiert. Danach liegt ein Glücksspiel vor, „wenn im Rahmen eines Spiels für den Erwerb einer Gewinnchance
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ein Entgelt verlangt wird und die Entscheidung über den Gewinn ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt. Die Entscheidung über den Gewinn hängt in jedem Fall vom Zufall ab, wenn dafür der ungewisse Eintritt oder Ausgang zukünftiger Ereignisse maßgeblich ist. Wetten gegen Entgelt auf den Eintritt oder Ausgang eines zukünftigen Ereignisses sind Glücksspiele.“ Gemäß § 4 Abs. 1 GlüStV dürfen öffentliche Glücksspiele nur mit Erlaubnis der zuständigen Behörde des jeweiligen Landes veranstaltet oder vermittelt werden. Das Veranstalten und das Vermitteln ohne diese Erlaubnis (unerlaubtes Glücksspiel) sowie die Mitwirkung an Zahlungen im Zusammenhang mit unerlaubtem Glücksspiel sind verboten. Nach § 4 Abs. 2 GlüStV ist die Erlaubnis zu versagen, wenn das Veranstalten oder das Vermitteln des Glücksspiels den Zielen des § 1 GlüStV zuwiderläuft. Die Sicherstellung eines ausreichenden Glücksspielangebots können die Länder nach § 10 GlüStV auch selbst erfüllen. Dies tun sie teilweise durch das Betreiben eigener Spielbanken. Ausführungen über Spielhallen finden sich auch in den §§ 24 – 26 GlüStV. Nach § 24 Abs. 1 GlüStV bedürfen die Errichtung und der Betrieb einer Spielhalle unbeschadet sonstiger Genehmigungserfordernisse einer Erlaubnis nach diesem Staatsvertrag. Sie ist nach § 24 Abs. 2 GlüStV zu versagen, wenn die Errichtung und der Betrieb einer Spielhalle den Zielen des § 1 GlüStV zuwiderlaufen. Das Nähere regeln nach § 24 Abs. 3 GlüStV die Ausführungsbestimmungen der Länder. Betreiber von Spielhallen mit Geldspielgeräten mit Gewinnmöglichkeit benötigen damit jetzt nicht nur eine Erlaubnis für den Betrieb einer Spielhalle gemäß der GewO sowie eine Erlaubnis für die Aufstellung und den Zugang zu den Geräten gemäß der Baunutzungsverordnung der Gemeinde, sondern auch eine Erlaubnis der zuständigen Behörde des Landes nach § 24 Abs. 1 GlüStV. Für solche in Gaststätten stehenden Geldautomaten gelten dagegen nach § 2 Abs. 3 GlüStV nur die generellen Regelungen des GlüStV für Werbung, Sozialkonzept und Information sowie Aufklärung.23 Weitere Beschränkungen für Spielhallen sehen die §§ 25, 26 GlüStV vor, die z. B. einen Mindestabstand zwischen Spielhallen enthalten, den die Länder auszufüllen haben. § 26 Abs. 2 GlüStV sieht zudem Sperrzeiten von mindestens drei Stunden vor. Begleitend zum neuen Glücksspielstaatsvertrag ist seit kurzem eine rege Gesetzgebungstätigkeit der Länder zu verzeichnen.24 Mittels neuer Spielhallengesetze versucht man, den Betrieb von Spielhallen in einem gewissen Umfang einzudämmen. So trifft z. B. das neue am 1. Juli 2012 in Kraft getretene Bayerische Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland und anderer Rechtsvorschriften vom 25. Juni 2012 (AGGlüStV) in seinem Art. 9 Abs. 3 die Regelung, dass ein Mindestabstand von 250 Metern Luftlinie 23
Becker/Barth, Erster Glücksspieländerungsstaatsvertrag, 2012, im Internet unter https:// gluecksspiel.uni-hohenheim.de/fileadmin/einrichtungen/gluecksspiel/Newsletter/Newslet ter_052012.pdf, S. 6 f. 24 Ein aktueller Stand und zugleich ein instruktiver Überblick über die Glücksspielgesetzgebung findet sich auf der Website der Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim, unter https://gluecksspiel.uni-hohenheim.de/spielhallengesetz.
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zu einer anderen Spielhalle nicht unterschritten werden darf, wobei die zuständige Erlaubnisbehörde jedoch Ausnahmen vorsehen kann. Art. 11 Abs. 2 AGGlüStV enthält eine Sperrzeit für Spielhallen täglich von 3.00 bis 6.00 Uhr, die von den Gemeinden verlängert werden kann. Während die gewerblichen Spielangebote von der Gewerbefreiheit erfasst werden, sind dagegen Spielbanken, Sportwetten und Lotterien zumeist in der Hand des Staates monopolisiert.25 Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2006 in seiner Sportwetten-Entscheidung als Hauptzweck für die Errichtung eines staatlichen Wettmonopols „die Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht“ als „besonders wichtiges Gemeinwohlziel“ anerkannt. Weitere legitime Ziele seien „der Schutz der Spieler vor betrügerischen Machenschaften seitens der Wettanbieter und ein darüber hinaus gehender Verbraucherschutz.“ Legitimes Ziel eines staatlichen Wettmonopols sei „außerdem die Abwehr von Gefahren aus mit dem Wetten verbundener Folge- und Begleitkriminalität.“ Wegen der mit Sportwetten erzielbaren hohen Gewinne sei auch „der Einstieg des organisierten Verbrechens nahe liegend.“ Demgegenüber schieden „fiskalische Interessen des Staates als solche zur Rechtfertigung der Errichtung eines Wettmonopols aus.“ Ein legitimes Ziel sei zudem „die Verhinderung der Ausnutzung des Spieltriebs.“26 Auf europarechtlicher Ebene ist zu beachten, dass im September 2010 der EuGH in mehreren Entscheidungen die Politik des deutschen Gesetzgebers beanstandet hat. Gerügt wurde u. a., dass bei Glücksspielen, die nicht unter das Monopol fielen und die zudem ein höheres Suchtpotenzial als die dem Monopol unterliegenden Spiele aufwiesen, die zuständigen Behörden eine zur Entwicklung und Stimulation der Spieltätigkeiten geeignete Politik der Angebotserweiterung betrieben, um insbesondere die aus diesen Tätigkeiten fließenden Einnahmen zu maximieren. Gefordert wurde insoweit eine kohärente Regelung.27 Zum Entwurf des neuen Glücksspielstaatsvertrags hat mittlerweile die EU-Kommission kritisch Stellung genommen.28
IV. Die strafrechtliche Erfassung des Glücksspiels im StGB Im Kernstrafrecht werden Glücksspiele bekanntlich in vier Vorschriften, in den §§ 284 bis 287 StGB erfasst. Zentrale Norm ist § 284 StGB mit dem amtlichen Titel „Unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels“. Nach § 284 Abs. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, „wer ohne behördliche Erlaubnis öffentlich ein Glücksspiel veranstaltet oder hält oder die Ein25
Ennuschat, in: Tettinger/Wank/Ennuschat (Fn. 20), Gewerberecht, § 33 h Rn. 2. BVerfGE 115, 276 (304 ff.). 27 EuGH, NVwZ 2010, 1422; vgl. auch EuGH, NVwZ 2010, 1409. 28 Die Stellungnahme wird politisch sehr unterschiedlich interpretiert, vgl. http://landesb log.de/2012/03/glucksspielstaatsvertrag-der-wortlaut-des-schreibens-der-eu-kommission/. 26
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richtungen hierzu bereitstellt.“ § 284 Abs. 2 StGB erweitert das Merkmal der öffentlichen Veranstaltung, in dem auch Glücksspiele erfasst werden „in Vereinen oder geschlossenen Gesellschaften, in denen Glücksspiele gewohnheitsmäßig veranstaltet werden“. In § 284 Abs. 3 StGB wurde durch das „Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG)“ eine Strafschärfung (Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren) für denjenigen vorgesehen, der „gewerbsmäßig“ (Nr. 1) oder „als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat“ (Nr. 2). Zur Begründung dieser Strafrechtsschärfung führte der damalige Gesetzentwurf lapidar an, dass die illegale Veranstaltung von Glücksspielen „einen typischen Deliktsbereich der Organisierten Kriminalität“ darstelle.29 Frucht dieses Gesetzes aus dem Jahr 1992 ist auch die Erweiterung des heutigen § 286 StGB, der nach der Verfassungswidrigkeit der in § 43a StGB geregelten Vermögensstrafe in Abs. 1 für die Fälle des gewerbs- oder bandenmäßigen Spielens den erweiterten Verfall nach § 73d StGB vorsieht. Des Weiteren ermöglicht § 286 Abs. 2 StGB (bis zum 6. Strafrechtsreformgesetz als § 285b StGB normiert) die Einziehung von Spieleinrichtungen und des Geldes in den Fällen der §§ 284 und 285 StGB. Deutlich geringer (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe) fällt die Sanktion nach § 284 Abs. 4 StGB für denjenigen aus, der für ein öffentliches Glücksspiel nach § 284 Abs. 1 und 2 StGB wirbt. Nach § 285 StGB (bis zum 6. Strafrechtsreformgesetz im Jahr 1998 noch unter § 284a StGB eingestellt) wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen derjenige sanktioniert, der sich an einem öffentlichen Glücksspiel im Sinne des § 284 StGB beteiligt. In § 287 StGB schließlich wird in Abs. 1 die unerlaubte Veranstaltung öffentlicher Lotterien oder Ausspielungen beweglicher oder unbeweglicher Sachen geregelt, in seinem Abs. 2 das Werben für derartige Veranstaltungen. Genauso vielfältig wie die Normen, die das erlaubte und unerlaubte Glücksspiel regeln, sind die Ansichten zu dem Rechtsgut, das die zentrale Vorschrift des § 284 StGB schützen soll. Krehl sieht die Kriminalisierung des unerlaubten Glücksspiels in den § 284 Abs. 1 und 3 StGB als gerechtfertigt an. Dabei stehe im Vordergrund eines „Bündels von Schutzzwecken … die Gefahren des Glücksspiels ,möglichst gering zu halten‘.“30 Im Einzelnen nennt er als solche Präventionsziele „das Entstehen von Wett- und Glücksspielsucht zu verhindern, die Spielbegeisterung Einzelner in geordnete Bahnen zu lenken und sie vor betrügerischen Machenschaften zu schützen, die ordnungsgemäße Durchführung von Glücksspielen zu gewährleisten und durch die 29 Gesetzentwurf des Bundesrates: Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, BT-Drs. 12/ 989 vom 25. 7. 1991, S. 28. 30 LK-StGB/Krehl, 12. Aufl. 2008, vor § 284 Rn. 10 unter Berufung auf BayObLG NJW 2004, 1057 (1058).
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angebotsbegrenzende staatliche Kanalisierung die mit Glücksspielen verbundene Folge- und Begleitkriminalität möglichst zu vermeiden.“31 Kühl erkennt den Zweck des § 284 StGB im Anschluss an eine Entscheidung des BGH dagegen lapidar darin, „die wirtschaftliche Ausbeutung der natürlichen Spielleidenschaft unter staatliche Kontrolle zu nehmen.“32 Ähnlich hält Rosenau § 284 StGB legitimiert durch das „Gemeinwohlziel, die wirtschaftliche Ausbeutung des natürlichen Spieltriebs zu verhindern … und der Spielsucht vorzubeugen“, wobei der Schutz der Allgemeinheit vor der Beschaffungs-, Begleit- und Folgekriminalität „einen Nebenaspekt“ darstelle.33 Wohlers unterscheidet zwischen der Zielsetzung des Gesetzgebers und dem hinter den §§ 284 ff. StGB stehenden Strafgrund. Während die Zielsetzung darin liege, dass dadurch „die wirtschaftliche Ausbeutung der natürlichen Spielleidenschaft unter staatliche Kontrolle und Zügelung genommen, durch staatliche Kontrolle der ordnungsgemäße Spielablauf gewährleistet und die Gewinne für gemeinnützige Zwecke abgeschöpft werden“ sollen, sei das geschützte Rechtsgut „das sozialwichtige ,Etwas‘, das durch diese Kontrolle geschützt werden soll.“34 Hoyer erkennt dagegen als geschütztes Rechtsgut des § 284 Abs. 1 StGB nur das Vermögen der Glücksspielteilnehmer an. Da die §§ 284 ff. StGB aber kein Falschspiel voraussetzten, sei § 284 Abs. 1 StGB nur als abstraktes Vermögensgefährdungsdelikt denkbar.35 In vergleichbarer Weise begreift Heine den Sinn des § 284 StGB „primär in der innerstaatlichen Absicherung eines ordnungsgemäßen Spielbetriebs und damit im Schutz des einzelnen vor der Gefahr von Manipulationen beim Glücksspiel zum Schaden seines Vermögens.“36 Dem stimmen Groeschke/Hohmann zu, die als das von § 284 StGB geschützte Rechtsgut das „immer wieder bestätigte Vertrauen des Einzelnen in die Gewährleistung einer manipulationsfreien Spielchance“ ansehen.37 Gegen diese auf das Vermögen der Spielteilnehmer abstellenden Sichtweisen wendet Beckemper meines Erachtens zu Recht ein, dass zum einen die bloße entgangene Möglichkeit zu einem Gewinn strafrechtlich im Übrigen nicht geschützt sei,
31
LK-StGB/Krehl (Fn. 30), vor § 284 Rn. 10. LK-StGB/Krehl (Fn. 30), § 284 Rn. 1 unter Hinweis auf die fast inhaltsgleiche Formulierung in BGHSt 9, 209 (210). Fast könnte man meinen, hier blieb bewusst offen, ob nicht auch der Staat an der genannten Ausbeutung teilhat. 33 SSW-StGB/Rosenau, 2009, § 284 Rn. 2. 34 NK-StGB/Wohlers, 3. Aufl. 2010, § 284 Rn. 2 unter Berufung auf BT-Drs. 13/8587, S. 67. Darin wird in der Begründung der Neufassung des § 287 StGB durch das 6. StRG angeführt, dass es Zweck der §§ 284, 286 StGB sei, „1. eine übermäßige Anregung der Nachfrage nach Glücksspielen zu verhindern, 2. durch staatliche Kontrolle einen ordnungsmäßen Spielablauf zu gewährleisten, 3. eine Ausnutzung des natürlichen Spieltriebs zu privaten oder gewerblichen Gewinnzwecken zu verhindern und 4. einen nicht unerheblichen Teil der Einnahmen aus Glücksspielen (mindestens 25 %) zur Finanzierung gemeinnütziger oder öffentlicher Zwecke heranzuziehen.“ 35 SK-StGB/Hoyer, Loseblattausgabe, 48. Lfg. (August 1999), § 284 Rn. 3 f. 36 Schönke/Schröder/Heine, StGB, 28. Aufl. 2010, § 284 Rn. 2b. 37 MK-StGB/Groeschke/Hohmann, 2006, § 284 Rn. 1. 32
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zum anderen dann § 263 StGB eingreifen könne.38 Sie äußert daher den Verdacht, dass letztlich nur das fiskalische Interesse geschützt werde.39 Ähnlich dominiere nach Temming „die Kontrolle eines an sich moralisch bedenklichen und für kriminelle Einflüsse bes. anfälligen gesellschaftlichen Verhaltens – verknüpft mit fiskalischen Interessen eindeutig.“40 Gleichermaßen meint Putzke, dass „bei Lichte betrachtet … allein fiskalische Interessen“ ausschlaggebend seien.41 Auch Fischer hält „überzeugende Begründungen für die Kriminalisierung des unkonzessionierten Spielbetriebs“ für nur „schwer erkennbar“.42 Resümiert man die dargestellten Regelungen und insbesondere die Diskussion über das durch die §§ 284 ff. StGB geschützte Rechtsgut, weisen schon die genannten unterschiedlichen Ansichten darauf hin, dass die §§ 284 ff. StGB kaum zu legitimieren sind. Noch am plausibelsten erscheinen als strafrechtlich zu schützende Rechtsgüter eine effektive Sucht- und eine wirksame Kriminalitätsbekämpfung. Selbst wenn man unter dieser Prämisse die Berechtigung der §§ 284 ff. StGB akzeptiert, stößt man jedoch auf eine weitere Ungereimtheit. Diese liegt darin, dass nach ganz h. M. ausgerechnet bei einem Betreiben von – wie gesehen besonders problematischen, weil suchtfördernden – Geldspielautomaten ohne Genehmigung neben den bereits genannten Bußgeld- und Straftatbeständen der GewO die §§ 284 ff. StGB keine Anwendung finden sollen. Begründet wird dies in der Literatur unterschiedlich. So wird zum einen die Auffassung vertreten, dass der Betrieb eines von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zugelassenen Spielgeräts ohne die Erlaubnis der zuständigen Behörde nach § 33c Abs. 1 GewO bzw. ohne die Bestätigung nach § 33c Abs. 3 GewO nicht als unerlaubtes Glücksspiel nach § 284 StGB angesehen werden könne, wobei über diese Behauptung hinaus keine Begründung geliefert wird.43 Teilweise wird das Nichteingreifen der §§ 284 ff. StGB auch damit begründet, dass die Ordnungswidrigkeiten- und Straftatbestände der GewO als „leges speciales“ anzusehen seien.44 Etwas genauer haben sich in den 50er Jahren mit dem Verhältnis der §§ 284 ff. StGB zu den Straf- und Bußgeldvorschriften der GewO die Oberlandesgerichte Karlsruhe und Köln auseinandergesetzt. 38
Beckemper (2010), BeckOK § 284 Rn. 6. Beckemper (2010), BeckOK § 284 Rn. 7. 40 HK-StGB/Temming, 2. Aufl. 2011, § 284 Rn. 1. 41 AnwK-StGB/Putzke, 2010, § 284 Rn. 1. 42 Fischer (Fn. 18), § 284 Rn. 2a. 43 Marcks, in: Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung, 2012, § 33c Rn. 44; Ambs, in: Erbs/ Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 2012, § 33c GewO unter 7. Unklar in der Begründung Meßerschmidt, in: Pielow (Fn. 20), Gewerberecht, § 33c Rn. 30: „Daneben können die Strafrechtsnormen der §§ 284 ff. StGB keine Anwendung finden.“ Unklar auch LK-StGB/ Krehl (Fn. 30), vor § 284 Rn. 16: „Eine fehlende Aufstellerlaubnis … macht das Betreiben eines bauartzugelassenen Spielgeräts dagegen nicht zum unerlaubten Glücksspiel nach § 284 …“ 44 So Ennuschat, in: Tettinger/Wank/Ennuschat (Fn. 20), Gewerberecht, § 33c Rn. 67. 39
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Im Falle des OLG Karlsruhe45 war der Angeklagte Eigentümer mehrerer von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig zugelassener Geräte, die er ohne eine Genehmigung nach § 33d GewO a.F. zu besitzen, in verschiedenen Gaststätten aufgestellt hatte. Deswegen wurde er vom Amtsgericht nach § 146 Abs. 1 Ziff. 5 GewO a.F. zu einer Geldstrafe verurteilt. Dagegen legte die Staatsanwaltschaft mit dem Ziel Berufung ein, auch eine tateinheitliche Verurteilung nach den §§ 284, 285 StGB zu erreichen. Die Berufung wurde verworfen. Das Landgericht argumentierte damit, dass § 284 StGB aus zwei Gründen zu verneinen sei. Zum einen, weil, wenn es sich um ein Glücksspiel handle, in der Zulassung des Geräts durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt die Erlaubnis nach § 284 StGB zu erblicken sei; zum anderen, weil sich der Angeklagte mindestens in einem entschuldbaren, dem Verbotsirrtum gleich zu behandelnden Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund befunden habe. Mit ihrer zum OLG Karlsruhe eingelegten Revision hatte die Staatsanwaltschaft Erfolg. Rechtsirrig, so das OLG, sei die Auffassung, dass die Zulassung die behördliche Erlaubnis i.S. von § 284 StGB darstelle und demgemäß die Physikalisch-Technische Bundesanstalt die für die Erteilung dieser Erlaubnis zuständige Stelle sei. Auch zulassungspflichtige Geräte bedürften vielmehr einer ortspolizeilichen Genehmigung, die eine behördliche Erlaubnis i. S. von § 284 StGB darstelle. Die Zulassung des Geräts und die ortspolizeiliche Aufstellungsgenehmigung seien scharf zu unterscheiden. Wenn der Angeklagte öffentlich die ihm gehörigen Spielgeräte aufgestellt habe, so habe er öffentlich ein Glücksspiel ohne Erlaubnis veranstaltet. Ein Irrtum liege nicht vor. § 146 Abs. 1 Ziff. 5 GewO a.F. stelle auch keine Sonderregelung gegenüber § 284 StGB dar, da der dort in Bezug genommene § 33d GewO a.F. und § 284 StGB in mehreren Beziehungen Unterschiede aufwiesen. Stelle in gewissen Beziehungen § 33d GewO a.F. einen engeren, von § 284 StGB umfassten Tatbestand dar, sei der Tatbestand der GewO insofern weiter als der des § 284 StGB, weil § 33d GewO a.F. nicht nur Glücksspiele, sondern auch Geschicklichkeitsspiele umfasse und eine Straftat nach § 146 Abs. 1 Ziff. 5 GewO a.F. auch fahrlässig begangen werden könne. Zudem schließe die Zulassung der Geräte nicht die Anwendung der §§ 284, 285 StGB aus. Das OLG Karlsruhe sah daher ein tateinheitliches Vorliegen zwischen § 284 StGB und der Strafbarkeit aus der GewO als gegeben an. Die Konstellation in dem Fall, den vier Jahre später das OLG Köln zu entscheiden hatte, war ganz ähnlich.46 Auch hier hatte der Angeklagte damals noch mechanisch betriebene Glücksspielautomaten mit Geldabgabe in Gastwirtschaften aufgestellt, die zwar von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zugelassen waren, wofür er aber keine polizeiliche Genehmigung nach der GewO besaß. Der Einsatz für jedes Spiel betrug 0,10 DM. In der Berufungsinstanz war er gemäß der zuvor referierten Rechtsprechung des OLG Karlsruhe nach § 284 StGB a.F. in Tateinheit mit § 146 Abs. 1 Ziff. 5 GewO a.F. verurteilt worden. Das OLG Köln teilte in der Revi45 46
OLG Karlsruhe NJW 1953, 1642. OLG Köln NJW 1957, 721.
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sionsinstanz zwar die Auffassung der Strafkammer, dass es sich bei den genannten Geräten um reine Glücksspielautomaten handele. Doch sei es bereits seit der Entscheidung des Reichsgerichts RGSt 6, 74 einhellige Meinung, dass § 284 StGB sich nicht auf solche Glücksspiele beziehen wolle, bei deren Betrieb der Unterhaltungscharakter deswegen im Vordergrund stehe, weil wegen der Höhe des Einsatzes und des möglichen Gewinns nur unwesentliche Vermögensnachteile für den Spieler entstehen können. Bei diesem Gerät könne man nicht mehr verlieren, als ein Arbeiter in einer Stunde verdient. Der mögliche Verlust bewege sich also vergleichsweise in dem Rahmen, den jedermann aufbringen müsse, wenn er eine unterhaltende Veranstaltung besuche, bei der ein Eintrittsgeld oder ein Verzehr erfordert wird. Deswegen verstoße das Aufstellen dieser Automaten nicht gegen den Gesetzeszweck des § 284 StGB, „der auf ,Unterbindung oder Zügelung der Spielleidenschaft‘ (RGSt 65, 195) gerichtet ist, die Höhe des Einsatzes und der Gewinnmöglichkeit lassen keine wesentlichen Verluste zu und es ist daher für die Betätigung einer Spielleidenschaft kein Raum.“ Der erforderliche Schutz vor Ausbeutung werde vielmehr durch § 33d GewO a.F. gewährt. Die Entscheidung stehe auch nicht im Widerspruch zu dem Urteil des OLG Karlsruhe, da dieses sich nicht dazu geäußert habe, ob Geräte der hier in Betracht kommenden Art überhaupt Glücksspielgeräte im Sinne des § 284 StGB seien. Weitere strafrichterliche Entscheidungen zu der Frage, ob Geldspielautomaten überhaupt den §§ 284 ff. StGB unterfallen, sind nicht ersichtlich.47 Präzise Äußerungen in der strafrechtlichen Literatur sind ebenfalls Mangelware. Richtigerweise wird an Geldspielgeräten, bei denen nach § 13 Abs. 1 Nr. 3 SpielV die Summe der Verluste (Einsätze abzüglich Gewinne) im Verlauf einer Stunde immerhin 80 Euro und nach § 13 Abs. 1 Nr. 4 SpielV die Summe der Gewinne abzüglich der Einsätze im Verlauf einer Stunde 500 Euro erreichen kann, Glücksspiel im Sinne der §§ 284 StGB betrieben. Lediglich auf Wertgrenzen für Einzelspiele abzustellen, erscheint dagegen lebensfremd.48
V. Rechtstatsächliche und kriminologische Erkenntnisse zu den §§ 284 ff. StGB und zum Bereich des Glücksspiels Zwischen den Jahren 2002 und 2011 (Tabelle 1) schwankte die Zahl der nach der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfassten Fälle von Straftaten nach §§ 284, 285 und 287 StGB zwischen rund 1.100 und knapp 2.000 Fällen jährlich. Demgegenüber wurden z. B. im Jahr 1987 allein in den alten Bundesländern noch 3.491 Fälle regis47
Der Fall BayObLG JR 2003, 386 m. Anm. Wohlers betrifft einen anderen Sachverhalt, da hier ein Unterhaltungsspielgerät zu einem Glücksspielautomat umfunktioniert wurde. 48 In diese Richtung auch Brandl (Fn. 18), S. 46. Zur Novellierung der SpielV vgl. die Unterrichtung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Bericht zur Evaluierung der Fünften Novelle der Spielverordnung, insbesondere im Hinblick auf die Problematik des pathologischen Glücksspiels; BR-Drs. 881/10 v. 08. 12. 2010.
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triert. Im letzten Jahr (2011) war mit nur 1.139 Fällen ein Tiefststand zu verzeichnen, was mit einer temporären Unsicherheit über den Anwendungsbereich der §§ 284 ff. StGB nach den Urteilen des EuGH zu tun haben mag. Die Aufklärungsquote lag in den letzten Jahren bei jeweils deutlich über 90 %. Noch stärker als bei der Kriminalität insgesamt dominieren in diesem Deliktsbereich die männlichen Tatverdächtigen (im Jahr 2011 z. B. mit einem Anteil von 86,8 %, im Jahr 2010 von 88,8 % gegenüber zuletzt nur 74,5 % bei der allgemeinen Kriminalität). Auch der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen ist bei den Glücksspielstraftaten mit konstant etwas über 50 % deutlich höher als bei der Kriminalität insgesamt mit zuletzt 21,9 % (2011). Regelmäßig handeln die Tatverdächtigen allein, nur ein sehr geringer Teil ist als Konsument harter Drogen registriert. Bereits als Tatverdächtige in Erscheinung getreten waren in den letzten Jahren regelmäßig über die Hälfte (2010: 56,8 %) und damit ebenfalls mehr als bei der Kriminalität insgesamt (2011: 44,2 %). Tabelle 1 Erfassung der §§ 284, 285 und 287 StGB nach der Polizeilichen Kriminalstatistik in den Jahren 2002 bis 2011 AlleinKonsument handelnde harter TV in % Drogen in %
Bereits als TV in Erscheinung getreten in %
1588 201 54,4
75,6
1,5
56,8
97,1
1427 182 52,3
70,7
2,1
53,6
97,8
1457 254 52,4
65,7
1,2
51,7
2007 1758
98,5
1900 322 50,5
69,7
1,1
52,6
2006 1968
97,1
1826 364 53,9
68,1
0,8
46,1
2005 1822
97,1
1944 354 52,7
71,3
1,0
43,1
2004 1674
97,4
1843 243 66,2
67,7
1,7
48,4
2003 1249
93,7
1507 261 61,6
57,4
1,5
57,8
2002 1322
96
1576 219 69,4
66,4
1,4
52,1
Jahr Erfasste Fälle
AQ Gein % schlecht der TV
Nichtdeutsche TV in %
M
W
2011 1139
94,9
943
144 53,6
2010 1596
97,5
2009 1368 2008 1326
Nach der zuletzt verfügbaren Strafverfolgungsstatistik wurden im Jahr 2010 148 Personen wegen einer Straftat nach den § 284 Abs. 1, 4 und § 287 StGB, 97 Personen wegen einer Straftat nach § 284 Abs. 3 StGB und 131 Personen wegen einer Straftat nach § 285 StGB abgeurteilt.49 Von den nach den § 284 Abs. 1, 4 und § 287 StGB nach allgemeinen Strafrecht nur 75 Verurteilten erhielten die meisten, nämlich 70 Personen, eine Geldstrafe, die anderen fünf eine Freiheitsstrafe. Bei den nach § 284 Abs. 3 StGB sanktionierten 58 Personen entfielen auf 20 eine Frei49
Strafverfolgungsstatistik 2010, S. 38.
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heits-, auf 38 Personen eine Geldstrafe. Dagegen wurden die nach § 285 StGB Verurteilten (87 Personen) ausnahmslos mit einer Geldstrafe bedacht.50 Wurden Freiheitsstrafen verhängt, blieben diese allesamt im Bereich bis zu maximal zwei Jahren. Nur in einem Fall wurde die Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt.51 Auch nach der Strafverfolgungsstatistik liegt der Anteil der wegen dieser Delikte verurteilten Ausländer mit etwa 2/3 deutlich höher als bei allen Straftaten, bei denen die Ausländer nur einen Anteil von rund 20 % stellen.52 Von der Frage der statistischen Erfassung der §§ 284 ff. StGB zu unterscheiden ist das Problem, ob und gegebenenfalls in welchem Maße pathologisches Glücksspiel zu Delinquenz führt. Dies festzustellen, ist gar nicht so einfach. Einen Einblick, warum dies so ist, liefert eine Studie von Meyer, Althoff und Stadler aus dem Jahre 1998.53 Selbige befragten 300 Spieler in Behandlung sowie als Kontrollgruppe 274 Gelegenheits- und Häufigkeitsspieler nach Begehung mindestens einer Straftat, Polizeikontakt und Verurteilung. Dabei waren die Spieler in Behandlung durchweg deutlich höher belastet: 89,3 % räumten die Begehung von mindestens einer Straftat im Lebensverlauf ein (nur 51,8 % in der Kontrollgruppe), 59,3 % mindestens eine Straftat in den letzten 12 Monaten (nur 22,3 % in der Kontrollgruppe), 35 % bestätigten mindestens einen Polizeikontakt (6,2 % in der Kontrollgruppe) sowie 28,3 % mindestens eine Verurteilung wegen einer Straftat (nur 3,3 % in der Kontrollgruppe).54 Dass man mit der Annahme eines simplen Zusammenhangs zwischen pathologischem Glücksspiel und Delinquenz allerdings vorsichtig sein muss, zeigt, dass immerhin 41 % der von Meyer, Althoff und Stadler befragten pathologischen Spieler Straftaten nicht erst nach Beginn ihrer Spielkarriere, sondern bereits davor einräumten.55 Auch in einer Behandlungsgruppe des Psychiaters Kröber waren 78 % der Glücksspieler straffällig geworden, darunter aber 61 % aller Straffälligen bereits vor Beginn des pathologischen Spielens. Nur bei 29 % sei die delinquente Karriere in eine enge Beziehung zum Glücksspiel zu bringen. Es müsse sich also, so Kröber, bei der Kriminalität von Glücksspielern keineswegs stets um „Beschaffungsdelinquenz“ handeln.56 Dennoch kommen Zurhold, Kalke und Verthein durchaus in Übereinstimmung mit diesen Daten und aufgrund einer Auswertung internationaler Studien zu dem Ergebnis, dass bei 50 % bis 70 % der pathologischen Spieler und Spielerinnen die Delinquenz auf die vorliegende Glücksspielproblematik zurückzuführen sei.57 50
Strafverfolgungsstatistik 2010, S. 104. Strafverfolgungsstatistik 2010, S. 168 f. 52 Strafverfolgungsstatistik 2010, S. 481. 53 Meyer/Althoff/Stadler, Glücksspiel und Delinquenz, 1998. 54 Meyer/Althoff/Stadler (Fn. 53), S. 59. 55 Meyer/Althoff/Stadler (Fn. 53), S. 60. 56 Kröber (Fn. 19), S. 95. 57 Zurhold/Kalke/Verthein, Glücksspielbezogene Probleme unter den Gefangenen im Hamburger Justizvollzug, 2011, S. 24; ähnlich Feltes, Spielhallen. Kriminologische Risiken und Nebenwirkungen eines expandierenden Gewerbes, 2011, S. 18 ff. 51
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Eindrucksvoll ist nach der Polizeilichen Kriminalstatistik die Zunahme der Raubüberfälle auf Spielhallen, auch wenn offen bleiben muss, in welchen Fällen es sich dabei um Beschaffungsdelinquenz Spielsüchtiger handelt. Waren es im Jahr 2004 nur 394 stieg diese Zahl im Jahr 2010 auf 1.213, um im Jahr 2011 auf 1.165 etwas zurückzugehen. Dennoch wurden im Jahr 2011 mehr Spielhallen überfallen als etwa Tankstellen (829).58 Wie bereits gezeigt, wurde die Einführung des § 284 Abs. 3 StGB im Jahre 1992 damit begründet, dass die illegale Veranstaltung von Glücksspielen einen typischen Deliktsbereich der Organisierten Kriminalität darstelle. Das mag so sein, schlägt sich aber jedenfalls nicht im Lagebild Organisierte Kriminalität des Bundeskriminalamts nieder. In diesem Lagebild wird das illegale Glücksspiel im Deliktsbereich „Organisierte Kriminalität im Zusammenhang mit dem Nachtleben“ erfasst. Die letzte detailliertere Zahl in den veröffentlichten Kurzberichten stammt aus dem Bundeslagebild 2005. Dort wurde angegeben, dass „in nur einem Verfahren“ illegales Glücksspiel eine Rolle gespielt habe.59 Dessen ungeachtet werden gerade Spielhallen immer wieder als potentielle Orte der Geldwäsche vermutet.
VI. Zusammenfassende Thesen Wer versucht, sich einen Überblick über die rechtliche, insbesondere strafrechtliche Regelung des Glücksspielsektors unter Einbeziehung seiner praktischen Anwendung zu verschaffen, erhält mehr Fragen als Antworten. 1. Unstreitig ist zunächst, dass es sich bereits beim legalen Glücksspielsektor um einen äußerst lukrativen Markt handelt. Demgemäß ist zu vermuten, dass die daran Verdienenden in erheblichem Maße Einfluss auf die rechtlichen Vorgaben zu nehmen versuchen. 2. Unterschiedliche internationale wie nationale normative Vorgaben aus unterschiedlichen Rechtsbereichen erschweren es, einen zusammenhängenden Überblick über die Materie zu erhalten. 3. Widersprüchlich erscheint die Gesetzgebung insoweit, als Glücksspiele mit vergleichsweise geringem Suchtpotential beim Staat monopolisiert sind, die Geldspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit dagegen in erster Linie der Gewerbeordnung unterworfen sind und grundsätzlich von jedermann betrieben werden können. 4. Fraglich ist auch die Legitimation der §§ 284 ff. StGB. Weder die Kontrolle der wirtschaftlichen Ausbeutung des natürlichen Spieltriebs der Bevölkerung noch die 58 Polizeiliche Kriminalstatistik, PKS-Zeitreihen 1987 bis 2011, Tabelle 01; vgl. zum Zusammenhang zwischen dem Betreiben einer Spielhalle und den daraus resultierenden Kriminalitätsgefahren LG München, Urt. v. 04.04.2011 – 1 S 16861/09. 59 BKA, Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2005, Pressefreie Kurzfassung, 2006, S. 22.
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Eindämmung des Suchtpotentials noch der Vermögensschutz der Spieler oder die fiskalischen Interessen der öffentlichen Hand dürften, betrachtet man sie im Kontext des gesamten Regelungsgeflechts, zur Rechtfertigung einer solchen Strafbewehrung ausreichen. 5. Hält man die §§ 284 ff. StGB gleichwohl für legitim, ist es widersinnig, gerade das unerlaubte Betreiben von Geldspielautomaten von einer Strafbarkeit auszunehmen. 6. Annahmen eines natürlichen Spieltriebs der Bevölkerung kontrastieren eigenartig mit einer äußerst restriktiven Annahme einer (verminderten) Schuldfähigkeit bei Vorliegen einer Spielsucht.
Von betrunkenen Kürassieren bis zu Zeitungskarikaturisten Blasphemie im dänischen Strafrecht Von Vagn Greve* Religion, Moral und Recht sind seit jeher miteinander verwoben; dies gilt in allen Ländern und wohl auch für alle Religionen. In früheren Zeiten entsprang die Geltung der Gesetze aus ihrer göttlichen Quelle, und die Götter verlangten, dass ihre Regeln befolgt wurden. Nach verbreiteten anthropomorphen Vorstellungen wurden den Göttern menschliche Gefühle wie etwa Rachsucht zugeschrieben – man denke nur an Jahve, Thor und Zeus –, und sie straften einen Missetäter unbarmherzig. Selbst seine Kinder wurden bis ins dritte und vierte Glied heimgesucht.1 In früheren Zeiten besaßen alle Männer eine Ehre, und zwar nicht etwa eine verwässerte Ehre, wie man sie heute in Dänemark kennt. Angesichts der grundlegenden Bedeutung der Ehre für den Menschen war es selbstverständlich, dass der Gott, den die Menschen sich vorstellten, ebenfalls eine Ehre besaß. Da war es nicht nur natürlich, sondern direkt notwendig, dass eine Gotteslästerung – als Kränkung dieser Ehre – mit strengen Strafen geahndet wurde. Sonst musste die ganze Gemeinde Gottes Zorn fürchten. Derjenige, der Gott verfluchte, sollte gesteinigt werden.2 Wehe der Gemeinde, die das vergaß. Wenn nicht der Missetäter büßte, mussten alle büßen. Die enge Verknüpfung zwischen dem Weltlichen und dem Kirchlichen wurde während der Reformation noch verstärkt. Der Fürst war Gottes Verwalter, und das Reich wurde verantwortlich gemacht für die Verwaltung. Dänemark wurde von Kriegen heimgesucht, wenn Gott sich über die vielen Meineide in dänischen Gerichtssälen erzürnte.3 Das Strafrecht war im ganzen Land bis weit in das 18. Jahrhundert hinein von religiösen Gesichtspunkten geprägt – wohlgemerkt von alttestamentarischen. * Dieser Beitrag wurde übersetzt von Karin Cornils, wofür der Autor sehr dankbar ist. Sie hat auch die Zitate aus dänischen Quellen übersetzt, soweit nicht anders gekennzeichnet. Abkürzungen: L lovforslag – Gesetzentwurf HRT Højesterets Tidende – höchstrichterliche Entscheidungssammlung Sp. Spalte UfR Ugeskrift for Retsvæsen – juristische Wochenschrift und Entscheidungssammlung 1 2. Mose 20.5. 2 3. Mose 24.16. 3 Art. 5 des Rezesses von Christian III. aus dem Jahr 1537.
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Es war zu jener Zeit eine Selbstverständlichkeit, dass die Gesellschaft Ketzer ausrotten und Renegaten sowie andere Abgefallene verfolgen musste, damit Gott nicht Gleiches mit Gleichem und siebenmal mehr vergalt.4 Das Gesetzbuch Danske Lov von Christian V. aus dem Jahr 1683 – das erste unter den großen europäischen Gesetzeswerken – enthielt im sechsten Buch „über Missetaten“, 1. Kapitel „von irriger Lehre, Gottes Lästerung und Zauberei“, die folgenden Artikel 7 und 8 (in zeitgenössischer Übersetzung5): Wer überzeuget würde, dass er Gott gelästert oder seines heiligen Nahmens, Worts und Sacramenten gespottet hätte, dem soll lebendig die Zunge ausgerissen, hernach das Haupt abgeschlagen und selbiges zugleich mit der Zungen auff einen Pfal gesetzet werden. Hat jemand seine Hand zu solcher Gottes-Verachtung gemißbrauchet, so soll dieselbige ihm auch lebendig abgehauen und neben dem Kopf auf den Pfal gesetzet werden.
Merkwürdigerweise waren diese Bestimmungen neu, selbst wenn es sich tatsächlich wohl kaum um Neukriminalisierungen gehandelt haben dürfte. Die Bestimmungen wurden 1687 angewendet gegenüber einem Soldaten, der das Sakrament des Abendmahls entwürdigt hatte, indem er die Hostie in einem Taschentuch verbarg. Er wollte mit diesem Taschentuch eine Frau berühren, damit sie ihm zu Willen sei. Die reine Gotteslästerung wurde jedoch bereits sehr früh wesentlich milder beurteilt als die Verhöhnung von Sakramenten und heiligen Gegenständen. Ein Kürassier wurde 1719 zum Tode verurteilt, weil er in betrunkenem Zustand Gott verflucht hatte. Die Theologische Fakultät der Universität Kopenhagen schlug seine Begnadigung vor zu öffentlicher Beichte und einigen Wochen bei Wasser und Brot.6 Ein Lappländer hatte im Rausch und Zorn gesagt, nachdem eines seiner Rentiere vom Wolf gerissen worden war: „Satan ist Gott“. Nach langer Einsperrung wurde er 1731 von der Todesstrafe begnadigt zur Verwarnung durch seinen Seelsorger, nicht mehr zu trinken.7 Im Jahr 1752 hatte ein betrunkener deutscher Musketier u. a. ausgerufen: „Herr Gott Hundsfott, verflucht bist du am Kreuz“. Das Regimentsgericht verurteilte ihn gemäß 6-1-7 Danske Lov. Die Theologische Fakultät wies darauf hin, dass kein Mensch die Ehre Gottes beschädigen könne, weshalb eine Verspottung eigentlich nicht möglich sei; das Buch Mose könne nicht angewendet werden, weil Gott in Dänemark kein weltlicher Herrscher sei, so wie er es für die alten Juden war. Lästerung 4
3. Mose 26. Königs Christians Des Fünfften Dänsches Gesetz … übersetzt … durch H[enr.] W[eghorst], Copenhagen 1699. 6 Tyge Krogh, Oplysningstiden og det magiske – Henrettelser og korporlige straffe i 1700tallets første halvdel, København 2000, S. 124 f. 7 Tyge Krogh (Fn. 6), S. 549. 5
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sei jedoch abträglich für die menschliche Gesellschaft. Die Fakultät kam zu dem Ergebnis, dass der Betreffende mit der härtesten Spießrutenstrafe (24 Durchläufe über drei Tage) und Verbannung zu bestrafen sei; der Generalauditor und der König folgten diesem Vorschlag.8 Der Kern der Aufklärungsphilosophie bestand in der Trennung von Religion und Recht. Diese Unterscheidung war eine notwendige Voraussetzung für die Humanisierung und die Entwicklung der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaats während der letzten Jahrhunderte. Montesquieu und Thomasius kritisierten die Ahndung religiöser Verbrechen mit weltlicher Strafe und trugen auf diese Weise dazu bei, dass das Recht durch Befreiung von religiösem Einschlag verweltlicht wurde. Nach der Einführung des juristischen Staatsexamens im Jahr 1736 bekam die Theologische Fakultät den Gegendruck, dessen es bedurfte, damit das dänische Strafrecht humanisiert und reformiert werden konnte. Religiöse Fragen spielten in der sonst sehr breit geführten dänischen öffentlichen Diskussion des 18. Jahrhunderts kaum eine Rolle. Dies gilt sogar für Ludvig Holberg, den bedeutendsten Vertreter der Aufklärung in Dänemark/Norwegen, der im Übrigen vor nichts zurückschreckte und kein Thema ausließ. Doch er lehnte jedenfalls die harten Strafen in diesem Bereich ab: „Blindheit muss mit Augensalbe kuriert werden, Krankheiten mit Heilkräutern und irrige Ansichten mit sanftmütiger Überzeugungsarbeit.“9 „Es ist ungewiss, ob die Kirche aus der Unterdrückung ketzerischer Schriften mehr Nutzen als Schaden gezogen hat; Denn die Argumente seiner Gegner unterdrücken, heißt, die eigene Sache suspekt machen. … Nur schlecht begründete Religionen bedürfen solcher Präkautionen. Die Anhänger Mohammeds, deren Lehre bei dem geringsten Anstoß ins Schwanken gerät, müssen aus Bedrängnis alle Schriften, die ihnen widersprechen, verbrennen und vernichten; ebenso haben es auch die Verfechter der päpstlichen Herrschaft nötig, die gleichen gewaltsamen Mittel anzuwenden.“10 „Ich preise denjenigen, der Verirrte auf den rechten Weg zu bringen sucht: Ich tadele nur, dass viele versuchen, sie an den Haaren dorthin zu ziehen. Das erstere Mittel ist christlich und ein Zeichen der Nächstenliebe, die das Evangelium empfiehlt. Das letztere verrät Hochmut, Rachsucht und Hass, die von Christi Lehre verurteilt werden.“11 Im Jahr 1761 wurde der Verfasser einer deistischen Schrift, die der reinen lutherischen Lehre widersprach, für viele Jahre nach Christiansø, einer kleinen Festungsinsel bei Bornholm, verbannt. Als Beispiel für die Haltung der dänischen Staatsmacht ist im Übrigen das Verbot einer Übersetzung der „Leiden des jungen Werthers“ in die dänische Sprache zu nennen; es wurde damit begründet, dass dieses Buch die Religion verspotte. Später, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, wurden die 8
Tyge Krogh (Fn. 6), S. 148 f. Ludvig Holberg, Moralske Tanker, Kiøbenhavn 1744 [Berlings Ausgabe], S. 76. 10 Ludvig Holberg, Almindelig Kirke-Historie fra Christendommens første Begyndelse til Lutheri Reformation …, Tom. I & II, Kjøbenhavn 1738, S. 327 f. 11 Ludvig Holberg, Epistler …, Tomus I, Kiøbenhavn 1758, S. 387. 9
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drakonischen Bestimmungen im Danske Lov juristisch enger ausgelegt;12 Kritik war nun nicht mehr notwendigerweise Verspottung. § 5 der sogenannten Pressefreiheitsverordnung von 1799 – die in Wahrheit eine Pressefreiheitsbeschränkungsverordnung war – wurde das entscheidende Regelwerk für die restliche Zeit des Absolutismus (d. h. bis 1849): Derjenige, welcher eine Schrift herausgibt, die darauf abzielt, die Lehre von Gottes Gegenwart und der Unsterblichkeit der menschlichen Seele niederzureißen, sowie auch diejenigen, welche in gedruckten Schriften die Lehre der christlichen Religion tadeln oder verhöhnen, … sollen mit 3 bis 10 Jahren Verbannung bestraft werden. Und der König will, dass jegliche andere Religions-Gemeinschaft, die in seinen Reichen geduldet wird, auch Beschirmung in ihrer Gottesverehrung genießen soll; so wird befohlen, dass, wenn jemand solche Gemeinden zu ärgern sucht, indem er mit deren Glaubensbekenntnis oder Religion Spott treibt, der Schuldige, sofern hierüber Klage geführt wird, mit 4 bis 14 Tagen Gefängnis bei Wasser und Brot zu bestrafen ist.
Es war also nach 1799 nicht länger Gott, sondern die Religion, die geschützt wurde. Und es war nicht mehr nur der „reine und unverfälschte christliche Glaube“13, dem die Strafbewehrung galt. Der Generalprokurator und spätere Präsident des Obersten Gerichtshofs, Christian Colbiørnsen hatte Bedenken gegen eine solche Erweiterung geäußert:14 „Würde aber eine Gemeinschaft von Christen im eigenen Freundeskreis über die jüdische Lehre scherzen: Dass man kein Schweinefleisch, Hasenbraten etc. essen darf, oder würde jemand äußern, dass er die Sitte lächerlich finde, der die orthodoxen Juden huldigen, nämlich dass niemandem in der Synagoge erlaubt ist, die heilige Thora zu berühren, solange sein Haar oder seine Perrücke zu einem Zopf geflochten ist, oder würde eine Gemeinschaft von protestantischen Glaubensbekennern in philosophischen Gesprächen, in denen auch Munterkeit und freimütige Worte vorkommen können, schlicht sagen, dass es Mönchsbetrug sei, dass man dem katholischen Volk einredet, dass an jedem Neujahrstag Blut aus den Wunden des heiligen Januarius fließe und dass das Bildnis der heiligen Jungfrau die Augen im Kopf verdreht habe, als Bonaparte Rom bedrohte, sowie dass der Ablasskram und die Kanonisierungen des Papstes ebensolche Torheiten seien etc., so kann ich mir doch nicht vorstellen, dass sie deswegen verdienen, ins Zuchthaus geworfen zu werden, … Der Professor an der Universität, der auf Anordnung … zum jährlichen Reformationsfest eine öffentliche Rede halten soll, könnte wohl auch … in Gefahr geraten, wenn er Luther auf Kosten der päpstlichen Lehre zu eifrig lobte.“
Unmittelbar betraf die Verordnung nur gedruckte Schriften, aber die wurde so ausgelegt, dass sie auch mündliche Schmähungen mit erfasste. Im Vergleich zum Wort-
12 Vgl. Christian Brorson, Forsøg til den siette Bogs Fortolkning i Christian den Femtes danske og norske Lov samt Straffene efter de ældre Love, 2. Aufl., Sorøe 1797, S. 18. 13 Art. 1 Königsgesetz von 1665. 14 Vgl. Ditlev Tamm/Claus Bjørn/Morten Westrup (Hrsg.), Til det almindelige bedste …, Generalprokurør Christian Colbiørnsens lovbetænkninger 1789 – 1812, København 2006, S. 245.
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laut des Danske Lov brachte die Verordnung eine starke Abmilderung der Strafen, nicht aber im Verhältnis zu den tatsächlich vollstreckten Sanktionen. Der Historiker Gustav Ludvig Baden wurde zu 3 Jahren Verbannung verurteilt – jedoch zu 1 Jahr Festungshaft begnadigt –, u. a. wegen Verhöhnung des Dreieinigkeitsdogmas in einem Werk über die Geschichte der christlichen Kirche. Der Autor und Herausgeber M.A. Goldschmidt wurde verurteilt wegen Spottes gegen die Religion in seiner satirischen Zeitschrift „Corsaren“; es wurde als „höchst anstößig“ angesehen, dass „der Verfasser mit leichtsinniger Frivolität sich erdreistet hat, eine Art Travestie auf die Lehre abzuliefern, die jedem Christen heilig und teuer sein muss“; 2 mal 4 Tage Gefängnis bei Wasser und Brot. Eine weitere Abmilderung hinsichtlich Verhöhnungen der lutherischen Kirche und zugleich Verschärfung in Bezug auf andere Religionen enthielt § 8 Satz 1 des Pressegesetzes vom 3. Januar 1851, mit dem die verschiedenen Glaubensrichtungen im Hinblick auf den strafrechtlichen Schutz gleichgestellt wurden: Wird eine Schrift herausgegeben, in welcher mit der Glaubenslehre oder Gottesverehrung einer der hier im Reich bestehenden Religionsgemeinschaft Spott getrieben wird, so wird der Schuldige mit Gefängnis von 1 bis zu 6 Monaten bestraft.
Anders Sandøe Ørsted wird von vielen als der größte dänische Rechtswissenschaftler angesehen. Er bekleidete in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichzeitig die höchsten Ämter in der Zentralverwaltung. In diesem Zeitraum wurden zahlreiche Änderungen der praktisch wichtigsten Strafbestimmungen durchgeführt; man spricht von den „Ørsted’schen Strafgesetzen“. Sie waren in vieler Hinsicht Meilensteine für die strafrechtliche Entwicklung, doch die Blasphemietatbestände hielt er nicht für änderungsbedürftig. 1823 kommentierte Ørsted den von Nicolaus Thaddäus Gönner vorgelegten Entwurf eines bayerischen Strafgesetzes: Ørsted kritisierte, dass Christentum und Judentum gleich behandelt wurden, obwohl „ein Grund bestehen könnte, einen Unterschied zu machen zwischen demjenigen, der … Verachtung äußert gegenüber der Religionsgemeinschaft, welcher so gut wie das ganze Volk angehört, und demjenigen, der bloß … eine Gemeinschaft verletzt, welche aus einigen wenigen Familien besteht und sich dadurch von dem Volk absondert.“ Er kritisierte ferner die niedrigen Strafen – zwischen drei Tagen und drei Monaten. „Es ist … unangemessen, dass … Taten, die einen hohen Grad an öffentlichem Ärgernis hervorrufen und die mächtig dazu beitragen, die Bande zu lockern, auf denen die Gesellschaftsordnung beruht, wie Bagatell-Delikte behandelt werden. … Empörend ist es, dass Gotteslästerungen … mit wenigen Tagen einfachen Gefängnisses bestraft werden. … [Es ist] unbegreiflich, wie man solche Vergehen auf eine so leichtsinnige Weise behandeln konnte. Ein Gesetz, das hierin dem Entwurf folgte, würde selbst verdienen, zu den anstößigsten Schriften gezählt zu werden.“15
Anderen jedoch erschienen die Strafbestimmungen im Danske Lov und den sogenannten Ørsted’schen Strafgesetzen als ganz unverhältnismäßig. Es war deshalb 15 Anders Sandøe Ørsted, Critik over det nye Udkast til en Straffelovbog for Kongeriget Baiern, udkommen i München 1822, Juridisk Tidsskrift 1823, 6:1, S. 178 ff. (232 ff.).
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nicht überraschend, dass auch diese Regelungen einer Kritik unterzogen wurden, als man gegen Mitte des 19. Jahrhunderts endlich die Ausarbeitung eines vollständig neuen bürgerlichen Strafgesetzes in Angriff nahm. Die Strafgesetzkommission16 hob 1859 hervor: „Es bedarf … kaum eines näheren Beweises dafür, in welch geringem Maß die in 6-1 Danske Lov … enthaltenen Vorschriften den richtigeren Anschauungen der neueren Zeit über die bürgerliche Strafbarkeit der dort behandelten Taten entsprechen. …“
In dem abschließenden Bericht der Kommission von 1864 wurde die kriminelle Handlung als „Spott treiben oder Verhöhnen bezeichnet“.17 Die Gleichstellung der Religionsgemeinschaften wurde begründet mit einem Hinweis auf die Religionsfreiheit nach dem Grundgesetz von 1849, woraus – nach Auffassung der Kommission – folgte, dass „die Bürger aller Staaten, zu welchem Glauben auch immer sie sich bekennen, ein Recht haben auf Schutz durch die Staatsmacht“. Der obere Bereich des Strafrahmens war gedacht für Fälle, in denen „jemand auf die anstößigste Weise die heiligen Gefäße usw. der Kirche missbraucht oder verhöhnt“. Auf diese Weise wurde der etwas seltsame Gesichtspunkt weitergeführt, nach welchem die Gegenstände der Religionsverehrung wichtiger sind als der Inhalt des Glaubens selbst. (Dies gilt weiterhin. Das heutige Strafgesetz sieht in § 140 eine Höchststrafe von 4 Monaten vor für die Verspottung der Religionslehren und in § 139 Abs. 2 eine Höchststrafe von 6 Monaten für die unschickliche Behandlung von kirchlichen Gegenständen.) Die Bestimmung erhielt schließlich in § 156 des Strafgesetzes von 1866 folgende Ausgestaltung: Derjenige, der die Glaubenslehre oder Gottesverehrung einer im Inland bestehenden Religionsgemeinschaft verspottet oder verhöhnt, wird mit Gefängnis [d.h. höchstens 2 Jahre] nicht unter 1 Monat einfachem Gefängnis oder unter besonders mildernden Umständen mit Geldstrafe bestraft.
§ 156 schützte die religiösen Gefühle. Die Bestimmung war in einem besonderen Kapitel „Straftaten im Hinblick auf die Religion“ untergebracht; dieses befand sich zwischen den Kapiteln über Meineid und über Straftaten gegen die Sittlichkeit. Im letzten Teil des 19. Jahrhunderts war C. Goos der alles dominierende Strafrechtstheoretiker. Er behandelte in seinen Lehrbüchern18 Straftaten gegen den religiösen Frieden im Kapitel über den Frieden in der Gesellschaft – zusammen mit u. a. Prostitution, Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten, Tierquälerei, Brandstiftung und Schleusenöffnung. Während Angriffe gegen die Religion in der Aufklärungszeit von den Philosophen kamen, waren die Angreifer am Ende des 19. Jahrhunderts Naturwissenschaft16
Foreløbigt Udkast til Lov om Forbrydelser, Kjøbenhavn [1859] & Motiver til det foreløbige Udkast til Lov om Forbrydelser, Kjøbenhavn [1859]. 17 Udkast til Straffelov for Kongeriget Danmark, Kjøbenhavn 1864, S. 184 ff. 18 C. Goos, Forelæsninger over Den Danske Strafferets specielle Del, Kjøbenhavn 1887, S. 383 ff., Den danske Strafferets specielle Del, 1. Del, Kjøbenhavn 1895, S. 555 ff.
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ler und gottlose Sozialisten. Ein kurioses Beispiel für naturwissenschaftliches Denken in jener Zeit ist der Umstand, dass der Vertreter der konservativen Partei, cand. theol. J.C.H. Fischer, der als Kulturminister die Volkskirche unter seinem Ressort hatte, sich von Jesu Himmelfahrt distanzierte, weil sie dem Gesetz der Schwerkraft widersprach.19 In der Praxis wurde die Bestimmung angewandt gegen einen Bornholmer, der in einer Zeitung geschrieben hatte über „das geistliche Hochstaplergesetz, das sich der Firma Jesus Christus bemächtigt und unter dem Namen des Christentums brillante Geschäfte betrieben hat“; der Angeklagte berief sich ohne Erfolg darauf, dass dies ein Zitat von Søren Kierkegaard war; 20 Reichstaler Geldstrafe.20 Ein färöischer Tischlergeselle fragte, ob ein Stück Speck nicht demselben Zweck dienen könne wie eine Oblate; 2 mal 5 Tage Gefängnis bei Wasser und Brot.21 Die Bestimmung wurde angewandt gegen den Küster und eine Friedhofsfrau, die in der Vorhalle einer Kirche körperlichen Umgang hatten; der Küster berief sich vergeblich darauf, dass die Vorhalle kein Teil der Kirche selbst war; 5 Tage Gefängnis bei Wasser und Brot für jeden.22 Ernst Brandes (ein Bruder von Georg Brandes) hatte als Redakteur der „Kopenhagener Börsenzeitung“ einen von dem späteren Nobelpreisträger Henrik Pontoppidan gezeichneten Aufsatz angenommen. Der Oberste Gerichtshof charakterisierte den Artikel als „wenig schicklich, doch es gibt keinen völlig ausreichenden Grund, denselben entweder als unzüchtige Schrift oder als Verspottung oder Verhöhnung anzusehen“. In dem Aufsatz fragte Gott Adam, ob er mit der Frau, die er bekommen hatte, zufrieden sei; Adam antwortete: „Herr, ich bin mehr als zufrieden, nimm nur alle meine Rippen und mach mir aus jeder von ihnen eine Frau.“23 Henrik Pontoppidan hatte sich öffentlich zu dem Aufsatz bekannt und bereit erklärt, die Verantwortung zu übernehmen; dies geschah jedoch nicht auf strafrechtlichem Wege. Der Strafrechtsprofessor Goos war zu jenem Zeitpunkt Kultusminister; er sorgte dafür, dass Pontoppidan seine staatliche Autorenunterstützung entzogen wurde.24 Die Wochenzeitung „Asfalten“ veröffentlichte einen Aufsatz unter Pseudonym. Darin stand, dass „obwohl sicher eine erdrückende Mehrheit das meiste der biblischen Lehre längst auf den Platz der Mythen verwiesen hat – so werden und dürfen wir die Religion des Staates doch nicht angreifen, selbst wenn diese Religion eine für 19 Vgl. Svend Thorsen, De danske ministerier 1848 – 1901, Et hundrede politisk-historiske biografier, København 1967, S. 421. 20 HRT 1872.633. Das Zitat war entnommen aus „Was Christus am offiziellen Christentum verurteilt“ von 1855; darin werden dänische Priester im Übrigen als Heuchler, Schlangen und Otternbrut charakterisiert. 21 HRT 1873.445. 22 UfR 1894.993. 23 HRT 1891.650. 24 Vgl. Poul Carit Andersen, Henrik Pontoppidan, En Biografi og Bibliografi, København 1934, S. 45 ff.
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die Entwicklung besonders schädliche Lüge sein dürfte“. Der Oberste Gerichtshof fand, dass „der Ausdruck Lüge für die Religion des Staates“ eine Straftat gemäß § 156 darstellte.25 Die Zeitung „Social-Demokraten“ hatte einen „Himmelbrief“ veröffentlicht, unterzeichnet von „Gabriel, Sekretär des himmlischen Außenministeriums“: Eines Morgens beschloss der Herr, während er seinen Morgenbitter genoss, den Papst zu entlassen; dem heiligen Petrus gelang es für ein paar Tage, „ihn zur Vernunft zu beschwatzen“; doch schließlich rief der Herr „geh zur Hölle“ und „Hallo, Fräulein Nina und Nana“ [seine beiden Lieblingsengel], „fliegt hinunter und blast mir das Licht für den alten Schlingel aus“. Als Leo XIII vor den Herrn trat mit einem Geldbeutel unter dem Arm, wurde er zur Hölle geschickt, während der Herr blitzte und donnerte, so dass der Heilige Geist 14 Stufen auf der Himmelsleiter herabschlich. Der Heilige Geist wurde daraufhin ausgesandt, um einen Nachfolger zu finden, der im Geiste des lieben Gottes sprach und handelte; er fand keinen unter den Kirchenleuten, dafür aber einen Arbeiter, der auf einer Arbeiterversammlung sprach. Während der Heilige Geist noch suchte, hatten die Kardinäle Kardinal Sarto, Pius X, gewählt. Gott sprach zu Petrus: „Lass die Menschen nur machen, ich aber habe meinen Mann und meinen Stand gewählt. Dem will ich mit meinem Segen folgen, und der soll die Welt erobern“. Der Redakteur bekam eine Geldstrafe von 500 Kronen.26 Der Redakteur S. Rasmussen der anarchistischen Zeitung „Skorpionen“ wurde verurteilt, weil er auf einer großen Arbeiterversammlung gesagt hatte, dass „die Bibel ein Quatsch“ sei.27 Es ist erstaunlich, wie viele veröffentlichte Urteile es aus jener Zeit gibt, nachdem man in der ersten Hälfte desselben Jahrhunderts nur Baden und Goldschmidt angeklagt hatte. Die hier wiedergegebenen Entscheidungen sind keine vollständige Aufzählung. Das Strafgesetz von 1866 war bald veraltet. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte europäisches Strafrecht eine völlig neue Grundlage erhalten. Es wurden in Dänemark zwei Strafgesetzkommissionen eingesetzt, und der Strafrechtsprofessor Carl Torp wurde gebeten, einen Entwurf zu erarbeiten. Einerseits sprachen manche sich dafür aus, Gotteslästerung zusammen mit Menschenauflauf und Trunkenheit als eine Verletzung des öffentlichen Friedens zu regeln. Andererseits wurde geltend gemacht, dass es nicht natürlich sei, die Glaubenslehre oder Gottesverehrung einer Religionsgemeinschaft gegen Spott oder Hohn zu schützen. Wo die Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit auf unschickliche Weise überschritten werden, sei die Verurteilung, die in der öffentlichen Meinung ihren Ausdruck findet, eine weit wirkungsvollere und weit natürlichere Reaktion als die Verhängung von Strafe. Der Bischof von Kopenhagen unterstützte den Vorschlag einer Entkriminalisierung. 25 26 27
HRT 1895.673. UfR 1904 A.679. UfR 1906 A.499.
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Die Regierung konnte sich nicht entscheiden, und im Reichstag waren die Ansichten sehr geteilt. Die Debatte endete mit einem politischen Vergleich über die Einführung eines Tatbestands der Gotteslästerung in das neue Strafgesetz.28 Der Vorsitzende des Ausschusses stellte fest, „dass das, wogegen man einschreitet, natürlich nur Hohn und Spott ist, während Kritik in Wirklichkeit zugelassen wird; es wäre vollkommen rechtmäßig, sich zu äußern …, sofern es nur in einer schicklichen Form geschieht. … [Und] um zu vermeiden, dass die Bestimmung in zu weitem Umfang angewendet wird, … ist es vorgesehen …, dass Anklage nur auf Anordnung des Reichsadvokaten [der obersten Anklagebehörde] erhoben werden kann.“29 Daraufhin erhielt das Strafgesetz von 1930 folgenden § 140: Wer die Glaubenslehre oder Gottesverehrung einer im Inland rechtmäßig bestehenden Religionsgemeinschaft öffentlich verspottet oder verhöhnt, wird mit Haft oder unter mildernden Umständen mit Geldstrafe bestraft. Anklage wird nur auf Anordnung des Reichsadvokaten erhoben.
Der Tatbestand findet sich in Kapitel 15 über Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und den öffentlichen Frieden. Obwohl der Wortlaut dem Pressegesetz von 1851 und dem Strafgesetz von 1866 entspricht, ist nach der parlamentarischen Behandlung offenkundig, dass nicht länger die Glaubenslehren, sondern vielmehr die Gefühle der Gläubigen geschützt werden sollen. In der veröffentlichten Rechtsprechung ist ein Urteil von 1938 wiedergegeben. Fünf Angeklagte hatten in Zeitungen, in Schriften und auf Plakaten die Juden und deren Glaubenslehre zum Gegenstand von Spott gemacht, z. B. „Schändung von Frauen, Vergewaltigung, Diebstahl und Betrug sind Taten, die die jüdischen Religionsvorschriften zulassen oder gebieten“. Der Theologieprofessor Fr. Torm gab dazu folgende Stellungnahme ab: „Das Bild von der Moral des Judentums, wie es in den betreffenden Schriften dargestellt wird, ist eine bösartige Fantasiegeburt.“ Die Strafe wurde zwischen 20 und 80 Tagen Haft bemessen.30 Auf dem Maskenball einer Gewerkschaft war 1946 einer der Teilnehmer als Priester verkleidet. Seine Ehefrau hatte eine Puppe mitgebracht. Nachdem ein Dritter eine Schüssel mit Wasser beschafft hatte, nahmen sie eine Taufhandlung vor. Jeder von ihnen wurde gerichtlich zu Geldstrafe von 6 Tagessätzen à 10 Kronen verurteilt. 1970 sang die dänische Künstlerin Trille im Radio und Fernsehen Jesper Jensens Lied „Øjet“ über Gott als Voyeur gegenüber jungen Frauen. Nach einer heftigen öffentlichen Debatte beschloss das Justizministerium Anklage gegen die Programmchefs von Danmarks Radio zu erheben. In der Anklageschrift hieß es, dass das Lied „die Glaubenslehre der christlichen Glaubensgemeinschaft verspottet und verhöhnt … da … Gott ein unbefriedigter Geschlechtstrieb unterstellt wird, der zum Ausdruck kommt in dem Drang, geschlechtliches Beisammensein zu belauschen, 28 29 30
Rigsdagstidende 1929/30 B, Sp. 1841, Nr. 55. Landstingets Forhandlinger 1929/30, Sp. 1441. UfR 1938.419.
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womit die christliche Lehre von Gottes übermenschlichen Eigenschaften verspottet oder verhöhnt wird … [Ferner wird verspottet oder verhöhnt] die christliche Glaubenslehre, dass Christus empfangen ist vom Heiligen Geist und geboren von der Jungfrau Maria“. Die TV-Intendanten wurden freigesprochen, obwohl das Gericht einig war, „dass der Verfasser [des Liedes] eine weniger provozierende Form hätte wählen können und dass es … den Angeklagten hätte klar sein müssen, dass eine … Darbietung des Liedes durch Fernsehen und Radio sehr verletzend wirken musste für die moralischen und religiösen Gefühle, die innerhalb bedeutender Kreise herrschen“. Jens Jørgen Thorsen erhielt 1973 von dem Dänischen Filminstitut eine Produktionsgarantie über 600.000 Kronen für den Film „The Many Faces of Jesus Christ“. Das Manuskript wurde auch als Buch gedruckt. Das Projekt und die Unterstützung lösten eine umfangreiche Debatte aus. 5.000 Personen beteiligten sich an einer Protestdemonstration in Kopenhagen. Der Papst nannte den Film ein Verbrechen gegen die christliche Religion. Das Ministerium bat den Kammeradvokaten31 um eine Stellungnahme zur Rechtmäßigkeit der Produktionsgarantie. Der Kammeradvokat schrieb u. a.: „Das Manuskript zeigt … einen Handlungsverlauf, der auf der Darstellung in den Evangelien aufbaut …, aber der Stoff aus den Evangelien ist ergänzt worden. So sind etwa Darstellungen einer Bordellszene, sexuelle Exzesse sowie eine Darstellung von lesbischen und homosexuellen Beziehungen, alles mit Jesus, Martha und Maria und Jüngern als Hauptpersonen eingefügt. Die Darstellungen sind von ausgeprägt pornographischem Zuschnitt. Jesus wird im Übrigen als ständig nach der Flasche greifend, falsch und heuchlerisch dargestellt, und nach der Auferstehung lässt er sich als Bauer nieder samt einer Familie im traditionellen Sinne mit Frau und Kindern. … Im Hinblick auf diesen … Film werden unzweifelhaft … die Gerichte eine Gesamtbeurteilung vornehmen. Dabei wird es mit hineinspielen, dass die Absicht des Films nicht gegen die christliche Glaubensgemeinschaft oder deren Gottesverehrung gerichtet ist, sondern darauf, Probleme zur Diskussion zu stellen und zu beleuchten. Sofern nicht … dem Film jegliche literarische und künstlerische Qualität abzuerkennen ist – was wohl schwierig wäre –, bin ich geneigt zu meinen, dass die öffentliche Vorführung des Films … kaum einen Verstoß gegen § 140 des Strafgesetzes enthalten dürfte.“ Der Film wurde ein großer Misserfolg; er wurde nur von 7.461 Personen angeschaut. Mehrere Leiter von christlichen Glaubensgemeinschaften ersuchten den Reichsadvokaten, Anklage gemäß § 140 wegen der Herausgabe des Buchs zu erheben. Der Reichsadvokat kam zu dem Ergebnis: „Unmittelbar erscheint das Werk als ein großes Spektakel an Vulgarität und Pornographie. … Nach einer Durchsicht des Buchs muss ich es für zweifelhaft halten, ob dessen Schilderungen bei einer Gesamtwürdigung mit hinreichender Sicherheit als ein Ausdruck von Verspottung oder Verhöhnung 31 Der Kammeradvokat ist ein Rechtsanwalt, der den Staat in privat- und verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten vertritt.
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der Glaubenslehre und Gottesverehrung der christlichen Kirche angesehen werden können. Es wird kaum nachzuweisen sein, dass dies die Absicht des Verfassers mit jenen Schilderungen gewesen ist. Selbst wenn dies vermutlich keine Strafbarkeitsbedingung ist, dürfte die Aussicht auf eine Verurteilung wegen Blasphemie unter diesen Umständen so zweifelhaft sein, dass ich … es für richtig gehalten habe, von einer Anklage abzusehen …“ Jens Jørgen Thorsen malte auch ein großes Wandgemälde von einem gekreuzigten Mann mit erigiertem Glied auf die Fassade eines Restaurants. Der Reichsadvokat war 1985 „der Auffassung, dass eine Anklageerhebung zu einer Verurteilung … nach … § 140 führen könnte. Dem Reichsadvokaten ist [nach § 140 Satz 2] eine weitergehende Befugnis zur Anklageunterlassung eingeräumt, als dies im Übrigen der Fall ist … nach dem Prozessgesetz. Aufgrund dieser Bestimmung ist es üblich, von einer Anklage abzusehen … Ich sehe keinen Anlass, von dieser Praxis abzuweichen …“. Das Justizministerium kritisierte die Entscheidung, hob sie aber nicht auf.32 Am 30. September 2005 enthielt die Zeitung Jyllands-Posten einen Artikel: „[E] inige Muslime … beanspruchen eine Sonderstellung, wenn sie auf einer besonderen Rücksichtnahme auf die eigenen religiösen Gefühle bestehen. Dies ist unvereinbar mit einer weltlichen Demokratie und Meinungsäußerungsfreiheit, in der man bereit sein muss, sich mit Spott, Hohn und Lächerlichmachung abzufinden.“ Dem Artikel waren 12 Zeichnungen von Mohammed beigefügt, die zum Teil den Charakter von Karikaturen hatten. Gegen die Zeitung wurde Anzeige erstattet, aber der Reichsadvokat lehnte es ab, Anklage zu erheben. In der Erklärung des Reichsadvokaten wird zu Recht betont, dass § 140 nur im Falle schwerster Kränkungen anzuwenden ist, und dass diese danach zu beurteilen sind, was im Allgemeinen eine akzeptierte Ausdrucksweise in der dänischen Gesellschaft ist. Jyllands-Posten hat nicht Recht mit der Behauptung, es folge aus der Meinungsäußerungsfreiheit, dass Spott und Hohn stets zulässige Ausdrucksweisen seien. Es wird gesagt, dass nicht alle Muslime von einem Bilderverbot überzeugt seien und dass schon deshalb eine Zeichnung von Mohammed als solche keine Kränkung der islamischen Glaubenslehre sei; dieses Argument ist schwach – man kann sehr wohl Calvinisten kränken, ohne zugleich Lutheraner zu verletzen. Der Reichsadvokat geht die einzelnen Zeichnungen durch und sondert „ein grimmiges Männergesicht mit einem Turban, der wie eine angezündete Bombe geformt ist“ aus. Es gehe, so wird ausgeführt, aus dem Artikel klar hervor, dass Jyllands-Posten eine provokante Form gewählt habe, um eine Debatte über die Bedeutung von religiösen Gefühlen anzustoßen und auf das Risiko im Falle einer Selbstzensur hinzuweisen. Der Männerkopf „kann mit gutem Grund aufgefasst werden als eine Kränkung und Beleidigung des Propheten, der ein Vorbild für gläubige Muslime ist. Eine solche Darstellung ist jedoch kein Ausdruck von Spott oder 32
Dies erinnert an den Freispruch in dem norwegischen sogenannten Ketzerprozess gegen den berühmten Dichter Arnulf Øverland, der über Gott unter anderem gesagt hatte: „Er ist ein Mann, er hat viele Haare und besonders einen Bart, er hat eine Nase und einen Mund und einen Darmkanal, glaube ich jedenfalls, und nach allem, was ich über ihn weiß, hat er wohl auch Geschlechtsorgane.“
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Lächerlichmachung und auch kaum von Verhöhnung im … Sinne von § 140. … Ungeachtet, ob gemäß dem Text des Artikels mit der Veröffentlichung der Zeichnungen das Ziel verfolgt wurde, „Hohn, Spott und Lächerlichmachung“ auszudrücken, … hat diese eventuelle Absicht in den Zeichnungen keinen Ausdruck in der Weise gefunden, dass eine Straftat nach § 140 vorläge“. Ein anderes Ergebnis hätte eine deutliche Änderung des Anwendungsbereichs von § 140 bedeutet. Die Angelegenheit gab, wie alle wissen, Anlass zu der schwersten internationalen Krise für Dänemark seit dem Zweiten Weltkrieg, mit getöteten Menschen, abgebrannter Botschaft, stark sinkenden Exportzahlen usw. Es gibt noch immer – nunmehr sieben Jahre danach – Personen, die versuchen, den Zeichner totzuschlagen oder die Mitarbeiter der Zeitung anzugreifen. Im Jahr 1939 wurde das Strafgesetz im Kapitel über Straftaten gegen den persönlichen Frieden um einen Tatbestand § 266 b ergänzt, der volksverhetzende Äußerungen zum Gegenstand hat. Zur Begründung des entsprechenden Gesetzentwurfs gegenüber dem Parlament hatte der Justizminister K.K. Steincke (Sozialdemokratische Partei) sich gestützt auf „verschiedene Vergehen, die in den letzten Jahren aufgetaucht sind, nämlich Verfolgung von … Glaubensgemeinschaften u. Ä. Es wird vorgeschlagen, eine Bestimmung einzuführen, die es verbietet, durch Verbreitung falscher Gerüchte und Anschuldigungen zum Hass gegen einzelne Gruppen der dänischen Bevölkerung aufgrund ihres Glaubens aufzuhetzen …“33 § 266 b wurde 1971 dahingehend geändert, dass er die Voraussetzungen für eine Ratifizierung des UNÜbereinkommens gegen Rassendiskriminierung erfüllte. Nach einigen weiteren Änderungen, die im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung sind, lautet der Tatbestand heute: Wer öffentlich oder mit dem Vorsatz der Verbreitung in einem größeren Kreis eine Äußerung oder eine andere Mitteilung macht, durch die eine Gruppe von Personen wegen … ihres Glaubens … bedroht, verhöhnt oder herabgewürdigt wird, wird … bestraft.
Der ursprüngliche Wortlaut betraf nur „falsche Gerüchte und Anschuldigungen“, während die Bestimmung nunmehr sowohl wahre als auch unwahre Äußerungen und Mitteilungen umfasst. § 266 b wird in verhältnismäßig vielen Strafsachen auf Äußerungen über den Islam, Muslime usw. angewendet. Typischerweise handelt es sich dabei um xenophobische Äußerungen, die inhaltlich in einem Durcheinander gegen Fremde, Flüchtlinge, Einwanderer, Islam, Muslime usw. gerichtet sind. In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, ob in einigen der Fälle auch oder stattdessen eine Anklage nach § 140 angebracht gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte in manchen Fällen § 140 zur Anwendung kommen können, wenn wir nicht § 266 b gehabt hätten. Daraus scheint zu folgen, dass der bereits zuvor sehr schmale Anwendungsbereich von § 140 noch schmaler geworden ist. Seit Anfang der 1970er Jahre ist mehrmals vorgeschlagen worden, § 140 aufzuheben. Die Initiativen kamen von verschiedenen politischen Parteien – den Sozial33
Rigsdagstidende 1938 – 39, Landstingets Forhandlinger, Sp. 327.
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demokraten, der Sozialistischen Volkspartei, der (fremdenfeindlichen bürgerlichen) Dänischen Volkspartei und der Einheitsliste (einem Zusammenschluss der Kommunisten mit anderen Linksparteien) –, aber sie waren niemals erfolgreich, selbst dann nicht, wenn diese Parteien die Mehrheit hatten. 2006 wurde das Ausländergesetz dahingehend geändert, dass religiöse Prediger, Missionare u. dgl. nach einem Verstoß gegen § 140 oder § 266 b Strafgesetz ausgewiesen werden können, selbst wenn sie nur zu einer Geldstrafe verurteilt werden.34 In der Begründung des Gesetzentwurfs weist die Regierung darauf hin, dass dies ein Teil ihres Aktionsplans zur Terrorbekämpfung sei. Der Begriff des Terroristen scheint hier einen sehr weit gefassten Inhalt bekommen zu haben. Seltsam mutet auch die „Botschaft“ des Gesetzes an, dass für Missionare engere Grenzen der Kritik gegenüber anderen Religionen gelten sollen als für gewöhnliche Bürger. Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, spielt das Blasphemie-Verbot in der Praxis keine Rolle; der entsprechende Tatbestand der Volksverhetzung hingegen wird häufig angewendet. In der kriminalpolitischen Diskussion stoßen Ansichten aufeinander, nach denen einerseits § 140 im Anwendungsbereich erweitert werden sollte und andererseits derartige Bestimmungen schädlich sind. Der Ausgangspunkt muss nach meiner Ansicht sein, dass die Meinungsäußerungsfreiheit die wichtigste Freiheit in der Gesellschaft ist. Nur durch sie kann ein demokratischer Prozess erfolgen. Die Fragen, die im Laufe der Zeit besonders zu Konfrontationen geführt haben und die die wesentlichsten gewesen sind für die Entwicklung hin zu der Demokratie, der Staatsform und den Grundrechten, wie wir sie heute haben, sind die grundlegenden Fragen über die Bedeutung der Religion, die Rolle der Frauen, über Rassen, Sexualität sowie über die Beziehung zu anderen Ländern. Wenn man die Meinungsäußerungsfreiheit begrenzen will, ist es ein natürlicher, ja notwendiger Grundsatz, dass Diskussionen und Äußerungen über die wichtigsten politischen Themen der geringsten Einschränkung unterworfen werden. Dies führt dazu, dass gerade hinsichtlich der Äußerung von Meinungen über Religionen, Geschlechter, Rassen, Sexualität und internationale Beziehungen die größte Freiheit bestehen muss. Dieser Standpunkt ist nicht der des geltenden Strafrechts. Es herrscht im Gegenteil eine verbreitete rechtspolitische Auffassung, dass es die höchsten und wesentlichsten Werte sind, denen ein starker strafrechtlicher Schutz zuteilwerden sollte. Und dies gilt nicht nur im Hinblick auf eine tatsächliche Verletzung solcher Werte – bei der das Argument überzeugend ist –, sondern auch dann, wenn es sich bloß um ihre kritische Erwähnung handelt. Wir sehen heute und in der Geschichte, wie vielfach sich die Auffassung niedergeschlagen hat, dass es Werte gebe, die so grundlegend sind, dass man sie nicht anzweifeln oder kritisieren darf. Darin liegt der Kern häufiger Konflikte zwischen Toleranz und Orthodoxie (letzteres hier in einem neutralen, sowohl religiösen als auch nichtreligiösen Sinne verstanden).
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§ 25 c Gesetz Nr. 429 vom 10. Mai 2006; L 128/2005-06.
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Es gibt zwei sehr verschiedene Grundhaltungen. Auf der einen Seite steht eine fundamentalistische Einstellung, die darauf hinausläuft, dass das, was man selbst für die Wahrheit hält, nicht nur das Ziel aller sein sollte, sondern das Ziel aller zu sein hat und dass es nicht zur Diskussion steht. Ja, es steht so wenig zur Diskussion, dass andere nicht einmal die Möglichkeit erwägen und diskutieren dürfen, einen abweichenden Standpunkt einzunehmen. Auf der anderen Seite steht die Auffassung, dass niemand ein Patent auf die Wahrheit hat; dass Fortschritt und Entwicklung in allen menschlichen Beziehungen ein ständiges Ausprobieren aller Wahrheiten voraussetzt; dass kein Dogma der Diskussion oder Kritik entzogen ist. Letztere Auffassung ist die Grundlage für die Demokratie, den Liberalismus, den Individualismus und den Rechtsstaat. Diese Überzeugung hat sich im harten Kampf gegen die christlichen Kirchen während der Aufklärungszeit durchgesetzt. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass das Strafrecht Gruppen oder Teile der Gesellschaft ebenso schützen müsse wie Einzelpersonen. Hier liegt der Kern des Problems, ob Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe, einer Bewegung oder einer kollektiven Einheit unter Verweis auf ihre Identifikation mit der Gemeinschaft zu Recht geltend machen kann, dass Äußerungen, die sie nicht unmittelbar verletzen, strafwürdig seien. Beispielsweise wird behauptet, dass der Druck der Mohammed-Zeichnungen „infringed the human dignity of Muslims worldwide“.35 Betrachten wir die Entwicklung auf dem Gebiet des Strafrechts während der letzten Jahrzehnte, so wird deutlich, dass die Opferrolle sehr beliebt geworden ist. Für den Gesetzgeber sollte jedoch nicht entscheidend sein, wer gern als Opfer angesehen werden will, sondern wer tatsächlich Opfer ist. Sonst würde das Strafrecht zu einer Plattform für symbolpolitische Manifestationen, die nicht begründet werden können. Es ist nicht die Aufgabe des Rechtswesens, einigen Bürgern das Übel der Strafe anzudrohen, damit andere Bürger in ihrem Gefühl bestätigt werden, Opfer zu sein. Die Solidarisierung mit denjenigen, die sich in der Opferrolle gefallen, verbunden mit der political-correctness-Welle, ist besonders in den USA, aber auch an anderen Orten ad absurdum geführt worden. Diese Tendenzen sind leider nicht nur lächerlich. Sie bilden den Nährboden für alle möglichen Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit und für Ausdehnungen des kriminalisierten Bereichs. Der durchgehende Grundgedanke ist, dass der eigentliche Inhalt der unter Strafe gestellten Äußerungen auch auf eine gemäßigte, gepflegte Art vermittelt werden kann. Man kann oft das Gleiche auch in einer wissenschaftlichen Darstellung, in künstlerischer Form oder als Karikaturzeichnung mitteilen. Und wählt man eine dieser Ausdrucksmöglichkeiten, so ist man – hokus pokus – aus dem Strafrecht heraus! Die Strafdrohung trifft also nur Personen, die eine andere Sprache als diejenige der Richter und ihrer Gesellschaftsklasse verwenden; der Bürger wird nur dafür bestraft, dass er sich platt und vulgär ausdrückt. Das dänische Recht beweist damit eine „de-
35 Nazeem MI Goolam, The cartoon controversy. The Comparative and International Journal of Southern Africa 2006, S. 333 ff.
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taillierte Fürsorge für einen ausgesuchten mitbürgerlichen Umgangston“.36 Dies entspricht auch der Rechtspraxis. Viele werden sicher einwenden, es sei kein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit, da die Betreffenden ja genau das Gleiche auf eine ordentliche Weise hätten ausdrücken können. Es ist jedoch eine weltfremde Ansicht, dass die Form irrelevant für die Botschaft sei. Die Form kann im Gegenteil ganz entscheidend sein. Das hatte der dänische Politiker Viggo Hørup weit besser verstanden: „Wenn aller Hohn und Spott aus der Sprache vertrieben wird, welches Mittel bleibt dann noch gegen die Dummheit, und wenn man der Verachtung den Mund verbietet, womit will man dann die Lumpigkeit und die dickschädelige Bosheit züchtigen?“37 Meine Zusammenfassung kann ganz kurz gehalten werden durch ein Zitat: „It has to be said at regular intervals that press freedom is quite empty if it means the freedom to be caring, compassionate, thoughtful, sensitive and sensible. The freedom of the press can only mean the freedom to be vulgar, stupid, ignorant, offensive and just plain wrong …“.38
36 Viggo Hørup, zitiert in: Vilhelm Nielsen et al., V. Hørup i Skrift og Tale, 3. Band, København 1904, S. 288. 37 Vilhelm Nielsen (Fn. 36), S. 288. 38 Geoffrey Wheatcroft, Red mist over Irish eyes. The Times 10. 11. 2000.
Genehmigungspflichtverletzungsdelikte Von Friedrich-Christian Schroeder Wolfgang Frisch hat sich von der gewaltigen Forschungs- und Kontaktkapazität des Freiburger Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht nicht an den Rand drängen lassen und ein eindrucksvolles wissenschaftliches Oeuvre vorgelegt und weit reichende internationale Beziehungen aufgebaut. Eines seiner Hauptanliegen ist die Warnung vor einer „Verwässerung des Instituts der Strafe“1, einem ungerechtfertigten „Auffahren des schweren Geschützes der Strafe“2.
I. Einführung Das Strafrecht enthält unzählige Vorschriften, in denen ein Handeln ohne Genehmigung3 für strafbar erklärt wird. Während sich im geltenden Strafgesetzbuch nur wenige derartige Vorschriften finden (§§ 284, 287, 327, 328), enthielt sein Übertretungsteil bis 1975 über hundert von ihnen. Binding prägte für sie den Begriff der „Ungehorsamsdelikte“ als dritte Kategorie neben den Verletzungs- und den Gefährdungsdelikten4. Dabei sah er die Einbeziehung „unverfänglicher Handlungen“, hielt aber aus Gründen der Rechtssicherheit und der Beweisersparnis ein gemeinsames Verbot (mit niedriger Strafdrohung) für erforderlich5. Diese Problematik hat sich bis heute erhalten. v. Hippel erklärte, die Bestrafung wirklich reinen Ungehorsams, der keinerlei Gefährdung von Rechtsgütern enthielte, wäre eine „Entgleisung des Gesetzgebers“; es handle sich um abstrakte Gefährdungsdelikte6. Nach der Abschaffung der Übertretungen 1975 wurden diese Delikte in das Nebenstrafrecht überführt, in dem sich auch schon vorher viele von ihnen angesammelt hatten. Die einschlägigen Handlungen sind kaum übersehbar; sie reichen von dem 1
Frisch, FS Stree/Wessels, 1993, S. 69 ff., 96. Frisch, Verwaltungsakzessorietät und Tatbestandsverständnis im Umweltstrafrecht, 1993, S. 141. 3 Dabei begegnen zahlreiche Synonyma (Heghmanns, Grundzüge einer Dogmatik der Straftatbestände zum Schutz von Verwaltungsrecht oder Verwaltungshandeln, 2000, S. 141 Anm. 1); andererseits ist die „Genehmigung“ ein Homonym, das im Zivilrecht eine andere Bedeutung hat (§ 184 BGB). 4 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, 3. Aufl., 1916, S. 397 ff. 5 Binding (Fn. 4), S. 408. 6 v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, 1930, S. 101. 2
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Betrieb einer Apotheke über die Herstellung, den Erwerb oder den Besitz von Schusswaffen bis zum Autofahren ohne Fahrerlaubnis. Häufig tritt die Strafbarkeit erst bei einem beharrlichen oder wichtige Rechtsgüter gefährdenden Handeln ohne Genehmigung ein, während das einfache Handeln eine bloße Ordnungswidrigkeit darstellt (z. B. §§ 144, 148 Gewerbeordnung), doch verändert dies nicht die Schutzrichtung der Tatbestände. In der Gegenwart sind die einschlägigen Vorschriften aus der Gruppierung der Straftaten völlig verschwunden. Dies liegt sicher mit daran, dass es schwer ist, statt der inhaltlich dubiosen Bezeichnung „Ungehorsamsdelikte“ eine befriedigende, nicht ein Rechtsgut vorwegnehmende, Bezeichnung7 zu finden. Ich habe lange gesucht, ehe ich mich mit dem hier gewählten schwerfälligen Ausdruck begnügt habe. Die Alternative „Genehmigungsvorbehaltsdelikte“ versagt, da der Begriff „Genehmigungsvorbehalt“ aus dem Verwaltungsrecht stammt und auf die Möglichkeit einer Genehmigung abstellt, während die hier zu behandelnden Vorschriften gerade das Handeln ohne und vor einer eventuellen Genehmigung erfassen. Die Bezeichnung „Genehmigungspflichtverletzungsdelikte“ wird hier rein deskriptiv verwendet. Aber auch in der reichhaltigen neuen Diskussion und Gruppierung der abstrakten Gefährdungsdelikte tauchen sie nirgends auf.
II. Rechtsgutsbezug Interessanterweise hat sich aber auf einem Umweg eine Annäherung der Genehmigungspflichtverletzungsdelikte an den Rechtsgüterbezug dieser Tatbestände entwickelt, und zwar bei der Frage nach der strafrechtlichen Natur der Genehmigung, also gerade bei dem Wegfall der Strafbarkeit. Dabei werden allgemein zwei Arten des dem Genehmigungserfordernis unterliegenden Verhaltens unterschieden. In diesem Zusammenhang geht es nicht darum, ob diese Unterscheidungen zutreffen8 und eine unterschiedliche Qualifizierung der Genehmigung als Ausschluss des Tatbestands oder der Rechtswidrigkeit rechtfertigen. Hier geht es nur darum, ob die dabei getroffenen Charakterisierungen den Unrechtsgehalt der Tatbestände adäquat erfassen. An erster Stelle nennt Jescheck ein „an sich gefährliches oder unerwünschtes Verhalten, das nur ausnahmsweise gestattet werden kann9“. Ganz ähnlich nennt Roxin ein im Regelfall missbilligtes Verhalten, das nur ausnahmsweise genehmigt werden könne, falls die normalerweise bestehenden Gefahren im Einzelfall ausgeschlossen seien10. Diese – aus der Verwaltungsrechtsdogmatik übernommenen – Ausführungen werden dem Charakter der einschlägigen Strafvorschriften kaum gerecht. Ein „im 7
So Heghmanns in seiner in Fn. 3 genannten Schrift. Dagegen schon Schwab, JuS 1973, 133 ff., 134 und seitdem viele Autoren. 9 Jescheck/Weigend, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 1996, S. 368 f. (Hervorhebung von mir). 10 Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 17 Rn. 61.
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Regelfall missbilligtes“ oder gar nur „unerwünschtes“ Verhalten erscheint kaum ausreichend, ein strafrechtliches Verbot zu tragen. Das gleiche gilt für die Formulierung Hirschs: „sozial unerwünscht und deshalb verboten11“. Hier zeigt sich die Ausrichtung des Verwaltungsrechts auf die Möglichkeit der Genehmigung, während die einschlägigen Strafvorschriften das Handeln ohne und vor der Genehmigung erfassen. Aber selbst ein verwaltungsrechtliches Verbot erscheint angesichts der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 GG fragwürdig. Alleinige Legitimation können doch wohl ein Drohen von Schäden und damit eine Gefährlichkeit sein. Noch fragwürdiger sind aber die Charakterisierungen der zweiten Gruppe. Nach Jescheck handelt es sich um „erwünschte oder wenigstens sozialverträgliche Betätigung“, die nur „besser überwacht“ und darüber kontrolliert werden muss, ob die Gefahrenquelle einwandfrei beherrscht wird und ob die in diesem Bereich tätigen Personen die erforderliche Sachkunde und Zuverlässigkeit besitzen.12 Nach Roxin geht es um „an und für sich sozial akzeptiertes Verhalten“, und die Genehmigungspflicht dient nur der vorbeugenden Kontrolle im Hinblick auf Gefährdungen13. Diese Ausführungen erscheinen als überraschende Verharmlosung. Zunächst erscheint es mehr als fragwürdig, wie an sich erwünschte oder sozialverträgliche Betätigungen und ein sozial akzeptiertes Verhalten bei der bloßen Versäumung einer vorbeugenden Kontrolle bestraft werden können sollen. Ferner befremden die Ausdrücke „Kontrolle“ und „Überwachung“. Sie deuten auf eine Dauertätigkeit hin. Bei der Genehmigung handelt es sich dagegen um eine einmalige Entscheidung, die die Tätigkeit zulässt. Außerdem überrascht es, dass beide Autoren das Fahren ohne Fahrerlaubnis nach § 21 StVG zu der ersten Gruppe des an sich erwünschten und sozialverträglichen bzw. akzeptierten Verhaltens rechnen. Diese Einordnung lässt zunächst einmal außer acht, dass § 21 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. StVG das Fahren entgegen einem Fahrverbot nach § 44 StGB unter Strafe stellt und damit eine Straftat gegen die Vollstreckung von Strafen und damit gegen die Durchsetzung des Strafrechts darstellt14. Vor allem aber erscheint der Bezugspunkt falsch gewählt: das Führen eines Kraftfahrzeugs mit den ihm innewohnenden gewaltigen mechanischen Kräften mit hunderten von Pferdestärken ist extrem gefahrenträchtig. Immerhin erfolgen 6 – 8 % der Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Verbindung mit der Verursachung eines Verkehrsunfalls15. Das Führen eines Kraftfahrzeugs kann daher nur genehmigt werden, wenn der Fahrwillige zuvor die Beherrschung dieser Kräfte eingeübt und damit die Gefahren der Benutzung eines Kraftfahrzeugs auf ein sozial erträgliches Maß reduziert und dies in einer strengen Prüfung unter Beweis gestellt hat. Der Fahrwillige muss also für seine Person die typische Gefährlichkeit des Autofahrens überwinden
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LK-StGB/Hirsch, 11. Aufl. 1994, Vor. § 32 Rn. 160. Jescheck/Weigend (Fn. 9). 13 Roxin (Fn. 10), § 17 Rn. 60. 14 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, BT 2, 10. Aufl. 2012, § 92, § 104 IV. 15 Seiler, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Diss. Regensburg 1982, S. 53 f., VII. 12
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Dem und nicht einer Überwachung und Kontrolle des Autofahrens als solchen dient § 21 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. StVG.16 Ähnliche Einwände gelten gegen die Behauptung von Heghmanns, bei einem Genehmigungsvorbehalt werde die Tätigkeit selbst (?) in ihrem Kernbereich (?) nicht mehr als verboten, also auch nicht mehr als gesellschaftlich verpönt dargestellt (?)17. Irreführend erscheinen auch seine Hinweise, die Ausübung der von der Verfassung garantierten Handlungsfreiheit bleibe nur bestimmten Personengruppen aus Gründen der Gefahrenabwehr vorenthalten18, und die Genehmigungsbehörde könne die potentielle Gefährlichkeit für Individualgüter relativ zuverlässig verhindern, so dass das unbedingte Handlungs- und damit Gefährdungsverbot gewöhnlicher Gefährdungsdelikte unverhältnismäßig und damit unnötig werde19. Alle diese Charakterisierungen der Genehmigungspflichtverletzungsdelikte sind auf das darin beschriebene Verhalten als solches, d. h. nach der Genehmigung fixiert. Unter Strafe gestellt ist jedoch das Verhalten ohne und ggf. vor einer Genehmigung. Das Erfordernis der Genehmigung erzwingt Maßnahmen zur Gefahrvermeidung, mindestens zur Reduzierung der Gefahren auf ein tolerables Maß (Erwerb erforderlichen Fähigkeiten, Zurüstung von Anlagen), und erst ab diesem Zeitpunkt besteht die (relative) Aufhebung der Gefährlichkeit. Die Genehmigung bestätigt die Umwandlung der abstrakten Gefährlichkeit in ein sozial erträgliches Verhalten. In dieser Weise sind die einzelnen Genehmigungspflichtverletzungstatbestände auf ihren Schutzzweck hin durchzumustern. Die Dogmatik des Verwaltungsrechts hat immerhin die Unterscheidung von personenbezogenen und sachbezogenen Genehmigungsmaßstäben herausgearbeitet. Zu den ersteren gehören die Zuverlässigkeit, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, der Nachweis erforderlicher Erkenntnisse, zu den letzteren wird auf die einzelnen Materien verwiesen20. Man wird davon ausgehen müssen, dass angesichts des umfassenden Grundrechtsschutzes jeder Genehmigungsvorbehalt durch überwiegende Interessen und d. h. in der Regel durch die Verhütung von Schäden gerechtfertigt sein muss. Selbst Bedürfnis- und Kontingentierungsbestimmungen sind nur zulässig zur Abwehr von Nachteilen (z. B. für die Verkehrsbedürfnisse und die Verkehrssicherheit, Verhinderung eines ruinösen Wett16 Befremdlich auch Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000, S. 316: die Benutzung eines Kraftfahrzeugs sei unstreitig Teil der grundrechtlich geschützten Freiheitssphäre, und andererseits S. 317: hinsichtlich des Fahrens ohne Fahrerlaubnis dürfte es unstreitig sein, dass der Genehmigungsvorbehalt nicht der Erleichterung der behördlichen Aufgabenerfüllung dienen, sondern vielmehr sicherstellen solle, dass nur die Personen ein Kraftfahrzeug führen, bei denen aufgrund bestimmter Anforderungen davon ausgegangen werden könne, dass das daraus resultierende Risiko hingenommen werden könne. 17 Heghmanns (Fn. 3), S. 156. 18 Heghmanns (Fn. 3), S. 155. Wohl im Anschluss an Armin Kaufmanns Versuch zur Begrenzung des Normsubjekts (Lebendiges und Totes) in Bindings Normentheorie, 1954, S. 250 f. 19 Heghmanns (Fn. 3), S. 167. 20 Stober, Handbuch des Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrechts, 1989, S. 766 ff.
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bewerbs mit entsprechenden Gefahren für die Zuverlässigkeit der Teilnehmer)21. Gemeinsamer Bezugspunkt aller Genehmigungsvorbehaltsdelikte ist somit die Gefahrenabwehr22. Unterschiede ergeben sich allerdings aus der Nähe der Gefahr und dem Umfang der Voraussetzungen und erforderlichen Auflagen für die Genehmigung. Die von Heghmanns behauptete „vom Normadressaten wahrgenommene Realität, wonach sich die Genehmigung letztlich doch nur als lästige Formalie darstellt“23, widerspricht – wie jedes Gespräch mit einem Fahrschüler zeigt – krass jeder wirklichen Realität.
III. Das Problem der Genehmigungsreife Die Natur der abstrakten Gefährdungsdelikte bringt es wegen ihrer Generalisierung mit sich, dass einzelne Randbereiche ohne auch nur abstrakte Gefährdung miterfasst werden. Der Bundesgerichtshof hat eine Nichtanwendung der einschlägigen Strafvorschrift für möglich gehalten, wenn die vorausgesetzte Gefährdung nach der tatsächlichen Lage absolut ausgeschlossen sei und der Täter sich durch absolut zuverlässige lückenlose Maßnahmen vergewissert habe, dass die verbotene Gefährdung mit Sicherheit nicht eintreten könne (BGHSt 26, 121). Bei den Genehmigungspflichtverletzungsdelikten kommt hier das Handeln bei fehlender Genehmigung, aber Genehmigungsreife, in Betracht. Man hat daher behauptet, dass hier das inkriminierte Verhalten zu einem bloßen Ungehorsam schrumpfe24. Dass hier eine erhebliche Minderung des Unrechtsgehalts vorliegt, ist offensichtlich. Dies hat der Gesetzgeber offensichtlich berücksichtigt, denn anders ist es nicht zu erklären, dass beispielsweise die Strafdrohung für den Betrieb einer kerntechnischen Anlage ohne Genehmigung mit einer Geldstrafe von 5 E beginnt (§§ 327, 40 StGB). Allerdings sollte man hier nicht von einem bloßen Ungehorsam sprechen, sondern – wie im Polizeirecht – von einer Anscheinsgefahr. Außerdem ermöglicht § 153 StPO eine sachgerechte Erledigung. Wolfgang Frisch sieht in den Genehmigungspflichtverletzungsdelikten allerdings eine „prinzipiell zu beseitigende Verwässerung des Instituts der Strafe“. Freilich hält er einen Einsatz des Instituts der Strafe für berechtigt, wenn das ohne Erlaubnis erfolgende Tun das Gut, zu dessen Schutz das Verbot des Handelns ohne Genehmigung vorgesehen ist, selbst bedroht oder beeinträchtigt25. Die erforderliche Remedur sieht er in einer Ausgliederung der einschlägigen Fälle aus dem Strafrecht. Dies ist allerdings gesetzestechnisch äußerst schwierig. Dies umso mehr, als Frisch eine General21
Stober (Fn. 20), S. 1177 ff. Schwab, JuS 1973, 133 ff., 134; C. Marx, Die behördliche Genehmigung im Strafrecht, 1993, S. 71, 80; Hundt, Die Wirkungsweise der öffentlich-rechtlichen Genehmigung im Strafrecht, 1993, S. 109. 23 Heghmanns (Fn. 3), S. 154. 24 Bloy, ZStW 100 (1988), 485 ff., 506; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337 ff., 343. 25 Frisch, FS Stree/Wessels, 1993, S. 69 ff., 96. 22
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klausel ablehnt und eine Regelung bei den einzelnen Delikten verlangt, mindestens durch Regelbeispiele26. U. E. ist das Postulat der Reinhaltung der Strafe gegen die erheblichen gesetzgebungstechnischen Schwierigkeiten abzuwägen und dem Täter, da er immerhin noch gegen das formelle Verbot verstößt, die geringfügige Bestrafung zuzumuten. Im Übrigen werden hier seltene Ausnahmefälle zu dogmatischen Schwerproblemen hochgespielt. Der von dem Jubilar angeführte Autofahrer, der nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis ist, aber die zur Führung des Fahrzeugs erforderlichen Fähigkeiten besitzt27, existiert leider selten (und wenn es ihn gibt, dann hat er die erforderlichen Fähigkeiten vorher durch Fahren ohne Genehmigung erworben!). Eher erscheinen solche Konstellationen im Umweltschutzrecht möglich28. Diese Rechtfertigung entbindet den Gesetzgeber allerdings nicht von der Pflicht, die Genehmigungspflichtverletzungsdelikte daraufhin durchzumustern, ob die zu verhindernde Gefahr groß genug ist für eine Bestrafung. Insbesondere gilt dies für die §§ 284, 287 StGB mit ihrem überaus dubiosen Rechtsgut29. Auch erscheint es nicht legitimierbar, wie eine Ordnungswidrigkeit bei bloßer beharrlicher Wiederholung zu einer Straftat avancieren kann (§ 148 Nr. 1 GewO).
IV. Das Genehmigungsverfahren als Rechtsgut Um diesen Randbereich auch rechtsgutsmäßig abzudecken, hat man das Genehmigungsverfahren selbst zum Rechtsgut erklärt30. Damit werden die Genehmigungspflichtverletzungsdelikte zu Verletzungsdelikten31. Durch diesen auf den ersten Blick raffinierten Coup werden aber das Gewicht und die Zielrichtung der einschlägigen Tatbestände verfehlt. Diese lauten nicht: „Wer das Erfordernis einer Genehmigung dadurch verfehlt, dass er ein Kraftfahrzeug führt …“, sondern: „Wer ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er …“. Entsprechendes gilt für die übrigen Genehmigungspflichtverletzungsdelikte. Auch vermag die Verletzung einer bloßen Genehmigungspflicht allenfalls eine Geldbuße wegen einer Ordnungswidrigkeit, nicht aber eine Bestrafung zu tragen. Enthält die Charakterisierung der Genehmigungspflichtverletzungsdelikte als abstrakte Gefährdungsdelikte einige von dem Begriff nicht gedeckte Ausnahmefälle, so stuft ihre Auffassung als bloße Verletzung des Genehmigungsver26
Frisch, FS Stree/Wessels, 1993, S. 105 f. Frisch, FS Stree/Wessels, 1993, S. 69 ff., 96. 28 Beispiele bei C. Marx, Die behördliche Genehmigung im Strafrecht, 1993, S. 18 ff. 29 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, BT 1, 10. Aufl., 2009, § 44 Rn. 2. 30 Rengier, ZStW 101 (1999), 874 f., 880 f.; Marx (Fn. 28), S. 137 f.; Heghmanns (Fn. 3), S. 156 ff. 31 Binding (Fn. 4), S. 393. Die Einordnung hängt von der Definition des Begriffes „Erfolg“ ab. Für Einbeziehung „immaterieller Schäden“ Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 5. Aufl., 2004, S. 88. Andernfalls verbleibt es beim abstrakten Gefährdungsdelikt. 27
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fahrens alle Genehmigungspflichtverletzungsdelikte zu Bagatellen herab. Schließlich ist bei der Möglichkeit der Straflosigkeit wegen schwerer Brandstiftung bei vorheriger genauer Kontrolle des Objekts (BGH 26, 121; s. o.) noch niemand auf die Idee gekommen, die Kontrollpflicht zum Rechtsgut zu erklären. Einige Vertreter der Auffassung des Genehmigungsverfahrens als Rechtsgut der Genehmigungspflichtverletzungsdelikte betonen daher, dass die Genehmigung von ihrem Zweck, dem Schutz vor Gefahren für Leib, Leben und Eigentum, durchtränkt sei. So weist Rengier die Rede vom bloßen Verwaltungsungehorsam als Verharmlosung des Unrechts zurück; es gehe um zum Teil sehr gewichtige Ordnungs-, Sicherheits- und Kontrollinteressen, deren Beachtung manchmal sogar ein elementares Interesse der Allgemeinheit (und damit des einzelnen) darstelle32. Auf diese Weise ist man aber im Ergebnis wieder beim abstrakten Gefährdungsdelikt angelangt. Nach Tiedemann/Kindhäuser sind nur solche Genehmigungspflichtverletzungsdelikte „legitim“, bei denen der verwaltungsrechtlichen Verfahrenkontrolle als solcher ein hoher Wert zukomme, was namentlich anzunehmen sei, wenn durch die Gefahrenkontrolle, wie im Umweltstrafrecht, elementaren Ängsten begegnet werden solle33. Hierbei bleiben das Rechtsgut und die Natur der Strafvorschrift unklar. Tiedemann/Kindhäuser sprechen von der „subjektiven Dimension“, dem „kognitiven Element“ der Sicherheit.
V. Doppeltes Rechtsgut? Heghmanns will dem Einwand der Verfehlung der gefährdeten Rechtsgüter dadurch begegnen, dass er „die Funktionsfähigkeit der Zugangskontrolle zu potentiell gefährlichen Handlungen“ als vorgeschaltetes Zwischenrechtsgut ansieht. Dadurch erhalten die Genehmigungspflichtverletzungsdelikte zwei Rechtsgüter34. Diese Rechtsgutsequilibristik wirkt überzogen. Die beiden Rechtsgüter wären sehr ungleichgewichtig. Der Fortfall des Rechtsguts Zugangskontrolle kann bei der bloßen Entscheidungsreife nicht zu einem Entfallen des Tatbestandes führen. Im Übrigen würde dadurch der neuartige Typ eines Verletzungs- in Kombination mit einem abstrakten Gefährdungsdelikt geschaffen. Zwar gibt es Verletzungsdelikte in Verbindung mit einem konkreten Gefährdungsdelikt (z. B. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) und konkrete Gefährdungsdelikte, die an Ordnungswidrigkeiten anknüpfen (z. B. §§ 144, 148 Gewerbeordnung). Auch gibt es abstrakte Gefährdungsdelikte (z. B. § 316 StGB), die mit einer konkreten Gefährdung verbunden werden (§ 315 c StGB). In diesem Fall bestimmt aber die schwerere konkrete Gefährdung den Gesamtcharakter des Delikts.
32
Rengier, ZStW 101 (1999), 880 f. Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337 ff., 343. 34 Frisch (Fn. 2), S. 162 ff., 168 f., 353.
33
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VI. Fazit 1. Die Genehmigungspflichtverletzungsdelikte bilden eine große Gruppe unter den geltenden Deliktsarten mit eigenständigen Problemen, die noch nicht voll erkannt sind. 2. Die Ausrichtung der Genehmigungspflichtverletzungsdelikte auf die Möglichkeit der Genehmigung geht an der Tatsache vorbei, dass die Tatbestände das Handeln ohne und vor der Genehmigung unter Strafe stellen. 3. Die Genehmigungspflichtverletzungsdelikte dienen neben dem Verbot gefährlicher Tätigkeiten der Erzwingung von Maßnahmen zur Vermeidung beziehungsweise Reduzierung von Gefahren. 4. Die Genehmigungspflichtverletzungsdelikte sind damit abstrakte Gefährdungsdelikte. 5. Das Handeln ohne Genehmigung, aber bei Genehmigungsreife ist ein Ausnahmefall und sollte nicht zur Umbestimmung des Rechtsguts der Tatbestände führen. Hier liegt eine Anscheinsgefahr vor. 6. Die Genehmigungspflichtverletzungsdelikte sind auf ihre Gefährlichkeit hin durchzumustern und ggf. zu Ordnungswidrigkeiten herabzustufen.
Zur Krise des Steuerstrafrechts Von Hinrich Rüping
I. Feindstrafrecht im neuen Recht der Selbstanzeige Das neue Recht der Selbstanzeige beherrscht wie kein anderes Thema derzeit die Diskussion im Steuerstrafrecht. Die Diskussion setzt an bei der Schnittstelle zwischen Strafrecht und Steuerrecht, indem die Erklärung der Selbstanzeige eine Erklärung im steuerlichen Veranlagungsverfahren bleibt, jedoch strafrechtliche Wirkung äußert. Die aktuelle Diskussion zielt dabei nicht nur auf Einzelheiten der gesetzlichen Neufassung, sondern reicht weiter bis zum grundsätzlichen Verhältnis von Steuerrecht und Strafrecht. Als Folge erscheint der einfache Verweis auf das positive Recht vordergründig. Der Gesetzeslage entsprechend ist § 370 AO als grundlegende Bestimmung im Steuerstrafrecht im steuerstrafrechtlichen Teil der AO geregelt, bleibt jedoch eine genuine Strafvorschrift, auf die daher auch gemäß § 369 AO die allgemeinen Regeln über das Strafrecht Anwendung finden, soweit nicht ausdrückliche Abweichungen normiert sind. Die häufig angenommene Vergleichbarkeit des Tatbestandes der Steuerverkürzung mit dem des Betruges nach allgemeinem Strafrecht, indem beide Bestimmungen auf einem durch Täuschung bewirkten Vermögensschaden beruhten, spricht für eine offenbar wenig problematische Integration des Steuerstrafrechts in das allgemeine Strafrecht, wie sie der Gesetzgeber mit der Neufassung des Steuerstrafrechts in der AO von 1976 vorgenommen hat. Bei näherer Betrachtung erweist sich dagegen die Verschränkung von Steuerrecht und Strafrecht als keineswegs derart harmonisch. Probleme wirft bereits im materiellen Recht, hier im objektiven Tatbestand der Hinterziehung die vorausgesetzte Verkürzung eines Steueranspruchs auf, damit im Rahmen eines sog. unselbständigen Tatbestandes die Verweisung auf das außerstrafrechtliche Merkmal der Existenz eines Steueranspruchs.1 Der Grundtatbestand des Steuerstrafrechts sieht sich als Folge Einwendungen gegen seine verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit ausgesetzt und veranlasst darüber hinaus Erörterungen, sich hinsichtlich des Taterfolges Gedanken über die Anforderungen an den Vorsatz und die Möglichkeit eines Tatbestandsirrtums zu machen.
1 Zur Frage der Bestimmtheit in der Praxis des BVerfG und des BGH sowie zur Abgrenzung von Blankett-Tatbeständen gegenüber Tatbeständen mit normativen Merkmalen Hüls, NZWiSt 2012, 12, 14 ff.
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Als weitaus grundsätzlicher erweist sich die Koppelung des Straftatbestandes des § 370 AO mit der unmittelbar anschließend geregelten Möglichkeit, über den Weg einer wirksamen Selbstanzeige Straffreiheit zu erlangen. Wie jüngst ausführlich untersucht, erscheint das unmittelbare Nebeneinander von einer generalpräventiv angelegten Strafnorm und der Möglichkeit, durch nachträgliche Erfüllung der steuerlichen Verpflichtung Straffreiheit zu erlangen, widersprüchlich. Die damit aufgeworfenen Fragen betreffen die Grundlagen des Steuerstrafrechts, insbesondere sein Verhältnis zum Steuerrecht und sollen im Folgenden auch mittels einer Verlängerung in die historische Perspektive erörtert werden. Zunächst zeigt ein Blick auf die Genese des neuen Rechts der Selbstanzeige Auffälligkeiten, die den Eindruck eines Sonderweges des Steuerstrafrechts verfestigen.
II. Der Verlauf der Reform Aufsehen erregt die Entscheidung des nach der Geschäftsverteilung innerhalb der Strafsenate des BGH für Steuerstrafsachen ausschließlich zuständigen 1. Strafsenats aus dem Jahre 2008, die als Grundsatzurteil die Strafzumessung in Hinterziehungsfällen verschärft und an Hand des Ausmaßes der Hinterziehung neu bestimmt. Das Regelbeispiel des besonders schweren Falles gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO soll bei einem Hinterziehungsvolumen von mehr als 50.000 Euro erfüllt und bei Millionenhöhe im Grundsatz nur noch eine Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer Aussetzung zur Bewährung zulassen.2 Überraschend gelangt die folgende Leitentscheidung aus dem Jahre 2010 zu einer vollständigen Neubewertung des Rechts der Selbstanzeige. Der 1. Strafsenat sieht eine Selbstanzeige nur legitimiert, wenn sie eine vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit ausdrückt; er verwirft die Möglichkeit von Teilanzeigen und hält im grundsätzlichen Widerspruch zu dem bisher in Praxis wie Lehre bestehenden Konsens eine einschränkende Auslegung der positiven Voraussetzungen einer Selbstanzeige für geboten wie umgekehrt eine ausweitende der Sperrgründe.3 Das die Leitentscheidung tragende, als Grenzüberschreitung durch ein Revisionsgericht kritisierte rechtspolitische Programm prägt die gesamte weitere parlamentarische Diskussion.4 Als Ergebnis stellt sich die in das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz vom 28. 04. 2011 aufgenommene Neufassung des Rechts der Selbstanzeige ersichtlich als politischer Kompromiss dar.5 Die Koalitionsparteien erreichen, dass die Selbstanzeige als Rechtsinstitut erhalten bleibt, den Oppositionsparteien sind dage2
BGHSt 53, 71 ff. Rz. 42 ff. = NJW 2009, 528 ff. BGHSt 55, 180 ff. = JZ 2010, 1072 ff.; zur Kritik nur Wulf, wistra 2010, 291; Spatscheck, FS Streck, 2011, S. 589 ff. 4 Zur Kritik Schwedhelm, Stbg 2010, 348 f., Einzelnachweise zu den Entwürfen der Parteien bei Rüping, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, FGO (Stand: 2011), § 371 AO Rz. 11. 5 BGBl. I 2011, 676. 3
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gen geschuldet die Verschärfung der Voraussetzungen, Straffreiheit zu erlangen, sowie die Einfügung einer Sonderregelung für Hinterziehungen, die ein Volumen von mehr als 50.000 Euro betreffen.
III. Zweifelsfragen Die inhaltliche Kritik an der Neuregelung gilt den Verschärfungen, insbesondere der geforderten Offenbarung sämtlicher unverjährter Taten derselben Steuerart, der Vorverlagerung des Sperrgrundes des Erscheinens eines Prüfers durch die Bekanntgabe der Prüfung sowie der bei Hinterziehung ab 50.000 Euro nur noch möglichen Einstellung des Verfahrens gemäß § 398a AO. Unabhängig von der Erörterung zahlreicher Einzelheiten6 zielt die grundsätzliche Kritik darauf, dass nicht nur vor der Novellierung bekannte Zweifelsfragen nicht geklärt worden und stattdessen durch die im Detail nicht durchdachten Neuregelungen zahlreiche neue Zweifelsfragen entstanden sind. Als Beispiel bleibt weiterhin offen, ob eine sog. undolos unrichtige Anzeige wirksam ist.7 Inwieweit nach neuem Recht mit Rücksicht auf die notwendige Vollständigkeit eine erste unvollständige Anzeige durch eine zweite geheilt werden kann, oder ob in diesem Fall, wie es die Finanzverwaltung sieht, die erste mangels Vollständigkeit und die zweite wegen Entdeckung der Tat unwirksam ist, stellt sich als offenes Problem dar.8 Ebenso offen bleibt auch die in der Praxis geläufige Konstellation, dass die in § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO vorausgesetzte Bekanntgabe der Prüfung an den Täter oder seinen Vertreter nicht den Fall erfasst, dass der Täter als Mitarbeiter in einer Kapitalgesellschaft nicht selbst Steuerpflichtiger oder nicht vertretungsberechtigt ist. Es erscheint hier sachgerecht, für derartige Beteiligte die Selbstanzeige weiterhin zu eröffnen, bis etwa ein Amtsträger zur Prüfung erscheint.9 Dem aktuellen Stand gemäß hat bisher nur eine weitere Zweifelsfrage eine Klärung durch den BGH gefunden: er hat zutreffend die unter dem früheren Recht konsentierte Praxis bestätigt, dass eine geringfügige Abweichung des erklärten Volumens der Hinterziehung im Verhältnis zum tatsächlichen Betrag, soweit die Differenz 5 % nicht übersteigt, die Anzeige nicht mangels Vollständigkeit unwirksam macht.10 Auf der anderen Seite ist derzeit auch nach der Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahre 2010 offen, welche Anforderungen an den Sperrgrund der Entdeckung der Tat zu richten sind. Bestand unter dem früheren Recht Einigkeit, dass die Entdeckung mehr als einfachen Anfangsverdacht, demnach hinreichenden Verdacht voraussetzt, 6
Zu Einzelheiten Rüping (Fn. 4), § 371 AO und §398a AO. Dafür z. B. Habammer, DStR 2010, 2425, 2430 und Beckemper/Schmitz/Wegner/Wulf, wistra 2011, 281, 284. 8 Aus der Literatur im Sinne der ersten Lösung, da der Steuerpflichtige durch die zweite Erklärung gerade dem erklärten Ziel des Gesetzgebers entsprechend gehandelt habe, zur Steuerehrlichkeit zurückzukehren, Salditt, PStR 2010, 168, 173; Schwartz, PStR 2011, 151. 9 Wulf/Kamps, BB 2011, 1715; Beckemper/Schmitz/Wegner/Wulf, wistra 2011, 289. 10 BGH NZWiSt 2012, 117 ff.; in der Literatur Habammer, DStR 2010, 2425, 2430. 7
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schafft die Leitentscheidung keine Klarheit, da sie zwischen beiden Verdachtsgraden oszilliert.11
IV. Zur prozessualen Lösung bei einer Hinterziehung in großem Ausmaß Schwerwiegende neue Zweifelsfragen erweckt vor allem die in ihrem Wortlaut missglückte neue Vorschrift des § 398a AO. Die gesetzliche Regelung setzt voraus, dass eine Selbstanzeige nur mit Rücksicht auf das Ausmaß der Hinterziehung nach § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO, nicht aus den zuvor genannten Sperrgründen ausscheidet, dass der Betroffene wie nach § 371 Abs. 3 AO die aus der Tat zu seinen Gunsten hinterzogenen Steuern innerhalb angemessener Frist nachentrichtet und zusätzlich einen Geldbetrag in Höhe von 5 % der hinterzogenen Steuer entrichtet. Aus der Fixierung der Wertgrenze von 50.000 Euro im Wortlaut des Gesetzes erwächst das Problem, dass der Betrag absolut gilt und auch eine nur geringfügige Überschreitung, so wie unverändert bei § 371 AO eine Bagatellabweichung die Vollständigkeit nicht hindert, außer Betracht bleiben muss. Bewusst hat die Wertgrenze in ihrem ursprünglichen Bereich der Strafzumessung bei Regelbeispielen nur indizielle Funktion in einer Gesamtbetrachtung der schuldrelevanten Merkmale.12 Bemessen wird der Betrag der verkürzten Steuer bzw. des unrechtmäßig erlangten Vorteils bezüglich der einzelnen nach Steuerart und Veranlagungszeitraum bestimmten Taten.13 Die Ausgestaltung des Betrags als Freigrenze bewirkt, dass mit der Überschreitung die gesamte Tat und nicht nur der 50.000 Euro übersteigende Betrag von der Sperre erfasst wird. Für die Berechnung findet das Kompensationsverbot des § 370 Abs. 4 Satz 3 AO keine Anwendung. Zwar spricht § 398a AO zunächst von einem Hinterziehungsbetrag von mehr als 50.000 Euro, ebenso wie dieser in § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO erscheint. Die Vorschrift bemisst dann jedoch den Zuschlag als 5 % der „hinterzogenen Steuer“, so wie § 371 Abs. 3 AO vergleichbar formuliert und damit nur die Entrichtung der tatsächlich entstandenen Steuerschuld meint.14 Der Wortlaut des § 398a AO stellt ausschließlich ab auf den Täter der Hinterziehung als den zur Zahlung des Zuschlags Verpflichteten. Bei Mittätern im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB ist jeder von ihnen zur Zahlung des Zuschlags verpflichtet. Das folgt aus dem Wortlaut des § 398a Nr. 2 AO, der auf einen durch die Tat unmittelbar 11 Dass gemäß BGHSt 55, 180, 187 f. konkrete Anhaltspunkte für die Tat vorliegen sollen, lässt auf einen Anfangsverdacht schließen, was unter dieser Prämisse Habammer, DStR 2010, 2425, 2431 zu Recht kritisiert. 12 Zur Entstehung der Vorschrift aufschlussreich BT-Drucks. 17/5067 [neu], S. 22, 24. 13 Übersehen ist dabei, dass nach der Rechtsprechung bei bloßen Gefährdungsschäden eine Grenze von 100.000 Euro angenommen wird (BGH, wistra 2009, 107). 14 Zu dieser aus der nicht durchdachten gesetzlichen Fassung entstandenen Problematik Wulf/Kamps, DB 2011, 1711, 1716; Rolletschke/Roth, Stbg 2011, 200, 205.
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erlangten Vorteil abstellt sowie aus dem Charakter einer Auflage wie beim Vorbild der Regelung in § 153a StPO.15 Wenn das Gesetz andererseits nur auf den „Täter“ der Hinterziehung abstellt, würde daraus nach der Systematik des AT des StGB als Umkehrschluss folgen, Anstifter und Gehilfen seien von der Regelung des § 398a AO ausgenommen. Doch führte das zu der widersinnigen Konsequenz, dass auch nach der Neuregelung dem Teilnehmer an einer Hinterziehung die Möglichkeit der Selbstanzeige eröffnet wäre, die der Einstellung nach § 398a AO dagegen nicht. Deshalb ist der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO nicht anwendbar auf Teilnehmer, und zwar aus der Erwägung, dass sie keinen eigenen wirtschaftlichen Vorteil erlangt haben.16 Keine Regelung trifft das Gesetz schließlich hinsichtlich des Rechtsschutzes gegen die Festsetzung des Zuschlags und der Wirkung einer Verfahrenseinstellung. Die Zahlung des gesonderten Zuschlags stellt sich als eine besondere nicht-strafrechtliche Reaktion dar und bildet keine zusätzliche Strafe, da sie im Rahmen des Steuerstrafverfahrens von der Bußgeld- und Strafsachenstelle der Finanzverwaltung bzw. der Staatsanwaltschaft nach Ausübung ihres Rechts zur Evokation (§ 386 Abs. 4 S. 2 AO) verhängt wird, damit nicht vom Richter. Über die für die Praxis wichtige Frage einer Anfechtungsmöglichkeit sagt das Gesetz nichts. Die Lücke ist mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Garantie eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) zu schließen im Sinne der Eröffnung eines Rechtsbehelfs. So wie bereits § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO allgemein bei Ermittlungsmaßnahmen im Strafverfahren den Weg zu einer Kontrolle durch das Gericht eröffnet,17 ist die Vorschrift auch in diesem Fall anwendbar.18 Um eine letzte Zweifelsfrage zu erwähnen, bleibt schließlich bedauerlich, dass der Gesetzgeber, obwohl er sich für die Möglichkeit der prozessualen Lösung an § 153a StPO orientiert, nicht zu der dort behandelten Frage der Wirkung Stellung nimmt.19 Wenn § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO unter den dort geregelten Voraussetzungen im Grundsatz einen Verbrauch der Strafklage bestimmt, fehlt eine entsprechende Regelung in § 398a AO. Da die weitreichende Wirkung eines Strafklageverbrauchs nur durch eine gesetzliche Regelung angeordnet werden kann, ist davon auszugehen, dass die Einstellung des Verfahrens unter den Voraussetzungen des § 398a AO keine entsprechende Wirkung entfaltet. Dieses Risiko zum Gegenstand der Beratung zu machen, wird die Entscheidung des Steuerpflichtigen mit beeinflussen. Wie die im Voranstehenden nur unter einzelnen Aspekten aufgegriffenen zahlreichen Zweifelsfragen veranschaulichen, erweckt die Reform den Eindruck, das Institut der Selbstanzeige nicht nur durch die bereits erschwerten Voraussetzungen, sondern auch durch die erheblichen Zweifelsfragen in der Anwendung wenn nicht obsolet zu machen, dann doch in seiner Wirkungsweise entscheidend zu beschränken. 15
Schwartz/Külz, PStR 2011, 249, 253. Rolletschke/Roth, Stbg 2011, 200, 206. 17 Grundlegend BGHSt 28, 57, 58; 37, 79, 82; 45, 183, 186. 18 In der Literatur z. B. Beckemper/Schmitz/Wegner/Wulf, wistra 2011, 281. 19 Zur Orientierung am Strafverfahrensrecht BT-Drucks. 17/5067, S. 22.
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Für sich spricht das vernichtende Urteil in der Literatur, der Gesetzgeber habe „die Regelung über die strafbefreiende Selbstanzeige an das übrige Gesetzgebungsniveau jüngerer Zeit angepasst. Die Neuregelung ist schlampig formuliert, systematisch nicht durchdacht und führt bei wortlautgetreuer Anwendung zu vielfach nicht nachvollziehbaren Ergebnissen“.20 Vor dem Hintergrund dieses Urteils erscheint es angezeigt, die Betrachtung des Rechtsinstituts der Selbstanzeige in der Retrospektive zu verlängern, um sich Klarheit über die rechtliche Fundierung zu verschaffen.
V. Zur Grundlegung des Rechtsinstituts Die sich hier abzeichnende politische Prägung des Rechts unter Orientierung an einem bestimmten Feindbild kennt Vorläufer21. Zu erinnern ist an das Gesetz zur Bekämpfung der Steuerverkürzung vom 19. 12. 2001, als der Gesetzgeber unter dem Eindruck weltweiter Bemühungen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus den Verbrechenstatbestand gewerbs- und bandenmäßiger Hinterziehung, jeweils in großem Ausmaß, in § 370a AO n. F. geschaffen hatte.22 Als Verbrechen bildete die Tat abgesehen von allen anderen Folgen wie der Unanwendbarkeit des § 153a StPO eine taugliche Vortat der Geldwäsche nach § 261 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB, was das Hauptziel ihrer Einführung war. Als Fall eines strafmindernden Nachtatverhaltens erfasste das Gesetz gemäß § 370a Satz 3 AO als einziges benanntes Indiz eine Selbstanzeige; ihre Wirksamkeit war der Gesetzesfassung entsprechend weder notwendige noch hinreichende Bedingung für eine Verschiebung des Strafrahmens. Beide Novellierungen, die aus dem Jahre 2002 wie die jüngste aus dem Jahre 2010 zeigen das Rechtsinstitut der Selbstanzeige als ein politisch bestimmtes Mittel der Fiskalpolitik. Erscheint sie in diesem Zusammenhang als von wechselnden Vorgaben abhängig, verdeckt das jedoch ihre weiterreichende und ursprüngliche Legitimation als Ausdruck eines Tatausgleichs durch Restitution. Repräsentativ für Strafgesetze vor dem RStGB gewährt das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 bei freiwilliger Wiederbeschaffung oder Erstattung des Entwendeten Strafmilderung beim Diebstahl (Tl. 2 Tit. 20 § 1116). Die Restitution tritt auch als Beleg für die lange zurückreichende Verbindung von Schadensersatz und Strafe in zivilrechtlicher Einkleidung auf: Leistet der Täter dem Geschädigten vollständigen Ersatz, hören Diebstahl und Unterschlagung auf, „ein Verbrechen zu seyn“, wie § 176 des Österreichischen StGB von 1803 bestimmt. Konkurrierende Ansätze in der deutschen Partikularge-
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Wulf/Kamps, DB 2011, 1710. Bezogen auf § 370a AO Spatscheck/Wulf, DB 2002, 392; Sommer/Füllsack, Stbg. 2002, 355 und Seer, Stbg 2006, 7. 22 Zur Regelung der Geldwäsche und der Hinterziehung Art. 2 Nr. 3 und Art. 4, in BGBl. I 2001, 3922, 3924, dann die alsbald für notwendig erachtete Reform in BGBl. I 2002, 2715 sowie die Aufhebung durch Gesetz vom 21. 12. 2007, BGBl. I 2007, 3198. 21
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setzgebung, die nachträgliche Restitution nur als Umstand für eine Strafmilderung zu werten,23 treten gegenüber der hauptsächlichen Entwicklungslinie zurück. Der Gedanke eines Strafverzichts betrifft in gegenwärtiger Terminologie die Strafwürdigkeit, indem das Verhalten nach der Tat deren Unrechtsgehalt zu mindern vermag. Die Rechtsfigur des Strafverzichts ermöglicht gleichzeitig ihre Rezeption im Bereich der früheren sog. Fiskaldelikte. Das für sie geltende Verwaltungsstrafrecht arbeitete mit der Rechtsfigur eines Dispenses. Er eröffnet im steuerlichen Bereich einen Verzicht auf die Verwaltungsstrafe, um damit einen Anreiz zu schaffen, dem durch die Hinterziehung geschädigten Fiskus zu seinem Recht auf den unverkürzten Steueranspruch zu verhelfen. Die Regelung der Selbstanzeige in § 374 Abs. 1 und 2 der RAO von 1919 ist Ausdruck dieser Entwicklung und schließt sie gleichzeitig ab. Die Selbstanzeige verfolgt unverändert den Zweck, auf Grund der Nacherklärung dem Fiskus bisher unbekannte Steuerquellen zu erschließen. Die nachträgliche Restitution ist folgerichtig an die Erfüllung der beiden ursprünglichen Pflichten gebunden, zu versteuernde Einkünfte wahrheitsgemäß zu erklären sowie bereits verkürzte Steuern nachträglich zu entrichten. Für die Gegenwart stellt sich der auf die vorangegangene Restitution gegründete Strafverzicht in der Annahme eines Strafaufhebungsgrundes nicht als eine isolierte Sonderregelung dar, erst recht nicht als ein Privileg für Hinterzieher. Vielmehr steht das Rechtsinstitut als Ausdruck einer Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers, jenseits bloßer Vergeltung wie auch in vergleichbaren Fällen einer tätigen Reue mit der Möglichkeit eines Absehens von Strafe der Wiedergutmachung Raum zu geben. Diese Grundlegung kehrt auch in zahlreichen ausländischen Rechtsordnungen wieder.24 Als Ergebnis erscheint das Rechtsinstitut der Selbstanzeige nicht nur als ökonomisch sinnvoll, indem es fiskalische Mehreinnahmen verspricht, sondern durch seine Verwurzelung im Steuerrecht wie im Strafrecht legitimiert.25 Es bildet im Steuerstrafrecht keinen erratischen Fremdkörper, sondern ist integrierender Bestandteil und nach seiner Funktion im Zusammenhang mit der Strafvorschrift des § 370 zu lesen. Vorschläge wie die des Alternativ-Entwurfs, an die Stelle der Selbstanzeige eine dem System des Strafrechts angepasste Rücktrittsvorschrift zu setzen, schon weil die strafbefreiende Wirkung nachträglicher Kompensation die präventive Wirkung einer Vorschrift gegen die Hinterziehung zerstöre,26 gehen daher fehl.
23 Für das Strafrecht in Hannover Leonhardt, Commentar über das Criminal-Gesetzbuch für das Königreich Hannover, Bd. 2 1851, S. 358 zu Art. 299, 311, 306. 24 Z.B. für Ungarn (Siklos, IWB f. 5 Gr. 2 S. 109 f.; Stand: 2004); Niederlande (Asbreuk, IWB F. 5 Gr. 2 S. 273 F., Stand: 2005); Spanien (Bacigalupo, IWB F. 5 Gr. 2 S. 87 f.). 25 So z. B. ausdrücklich Streck, NJW 2010, 1326, 1328. 26 AE BT, Straftaten gegen die Wirtschaft, 1977, Begr. zu § 200 (S. 97) sowie Tiedemann, JR 1975, 385, 387; L. Müller, DB 1981, 1480, 1481.
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VI. Methodenfragen des Steuerrechts und seine fiskalische Prägung Die grundlegenden Fragen des aktuellen Steuerrechts, was die Steuerrechtsordnung und Methoden der Rechtsanwendung betrifft,27 berühren weniger das Verhältnis zum Strafrecht als vielmehr die Frage nach der angeblichen Neutralität und fehlenden Systemgebundenheit des Steuerrechts. Aufschlussreich erweist sich insoweit eine historische Perspektive. Der Reichsfinanzhof wird 1919 errichtet, um nach dem Weltkrieg ein effizientes Aufkommen der Steuern und ihre gleichmäßige Verteilung zu sichern. Methodisch gibt ihm die Reichsabgabenordnung vom selben Jahr die Mittel an die Hand, bei der Auslegung der Steuergesetze ihren Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.28 Der Schöpfer der RAO Enno Becker verwahrt sich gegen freirechtliche Bestrebungen, den Richter von der Bindung an das Gesetz zu lösen, doch führt die Absage an eine Begriffsjurisprudenz wie im Zivilrecht dann dazu, eine teleologische Betrachtung bald auch gegen den Wortlaut einer Norm zu entfalten und die wirtschaftliche Betrachtungsweise in eine rein fiskalische Sicht einmünden zu lassen.29 Becker legitimiert den Weg des Recht schaffenden Steuerrichters im Unterschied zum Recht anwendenden Zivilrichter 1931 durch die Sicht, angesichts des drohenden wirtschaftlichen Kollapses müssten alle Schlupfwinkel durchsucht und alle im Steuergesetz angelegten Härten ertragen werden. Auch soweit sich in dieser Zeit Entscheidungen des Reichsgerichts finden, im Zivilrecht die Bewertung vermögensrechtlicher Rechtsgeschäfte den wirtschaftlichen Interessen anzupassen und im Strafrecht den übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund der Güter- und Pflichtenabwägung zu entwickeln, bleibt doch dem Steuerrecht vorbehalten, die Grenze zur Steuerpolitik fließend zu machen.30 In diesem Zusammenhang hat auch ein Blick auf die Entwicklung der Finanzgerichtsbarkeit ihren Platz. Gegen alle Widerstände, insbesondere den Forderungen nach Trennung von Justiz und Verwaltung setzt die Finanzverwaltung durch, dass Finanzrichter wegen der notwendigen Sachkunde gleichzeitig als hauptberuflich tätige Veranlagungsbeamte in die Finanzbehörde eingegliedert bleiben.31 27
Dazu Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, S. 1 ff., 171 ff. RAO v. 13. 12. 1919 § 4 (RGBl 1919, 1993). 29 Vgl. ursprünglich Becker, RAO, 5. Aufl. 1926, § 4 Anm. 3 – 5, 9; dann 1925 zum Primat des Zweckes RFHE 16, 64 f. und 1931 zur Begründung der „Reichshilfe“ in Gestalt eines außerordentlichen Steuerzuschlags mit dem vorrangigen „Lebensrecht des Staates“ RFH StuW [Steuer und Wirtschaft] 1931 II Nr. 376 Sp. 650, 652 mit Zustimmung von Becker, StuW 1931 II Nr. 145 u. 146 Sp. 207, 211 f. 30 1921: RGZ 102, 272, 274 (dazu Becker, RAO, 5. Aufl. 1926, § 4 Anm. 5); 1927: RGSt 61, 242, 246 ff. (dazu Eb. Schmidt, ZStW 49 (1929), 350, 378 f.). 31 Zur Kritik Leitsätze des Deutschen Anwaltvereins zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Steuersachen unter I, II mit Begründung, JW 1926, 2276 f. Diese zitiert RFH in StuW 1931 II Nr. 686 (Sp. 1125), um einen Betriebsprüfer als ehrenamtliches Mitglied des Finanzgerichts auszuschließen: ein jederzeit kündbarer Vertragsangestellter, „dessen dienstliches Fortkom28
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Unter nationalsozialistischem Vorzeichen erscheint § 1 StAnpG als „Grundnorm“, indem Abs. 1 zur Auslegung der Steuergesetze nach nationalsozialistischer Weltanschauung verpflichtet, Abs. 2 unter diesem Vorzeichen neben Zweck, wirtschaftlicher Bedeutung und Entwicklung der Verhältnisse auch die Volksanschauung berücksichtigt und Abs. 3 diese Kriterien auch auf die Beurteilung von Sachverhalten erstreckt.32 Die Wirkung bleibt jedoch ersichtlich hinter den Erwartungen zurück. In der Praxis des RFH erlangen die Programmsätze keine ausschlaggebende Bedeutung. Auch die Berücksichtigung der Volksanschauung gilt nicht als sensationell, und die Ausdehnung auf die Beurteilung von Sachverhalten bleibt von Anfang an unklar. Anders die Theorie. Becker lässt die wirtschaftliche Betrachtung aus der „Systemzeit“ einmünden in das konkrete Ordnungsdenken Carl Schmitts, habe dieser doch anerkannt, dass der RFH der jetzigen Rechtserneuerung vorgearbeitet und den Boden bereitet habe.33 Vor allem sieht die Verwaltung im StAnpG den Hebel zur nationalsozialistischen Fortentwicklung des Steuerrechts. Motor wird der Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Reinhardt. Er beansprucht in zahllosen propagandistischen Feldzügen, im Rahmen der Reform als für das Finanzwesen maßgeblicher Mitarbeiter des „Führers“ dessen Willen authentisch zu verkünden und umzusetzen. Eher als Arabeske begegnet in diesem Zusammenhang die Frage, ob der „Führer“ selbst einer Steuerpflicht unterliegt. Als das für ihn zuständige Finanzamt MünchenOst 1934 die Zahlung von Steuern für die seit 1933 sprunghaft gestiegenen Einkünfte aus der schriftstellerischen Tätigkeit, insbesondere aus dem Verkauf von „Mein Kampf“ anmahnt, teilt Mirre, der Präsident des Landesfinanzamtes und bald Präsident des RFH, dem Vorsteher des Finanzamtes mit, „daß nach der staatsrechtlichen Stellung des Führers eine Steuerpflicht nicht vorliegt und daß es eine staatspolitische Frage ist, ob und wieweit der Führer einem Steuerpflichtigen gleichgestellt wird“.34 Noch im Entnazifizierungsverfahren Mirres setzt sich die Kammer über ein von ihr angefordertes Rechtsgutachten hinweg, die Befreiung Hitlers von der Steuerpflicht durch einen Verwaltungsakt statt durch ein Gesetz sei rechtswidrig und macht sich die Sichtweise Mirres zu eigen, es sei „ein völlig unmöglicher Gedanke, daß ich gegen den Mann, der mich ohne weiteres erschießen lassen konnte, […] mit Verfügung oder gar Vollstreckung oder auch nur Stundung vorgehen könnte“.35 Im Befehlston lässt Staatssekretär Reinhardt 1936 den Präsidenten des RFH wissen, das Programm des StAnpG könne nur durchgeführt werden, „wenn der Reichsmen in mancher Hinsicht von den fiskalischen ,Erfolgen‘ seiner Tätigkeit beeinflußt“ werde, besitze nicht die notwendige Unabhängigkeit. 32 StAnpG v. 16. 10. 1934, RGBl 1934 I 925. 33 In einem Umlauf v. 04. 10. 1934 als stellvertretender Präsident des RFH (Bundesarchiv, Bestand vorl. R 37/11 Bl. 25). 34 „Vermögensteuer-Akte“ betr. Adolf Hitler, Schriftsteller in München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Nachlass Ehard, Nr. 100; Handschreiben Mirres lose in der Akte. 35 Das 1948 von Prof. Terhalle erstattete Gutachten und die Stellungnahme Mirres von 1946 finden sich in der Entnazifizierungsakte, Staatsarchiv München, SpKA, Kart. 1180.
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finanzhof mit mir zusammenarbeitet und mir bei der Auslegung der Steuergesetze und bei der Beurteilung von Tatbeständen nach nationalsozialistischer Weltanschauung zur Seite steht“.36 Widerhall findet er damit in der Verwaltung bei der Fachschaft Reichssteuerverwaltung im „Amt für Beamte der NSDAP“. Sie macht sich nicht nur das Erneuerungsprogramm bedingungslos zu eigen, sondern lässt es auch an Ausfällen gegen die rückständige Rechtsprechung sowie den „jüdischen Geist“ nicht fehlen.37 Der RFH selbst bleibt in seiner Praxis zurückhaltend. Er lehnt ab, in Einzelfällen über die Regelung des StAnpG gesetzliche Regelungen außer Kraft zu setzen und hält es für unzulässig, einem nach dem „Umbruch“ ordnungsgemäß erlassenen Gesetz die Geltung deshalb abzusprechen, weil es der nationalsozialistischen Weltanschauung zuwiderlaufe.38 Ein eigenes Kapitel liegt schließlich in der Verantwortung der Reichsfinanzverwaltung für die bedenkenlose Enteignung des jüdischen39 wie etwa auch des nach dem 20. Juli 1944 eingezogenen Vermögens.40 Grundsätzlich abweichend von der Kontinuitätsfrage im Strafrecht stellt sich das Problem der Weitergeltung des Steuerrechts nach 1945 dar. Was die Gerichtsbarkeit angeht, bleibt das Reichsgericht geschlossen und kann sich ein für die Britische Zone errichteter Oberster Gerichtshof nur in dem kurzen Interregnum bis zur Konstituierung des BGH entfalten. Dagegen dominieren in der Finanzgerichtsbarkeit Kontinuitäten: über die treuhänderische Verwaltung des RFH durch einen Obersten Finanzhof bis zur Überleitung auf den BFH, personell durch die weitgehende Identität der Richter, und auch die vom RFH begründete Amtliche Sammlung der Entscheidungen läuft – bis in die Gegenwart – weiter. Kontinuitäten bestimmen auch das Steuerrecht.41 Während im Strafrecht einzelne Gesetze als „typisch nationalsozialistisch“ aufgehoben werden, spricht im Steuer36
Erlass vom 21. 08. 1936 (Bundesarchiv, Bestand vorl. R 37/50, Bl. 313 f.; Schreibweise original). 37 Bornmann droht dem RFH, nicht länger hinzunehmen, dass dieser sich, bereits früher von „jüdisch-liberalistischen Geist“ beherrscht, immer noch nicht als „Gehilfe der Reichsfinanzverwaltung“ verstanden habe (StWa [Steuer-Warte] 1938, 652, 653); Backhaus kritisiert die Verwertung „wurzelloser jüdischer Gelehrsamkeit“ durch den RFH (StWa 1936, 434 f.). 38 Z.B. RFH, RStBl 1936, 919, 920 und 1939, 204, 205; für den zweiten angeführten Fall RFH, RStBl 1938, 1076, 1077. 39 Ausgangspunkt ist die VO vom 03. 12. 1938 über den Einsatz des jüdischen Vermögens (RGBl 1938 I, 1709 ff.). Im Bestand des Instituts für Zeitgeschichte z. B. Vermerk des RMF vom 26. 03. 1941 betr. 2 Kisten mit Gold und Juwelen aus dem Pariser Rothschild-Besitz zur Übergabe an Göring (NG 4063); Vermerk vom 16. 11. 1944 betr. Verbuchung und Abwicklung der in den Konzentrationslagern angefallenen Judenvermögen (NG 4097); Vermerk der Dresdner Bank über eine Besprechung im RFM betr. Judengrundstücke, die auch an Hinterbliebene von Frontkämpfern nicht abgegeben werden, vom Januar 1944 (NID 6443). 40 Im Bestand des Instituts für Zeitgeschichte behandeln Nürnberger Dokumente die „Behandlung des [durch den Volksgerichtshof eingezogenen] Vermögens der Verbrecher des 20. Juli 1944“ (MA 331, Sept. bis Dez. 1944 und Fa 116 vom 13. 11. 1944). 41 Gleiches gilt etwa auch für das Verwaltungsstrafrecht, kennt doch die Kriegszeit eine ebenso intensive Reglementierung wie die Nachkriegszeit, vgl. Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 2, 1994, S. 297 ff.
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recht das fiskalische Interesse an der Sicherung des Steueraufkommens in der schwierigen Nachkriegszeit für seine grundsätzliche Weitergeltung. Das mit der Abkehr vom Nationalsozialismus verbundene Verbot, den mit dem StAnpG verbundenen Primat des Gemeinnutzens weiter zu propagieren, beschränkt sich auf die Handhabung der Normen und berührt nicht ihre grundsätzliche Legitimität. Bezeichnend verwirft das Kontrollratsgesetz Nr. 12 methodisch die Vereinnahmung des Steuerpflichtigen aus nationalsozialistischem Geist, um gleichzeitig eine Vereinnahmung unter umgekehrtem politischen Vorzeichen im demokratischen Geist noch zu steigern. Als Konsequenz gilt auch ein anrüchiges Gesetz wie das über die Reichsfluchtsteuer als weiterhin gültig. In krasser Fiskalität und jedem historischen Bewusstsein unzugänglich, zieht ein Erlass der Gemeinsamen Steuer- und Zollabteilung noch 4 Jahre nach dem Krieg die Konsequenz, würde jetzt noch ein Jude aus Deutschland auswandern, unterliege er der Fluchtsteuer, und ein bereits geleisteter Betrag könne nicht erstattet, jedoch ein noch nicht erhobener erlassen werden.42 Dass diese Steuer durch Notverordnung von 1931 eingeführt ist und einen Vorläufer im Gesetz von 1918 besitzt, macht sie jetzt offenbar unverdächtig und lässt die ausweitende judenfeindliche Handhabung als zeitgebundenen, jetzt nicht mehr zu befürchtenden Missbrauch erscheinen.43
VII. Zum aktuellen Zustand des Steuerstrafrechts Die Verbindung von Steuerrecht und Strafrecht bildet eine brüchige Konjunktion. § 370 AO ist nicht nur problematisch, weil er eine unselbständige Strafnorm darstellt, sondern weil er zwei unterschiedliche Rechtsgebiete aufeinander beziehen muss. Steuerrecht und Strafrecht verfolgen, wie an Hand des vorstehend Erörterten deutlich wird, unterschiedliche Ziele: im Steuerrecht die Gleichheit der normativen Steuerpflicht und ihrer Durchsetzung im Veranlagungsverfahren, im Strafrecht die Wahrung der generalpräventiven Wirkung der Norm durch die Sanktionierung des Verhaltens am Maßstab eines schuldgerechten Ausgleichs.44 Wie die in die Geschichte verlängerte Retrospektive im Steuerrecht zeigt, bleibt hier bestimmend die fiskalisch motivierte Sicherung eines gleichmäßigen Steueraufkommens und methodisch in der Rechtsanwendung die Wendung von einem positivistischen Verständnis zu einer am Zweck der Norm unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse orientierten Sichtweise. Im Strafrecht begegnet dagegen die Ausrichtung an der gesetzlichen wie ver42
Erlass vom 30. 03. 1949, DB 1949, 211. NotVO vom 08. 12. 1931 Tl. 7 Kap. III (RGBl 1931 I, 699, 731 ff.); Gesetz vom 26. 07. 1918 (RGBl 1918, 951 ff.); erst das Gesetz vom 23. 07. 1953 § 1 (BGBl. 1953 I, 689) hebt die Bestimmungen über die Fluchtsteuer förmlich auf. Zutreffend sieht Simson in der Praxis, gerade Juden die Berufung auf den Befreiungstatbestand abzuschneiden, ihre Auswanderung liege im deutschen Interesse (vgl. dazu 1933 RFHE 35, 52 ff., RFH, RStBl 1937, 949), einen Rechtsbruch. 44 So am Beispiel von „Paketlösungen“ im Steuerstrafverfahren Seer, FS Kohlmann, 2003, S. 535, 544 f. 43
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fassungsrechtlichen Bestimmtheit der Voraussetzungen des Strafens (Art. 103 Abs. 1 GG, § 1 StGB) und die Suche nach der individuellen Schuld.45 Diese Suche setzt insbesondere eine hinreichende Beschäftigung mit der subjektiven Tatseite voraus. Auch hier verfolgt das Abgabenstrafrecht einen Sonderweg. Bezogen auf die allgemeine Entwicklung, hat sich das Schuldprinzip in diesem Bereich erst spät durchsetzen können. In Regelungen des 19. Jahrhunderts wurde das Verschulden vermutet und blieb, wenn die Vermutung widerlegt werden konnte, noch die Sanktion wegen einer sog. Ordnungsstrafe. Diese knüpfte ausschließlich an die objektive Zuwiderhandlung an. Die Begründung auch für eine gefestigte Praxis des Reichsgerichts findet sich bereits in der ersten einschlägigen Entscheidung aus dem Jahre 1882: „Der Staat ist gleichmäßig dabei interessiert, daß die ihm zukommenden Abgaben ihm nicht geflissentlich entzogen werden, wie daß die Entrichtung derselben nicht aus Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit, Unkenntnis und dergleichen Motiven unterbleibt. Deshalb muß er Art und Umfang der Kontributionspflicht als bekannt voraussetzen, und die Einrede, die Abgabe sei aus Unkenntnis, Versehen, Irrtum, ohne böse Absicht, nicht entrichtet worden, unbeachtet lassen“.46 Diese Form der Gesetzesanwendung trägt die Züge einer Zweckbegründung und belegt inhaltlich eine verhängnisvolle Orientierung an einem fiskalischen Denken. Sie wird unhaltbar, als das Reichsgericht beginnt, in den Kategorien der von ihm entwickelten Irrtumslehre den Irrtum über steuerrechtliche Vorschriften für das Steuerstrafrecht als außerstrafrechtlichen und damit beachtlichen, den Vorsatz ausschließenden Irrtum zu werten. Auf dem Boden der Vorsatztheorie differenziert die Regelung der Hinterziehung in der RAO von 1931 danach, ob der Irrtum verschuldet war, und lässt den Täter, der die Tat wegen eines nicht verschuldeten Irrtums über das Bestehen oder die Anwendbarkeit steuerrechtlicher Vorschriften für erlaubt gehalten hat, straffrei (§ 395 Abs. 1). Wenn der BGH 1952 diese Irrtumslehre verabschiedet und im Sinne der Schuldtheorie nach Tatbestands- und Verbotsirrtum differenziert,47 hält Welzel in Konsequenz dieser Entscheidung § 395 RAO nicht nur für irreführend, sondern für überflüssig und wertet den Irrtum über die Existenz eines Steueranspruchs als einen den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum, bis dann der BGH 1953 die Auffassung des Großen Strafsenats unter Bezug auf Welzel auch auf das Steuerstrafrecht anwendet.48 Gerade grundlegenden Fragen der subjektiven Tatseite wie der Strafzumessung gilt in einer Vielzahl von Veröffentlichungen das besondere Interesse von Wolfgang
45 Zur aktuellen Diskussion Jäger, DStZ 2012, 737 ff.; Weber, BB 2012, 2540 ff.; Meyberg, PStR 2011, 308 ff.; Löwe-Krahl, PStR 2012, 66 ff. und insbesondere kritisch zum Nachweis des Vorsatzes Ransiek, wistra 2012, 365 ff. 46 RGSt 7, 240, 241; ebenso 1883: RGSt 8, 182, 184, 1886: RGSt 14, 145, 149, 1891: RGSt 21, 259 ff. und zusammenfassend 1897: RGSt 30, 363, 365. 47 Großer Strafsenat, BGHSt 2, 194, 197. 48 Welzel, NJW 1953, 486, 487 und BGHSt 5, 90, 92.
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Frisch, dem dieser Beitrag gewidmet ist.49 Die Entwicklung der Lehre von der Strafzumessung bei der Hinterziehung war kein unmittelbarer Gegenstand der Arbeiten von Wolfgang Frisch; sie wäre jedoch von ihm kritisiert worden. Ebenso wenig ist in einer der für die Gegenwart wichtigsten Fragen des Steuerstrafrechts anzunehmen, er hätte die von den Strafsachenstellen der Finanzverwaltung geübte Praxis gebilligt, eine Nacherklärung ohne weiteres als Selbstanzeige zu werten. Die Abgrenzung einer steuerlichen Nacherklärung gemäß § 153 AO von einer Selbstanzeige im Sinne des § 371 AO bereitet weniger dogmatisch als praktisch erhebliche Schwierigkeiten. Im Ausgangspunkt schließen sich eine Nacherklärung und eine Selbstanzeige gegenseitig aus. Die Nacherklärung beruht darauf, dass der Steuerpflichtige nicht im Sinne der §§ 370, 369 AO i.V.m. § 15 StGB hinsichtlich der intellektuellen wie voluntativen Seite vorsätzlich zu spät erklärt hat, um Steuern zu verkürzen. Eine Selbstanzeige setzt dagegen voraus, dass er im Fall der §§ 370, 371 AO und unter Ausschluss des § 398 Abs. 1, 3 AO vorsätzlich Steuern verkürzt und damit neben dem objektiven auch den subjektiven Tatbestand der Verkürzung erfüllt hat. Der mit einer wirksamen Anzeige verbundene Effekt einer nachträglichen Aufhebung der Strafbarkeit läuft zwangsläufig leer, wenn bereits keine Strafbarkeit hinsichtlich der objektiven wie subjektiven Seite der Verkürzung gegeben ist. Wenn § 153 AO eingreift, sobald der Steuerpflichtige nachträglich, jedoch vor Ablauf der Festsetzungsfrist erkennt, dass die bereits abgegebene Erklärung unrichtig ist und es dadurch zu einer Verkürzung kommen kann bzw. gekommen ist, betrifft das sämtliche Fälle nicht vorsätzlicher Veranlassung der Unrichtigkeit, beruhen sie dabei auf einfacher Fahrlässigkeit, auf Leichtfertigkeit im Sinne des § 398 AO oder überhaupt auf fehlendem Verschulden. Wie problematisch, aber auch wie entscheidend die Abgrenzung für das weitere Verfahren ist, wird aus der Regelung deutlich, die der BMF mit der für seinen Bereich, nicht für den der Justiz verbindlichen AStBV (St), d. h. den Anweisungen für das Straf- und Bußgeldverfahren in Steuersachen erlassen hat. Ohne auf grundsätzlich Einwände gegen die Regelung einzugehen,50 heißt es, als solche bezeichnete oder erkennbare Selbstanzeigen seien der Bußgeld- und Strafsachenstelle zuzuleiten, Erklärungen, die zweifelsfrei im Sinne des § 153 AO auf nachträglichen Erkenntnissen beruhten, dagegen nicht (Nr. 132 Abs. 1 Satz 1, 3). 49
Zu nennen sind in diesem Zusammenhang nur: Verwaltungsakzessorietät und Tatbestandsverständnis im Umweltstrafrecht, 1993; Offene Fragen des dolus eventualis, NStZ 1991, 23 ff.; Gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven der Strafzumessungsdogmatik, ZStW 99 (1987), 349 ff., 751 ff.; Wesentliche Voraussetzungen der Strafbarkeit im rechtsstaatlichen Strafrecht, in: Diskussionsbeiträge zum Entwurf des türkischen Strafgesetzbuchs, 1998; Hintergrund, Grundlinien und Probleme der Lehre von der tatproportionalen Strafe, in: Frisch/ v. Hirsch/Albrecht, Tatproportionalität, 2003, S. 1 ff. 50 Angreifbar bleibt insbesondere die unzureichende Orientierung an der Verfassung, wenn AStBV Nr. 1 Abs. 2 Satz 3 unter den allgemein anwendbaren Gesetzen zwar StGB, StPO, GVG, GKG und selbst das JGG aufführt, jedoch nicht das GG, wenn Nr. 2 hinsichtlich des fundamentalen Rechts auf Gehör nicht Art. 103 Abs. 1 GG erwähnt, oder wenn sich bei der Behandlung der nach den Grundlagen des § 46 StGB zu bemessenden Sanktionen in Nr. 75 Abs. 1 Satz 4 die Wendung findet, die Strafe müsse den Täter wegen des begangenen Unrechts „fühlbar treffen“ (veröffentlicht in der Fassung von 2011 in BStBl I 2011, 1000 ff.).
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Die Novellierung der Bestimmung in der Fassung vom 30. 10. 2012 (AStBV (St) 2013) fügt den Absatz an: „Bei der Umsatz- und Lohnsteuer sind berichtigte oder verspätet abgegebene Steuer(vor)anmeldungen nur in begründeten Einzelfällen an die BuStra weiterzuleiten. Kurzfristige Terminüberschreitungen und geringfügige Abweichungen sind unschädlich, es sei denn, es bestehen zusätzliche Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung. Liegen derartige Anhaltspunkte vor, kann die Abgabe einer vollständigen und richtigen Umsatzsteuerjahreserklärung als Selbstanzeige hinsichtlich unrichtiger, unvollständiger oder unterlassener Angaben in den zuvor abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldungen dieses Jahres gewertet werden. Für die Wirksamkeit der Selbstanzeige bedarf es dann keiner gesonderten Korrektur des einzelnen Voranmeldungszeitraums.“51 Zeichnet sich damit eine Lösung für ein die Praxis beherrschendes Problem ab, soll abschließend als bloßer Ausblick ein Blick auf die künftige Behandlung des Steuerstrafrechts geworfen werden. Wie die Entwicklung des Steuerrechts und jüngste politisch motivierte Eingriffe in das Recht der Selbstanzeige verdeutlichen, befindet sich das Steuerstrafrecht in einer Krise. Seine Handhabung erzwingt Kompromisse, um sowohl der durch das Steuerrecht zu verwirklichenden gleichmäßigen Verteilung der Steuerlast als den Anforderungen an ein Schuldstrafrecht gerecht zu werden. Soll beides in der Gegenwart geleistet werden, kommt es darauf an, massenhafte Fälle wie die eines schlichten Versehens bei Erklärungen oder ihrer nicht bedeutend verzögerten Abgabe im Verwaltungswege zu erledigen, so wie gegenwärtig eine nur leichtfertige Verkürzung gemäß § 378 AO als Ordnungswidrigkeit behandelt wird.52Anders bei gravierenden Verstößen gegen das durch das Steuerstrafrecht geschützte Rechtsgut. Die vom Gesetzgeber in § 370 Abs. 3 Nr. 1 – 5 benannten Regelbeispiele geben Anhaltspunkte für die vom Gesetzgeber zur Orientierung benutzten Kriterien, so vor allem das Ausmaß der Verkürzung und die Begehung als Mitglied einer Bande und in der Praxis die Schaffung einer kriminellen Organisation wie bei Umsatzsteuerkarussellen. Das Instrumentarium des Strafrechts in diesem Bereich wirkungsvoll einzusetzen, und nicht Rechtsinstitute wie die Selbstanzeige an einem Feindstrafrecht zu messen, wird über die Effizienz der strafrechtlichen Verfolgung entscheiden.
51 Dass die Neufassung nicht im BStBl, wie üblich, bekanntgemacht, sondern nur über das Internet abrufbar ist, spricht für sich und erweckt den Verdacht, die Neufassung solle nicht publik werden; vgl. inzwischen BStBl I 2012, 1018, 1052 f. 52 Zur Anwendbarkeit der allgemeinen Lehren des Strafrechts über § 10 OWiG und zum Charakter als selbständig zu entwickelndem Tatbestand, nicht etwa als Auffangtatbestand in Fällen einer nicht nachweisbaren vorsätzlichen Verkürzung Rüping, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, FGO (Stand: 2006) § 378 AO Rz. 7, 8.
IV. Sanktionsrecht und Strafzumessung
Kriminalprognosen – Entwicklungen und Stand der Forschung Von Hans-Jörg Albrecht
I. Wahrscheinlichkeit, Risiko und Akteure Wolfgang Frisch hat sich im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere immer wieder mit Fragestellungen der (Kriminal) Prognose befasst1. Dabei galt seine Aufmerksamkeit den kriminologischen Grundlagen der Prognose, insbesondere aber der Frage, wie ein in den Sanktions-, Vollstreckungs- und Vollzugsnormen auf Individualprävention und das heißt Rückfallvermeidung angelegtes (modernes) Strafrecht vor dem Hintergrund nicht-deterministischer Theorien und dadurch bedingter Unsicherheit überzeugend ausgelegt und angewendet werden kann. Dabei hat Wolfgang Frisch der strafrechtlichen Behandlung der Prognose besondere Defizite bescheinigt, dies deshalb, weil sich die (immer noch) vorherrschende Interpretation der eine Prognose fordernden strafrechtlichen Normen in aus seiner Sicht nicht zielführenden Diskursen zu Wahrscheinlichkeitsaussagen erschöpfe2. Das Unbehagen an der Kriminalprognose entsteht für Wolfgang Frisch demnach zunächst durch das gut nachvollziehbare Problem, Verurteilten gegenüber die für sie nachteiligen Entscheidungen mit einer Wahrscheinlichkeitsaussage zu begründen (und zu legitimieren), in der sowohl die Zugehörigkeit zur Gruppe der Rückfälligen wie auch der Nichtrückfälligen angelegt ist3. Dies ist nicht lediglich ein Problem der so genannten statistischen Prognose, sondern auch mit intuitiven oder klinischen Prognosen verbunden, da auch Ärzte und Psychiater, nicht anders wie Richter und Staatsanwälte in der (intuitiven) Einschätzung zukünftiger Entwicklungen auf ihre je eigenen Erfahrungen (mit in den Ausgangsbedingungen vergleichbaren Fällen) zurückgreifen und Bezug nehmen. Da eine dramatische Reduzierung der in Prognosen angelegten Unsicherheit (zu Recht) nicht erwartet wird, geht der Lösungsansatz von Wolfgang Frisch hin zu dem Versuch, Risikosachverhalte in subsumtionsfähige und deshalb nachvollziehbare und le1 Vgl. nur Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht. Zur normativen Relevanz empirischen Wissens und zur Entscheidung bei Nichtwissen, 1983; ders., Strafverteidiger 9 (1988), 359 – 367; ders., Recht und Psychiatrie 1992, 110 – 123; ders., in: Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994. 2 Frisch (Fn. 1), 1983. 3 Frisch, in: Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994, S. 55 – 136, S. 69.
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gitimierbare Konzepte zu transformieren. Das Ziel besteht in der Herstellung von Legitimation der Entscheidung in einem Einzelfall. Dass durch eine an Wahrscheinlichkeitsaussagen gebundene Entscheidung in der Strafjustiz (im Kern über die Dauer des Freiheitsentzugs) Unbehagen ausgelöst wird, ist gut nachvollziehbar. Denn bereits die Kommunikation über Rückfallwahrscheinlichkeiten zeigt mit der Verwendung elastischer Begrifflichkeit (gewisse Wahrscheinlichkeit, Chance, überwiegende Wahrscheinlichkeit etc.), die dann in Zuschreibungen wie verantwortbar, Gefahr und Gefährlichkeit münden, an, dass die Überlegungen um Unsicherheit und Nichtwissen kreisen. In der Alltagspraxis der Strafjustiz und bei Entscheidungen nach §§ 47, 56 oder zu den Lockerungsvorschriften der Strafvollzugsgesetze, dies hat Wolfgang Frisch nachgewiesen, sind über intuitive Einschätzungen der weiteren Entwicklungen hinaus keine sachverständig begründeten Prognosen möglich. Dem stehen Kosten einerseits und das Verhältnismäßigkeitsgebot andererseits entgegen. Jedoch bleiben auch dort, wo Sachverständige – wie beispw. bei der Maßregelanordnung oder der Entlassung aus Maßregeln – gehört werden müssen, eben in der Regel kaum konkretisierbare und in eine überzeugende Kommunikation umsetzbare Aussagen. Entscheidungen, die auf die Rückfallwahrscheinlichkeit Bezug nehmen, werden zudem durch Bewertungen der Schwere erwarteter Straftaten sowie die sich wandelnde Sensibilität für bestimmte Straftaten belastet. Dies erklärt sich nicht nur daraus, dass zu viele Bedingungen unbekannt sind, darunter auch Bedingungen, die erst durch strafrechtliche Entscheidungen sowie alternative Entscheidungsoptionen und damit verbundene Möglichkeiten des Risikomanagements gesetzt werden. Straftaten sind eben das Ergebnis von Entscheidungen und die neueren Resultate der Lebenslaufsforschung zeigen, dass bei denselben Ausgangsbedingungen ganz unterschiedliche Verläufe möglich sind. Menschen sind nicht in (durch soziale Strukturen und individuelle Dispositionen) vorbestimmte Verläufe eingeschlossen und deshalb unfähig, sich aus Verläufen zu befreien. Dies wird vor allem in den Untersuchungen von Sampson und Laub betont, die in der Nachuntersuchung der Glueck’schen Studienteilnehmer aus den 1960er Jahren Lebenswege vom Kindheits-/Jugendalter bis in das Alter verfolgen konnten. Die Beobachtung erheblicher Heterogenität in Lebensverläufen erschwert demnach eine längerfristige Vorhersage der Verläufe auf der Grundlage der Ausgangsbedingungen4. Angesichts dieser Befunde wird das von Wolfgang Frisch beschriebene Problem einerseits umso deutlicher. Andererseits wird die Antwort allerdings nicht darin bestehen können, auf Prognosen (und Wahrscheinlichkeitsaussagen) insbesondere dann zu verzichten, wenn die Frage der Anordnung von Maßregeln oder der vorzeitigen Entlassung aus Maßregeln oder aus langer Freiheitsstrafe im Raum steht. Dies wäre nur dann möglich, wenn Entscheidungen über die Dauer des Freiheitsentzugs oder über Vollzugslockerungen allein an vergangene Straftaten (Verurteilungen) oder die als Voraussetzungen für §§ 63, 64 StGB genannten Zustände geknüpft würden. 4
Laub/Sampson, Shared Beginnings, Divergent Lives. Delinquent Boys to age 70, 2003.
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Damit verbunden wäre im Wesentlichen eine Strafverschärfung, sichernde Freiheitsentziehung oder restriktive Vollzugsgestaltung bei bestimmten Ausprägungen des Rückfalls. Eine derartige Strategie gegenüber als besonders gefährlich erachteten Straftaten (und Straftätern) ist international und als Alternative zu den Gefährlichkeitsprognosen fordernden zweispurigen Sanktionssystemen durchaus nicht selten, wie jüngst eine vergleichende Untersuchung belegt hat5. Doch dürfte es sich hier im Kern um eine Sicherungsstrategie handeln, die in Nordamerika als „categorical incapacitation“ bezeichnet und nicht zuletzt mit den in den USA stark ansteigenden Gefangenenzahlen in Zusammenhang gebracht wird6.
II. Entwicklungen kriminologischer Prognoseforschung Die Kriminologie selbst hat der Fragestellung der Gefährlichkeit und der Kriminalprognose bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Diskussion ging kaum über Fragen der einfachen Rückfallprognosen hinaus und auf methodische und theoretische Probleme der Gefährlichkeitsprognose im Engeren ein7. Systematische Forschungen mit dem Ziel der Entwicklung von Prognoseinstrumenten und der Analyse der Praxis der Prognosestellung setzen in Deutschland (wie auch in anderen europäischen Ländern) erst in den 1990er Jahren ein. Mit der damals entstehenden Aufmerksamkeit für rückfällige Sexualstraftäter wenden sich aber andere Disziplinen, nämlich die forensische Psychologie und Psychiatrie, der Anpassung und Entwicklung aktuarischer Prognoseinstrumente zu, die zumeist aus den USA oder Kanada übernommen werden. Erst 2007 kommt es im Übrigen in Deutschland zur Veröffentlichung von „Mindestanforderungen an Prognosegutachten“, die von einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der forensischen Wissenschaften, der Strafrechtswissenschaften und der Strafjustiz ausgearbeitet wurden8. Die Entwicklung von (aktuarischen) Instrumenten, mit denen Straftäter auf ihr Risikopotenzial im Hinblick auf den Rückfall und dessen Schwere eingestuft werden können, wird in verschiedenen Disziplinen (insbesondere Forensische Psychiatrie und Psychologie) sowie Berufsgruppen (der Bewährungshilfe und des Strafvollzugs) wegen des zunehmenden praktischen Bedarfs an Sicherheit (für die Gesellschaft wie für die in Entscheidungen einbezogenen Berufe) aufgegriffen und in der jeweiligen Beratungs-, Sachverständigen- und Entscheidungspraxis implementiert9. Neben Anpassungen von in den USA oder Ka5
Koch, in: ders. (Hrsg.), Wegsperren?, 2011, S. 493 – 543, S. 504 ff. Brodeur, in: Kurz-Milcke/Gigerenzer (Hrsg.), Experts in Science and Society, 2004, S. 123 – 159. 7 Zur Prognoseforschung in den 1960er Jahren vgl. Meyer, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 48 (1965), 225 – 246. 8 Boetticher u. a., Forensische Psychiatrie, Psychologie Kriminologie 1 (2007), 90 – 100. 9 Vgl. beispw. Sjöstedt/Langström, Law and Human Behavior 25 (2001), 629 – 645; van der Knaap, Predictive validity of the Recidivism Risk Assessment Scales (RISc). WODC, 2009 für die niederländische Bewährungshilfe; Belfrage, Law and Human Behavior (Published 6
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nada entstandenen Instrumenten kommt es nunmehr auch in europäischen Ländern zur Entwicklung von eigenständigen Prognoseinstrumenten10. Dabei spielt eine besondere Rolle die Risikoeinschätzung anlässlich von Unterbringungsverfahren (oder Entlassung) bei Geisteskrankheit (bzw. generell psychiatrisch relevanten Diagnosen)11. Mit der besonderen rechtspolitischen Aufmerksamkeit für Sexualkriminalität verlagern sich die Bemühungen nunmehr auf die Entwicklung von spezifischen Prognoseinstrumenten zur sexuellen Gewalt. Jedenfalls besteht heute kein Mangel an statistischen bzw. aktuarischen Prognoseinstrumenten. Neben dem Violence Risk Appraisal Guide (VRAG) und Sex Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) finden sich die Offender Group Reconviction Scale (OGRS), Fotres, Static-99 sowie Psychopathieskalen12. Die Validität dieser Prognoseinstrumente wird über die Treffsicherheit dargestellt. Zwar ist es richtig, dass die „Prognoseerstellung im forensischen Kontext … weniger mit der Frage zu tun, ob sie richtig oder falsch im Sinne des späteren Eintritts eines Ereignisses ist“13, denn die Feststellung eines 50 %igen Rückfallrisikos enthält natürlich keine Aussage darüber, ob die so eingeordnete (und einer Risikogruppe zugeordnete) Person in die eine oder in die andere Hälfte fällt. Unabhängig davon, welche Entscheidungen im Hinblick auf Straftaten eine Person in der Zukunft dann trifft, wird die Prognose (ist sie gemäß den aktuellen Standards erstellt) dann eben richtig sein und auch richtig bleiben. Doch entstehen bei zu Entscheidungen führenden Prognosen Zuordnungen, die nach Zeitablauf zu der Feststellung führen, eine andere Entscheidung wäre die Bessere gewesen. Angesprochen ist hier das Fehlerpotenzial einer Prognose, das die Prognose nicht zu einer unrichtigen Prognose macht (ebenso wenig wie eine medizinische Behandlung allein deshalb falsch wird, weil der erwartete (prognostizierte) Effekt nicht eintritt. Für die Entscheidung über die Anordnung von Maßregeln, ihre Aussetzung oder die Gestaltung des Vollzugs bekommen Fehlerpotenziale aber zentrale Bedeutung, da die Zuordnung zur Risikogruppe mit Entscheidungsoptionen verknüpft ist, die auf weitere Entscheidungskriterien Bezug nehmen. Denn für die Entscheider ist ausschlaggebend, mit welcher Häufigkeit bei einer Risikozuordnung die Entscheidung für die Nichtanordnung der online März 2011) für die schwedische Polizei und die Einschätzung des Risikos häuslicher Gewalt; für Deutschland zusammenfassend Nedopil, Prognosen in der Forensischen Psychiatrie – Ein Handbuch für die Praxis, 2005; Dahle, in: Kröber u. a. (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie, 2006, S. 1 – 68. 10 Rossegger u. a., International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology 55 (2011), 716 – 731. 11 Vgl. Monahan u. a., Psychiatric Services 56 (2005), 810 – 815. 12 Vgl. die Übersichten in Rossegger u. a., International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology 55 (2011), 716 – 731; ferner zusammenfassend insbesondere für auf junge Straftäter angewendete Instrumente Quenzer, Jugendliche und heranwachsende Sexualstraftäter. Eine empirische Studie über Rückfälligkeit und Risikofaktoren im Vergleich zu Gewaltstraftätern, 2010, S. 30 ff. 13 Eher u. a., Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Published online 10. 12. 2011.
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Maßregel mit der Konsequenz schwerer Kriminalität verknüpft sein wird und mit welcher Häufigkeit Personen verwahrt werden, obwohl sie in Freiheit keine Straftaten mehr begehen würden. Es stehen hier also Abwägungen zwischen Interessen an Freiheit und Sicherheit und damit normative Entscheidungen an, für die die Prognose keinen relevanten Beitrag leisten kann. Das Fehlerpotenzial verliert seine (normative) Relevanz nur dann, wenn auf eine durch eine Prognose gestaltete Auswahl verzichtet, kategoriell entschieden und die Begründung der Klassifizierung auf andere als präventive Erwägungen verschoben würde. In der internationalen Kriminalpolitik sind in den letzten Jahrzehnten zwar durchaus Tendenzen zu beobachten, die darauf zielen, das Strafrecht und die Strafjustiz von Prognosen und der dadurch gesteuerten Auswahl zu entlasten (insbesondere bei der vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug). Doch bleibt es vor allem dort, wo es um strafrechtliche Beiträge zur Sicherheit geht, bei dem Erfordernis von Prognosen, die erst die Voraussetzungen für (begründbare) Abwägungen schaffen können. In den grundsätzlichen Aussagen unterscheiden sich die verschiedenen Prognosearten nicht. Sowohl intuitive und klinische Prognosen (wie auch immer angereichert durch weitere Instrumente), als auch strikt aktuarische Verfahren kommen immer zu der Aussage, dass einer Person ein hohes, ein mittleres oder ein geringes Rückfallrisiko zuzuordnen ist, oder dass eine Person mit hoher Wahrscheinlichkeit oder mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit in der Zukunft Straftaten begehen wird. Die Aussagen können auch auf Begriffe wie Chance oder Gefährlichkeit Bezug nehmen. Die Unterschiede bestehen allein in der Art und Weise der Begründung der Aussage, der Nachvollziehbarkeit und in der empirisch belegten Validität von Prädiktoren (des Rückfalls) sowie in der nachvollziehbaren, das heißt überprüfbaren Darstellung der Einordnung in numerische Wahrscheinlichkeiten und in quantifizierte Risiken. Eine Prognose kann verschiedene Resultate nach sich ziehen: (1) Das Resultat einer Prognose kann zutreffen. Wenn die Prognose aber mit dem Ereignis nicht übereinstimmt, dann kann der Fehler zwei Formen annehmen. Wurde in der Prognose vorhergesagt, dass ein Ereignis nicht auftreten wird, tritt das Ereignis aber ein, dann wird dieser Fehler als „falscher Negativer“ bezeichnet. Wurde in der Prognose vorhergesagt, dass ein Ereignis auftreten wird und tritt dieses Ereignis nicht ein, dann handelt es sich um einen falschen positiven Fall. Die Antwort auf die Frage, welcher Fehler reduziert werden soll, hängt nun von einer Reihe von Bedingungen ab, die auf die Art der Gefahr, die politischen Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Reizbarkeit, Kosten und die verfassungsrechtlichen sowie strafrechtlichen Rahmenbedingungen verweisen. Geht es um die Frage, welche strafrechtliche Sanktion verhängt werden soll oder ob eine Entlassung aus dem Strafvollzug oder einer psychiatrischen Einrichtung erfolgen darf, wird eine auf Sicherheit bedachte Strafjustiz sich wohl tendenziell stärker an der Vermeidung falscher Negativer orientieren. So könnte man jedenfalls eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts interpretieren, in der verlangt wird, dass die Strafaussetzung nicht zu einem Rückfallmord führen
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darf14. Soll die Zahl falscher Negativer aber tatsächlich auf Null reduziert werden, dann wird dies zu einer drastischen Zunahme der Zahl falscher Positiver führen. Das Ausmaß an falschen Positiven und falschen Negativen hängt zuerst von der Basisrate des Ereignisses ab, das insgesamt oder in bestimmten Gruppen innerhalb eines festgelegten Zeitraums auftreten wird und das vermieden werden soll. Zum anderen ist das Ausmaß bedingt durch die Güte der Theorie, mit der ein Ereignis erklärt werden kann. Das Auftreten von schwerer Gewalt ist allerdings auch in stark selektierten Gruppen von wegen Gewaltdelikten (oder gewalttätigen Sexualdelikten) Verurteilten oder Untergebrachten recht selten. In Deutschland werden beispw. bei einer Bevölkerung von mehr als 80 Millionen pro Jahr etwa 100 Tötungsdelikte unter sich fremden Personen registriert15. Aus der Freiburger Kohortenuntersuchung ist bekannt, dass allgemeine polizeiliche Registrierungen (wegen aller Delikte) einen guten Prädiktor für erneute Straftaten (aller Art) darstellt. Bereits nach 5 polizeilichen Registrierungen liegt die Wahrscheinlichkeit einer weiteren polizeilich registrierten Tat über 80 %16. Zwar steigt auch die Wahrscheinlichkeit für eine Registrierung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung mit der Anzahl aller Vorregistrierungen. Allerdings erreicht die Wahrscheinlichkeit einer sexuellen Gewalttat selbst unter der extremen Vorraussetzung von über 50 (allgemeinen) Vorregistrierungen nur einen Wert von 3,4 %. Auch bei Vorliegen von 5 Registrierungen wegen Gewaltdelikten liegt die (bedingte) Wahrscheinlichkeit einer Vergewaltigung/sexuellen Nötigung erst bei etwas mehr als 5 %. Bei 4 vorherigen Registrierungen wegen gewalttätiger Sexualdelikte beläuft sich die Wahrscheinlichkeit eines weiteren sexuellen Gewaltdelikts auf 50 %. Jedoch handelt es sich bei der Gruppe mit 4 Vorregistrierungen wegen sexueller Gewalt nur noch um 8 Personen17. Insoweit ist auch nachvollziehbar, dass wegen niedriger Basisraten alle statistischen Prognoseinstrumente mit einer hohen Fehlerquote belastet sein müssen. Denn eine niedrige Basisrate führt zu einer Überschätzung des Risikos. Das Problem der systematischen Überschätzung des schweren Rückfalls ist gut bekannt und dokumentiert18. Dieser Befund deckt sich mit Erkenntnissen zum unzureichenden Zustand der Erklärung von Gewalt19. Unabhängig von den statistischen Prognoseinstrumenten ist das Resultat deshalb ein hoher Anteil von falschen Positiven, der auch deshalb nicht vermieden werden kann, weil die Kriterien nicht aus gut bestätigten 14 15
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BVerfGE NStZ 1998, 374. Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2010. Wiesbaden 2011, Tabelle 92,
16 Dieser über die Registrierungen bis zu einer bestimmten Grenze ansteigende Verlauf ist aus vielen Längsschnittstudien bekannt, wobei die Grenze ja nach Studie zwischen ca. 80 – 90 % variiert. 17 Für sexuelle Gewaltdelikte vgl. Albrecht/Grundies, in: Lösel/Bender/Jehle (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik. Entwicklungs- und Evaluationsforschung, 2007, S. 447 – 475. 18 Snowden u. a., Psychological Medicine 37 (2007), 1539 – 1549. 19 Albrecht, FS Schöch, 2010, S. 31 – 47.
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Theorien abgeleitet sind, sondern auf empirischen Zusammenhängen mit Gewalt (oder anderen Kriminalitätsformen), also bloßer Korrelationsforschung, beruhen. Insoweit überrascht auch nicht, dass früheren Auffälligkeiten (bzw. Vorstrafen) in aktuarischen Instrumenten eine besondere Relevanz zugemessen wird. Eine spezifische Diskussion über Gefährlichkeitsprognosen bildet sich zuerst in den USA aus. Die Debatten konzentrieren sich auf klinische Prognosen, deren Leistungsfähigkeit bei der Vorhersage von Gewalt Monahan 1981 mit der Bemerkung zusammenfasste, klinische (psychiatrische und psychologische) Prognosen träfen in höchstens einem von drei Fällen zu, gehe es um Personen, für die eine Geisteskrankheit festgestellt und für die eine hohe Belastung mit Gewalt in der Vergangenheit dokumentiert sei20. Jahre zuvor war in den USA bereits ein Aufsatz veröffentlicht worden, der klinischen Prognosegutachten die Treffsicherheit eines Münzenwurfs und demnach Zufallscharakter bescheinigte21. Ausgangspunkt für diese pessimistischen Betrachtungen waren Erfahrungen aus zwei „natürlichen“ Experimenten, die sich aus zwei Entscheidungen des Obersten Gerichts der USA ergaben (Baxstrom und Dixon). Die Entscheidungen führten zur Freilassung von hunderten als gefährlich beurteilter Insassen von Hochsicherheitsanstalten, die wegen Gewaltdelikten untergebracht waren22. Die Überprüfung von erneuter Auffälligkeit wegen Gewaltdelikten ergab eine recht geringe Quote von relevanten Vorfällen. Ganz überwiegend hatten sich die Entlassenen in strafrechtlicher Hinsicht unauffällig verhalten. Dies hat dann zur Frage geführt, ob bei einer extrem geringen „Basisrate“ schwerer Gewalt und einer erheblichen Überschätzung des (Wieder) Auftretens von Gewalt überhaupt Gefährlichkeitsprognosen durchgeführt werden dürfen23. Die Amerikanische Gesellschaft für Psychiatrie hat sich in einem Verfahren vor dem Obersten Gericht zur Frage der Zulässigkeit der Einführung von Sachverständigenaussagen zur Gefährlichkeit des Verurteilten als Voraussetzung für die Verhängung der Todesstrafe in einer „Amicus Curiae“ Stellungnahme gegen die Teilnahme von psychiatrischen Sachverständigen an derartigen Entscheidungen ausgesprochen. Dabei wurde maßgeblich darauf abgestellt, dass aktuarische Instrumente immer eine entscheidende Grundlage für Gefährlichkeitsprognosen darstellen müssen und dass Psychiater zu Fragen des langfristigen Auftretens von Gewalt auf der Basis aktuarischer Instrumente aus ihrer Ausbildung und vor dem Hintergrund des spezifischen psychiatrischen Wissens keine bedeutsamen interpretativen Beiträge zur Vorhersage schwerer Gewalt leisten könnten24. Auf der Grundlage des (damals) vorhandenen Wissens sei eine einigermaßen verlässliche Vorhersage des Auftretens von Gewalt nicht möglich 20 Monahan, The clinical prediction of violent behavior. National Institute of Mental Health, 1981. 21 Ennis/Litwack, California Law Review 62 (1974), 693 – 752. 22 Litwack u. a., in: Weiner/Hess (Hrsg.), Handbook of Forensic Psychology, 3. Aufl. 2006, S. 487 – 534, S. 491 f. 23 Quinsey, The Journal of Psychiatry 1980, 329 – 340. 24 American Psychiatric Association: Brief Amicus Curiae Barefoot v. Estelle, No. 826080, in The Supreme Court of the United States, Oktober 1982, Washington 1982, S. 3.
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und deshalb für die Psychiatrie auch ethisch nicht vertretbar. Vielmehr würden psychiatrische Sachverständigenaussagen eher dazu beitragen, die Geschworenen auf eine nicht mit wissenschaftlichen Standards vereinbare Art und Weise zu beeinflussen25.
III. Validität Untersuchungen zur Validität von Gefährlichkeitsprognosen sind aus nachvollziehbaren Gründen nur eingeschränkt durchführbar, da die rechtlichen Konsequenzen der Annahme von Gefährlichkeit in der Regel eine lange Freiheitsentziehung beinhalten. Dies erlaubt den Nachweis von falschen positiven Fällen nicht. Im Wesentlichen bleibt es deshalb bei der Überprüfung von Prognosen bei Entlassung aus dem Strafvollzug oder aus psychiatrischen Einrichtungen und nach einer Begutachtung bzw. Beurteilung auf der Basis klinischer Zugänge oder der Einstufung an Hand von statistischen Prognoseinstrumenten26. Eher selten ist es möglich, „natürliche“ Experimente zu nutzen, die – wie weiter oben angesprochen – aus obergerichtlichen Entscheidungen und dadurch bedingten Entlassungen von als gefährlich beurteilten Gefangenen folgen können. In Deutschland wurden in den letzten Jahren die restriktiven Voraussetzungen für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung in Form des Nachweises „neuer Tatsachen“ in zwei Untersuchungen dazu genutzt, die Gefährlichkeitsbeurteilung durch Staatsanwaltschaft und Sachverständige an Hand von solchen Fällen zu überprüfen, in denen Gefangene nach Ablehnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung durch ein Gericht entlassen worden waren. Die Analyse der Legalbewährung von zwischen 2004 und 2006 Entlassenen ergab bis Mitte 2008 für 77 Fälle keine erneute Verurteilung in 50 Fällen, 10 Verurteilungen zu Geldstrafe, 5 Verurteilungen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe und 12 Verurteilungen zu Freiheitsstrafe ohne Bewährung davon in drei Fällen mit erneuter Anordnung der Sicherungsverwahrung. Darunter befanden sich eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung und ein schwerer Missbrauch von Kindern. Hinzu treten eine Verurteilung wegen Körperverletzung und zwei weitere wegen Raubes (5 Fälle aus 77)27. In einer weiteren Untersuchung von Entlassenen, für die eine Gefährlichkeitsdiagnose vorlag, bei denen die nachträgliche Sicherungsverwahrung aber durch das Gericht nicht angeordnet worden war, zeigen sich vergleichbare Ergebnisse: drei Viertel der (jedenfalls von Strafvollzugsanstalt und Staatsanwaltschaft) als gefährlich eingeschätzten Insassen fallen entweder nicht mehr oder nur wegen leichterer Straftaten auf28. Der Anteil der (Rückfall)Verteilungen wegen schwerer Gewalt25 American Psychiatric Association: Brief Amicus Curiae Barefoot v. Estelle, No. 826080, in The Supreme Court of the United States, Oktober 1982, Washington 1982, S. 4. 26 Vgl. hierzu beispw. Quenzer, Jugendliche und heranwachsende Sexualstraftäter. Eine empirische Studie über Rückfälligkeit und Risikofaktoren im Vergleich mit Gewaltstraftätern, 2010. 27 Alex/Feltes, Forum Strafvollzug 59 (2010), 159 – 163, 160 f. 28 Müller u. a., Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 94 (2011), 253 – 263.
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taten entspricht in diesen „natürlichen“ Experimenten den Verteilungen in den Baxstrom und Dixon Fällen. Das Ergebnis des „natürlichen“ Experiments im Rahmen der nachträglichen Sicherungsverwahrung stützt die Annahme, dass Gefährlichkeitsbeurteilungen zu einer erheblichen Überschätzung des erneuten Auftretens schwerer Gewalt führen. Einschätzungen der Treffsicherheit von klinischer und aktuarischer Prognose, bzw. von Kombinationen verschiedener Prognosemethoden sind heute allerdings optimistischer als noch in den 1980er Jahren29. Jedenfalls wird davon ausgegangen, dass sowohl klinische als auch aktuarische Prognosen Ergebnisse liefern, die deutlich über dem Zufall (und damit über dem Münzwurf) liegen30. Dabei kann grundsätzlich von der Überlegenheit aktuarischer Prognosen im Vergleich zu klinischen Beurteilungen ausgegangen werden. Dass sich allerdings auch Annäherungen zwischen den Ergebnissen klinischer Beurteilung und denen bestimmter aktuarischer Verfahren zeigen können, folgt aus einer vergleichenden Untersuchung des Static-99 in England/Wales, der eine begrenzte Zahl von Merkmalen enthält, die sich im Schwerpunkt auf die kriminelle Vorgeschichte, die Tat und die Täter-Opfer-Beziehung beziehen und einer klinische Einschätzung des Rückfallrisikos von Gefangenen, die wegen Sexualdelikten zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren. Die Gefangenen wurden vor Entlassung zum einen einer klinischen Beurteilung des Rückfallrisikos durch die Mitglieder der dafür zuständigen Bewährungskommission (Parole Board) unterzogen und zum anderen wurde für jeden Gefangenen eine Einstufung auf der Grundlage des Static-99 vorgenommen. Nach einer Legalbewährungszeit von bis zu sechs Jahren wurde eine Rückfallquote wegen Sexualdelikten von etwa 10 % festgestellt. Alle Rückfalltäter waren von wenigstens einem Mitglied der Bewährungskommission als hohes Risiko eingestuft worden. Allerdings waren 9 von 10 Entlassenen, die von der Bewährungskommission als hohes Risiko eingestuft worden waren, nicht rückfällig geworden. Die Anwendung des Static-99 führte zu einer reduzierten Quote von falschen Positiven und zu einer Erhöhung der Zahl falscher Negativer31. Validitätsstudien leiden teilweise unter Beschränkungen der Untersuchungsgruppen, die sich weitgehend aus Gefangenen oder in forensischen Einrichtungen Untergebrachten, also hoch selektierten Gruppen, rekrutieren32. Sie leiden allerdings in besonderem Maße daran, dass für viele Gruppen, insbesondere auch solche, die über psychiatrische Diagnosen definiert sind, die Basisraten von Gewalt, sexueller Gewalt oder allgemeiner Kriminalität nicht bekannt sind. Der Rückgriff auf allgemeine Rückfallkriminalität, die über Verurteilungen oder Polizeikontakte gemessen wird, verhilft nicht einmal zu einer bescheidenen Annäherung an die Grundverteilungen. 29
Slobogin, Emory Law Journal. 56 (2006), 276 – 325, 283 ff. Slobogin, Emory Law Journal. 56 (2006), 293. 31 Hood u. a., Reconviction Rates of Serious Sex Offenders and Assessments of Their Risk. Findings 164, Home Office, 2002. 32 Vgl. beispw. de Vogel u. a., Law and Human Behavior 28 (2004), 235 – 251. 30
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Dies gilt insbesondere für den sexuellen Missbrauch, der eine enorme Breite an Handlungen abdeckt, die an Hand von Registereintragungen und im Hinblick auf die relative Schwere kaum aufgeschlüsselt werden können. Der Grund liegt darin, dass sich die forensische Psychologie und Psychiatrie mit den in forensischen Einrichtungen vorhandenen hoch selektierten Gruppen befasst (die in verschiedenen Ländern vollständig unterschiedliche Strukturen aufweisen können), während die allgemeine Kriminalitätsforschung in aller Regel nicht an Hand von Differenzierungen auf der Grundlage psychiatrischer Diagnosen vorgeht. Ferner ist es in aktuarischen Prognoseinstrumenten kaum möglich, dynamische Aspekte wie Behandlung, Behandlungserfolge, die Entwicklung von sozialen und persönlichen Bindungen, die Integration in Berufs- und Ausbildungssysteme oder die Ablösung aus kriminellen Gruppen einzubeziehen. Dies würde nur zu einer Ausweitung der Unsicherheit führen, denn auch die Einbeziehung (potenzieller) Entwicklung in verschiedenen und für die Rückfallkriminalität relevanten Bereichen wäre wiederum von Prognosen abhängig. Vergleichende Untersuchungen zu verschiedenen aktuarischen Prognoseinstrumenten führen im Übrigen nicht zu eindeutigen Ergebnissen (der Überlegenheit des einen oder anderen Instruments). Vielmehr überwiegen Hinweise, dass die Instrumente, auch wenn für das eine oder andere eine etwas bessere Treffsicherheit (und etwas weniger Fehler) belegt wurde, mit äußerster Vorsicht nur eingesetzt werden sollten und dass weitere Forschung benötigt werde, um die Instrumente für die eigentlich relevanten Untergruppen von Gewalt- oder Sexualstraftäter nutzbar zu machen33. Auch wenn nur die als Ergebnis der Anwendung aktuarischer Instrumente ermittelten Hoch- und Niedrigrisikogruppen beachtet werden und die besonderer Fehleranfälligkeit ausgesetzte dazwischen liegende Gruppe ausgeblendet wird, ergeben sich Fehlerraten in einer Größenordnung, die zu einer eher pessimistischen Beurteilung Anlass gibt34. Bessere Ergebnisse sind allerdings deshalb nicht zu erwarten, weil die Möglichkeiten der Überprüfung im Hinblick auf falsche Positive begrenzt sind und weil gerade die aussagekräftigsten Merkmale (Korrelate der Gewalt), nämlich frühere und frühe Auffälligkeiten bzw. vorangegangene Verurteilungen in allen Instrumenten gleichermaßen Eingang finden. Auch heute wird es deshalb bei einer vergleichenden Einschätzung der Leistungsfähigkeit nur um die Frage gehen, wer der Stärkste unter vielen Schwächlingen ist35. Berücksichtigt man zudem den heutigen Stand der kriminologischen Lebenslaufforschung, dann ist die Zukunft offen. „Shared Beginnings and Divergent Lives“ bedeuten eben, dass dieselben Ausgangsbedingungen zu vollständig unterschiedlichen Lebensverläufen führen können36. 33
Sjöstedt/Langström, Law and Human Behavior 25 (2001), 629 – 645; Eher u. a., Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Published online 10. 12. 2011. 34 Menzies/Webster/Sepejak, Law and Human Behavior 9 (1985), 49 – 70, 65. 35 Freedman u. a., Journal of the American Academy of Psychiatry and Law 29 (2001), 89 – 95. 36 Laub/Sampson, Shared Beginnings, Divergent Lives. Delinquent Boys to age 70, 2003.
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Verständlich ist deshalb auch die Empfehlung, Sachverständige sollten sich – wird ihre Meinung in rechtlichen Verfahren eingeholt – auf Hinweise zur Komplexität der Interaktionen zwischen Umwelt und Person beschränken, Prognoseverfahren als vorläufiges Screening Instrument zu nutzen und damit anerkennen sowie kommunizieren, dass in jeder Person ein erhebliches Potenzial an Veränderung angelegt ist37. Der eigentliche Fortschritt in den aktuarischen Prognoseinstrumenten liegt bislang nicht in einer tatsächlich drastische Verbesserung anzeigenden Identifizierung und Auswahl von validen Merkmalen, sondern in Schritten, die eine bessere Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, mehr Transparenz und eine glaubwürdige Abwägung versprechen. Mit dem Kriterium der AUC (area under the receiver operating characteristic) kann heute ein Maß angegeben werden, mit dem die Fehlerquoten, die eine individuelle Gefährlichkeitseinschätzung auf der Grundlage statistischer Instrumente mit sich bringen wird, sichtbar gemacht werden38. Sichtbar werden die Raten der falsch Positiven und der falsch Negativen (freilich immer unter den für eine verlässliche Einschätzung solcher Raten nicht vorteilhaften und bereits erwähnten Bedingungen).
IV. Normative Diskurse Vergleichbar der Kritik von Frisch am Mangel strafrechtswissenschaftlicher Durchdringung der Fragen, die sich bei Gefährlichkeitsprognosen stellen, wird auch für die USA hervorgehoben, dass trotz der – wie im Falle der Todesstrafe in Texas – für Angeklagte manchmal nachgerade existenziellen Bedeutung der wissenschaftlichen Grundlagen einer Gefährlichkeitsprognose, weder Gesetzgeber noch Gerichte sich den Problemen mit der gebotenen Sorgfalt stellen. Ferner wird darauf verwiesen, dass trotz eines gewissen Bewusstseins für das Problem von Vorhersagen schwerer Gewalt in justiziellen Kontexten die Nachfrage nach ebensolchen Prognosen nicht nachgelassen habe39. Das Oberste Gericht der USA hat in verschiedenen Entscheidungen die Probleme der Gefährlichkeitsprognose zur Kenntnis genommen, jedoch die damit verbundene Unsicherheit grundsätzlich akzeptiert40. Gefährlichkeitsprognosen werden nicht nur nach wie vor zugelassen. Darüber hinaus werden an Gefährlichkeitsprognosen offensichtlich nicht die Standards angelegt, die ansonsten für sachverständige Aussagen gelten sollen. Das Oberste Gericht verlangt nämlich als Voraussetzung wissenschaft-
37 Beecher-Monas/Garcia-Rill, Law and Contemporary Problems 69 (2006), 301 – 341, 340 f. 38 Hanson/Thornton, Law and Human Behavior 24 (2000), 119 – 136; Rossegger, International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology 55 (2011), 716 – 731. 39 Beecher-Monas/Garcia-Rill, Law and Contemporary Problems 69 (2006), 201 – 341, 302. 40 Barefoot v. Estelle, 463 U.S. 880 (1983); Jurek v. Texas, 428 U.S. 262 (1976).
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lich begründeter Aussagen41 (a) das Vorliegen aussagekräftiger Untersuchungen, die die Aussagen stützen, (b) die Prüfung durch die wissenschaftliche Community (peer review), (c) die Einschätzbarkeit von Irrtumswahrscheinlichkeiten sowie (d) die Akzeptanz der Aussagen in der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin42. Legt man diese Maßstäbe an Gefährlichkeitsprognosen an, dann müsste die Zulassung an den genannten Voraussetzungen eigentlich scheitern43. Allerdings ist es bislang nicht – auch nicht in Fällen der Überprüfung der Gefährlichkeitsprognose als Voraussetzung für die zivilrechtliche Unterbringung – zu einer Änderung der Rechtsprechung gekommen44. Instruktiv ist insoweit auch eine Stellungnahme der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur Revision des Schweizerischen Strafgesetzbuches und zur Umsetzung von Art. 123a der schweizerischen Bundesverfassung, der eine lebenslange Verwahrung auch von Straftätern ohne Vorstrafen dann vorsieht, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit der Wiederholung schwerer Straftaten besteht. Im Zentrum der Kritik steht die Feststellung, dass eine solche Prognose von Medizinern und Psychiatern nicht geleistet werden könne, da verlässliche aktuarische Instrumente fehlten und weil ferner psychiatrische Sachverständige ohne Anhaltspunkte für psychische Störungen und insbesondere bei Ersttätern keinerlei Grundlage hätten, eine brauchbare Gefährlichkeitsprognose zu erstellen45. Vergleichbare Diskurse zur Gefährlichkeitsprognose sind auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland zu erkennen. Während sich viele obergerichtliche Entscheidungen zu strafrechtlichen Prognosen mit sprachlichen Nuancierungen der Wahrscheinlichkeit oder des Risikos befassen, geht es eher selten um die Frage, wie leistungsfähig eigentlich klinische oder aktuarische Prognosemethoden sind und ob sie die Ansprüche an wissenschaftlich gesicherte Verfahren erfüllen. In einer neueren Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat allerdings die Verwendung aktuarischer Prognosemethoden eine zentrale Rolle gespielt. Der Bundesgerichtshof hat in dieser Entscheidung zu verschiedenen Prognosearten Stellung genommen und dabei ausgeführt, dass so genannte Strukturprognosen, basierend auf statistischen Modellen, die (über die Zugehörigkeit zu einer wie auch immer definierten Gruppe) Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Auftreten von kriminellen Handlungen angeben lassen, für eine die Sicherungsverwahrung begründende Gefährlichkeitsbeurteilung nicht ausreichten. Vielmehr sei darüber hinaus eine „fundierte Einzelbetrachtung“ notwendig46, die auf einer „sorgfältigen Gesamtwürdi41
Daubert v. Merrell Dow Pharm., 509 U.S. 579 (1993). Zur Umsetzung vgl. beispw. Vallabhajosula/van Gorp, Journal of the American Academy of Psychiatry and Law 29 (2001), 207 – 215. 43 Beecher-Monas/Garcia-Rill, Law and Contemporary Problems 69 (2006), 317; Scherr, Hastings Law Journal 55 (2003), 1 – 90. 44 Zusammenfassend Slobogin, Emory Law Journal. 56 (2006), 276 – 325, 293 ff. 45 www.samw.ch/dms/de/Publikationen/…/Bj_Stlgn_SAMW.pdf. 46 BGH, Beschl. v. 30. 03. 2010 – 3 StR 69/10 = StV 2010, 484; vergleichbar die Entscheidung des Schweizerischen Bundesgerichts (zu FOTRES), BGer 6B_772/2007 vom 09. 04. 2008. 42
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gung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände“ durch das Gericht vorzunehmen sei. Dabei wird davon ausgegangen, dass statistische Prognoseinstrumente lediglich Anhaltspunkte über die Ausprägung eines strukturellen Grundrisikos liefern könnten. Damit ist offensichtlich gemeint, dass auf der Grundlage der Zuordnung zu einer Risikogruppe mit Hilfe eines aktuarischen Instruments ein erster Schritt getan sei, der dann in einem zweiten Schritt mit aus einer Zerlegung des Einzelfalls gewonnenen Erkenntnissen (zur Rückfallgefahr) aufgebessert werden könnte. Dies setzt aber voraus, dass weitere theoretisch oder empirisch begründete Korrelate (der Gewalt) bekannt sind. die selbstverständlich ebenfalls durch vergleichende Analysen gewonnen worden sein müssten. Sollten solche Korrelate bekannt sein, dann müssten sie in die aktuarischen Instrumente Eingang finden (und Validierungsprozessen ausgesetzt werden). Ansonsten basiert der Bezug zum Einzelfall nur auf der weder tragfähigen noch heute überhaupt überzeugenden Vermutung, bei Psychiatrie und Medizin sei eine besondere Kompetenz vorhanden, aus dem Einzelfall zwar nichts Verallgemeinerungsfähiges, doch für den Blick in die Zukunft Aussagekräftiges herauslesen zu können. Bei dem Angeklagten in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall handelte es sich um einen nicht vorbestraften, knapp 60-jährigen Mann, der mehrere langjährige Beziehungen zu Frauen hatte, seine durchweg weiblichen Opfer und deren Familien im nachbarschaftlichen Umfeld seit längerem kannte und bei seinen Taten ohne Gewalt vorging, für den das Sachverständigengutachten bei der Anwendung des Static99 zu einem Punktwert von 7 gelangte. Mit dieser Einordnung fiel der Angeklagte in die Hochrisikogruppe; deshalb war von der Strafkammer Sicherungsverwahrung angeordnet worden. Neben den erwartungsgemäßen Hinweisen auf „Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung“ sowie alle für die Beurteilung maßgebenden persönlichen und tatbezogenen Umstände, darüber hinaus den seit langem etablierten zirkulären Erwägungen zur Hangtäterschaft (eingeschliffener innerer Zustand und fest eingewurzelte Neigung)47, allesamt Markenzeichen höchstrichterlicher Anforderungen an Prognosen, findet sich auch die Überlegung, dass ein hohes Risiko konkretisiert werden müsse und zwar mit Darlegungen, „welche Straftaten in welchem Zeitraum mit welcher Wahrscheinlichkeit von dem Angeklagten zu erwarten sind“. Dies geht allerdings erkennbar sowohl über die Möglichkeiten psychiatrischer Sachverständiger als auch über die noch besser überschaubaren Möglichkeiten von Richtern hinaus. Denn nicht einmal die Basisrate des Rückfalls in sexuellen Missbrauch für etwa 60-Jährige erstmals mit sexuellem Missbrauch auffällige mit den genannten Merkmalen ist bekannt (sie dürfte im Übrigen unwesentlich über 0 liegen). Ferner bleibt unbeantwortet, welche einzelfallbezogenen Erkenntnisse eine Prognose verbessern könnten. Der Rückgriff auf den Einzelfall ist ein Rückfall in eine Zeit, in der Die in den aktuarischen Instrumenten enthaltenen Variablen repräsentieren eben die mit Rückfall korrelierenden Merkmale, die auch bei einer klinischen Betrachtung genutzt werden dürften. Was darüber hinaus einer Einzelfallbetrachtung entnommen werden kann, verweist auf ad hoc Assoziationen, die einen validen 47
BGH, Beschl. v. 30. 03. 2010 – 3 StR 69/10 = StV 2010, 484.
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Mehrwert für die Risikobeurteilung gar nicht enthalten können. Dafür sprechen die weiter oben vorgestellten Befunde, die im Vergleich von klinischer Einzelfallbetrachtung und aktuarischen Verfahren eine bessere Risikoeinstufung der letzteren belegen.
V. Die Zukunft Die Zukunft der Gefährlichkeitsprognose wird insgesamt recht verhalten beurteilt48. Tatsächlich spricht der heutige Forschungsstand zur Gewalt wie zu den Möglichkeiten, die Entwicklung von Menschen (im Hinblick auf Fortsetzung oder Abbruch der Begehung von Straftaten) vorherzusagen, eher dafür, dass in absehbarer Zukunft das Problem sowohl der falschen Positiven wie auch der falschen Negativen nicht befriedigend gelöst werden kann. Allerdings wird wohl überwiegend auch davon ausgegangen, dass aktuarische Prognoseinstrumente in der Risikobeurteilung selbst ihre Bedeutung behalten sollten49. Dafür sprechen jedenfalls verschiedene Meta-analysen zur Validität von Prognoseinstrumenten50. Jedoch sollte sich die Forschung zu aktuarischen Verfahren sehr viel stärker theoretisch orientieren und an Bedingungen der Entstehung verschiedener Formen der Gewalt anknüpfen, also über die bloße Korrelationsforschung hinausgehen. Zum anderen erscheint es ratsam, in die Risikobeurteilung auch Behandlungs-, Betreuungs- und Überwachungsansätze zu integrieren, für die auf der Grundlage der empirischen Forschung ausgegangen werden kann, dass sie das Auftreten von Rückfallkriminalität beeinflussen51. Hinzu tritt ein erheblicher Bedarf an Untersuchungen zur Kommunikation über Gefährlichkeitsprognosen52 und schließlich der weiter oben angesprochene Bedarf an systematischen Untersuchungen zum Rückfall bei verschiedenen Straftäter- und Straftatengruppen.
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Buchanan, Psychiatric Services 59(2008), 184 – 190. Monahan, Law Review 92(2006), 391 – 435; Quenzer, Jugendliche und heranwachsende Sexualstraftäter. Eine empirische Studie über Rückfälligkeit und Risikofaktoren im Vergleich mit Gewaltstraftätern, 2010; kritisch Sreenivasan u. a., The Journal of the American Academy of Psychiatry and the Law 28(2000), 438 – 48. 50 Hanson/Morton-Bourgon, Psychological Assessment, 21(2009), 1¢21; Singh/Grann/ Fazel, Clinical Psychology Review 31(2011), 499 – 513; Singh/Serper/Reinharth/Fazel, Schizophrenia Bulletin 37(2011), 899 – 912. 51 Skeem/Monahan, University of Virginia School of Law, Public Law and Legal Theory Research Paper Series No. 2011 – 13, März 2011. 52 Monahan, Violence Prediction: The Past Twenty and the Next Twenty Years Criminal Justice and Behavior 23(1996), 107 – 120. 49
Begriff der Strafe und Sicherungsverwahrung Von Patricia Ziffer1 Unter den vielfältigen Themen, die Wolfgang Frisch beschäftigt haben, spielt die Frage des Verhältnisses der Begriffe von Strafe und Maßregeln eine sehr bedeutende Rolle. In diesem Bereich sind seine Beiträge nicht nur besonders tiefgreifend, sondern in einigen Punkten praktisch die einzige theoretische Darlegung aus einer juristischen Perspektive.2 Einige Aspekte dieser Diskussion in einer ihm gewidmeten Festschrift erneut zu behandeln liegt daher in besonderem Maße nahe. Was man unter „Strafe“ versteht sollte im Rahmen des Strafrechts eine selbstverständliche und leicht zu beantwortende Frage sein. Diesem Anschein entgegen gibt es aber keinen einheitlichen Strafbegriff.3 Historisch gesehen ist es nicht einmal klar, dass „Strafe“ ein und dasselbe Phänomen bezeichnet.4 Die Frage um ein Grundkonzept von Strafe ist nicht nur sehr alt, sie ist auch immer noch aktuell. Wenn man von den unzähligen Variationen bei der Auseinandersetzung absieht, bewegt sich die Diskussion über den Strafbegriff immer noch um die Alternativen Schuld und Gefährlichkeit.5 Trotz einer allgemeinen Grundentscheidung für eine an der Schwere der Tat und dem Maß der Schuld ausgerichteten Strafe, wird immer noch beansprucht, die Strafe als Instrument gegen die Gefährlichkeit anzuwenden. In diesem Sinn kann man sagen, dass trotz der grundsätzlichen Sympathie für Tatschwere und Tatschuld in der Strafkonzeption eine Entscheidung für „Schuld und Gefährlichkeit“ zu sehen ist.6 Wie man diese beiden Konzepte vereinbart, bleibt immer noch ein Problem, und das nicht nur für die Theorie.
1
Professorin an der Universidad de Buenos Aires. s. z.B. Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983; ders., in: Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994, S. 55 ff.; ders., StV 1988, 350. 3 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 1/1. 4 Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2011, § 1 Rn. 3. 5 s. Frisch, Konzepte der Strafe und Entwicklungen des Strafrechts in Europa, (Vortrag gehalten am 10. 12. 2008 an der Universität Uppsala), Nr. II, GA 2009, 385 ff. 6 Frisch, GA 2009, 385 ff. 2
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I. Die unterschiedlichen Legitimationsgründe von Strafe und Maßregeln Bei jeder strafrechtlichen Sanktion, die in verfassungsmäßig garantierte Grundrechte eingreift, muss gefragt werden, ob sie durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist und dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht. Das kann für die Strafe grundsätzlich als geklärt gelten, wenn und soweit sie in dem durch das Schuldprinzip abgesteckten Rahmen legitime Strafzwecke verfolgt.7 Die Legitimation der freiheitsentziehenden Maßregeln ist aber nicht so klar wie die von einer Schuldstrafe.8 Dafür ist die bloße Berufung auf die Nützlichkeit oder auf die Zweckmäßigkeit verfassungsrechtlich gesehen keine ausreichende Rechtfertigung. Wenn man von einem Verfassungsmodell ausgeht, in dem der Mensch nicht instrumentalisiert werden darf, ist die Aufopferung eines Individuums zunutze der Gesellschaft prinzipiell verboten. Darüber hinaus versteht sich die strafrechtliche Behandlung der „Gefährlichen“ nicht von selbst. Einen Eingriff in die Freiheit eines Menschen auf die Schuld oder auf die Gefährlichkeit zu stützen ist rechtlich gesehen nicht indifferent. Beide Begründungen haben verschiedenen Umfang und Grenzen, und die Legitimationsargumente gehen ganz andere Wege. In den sog. zweispurigen Systemen gelten als „Strafe“ nur diejenigen Eingriffe, die sich auf die Schuld stützen. Trotzdem sind ihre Bemessung und ihr Vollzug nicht frei von spezialpräventiven Erwägungen. Dagegen orientieren sich die Maßregeln nur nach Kriterien der Gefährlichkeitsbekämpfung in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Die Schwere der Tat als normative Frage ist für sie bedeutungslos. Diese prinzipiell klare Unterscheidung wird in der Praxis nicht immer deutlich. Sowohl der Vollzug von Freiheitsstrafen als auch derjenige von Maßregeln orientiert sich an dem Resozialisierungsprinzip, auch die Sicherung ist für beide Institute bedeutend. Diese Überschneidung von spezialpräventiven Zwecken erschwert eine scharfe Unterscheidung beider Institute, was am Beispiel der Sicherungsverwahrung9 deutlich zu sehen ist. Da aber jeweils der Legitimationsgrund der spezialpräventiven Eingriffe nicht identisch ist, ist die Gefahr eines verfassungsrechtlichen Verstoßes aufgrund von Legitimationsdefiziten des konkreten Eingriffs stets naheliegend.
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Stratenwerth, Strafrecht, AT II, § 8 Rn. 2. Über die theoretischen Schwäche der Begründung der Legitimation der Maßregeln, s. Frisch, ZStW 102 (1990), 343 ff. 9 Frisch, LdR, 8/1390, S. 12. 8
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II. Die Argumente gegen die Unterscheidung von Strafen und Maßregeln Auf die Identität des Eingriffs und des Vollzugszwecks bei den Strafen und Maßregeln abstellend wird zum Teil die Unmöglichkeit einer Unterscheidung behauptet. Wie man das vor langer Zeit formuliert hat, handele es sich dabei nur um einen „Etikettenschwindel“10, der die strikten Grenzen vom Schuldprinzip meiden will. Diesen Einwand darf man nicht unterschätzen. Wenn es keinen sachlichen Unterschied zwischen den beiden Instituten gäbe, würde die ganze Basis eines Schuldstrafrechts entfallen. Denn wenn eine zweite Spur angenommen wird, bei der es erlaubt wäre zu tun, was die andere verbietet, wäre das ganze Konzept des Schuldstrafrechts nur eine leere Hülse. Daher ist eine überzeugende Trennung beider Begriffe entscheidend für die Legitimation eines zweispurigen Systems. In der Tat sieht man bei beiden Instituten so eine große Ähnlichkeit, dass man geneigt sein könnte, die Möglichkeit einer legitimen Unterscheidung abzulehnen. Um doch eine Unterscheidung zu ermöglichen, wird als spezifische Eigenschaft einer Strafe oft ihr repressiver Charakter genannt. Eine Strafe ist ein Übel für begangenes Unrecht; sie wird für das verhängt, was man getan hat. Die Sicherungsmaßnahme ist dagegen ein Übel, das die reine Sicherung der Gemeinschaft gegen künftige Gefahren bezweckt; sie wird gegen das, was zu befürchten ist, angeordnet.11 Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass auch Maßregeln nach einer Tat auferlegt werden, wobei auch sie als die (repressive) Folge einer Straftat angesehen werden können. Auch wenn man den Eingriff in die Freiheit betrachtet, sind Strafe und Maßregel qualitativ identisch; aus der Sicht des Betroffenen bedeuten beide ein gleichwertiges „Übel“ und als solches werden beide erlebt. Dass die Strafe – anders als die Maßregel – ein „intendiertes“ Übel ist, wäre aus dieser Perspektive völlig irrelevant. Hinzu kommt, dass der Vollzug einer Freiheitstrafe als „intendiertes Übel“ heutzutage nicht akzeptabel wäre. Als charakteristisch für die Strafe wird auch die Tadelkomponente erwähnt, die den Maßregeln fremd sei. Eine Maßregel wolle dem Täter kein Vorwurf machen, sondern ausschließlich ihre Gefährlichkeit bekämpfen.12 Zwar hänge der Eingriff von einer Vortat ab, diese werde aber nur als Indiz für die Gefährlichkeit herangezogen. Andererseits habe eine Strafe ohne Vorwurf keinen Sinn.13 Diese „Wertneutralität“ der Maßregeln sei aber nicht so evident. Denn auch bei den Maßregeln werde ein Versagen der Person festgestellt, indem sie sich auf eine
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s. Kohlrausch, ZStW 44 (1924), 33. s. Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1960, S. 219. 12 s. schon Flandrak, Die persönlichen Sicherungsmittel im Strafrecht und im Strafverfahren, 1932, S. 11. 13 s. Flandrak (Fn. 12), S. 11. 11
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sozial negative Tendenz ihres Verhaltens stützten.14 In diesem Sinn solle auch sowohl dem Betroffenen als auch der Gesellschaft bewusst sein und beide sollen empfinden, dass er mit einer sozialwidrigen Fehlhaltung behaftet sei, und dass er dies zu überwinden habe. Diese Wertung sei ein wesentliches Element der „Behandlung“.15 Das vielleicht üblichste Argument gegen die Unterscheidbarkeit von Strafen und Maßregeln ist aber die Identität beim Vollzug: nicht nur bedeuten beide den Verlust der Freiheit, sondern dies geschieht auch unter ganz gleichwertigen Bedingungen.16
III. Der Sinn einer überzeugenden begrifflichen Trennung a) Im Rahmen eines zweckorientierten Strafrechts ist der Unterschied zwischen Strafrecht und Maßregeln unvermeidbar diffus. Beide Institute liegen gegenwärtig so nah beieinander, dass sie u. U. sogar austauschbar sind. Bei der Sicherungsverwahrung ist dieses Phänomen besonders kritisch.17 Das sollte aber nicht dahin interpretiert werden, dass eine Trennung überhaupt nicht möglich oder sinnlos ist. Eine solche Stellungnahme würde zu einem einspurigen System führen, was auch eine heikle und schwer konsequent durchzuführende Alternative ist.18 Darüber hinaus, wenn man die Argumente für die Identität von Strafen und Maßregeln genauer betrachtet, sind sie nur halbwegs überzeugend, wie der Jubilar so genau demonstriert hat19. Es lässt sich nicht bestreiten, dass sie beide einen starken, durch identische Mittel auferlegten Eingriff in die Freiheit des Betroffenen bedeuten. An sich ist das aber nicht genug, um eine volle Identität zu begründen. Das gilt auch für den Übelseffekt. Wie Frisch gezeigt hat, liegt der Fehler darin, dass hier auf Gesichtspunkte abgehoben wird, auf die für eine sinnvolle Unterscheidung von Rechtsinstitute nicht ankommt. „Tatsächlich ist in einer instrumental konzipierten Rechtsordnung eine sinnvolle Konturierung und Unterscheidung von Rechtsinstituten nur in der Weise möglich, dass man nach dem Zweck dieser Institute sowie danach fragt, mit welchen spezifischen Mitteln diese Institute den angestrebten Zweck zu errei14 Nowakowski, FS Broda, 1976, S. 193 ff.; über die Legitimation der Maßregeln als kognitive Reaktion gegen Subjekte, die für die um sie als Personen zu behandeln nötige kognitive Verlässlichkeit nicht sorgen d. h. Subjekte, die insgesamt eine Lebenslinie nicht aufweisen, die den Schluss zulässt, Rechtstreue werde geleistet werden, s. Jakobs, FS Benaki-Psadrouda, 2008, passim. 15 Nowakowski (Fn. 14), S. 198. 16 Das Gewicht dieses Einwands ist deutlich am Beispiel der Sicherungsverwahrung zu sehen. Unter Umständen kann er aber auch auf den Freiheitsentzug in gewissen psychiatrischen Anstalten zutreffen. 17 s. Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996, S. 590, welcher die Unterscheidung als überwunden bezeichnet. 18 s. unten VII. 19 s. Frisch, ZStW 102 (1990), 357 ff.
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chen trachten. Die Relevanz dieser Kriterien folgt zugleich daraus, dass es auf sie auch unter dem Aspekt der Rechtfertigung des jeweiligen Instituts ankommt – und zwar dem Grunde wie dem Ausmaß nach. Bestehen unter diesen entscheidenden Aspekten Unterschiede, so sind Übereinstimmungen im Übrigen irrelevant, weil im normativen Sinne zufällig“.20 Stellt man auf diesen Maßstab ab, sieht man schnell, dass die Überschneidung der Zwecke von Strafen und Maßregeln nur eine partielle ist. Maßregeln richten sich ausschließlich auf die Verhinderung von Straftaten einer bestimmten Person; jede andere Wirkung ist nebensächlich. Umgekehrt bezieht sich eine Strafe nicht unmittelbar auf die Spezialprävention, denn ihr Grund und Ausmaß orientiert sich grundsätzlich an der Schuld. Wenn sie auch gewissen spezialpräventiven Zielen genügen soll, geschieht das in einem unterschiedlichen Rahmen, nämlich demjenigen des gesellschaftlichen Bedürfnisses, entsozialisierende Wirkungen der Freiheitstrafen zu minimieren. Ein Argument, dessen Gewicht umgekehrt proportional zum Ausmaß der Schwere des Normbruchs ist: Je mehr die Tat die Geltung der Norm in Frage gestellt hat, desto weniger relevant wird das Argument einer möglichen Erschwerung der Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach einer Freiheitsstrafe. b) Auch wenn man die Definition von Strafe als ein „Übel“ in Frage stellen will, so bleibt immer noch, dass sie unbedingt den negativen Charakter der Tat zeigen soll. Hingegen erscheint die Freiheitsbeschränkung bei Maßregeln nur als letztes Mittel, um die Gefahr weiterer Taten zu beseitigen. Dabei handelt es sich nicht um eine bloß formelle Unterscheidung. Eine solche Charakterisierung hat ganz konkrete Folgen in Bezug auf die Breite der Palette von möglichen Entlassungs- und Lockerungsalternativen, die erwogen werden können. Rein neutrale oder sogar als eine Begünstigung interpretierbare Instrumente kommen bei Strafen nicht in Frage, denn dabei geht die zentrale Tadelkomponente verloren. Wenn aber das einzige Interesse darin liegt, Sozialisationsdefizite zu überwinden, sind die Wahlmöglichkeiten viel breiter. Es gibt nur die faktischen – wirtschaftlichen oder politischen – Grenzen, die sich aus den vorgesehenen staatlichen Ressourcen für solche Ziele ergeben. Daraus folgen bedeutende Unterschiede schon bei dem Vollzug, weil die Zulässigkeit von Entlassungsmöglichkeiten nach anderen Kriterien überprüft werden soll. Sowohl die Sicherungsverwahrung als auch Freiheitsstrafen orientieren sich an der Resozialisierung, und wenn man einen Unterschied in den äußeren Vollzugsbedingungen sehen will, sucht man vergeblich. Bessere oder schlechtere Anstaltsbedingungen oder sogar mehr oder weniger Therapiealternativen sind nicht in der Lage eine scharfe Trennung zu ziehen. Die Identität des Zwecks ist total; der Umfang, in dem Lockerungen in Betracht kommen können (und sollen!) ist aber anders. Tatsächlich hängt bei Freiheitsstrafen aufgrund schwerer Straftaten die Gewährung z. B. von Alternativen wie der Aussetzung des Strafrestes von Kriterien ab, die mit dem Grad der Gefährlichkeit zu tun haben. Im Prinzip ist das auch so bei den Sicherungsmaßregeln. Aber bei Strafsystemen, die sich stark nach der Propor20
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tionalität der Strafe richten, werden generalpräventiven Grenzen für die Erlangung solcher Lockerungen gesetzt. Diese Mindestgrenzen, die eine Entlassung vor dem Verlauf geraumer Zeit erschweren oder unmöglich machen, beruhen auf generalpräventiven Erwägungen: Die Schwere der Tat hindert einen spezialpräventiven Ausweg, indem eine solche Konfliktlösung gesellschaftlich als eine zu milde Reaktion auf die Tat angesehen werden könnte. Es liegt auf der Hand, dass eine in einer hochsicheren Strafanstalt vollzogene Strafe eine ganz andere Bedeutung hat als eine lockerere Freiheitstrafe – z. B. nur durch technischen Mitteln überwacht – oder eine ausgesetzte Freiheitsstrafe. Zwar stellen die milderen Alternativen auch ziemlich harte Beschränkungen der Freiheitsrechte dar. Die Schwere einer Freiheitsstrafe hat aber nicht nur mit einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit zu tun, sondern auch mit der starken Restriktion, die der Vollzug in einer Strafanstalt mit sich bringt. Die „Freiheitsstrafe“ wird nicht einfach als Verlust der Bewegungsfreiheit definiert. Sie setzt auch eine harte Einschränkung anderer Aspekte der Autonomie des Verurteilten voraus. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in einer Strafanstalt bedeutet die Unterwerfung unter eine Reihe von Vorschriften, die die Intimsphäre der Person und ihre Freiheit im weiteren Sinn stark beeinträchtigen.21 Daher wird jede andere Freiheitsbeschränkung – d. h. diejenigen, die außerhalb einer Anstalt vollgestreckt werden – als eine „milde“ Reaktion interpretiert, die mit einer Freiheitsstrafe eine zu abstrakte Beziehung hat. In dieser Hinsicht kann eine Freiheitsstrafe aus spezialpräventiven Gründen völlig unnötig sein; das ist aber nicht unbedingt ein Argument für das Absehen von Strafe oder die Anwendung einer leichteren Alternative. Der Vorrang der Spezialprävention wird nur „toleriert“, wenn und soweit die Norm auf Kosten der Täter genügend bestätigt werden kann, ohne auf eine so harte oder im Einzelfall übermäßige Reaktion zurückzugreifen. Ist das nicht der Fall, dann soll die Freiheitsstrafe i. e. S. als ernsteste Antwort auf die Straftat zumindest teilweise vollgestreckt werden. Die möglichen spezialpräventiv negativen Nebenkosten werden um der Geltung der Norm willen in Kauf genommen. Solche Erwägungen sind charakteristisch für eine tatproportionale Strafe. Sie wären jedoch bei den Sicherungsmaßregeln fehl am Platz, denn bei deren Auferlegung, Dauer oder Vollstreckung ist die Schwere der begangenen Tat kein relevanter Grund. Sie beruhen ausschließlich auf der Gefährlichkeit, d. h. die spezialpräventiven Bedürfnisse haben immer Vorrang. Anders als bei der Vollstreckung einer Strafe sollte sich jede Wandlung dieses Gefahrzustands in dem Vollzug der Maßregel widerspiegeln, sei es durch eine Milderung oder die Aufhebung des Eingriffs, denn nur so ist ihre Legitimität zu bewahren. c) Als Schwachpunkt für die Rechtfertigung der Maßregeln kommt ihre unbestimmte Dauer hinzu. Das bereitet nicht nur aus der Perspektive des Legalitätsprinzips Probleme; zusätzlich überlastet sie die Leistungsfähigkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips als einziges Instrument, um die Angemessenheit des Freiheitseingriffs zu gewährleisten. Aus dieser Sicht erscheint dieser Grundsatz nicht besonders effi21
s. z.B. Amelung, ZStW 95 (1983), 1 ff. (5).
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zient: er gestattet viel mehr, als der Tatschuld entspräche. Das Schutzbedürfnis bleibt so lange aktuell, wie die Gefahr andauert; die Maßnahme abzubrechen, bevor die Gefahr beseitigt ist, wird als Preisgabe von Rechtsgütern empfunden.22 Das könnte aber aus der umgekehrten Perspektive gesehen werden: indem die Verhältnismäßigkeit von jeden generalpräventiven Erwägungen gelöst ist, wird auch „weniger“ erlaubt: Entfällt der Gefahrzustand, hat die Maßregel ihre Legitimationsbasis verloren. Das ist bei einer auf die Schuld gestützten Strafe grundsätzlich nicht der Fall. d) Da der Prüfstein einer ernsthaften Unterscheidung bei der „Realität“ des Vollzugs liegt, wird immer wieder die Notwendigkeit intensiverer Therapieversuche insbesondere bei der Sicherungsverwahrung betont. Nur unter der Voraussetzung der Anwendung von schon als effizient nachgewiesenen Therapiemethoden könnte eine so harte Maßnahme am Rand des Schuldprinzips jemandem zugemutet werden. Diese Ansicht ist aber nicht einwandfrei. Wenn die Akzente zu entschieden von der Sicherungsfunktion zu der Therapierung verschoben werden, bleibt die Frage offen, was mit den Gruppen geschehen soll, die mit den derzeit verfügbaren therapeutischen Instrumenten nicht erreichbar sind. Abgesehen davon ist die Beziehung von Resozialisierungsversuchen und Autonomie der Person sehr komplex. Indem eine Entlassung von dem Erfolg der Therapie abhängig gemacht wird, ist die Entscheidung, Therapieangebote anzunehmen, weder als frei23 noch als ehrlich anzusehen. Darüber hinaus setzen die meisten Therapiemethoden „Reue“ voraus, wobei die Verurteilten, die ihre Taten nie zugestanden haben, dafür nie in Betracht kommen werden. Zwar beruhen die Freiheitseingriffe auf mit Rechtskraft bewiesenen Taten. Justizfehler können aber nicht so grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass derjenige, der seine Tat hartnäckig nach der Verurteilung immer noch verleugnet, als therapieuntauglich gilt. Daher bedeutet ein großzügigeres Therapieangebot nicht ohne weiteres eine Verbesserung der Vollzugsbedingungen für die Sicherungsverwahrten. Dafür entscheidender wäre nur eine bessere Koordinierung der Vollzugsmilderungen, die konkret den Weg zu einer endgültigen Freiheit vorbereiten. Aus dieser Perspektive hängt die Legitimation eines zweispurigen Sanktionensystems eng davon ab, dass man die Entlassungsmöglichkeiten vervielfacht. Nur dadurch wird eine tatsächliche Umwandlung der Maßregeln in illegitime Strafen vermieden. Das ist wiederum nicht einfach, da prospektive Entscheidungen vorausgesetzt werden, deren Begründung strukturell viel schwieriger ist als die einer Schuldfeststellung.
22
Nowakowski (Fn. 14), S. 203. s. Albrecht, P., Die allgemeinen Voraussetzungen zur Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen gegenüber erwachsenen Delinquenten, 1981, S. 32 f. Dem EGMR scheint es aber nicht besonders problematisch, das Weiterbestehen der Gefährlichkeit mit der Verweigerung der Therapie zu begründen (s. EGMR, Urteil v. 21. 10. 2010 – 24478/03 (Großkopf v. Deutschland), Rn. 52). 23
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IV. Die Ungewissheit der Gefährlichkeitsprognose als Hindernis für die Legitimation der Maßregeln Die Rechtfertigung der vorbeugenden Maßnahmen überschneidet sich letztendlich mit derjenigen der polizeirechtlichen Maßnahmen, denn es handelt sich im Wesentlichen um dasselbe Ziel: Schutz der Gesellschaft gegen drohende Gefahren.24 Dieser Ansatz ist sicher nicht neu.25 Wie bekannt ist, waren die Aufgaben des Maßregelrechts ursprünglich dem Verwaltungsrecht zugeschrieben.26 Das Problem dabei ist die Bestimmung der „drohenden Gefahr“. Könnte diese Gefahr überzeugend festgestellt werden, dann sähe die Diskussion um die Legitimation der Maßregel ganz anders aus. Die gewichtigere Frage wäre prinzipiell nur, das rechtstaatliche Maß der Eingriffe akzeptabel zu bestimmen, was durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips erledigt werden könnte. Das ist aber nicht der Fall. Dass der Staat dazu verpflichtet ist, die Allgemeinheit zu schützen, lässt sich schwer bestreiten. In der Diskussion um die Rechtfertigung des Maßregelrechts wird aber dieses Argument zum Teil so geführt, als ginge es darum, die Allgemeinheit vor den wirklich gefährlichen Tätern zu schützen27, wenn es in Wahrheit gerade um die Vorfrage geht, wer denn überhaupt in diese Kategorie gehört. Hinzu kommt die Ungewissheit der drohenden Straftaten, was die Leistungsfähigkeit des Proportionalitätsprinzips schwer kürzt. Wenn eine freiheitsentziehende Maßregel, deren Dauer voraussichtlich die einer Freiheitsstrafe übersteigen wird, auf der Wahrung eines überwiegenden Interesses beruht, dann ist es entscheidend festzustellen, ob die von dem Betroffenen ausgehender Gefahr derart gravierend ist, dass der Eingriff in seine persönlichen Rechte angemessen und erforderlich ist, um diese Gefahr abzuweisen.28 Wenn nun weder die tatsächliche Existenz dieser Gefahr noch ihre Schwere begründbar sind, dann sollte jeder rechtliche Eingriff als übermäßig gelten oder der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird zu einer völlig leeren Formel.29 Daher fußt die Diskussion um die Legitimation der Maßregeln ohne eine überzeugende Lösung der Prognosefragen auf zweifelhaften Grundlagen. Lässt sich die Gefährlichkeit eines Menschen unter Anwendung von rechtsstaatlich vertretbaren Methoden nicht voraussagen, dann würde die ganze Legitimationsgrundlage des Maßregelrechts entfallen. Es ist aber bekannt, dass Gefährlichkeitsprognosen ungewiss sind. Die Möglichkeit, menschliches Verhalten vorauszusehen, ist höchst problematisch. Weder die 24
Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 278 ff. Vgl. Exner, Die Theorie der Sicherungsmittel, 1914, S. 45 ff. 26 Vgl. z. B. Jansing, Nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2004, S. 425. 27 In den politischen Auseinandersetzungen um den Umfang der Sicherungsverwahrung ist das bildhaft zu sehen. 28 Vgl. auch Stratenwerth (Fn. 4), § 1 Rn. 42 m.w.N. 29 Über diese Problematik, s. Kaufmann, Arthur, FS Lange, 1976, S. 27 ff., S. 33. 25
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Psychiatrie noch die Psychologie kann dabei eine Lösung anbieten, und trotz vieler Bemühungen ist es auch der Kriminologie bis heute nicht gelungen, die Rückfälligkeit mit einer gewissen Sicherheit vorauszusagen. In dieser Hinsicht versprechen die verschiedenen Prognosemethoden (statistische, intuitive, klinische) oder deren Kombination nichts Weiteres als eine „Wahrscheinlichkeit“. Zudem ergibt sich bei der Gefährlichkeitsbeurteilung psychisch nicht gestörter Täter das praktische Problem, durch wen und wie diese Verhaltensprognose sachverständig zu treffen ist. Es ist weithin unklar, welcher Sachverständige einzuschalten ist: bei psychisch gesunden Tätern wohl kein psychiatrischer, sondern eher ein psychologischer bzw. kriminologischer, wobei sich ein breites Spektrum von konkurrierenden theoretischen Orientierungen eröffnet und methodenbedingte Divergenzen der Beurteilung zu erwarten sind.30 Als erste Antwort könnte man an die „in dubio pro reo“ Lösung denken. Da es sich um „non liquet“-Fälle handelt („es ist ungewiss, ob von ,X‘ tatsächlich neue Straftaten zu befürchten sind“), läge es nahe, den Zweifel stets zum Vorteil des Betroffenen zu lösen. Man will aber durch die vorbeugenden Maßnahmen eine Gefahr entgegentreten, und die „in dubio pro reo“ Lösung würde bedeuten, diese Gefahr immer zu verneinen bzw. sich gegen den Eingriff zu entscheiden.31 Die Untauglichkeit dieser Lösung ist noch deutlicher zu sehen, wenn die Frage sich um eine Wirkungsprognose dreht (z. B.: „Ist diese Therapie erfolgsversprechend?“).32 Als ein Ausweg wurde von Frisch vorgeschlagen, auf einen normativen Ansatz abzustellen, d. h. die Prognoseentscheidung grundsätzlich als ein normativ spezifisches Problem zu begreifen, dessen Lösung vom Zweck der jeweiligen Norm abhängen sollte.33 Da die Bestimmung jedes Wahrscheinlichkeitsgrades unzureichend sei, solle man auf Risikosachverhalte abstellen. Um eine Maßregel zu rechtfertigen sei das Gegebensein einer Persönlichkeitsstruktur notwendig, welche unter bestimmten situativen Umständen zur Entstehung von Straftaten führe, und der Eintritt derartiger situativer Umstände müsse nahe liegend im Sinne von jederzeit leicht möglich sein.34 Aus dieser Perspektive ist das Legitimationsfundament einer freiheitsentziehenden Maßregel nicht gerade das Voraussehen einer zukünftigen Entwicklung, sondern das Vorhandensein bestimmter gegenwärtiger Risikosachverhalte. Der Richter soll also nicht Feststellungen über die Zukunft treffen, sondern den gegebenen Fall mit seinen möglichen Risiken unter dem Aspekt der normativen, insbesondere inter30
Kunz, ZStrR 117, 234 ff., 252. Über die Untauglichkeit der „in dubio“-Sätze als Lösung dieser Fälle, eingehend Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983, S. 51 ff. 32 s. Jung, H., in: Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994, S. 163 ff., 173. 33 Frisch (Fn. 31), passim. 34 Frisch (Fn. 31), S. 75 ff. 31
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essenorientierten Verantwortbarkeit einer bestimmten Rechtsfolgenentscheidung überprüfen.35 Wenn man davon ausgeht, dass exakte Prognostizierbarkeit überhaupt nicht erreichbar ist, kann man die Frage der Prognose als ein Risikoverteilungsproblem ansehen. Wichtige Vorwertungen liegen in den Regelungen des materiellen Rechts, aus denen sich ergibt, dass sich die bloße Befriedigung des Sicherheitsbedürfnisses erst von einem gewissen Schwellenwert an gegen das Freiheitsinteresse durchsetzen kann.36 Obwohl das Gesetz die sachlichen Grundlagen der individuell-konkreten Prognose nicht festlegen kann, ist es möglich, auf bestimmte Tatsachen abzustellen, bei denen es für die Allgemeinheit grundsätzlich unzumutbar wäre, dass der Staat nichts gegen die Gefahr unternimmt, wie z. B. bei einer schwerwiegenden Belastung mit einschlägigen Vorstrafen. Das lässt sich mit dem Vorgehen des Gesetzgebers bei Gefährdungsdelikte vergleichen. Bei ihnen ist immer eine mehr oder weniger bestimmte Wirklichkeit beschrieben, die aller Erfahrung nach einem Verletzungsbedeutung tragenden Sachverhalt angehört und so schon als solche gegenüber der Verletzung relativ selbständige rechtsfriedensstörende Bedeutung hat. Die Konkretisierungsbedürftigkeit der Gefährlichkeit eines Menschen ist nicht grundsätzlich anders.37 Diese abstrakte Beurteilung des Gesetzes sollte aber im konkreten Fall widerlegt werden dürfen. Ansonsten geht es um keine „Individual“-prävention. In der Tat kann der Gesetzgeber bestimmte Situationen erkennen, die aus der Sicht der Allgemeinheit einen Eingriff unentbehrlich erscheinen lassen. Das ist am Beispiel der Sicherungsverwahrung deutlich zu sehen. Abgesehen von den Besonderheiten jeder Rechtsordnung werden bei den jeweiligen Regelungen im Allgemeinen solche Situationen beschrieben (z. B. schwerwiegende Vorstrafen oder Sexualtaten), bei denen die Allgemeinheit nicht mehr bereit ist, das Risiko einer Straftat als ein „allgegenwärtiges“ Phänomen zu verstehen. Dadurch wird gegenüber dem Verwahrten bekundet, dass das was unter verantwortlichen Personen allgemein ausreichend erscheint – eben die mit der Verantwortlichkeit verbundene Fähigkeit zu richtigem Handeln – für ihn nicht mehr gilt. Denn seine bisherige Lebensführung macht deutlich, dass er von dieser Fähigkeit in bestimmten Situationen keinen Gebrauch macht.38 Unter solchen Umständen wird die Perspektive der möglichen Opfer als entscheidend in Betracht gezogen, und es wird hingenommen, dass der Betroffene vielleicht nicht gefährlich ist, dass er vielleicht überhaupt keine Straftat mehr begehen wird.
35 s. Frisch, in: Frisch/Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994, S. 55 ff., 75 ff. 36 Frisch, StV 1998, 211 ff., 221. 37 Köhler, M., NJW 1975, 1150 ff., 1152. 38 Ähnlich Jakobs (Fn. 14), passim.
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V. Der Fall EGMR „M. v. Deutschland“: Hintergrund und Folgen a) Die Bedeutung einer überzeugenden Trennung von den Strafen für die Legitimierung der Maßregeln hat die Rechtsprechung des EGMR in verschiedenen Fällen beschäftigt. Aus seiner Rechtsprechung39 zeigen sich die Schwierigkeiten, die die Überlappung von präventiven und „vergeltenden“ Zwecken beim Vollzug von Strafen und Maßregeln für die Legitimation von Freiheitsentziehungen hervorruft. Beim Überprüfen der Angemessenheit eines Freiheitseingriffs achtet das Gericht nicht auf die inneren Rechtsvorschriften bzw. die Entscheidungsbegründung, sondern werden die tatsächlichen Vollzugsbedingungen überprüft. Auf dieser Basis, wenn es sich um eine „Strafe“ handelt, wird der Freiheitseingriff ohne weiteres zugelassen. In diesem Fall ist nur die Rüge krasser Unverhältnismäßigkeit oder Unmenschlichkeit der Strafe möglich. Ist der Eingriff aber sachlich auf die Gefährlichkeit gestützt, dann sind die Pflichten des Staates andere, nämlich die regelmäßige Kontrolle des Fortbestands des Gefährlichkeitszustands sowie die Gewährleistung von ausreichenden Verfahrensrechten für den Betroffenen, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. D.h. wenn die Entscheidung nicht auf der Tatschwere sondern auf veränderbaren Umständen basiert, dann soll der Betroffene die Rechtsmöglichkeit behalten, die Gesetzmäßigkeit des Eingriffs periodisch überprüfen zu lassen.40 Die Rechtsprechung des EGMR geht von der Legitimität von präventiven Eingriffen angesichts der Konvention voraus, denn schon aus ihrem Text ergibt sich (Artikel 5 Abs. 1 Buchst. c, zweite Alternative), dass die Haft einer Person gerechtfertigt sein kann, „wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern“. Eine weitere Begründung der Legitimation findet man aber nicht. Die komplexen theoretischen Probleme einer solchen Prognose bei längeren Freiheitseingriffen – wie bei der Sicherungsverwahrung oder auch bei der Unterbringung psychisch Kranker – bleiben auch unausgesprochen. Es wird aber in gewissem Maß versucht, die Schwächen solcher Entscheidungen durch erhöhte Verfahrens- bzw. Vollzugsanforderungen zu „kompensieren“.41 Tatsächlich gehen die Entscheidungen davon aus, dass aufgrund der Pflicht der Staaten zum effektiven Schutz der Person deutliche Anhaltspunkte für eine Schlechtprognose nicht ignoriert werden sollten.42
39 s. u.a. EGMR, Urt v. 26. 06. 1982 – 7906/77 (van Droogenbroeck v. Belgium); Urt. v. 02. 03. 1987 – 9787/82 (Weeks v. Großbritannien); Urt. v. 28. 05. 2002 – 46295/99 (Stafford v. Großbritannien); Urt. v. 10. 12. 2002 – 53236/99 (Waite v. Großbritannien). 40 s. z. B. EGMR, Urt v. 26. 06. 1982 – 7906/77 (van Droogenbroeck v. Belgium). 41 Über die Beziehung von prozessualer „Fairneß“ und materieller Legitimation s. Jung, H., Sanktionensysteme und Menschenrechte, 1992, S. 69. 42 Deutlich in dieser Richtung EGMR, Urt. v. 15. 12. 2009 – 28634/06 (Maiorano v. Italien).
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In dieser Hinsicht wird die Gefährlichkeit grundsätzlich als ein vorläufiger und veränderbarer Zustand angesehen. Daher sind allgemeine Gefährlichkeitsbehauptungen43 nicht zulässig und ihr Weiterbestand sollte periodisch gründlich überprüft werden. Hinzu sind aber die „proaktiven“ Pflichten des Staates gekommen: die Überwindung oder Milderung der Gefährlichkeit muss ein spezifisches Ziel des Vollzugs solcher Eingriffe sein, damit sie als konventionskonform angesehen werden können.44 Was die Unterscheidung von Strafen und anderen – rein – präventiven Maßnahmen angeht, lässt die Rechtsprechung keinen Zweifel daran, dass trotz aller Ungenauigkeiten und Überlappungen eine Trennung hinsichtlich der Konvention unentbehrlich ist45, denn Strafen und Maßregeln (d. h. präventive Freiheitsentziehungen) werden nach den Grundlinien des Gerichtshofs an verschiedenen Anforderungen in Bezug auf ihre Begründung, Verfahren und Vollzug gebunden. Es ist aber klar, dass mit der Bereitstellung dieser Richtlinien nicht alle Schwierigkeiten überwunden sind. So bleibt z. B. die Frage um die Zulässigkeit von nachträglichen Veränderungen der Vollzugsbedingungen in diesem Rahmen sehr unklar. Während die Auferlegung einer Strafe strikt von dem Legalitätsprinzip erreicht wird, wird die nachträgliche Verschlechterung der Vollzugsbedingungen bei den Maßregeln infolge der Abwägung von Präventionsbedürfnissen und Vertrauensschutz des Betroffenen unter der komplexeren Kategorie der „Gesetzesqualität“ überprüft.46 b) Dieser Aspekt war von zentraler Bedeutung beim Fall „M. vs. Deutschland“.47 Beim Überprüfen der Vereinbarkeit der ex post-Verlängerung der Sicherungsverwahrung nach Ablauf der zehnjährigen Frist mit Art. 5, Abs. 1 EMRK ist der EGMR von der grundsätzlichen Legitimität der Auferlegung der Sicherungsverwahrung als Folge der Verurteilung des Beschwerdeführers „M“ im Jahr 1986 wegen Mordversuchs (gem. Art. 5, Abs. 1 lit. a EMRK)48 ausgegangen. Aber da sich die weiteren Freiheitsbeschränkungen nicht auf die Tatschuld stützten, seien sie von dieser Norm nicht gedeckt. Auch wenn 1986 die richterliche Entscheidung den Endpunkt der Maßregel nicht festgelegt hatte, war ihr Maximum im Strafgesetzbuch vorgesehen. Ohne die Gesetzänderung wäre der Beschwerdeführer nach den zehn Jahren unabhängig von seiner Gefährlichkeit ohne weiteres entlassen worden, denn die Richter hatten keine Rechtsbefugnisse, die Sicherungsverwahrung zu verlängern.
43
s. EGMR, Urt. v. 06. 11. 1980 – 7367/76 (Guzzardi v. Italien). s. EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland). 45 s. u.a. EGMR, Urt. v. 09. 02. 1995 – 17440/99 (Welch v. Großbritannien), Rn. 52; Urt. v. 08. 06. 1995 – 15917/89 (Jamil v. Frankreich), Rn. 30; Urt. v. 12. 02. 2008 – 21906/04 (Kafkaris v. Cyprus), Rn. 142. 46 Damit wird „the quality of the law applicable at the material time“ gemeint. So z. B. im Fall „Kafkaris v. Cyprus“, EGMR, Urt. v. 12. 02. 2008 – 21906/04. 47 EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland). 48 s. EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland), Rn. 96. 44
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Demzufolge bestehe kein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und der Fortdauer der Freiheitsentziehung nach Ablauf der zehn Jahre.49 Darüber hinaus genüge die Verlängerung der Zehnjahresfrist der Vorhersehbarkeit des Gesetzes nicht und sei daher nicht in der Lage jegliche Gefahr der Willkür zu vermeiden.50 Es wurde aber auch eine Verletzung von Art. 7 EMRK festgestellt, da angesichts der Praxis der Sicherungsverwahrung die innerrechtliche Bezeichnung als „Maßregel“ nicht standhalten könne: In Wirklichkeit handele es sich um eine Strafe. In der Auslegung des EGMR ist der Begriff von Strafe (gem. Art. 7) in seiner Reichweite autonom. D.h. es muss dem Gerichtshof freistehen, nicht nur den äußeren Anschein zu betrachten und seine eigene Würdigung der Frage vorzunehmen, ob eine bestimmte Maßnahme im Wesentlichen eine „Strafe“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Der Ausgangspunkt für die Prüfung, ob es sich bei der betreffenden Maßnahme um eine Strafe handelt, ist die Frage, ob sie im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer „Straftat“ verhängt wird. Weitere erhebliche Faktoren sind die Charakterisierung der Maßnahme nach innerstaatlichem Recht, die Art und der Zweck der Maßnahme, die mit ihrer Schaffung und Umsetzung verbundenen Verfahren und die Schwere der Maßnahme. Die Schwere an sich ist jedoch nicht entscheidend, denn beispielsweise können viele Maßnahmen präventiver Art, die keine Strafen darstellen, erhebliche Auswirkungen auf die betroffene Person haben.51 Auch wenn sich aus der Rechtsprechung des EGMR die Richtlinien einer inhaltlichen Charakterisierung des Begriffs von „Strafe“ ergeben, anerkennt der Gerichtshof selbst, dass die Aufgabe in der Praxis nicht immer leicht ist.52 c) Nach dem Fall „M.“ hat das Bundesverfassungsgericht die Regelungen über Sicherungsverwahrung nochmals geprüft.53 Vor dem Hintergrund einer „völkerrechtsfreundlichen Auslegung“ wurde die Grundentscheidung für die Sicherungsverwahrung als „zweite Spur“ für die Behandlung der gefährlichen Täter als legitim angenommen. In diesem Rahmen sollten strengere Anforderungen in Bezug auf die Begründung der zugrundeliegenden Entscheidung gestellt werden, die nicht den Eindruck erwecken sollte, schon pauschal vorab entschieden worden zu sein. Darüber hinaus soll darauf geachtet werden, dass die Ausgestaltung des Vollzugs über den unabdingbaren Entzug der äußeren Freiheit hinaus weitere Belastungen vermeidet. 49
s. EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland), Rn. 99 f. s. EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland), Rn. 104. 51 s. EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland), Rn. 120. 52 s. EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland), Rn. 121: „Sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof unterscheiden in ihrer Rechtsprechung zwischen einer Maßnahme, die im Wesentlichen eine ,Strafe‘ darstellt, und einer Maßnahme, die die ,Vollstreckung‘ bzw. den ,Vollzug‘ der ,Strafe‘ betrifft. Betreffen folglich die Art und der Zweck einer Maßnahme einen Straferlass oder eine Änderung der Regelung für die vorzeitige Haftentlassung, so ist dies nicht Bestandteil der ,Strafe‘ im Sinne von Artikel 7“. 53 BVerfG, Urt. v. 4. 5. 2011 – 2 BvR 2365/09. 50
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Diesen Maßstäben nachfolgend wurde die konkrete Gestaltung dieses extrem harten Freiheitseingriffs in der gegenwärtigen Praxis – der Auslegung des EGMR im Fall „M.“ folgend – als nicht verfassungskonform erklärt. Nach Ansicht des BVerfG genügt das Institut weder einer deutlichen Unterscheidung von den Strafen noch dem Anspruch auf überzeugende Versuche in Richtung Resozialisierung der Sicherungsverwahrten.
VI. Lohnt es sich auf der Zweispurigkeit zu beharren? Wie aus den erwähnten Entscheidungen hervorgeht, bleibt die Ähnlichkeit beim Vollzug von Freiheitsstrafen und Maßregeln immer noch ein gewichtiges Argument gegen eine nicht nur in der Theorie durchgreifende Trennung beider Institute. Die verschiedenen Legitimationsgründe auch in der Praxis ausreichend sichtbar zu machen, scheint immer noch ein schwer erreichbares Ziel. Die Akzente dabei so entscheidend auf die Verstärkung der Resozialisierungsversuche und auf die Pflicht, den Sicherungsverwahrten „nicht aufzugeben“, zu setzen, hört sich teilweise realitätsfern an. Abgesehen davon ist überhaupt nicht klar, wie die „Erforderlichkeit“ der Sicherungsverwahrung zu beurteilen ist, wenn die Zwecke von Besserung und Sicherung miteinander konkurrieren. In dieser Hinsicht könnte eine flüchtige Lektüre der Entscheidung „M. v. Deutschland“ dazu führen, ein Zweispurigkeitssystem als problematischer anzusehen im Gegensatz zu den Systemen mit höheren Strafen, die jedes Präventionsverlangen ohne weiteres befriedigen können. Zwar ist das Denkverfahren des EGMR, vom „nomenjuris“ in der inneren Rechtsordnung abzusehen, darauf gerichtet, auch die präventiven Eingriffe im Gewand einer Strafe an das Kontrollgebot zu binden. Es scheint aber, als ob die Überprüfungsmaßstäbe für Länder mit längeren Strafen leichter wären.54 Gewiss sind die auf eine unsichere Gefährlichkeitsprognose beruhende Eingriffe schwieriger zu rechtfertigen. Andererseits ist eine „tatproportionale“ Strafe prinzipiell auch eine gerechtfertigte Strafe. Aber die „Tatproportionalität“ isoliert ist grundsätzlich eine leere Formel. Die Befugnisse des Gesetzgebers bei der Bestimmung von Strafrahmen sind prinzipiell unbegrenzt. Soweit eine gewisse ordinale Verhältnismäßigkeit55 beibehalten wird und mit der Ausnahme eklatanter Willkür darf er die Sicherheitsbedürfnisse der Gesellschaft einfach in hohe Strafrahmen einbeziehen, praktisch ohne jeden rechtlichen Einwand zu riskieren. Darüber hinaus ist 54 Beim Vergleich der Argumente in den Fällen „M. v. Deutschland“ und „Kafkaris v. Cyprus“ ist das ziemlich deutlich zu merken. 55 Die Achtung der ordinalen Verhältnismäßigkeit kann prinzipiell als wesentlicher Bestandteil der inneren Kohärenz jedes „Tadelsystems“ betrachtet werden. Der Begriff wird einleuchtend von Ashworth definiert: er bezieht sich auf „how [much] a crime should be punished compared to similar criminal acts, and compared to other crimes of a more or less serious nature“ (Principles of Criminal Law, Oxford, 1991, S. 15).
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die Frage nach einer schuldangemessenen, nach einer „verdienten“ Strafe nicht immer eindeutig zu beantworten. Sie hängt von vielen theoretisch nicht gelösten Fragen der Strafzumessung ab. Das hat zur Folge, dass die „Sicherheitsbedürfnisse der Gesellschaft“ oder sogar die Gefährlichkeit des Täters sich in der „verdienten“ Strafe leicht verschleiern können. Wenn das der Fall ist, – und anders als bei einer offenen Gefährlichkeitsprognose – sind die Chancen der Betroffenen, ein solches „Schuldurteil“ zu widerlegen, äußerst begrenzt. Vorausgesetzt, dass die Sicherungsverwahrung nur bei sehr schweren Verbrechen anzuwenden ist, dann überschneiden sich Sicherungsverwahrung und lange Freiheitsstrafen in den wesentlichen Folgen. Bei beiden wird de facto eine zeitlich sehr bedeutende Neutralisierung gefährlicher Straftäter erreicht und bei beiden hängt die Entlassung davon ab, dass der Gefangene nicht mehr als gefährlich beurteilt wird. Je länger eine Freiheitsstrafe, desto weniger wird der Sicherungsaspekt durch die Tatschuld begrenzt.56 Der große Unterschied zu einem rein zweispurigen System liegt darin, dass die drastischen Folgen der Sicherungsverwahrung in allen Fällen angewandt werden, wobei der Ausnahmecharakter eines auf der Gefährlichkeit beruhenden Eingriffs verloren geht. Die Gefährlichkeitsbeurteilung beim Entscheid über eine Verwahrung hat gegenüber einer verschleierten Sicherheitsstrafe die Vorzüge, dass die Gefährlichkeit durch sachverständige Begutachtung zu belegen und ausdrücklich zu begründen ist57, und dass das Urteil periodisch überprüft werden soll. Demgegenüber wird das Nachbestehen der Gefährlichkeit bei einer Freiheitsstrafe – wenn überhaupt – erst nach einem langjährigen Strafvollzug kontrolliert. In dieser Hinsicht bleibt der Rat des verehrten Jubilars, das „sinkende Boot der Maßregel“58 nicht zu voreilig zu verlassen, immer noch mehr als vernünftig!
56 In Bezug auf die Unmöglichkeit der Tatschuld, eine lebenslängliche Freiheitsstrafe zu beschränken, s. Streng, FS Lampe, 2003, S. 611 ff., S. 618. 57 Kunz, ZStrR 117, 253. 58 Frisch, ZStW 102 (1990), 354.
Die Privatisierung des Maßregelvollzugs Von Thomas Würtenberger* Derzeit sind mehr als 10.000 schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Straftäter in psychiatrischen Krankenhäusern (§ 63 StGB) oder Entziehungsanstalten (§ 64 StGB) untergebracht1. Die Organisationsformen der Unterbringung variieren beträchtlich: In einigen Bundesländern werden die psychiatrischen Kliniken in Erfüllungsverantwortung des Landes, in Bayern von den Bezirksverbänden betrieben. In anderen Bundesländern hat eine formelle oder gar funktionelle Privatisierung des Maßregelvollzugs stattgefunden. Dabei überrascht, dass die vor etwa 10 Jahren einsetzende Privatisierungswelle im Bereich des Maßregelvollzugs, anders als im Bereich des Strafvollzugs2, nicht von einer vertieften Diskussion ihrer verfassungsrechtlichen Voraussetzungen begleitet wurde3. So war es auch erst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum hessischen Maßregelvollzug4, in der der verfassungsrechtliche Rahmen für die formelle Privatisierung des Maßregelvollzugs entwickelt und diese im Grundsatz zugleich gebilligt wurde. Allerdings verhält sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu den Voraussetzungen und Möglichkeiten einer funktionellen Privatisierung des Maßregelvollzugs, wie sie nach dem Gesagten von einer Reihe von Bundesländern beschritten wurde. In der Konsequenz dieser sachlichen Beschränkung der Entscheidung stellen sich für die Landesgesetzgeber folgende Fragen: Bestehen zwischen formeller und funktioneller Privatisierung Unterschiede, die zu einer anderen verfassungsrechtlichen Bewertung mit der Folge nötigen, dass Modelle einer funktionellen Privatisierung grundlegend geändert oder gar aufgegeben werden müssen? Darüber hinaus: Welche Gestaltungsspielräume verbleiben der Landespolitik allgemein bei der Privatisierung *
Herrn Steffen Tanneberger danke ich für eine kritische Durchsicht des Manuskripts. Stolpmann, APuZ 7/2010, 28 ff. 2 Verwiesen sei nur auf Kulas, Privatisierung hoheitlicher Verwaltung: Zur Zulässigkeit privater Vollzugsanstalten, 2001; Roth, Privatisierungsmöglichkeiten im geschlossenen Strafvollzug, 2006; Müller-Dietz, Neue Kriminalpolitik, 2006, 11 ff.; Mösinger, BayVBl. 2007, 417 ff. 3 Eher knappe Diskussionen dieses Themenbereiches bei Willenbruch/Bischoff, NJW 2006, 1776 ff.; Baur, in: Kammeier (Hrsg.), Maßregelvollzugsrecht, 3. Aufl. 2010, C 61 ff.; Kammeier, aaO, A 74 ff.; aus landesrechtlicher Sicht vgl. Reinke, Privatisierung des Maßregelvollzugs dargestellt am Beispiel des Brandenburger Modells, jur. Diss. Universität Potsdam, 2010. 4 Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. 01. 2012, 2 BvR 133/10, NJW 2012, 1563 ff.; zustimmende Urteilsbesprechungen von Waldhoff, JZ 2012, 683 ff.; Sachs, JuS 2012, 668 ff.; Schladebach/Schönrock, NVwZ 2012, 1011 ff. 1
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des Maßregelvollzuges? In Beantwortung dieser Fragen soll zunächst für den Bereich des Maßregelvollzugs die Privatisierungswelle des letzten Jahrzehnts nachgezeichnet werden. Sodann wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum hessischen Modell der Privatisierung vorgestellt, um in Auseinandersetzung mit den verfassungsgerichtlichen Maßgaben die Gestaltungsspielräume des Landesgesetzgebers im Bereich der Privatisierung des Maßregelvollzugs auszumessen.
I. Zur Entwicklung der Privatisierung des Maßregelvollzugs Die Privatisierung des Maßregelvollzugs ist eine Nebenfolge der Privatisierung des Krankenhauswesens5. Diese erstreckte sich zugleich auf die psychiatrischen Abteilungen, so dass es nur konsequent war, mit den psychiatrischen Abteilungen zugleich den Maßregelvollzug zu privatisieren. Dies schon deshalb, weil der Maßregelvollzug ein „Doppelmandat“ insoweit hat, als er sowohl die psychiatrische Behandlung als auch die Sicherung der Straftäter wegen ihrer krankheitsbedingten Gefährlichkeit umfasst. Dieser doppelten Zielsetzung des Maßregelvollzuges entsprechen verwaltungspraktische Vorzüge: So führt die organisatorische Verschränkung des Sicherungszwecks mit der allgemeinen Psychiatrie zu Synergieeffekten, die sinnvoller Weise auch im Kontext der Privatisierung nicht zu übergehen sind. In den meisten Bundesländern lag die Privatisierung des Maßregelvollzugs auf der Linie der allgemein verfolgten Politik der Haushaltskonsolidierung. Durch Veräußerung der Kliniken an private Rechtsträger6 konnten beträchtliche Einnahmen generiert werden. Hinzu kam, dass die Länder die erheblichen Aufwendungen für den erforderlich werdenden Neubau von Kliniken im Bereich des Maßregelvollzugs nicht in ihrer Haushaltsplanung zu berücksichtigen hatten, eben weil diese von den privatisierten Rechtsträgern zu finanzieren waren, die sich ihrerseits auf dem Kapitalmarkt refinanzierten. Allerdings haben die Länder die entsprechenden Zins- und Amortisationsleistungen zu tragen, so dass durch die benannte Konstruktion nicht die Investitionskosten, sondern „lediglich“ der Schuldendienst für die Haushaltsplanung relevant wurde. Bisweilen wurde in der politischen Diskussion als Argument für die Privatisierung des Maßregelvollzugs die Möglichkeit von Kostenersparnissen angeführt. Diese Erwägung hat sich freilich nicht bewahrheitet. So ergibt der Vergleich der Pflegeaufwendungen in Thüringen, Hessen oder Hamburg, wo der Maßregelvollzug privatisiert worden ist, im Vergleich mit Bundesländern, in denen der Maßregelvollzug in der staatlichen Erfüllungsverantwortung belassen wurde, folgendes Bild: Die Pfle5 Vgl. Pollähne, Die Privatisierung psychiatrischer Krankenhäuser und ihre Folgen für den Maßregelvollzug, in: Dessecker (Hrsg.), Privatisierung in der Strafrechtspflege, 2008, S. 139 ff. 6 Allgemein zur Vermögensprivatisierung: Kämmerer, Privatisierung, in: Ehlers/Fehling/ Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2012, § 14 Rn. 12 ff.
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geaufwendungen je Tag und Pflegefall lagen in den drei genannten „Privatisierungsländern“ im Bereich von etwa 275,– E pro Tag, während der Durchschnitt aller Bundesländer im Bereich von 230,– E pro Tag lag7. Vom Finanzaufwand lassen sich keine direkten Rückschlüsse auf die Qualität des Maßregelvollzugs ziehen. Dies umso mehr, als es bislang, soweit ersichtlich, an Studien zur Qualität des Maßregelvollzugs in den einzelnen Bundesländern fehlt. Soweit allerdings die sachangemessene Verwendung der zur Verfügung stehenden Landesmittel durch die privaten Rechtsträger vom Land kontrolliert und gegebenenfalls durchgesetzt wird, sind Rückschlüsse von der Höhe der Finanzmittel auf die Qualität des Maßregelvollzugs möglich. Die vielfach geäußerte Befürchtung, die Privatisierung des Maßregelvollzugs würde mit Kosteneinsparungen notwendigerweise zu Qualitätsminderungen führen, erscheint unter diesen Voraussetzungen widerlegt. Man kann vielmehr annehmen, dass bei einer Privatisierung des Maßregelvollzugs, der nach gleichen Maßstäben, Organisationsprofilen, Behandlungsmethoden etc. wie in den allgemeinen psychiatrischen Abteilungen erfolgt, eine besondere Form von Qualitätssicherung zu erwarten ist. Auch aus einem anderen Grund spricht Vieles dafür, dass in der Folge der Privatisierung des Maßregelvollzuges die Qualität der Unterbringung verbessert werden konnte. So scheint nahe liegend, dass die privaten Krankenhausträger, die ohnehin die Einrichtungen für die allgemeine Psychiatrie unterhalten, mit ihrem Erfahrungswissen im Bereich von Krankenhausorganisation und Patientenversorgung effektiver arbeiten können als der Staat, wenn dieser nach der Privatisierung des Krankenhauswesens für den im jeweiligen Bundesland verhältnismäßig kleinen Teil der Straftäter im Maßregelvollzug eine eigene Krankenhausorganisation schaffen und vorhalten müsste. Vor diesem Hintergrund ist eine föderalistische Vielfalt von Privatisierungsmodellen im Bereich des Maßregelvollzugs entstanden8. So hat etwa Hessen die rechtlichen Voraussetzungen für eine formelle Privatisierung9 des Maßregelvollzugs geschaffen. Hier können die Krankenhäuser in der Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH geführt werden, wobei das Land über den Landeswohlfahrtsverband Hessen Eigentümer ist bzw. bleibt. Diese Privatrechtssubjekte wiederum werden gem. § 2 S. 3 des Hessischen Maßregelvollzugsgesetzes10 durch Beleihung mit der Durchführung des Maßregelvollzugs betraut. Dabei müssen die Leiter der Maßregelvoll7
Vgl. Jaschke/Oliva, Kerndatensatz im Maßregelvollzug, Stand 2012. Zum Privatisierungsverlauf in einzelnen Bundesländern: Töller/Dittrich, Die Privatisierung des Maßregelvollzugs. Die deutschen Bundesländer im Vergleich, polis Nr. 68/ 2010, 11 ff. 9 Zu den Privatisierungsformen: Kämmerer (Fn. 7), § 14 Rn. 4 ff.; Burgi, Privatisierung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 75 Rn. 6 ff. 10 Hessisches Gesetz über den Vollzug von Maßregeln der Besserung und Sicherung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Erziehungsanstalt vom 03. 12. 1981, GVBl. S. 414, zul. geändert durch Gesetz vom 28. 06. 2010, GVBl. S. 185. 8
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zugseinrichtungen, deren Stellvertreter und die Ärzte mit Leitungsfunktionen Beschäftige des Landeswohlfahrtsverbandes, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, bleiben. Darüber hinaus unterliegen die Träger der Einrichtungen des Maßregelvollzugs allgemeinen Weisungen und – so diesen Weisungen nicht entsprochen oder gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen wird – auch den Einzelweisungen der Fachaufsichtsbehörden. Die rechtlichen Regelungen anderer Bundesländer normieren nicht explizit, ob eine formelle oder funktionelle Privatisierung des Maßregelvollzugs stattfinden kann. Teils ist der Rechtsrahmen für die Privatisierung des Maßregelvollzugs im jeweiligen Landesrecht nur ansatzweise geregelt, das Landesrecht gibt teils aber auch Eckpunkte für etwaige Privatisierungen vor. Alle Regelungen normieren eine umfassende Rechts- und Fachaufsicht, um den im Maßregelvollzug gebotenen Grundrechtsschutz zu sichern. Zum Teil bestehen Selbsteintrittsrechte der Aufsichtsbehörden; in einigen Landesgesetzen sind aufsichtsbehördliche Weisungsrechten gegenüber allen – auch den nicht in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehenden – Beschäftigten im Maßregelvollzug geregelt. Das ThürPsychKG regelt, wie auch die Gesetze einiger anderer Bundesländer, sowohl die Behandlung in den psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser als auch im Maßregelvollzug. Die Beleihung nach § 30 Abs. 1 S. 2 ThürPsychKG11 erstreckt sich auf die Wahrnehmung sämtlicher hoheitlicher Aufgaben, die mit dem Maßregelvollzug einhergehen. Durch Rückverweis gelten für den Maßregelvollzug all jene Vorgaben, die auch sonst von den psychiatrischen Abteilungen in den Krankenhäusern zu beachten sind. Die wesentlichen rechtlichen Rahmensetzungen finden sich, wie auch in den anderen Bundesländern, in den Beleihungsverträgen. So wurden in den Beleihungsverträgen mit zwei privatwirtschaftlich tätigen Krankenhausträgern und einem gemeinnützigen Krankenhausträger die Mitwirkung des Landes an der Einstellung des Chefarztes, die Weisungsrechte, die Informationsmöglichkeiten, die Personalvorhaltungspflichten, die Qualitätssicherung sowie die Finanzierung des Maßregelvollzugs sehr ausführlich geregelt. § 4 Abs. 1 S. 1 Hamburgisches Maßregelvollzugsgesetz12 beleiht direkt die Asklepius Klinik Nord/Ochsenzoll mit Aufgaben des Maßregelvollzugs; zudem können auch andere private Träger mit den Aufgaben des Maßregelvollzugs beliehen werden (S. 3). Nach § 13 Abs. 3 S. 1 und 2 Bremisches Psychische Krankheitengesetz13 können psychiatrische Krankenhäuser, sowie Einrichtungen kommunaler oder freier Träger durch Beleihung mit Aufgaben des Maßregelvollzugs (§ 13 Abs. 1 S. 5) betraut werden. In vergleichbarer Weise kann nach § 37 Abs. 2 S. 2 Psychischkrankengesetz Mecklenburg-Vorpom11 Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen i. d. F. der Bekanntmachung vom 05. 02. 2009, GVBl. S. 10. 12 Gesetz über den Vollzug von Maßregeln der Besserung und Sicherung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Erziehungsanstalt vom 07. 09. 2007, GVBl. S. 301, zul. geändert am 17. 02. 2009, GVBl. S. 29, 34. 13 Bremisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten vom 19. 12. 2000, GBl. S. 471, zul. geändert am 24. 01. 2012, GBl. S. 24.
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mern14 und nach § 3 Abs. 1a Maßregelvollzugsgesetz Schleswig-Holstein15 die Aufgabe des Maßregelvollzugs geeigneten Einrichtungen in nicht öffentlich-rechtlicher Trägerschaft übertragen werden. Bleiben diese normativen Vorgaben äußerst knapp und verweisen das erforderliche Privatisierungsfolgenrecht16 in die rechtliche Gestaltung der Beleihungsverträge, so normiert das Maßregelvollzugsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt17 ausführlicher die Voraussetzungen der Übertragung des Maßregelvollzuges an private Träger. Die Einrichtungen sind, ein wesentlicher organisatorischer Aspekt, einem Leiter zu unterstellen, der die Befähigung zum Richteramt hat (§ 3 S. 3). Außerdem sind die für die Ausübung hoheitlicher Befugnisse einzusetzenden Beschäftigten zu Verwaltungsvollzugsbeamten gemäß der entsprechenden Landesverordnung zu bestellen (§ 3 Abs. 3).18 Mit vergleichbarer Zielsetzung der Effektivierung von hoheitlichen Kontrollmöglichkeiten der zu treffenden Zwangsmaßnahmen regelt § 10 Abs. 2 S. 1 Brandenburgisches Psychisch-Kranken-Gesetz19 die Möglichkeit der Privatisierung des Maßregelvollzuges mit der Maßgabe, dass die „Beschäftigten der nicht öffentlichen Krankenhausträger, die am Vollzug der Unterbringung beteiligt sind, … der unmittelbaren staatlichen Aufsicht“ unterliegen und „durch die Aufsichtsbehörden widerruflich für die Vollzugsaufgaben mit der Befugnis zur Ausübung unmittelbaren Zwangs auf Anordnung der ärztlichen Leitung zu bestellen“ sind (S. 2). Eine deutliche Begrenzung der Privatisierung des Maßregelvollzugs findet sich in § 3 Abs. 1 S. 4 Niedersächsisches Maßregelvollzugsgesetz.20 Hiernach sind von der „Übertragung auf eine juristische Person des Privatrechts“ u. a. die Aufgaben der Vollzugsleitung (Nr. 1) und die Entscheidung über die Anwendung unmittelbaren Zwangs (Nr. 11) ausgeschlossen. Die Vollzugsleitung trägt die Verantwortung für die ärztlichen und pflegerischen Aufgaben des Vollzugs, insbesondere auch für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen (§ 5a S. 1). Zudem dürfen grundrechtseinschränkende Maßnahmen nur von Ärzten angeordnet und von diesen oder Pflegern vollzogen werden (§ 3 Abs. 1 S. 1). Ihr Tätigwerden setzt voraus, dass sie zu Verwaltungsvollzugsbeamten21 bestellt worden sind (§ 3 Abs. 1 S. 2). Wenn hier von „Beamten“ 14 Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke vom 13. 04. 2000, GVOBl. S. 182, zul. geändert am 09. 11. 2010, GVOBl. S. 642, 649. 15 Vom 19. 01. 2000, GVOBl. S. 114, zul. geändert am 31. 03. 2008, GVOBl. S. 158. 16 Hierzu allgemein: Burgi (Fn. 9), § 75 Rn. 28 ff. 17 Maßregelvollzugsgesetz Sachsen-Anhalt vom 21. 10. 2010, GVBl. S. 510. 18 Diese Verwaltungsvollzugsbeamten haben in der Regel allerdings keinen Beamtenstatus (§ 3 VO über Verwaltungsvollzugsbeamte vom 7. 2. 1992, GVBl. S. 124, zul. geändert am 30. 7. 2003, GVBl. S. 198). 19 Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen sowie über den Vollzug gerichtlich angeordneter Unterbringung für psychisch kranke und seelisch behinderte Menschen im Land Brandenburg vom 5. 5. 2009, GVBl. S. 134, zul. geändert am 26. 10. 2010, GVBl. Nr. 34. 20 Vom 1. 6. 1982, GVBl. 1982, S. 131, zul. geändert am 10. 6. 2010, GVBl. S. 249. 21 Dies war vom Nds StGH NdsVbl. 2009, 77 gefordert worden, damit die Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf juristische Personen des Privatrechts im Wege der Beleihung über eine hinreichende personelle demokratische Legitimation verfügt.
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gesprochen wird, so ist dies irreführend; denn nach § 2 S. 1 Nds. VO über Verwaltungsvollzugsbeamtinnen und Verwaltungsvollzugsbeamte22 können auch nicht verbeamtete Personen zu Verwaltungsvollzugsbeamten bestellt werden. Einem etwaigen „Beamtenvorbehalt“ im Bereich des Maßregelvollzugs kann jedenfalls auf diese Weise nicht genügt werden.
II. Die verfassungsgerichtlichen Vorgaben für die Privatisierung des Maßregelvollzugs Die Verfassung setzt, wie für alle Privatisierung von Staatsaufgaben, auch für die Privatisierung des Maßregelvollzugs die rechtliche Rahmenordnung23. Letztere ist nunmehr in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Privatisierung des hessischen Maßregelvollzugs ausgefächert worden24. Die im Folgenden zu besprechende Entscheidung erging auf eine Verfassungsbeschwerde, die gegen die Maßnahme einer Einschließung erhoben wurde. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Einschließung von einem nicht beamteten Mitarbeiter des Krankenhauses verfügt wurde, worin er einen Verstoß gegen Art. 33 Abs. 4 GG und gegen das grundgesetzliche Demokratieprinzip sah. Beschwerdegegenstand war damit (auch) § 5 Abs. 3 HessMVollzG, wonach bei Gefahr im Verzug zur vorläufigen Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen auch nicht beamtete Bedienstete der fraglichen Einrichtung ermächtigt werden. Nach der Elfes-Formel des Bundesverfassungsgerichts war die Verfassungsmäßigkeit dieser hessischen Vorschrift am Maßstab des Art. 33 Abs. 4 GG sowie des Demokratieprinzips zu beurteilen25. Gleichwohl überrascht, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde zum Anlass nimmt, aus dem beamtenrechtlichen Funktionsvorbehalt umfassende verfassungsrechtliche Vorgaben für die Privatisierung des Maßregelvollzugs insgesamt zu entwickeln. Die so erreichte verfassungsgerichtliche Erweiterung des Prüfungsumfangs erlaubte es dem Bundesverfassungsgericht, den Vorbehalt für das Berufsbeamtentums derart in Beziehung zum Demokratieprinzip zu setzen, als Beschränkungen des Funktionsvorbehalts durch aus dem Demokratieprinzip folgende Kontroll- und Aufsichtsrechte aufgefangen werden können. Dass Art. 33 Abs. 4 GG auch im Fall einer formellen Privatisierung Geltung beansprucht, wird zunächst mit dem schlichten Hinweis, diese Bestimmung wolle einen Mindesteinsatzbereich des Berufsbeamtentums institutionell absichern (Rn. 94), begründet. In der Tat sichert Art. 33 Abs. 4 GG, dass im Funktionsbereich 22
Vom 13. 03. 1995 (Nds. GVBl. S. 60), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndVO vom 16. 01. 2008 (Nds. GVBl. S. 71). 23 Allgemein zur „Verfassung als Privatisierungs-Rahmenordnung“: Burgi (Fn. 9), § 75 Rn. 13 ff., 16 ff. 24 BVerfG 2 BvR 133/10 vom 18. 01. 2012. 25 Vgl. Waldhoff, JZ 2012, 683; Sachs, JuS 2012, 668, 669.
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des staatlichen Gewaltmonopols im Grundsatz nur Beamte tätig werden dürfen. Eine differenziertere Betrachtung des Art. 33 Abs. 4 GG zeigt aber: Die dort normierte institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums will zwar um der historischen Kontinuität willen bestimmte staatliche Strukturen wahren, allerdings steht sie nicht außerhalb der Entwicklung von Staat und Gesellschaft. Denn die historisch bedingten Veränderungen von Staat und Gesellschaft haben im Sinne einer „offenen Verfassung“26 Einfluss darauf, welcher Mindesteinsatzbereich des Berufsbeamtentums institutionell gesichert sein soll. Eine verfassungsrechtliche Versteinerungsklausel gehört nicht zum Garantiegehalt institutioneller Garantien, wird aber auch vom Bundesverfassungsgericht bei seinen weiteren Ausführungen aus guten Gründen nicht verfolgt. Ein wesentlicher Aspekt bei der weiteren Prüfung des Art. 33 Abs. 4 GG ist, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen die Ausübung physischer Gewalt im Maßregelvollzug privatisiert werden darf. Zu klären war mit Blick auf den Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde, ob die Not- und Eilfallkompetenz der nicht verbeamteten Beschäftigten bei Einschließungen und anderen Zwangsmaßnahmen eine „ständige“ Aufgabe ist, die dem Berufsbeamtentum im Bereich der Eingriffsverwaltung zu übertragen ist. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kommt es für die Ausübung einer Befugnis als „ständige Aufgabe“ darauf an, ob es sich um eine dauerhafte Aufgabenübertragung handelt, hingegen soll die Frequenz der Befugnisausübung nicht von Bedeutung sein (Rn. 141). Damit müssen also auch Eingriffsmaßnahmen in Ausnahmesituationen des Maßregelvollzugs im Prinzip von Berufsbeamten wahrgenommen werden. Dem gegenüber mag man zu bedenken geben, dass das ausnahmsweise Tätigwerden, weil Berufsbeamte zu Anordnungen nicht in der Lage sind, auf Grund von „Not- und Ausnahmekompetenzen“ nicht als „ständige Aufgabe“ zu begreifen ist, die Berufsbeamten vorbehalten ist. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Eröffnung des Regelungsbereichs des Art. 33 Abs. 4 GG festgestellt hatte, entwickelte es Grundsätze und Maßstäbe, nach denen vom Funktionsvorbehalt für das Berufsbeamtentum abgesehen werden kann. Denn rechtliche Befugnisse als ständige Aufgabe sind „in der Regel“ Berufsbeamten zu übertragen. Abweichungen von dieser Regelvermutung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes. Dieser kann auf spezifischen Erfahrungen mit gewachsenen Strukturen beruhen, kann aber auch relevante Besonderheiten der jeweiligen Tätigkeit betreffen, bei denen der Zweck des Vorbehalts keine Übertragung auf Berufsbeamten erfordert (Rn. 146 ff.). Dabei wird betont, dass das Interesse an der institutionellen Absicherung der Aufgabenwahrnehmung durch Beamte umso stärker in Ansatz zu bringen sei, je intensiver die fragliche Tätigkeit Grundrechte berührt, was insbesondere im Maßregelvollzug von Bedeutung ist (Rn. 149). Ob eine Ausnahme vom Funktionsvorbehalt des Berufsbeamtentums erfolgen soll, entscheidet der Gesetzgeber in Ansehung der tatsächlichen Umstände gemäß seinem Einschätzungsspielraum (Rn. 150). 26
Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 7 Rn. 32 ff.
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Der Funktionsvorbehalt des Berufsbeamtentums sichert die Kontinuität der Aufgabenerfüllung in den zentralen Bereichen von innerer Sicherheit und Justiz. Arbeitskämpfe müssen im Bereich eines privatisierten Maßregelvollzugs ausgeschlossen sein, bzw. dürfen dessen Funktionsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Das Bundesverfassungsgericht hält zur Funktionssicherung das Vorhalten von Notdiensten für ausreichend (Rn. 162)27. Nicht erwähnt wird allerdings, dass das Streik- und Arbeitskampfrecht des Krankenhauspersonals ohnedies an der Wahrung der Funktionsfähigkeit der Krankenhäuser im Bereich der ärztlichen Versorgung seine verfassungsrechtliche Grenze findet28. Was die spezifischen Erfahrungen mit gewachsenen Strukturen29 betrifft, hält es das Bundesverfassungsgericht nicht für entscheidend, dass der Maßregelvollzug bereits seit Jahrzehnten in weiten Bereichen nicht durch Beamte, sondern durch ärztliches und nichtärztliches Personal vollzogen wird. Voraussetzung für die Lockerung des Funktionsvorbehalts des Berufsbeamtentums ist vielmehr, dass die Situation der Patienten im Maßregelvollzug nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nicht dadurch beeinträchtigt worden ist, dass auf die Beschäftigung von Beamten verzichtet wurde (Rn. 158). Von entscheidender Bedeutung sind dabei die Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung. Was die Qualitätssicherung im Bereich des Maßregelvollzugs betrifft, verweist das Bundesverfassungsgericht auf den Umstand, dass die Privatisierung des hessischen Maßregelvollzugs nur eine formelle ist. Aus diesem Grund werde der Maßregelvollzug nicht erwerbswirtschaftlichen Motiven und Zwängen und damit systemischen Fehlsteuerungen unterworfen (Rn. 160). Für einen Verzicht auf die Beschäftigung von Beamten spielt zudem eine Rolle, dass der ärztliche Leiter der Maßregelvollzugseinrichtung und die leitenden Ärzte Beschäftigte des Landeswohlfahrtsverbandes und damit einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft sind. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bedarf es einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, ob die Besonderheiten des Maßregelvollzugs so gewichtig sind, dass vom Funktionsvorbehalt des Berufsbeamtentums abgesehen werden kann (Rn. 149 ff.). Dabei streite für eine Privatisierung des Maßregelvollzugs durch Beleihung privater Rechtsträger, dass sie für die Betroffenen vorteilhaft ist. Denn durch die Privatisierung wird eine Verbundlösung insofern erreicht, als der Maßregelvollzug in psychiatrischen Krankenhäusern vollzogen wird, die auch sonst psychisch Kranke stationär behandeln. Es werden Behandlungslösungen „aus einer Hand“ ermöglicht, weil aller Erfahrung nach die aus dem Maßregelvollzug Entlassenen weiterhin in psychiatrischer Behandlung bleiben müssen. Die Privatisierung des Maßregelvollzugs dient damit der Optimierung der Behandlungsmöglichkeiten 27
Krit. Grünebaum, R&P 2012, 121, 125 f., der dem BVerfG vorwirft, sich der „gesellschaftlichen Wirklichkeit“ der Folgen von langfristigen Streiks nicht zu stellen. 28 Zippelius/Würtenberger (Fn. 26), § 27 Rn. 50. 29 Die Bedeutung dieses Argumentationstopos verkennt Baur, R&P 2012, 128 bei seiner Kritik an der Entscheidung des BVerfG.
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der Betroffenen, weil der hoheitliche Maßregelvollzug vereinfacht in eine nachfolgende „private“ Behandlung übergeleitet werden kann. Zudem verweist das Bundesverfassungsgericht auf die Synergieeffekte im Bereich der Verbesserung der Personalgewinnungs-, Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten. Ein Maßregelvollzug, der in die allgemeine psychiatrische Betreuung eingebettet ist, ermöglicht ein gezieltes Personalmanagement, das die Qualität des Maßregelvollzugs optimiert. Diese restriktive Auslegung des Art. 33 Abs. 4 GG überzeugt nicht zuletzt aus dem Grund, als die psychiatrische Behandlung im Maßregelvollzug ohnehin eher medizinisch indiziert ist und daher einer besonderen medizinischen Qualifikation bedarf, so dass eine berufsbeamtliche Einbindung in die Organisation und in die Entscheidungsabläufe nicht erforderlich erscheint. Denn das Amtsethos des Beamten findet seine Entsprechung in dem Amtsethos des Arztes, der in seinem Handeln gleichfalls auf das Wohl seiner Patienten verpflichtet ist.30 Davon abgesehen kann der Beamtenstatus im Maßregelvollzug nicht dazu dienen, wie von der Institution des Berufsbeamtentums gefordert, „einen ausgleichenden Faktor gegenüber dem der Staatsleben gestalteten politischen Kräften“ darzustellen31. Da auch diese funktionelle Rechtfertigung des Berufsbeamtentums, die das Bundesverfassungsgericht in der hier besprochenen Entscheidung bemerkenswerter Weise übergeht, im Maßregelvollzug ohnehin nicht durchgreift, liegt darin im Ergebnis keine Abkehr von der entsprechenden Rechtsprechung32. Ein Verzicht auf die Beschäftigung von Beamten ist nur statthaft, wenn den Anforderungen des Demokratieprinzips genügt ist. Art. 33 Abs. 4 GG und das Demokratieprinzip, zwei an sich selbständig nebeneinander stehende Verfassungsprinzipien, werden also dergestalt miteinander verknüpft, dass etwaige Abstriche bei den durch Art. 33 Abs. 4 GG gestellten Anforderungen durch eine akzentuierte Verwirklichung des Demokratieprinzips kompensiert werden können. Werden – wie bei der Privatisierung des Maßregelvollzugs – Private mit Eingriffsbefugnissen beliehen, fordert das Bundesverfassungsgericht, dass die Möglichkeiten parlamentarischer Kontrolle der Aufgabenwahrnehmung unbeeinträchtigt bleiben (Rn. 166). Weit über den zu entscheidenden Fall hinaus wird zudem eine „staatliche Gewährleistungsverantwortung“ für den Maßregelvollzug angemahnt, die eine entsprechende parlamentarische „Beobachtungspflicht“ erfordert, die einfachrechtlich abzusichern ist (Rn. 166).
30 Daher ist befremdlich, wenn Baur, R&P 2012, 128, 129 behauptet, dass nicht verbeamtete Ärzte sich im Maßregelvollzug von „sachfremden Einflüssen Dritter oder sonstigen sachfremden Erwägungen“ leiten lassen können. 31 BVerfGE 7, 155, 162; 64, 367, 379; Zippelius/Würtenberger (Fn. 26), § 44 Rn. 12. 32 Daher ist es verfassungsrechtlich nicht vertretbar, wenn Grünebaum, R&P 2012, 121 ff. fordert, dass im Maßregelvollzug nur Beamte eingesetzt werden dürfen und die langjährige gegenläufige Praxis als verfassungswidrig stigmatisiert.
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Zur Effektuierung des Demokratieprinzips wird auf die – ihrerseits nicht gänzlich unumstrittenen – demokratischen Legitimations- und Kontrollketten33 abgestellt. Das Erfordernis der personellen Legitimation hoheitlich veranlasster Eingriffe erfordert auch im Maßregelvollzug, dass diejenigen, die dort zu Eingriffsmaßnahmen befugt sind, in einer ununterbrochenen Legitimationskette stehen, die sich auf das Staatsvolk zurückführen lässt. Darüber ist eine sachlich-inhaltliche Legitimationsund Kontrollkette zu fordern, die im Maßregelvollzug sowohl durch die Gesetzesbindung der Eingriffsbefugten als auch durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der im Maßregelvollzug Tätigen gegenüber der Regierung vermittelt wird, die ihrerseits dem Parlament gegenüber verantwortlich ist (Rn. 167). Für die personelle Legitimationskette lässt es das Bundesverfassungsgericht ausreichen, dass der Leiter der Maßregelvollzugseinrichtung und seine leitenden Ärzte als Beschäftigte des Landeswohlfahrtsverbandes durch die Bestellungsentscheidung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft personell legitimiert sind. Was das weitere Personal betrifft, soll es ausreichen, dass der Leiter der Einrichtung des Maßregelvollzugs ein Vorschlagsrecht bzw. ein fachliches Vetorecht gegenüber dem Krankenhausträger hat. Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird dadurch erreicht, dass der medizinische Leiter der Maßregelvollzugseinrichtung sowie das gesamte Personal an die gesetzlichen Vorgaben gebunden und einem Weisungs- und Kontrollrecht seitens der Aufsichtsbehörde unterworfen sind. Dabei gehen aufsichtsbehördliche Weisungen, auch an die weiteren im Maßregelvollzug Beschäftigten, Weisungen der (kaufmännischen) Klinikleitung vor.
III. Konsequenzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Maßregelvollzug Das Grundgesetz gilt in der Form und mit den Vorgaben, wie sie vom Bundesverfassungsgericht entwickelt werden34. Von einem verfassungsgerichtspositivistischen Ansatz ausgehend35, der das Verfassungsrichterrecht in einem ersten Zugriff zu sys33 Dem Recht der Europäischen Union ist eine Ausdifferenzierung des Demokratieprinzips durch Legitimations- und Kontrollketten nicht geläufig (vgl. EuGH NJW 2010, 1265 ff. mit Bespr. von Streinz, JuS 2010, 556 ff. und Spiecker gen. Döhmann, JZ 2010, 787 ff.). Es bleibt abzuwarten, ob die unionsrechtliche Konzeption des Demokratieprinzips einen spill overEffekt auf das verfassungsgerichtlich entwickelte Demokratiemodell zeitigen wird. 34 Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: Guggenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik. Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, 1998, S. 57, 60. 35 Zur hier nicht weiter zu verfolgenden Diskussion um den behaupteten Verfassungsgerichtspositivismus: Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), 161 ff.; Jestaedt. Verfassungsgerichtspositivismus, in: Hommage an J. Isensee, 2002, S. 183, 188 ff.; ders., Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 39.
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tematisieren versucht, um es sodann kritisch zu begleiten, lässt sich fragen, welche Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Maßregelvollzug zu ziehen sind. Einige verfassungsrechtsdogmatische und rechtspraktische Konsequenzen seien im Folgenden skizziert: (1) Dabei stellt sich wie auch sonst die Frage, ob und wie weit Einzelfallentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verallgemeinerungsfähig sind. So etwa können auch aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Maßregelvollzug nur begrenzt Rückschlüsse betreffs der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Privatisierung des Strafvollzugs entnommen werden. Strafvollzug und Maßregelvollzug verfolgen unterschiedliche Zielsetzungen, die ein unterschiedliches Rechtsregime gestatten, teils auch erforderlich machen. Im Strafvollzug geht es um den Vollzug der Freiheitsstrafe, verbunden mit der Resozialisierung des Straftäters. Zu der Zielsetzung des Maßregelvollzugs gehört eine therapeutische Behandlung, also eine umfassende ärztliche Versorgung, die darauf zielt, Straftäter von psychischen Erkrankungen zu heilen. Dies ist die Eigenrationalität des Maßregelvollzugs, die diesen vom Strafvollzug unterscheidet und die durch eine Privatisierung aufgrund der auch vom Bundesverfassungsgericht betonten Synergieeffekte besonders gefördert wird. Im Umkehrschluss lässt sich folgern, dass Teilprivatisierungen des Strafvollzuges nur in engen Grenzen statthaft sein können, was an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden kann. (2) Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob die Maßregelvollzugs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch für den Bereich der freiheitsentziehenden zivilrechtlichen Unterbringung nach § 1906 BGB und der öffentlich-rechtlichen Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder36 Geltung beanspruchen kann. Für eine Übertragbarkeit streitet, dass auch hier ein Freiheitsentzug und im Rahmen dieses Freiheitsentzuges Zwangsmaßnahmen erfolgen, die gleichfalls der demokratischen Legitimation bedürfen. Dagegen spricht, dass Beamte im Bereich der freiheitsentziehenden Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern eher selten beschäftigt sind. Zudem handelt es sich, was das wohl gewichtigere Argument ist, nicht um Freiheitsentziehungen, die an Straftaten anknüpfen, vielmehr dient die Unterbringung in der Psychiatrie dazu, den Einzelnen vor psychisch bedingten Selbst- oder Fremdgefährdungen zu schützen. Wegen dieser individualschützenden Komponente mögen im Vergleich zu den Anforderungen des Maßregelvollzugs Abstriche in Sachen Beamtenvorbehalt und demokratischer Legitimationsvermittlung hinnehmbar erscheinen, eben weil die Unterbringung zuvörderst medizinisch indiziert ist, nicht aber in einem strafverfahrensrechtlichem Kontext steht. (3) Der Funktionsvorbehalt des Berufsbeamtentums wurde vom Bundesverfassungsgericht im Maßstabsteil zunächst gestärkt, sodann aber im Subsumtionsteil durch die dort entwickelten Abwägungsleitlinien wieder begrenzt. Ob man hier mit dem Bundesverfassungsgericht von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung oder gar von der „Herstellung praktischer Konkordanz zwischen der Wahrnehmung der 36
Zu dieser Unterscheidung vgl. Müller, in: BeckOK BGB, § 906 BGB Rn. 2.
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in Art. 33 Abs. 4 GG vorgesehenen Ausnahme und der vom Gesetzgeber gegebenen Begründung des Einsatzes von Nichtbeamten“37 sprechen soll, erscheint aber fraglich. Denn der Funktionsvorbehalt des Berufsbeamtentums ist vielmehr mit Blick auf dessen Sinn und Zweck zu begrenzen. Bei dieser Grenzziehung befasst sich das Bundesverfassungsgericht mit den sachlichen Gründen, die „qualitativ“ eine Ausnahme vom Funktionsvorbehalt des Berufsbeamtentums zulassen38. Insofern lässt sich von einer grenzziehenden Dogmatik sprechen, die ausgehend von der Gewährleistungsfunktion den zwingenden Geltungs- und Anwendungsbereich institutioneller Garantien bestimmt. Es bedarf aber keiner Herstellung von praktischer Konkordanz zwischen institutionellen Gewährleistungen und kollidierenden Grundrechten bzw. Verfassungsprinzipien oder einer abwägenden verhältnismäßigen Zuordnung. (4) Das Bundesverfassungsgericht verlangt dem Parlament weitgehende Kontroll- und Überwachungspflichten gegenüber der Exekutive ab. So hat die Beleihung im Bereich des Maßregelvollzugs zur Voraussetzung, dass das Parlament Berichtspflichten normiert und durch seine Kontrolltätigkeit auf die ordnungsgemäße Erfüllung des Maßregelvollzugs hinwirkt. Werden diese parlamentarische Beobachtungsund Kontrollpflichten nicht erfüllt, hegt das Bundesverfassungsgericht Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Privatisierung des Maßregelvollzugs. Diese parlamentarischen Beobachtungs- und Kontrollpflichten werden vom Bundesverfassungsgericht auch in anderen grundrechtssensiblen Bereichen, etwa im Sicherheitsverfassungsrecht, eingefordert und angemahnt. Im demokratischen Staat trifft das Parlament eben eine Folgenverantwortung für die Effektivität seiner Gesetzgebung oder auch für die Privatisierung von Bereichen, die bislang zum Kernbereich der staatlichen Aufgaben gehörten. Gleichwohl mag man fragen, ob die Parlamente mit der Statuierung recht engmaschiger Beobachtungs- und Kontrollpflichten nicht überfordert werden. Zwar gehört die Kontrolle der Exekutive seit je zu einer der Grundfunktionen des Parlaments, allerdings wurde diese Kontrollfunktion regelmäßig abstrakt gedacht und gewissermaßen über die Verantwortung der Regierung für den rechtskonformen Vollzug der Gesetze mediatisiert. Eine allgemeine und ständige Kontrolle sämtlicher Verwaltungsebenen war dem Parlament nicht abverlangt und kann von diesem sinnvollerweise auch nicht abverlangt werden. Dieser überkommenen Kontrollfunktion des Parlaments wird nun aber durch die recht engmaschigen, routinemäßigen Überwachungspflichten etwa für den Maßregelvollzug ein neuer Sinn gegeben. Offenbar soll das Parlament in seiner Kontrollfunktion nicht nur Missstände aufklären, allgemein die Gesetzesbindung der Verwaltung überwachen, sondern in bestimmten Sachbereichen in die Funktion einer allgemeinen und ständigen „Aufsichtsbehörde“ gedrängt werden39. Demgegenüber ist zu fragen, ob diese Neu37
Waldhoff, JZ 2012, 684. Sachs, JuS 2012, 668, 670. 39 Vgl. aber auch BVerfGE 126, 55 (67 ff.): Bundestag ein „Gesetzgebungsorgan“, aber kein „umfassendes Rechtsaufsichtsorgan über die Bundesregierung“. 38
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definition der parlamentarischen Kontrollfunktion nicht zu Lasten der überkommenen sonstigen Funktionen des Parlaments geht: Sollte sich dieses nicht in erster Linie der Bestimmung der politischen Richtung vor allem durch die Gesetzgebung und bei den Haushaltsberatungen widmen? Ist es nicht so, dass bereits jetzt die Abgeordneten in ganz grundlegenden politischen Entscheidungen vom Sachverstand der Bürokratien überwältigt werden, dass Abgeordnete oft nicht mehr recht wissen, worüber sie eigentlich abstimmen?40 Vom Parlament eine tief greifende Kontrolle privatisierter Bereich zu fordern, kann rasch an dessen Arbeitskapazität seine Grenzen finden. So wird denn auch mit dem Legitimations- und Kontrollketten einer Theorie gefolgt, die sich in der Praxis kaum einlösen lässt und deren demokratischer Gewinn mit länger werdenden Ketten sich rasch verflüchtigt. (5) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betrifft allein das hessische Modell der formellen Privatisierung des Maßregelvollzugs. Zu den in anderen Bundesländern praktizierten Modellen der funktionellen Privatisierung des Maßregelvollzugs finden sich keine verfassungsrechtlichen Aussagen. Diese „Entscheidungslücke“ bei der Formulierung der normativen Vorgaben einer Privatisierung des Maßregelvollzugs kann man mit guten Gründen dahin schließen, dass auch eine funktionelle Privatisierung statthaft sein kann. Dabei muss freilich darauf geachtet werden, dass die Vorteile, die das Bundesverfassungsgericht mit der formellen Privatisierung verbindet, auch bei einer funktionellen Privatisierung erreicht werden. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts streitet für die Verfassungsmäßigkeit einer formellen Privatisierung, dass der private Betreiber der Klinik nicht von einem Gewinnstreben geleitet ist, das der Qualität des Maßregelvollzugs abträglich ist. Dies lässt sich auch bei einer funktionellen Privatisierung durch Gestaltung der Beleihungs- und Finanzierungsverträge einlösen. Zwar erwarten die privaten Rechtsträger als Betreiber des Maßregelvollzugs eine gewisse Gewinnspanne. Diese darf aber nicht an das Erreichen bestimmter Belegungsquoten oder an eine unangemessene Kostenminimierung anknüpfen. Es muss vielmehr mit dem Land vereinbart werden, ob und in welcher Höhe den Betreibern feste Gewinnmargen gewährt werden sollen. Davon abgesehen bleibt das Land in der Verantwortung, die Erfüllung der Aufgabe des Maßregelvollzugs in angemessener Weise zu finanzieren. Im Übrigen darf die jeweilige Form der Privatisierung nicht vorschnell mit der Möglichkeit wirtschaftlichen Konkurrenzdenkens in Zusammenhang gebracht werden. Denn wie die Beispiele von Bahn und Post zeigen, kann auch eine formelle Privatisierung der Effektivierung des erwerbwirtschaftlichen Kalküls dienen. Eine funktionelle Privatisierung kann in einer Form stattfinden, in der die Leistungserbringung bei der Aufgabenerfüllung nicht erwerbswirtschaftlich motiviert ist. Es greift also zu kurz, die Frage nach dem Bestehen eines erwerbwirtschaftlichen Kalküls an der Form der Privatisierung fest zu machen. Freilich lässt sich nicht von der Hand weisen, dass bei einer formellen Privatisierung ein stärkeres organisatorisches Band zwischen dem Staat und dem privatisierten 40
Vgl. hierzu Schoch, in: VVDStRL 71 (2012), S. 229 f.
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Rechtsträger als bei einer funktionellen Privatisierung besteht. Denn bei einer funktionellen Privatisierung kann es dazu kommen, dass die vom Demokratieprinzip geforderten Legitimations- und Kontrollketten stark ausgedünnt werden und daraus die Gefahr erwächst, dass der private Rechtsträger zum Gegenspieler staatlich verantworteter Entscheidungen wird. Dem kann bei einer funktionellen Privatisierung allerdings in effektiver Weise entgegen gewirkt werden. Ebenso wie vom Bundesverfassungsgericht für die formelle Privatisierung statuiert41 muss auch bei einer funktionellen Privatisierung der ärztliche Leiter der Maßregelvollzugseinrichtung durch die Bestellungsentscheidung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft personell legitimiert sein. Bloße Veto-Positionen des Landes bei der Bestellung der Chefärzte als ärztliche Leiter dürften nicht ausreichend sein, um die dem Demokratieprinzip entnommene Personalverantwortung zu übernehmen. Was die Einstellung bzw. Beschäftigung jener Mitarbeiter betrifft, die in die Lage kommen können, Zwangsmaßnahmen durchzuführen, hält das Bundesverfassungsgericht ein Vorschlagsrecht des ärztlichen Leiters, verbunden mit einer fachlichen Veto-Position gegenüber der Klinikleitung, für ausreichend.42 Bei dieser Lockerung der personellen Legitimationskette mag eine Rolle gespielt haben, dass der ärztliche Leiter nach dem hessischen Modell der formellen Privatisierung bei einem öffentlich-rechtlichen Rechtsträger angestellt ist, was bei einer funktionellen Privatisierung in der Regel nicht der Fall ist. Da mit dem Maßregelvollzug erhebliche Grundrechtseingriffe verbunden sind, streitet vieles dafür, dass das Bundesverfassungsgericht bei einer neuerlichen Befassung mit der Privatisierung des Maßregelvollzugs auf eine „hoheitliche“ Legitimationskette bei der Einstellung bzw. Beschäftigung des zu Zwangsmaßnahmen befugten Personals Wert legen könnte. Diese Problematik könnte möglicherweise dadurch entschärft werden, dass im Bereich des privatisierten Maßregelvollzugs ein Interventionsbeauftragter mit Beamtenstatus beschäftigt wird, der über die Anwendung von Zwangsmaßnahmen zu entscheiden hat. Alle diese Anforderungen an einen privatisierten Maßregelvollzug sind gemeinsam mit den erforderlichen fachaufsichtlichen Informations-, Weisungs- und Kontrollrechten in den entsprechenden Landesgesetzen zu regeln.
41
Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. 01. 2012, 2 BvR 133/10, NJW 2012, 1563 ff., Rn. 169. 42 Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. 01. 2012, 2 BvR 133/10, NJW 2012, 1563 ff., Rn. 170.
Probleme strafrechtlicher Sanktionen in Japan Von Kazushige Asada
I. Einführung Beim Japanisch-Deutschen Symposium im März 20121 berichtete der Jubilar in Bezug auf die Sicherungsverwahrung Folgendes: „Tatsächlich findet Prävention ja nicht nur im dualistischen System statt, und auch Staaten, die keine Maßregeln kennen, betreiben sie – nur eben über entsprechende Verlängerung der Standardstrafe – und müssen sie als solche nicht weniger rechtfertigen. Und Prävention findet schließlich auch dort statt, wo man über Prävention gar nicht zu sprechen braucht, weil die Bedürfnisse der Prävention durch hohe Vergeltungs- oder (Lebensführungs-)Schuldstrafen abgedeckt werden.“2 Erst vor kurzem, am 30. Juli. 2012, hat in Japan, das gerade keine Maßregeln kennt, das LG Osaka ein diese Situation symbolisierendes Urteil verkündet: Der Angeklagte, der seine ältere Schwester durch mehrfache Stiche mit dem Küchenmesser getötet hatte, wurde wegen vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt, obwohl die Staatsanwaltschaft nur 16 Jahre beantragt hatte. Unbestritten leidet der Angeklagte am so genannten Asperger-Syndrom3, das mit Sicherheit die Tat beeinflusste. Sehr problematisch erscheint in diesem Zusammenhang die Begründung der den Strafantrag übersteigenden, längeren Freiheitsstrafe. In ihr wird ausgeführt, es bestehe eine Rückfallgefahr wegen des durch das Asperger-Syndrom verursachten Mangels an Einsichtsfähigkeit und Reflexion; da es jedoch gegenwärtig keine geeigneten Anstalten zur Behandlung des Asperger-Syndroms gebe, sei es zur Aufrechterhaltung der Sozialordnung erforderlich, den Angeklagten möglichst lange in Haft zu halten. M. E. lässt sich das Urteil mit dieser Begründung keineswegs rechtfertigen, darauf werde ich aber noch später eingehen. 1
Dieses Symposium fand unter dem einheitlichen Thema „Globalisierung und Sozialstaatsprinzip“ vom 23. bis 25. März 2012 an der Städtischen Universität Osaka statt. Dabei war ich Diskussionsleiter der strafrechtlichen Abteilung. 2 Frisch, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand transnationalen Rechts, Manuskript für das Japanisch-Deutsche Symposium, 2002, S. 10. Frisch, GA 2009, S. 385 ff., 398 (Fn. 72), meint, „bezeichnenderweise fehlen Institute wie die Sicherungsverwahrung vor allem in solchen Ländern, in denen das Strafniveau ohnehin sehr hoch ist.“ 3 Asperger-Syndrom, das seinen Namen vom österreichischen Kinderarzt Hans Asperger (1906 – 1980) hat, ist eine Art von „pervasive development disorder“ und wird nicht selten durch einer relative hohe Intelligenz und den Mangel an Einsichtsfähigkeit charakterisiert.
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Kazushige Asada
Mit Blick auf diese Situation möchte ich zunächst im Folgenden die strafrechtlichen Sanktionen in Japan im Vergleich zu Deutschland untersuchen. 1. Todesstrafe In Deutschland ist die Todesstrafe nach dem Zweiten Weltkrieg durch Art. 102 GG abgeschafft worden. Dagegen hat man in Japan die Todesstrafe weiterhin beibehalten, sie wird durch Erhängen des Verurteilten vollstreckt (§ 11 jap. StGB). Schaut man sich die Statistik an, so lag einerseits die Zahl der rechtskräftig zum Tode Verurteilten lange Zeit, bis 2003, unter 10 pro Jahr , danach nimmt die Zahl der Verurteilungen auffallend zu, z. B. 14 in 2004, 21 in 2006, 17 in 2009, was damit zu erklären ist, dass sich die Hinterbliebenen der Verbrechensopfer vermehrt in einer Bewegung zusammenschlossen und Vergeltung forderten. Erst 2010 kann man einen Rückgang auf 9 Verurteilungen feststellen, was möglicher Weise endlich den Rückgang der Zahl der Tötungsdelikte wiederspiegelt (siehe hierzu statistische Angaben am Ende dieses Beitrags). Anderseits beschränkt sich aber die Zahl der Vollstreckungen, die nur auf eine entsprechende Anweisung des Justizministers hin erfolgen (§ 475 Abs.1 jap. StPO), auf 3 bis 5 Fälle im Jahr. Die Zahl der zum Tode Verurteilten, die im Gefängnis sitzen, hat sich stetig erhöht und liegt, infolge von zwei Hinrichtungen am 03. 08. 2012, jetzt bei 130. Nun sieht Art. 31 der japanischen Verfassung (JV) vor, dass „niemand ohne ein durch Gesetz bestimmtes Verfahren seines Lebens oder seiner Freiheit beraubt oder einer anderen Strafe unterworfen werden darf“, in Art. 36 JV heißt es, „Die Anwendung der Folter durch Beamte sowie grausame Strafen sind absolut verboten“. Der Große Senat des japanischen Obersten Gerichtshofs (OGH GS) hat bereits im Urteil vom 12. 03. 1948 die Todesstrafe für verfassungsgemäß erklärt. Obwohl dort die Begründung mit dem Satz beginnt, „das Leben eines Menschen ist schwerer als die gesamte Erde“, sah das Gericht hinsichtlich der Todesstrafe keinen Verfassungsverstoß, weil sie nach Art. 31 JV zulässig sei und die in Art. 36 genannte „grausame Strafe“ nur die der Vollstreckungsmethode der Todesstrafe betreffe. Es wäre m. E. wünschenswert gewesen, der Große Senat hätte schon damals die Todesstrafe als verfassungswidrig erklärt. Später hat der OGH GS im Urteil vom 08. 07. 1983 erklärt, dass „unter der gegenwärtigen Rechtsordnung, die die Todesstrafe beibehalte, die Wahl der Todesstrafe dann erlaubt werden solle, wenn die Tatschuld erheblich sei und damit die Todesstrafe nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zwischen Tat und Strafe sondern auch unter dem Aspekt der Generalprävention dann als zwingend angesehen werde, dass man die konkreten Umstände, wie Qualität, Motiv und Art der Tat, insbesondere Hartnäckigkeit und Grausamkeit der Methode sowie Art und Weise der Tötung, Erheblichkeit des Erfolgs, insbesondere Zahl der getöteten Opfer, Gefühl der Hinterbliebenen, gesellschaftlicher Einfluss, Alter und Vorstrafen des Täters, Verhalten nach der Tat u. a. zusammenfassend berücksichtige.“ Diese Kriterien, die die To-
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desstrafe rechtfertigen sollen, gelten in der Praxis bis heute. Fragwürdig ist m. E. vor allem der Hinweis auf den „gesellschaftlichen Einfluss“, der nicht selten von der Art und Weise sowie Intensität der Berichterstattung in den Medien abhängt. Neuerdings hat der OGH GS mit Beschluss vom 18. 11. 2011 erwähnt, das Erhängen als Vollstreckungsmethode der Todesstrafe sei verfassungsgemäß, wie in den Entscheidungen des OGH GS vom 12. 03. 1948, 06. 04. 1955 und 19. 07. 1961 bereits aufgezeigt worden sei. Seit diesem Beschluss werden neue Methoden der Vollstreckung der Todesstrafe in der Regierung diskutiert. Meiner Meinung nach ist aber die Todesstrafe an sich grausam bzw. man kann sich eigentlich eine nicht grausame Todesstrafe gar nicht vorstellen. Bemerkenswert ist, dass man in den Begründungen der erstinstanzlichen Todesurteile manchmal Erwägungen über die Besserungsfähigkeit des Täters finden kann. Besserungsunfähigkeit bedeutet in diesem Fall die Rückfallgefahr des Täters. Das bedeutet, die Todesstrafe übernimmt auch die Aufgabe einer Rückfallvorbeugung, was aber eigentlich nicht Aufgabe der Strafe sondern der Maßregeln ist. Unter den Strafrechtswissenschaftlern sind zwar die Vertreter der Abschaffung der Todesstrafe in der Mehrheit4, in der Volkszählung stellen sie aber eine auffallende Minderheit dar, nämlich unter 20 %; die Vertreter der Befürwortung der Todesstrafe, vor allem die Regierung, stützen sich damit auf eine Mehrheit in der Bevölkerung. In Japan wurden vier rechtskräftig zum Tode Verurteilte in den 1980er Jahren aufgrund von Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Weil man Fehlurteile eben nicht völlig vermeiden kann, kann es immer vorkommen, dass ein falsch Verurteilter getötet wird. Die Todesstrafe sollte daher m. E. sofort abgeschafft werden. In diesem Problembereich kommt es nicht auf die Volksmeinung sondern auf eine politische Entscheidung an. Insoweit kann auch internationaler Druck, vor allem seitens Europa und hier insbesondere des Europarats, durchaus Wirkung zeigen. 2. Freiheitsstrafe und Maßregeln In Deutschland ist die Freiheitsstrafe einheitlich, entweder lebenslänglich oder zeitig, Höchstmaß der zeitigen Strafe sind fünfzehn Jahre, Mindestmaß ist ein Monat (§ 38 StGB) und enthält keinen Arbeitszwang. Die kurze Freiheitsstrafe wird möglichst vermieden (§ 47 StGB). Die Gesamtstrafe darf bei zeitigen Freiheitsstrafe fünfzehn Jahren nicht übersteigen (§ 54 Abs. 2 StGB). Unter dem zweispurigen System gibt es neben der Freiheitsstrafe die freiheitsentziehenden Maßregeln, nämlich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung (§ 61 StGB).
4 Führender Vertreter der Abschaffung der Todesstrafe war Dando, der am 25. Juni 2012 gestorben ist. Vgl. Dando, Shikei Haishi Ron (= Lehre von der Abschaffung der Todesstrafe), 6. Aufl., 2000, Yuhikaku (japanisch).
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In Japan unterscheidet man bei der Freiheitsstrafe drei Arten, nämlich die Zuchthausstrafe (cho¯eki) mit Arbeitszwang, die Gefängnisstrafe (kinko) ohne Arbeitszwang und die kurze Freiheitsstrafe (ko¯ryu), deren Frist ein bis dreißig Tage beträgt. Wie in Deutschland ist die Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe zwar lebenslänglich oder zeitig. Das Höchstmaß der zeitigen Strafe ist aber zwanzig Jahre und kann dann auf bis zu dreißig Jahre verlängert werden, wenn die Todesstrafe oder die lebenslange Freiheitsstrafe gemildert oder die zeitige Freiheitsstrafe wegen des Rückfalls oder der Tatmehrheit erschwert wird5. Das geltende japanische Strafgesetzbuch von 1907 enthält keine Maßregeln, obwohl es unter dem Einfluss der damaligen modernen Schule, die die Maßregeln stark befürwortet, zustande gekommen ist. Die Reformentwürfe von 1927 und 1940 schlugen vier Maßregeln vor, und zwar die Aufsichts- und Pflegemaßregel für psychisch kranke Täter, Entziehungsmaßregel für alkoholsüchtige Täter sowie Arbeitsmaßregeln für arbeitsunwillige Täter und die Sicherungsverwahrung nach der Strafverbüßung für Gewohnheitsverbrecher. Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen die Reformentwürfe von 1961 und 1974 (= Regierungsentwurf) nur zwei Maßregeln vor, nämlich die Heilbehandlungsmaßregel für psychisch kranke Täter und die Entziehungsmaßregel für alkoholsüchtige Täter. Auf die Sicherungsverwahrung wurde damals mit der Begründung verzichtet, das Kriterium der besonderen Gefährlichkeit als Voraussetzung dieser Maßregel sei nur schwer zu beurteilen, außerdem könne man Gewohnheitsverbrechern auch mit einer zeitlich nicht festgelegten Strafe, die in beiden Entwürfe vorgesehen war, begegnen. Gegen den Entwurf von 1974, vor allem gegen die Heilbehandlungsmaßregel, gab es heftige Kritik von mehreren Strafrechtslehrern, dem Japanischen Rechtsanwaltsverein und der Gesellschaft japanischer Psychiater, die auch von Seiten der Bevölkerung Unterstützung fand. Nach langen Debatte musste die Regierung schließlich auf die gesamte Strafrechtsreform verzichten und konnte 1995 das geltende StGB nur im Hinblick auf die sprachliche Fassung, ohne inhaltliche Änderung, modernisieren.6 Maßregeln sollen ausschließlich unter der Bedingung der Gefährlichkeit eines künftigen Rückfalls ergriffen werden. Das entscheidende Problem der Maßregeln liegt letztlich darin, dass die genaue Beurteilung der Rückfallgefährlichkeit meist nur kurzfristig möglich, langfristig dagegen eher unmöglich ist und man daher nach dem Grundsatz „in dubio pro libertate“ verfahren müsste. Darüber hinaus würde der Täter unter dem zweispurigen System ohne Schuldfeststellung ohnehin
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Durch das Strafreformgesetz von 2004 ist das Höchstmaß der zeitigen Zuchthaus- und Gefängnisstrafe von fünfzehn auf zwanzig Jahre, im Ausnahmefall von zwanzig auf dreißig Jahren erhöht worden. 6 Asada, Funktion der Strafe und Maßregelbehandlung, in: Rosenau/Kim (Hrsg.), Straftheorie und Strafgerechtigkeit, Deutsch-Japanischer Strafrechtsdialog, 2010, Peter Lang, S. 111 ff.
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die Freiheit entzogen, so dass das Schuldprinzip seine Kernfunktion, nämlich die staatliche Gewalt zu begrenzen, nicht wahrnehmen könnte7. Gegen das oben in der Einführung erwähnte LG Osaka Urteil vom 30. 07. 2012 hat der Vorsitzender des Japanischen Rechtsanwaltsvereins sofort, am 10. 08. 2012, eine kritische Stellungnahme veröffentlicht, in der er behauptet, dass es das Schuldprinzip verletze, die schwerere Strafe über den Täter deswegen zu verhängen, weil es eine Rückfallgefahr aufgrund der psychischen Krankheit gäbe. Dies sei nichts anders als die Übernahme derjenigen Maßregel in die Strafe, die das geltende Recht nicht zulasse, nämlich den Täter zur Sozialverteidigung möglichst lange in der Strafanstalt gefangen zu halten. Die Rückfallgefahr aufgrund des Asperger-Syndroms sei ein Fehlvorurteil und im Übrigen gebe es bereits viele verschiedene Anstalten, die für die am Asperger-Syndrom leidenden Personen in Japan eingerichtet worden seien. Bei der Strafzumessung darf die Strafe meiner Meinung nach die Tatschuld nicht überschreiten. In diesem Sinne sollte der erste Satz der Vorschrift über die „Grundsätze der Strafzumessung“ im deutschen Strafgesetzbuch, die im japanischen StGB noch fehlt, nicht; „die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“ (§ 46 deut. StGB) lauten, sondern; „die Strafe darf das Maß der Tatschuld nicht überschreiten“ wie es in § 59 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 2 AE 1966 vorgesehen war8. 3. Strafe und verwaltungsrechtliche Sanktion In Deutschland ist der Kernbereich des materiellen Strafrechts im StGB geregelt. Das 1952 verabschiedete OWiG hat 1975 die bis dahin im StGB geregelten verschiedenen Übertretungen eingeführt, um sie zu entkriminalisieren. Geldbuße als Sanktion gegen eine juristische Person ist nur im OWiG geregelt (§ 30 OWiG). Dagegen enthalten die Abgabenordnung (§ 370 AO, Steuerhinterziehung), das Waffengesetz (§§ 51, 52 WaffG, unerlaubter Waffenbesitz), das Straßenverkehrsgesetz (§ 21 StVG, Fahren ohne Fahrerlaubnis), das Betäubungsmittelgesetz (§ 29 BtMG, unerlaubtes Handtreiben), das Tierschutzgesetz (§ 17 TierSchG, Tierquälerei) usw. Straftatbestände als Nebenstrafrecht, die echte Straftatbestände darstellen sollen und nur aus gesetzestechnischen Gründen nicht im StGB geregelt sind9. In Japan ist die Situation völlig anders: Es gibt kein Gesetz über Ordnungswidrigkeiten. Übertretungen werden nicht im StGB sondern im „Gesetz über Übertretungen“ von 1948 geregelt und mit den mildesten Strafen, nämlich Freiheitsstrafe bis zu 7 Asada (Fn. 6), S. 120. Es ist zwar plausibel, unter dem zweispurigen System zu behaupten „die Regeln der strafrechtlichen Zurechnung sind also bei Strafen und Maßregeln, soweit es um das strafrechtlich relevante Unrecht geht, dieselben. Erst bei den weiteren Erfordernissen der Schuld einerseits, der besonderen spezialpräventiven Bedürfnisse anderseits trennen sich die Wege.“ (Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2011, S. 20); das ist aber m. E. mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbaren. 8 Asada, FS Achenbach, 2011, S. 1 ff. 9 Frister, Strafrecht, AT, 3. Aufl., 2008, S. 4 f., 8 f.
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30 Tagen oder der Geldstrafe unter 10,000 Yen, geahndet. Neben vielen Nebenstrafrechten enthalten fast alle Verwaltungsgesetze, mit Ausnahme der Rahmengesetze, Strafvorschriften mit manchmal nicht geringen Freiheitsstrafen und/oder Geldstrafen, um so die Befolgung der verwaltungsrechtlichen Regeln sicherzustellen. Darüber hinaus haben die kommunalen öffentlichen Körperschaften, d. h. die Präfekturen und Gemeinden, die Kompetenz der Strafgesetzgebung für Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren und für Geldstrafen. Bei dieser Sachlage hat heute niemand einen Überblick über alle Strafvorschriften in Japan, was auch als „Überschwemmung mit verwaltungsrechtlichen Strafvorschriften“ bezeichnet wird. Meiner Meinung nach sollte man gegen die Verletzungen verwaltungsrechtlicher Regeln grundsätzlich mit verwaltungsrechtlichen Sanktionen vorgehen, um sie so zu entkriminalisieren. Besonders problematisch ist die Bestrafung von juristischen Personen. In Japan sind im Verwaltungsstrafrecht so genannte Vorschriften zu zweiseitigen Bestrafungen weit verbreitet, d. h. es erfolgt nicht nur die Bestrafung des Täters mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe, sondern auch der Unternehmer einschließlich der juristischen Person wird mit einer Geldstrafe belegt. Für juristische Personen wären aber verwaltungsrechtliche Sanktionen, wie z. B. das Schließen der Firma, die Anweisung zur befristeten Betriebsstillegung, die Entziehung der Betriebsgenehmigung, die Monopolabgabe, die Veröffentlichung des Namens der Gesellschaft mit dem Hinweis auf die Zuwiderhandlung usw. viel wirksamer als eine Geldstrafe. In einem Fall von unerlaubten Absprachen bei der Herstellung von Müllverbrennungsöfen im Jahr 2007 ist beispielsweise ein Betrag von 27 Mrd. Yen (ca. 300 Mio. Euro) als Monopolabgabe, bei der es keine Obergrenze gibt, gegenüber fünf Gesellschaften verhängt worden10. Jedenfalls kommt es jeweils auf die Rechtfertigung der Vorschrift über die zweiseitige Bestrafung an. Früher äußerte sich das japanische Reichsgericht zum Beispiel im Urteil vom 01. 04. 1924 wie folgt: „Begeht ein Angestellter einer juristischer Person eine Zuwiderhandlung, so soll die Vorschrift über die zweiseitige Bestrafung unmittelbar angewendet werden, also ohne Prüfung der Fahrlässigkeit bei der juristischen Person.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der OGH GS mit Urteil vom 27. 11. 1957 zunächst in Bezug auf den Unternehmer als natürliche Person anders entschieden; „Die Anwendung der Vorschrift über die zweiseitige Bestrafung setzt voraus, dass beim Unternehmer im Hinblick auf die Ernennung des Angestellten oder bei der Aufsicht über diesen fahrlässiges Verhalten vermutet wird, weil er die Zuwiderhandlung des Angestellten nicht verhindern konnte.“ Später vertrat der OGH mit Beschluss vom 26. 03. 1965 die Ansicht, dass der Gedanke des Urteils von 1957, nämlich die Fahrlässigkeitsvermutung, auch für Fälle gelte, in denen der Unternehmer eine juristische Person ist. 10 Kamiyama, Keizai Hanzai nitaisuru Sankushon no Taikei (= Sanktionssystem gegen die wirtschaftlichen Kriminalitäten), Kamiyama/Saito/Asada/Matsumiya (Hrsg.), Shin Keizai Keiho Nyumon (= Neue Einführung in das Wirtschaftsstrafrecht), 2008, Seibundo, S. 28 ff. (jap.).
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Die Wende der Rechtsprechung von der Erfolgshaftung hin zur Fahrlässigkeitsvermutung ist zwar im Hinblick auf das Schuldprinzip begrüßenswert. Im Hinblick auf das Prinzip „in dubio pro reo“ ist es aber immer noch fragwürdig, weil der Unternehmer als Angeklagter die Beweislast des nicht-schuldhaften Verhaltens trägt. In der Literatur wird die Lehre von der reinen Fahrlässigkeit vertreten, die ich unterstütze; danach soll der Staatsanwalt die Fahrlässigkeit des Unternehmers beweisen. Die Fahrlässigkeit der juristischen Person lässt sich dadurch begründen, dass die Fahrlässigkeit eines Vertreters der juristischen Person mit der Fahrlässigkeit der juristischen Person selbst gleichgesetzt wird – also mit der so genannten Aufsichtsschuld der juristischen Person. Die Vorschrift über die zweiseitige Bestrafung gilt aber auch für den Fall, in dem ein Vertreter der juristischen Person selbst eine Zuwiderhandlung begeht. In diesem Fall begründet man die Schuld der juristischen Person damit, dass diese selbst die Zuwiderhandlung begangen habe – hier spricht man von der so genannten Handlungsschuld der juristischen Person. Das Problem dieser Handlungsschuld liegt darin, dass der Vertreter einerseits als Täter und anderseits als juristische Person kumulativ bestraft wird, obwohl die Tat des Vertreters mit der Tat der juristischen Person gleichgesetzt wird. Meiner Meinung nach ist die Bestrafung sowohl des Vertreters als auch der juristischen Person eine Doppelbestrafung, die nach Art. 39 Satz 2 jap. Verfassung streng verboten ist.11 Ähnliche Probleme gibt es bei der Nichtzahlung von Steuern im Zusammenhang mit der Bestrafung von Steuerhinterziehung im Hinblick auf die qualifizierte Zusatzsteuer. Einerseits regelt § 238 Abs. 1 jap. EStG: Wer die Einkommenssteuer „durch Täuschung oder eine andere unzulässige Handlung“ hinterzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder mit Geldstrafe bis zu zehn Millionen Yen bestraft. Anderseits regelt § 68 des Gesetzes über gemeinsame Vorschriften zu staatlichen Steuern: „Wenn die Nichtzahlung von Steuern „aufgrund des Verbergens oder Verschleierns von Tatsachen“ erfolgt, beträgt die qualifizierte Zusatzsteuer 35 % des Steuerbetrags bei der zu gering deklarierten Steuererklärung, 40 % bei der Nichtdeklaration der Steuer und 35 % bei der Nichtabführung der Quellenabzugssteuer. Weil Verbergen oder Verschleiern in der Regel eine unzulässige Handlung darstellt, wird dem Täter der Steuerhinterziehung die qualifizierte Zusatzsteuer kumulativ auferlegt. Mit Urteil vom 30. 04. 1958 hat der OGH GS entschieden, dass diese kumulative Anwendung der Strafe und der Zusatzsteuer nicht das Verbot der Doppelbestrafung nach Art. 39 JV verletze: „Während die Strafe als Sanktion im Hinblick auf die Gesellschafsfeindlichkeit und die Sittenwidrigkeit der Tat über den Täter verhängt wird, ist die Zusatzsteuer eine verwaltungsrechtliche Maßnahme, die dazu dient, Zuwiderhandlungen des Steuerpflichtigen vorzubeugen und damit die Steuerzahlungspflicht besser durchzusetzen.“ Diese Begründung ist jedoch nicht überzeugend, weil damit 11 Asada, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen in Japan, in: Leipold (Hrsg.), Verbände und Organisationen im japanischen und deutschen Recht, 2006, S. 247 ff. Art 39 Satz 2 JV sieht vor, dass „man für ein und dieselbe Straftat nicht doppelt zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit gezogen werden darf.“
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die qualifizierte Zusatzsteuer sehr stark als Sanktion für eine schon begangene Handlung charakterisiert wird. Die kumulative Anwendung der beiden Sanktionen muss man daher als verfassungswidrig wegen Verstoßes gegen das Doppelbestrafungsverbot qualifizieren.12 Neuerdings vertritt Saeki in diesem Zusammenhang unter Berücksichtigung der Entwicklung der amerikanischen Rechtsprechung, vor allem seit United States v. Halper, 490 U.S. 435 (1989) bis Hadson et al. v. United States, 522 U.S. 93 (1997), die Meinung, dass Art. 39 JV nicht die Doppelbestrafung sondern nur die Doppelverfolgung verbiete, dass die verwaltungsrechtliche Sanktion in diesem Zusammenhang strafrechtliche Funktion habe und es bei der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit nur darum gehe, ob die kumulative Anwendung von Strafe und Zusatzsteuer insgesamt nicht grausam, d. h. nicht verhältnismäßig im Sinne des Art. 36 JV sei13. Meiner Meinung nach muss man dagegen die verwaltungsrechtliche klar von der strafrechtlichen Sanktion unterscheiden. Art. 39 Satz 2 JV verbietet nicht nur die Doppelverfolgung sondern auch die Doppelbestrafung. Die kumulative Anwendung ist daher verfassungswidrig.
II. Fazit In Japan sollte nach dem Vorbild des deutschen Rechts die Todesstrafe möglichst in naher Zukunft abgeschafft werden. Ebenfalls sollte das System der Freiheitsstrafe vereinheitlicht und der Arbeitszwang sowie die Zuchthausstrafe gestrichen werden. Es wäre gut, ein dem OWiG entsprechendes Gesetz einzuführen, um so das umfangreiche Verwaltungsstrafrecht zu entkriminalisieren. Es wäre auch empfehlenswert, das Tagessatzsystem der Geldstrafe einzuführen. Dagegen bin ich nicht einverstanden, in Japan das Maßregelsystem, insbesondere die Sicherungsverwahrung, einzuführen, obwohl der Jubilar in dem in der Einleitung zitierten Absatz noch Folgendes erwähnte: „Im Verhältnis zu all diesen anderen Varianten der Realisierung von Prävention bildet das dualistische System die Lösung, welche die Freiheiten der vom Strafrecht Betroffenen am Besten wahrt und somit auch unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs vorzugswürdig ist“14. Der Grund meiner Auffassung liegt, wie oben erwähnt, vor allem darin begründet, dass eine langfristige Prognose der Rückfallgefahr des konkreten Täters überhaupt unmöglich ist. Darüber hinaus gibt es heute in Japan wegen der vergleichsweise geringeren Kriminalität kein Erfordernis, derartige Maßregeln oder weitere Strafschärfungsmaßnahmen einzuführen. In Japan ist die Kriminalitätsrate viel geringer als in Deutschland. Die Zahl der von der Polizei erfassten Straftaten (mit Ausnahme der Verkehrsdelikte) betrug in 12
Asada, Datsuzei (= Steuerhinterziehung), Kamiyama/Saito/Asada/Matsumiya (Hrsg.), S. 295 ff., 299 (jap.). 13 Saeki, Seisai Ron (= Die Lehre von den Sanktionen), 2009, Yuhikaku, S. 98 ff. (jap.). Siehe die Buchbesprechung von Asada, Keijiho Journal Nr. 21 (2010), S. 102 ff. (jap.). 14 Frisch (Fn. 2), S. 10.
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Japan 2009 ca. 1.70 Mio., in Deutschland ca. 6.05 Mio. Damit liegt die Quote pro 100.000 Einwohner in Japan bei 1.336 und in Deutschland bei 7.383. Die Zahl der Tötungsdelikte betrug in Japan 1.149 (Tötung, Raubmord einschließlich Versuche), in Deutschland 2.277 (Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen, einschließlich Versuche) und damit die Quote pro 100.000 Einwohner in Japan bei 0,9 gegenüber 2,8 in Deutschland. Darüber hinaus nimmt in Japan die Kriminalitätsrate allmählich ab: Die anerkannte Zahl der Straftaten betrug laut Statistik ca. 2.85 Mio. in 2002, 2.27 Mio. in 2005, 1.70 Mio. in 2009 und die Zahl der Tötung 1.489 in 2002, 1.458 in 2005, 1.149 in 200915. Freilich kann man auch in Japan seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bis zum Wechsel der Regierungspartei im Jahr 2009 eine Welle von Strafrechtsreformen und neuen Gesetzen feststellen, die sich vor allem an neuer Kriminalisierung oder der Strafverschärfung orientierte; man nennt diese Zeit daher auch die der „aktiven Strafgesetzgebung“. Als Hintergrund dieses Phänomens kann man auf aufsehenerregende ¯ mu-Sekte-Affäre (= Giftgasanschlag im Tokyo U-Bahnhof)“ ebenFälle, wie die „O so verweisen wie auf ein zunehmend stärker werdendes Vergeltungsgefühl der Opfer bzw. Hinterbliebenen, das Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung und internationale Aufforderungen. Wenn sich ein sensationell schwerer Fall ereignet hat, sollte es vorrangig um die wissenschaftliche Untersuchung der Ursachen und um die Reflexion über vorbeugende Mittel und Maßnahmen gehen, nicht aber um eine allopathische Strafgesetzgebung. Das Vergeltungsgefühl des Opfers bzw. der Hinterbliebenen ist grenzenlos. Im Hinblick auf das Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung ist es Aufgabe des Staates, solchen Gefühlen durch Vorlage genauer und aussagekräftiger Statistiken und mit tauglichen Vorbeugungsmitteln zu begegnen um diese so zu beseitigen. Schließlich ist es durchaus nicht falsch, eine neue Strafrechtsgesetzgebung als Reaktion auf internationale Forderung in Angriff zu nehmen. Diese muss aber natürlich immer den Rahmen der Verfassung beachten16. Man kann jedenfalls zum Abschluss feststellen, dass sich die japanische Strafrechtswissenschaft vielleicht unter den Strafrechtsordnungen der Welt am längsten mit der deutschen Strafrechtswissenschaft vertraut gemacht hat. In letzter Zeit entwickelt sich der beiderseitige Austausch über die bisherige Einbahnstraße hinaus allmählich weiter, und dafür möchte ich dem Jubilar hier von Herzen danken17. Ich hoffe sehr, dass diese gute Zusammenarbeit auch von der nächsten Generation aufgegriffen und fortgeführt wird. 15 Ho¯muso¯go¯kenkyu¯sho, Hanzai Hakusho, 2011 (= Weißbuch der Kriminalität 2011), S. 35 ff. (jap.). Die Zahl der Straftaten im Jahre 2010 lag bei ca. 1.59 Mio. und die Zahl der Tötung außer Raubmord bei 1.067 (27 weniger als 2009). 16 Asada, Die Rolle der Rechtsprechung und der Gesetzgebung im Strafrecht, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, S. 189 ff. 17 Frisch, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011.
Reformtendenzen des Rechtsfolgensystems im koreanischen Strafrecht Von Moon-Ho Song*
I. Kurzer historischer Überblick des koreanischen StGB Die Rezeption des westlichen Rechts in Korea geht zurück auf die Silhak-Schule (Pragmatische od. Praktische Philosophie), die sich etwa im 17. Jahrhundert zu verbreiten begann. Für sie standen die Lehren des „praktischen Nutzens“ und der „sozialen Wohlfahrt“ des Volkes im Vordergrund1. Das erste moderne einheitliche Strafgesetzbuch in Korea, Hyongbob Taejon (der Große Strafkodex), wurde im Jahre 1905 erlassen. Es orientierte sich inhaltlich allerdings noch wesentlich am traditionellen Recht und behielt dessen Sanktionssystem bei2. Der endgültige Bruch mit der alten Strafrechtstradition in Korea erfolgte erst durch die Besetzung Koreas durch Japan im Jahre 1912. Durch die Besatzungsmacht wurde das japanische StGB von 1907, das nach dem Vorbild des deutschen RStGB von 1871 gestaltet worden war, für Korea als verbindlich deklariert. So wurde das kontinental-europäische, insbesondere das deutsche Strafrecht, durch das japanische StGB vermittelt in Korea rezipiert3. Mit der Kapitulation Japans am 15. 8. 1945 erhielt Korea seine Unabhängigkeit und Souveränität zurück. Am 15. 8. 1948 wurde die Republik Korea (Südkorea) gegründet. Die Regierung bildete in diesem Jahr eine Kodifikationskommission, die im Jahre 1953 den Entwurf für ein Strafgesetzbuch vorlegte. Aufgrund dieses Entwurfs entstand das geltende Strafgesetzbuch, das am 3. 10. 1953 in Kraft trat, obwohl akademische Kreise vor einer voreiligen Gesetzgebung gewarnt hatten.4 Es wurde vor *
An der Chonbuk National Universität/Lawschool (in Jeonju/Südkorea). Dazu ausführlich Tjong, ZStW 88 (1976), 803 ff.; Y. H. Kim, FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 699 f. m.w.N. 2 Vgl. H. K. Lee, Strafrecht, AT, 1996, S. 36. So ließ es die Verbannung und die körperliche Strafe (§§ 95, 98) zu. 3 Aber es gab erhebliche Abweichungen. Z.B. wurde etwa die Prügelstrafe, die im japanischen Gesetz nicht enthalten war, als Sanktion gemäß Chosun Taehyongryong (Verordnung über die Prügelstrafe in Korea) ausschließlich für Koreaner beibehalten. 4 Abgesehen von der 1975 erfolgten Aufnahme eines Tatbestandes der Verunglimpfung des Staates, der 1988 wieder abgeschafft wurde, ist der damalige Gesetzestext bis 1995 unverändert geblieben. 1
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allem unter Berücksichtigung des deutschen Strafgesetzbuches, der deutschen Entwürfe von 1925, 1927 und 1930 sowie des vorläufigen Entwurfs des japanischen Strafgesetzbuches von 1940 verfasst. Im Juni 1985 berief das Justizministerium eine Sonderkommission5 für die Strafrechtsreform. Nach siebenjähriger Beratung legte sie dem Parlament den Entwurf 1992 (E 1992) vor6. Der Rechtsausschuss des Parlaments präsentierte einen Alternativ-Entwurf als Übergangslösung, der nur die dringend erscheinenden Reformvorschläge des Entwurfs 1992 übernahm, weil das Parlament der Meinung war, dass man mehr Zeit brauche, um ein für jeden überzeugendes Ergebnis der Gesamtreform des Strafrechts zu erzielen7. Am 2. 12. 1995 wurde dieser Alternativ-Entwurf verabschiedet. Bedeutende Veränderungen im Rechtsfolgenteil des StGB 1995 sind die Einführung der Führungsaufsicht, der gemeinnützigen Arbeit und der Teilnahme am Unterricht zur Erziehung zur Normtreue für die erwachsenen Täter (§§ 59-2, 61 Abs. II, 62-2, 64 Abs. II, 73-2, 75, 76), die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Geldstrafe (§§ 123, 136, 137 usw.) und die Erhöhung des Geldstrafenbetrags. Im Juni 2007 begann erneut die Arbeit an einer Gesamtreform des Strafrechts. Eine 24-köpfige Kommission8 erarbeitete den Entwurf eines StGB. Dabei spielten in der koreanischen Reformdiskussion inhaltlich die Grundsätze der deutschen Strafrechtslehre eine große Rolle. Bedauerlicherweise ist der Reformentwurf 2011 (E 2011), der im März 2011 dem Parlament vorgelegt wurde, wie der E 1992, mit Ablauf der Wahlperiode des Parlaments gänzlich gescheitert. Allerdings ist es unumstritten, dass er die Grundlage des bevorstehenden neuen Reformanlaufs bilden wird. Die Koreaner verfolgen die Reformarbeit mit besonderem Interesse im Hinblick auf die Gestaltung des zukünftigen strafrechtlichen Sanktionensystems.
5 Die Kommission bestand aus 12 Professoren, 6 Richtern, 6 Rechtsanwälten und 6 Staatsanwälten. 6 Dieser Regierungsentwurf 1992 und der Reformentwurf 2011 orientierten sich an folgenden Grundlinien: Beachtung der Verfassungsprinzipien, Überprüfung der Bestimmung der Grundlagen der Strafbarkeit, Entkriminalisierung nach den gegenwärtigen Wert- und Ethikvorstellungen, Kriminalisierung im Hinblick auf die Veränderung der sozialen Verhältnisse, Verbesserung des Strafensystems nach dem kriminalpolitischen Postulat, Vereinbarkeit von StGB und Sonderstrafgesetzen, Verbesserung und Neugliederung des strafrechtlichen Systems und der sprachlichen Fassung des Gesetzestextes. vgl. Justizministerium, Motive zum Strafrechtsreformgesetz von 1992, S. 9; Justizministerium, Motive zum Strafrechtsreformgesetz von 2011, S. 4; J. W. Kim, Gosigye, Feb. 1996, S. 16. An dem Entwurf wurde von der Strafrechtslehrervereinigung und von Kriminalpolitikern insbesondere die kriminalpolitische Zielsetzung des Rechtsfolgenteils kritisiert, die von dem ursprünglichen Ziel, den modernen Reformtendenzen Rechnung zu tragen, weit abgewichen sei. Vgl. I. S. Kim, ZStW 106 (1994), 407; Y. K. Oh, Korean Criminalogical Review, Sommer 1992, S. 3 ff. 7 Der parlamentarische Vorschlagsgrund, Gosigye, Jan. 1996, S. 75. 8 Die Kommission bestand aus 16 Professoren, 8 Rechtspraktikern.
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II. Reformdiskussion des koreanischen strafrechtlichen Rechtsfolgensystems im Einzelnen 1. Strafen Das koreanische Strafrecht steht auf dem Boden des Schuldstrafrechts. Das StGB beruht im Wesentlichen auf dem Vergeltungsgedanken. Das Schuldprinzip hat eine freiheitsbewahrende, strafbegrenzende Funktion. Die einzelnen Strafandrohungen sind an der Tatschwere orientiert9. Nach der herrschenden Meinung bildet das Schuldprinzip eine notwendige Garantie für den Täter gegen jedes Übermaß repressiver Einwirkung des Staates; es vermag den Umfang und die Intensität der staatlichen Strafgewalt auf das rechte Maß zurückführen10. Die herrschende Meinung in Korea vertritt eine sog. Vereinigungstheorie, nach der sämtliche Strafzwecke (Schuldausgleich, negative und positive Generalprävention und Resozialisierung) in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen seien. Die strengen absoluten Straftheorien des deutschen Idealismus finden in Korea zur Zeit keine Anhänger. Die Vereinigungstheorien unterscheiden sich allerdings durch verschiedene Bezugspunkte. Überwiegend wird die (spezial)präventive Vereinigungstheorie in den Vordergrund gestellt und in verschiedene Richtungen modifiziert11. Das StGB sieht neun verschiedene Arten der Strafe vor (§ 41): 1. Todesstrafe, 2. Zuchthaus, 3. Einschließung, 4. Entzug von Rechtsfähigkeiten, 5. Verlust von Rechtsfähigkeiten, 6. Geldstrafe, 7. Strafhaft, 8. Geldbuße, 9. Einziehung. Das geltende StGB kennt keine ausdrückliche Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenstrafe. Aber der E 2011 vereinfacht vier Arten der Hauptstrafe: 1. Todesstrafe, 2. Zuchthaus, 3. Geldstrafe, 4. Strafhaft.
9 I. S. Kim, Das Koreanische Strafrecht, Teilband II, 1992, S. 9 ff.; H. K. Lee (Fn. 2), S. 212 ff.; Bae, Strafrecht, AT, 2005, S. 429 ff. kritisiert das Fehlen einer ausdrücklichen Manifestation im StGB. Als Elemente des Schuldvorwurfs im StGB kommen die Schuldfähigkeit (§§ 9, 10, 11), die Möglichkeit fehlenden Unrechtsbewusstseins (§ 16) und die Zumutbarkeit (§§ 12, 21 Abs. II, III, 22 Abs. III) in Betracht. 10 I. S. Kim (Fn. 9), S. 44. Nach ihm ergibt sich das Schuldprinzip aus der Verpflichtung des Staates zur Achtung der Menschenwürde (Art. 10 kVerfassungsgesetz); H. K. Lee (Fn. 2), S. 212. 11 H. K. Lee (Fn. 2), S. 440; Bae (Fn. 9), S. 40 ff.; unter Berufung auf H.L.A. Hart S.K. Park, Strafrecht, AT, 2012, S. 20 ff.; der Anhänger der dialektischen Vereinigungsmethode von Roxin ist I. S. Kim, Das Koreanische Strafrecht, Teilband I, 1992, S. 124 ff.; dagegen ist J. S. Lee, Strafrecht, AT, 2011, S. 57 f. Anhänger der vergeltenden Vereinigungstheorie.
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a) Todesstrafe Das StGB sieht die Todesstrafe für 16 Delikte vor12. Die Abschaffung der Todesstrafe ist ein sehr umstrittenes Thema in Korea. Einige Autoren verlangen ihre sofortige Abschaffung. Nach I. S. Kim ist die Todesstrafe bloß ein abergläubisches Relikt des Vergeltungsgedankens. Das Strafrecht müsse sich an der Achtung der Menschenwürde ausrichten. Mit diesem Grundsatz sei die Todesstrafe unvereinbar13. Für Bae ist die Todesstrafe durch nichts zu rechtfertigen, weil sie nur dem willkürlichen Gebrauch als politisches Mittel zur Unterdrückung der Bevölkerung oder zur Aufrechterhaltung der Herrschaft diene14. Dagegen plädiert J. S. Lee im Rahmen der grausamen Delikte – wie Mord – entsprechend dem Maß der Schuld für die weitere Beibehaltung der Todesstrafe; sie sei in diesem Fall nicht verfassungswidrig15. Für die endgültige Abschaffung der Todesstrafe gibt es zwar einen breiten Konsens im Schrifttum. Jedoch ist die Zeit für eine plötzliche Abschaffung der Todesstrafe im Hinblick auf die in Korea herrschende Realität noch nicht reif. Man muss jedes Rechtsinstitut an der eigenen Rechtskultur und an dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung ausrichten.16 Statt der sofortigen Abschaffung der Todesstrafe schlagen deshalb viele Autoren verschiedene Einschränkungsmöglichkeiten vor17. Der koreanische Oberste Gerichtshof (kOGH)18 sieht in der Todesstrafe keinen Verstoß gegen die Grundrechte der Bürger. Er beruft sich auf die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung und darauf, dass sich weite Teile der Bevölkerung in der Frage der
12 Nämlich für den Hochverrat (§ 87), Tötung zum Zweck des Hochverrats (§ 88), Herbeiführung eines ausländischen Angriffs (§ 92), Kollaboration mit dem Feinde (§ 93), Begünstigung des Feindes durch Soldatenaushebung (§ 94), Begünstigung des Feindes durch Lieferung von Rüstungsmaterial (§ 95), Begünstigung des Feindes durch Zerstörung von Gütern (§ 96), Spionage (§ 98), Verwendung von Sprengstoffen mit Todesfolge oder Körperverletzungsfolge (§ 119), Brandstiftung an Wohngebäuden mit Todesfolge (§ 164), Totschlag (§ 250 Abs. I), Totschlag an Verwandten in aufsteigender Linie (§ 250 Abs. II), Vergewaltigung mit vorsätzliche Tötung (§ 301-2), Geiselnahme mit vorsätzlicher Tötung (§ 324-4), Raubmord (§ 338 S. 1), Seeraubmord und Seeraub mit Todesfolge oder Vergewaltigung (§ 340 Abs. III). Unter Einbeziehung des Nebenstrafrechts (z. B. Wehrstrafrecht) gibt es über 150 Bestimmungen, die die Todesstrafe androhen. 13 I. S. Kim (Fn. 9), S. 676 f. 14 Bae (Fn. 9), S. 812 ff.; ähnlich Y. K. Oh (Fn. 6), S. 17 ff. 15 J. S. Lee (Fn. 11), S. 562 ff. 16 Justizministerium (Fn. 6), S. 47. 17 Vgl. Chong/Shin, Kriminalpolitik – ein Lehrbuch, 1998, S. 319 ff. Eliminierung der Todesstrafe für bestimmte Verbrechen, insbesondere für fahrlässige Tötungsdelikte, einige Straftaten gegen den Staatsschutz usw., Aussetzung der Todesstrafe auf Bewährung und obligatorische Prüfung der Milderung der Todesstrafe und Verlangen der Einstimmigkeit oder Erhöhung der erforderlichen Zustimmungszahl der an dem Urteil beteiligten Richter zur Verhängung der Todesstrafe. 18 kOGH 62 Do 241, 28. 2. 1963; 67 Do 988, 12. 9. 1967; 82 Do 3238, 8. 3. 1983; 87 Do 1458, 12. 6. 1987; 90 Do 319, 24. 4. 1990; 2006 Do 354, 24. 3. 2006.
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Beibehaltung der Todesstrafe einig seien. Der Verfassungsgerichtshof19 hat entschieden, dass die Todesstrafe nicht verfassungswidrig sei. Er glaube zwar noch an die abschreckende und präventive Wirkung der Todesstrafe bei schweren Verbrechen, jedoch müsse weiterhin eine ernsthafte Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe geführt werden, da sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur ein notwendiges Übel darstelle. Seit 1998 hat in Korea jedoch keine Vollstreckung der Todesstrafe stattgefunden.20 b) Freiheitsstrafe Das geltende StGB sieht drei Formen von Freiheitsstrafen vor: Zuchthaus, Einschließung und Strafhaft. Zuchthaus- und Einschließungsstrafe sind lebenslänglich oder zeitig (§ 42 S. 1). Für die Unterscheidung zwischen Zuchthaus- und Einschließungsstrafe kommt es darauf an, ob dem Straffälligen in der Vollzugsanstalt Zwangsarbeit auferlegt wird. Dies ist nur bei der Zuchthausstrafe der Fall. Die zeitige Freiheitsstrafe beträgt mindestens einen Monat, höchstens 30 Jahre. Sie kann gegebenenfalls auf bis zu 50 Jahre verschärft werden (§ 42 S. 2). Strafhaft kann für mindestens einen Tag und höchstens 29 Tage ausgesprochen werden (§ 46). Sie dient hauptsächlich der Bekämpfung von Bagatelldelikten. Bei der Strafhaft besteht keine Pflicht zur Zwangsarbeit. Im Schrifttum wird fast ohne Ausnahme die Vereinheitlichung der Freiheitsstrafe und in diesem Zusammenhang die Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe (einschließlich Strafhaft) gefordert21. Die Vereinheitlichung ist notwendig, um die Resozialisierung im Strafvollzug wirksam zu verwirklichen. Für die sog. 3 – S – (short, sharp, shock) Wirkung der kurzen Freiheitsstrafe gibt es bisher keinen positiven Beweis. Sie erschwert vielmehr wegen ihrer Brandmarkungswirkung die Wiedereingliederung des Straffälligen. Die kurzen Freiheitsstrafen (einschließlich Strafhaft) wurden jedoch im geltenden StGB (auch im E 1992 und im E 2011) beibehalten. Da die meisten Gefangenen während der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe arbeiten wollen22, erscheint aber auch die Unterscheidung zwischen Zuchthaus und Einschließung heute sinnlos. Sie beruht auf einem veralteten, die (insb. körperliche) Arbeit verachtenden Gedanken. Der E 2011 hat die Abstufung zwischen Zuchthaus und Einschließung aufgehoben.
19 kVerfGE, 28. 11. 1996. Es gab 7 Befürworter der Todesstrafe und 2 Gegenstimmen. Hangyoreh Zeitung 29. 11. 1996.; 2008 Hunga 23, 25. 2. 2010. 20 Nach dem Report vom International Amnesty gibt es bis 2011 insgesamt 63 zur Todesstrafe Verurteilte in Korea. 21 Chong/Shin (Fn. 17), S. 328 ff.; Bae (Fn. 9), S. 815 f.; S.K. Park (Fn. 11), S. 535 f.; I. S. Kim (Fn. 9), S. 680 ff.; J. S. Lee (Fn. 11), S. 566 f.; H. K. Lee (Fn. 2), S. 446; Y. K. Oh (Fn. 6), S. 20 ff. 22 Gemäß § 38 kStVollzG kann ein Gefangener jedenfalls auf Antrag arbeiten.
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c) Vermögensstrafe Das StGB kennt drei Arten der Vermögensstrafe: Geldstrafe, Geldbuße und Einziehung. Der Unterschied zwischen Geldstrafe und Geldbuße liegt lediglich in der unterschiedlichen Obergrenze. Das StGB geht vom klassischen Gesamtsummensystem aus. Die Geldstrafe kann als nützliches Mittel gesehen werden, die Nachteile der kurzen Freiheitsstrafe zu vermeiden. Viele Strafrechtler empfehlen die Einführung des Tagessatzsystems23. Dennoch behalten der E 1992 und der E 2011 das geltende System bei. Der wichtigste Grund für die Ablehnung des Tagessatzsystems liegt darin, dass die Einkommensverhältnisse des Verurteilten zur Festsetzung der Höhe eines Tagessatzes in der Tat nicht ganz ermittelbar sind.24 Das StGB sieht die Einziehung als eine Art Strafe vor. Aber aufgrund der umstrittenen Rechtsnatur wird die Einziehung im E 1992 als eine besondere Maßnahme neben den Strafen behandelt und ist in einem selbständigen Abschnitt geregelt (E 1992 §§ 86 – 91 und E 2011§§ 79 – 80). d) Ehrenstrafen Wer zu zeitiger Zuchthausstrafe oder Einschließung verurteilt wird, verliert automatisch die Amtsträgerfähigkeit, das öffentlich-rechtliche Wahlrecht, die öffentlichrechtliche Wählbarkeit und die Fähigkeit, öffentlich-rechtliche Funktionen auszuüben, für welche die Fähigkeitsvoraussetzungen durch das öffentliche Recht bestimmt sind. Der Verlust dauert, bis der Vollzug der Strafe beendet ist oder die Strafe erlassen wird (§ 43). In diesem Fall stellt die zeitige Aberkennung der Rechte die Nebenfolge einer Strafe dar. Sie kann aber auch durch Richterspruch als selbständige Strafe oder als Nebenstrafe neben Freiheitsstrafe verhängt werden (§ 44 Abs. II). In diesem Fall kann man die Fähigkeit verlieren, Direktor, Rechnungsprüfer oder Geschäftsführer einer juristischen Person oder Aufseher oder Treuhänder des Geschäftsbetriebes einer juristischen Person zu werden (§ 43 Abs. I Nr. 4). Die Aberkennung der Rechtsfähigkeit kann sich auf einen Zeitraum von einem Jahr bis zu 15 Jahren erstrecken (§ 44 Abs. I). Im letztgenannten Fall entspricht die Ehrenstrafe in Korea der Sache nach dem Berufsverbot im deutschen Strafrecht. Der E 2011 sieht aber vor, den Verlust und die Aberkennung der Rechtsfähigkeit ihrer Eigenschaft als selbständige Strafe zu beseitigen und stattdessen als Nebenfolgen der Strafe einzustufen.25 23 Nach der herrschenden Meinung empfiehlt sich die Einführung des Tagessatzsystems, da das Gesamtsummensystem die wirtschaftlichen Verhältnisse und das verwirklichte Unrecht des Täters nicht hinreichend berücksichtigen kann. vgl. Bae (Fn. 9), S. 817 f.; I. S. Kim (Fn. 9), S. 685; J. S. Lee (Fn. 11), S. 569; H. K. Lee (Fn. 2), S. 448; Y. K. Oh (Fn. 6), S. 26. 24 Sitzungsprotokolle der Sonderberatungskommission für die Strafrechtsreform, Bd. VIII, S. 88 ff. 25 Der Verlust und die Aberkennung der Rechtsfähigkeit wurden von der Liste der Strafen gestrichen (E 2011 § 40).
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e) Grundlage der Strafzumessung Das StGB kennt keine ausdrückliche Vorschrift zur Schuld des Täters als Grundlage für die Strafzumessung. § 44 Abs. I des E 1992 und § 46 Abs. I des E 2011 haben zwar mit der Formulierung: „Die Schuld des Täters bildet die Grundlage der Strafzumessung“, das Schuldprinzip explizit verankert, jedoch ist diese Vorschrift ins geltende StGB nicht aufgenommen worden. Das geltende StGB fordert in § 51 (Maßstäbe der Strafzumessung), bei der Strafzumessung folgende Umstände zu berücksichtigen: 1. das Alter, den Charakter, das Verhalten, die Intelligenz des Täters und das Milieu, aus dem der Täter stammt; 2. die Umstände, die den Verletzten betreffen; 3. die Beweggründe, die Mittel und den Erfolg der Straftat; 4. die Umstände nach der Tatbegehung. Diese Umstände sollen auch bei der Entscheidung über die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59) und über die Aussetzung der Urteilsvollstreckung zur Bewährung (§ 62) in Betracht gezogen werden. Nach § 53 kann die Strafe gemildert werden, wenn bei der Begehung eines Delikts mildernde Umstände vorliegen. f) Strafverschärfung bei Rückfall und Gewohnheitsverbrecher § 35 StGB sieht eine Strafverschärfung bei Rückfall vor. Danach wird als Rückfalltäter verurteilt, wer innerhalb von drei Jahren nach Beendigung oder Erlass der Vollstreckung der Einschließungsstrafe oder einer schwereren Strafe ein neues und ebenso schwerwiegendes Delikt begeht. Die Höchststrafe für ein im Rückfall begangenes Delikt besteht im Doppelten des Höchstmaßes, das für das begangene Delikt vorgesehen ist (§ 35 Abs. II). Gemäß § 42 StGB wird das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe aber auf 50 Jahre begrenzt. Nach § 36 kann die Strafe neu bestimmt werden, wenn der Rückfall erst nach der Urteilsverkündung entdeckt wird26. Der E 1992 hat § 36 zu Recht gestrichen. Gegen die Rechtfertigung dieser generellen Rückfallvorschrift werden im Schrifttum Bedenken erhoben. Auch wird bezweifelt, ob die auf das Doppelte erhöhte Rückfallstrafe den Grundsätzen des Verfassungsrechts „ne bis in idem“ (Art. 13 Abs. I kVerfG) und dem Gleichheitsprinzip (Art. 11 kVerfG) entspricht. Nach der Rechtsprechung27 und einer Mindermeinung28 bedeute § 35 keine erneute Verurteilung aufgrund der früheren Taten, sondern die Strafverschärfung erfolge, weil der Täter die Warnungen der Vorstrafen nicht beachtet habe. Daher verdiene ein Rückfalltäter bezogen auf die aktuelle Tat einen gesteigerten Vorwurf. Weiterhin rechtfertigten die Notwendigkeit der Verteidigung der Gesellschaft und der Aspekt der Spe26 Diese Vorschrift widerspricht dem Prinzip „ne bis in idem“ und ist mit dem Grundsatz des Prozessrechts unvereinbar, wonach dem Staatsanwalt die Beweislast dafür obliegt, dass der Täter die Straftat begangen hat, und wonach dem Angeklagten ein Schweigerecht zusteht. I. S. Kim, ZStW 106 (1994), 416. 27 kVerfGE 93 Honba 43, 23. 2. 1995; kOGH 68 Do 336, 21. 5. 1968; 70 Do 1656, 29. 9. 1970. 28 J. S. Lee (Fn. 11), S. 589 ff.
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zial- und Generalprävention die erhöhte Strafe. Die intensive Bekämpfung von Rückfalltätern entspreche der internationalen kriminalpolitischen Tendenz. Also sei § 35 verfassungskonform. Die überwiegende Meinung im Schrifttum bringt dagegen für die Abschaffung der Rückfallvorschrift vor, dass sie weder präventive Wirkung entfalte noch mit dem Schuldprinzip vereinbar sei29. Die angeblich erhöhte Schuld sei nichts anderes als eine Charakter-, Täter- oder Lebensführungsschuld, die im Widerspruch zum Einzeltatschuldprinzip stehe. Auch sei die Warnungsfunktion eine bloße Fiktion, da die Betroffenen aus vielerlei sozialen und persönlichen Umständen – z. B. aufgrund Fehlens der sozialen Fürsorge, Willensschwäche oder defekter Persönlichkeit – nicht in der Lage seien, sich gesetzkonform zu verhalten. Darüber hinaus erschwere ein langer Freiheitsentzug in der Strafanstalt die Wiedereingliederung des Täters und könne sogar das Risiko einer Wiederholung erhöhen30. Bei der Strafverschärfung wegen Rückfalls steht der Gedanke der Spezialprävention im Vordergrund. Die Rückfallvorschrift zielt auf die Möglichkeit längerfristiger Einwirkung auf den Täter und damit auf eine weitere Rückfallverhütung ab. So gesehen tangiert die Rückfallvorschrift die Aufgabe der Sicherungsverwahrung (SV). Spezialpräventive Ziele können – wo dies wegen der Gefahr der Begehung weiterer Straftaten legitimierbar ist – durch die Verhängung von Maßregeln der Besserung und Sicherung verfolgt werden. Das koreanische StGB enthält außerdem eine schematische Straferhöhung um die Hälfte für den Gewohnheitsverbrecher im Bereich der Straftaten gegen persönliche Rechtsgüter im Besonderen Teil. Diese einheitliche Straferhöhung beim Gewohnheitsverbrecher ist nicht mit dem Prinzip der Tatschuld vereinbar. Beide Rechtsinstitute müssen aufgehoben werden und so gesehen kann nur die SV bestehende individualpräventive Bedürfnisse erfüllen31. Diese Erkenntnis hat man in Deutschland in langjährigen Auseinandersetzungen gewonnen. Hinsichtlich der Strafverschärfung beim Rückfall hat der E 1992 die Position des StGB von 1953 im Wesentlichen unverändert übernommen. Dagegen hat der E 2011 die Strafverschärfung bei dem Rückfall und dem Gewohnheitsverbrecher aufgehoben, stattdessen Maßregeln der Besserung und Sicherung neu eingeführt.
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Bae (Fn. 9), S. 844; I. S. Kim (Fn. 9), S. 726 ff.; H. K. Lee (Fn. 2), S. 468 f. In diesem Sinne fordert G.W. Chang, dass man auf die generelle Strafverschärfung wegen Rückfalls im StGB verzichten und stattdessen den Rückfall bei der Strafzumessung innerhalb des vorgesehenen Strafrahmens berücksichtigen sollte. G.W. Chang, Rückfall und Strafzumessung, 1993, S. 158 ff. 31 Grundkonzept bei Frisch, ZStW 102 (1990), 354. Deswegen geht es ihm nicht nur um die Rechtfertigung der Maßregeln, sondern um die Rechtfertigung der Individualprävention als „zweckgerichtete Staatstätigkeit überhaupt“, S. 365. 30
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g) Verschiedene Möglichkeiten der Aussetzung der Strafe Strafaussetzung zur Bewährung kommt nach § 62 in Betracht: Ist eine Zuchthausoder Einschließungsstrafe von höchstens drei Jahren verhängt, so kann, wenn mildernde Umstände vorliegen, unter Berücksichtigung von § 51 (Maßstäbe der Strafzumessung) die Vollstreckung für die Dauer von nicht unter einem Jahr bis zu fünf Jahren ausgesetzt werden. Das neue StGB 1995 verbindet die Strafaussetzung nach dem Reformvorschlag des E 1992 mit Führungsaufsicht. Diese Führungsaufsicht ist als Kernelement der Strafaussetzung zu betrachten, denn die Strafaussetzung erreicht nur dann ihr Ziel, wenn die Lebensführung des Täters unter Aufsicht und Beistand gestellt wird32. Außerdem können dem Verurteilten Weisungen erteilt werden, die sich auf gemeinnützige Arbeit oder Teilnahme an bestimmtem Unterricht beziehen (§ 62-2). Der E 2011 erweitert den Anwendungsbereich der Strafaussetzung zur Bewährung bis hin zur Geldstrafe (§ 58). Im E 2011 findet darüber hinaus das Bemühen des Täters um Wiedergutmachung auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung vermehrt Berücksichtigung (§ 59 Abs. 1). Ein Schuldausspruch ohne Sanktionsverhängung (Verwarnung mit Strafvorbehalt) ist dann möglich, wenn gegen den Täter noch keine Vorstrafe verhängt worden ist, und wenn die vorliegenden besonderen Umstände und die aufrichtige Reue des Täters dies erlauben (§ 59 ff.). Er ist die mildeste Sanktion des geltenden StGB. Die unabdingbare Voraussetzung ist eine günstige Prognose des Täters. In diesem Fall kann auch die Führungsaufsicht angeordnet werden. Eine Aussetzung des Strafrestes (bedingte Entlassung) des Verurteilten kann nach Verbüßung von einem Drittel der zeitigen Freiheitsstrafe oder nach 20 Jahren bei der lebenslänglichen Freiheitsstrafe nach dem Ermessen der Vollzugsbehörde verfügt werden, wenn die gute Führung des Gefangenen in der Anstalt und die von ihm gezeigte aufrichtige Reue dies erlauben (§ 72 ff.)33. Die Entscheidung über eine Aussetzung ist allerdings fakultativ. Von Ausnahmen abgesehen tritt mit der Aussetzung Führungsaufsicht ein. 2. Maßregeln der Besserung und Sicherung In Korea ist man sich darüber einig, dass in erster Linie Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit den Grund und die Rechtfertigung des Maßregelsystems liefern: Der Rückgriff auf die Maßregeln findet Rechtfertigung und Begründung in der vielfach beklagten Unzulänglichkeit der Schuldstrafe und deren Unvermögen, eine überzeugende und annehmbare Antwort auf das Phänomen der bedrohlichen Kriminalität zu geben. Im Schrifttum spielt dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine er32
I. S. Kim, ZStW 106 (1994), 417. Es gibt noch zwei anderen Möglichkeit der Milderung der lebenslangen Freiheitsstrafe: nach §§ 470, 471 StPO Einstellung der Vollstreckung bei Vorliegen gravierender Gründe und nach §§ 3 – 5 Begnadigungsgesetz. 33
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hebliche Rolle. Dieser Grundsatz ist ein im Maßregelrecht allgemein anerkanntes Rechtsprinzip. Eine Maßregel muss zweck- und gefährlichkeitsadäquat sein34. Im geltenden StGB sind im Gegensatz zum deutschen StGB Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht vorgesehen, sondern in Sonderstrafgesetzen abgehandelt. Das koreanische Recht kennt zudem bisher neben den strafrechtlichen Maßregeln vielfältige Formen der sog. administrativen Maßnahme. Davon hatte das Gesetz betreffend Sozialschutz35, das von 1980 bis zum 2005 gültig war36, die SV, Unterbringung in einer Heilanstalt und die Führungsaufsicht als die typischen strafrechtlichen Maßregeln vorgesehen. Der E 1992 hat diese 3 Maßregeln aus dem Gesetz betreffend Sozialschutz in das StGB eingegliedert. In Korea wurde die praktische Anwendung der SV heftig kritisiert. Zum Beispiel befanden sich 2003 in Korea insgesamt 1.282 Personen in der SV. 76.5 % der Verwahrten waren wegen Diebstahls verurteilt worden37. Daher wurde die SV im August 2005 abgeschafft. Nach der Abschaffung der SV im August 2005 kann Freiheitsstrafe durch die Gesetzesänderung am 15. 4. 2010 bis zu 30 Jahre verlängert und gegebenenfalls auf bis zu 50 Jahre verschärft werden (§ 42). Man nennt diese Gesetzesänderung „coup d’État bei Gesetzgebung“. Seitdem wird die Funktion der SV von verlängerten Freiheitsstrafen übernommen. Bei der Gesetzesänderung am 15. 4. 2010 war der Gesetzgeber offensichtlich durch den Druck der öffentlichen Meinung wegen einiger spektakulärer Frauen- und Kindestötungen mit Sexualmissbrauch beeinflusst. Man kritisiert diese verlängerte Freiheitsstrafe als „den umgekehrten Etikettenschwindel“38 und fordert die Beseitigung der erheblichen Strafverschärfung für den gefährlichen Rückfall wegen der Wesensunterscheidung und Funktionstrennung der auf Tatschuld beruhenden Strafe und der sich auf die Gefährlichkeit stützenden Maßregeln. Für individuelle Rückfallverhütung – insbesondere gegen gefährlichen Sexualstraftäter – ist SV passend39. Der E 2011 hat die Vorschrift bei dem Rückfall und dem Gewohnheitsverbrecher aufgehoben, stattdessen Maßregeln der Besserung und Sicherung ins StGB neu eingeführt. Dadurch hätten Strafen und Maßregeln nach gemeinsamen Leitideen ge34
Statt vieler Bae (Fn. 9), S. 624; G. S. Suh, FS J. W. Kim, 1991, S. 559 f. Das „Gesetz betreffend Sozialschutz“ wurde im Jahr 1980 erlassen und im Jahr 1989 geändert. Dieses Gesetz bestand aus 43 Paragraphen nebst einem Anhang. 36 Das Gesetz betreffend Sozialschutz wurde durch das Gesetz über die Unterbringung in einer Heilanstalt ersetzt. 37 Der Verfasser, Gegenwärtige SV, Die nationale Kommission der Menschenrechten, 2003, S. 38; nachdem Weissbuch 2001, S. 309, 1987 wurden 84,1 %, 1995, 74,3 % und 2000, 73,2 % der Verwahrten wegen Diebstahls in die SV untergebracht. Auch in Deutschland hatte man eine ähnliche Entwicklungsgeschichte. Vgl. Grünwald, ZStW 76 (1964), 643 ff.; Kinzig, SV auf dem Prüfstand, 1996, S. 19 ff. 38 Justizministerium (Fn. 6), S. 83 ff. 39 Der Verfasser, Korean Criminological Review, 3. 2010, S. 5 ff. 35
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handhabt und der Einwand zurückgewiesen werden können, dass die Platzierung der Maßregeln in den Sondergesetzen die Gefahr mit sich bringe, die Menschenrechte zu verletzen, da die Handhabung der strafrechtlichen Maßregeln stärker im Blickwinkel öffentlicher und wissenschaftlicher Beobachtung stünde und die entsprechende Entscheidungspraxis aufmerksamer begleitet werden würde40. Im Folgenden werden die Maßregeln im E 2011 unter einem neu begründeten vierten Abschnitt kurz vorgestellt. § 83 beinhaltet den Katalog der Maßregeln, nämlich 1. SV, 2. Unterbringung in einer Heilanstalt und 3. Führungsaufsicht. Die SV wird kumulativ mit der Strafe verhängt. Mit Blick darauf ist sie die einschneidendste Maßregel in Korea. Das Höchstmaß der Unterbringung in der SV darf in Korea 7 Jahre nicht überschreiten (§ 83-4)41. Die SV sollte auf diejenigen Hangtäter beschränkt werden, von denen schwerste Straftaten zu erwarten sind. Hinsichtlich der begangenen Taten und der zu erwartenden Taten müssen strengere Anforderungen gestellt werden. Auch mit diesen Einschränkungen ist die Beibehaltung der SV nur zu rechtfertigen, wenn gewährleistet ist, dass den Verwahrten nur die unerlässlichen Freiheitsbeschneidungen auferlegt werden. Der E 2011 beabsichtigt, die Anordnung der SV jedenfalls auf die Fälle zu beschränken, in denen der Straftäter wegen eines schweren Delikts abgeurteilt wird. Zumindest aber wird dabei der Anwendungsbereich der SV im Einzelnen, d. h. Brandstiftung an Wohngebäuden, Mord, Körperverletzung (einschl. mit Todesfolge), Kindesentziehung und Geiselnahme, verschiedene Vergewaltigungen (einschl. mit vorsätzlicher Tötung), verschiedener Raub (einschl. mit Todesfolge) (§ 83-3) erheblich reduziert. Nach § 83-5 des E 2011 müsste das Gericht vor Ende des Strafvollzugs die Erforderlichkeit der weiteren Vollstreckung der SV prüfen, und wenn es daran fehlt, müsste die Vollstreckung der SV zur Bewährung ausgesetzt werden. Das Gericht ordnet die Unterbringung in einer Heilanstalt an, wenn jemand eine rechtswidrige Tat begangen hat und die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten besteht (§ 83-9). Die Anknüpfungstat muss unter der Voraussetzung begangen worden sein, 1. dass sie entweder einer Einschließungsstrafe unterliegt, im Zustand der Schuldunfähigkeit oder im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangen worden ist oder
40 Grundkonzept bei Frisch, ZStW 102 (1990), 343 ff.; Kaiser, Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise?, 1990, S. 22. 41 Der Verwahrte erhält in der Anstalt eine berufliche Ausbildung und es wird versucht, ihn zu resozialisieren. Die Erbringung von Arbeitsleistungen kann mit Einwilligung des Verwahrten auferlegt werden.
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2. der Täter den Hang hat, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel missbräuchlich zu sich zu nehmen und eine Straftat, die zumindest einer Einschließungsstrafe unterliegt, begangen hat oder 3. der Täter aus pädophiler oder masochistischer Veranlagung oder einer anderen sexuellen psychischen Störung die sexuelle Straftat, die zumindest einer Einschließungsstrafe unterliegt, begangen hat. Die Dauer bei Nummern 1 und 3 darf 15 Jahre nicht überschreiten. Im Fall der Nummer 2 darf die Dauer 2 Jahre nicht überschreiten (§ 83-10). Der Anwendungsbereich dieser Maßregel ist zu weit. Das Gesetz sieht die Unterbringung in der Heilanstalt für fast alle Straftaten vor, soweit die Befürchtung besteht, dass der Täter in Zukunft eine weitere rechtswidrige Tat begeht. Die Anwendung dieser Maßregel sollte auf den Fall beschränkt sein, dass die Strafe nicht verhängt werden und demnach der individualpräventive Zweck nicht erfüllt werden kann. Aber die Verfolgung dieses präventiven Zwecks muss streng beschränkt sein, da der von ihr Betroffene unter schlechteren Bedingungen sanktioniert werden würde als der Straffällige. Die Maßregelanordnung muss daher auf normativer Ebene auf wirklich gravierende Fälle beschränkt werden. Der Gesetzgeber muss ihre Verhängung von der Begehung bestimmter Straftaten – wie dies für die SV vorgesehen ist – abhängig machen. Das Gewicht des in der drohenden Tat zum Ausdruck kommenden Unrechts muss das Gewicht des Freiheitsinteresses erheblich übersteigen. Eine Anordnung der Unterbringung in der Heilanstalt ist nur bei der Erwartung erheblicher rechtswidriger Taten gerechtfertigt. Wenn die Unterbringung neben einer Freiheitsstrafe angeordnet wird, so wird sie vor der Strafe vollzogen und die Zeit des Vollzugs der Maßregel wird auf die Strafe angerechnet (§ 83-16). Während der Dauer der Unterbringung prüft das Gericht alle sechs Monate, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung auszusetzen ist (§ 8312). Als nicht freiheitsentziehende, ambulante Maßnahme ist die Führungsaufsicht zu nennen, die dem Interesse des Verurteilten bei der bedingten Entlassung und dem berechtigten Interesse der Allgemeinheit am Schutz vor weiteren Straftaten des Entlassenen gleichermaßen dient und deren weitere Entwicklung zu befürworten ist. Durch die Teilreform 1995 hat das geltende StGB zum ersten Mal im StGB die Führungsaufsicht für die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59-2)42, die Aussetzung der Strafe zur Bewährung (§ 62-2)43 und die bedingte Entlassung (§ 73-2)44 normiert. 42 Das Gesetz lautet: Bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt kann das Gericht anordnen, den Verurteilten für ein Jahr der Führungsaufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers zu unterstellen, wenn dies angezeigt ist, um ihn von weiteren Straftaten abzuhalten. 43 Das Gesetz lautet: 1) Bei der Strafaussetzung zur Bewährung kann das Gericht anordnen, den Verurteilten der Führungsaufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers zu unterstellen und ihn verpflichten, gemeinnützige Arbeitsleistungen zu erbringen oder an einem Unterricht zur Erziehung zur Normtreue teilzunehmen. 2) Die Unterstellungsdauer gem. Abs. I ist mit der Bewährungszeit identisch; doch kann das Gericht die Unterstellungsdauer
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Um den Zweck der Führungsaufsicht wirklich erreichen zu können, ist es allerdings nötig, dass bestimmte Rahmenbedingungen sichergestellt sind, wie z. B. die Spezialisierung der Bewährungshelfer, das Vorhandensein fürsorglicher Einrichtungen; aber auch die Mentalität der Justizbeamten ist verbesserungsbedürftig usw.45.
III. Schluss Die koreanische Strafrechtswissenschaft, die sich bis jetzt lebhaft entwickelt, wird ihrerseits von der deutschen Strafrechtslehre erheblich beeinflusst. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die enge Beziehung, die sich zwischen dem koreanischen und dem deutschen Strafrecht gebildet hat, erhalten bleiben und weiter vertieft werden wird. Dazu, wie oben gesehen, hat auch die in Gang gesetzte Strafrechtsreformarbeit in Korea ständig beigetragen. Im Hinblick auf die zukünftige Strafrechtsreform ist zu befürworten, dass weitere Neuerungen ins koreanische StGB aufgenommen werden. In Korea steht man vor vielen ungelösten Aufgaben. Die Schaffung eines humanitären, liberalen und rationalen Strafrechts gehört zu diesen Aufgaben. Um angemessene Reaktionsformen schaffen zu können, ist eine Zusammenarbeit von Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik gefordert. Nur gemeinsam können erfolgversprechende Schritte zur Entwicklung angemessener Reaktionen entwickelt werden.
innerhalb der Bewährungszeit bestimmen. 3) Die Erbringung der gemeinnützigen Arbeitsleistungen bzw. die Teilnahme an einem Unterricht ist innerhalb der Bewährungszeit durchzusetzen. 44 Das Gesetz lautet: 1) Bei der bedingten Entlassung ist der Verurteilte für die Dauer der Bewährungszeit der Führungsaufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers zu unterstellen. Bei der lebenslangen Freiheitsstrafe beträgt die Dauer 10 Jahre. 2) Jedoch wird er nicht unterstellt, wenn die Verwaltungsbehörde, die die bedingte Entlassung eingeräumt hat, dies für unnötig hält. 45 Ähnlich Chong/Shin (Fn. 17), S. 592 f.
Strafzumessung und Strafverfahren Von Uwe Murmann
I. Einleitung Die Strafzumessung ist traditionell vor allem eine Domäne der Rechtsprechung. Die Zurückhaltung der Wissenschaft ist zum Teil historisch darin begründet, dass die Strafzumessung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts als Tat- und nicht als Rechtsfrage verstanden wurde.1 Damit war sie ausschließlich dem Richter in der Tatsacheninstanz zugewiesen. Noch heute spielt die Strafzumessung in der Wissenschaft gemessen an der Bearbeitung vieler anderer dogmatischer Fragen des materiellen Strafrechts eine eher randständige Rolle.2 Dabei gehört gerade der verehrte Jubilar zu den wenigen Wissenschaftlern, die sich intensiv mit dem Strafzumessungsrecht beschäftigt haben.3 Die Bedeutung der Aufgabe, die Strafzumessung dogmatisch und in ihren verfassungsrechtlichen Bezügen zu durchdringen, kann kaum überschätzt werden. Denn die Strafzumessung gehört zu den praktisch wichtigsten Teilen der Rechtsfindung: Während die rechtliche Einordnung eines (einmal festgestellten) Verhaltens im gerichtlichen Verfahren meist keine besonderen Probleme aufwirft und das Gericht dementsprechend auch insoweit kaum Spielraum hat, eröffnet die Strafzumessung in der Regel4 einen weiten rechtlichen Rahmen.
1 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 1 f.; Frisch, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 217 ff.; ders., in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 1 ff. (auch zur weiteren Entwicklung). 2 Frisch, ZStW 99 (1987), 349, weist freilich zu Recht auf den Bedeutungszuwachs hin, den die Strafzumessung u. a. in der Kommentarliteratur erfahren hat. Dennoch fällt ein Vergleich, etwa mit der Literatur zum Versuch oder zur Beteiligungslehre, sicherlich zu Lasten der Strafzumessungslehre aus. 3 Genannt seien Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung, 1971; ders. (Fn. 1), Grundfragen des Strafzumessungsrechts, S. 221 ff.; ders., in: ders./v. Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Tatproportionalität, 2003, S. 1 ff., S. 155 ff.; ders., FS Jareborg, 2002, S. 207 ff.; ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 237 ff.; ders., in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 268 ff.; ders., FS Kaiser, 1998, S. 765 ff.; ders., in: 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 1 ff.; ders., GA 1989, 338 ff.; ders., ZStW 99 (1987), 349 ff. 4 Eine Ausnahme stellen die – seltenen und mittlerweile durch die Rechtsprechung aufgeweichten – absoluten Strafandrohungen dar.
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Die Einordnung der Strafzumessung als Tatfrage war freilich kein Zufall und dürfte vor allem die Sachgründe widerspiegeln, die bis heute maßgeblich für die Zurückhaltung der Wissenschaft bei der Beschäftigung mit Fragen der Strafzumessung sind. Dabei steht im Vordergrund, dass die Strafzumessung ein äußerst komplexer Vorgang ist und die einzelne Strafzumessungsentscheidung an die Grenzen rationaler Begründbarkeit – und folglich auch an die Grenzen wissenschaftlicher Durchdringung – stößt.5 Eine wesentliche Schwierigkeit liegt in der Beantwortung der Frage, welche Umstände als Tatsachen überhaupt zur Begründung von Strafzumessungsentscheidungen herangezogen werden dürfen und in welche Richtung diese Umstände wirken.6 Um einen Ausschnitt aus dieser Problematik soll es im Folgenden gehen, nämlich um die Strafzumessungsrelevanz solcher Umstände, die im Zusammenhang mit der von den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten geleisteten Aufarbeitung des Vorwurfs strafbaren Verhaltens auftreten können. Auch damit wäre freilich ein zu weites thematisches Feld abgesteckt: Ausgehend von der grundsätzlichen Frage nach der Strafzumessungsrelevanz solcher, im Nachfeld der Tat angesiedelten Umstände, soll deren Systematisierung anhand der maßgeblichen Wertungsgesichtspunkte und sodann die Behandlung ausgewählter Einzelprobleme erfolgen. Zunächst ist aber als Basis für die Behandlung dieser Fragen der Zweck der Strafe zu klären.
II. Der Zweck der Strafe als Richtpunkt der Strafzumessung Den gedanklichen Ausgangspunkt für das Auffinden der maßgeblichen Strafzumessungstatsachen bildet die Frage, welchem Zweck die Verhängung einer Strafe – grundsätzlich und im konkreten Fall – dient.7 Hier kommen die bekannten Unterscheidungen in absolute und relative Straftheorien ins Spiel. Dahinter steht freilich eine noch grundsätzlichere Frage, nämlich die nach dem Zweck des Rechts, auf den die Strafe als Rechtsstrafe teleologisch ausgerichtet sein muss.8 Sieht man den Zweck 5
Vgl. Bruns (Fn. 1), S. 23 ff. Frisch, GA 1989, 338 ff. 7 Prägnant Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 269; relativierend zur Bedeutung der Straftheorien unter Betonung der „Anknüpfungssachverhalte“ – Schuld oder Gefährlichkeit – dagegen Frisch (Fn. 1), Grundfragen der Strafzumessung, S. 6 f.; auch ders., ZStW 99 (1987), 364 ff. zur „Überschätzung des Antinomieproblems“. Insoweit geht es Frisch aber offenbar nur darum, die Ähnlichkeit der praktischen Ergebnisse der verschiedenen Ansätze zu betonen. Diese Nähe dürfte sich schon deshalb leicht herstellen lassen, weil niemand genau weiß, was schuldangemessen oder präventiv wirksam ist. Das Erfordernis eines konsistenten Ableitungszusammenhangs – und das heißt: einer Ableitung aus dem Zweck der Strafe – soll damit aber sicher nicht in Frage gestellt werden. 8 Vgl. zum Folgenden Murmann, in: Koriath/Krack/Radtke/Jehle (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts, Rechtsphilosophie und die Reform der Juristenausbildung, 2010, S. 189 ff. Vertiefend Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986, S. 44 ff. 6
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der Verhaltensnormen in einem instrumental verstandenen Rechtsgüterschutz, also in der Verhinderung bestimmter, als unerwünscht eingestufter Erfolge, so gelangt man zu einem Präventionsstrafrecht. Die bereits erfolgte und damit präventiv nicht mehr fassbare Verletzung durch die Straftat gibt damit nur den Anlass zur Verhängung der Strafe, um weitere Verletzungen zu verhindern. Inhaltliche Auskunft dazu, welche Qualität die zu verhindernden Erfolge haben müssen, lässt sich aus einem solchen Konzept nicht gewinnen; der Zweck der Strafe ist damit ein relativer, nämlich auf die konkreten Bestrafungsbedürfnisse einer Gesellschaft bezogener. Versteht man das Recht dagegen als eine Freiheitsordnung, an der jeder Bürger als freie Person konstitutiven Anteil hat, so dient die Strafe dem Bestand dieser Freiheitsordnung und damit dem Recht selbst. Die begangene Gutsverletzung bleibt dann deshalb Anknüpfungsgrund der Strafe, weil sie dem geistigen Angriff auf das Recht die erforderliche Gestalt gibt. Nicht die äußere Beeinträchtigung ist damit das Entscheidende, sondern der darin zum Ausdruck kommende Angriff auf das Recht. Und die Strafe trägt der Einsicht Rechnung, dass ein solcher Angriff auf das Recht nicht mit der Tat abgeschlossen ist, sondern – als geistiger Angriff – über die Tat hinaus den Geltungsanspruch des Rechts beschädigt. Das Gesetz macht mit unmissverständlicher Deutlichkeit klar, dass die Tat nicht lediglich Anknüpfungspunkt für die Verhängung einer präventiv motivierten Strafe ist, sondern auf die in der Vergangenheit liegende Tat bezogen bleibt: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“ (§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB). Die Diskussion um die dem geltenden Recht zu unterlegende Straftheorie ist von dieser Norm teilweise merkwürdig unberührt.9 Für eine präventive Interpretation der Strafe wird geltend gemacht, allein eine auf die Verhinderung künftiger Taten ausgerichtete Strafe werde den Aufgaben des Staates gerecht.10 Die Berücksichtigung präventiver Belange hat in Teilen der Literatur ihren Niederschlag in einer Vereinigungstheorie gefunden, bei der die Strafzwecke gleichberechtigt nebeneinander stehen sollen.11 Abgesehen davon, dass ein solches Konzept nicht durchführbar ist, weil es im Kollisionsfall an einer Regel fehlt, die über das Verhältnis der unterschiedlichen Strafzwecke zueinander entscheidet,12 ist die Vereinigungstheorie mit § 46 Abs. 1 StGB 9
Siehe z. B. Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2009, § 1 Rn. 2 ff.; Frister, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2011, 2 Kap. Rn. 2 ff.; vgl. auch Gropp, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2005, § 1 Rn. 120 f., der zunächst die präventiven Gesichtspunkte betont und dann darauf hinweist, dass „letztendlich … auch Elemente der absoluten Straftheorien im Strafrecht zu erkennen“ seien – damit wird dem gesetzlichen Rangverhältnis aber schwerlich Rechnung getragen. Zutreffend aber Krey/Esser, Deutsches Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2012, Rn. 153 f. 10 Freund (Fn. 9), § 1 Rn. 2. 11 Siehe z. B. Wessels/Beulke, Strafrecht, AT, 41. Aufl. Rn. 12a; aus der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich BVerfGE 45, 187, 253 f. in diesem Sinne interpretieren. Deutlich im Sinne einer absoluten Theorie aber BVerfGE 110, 1, 13: „Das dem Täter auferlegte Strafübel soll den schuldhaften Normverstoß ausgleichen; es ist Ausdruck vergeltender Gerechtigkeit“. 12 Vgl. Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 44. Diese grundsätzliche Frage stellt sich unabhängig davon, welche Bedeutung der Antinomie der Strafzwecke praktisch zukommt; dazu Frisch, ZStW 99 (1987), 364 ff.
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nicht vereinbar. Denn diese Vorschrift postuliert einen deutlichen Primat der Schuldgebundenheit und weist in ihrem zweiten Satz der Spezialprävention ersichtlich nur eine ergänzende Rolle zu („sind zu berücksichtigen“).13 Noch weiter vom Gesetz entfernt sich eine Vereinigungstheorie, die dem Schuldausgleich überhaupt keine begründende Funktion einräumen will.14 Um ausufernde präventiv motivierte Strafen zu vermeiden, wollen die Vertreter dieser präventiven Vereinigungstheorie § 46 Abs. 1 S. 1 StGB immerhin eine limitierende Bedeutung der Schuld entnehmen.15 Diese Position ist nicht nur gesetzesfern, sie verkennt auch den notwendigen Zusammenhang zwischen Strafbegründung und -begrenzung.16 Und sie verkürzt schließlich, wie jedes Konzept, das der Prävention eine die Strafe fundierende Rolle zuweist, das Recht auf ein Instrument zur Erziehung der Bürger. Das gilt auch für die Theorie der positiven Generalprävention, die sich hierzu lediglich subtilerer Mittel bedient als die negative Generalprävention.17 Mit dem letztgenannten Aspekt wird auch schon deutlich, dass die Ignoranz gegenüber der Vorschrift des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB auch nicht etwa aus verfassungsrechtlichen Einsichten in die Grenzen legitimer Staatstätigkeit erklärlich ist.18 Dabei ist freilich richtig, dass der Bezug der Strafe auf eine in der Vergangenheit liegende Straftat nicht bedeuten kann, dass die Verhängung der Strafe jedes zukunftsbezogenen Zwecks entbehrt. Der BGH hat diese Einsicht in der Formulierung zum Ausdruck gebracht, dass „die Strafe nicht die Aufgabe hat, Schuldausgleich um ihrer selbst willen zu üben“.19 Aber dieser Einwand trifft in Wahrheit nicht das Konzept einer absoluten Strafe und verfehlt auch ein sinn- und gehaltvolles Verständnis
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SSW-StGB/Eschelbach, 2009, § 46 Rn. 24. Eingehend Roxin, Strafrecht, AT I, § 3 Rn. 37 ff. Zutreffende Kritik unter Hinweis auf die Schranken der Gesetzesauslegung bei Krey/Esser (Fn. 9), Rn. 154. 15 Roxin (Fn. 14), § 3 Rn. 51 ff. 16 Murmann, Grundkurs Strafrecht, 2011, § 8 Rn. 43. 17 Für letztere hat bekanntlich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 99, die Verletzung der Menschenwürde auf den Punkt gebracht, weil sie die Strafe in einer Weise begründet, „als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt“. Eingehend zur Kritik der Generalprävention Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 29 ff. Der im Text erhobene Einwand trifft auch die „funktionalabsolute Straftheorie“ von Streng (FS Heinz, 2012, S. 683 f.), derzufolge die Gefühlslage der Mitbürger die Strafe, der die Funktion zukomme, „die Geltung der verinnerlichten Werteordnung des einzelnen Bürgers zu bewahren“, legitimiere. Es ist dann auch bezeichnend, dass die gerechte Strafe den Bürgern (nur?) „das Gefühl“(!) vermitteln soll, „einer Gesellschaft anzugehören, in der die Einzelnen nicht bloßes Objekt des Handelns einer anonymen Staatsgewalt sind, sondern gegenüber dem Staat einklagbare Rechte besitzen“; Streng, FS Heinz, 2012, S. 692. 18 Zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Schuldgrundsatzes (auch im Hinblick auf die Strafzumessung) Hörnle, in: Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, 2010, S. 107 ff. 19 BGHSt 24, 40, 42. 14
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von „Schuldausgleich“.20 Die Strafe ist natürlich nicht Selbstzweck (und damit letztlich zwecklos), sondern sie dient der Aufrechterhaltung des Rechtszustandes.21 „Schuldausgleich“ meint dementsprechend – was auch im Begriff durchaus angelegt ist – nicht die äußere Abfolge von zwei Übeln, nämlich der Straftat und der Strafe, sondern rückt den inneren Zusammenhang dieser Abfolge in den Vordergrund und weist darauf hin, dass die Strafe das verschuldete Unrecht der vorangegangenen Straftat gewissermaßen nivelliert. Selbstverständlich nicht im Sinne einer Schadenskompensation – das wäre Aufgabe des Zivilrechts. Gemeint ist ein ideeller Ausgleich, der dadurch möglich wird, dass die Straftat nicht lediglich äußere Beeinträchtigung ist, sondern geistiger Angriff auf das Recht durch eine Vernunftperson, die als solche an der Konstitution des Rechtszustandes Anteil hat.22 Diese spezifisch menschliche Verletzungsmacht ist die Basis dafür, dass die Person auch für die Wiederherstellung des Rechtszustandes Verantwortung trägt und deshalb durch Strafe in Anspruch genommen werden kann. Nur wenn die Strafe als ein Recht des Staates verstanden werden kann, das auch im Straftäter selbst seine Fundierung findet, ist sie nicht nur äußerer Zwang und Gewalt.23 Man kann, um den Zusammenhang zum Schuldgrundsatz noch anschaulicher zu machen, auch sagen: Der Täter schuldet als Rechtsperson das, was zur Wiederherstellung des Rechts erforderlich ist. Ein absolutes Verständnis von Strafe meint also nicht deren Zwecklosigkeit, sondern die dezidierte Bindung an einen Rechtszweck.24 Hier setzt eine weitere Kritik an: Eine absolute Begründung der Strafe ziele auf die Verwirklichung einer metaphysischen Idee der Gerechtigkeit, wozu „der Staat als eine menschliche Einrichtung weder fähig noch berechtigt“ sei.25 Auch dieser Einwand ist im Vorstehenden bei genauerem Hinsehen freilich schon zurückgewiesen worden. Genauso gut könnte man behaupten, die Menschenwürde sei eine metaphysische Idee, deren Schutz folglich nicht Sache des Staates sein könne. Die Bindung des Rechts an die Idee der Gerechtigkeit ist in Wahrheit genau das, was dieses Recht von Macht und Gewalt unterscheidet.
20 Zutreffend SSW-StGB/Eschelbach, 2009, § 46 Rn. 20: Strafe als angemessener Schuldausgleich habe „den Sinn, das Verbrechen aufzuheben und das verletzte Recht wiederherzustellen“. 21 Köhler (Fn. 8), S. 9 f., 14; Murmann (Fn. 8), S. 189 ff. 22 Vertiefend zu diesem Zusammenhang Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 165 ff.; vgl. auch Pawlik, in: Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, 2010, S. 87 f. 23 Köhler (Fn. 8), S. 16 f. 24 Treffend Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 278 f.; vgl. auch ders., FS Müller-Dietz, 2001, S. 253 f. 25 Roxin (Fn. 14), § 3 Rn. 8; auch NK-StGB/Hassemer/Neumann, 3. Aufl. 2010, Vor § 1 Rn. 105 (die die „Weisheit absoluter Straftheorien“ im Rahmen der Strafzumessung anerkennen, Rn. 107). Vgl. schon v. Liszt, ZStW 20 (1900), 173: „Metaphysische Spekulation, mag sie sich auch in das Gewand einer der beliebten ,absoluten Strafrechtstheorien‘ kleiden, hat mit der Wissenschaft und daher auch mit der Strafrechtswissenschaft nichts zu thun.“
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Die Schuld begründet und begrenzt also die Strafe.26 Wenn das Gesetz daneben bei der Strafzumessung die Berücksichtigung spezialpräventiver Belange anordnet (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB) und auch generalpräventiven Überlegungen Raum gibt (z. B. § 47 StGB), so ist damit klar, dass die Prävention nicht die Strafe legitimiert, sondern der schuldangemessenen Strafe lediglich genauere Konturen verleihen kann.27 Sieht man die Schuld als Legitimationsgrundlage der Strafe und räumt präventiven Überlegungen untergeordnete Bedeutung ein, so führt dies mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur Spielraumtheorie.28 Denn nur auf deren Grundlage lässt sich die Verbindlichkeit der Schuldstrafe mit dem Einfluss präventiver Belange verbinden. Freilich hat gerade Wolfgang Frisch die Spielraumtheorie durchaus kritisch gesehen.29 Tatsächlich stellt sich schon die Frage, ob die schuldangemessene Strafe überhaupt einen Spielraum eröffnet oder nicht vielmehr einen bestimmten Punkt markiert. Für die Punktstrafe lässt sich geltend machen, dass diese in der Logik der Einsicht liegt, dass die Strafzumessung Rechtsanwendung ist.30 Der Gedanke einer Punktstrafe bleibt jedoch insoweit theoretisch, als ein einziges konkretes Strafmaß interpersonal keine Verbindlichkeit beanspruchen kann; es eröffnet sich immer ein Rahmen des rechtlich „Vertretbaren“.31 Die Spielraumtheorie ist aber nicht nur in der „Außenperspektive“ berechtigt,32 sondern auch der mit der Sache befasste Richter wird sich immer in einem – möglicherweise gemessen am interpersonal vertretbaren: engeren – Spielraum bewegen, innerhalb dessen ihm die Gründe für das eine oder andere Strafmaß fehlen, womit dann auch für ihn selbst die eine Strafe genauso schuldangemessen erscheint wie die andere.33 Damit ist die Notwendigkeit, innerhalb eines als schuldangemessen empfundenen Spielraums zu entscheiden, unaus26
Ob eine Unterschreitung des Maßes der Schuldstrafe ebenfalls ausgeschlossen ist, ist damit noch nicht ohne weiteres ausgemacht. Es ist aber klar, dass die Wiederherstellung des Rechts bei einer Unterschreitung der Schuldstrafe jedenfalls unvollständig bliebe; es wäre dann zu erwägen, ob für eine soziale Gesellschaftsordnung die Wiederherstellungsleistung im Interesse eines Beschuldigten (partiell) unterbleiben könnte; vgl. zu diesen Fragen Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 279 f. 27 Es würde der gesetzlichen Regelung auch nicht gerecht, die Prävention lediglich als gewünschten Nebeneffekt ohne Einfluss auf das Strafmaß zu interpretieren. 28 Zutreffend Krey/Esser (Fn. 9), Rn. 154. 29 Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 275 f., 282 ff.; auch ders., FS Jareborg, 2002, S. 222 f. 30 SSW-StGB/Eschelbach, 2009, § 46 Rn. 45. 31 Die Grenzen revisionsgerichtlicher Überprüfbarkeit reflektieren diesen Spielraum; vgl. SK-StPO/Frisch, 37. Lfg. März 2004, § 337 Rn. 161 ff. 32 So aber Köhler (Fn. 12), S. 585. 33 So auch Hörnle (Fn. 18), S. 115. A.A. Köhler (Fn. 12), S. 585. Aber: Der Richter, der für sich glaubt, die einzig gerechte Strafe gefunden zu haben, ist allenfalls selbstgerecht. Kritischer Reflexion wird eine solche Überzeugung nicht standhalten, und zwar schon deshalb, weil der Entscheider die Einwände eines Kritikers antizipieren kann und bei einem „inneren Streitgespräch“ schnell merken wird, dass ihm die zwingenden Argumente für das gefundene Strafmaß ausgehen.
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weichlich. Es stellt sich für den Richter die Frage nach weiteren Sachkriterien, die ihm helfen können, diesen Spielraum auszufüllen. Zustimmung verdient die Kritik von Frisch insofern, als manches, was unter Präventionsaspekten zur Konkretisierung des Spielraums herangezogen wird, (zumindest: auch) im Kontext der Wiederherstellung des Rechts, also (schon) bei der Bemessung der (im Zeitpunkt der Entscheidung noch) schuldangemessenen Strafe, Beachtung verlangt.34 Das gilt insbesondere für die üblicherweise bei der positiven Generalprävention verorteten Gesichtspunkte. Denn das Maß der für die Wiederherstellung des Rechts erforderlichen Strafe kann nicht ohne Blick auf die konkrete rechtliche Verfasstheit einer Gesellschaft bestimmt werden.35 Für die Spezialprävention trifft dieser Befund aber nicht zu. Hier ist nicht ausgemacht, dass z. B. positiv zu würdigendes Nachtatverhalten (etwa Wiedergutmachung, Entschuldigung) ausschließlich unter dem Aspekt eines geminderten Wiederherstellungsbedarfs von Belang ist. Denn der Wiederherstellungsbedarf bezieht sich stets auf den Entscheidungszeitpunkt, während den genannten Umständen auch eine prognostische Relevanz im Hinblick auf die Resozialisierungsaussichten zukommt. Es lässt sich durchaus unterscheiden, was der Täter zur Wiederherstellung des Rechts beigetragen hat und inwieweit dieser Beitrag Aufschluss darüber gibt, welche Einwirkung erforderlich ist, um künftige Straftaten zu vermeiden. Gegen die Berücksichtigung präventiver Bedürfnisse im Rahmen der schuldangemessenen Strafe macht Frisch weiter die mangelnde Verfügbarkeit entsprechender empirischer Einsichten geltend.36 Dieses Bedenken ist einerseits berechtigt und mahnt zur Vorsicht im Umgang mit Überlegungen zur präventiven Bestrafungsnotwendigkeit. Andererseits verlangen einige für die Strafart und die Strafzumessung relevante Vorschriften die Einbeziehung präventiver Belange und ihre Berücksichtigung im Rahmen der Schuldangemessenheit, so dass es bei Erfüllung des gesetzlichen Auftrags schwer fällt, sich auf mangelnde Einsicht in die empirischen Zusammenhänge zu berufen. Vor allem aber dürfte kaum bestreitbar sein, dass Strafe präventive Wirkungen zumindest entfalten kann.37 Würde man angesichts dessen eine diesbezügliche Prognose unter Hinweis auf den Mangel an zuverlässigen Erkenntnissen verweigern, so verschwände das Problem der Berücksichtigung präventiver Belange nicht – es würde nur nicht mehr thematisiert. Geht man davon aus, dass es zumindest gute Gründe für die Annahme bestimmter präventiver Effekte gibt, so ist deren Berücksichtigung – insbesondere dann, wenn sie zu Gunsten des Täters 34
Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 282. Zu diesem Befund auch Streng, FS Heinz, 2012, S. 682 f. Trotz der Berücksichtigung der gleichen Sachgesichtspunkte bleibt der Unterschied zu den generalpräventiven Straftheorien erheblich. Denn das Maß der Strafe bestimmt sich im Kontext der Schuldstrafe nicht nach den Interessen der anderen Mitglieder der Gesellschaft, sondern es geht um das für die Wiederherstellung des Rechts Erforderliche – und damit immer auch um den Täter selbst, der an diesem Recht teilhat; siehe Frisch, FS Jareborg, 2002, S. 224 f. 36 Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 282 f. 37 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, Rn. 67 ff., 540 ff. 35
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ausschlägt (siehe noch unten) – immer noch besser als eine diesbezügliche Zurückhaltung, die das angemessene Ergebnis womöglich noch weiter verfehlt.38 Der Richter ist es also dem Täter wie der Gesellschaft schuldig, sich mit seinen begrenzten Möglichkeiten der Erwartung zu stellen, präventive Belange zu berücksichtigen. Mehr als Argumente, die es ihm – eingehegt von dem Rahmen, innerhalb dessen sich eine schuldangemessene Strafe nach seiner Auffassung bewegen kann – unter Heranziehung der verfügbaren erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisse erlauben, ein konkretes Strafmaß interpersonal plausibel zu machen, können dabei freilich weder angeboten noch erwartet werden. Aber die Forderung, auf die Verwendung dieser begrenzten Möglichkeiten zu verzichten, würde „das Kind mit dem Bade ausschütten“. Soweit es die Kritik an der Zulässigkeit präventiv motivierter Strafschärfungen (im Rahmen des Schuldangemessenen) anbelangt, ist zum einen – mit Wolfgang Frisch – auf eine Relativierung des Problems insofern hinzuweisen, wie diese Gesichtspunkte bereits im Rahmen des zur Wiederherstellung des Rechts Erforderlichen – und damit Schuldangemessenen – zu berücksichtigen sind (siehe oben).39 Dieser Gedanke dürfte aber im Bereich spezialpräventiv motivierter Strafschärfungen an Grenzen stoßen. Zwar werden einschlägige Vorverurteilungen häufig nicht nur auf einen aus Sicht des Gerichts stärkeren Einwirkungsbedarf in Richtung auf künftige Straffreiheit hinweisen, sondern zugleich auch einen schwereren Schuldvorwurf begründen und damit ein höheres Strafmaß zur Wiederherstellung des Rechts legitimieren. Aber der (angenommene) größere spezialpräventive Einwirkungsbedarf kann auch aus Umständen resultieren, die sich nicht in der Tat niedergeschlagen haben. Entweder man hält spezialpräventiv motivierte Strafaufschläge in diesem Fall für nicht legitimierbar40 oder beruhigt sich mit der Überlegung, dass auch eine strafschärfende Berücksichtigung spezialpräventiver Belange lediglich im Rahmen der schuldangemessenen Strafe erfolgen darf. Letzteres erscheint konsequent, wenn man auch bereit ist, spezialpräventive Überlegungen (im Rahmen der schuldangemessenen Strafe) zu Gunsten des Täters zu berücksichtigen. Geht man davon aus, dass mit einer Strafe im oberen Bereich der Schuldangemessenheit günstige spezialpräventive Effekte erreicht werden, wohingegen eine niedrigere Strafe im ungünstigsten Fall womöglich sogar eher de- als resozialisierend wirkt, so fällt es schwer, diesen Umstand zu ignorieren. Es dürfte dann vielmehr angemessen sein, die spezialpräventiv wirksamere, aber eben doch von dem erhobenen Schuldvorwurf getragene
38 Eine Berücksichtigung spezialpräventiver Überlegungen zu Gunsten des Täters im Rahmen des Spielraums der schuldangemessenen Strafe wäre freilich ausgeschlossen, wenn der Richter ohnedies aus Gründen der Verhältnismäßigkeit am unteren Rand der Schuldstrafe bleiben müsste (so Hörnle [Fn. 18], S. 116). Eine schuldangemessene Strafe kann aber schwerlich unverhältnismäßig sein. 39 Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 284 f. 40 In diesem Sinne wohl Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 285 f.
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Strafe zu wählen.41 Das Problem liegt hier in Wahrheit wohl darin, dass gerade bei einer strafschärfenden Berücksichtigung spezialpräventiver Belange das Vertrauen in die diesbezügliche Leistungsfähigkeit höherer Strafen für deren Legitimation zu schwach ist. Dagegen scheint eine Überschätzung des Risikos einer ungünstigen Beeinflussung des künftigen Lebens eines Verurteilten durch die Höhe der Strafe weniger problematisch, weil sie die Freiheitsinteressen des Beschuldigten nicht berührt. Legt man das skizzierte Strafzumessungsprogramm zu Grunde, so sind unterschiedliche Fragen abzuschichten: Ist Grundlage der Strafe die Schuld des Täters, weil sie einen Bedarf nach Wiederherstellung des Rechts auslöst, so stellt sich in einem ersten Schritt die Frage, inwieweit strafprozessuale Umstände (einschließlich strafprozessualer Vorgänge) auf diese Schuld Einfluss haben können (III.). In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage, inwieweit diese Gegebenheiten (möglicherweise) nichts an der schuldhaften Rechtsverletzung, wohl aber etwas an der (noch) auszugleichenden Schuld und damit an dem Bedarf nach Wiederherstellung des Rechts zu ändern vermögen (IV.). Und schließlich stellt sich in einem dritten Schritt die Frage, inwieweit diesen Umständen auch Relevanz im Hinblick auf präventive Belange zukommen kann (V.). Es wäre allerdings verkürzend, den Blick allein auf die rechtlichen Vorgaben zu richten, die dem Strafverfahren Relevanz für die Strafzumessung verschaffen. Das Verfahren beeinflusst auch als Prozess der sozialen Interaktion in tatsächlicher, nicht verrechtlichter Hinsicht die Strafzumessung (VI.). Dabei ist hervorzuheben, dass dem gleichen Umstand unter unterschiedlichen Aspekten Relevanz zukommen kann. Es gibt keinen Grund, etwa einen Umstand, der die Strafzumessungsschuld reduziert, nicht noch zusätzlich bei dem zukunftsbezogenen Kriterium der Prävention zu berücksichtigen. Freilich ist dabei immer vorausgesetzt, dass die unterschiedlichen Strafzumessungstatsachen ihre Relevanz aus überschneidungsfreien Sachgesichtspunkten gewinnen.
III. Die Relevanz strafprozessualer Umstände für die Strafzumessungsschuld Die Schuldrelevanz strafprozessualer Umstände (bzw. Vorgänge) ist vor allem deshalb problematisch, weil das Strafverfahren zeitlich nach der Tat liegt. Die Berücksichtigung zeitlich späterer Entwicklungen setzt entweder eine Erweiterung des strafzumessungsrelevanten Schuldvorwurfs oder die Möglichkeit voraus, aus Veränderungen nach der Tat Rückschlüsse auf die Tatschuld zu ziehen. Beide Wege finden sich in der Diskussion.
41 Dagegen lässt sich dann auch nicht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anführen (so aber Hörnle [Fn. 18], S. 116), weil in die Abwägung auch die spezialpräventive Leistungsfähigkeit einzubeziehen ist.
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1. Die nachträgliche Veränderung des Erfolgsunwertes Soweit es die Tatschuld anbelangt, stellt sich das Problem, dass das Strafverfahren erst nach der Tat beginnt und in wesentlichen Teilen – insbesondere, was die Hauptverhandlung anbelangt – in der Regel sogar ganz erhebliche Zeit nach der Tat durchgeführt wird. Die Tatschuld in einem engen Sinn, soweit sie nämlich das die Strafbarkeit begründende verschuldete Unrecht zum Gegenstand hat, liegt zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen vor und ist nicht mehr zu ändern. Freilich folgt aus der Funktion der Tatschuld als Voraussetzung der Strafbarkeit aus einem bestimmten Tatbestand zugleich eine Beschränkung: Es ist für die strafbegründende Tatschuld geradezu charakteristisch, dass sie aufgrund ihres Abstraktionsgrades eine konkrete Strafzumessungsentscheidung nicht erlaubt.42 Es besteht deshalb zu Recht Einigkeit, dass auch solche Umstände auf die Strafzumessungsschuld Einfluss haben können, die tatbestandlich nicht vertypt sind.43 Solche Umstände können auch der Tatbestandsverwirklichung nachfolgen, soweit das verschuldete Unrecht über dieses Stadium hinaus wirkt.44 Aus letzterem folgt dann auch sogleich, dass der Handlungsunwert nachträglichen Änderungen nicht mehr zugänglich und deshalb auch die diesbezügliche Schuld, die auf den Zeitpunkt der Vornahme der Handlung bezogen ist, nicht mehr zu ändern ist. Der Erfolgsunwert hingegen verselbständigt sich gewissermaßen im Rahmen des Zurechenbaren gegenüber der Handlung und kann, da die Beeinträchtigung eines Rechtsgutsobjekts je nach ihrer Art einen änderbaren Zustand darstellt, sich unter Umständen im Nachhinein noch verändern.45 So können sich etwa die durch eine Körperverletzungshandlung hervorgerufenen Beeinträchtigungen nachträglich noch in zurechenbarer Weise verschlimmern.46 Hindert der Täter solche negativen Entwicklungen, so kann er immerhin eine Vertiefung des verschuldeten Unrechts vermeiden – was freilich nicht die Reduzierung eines bereits realisierten Erfolgsun-
42 Eine gesetzliche Ausnahme bilden die Tatbestände mit absoluten Strafandrohungen (z. B. § 211 StGB), bei denen das Problem der angemessenen Berücksichtigung des Einzelfalles aber genauso besteht und vom Gesetzgeber lediglich übergangen wurde. Die Versuche von Literatur und Rechtsprechung, diesen Mangel auszugleichen, zeigen dies sehr deutlich; vgl. Streng (Fn. 37), Rn. 506 f. 43 Näher Frisch, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 13 ff.; Streng (Fn. 37), Rn. 527 ff. 44 Dagegen z. B. Arth. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 1961, S. 259. Vgl. zusammenfassend zum Streitstand hinsichtlich der Frage, ob Nachtatverhalten schuld- oder nur präventionsrelevant ist Streng (Fn. 37), Rn. 572. 45 Damit wird die Annahme zugrunde gelegt, dass der Erfolg einen Bestandteil des Unrechts darstellt und damit auch Gegenstand des Schuldvorwurfs ist; dagegen etwa Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 128 ff. 46 Vertieft der Täter den Schaden durch weitere Straftaten zu Lasten des Opfers, etwa durch Beschädigung der entwendeten Sache (vgl. Streng [Fn. 37], Rn. 573), so folgt die Strafschärfung aus der zusätzlichen Erfüllung dieses Tatbestandes und der jeweils einschlägigen konkurrenzrechtlichen Beurteilung.
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wertes darstellt, sondern lediglich eine für den Täter ungünstige Entwicklung von Strafzumessungsumständen ausschließt. Im Kontext des Strafverfahrens lässt sich an nachträgliche Schadensvertiefungen (bzw. deren Vermeidung) mit Blick auf die Belastungen denken, die der Verletzte, insbesondere als Zeuge, im Strafverfahren erleidet. Aber hier wird der Bereich des zur Tathandlung Zurechenbaren verlassen: Es entspricht ersichtlich nicht dem Schutzzweck der den Straftatbeständen zugrundeliegenden Verhaltensnormen, die Belastungen zu verhindern, die im Zusammenhang mit einem Strafverfahren auftreten.47 Diskutabel bleibt aber die Möglichkeit, dass der Täter im Rahmen des Strafverfahrens seine Strafzumessungsschuld durch erfolgsbezogenes Nachtatverhalten reduzieren kann.48 Die typische Situation im Kontext des Strafverfahrens, in der eine Verminderung des Erfolgsunrechts zu einer nachträglichen Reduzierung der Strafzumessungsschuld führen könnte, ist der Ausgleich wirtschaftlicher Schäden bei Eigentums- und Vermögensdelikten. Aber auch bei Schäden nicht-wirtschaftlicher Art, etwa bei körperlichen Beeinträchtigungen, ließe sich daran denken, dass das Gewicht der Beeinträchtigung durch Geldleistungen vermindert wird. Allerdings begegnet diese Sichtweise auch Bedenken: Zum einen wäre eine Verminderung des Erfolgsunwertes begrenzt auf die tatsächliche Ausgleichsleistung, denn der zivilrechtliche Anspruch besteht bei schadensbegründenden Straftaten ohnedies völlig unabhängig von der Leistungsbereitschaft des Täters. Vor diesem Hintergrund ist dann aber auch der Schadensausgleich lediglich die normativ zu erwartende Erfüllung einer Rechtspflicht. Diese zivilrechtlich geprägte Betrachtung würde aber die tatsächlichen Verhältnisse ignorieren, wonach der Anspruch gegen einen zahlungsunwilligen Gläubiger in seinem Wert zumindest deutlich gemindert ist, so dass die tatsächlich erfolgte Leistung zu einer echten nachträglichen Reduzierung des erlittenen Schadens zu führen vermag. So richtig es ist, dass solche Kompensationen am tatbestandsmäßigen Schaden nichts zu ändern vermögen,49 so angemessen erscheint ihre Berücksichtigung bei der Strafzumessung. Es erschiene verkürzend, lediglich die in der Schadensersatzzahlung liegende symbolische Bedeutung dieses Aktes in seiner Relevanz für das zur Wiederherstellung des Rechts Erforderliche zu berücksichtigen (dazu unten IV.) und dem tatsächlichen Ausgleich in seiner Bedeutsamkeit für den Erfolgsunwert nicht auch eigenständige Bedeutung zuzumessen.
47 Zum Erfordernis eines solchen Schutzzweckzusammenhangs zur Begründung der Strafzumessungsrelevanz außertatbestandlicher Umstände Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 287. 48 Dafür Hörnle (Fn. 18), S. 122; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Tb. 2, 7. Aufl. 1989, S. 574 f., 576; SSW-StGB/Eschelbach, § 46 Rn. 117; Streng (Fn. 37), Rn. 577. Dagegen Kunz, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 137. 49 Zu § 263 StGB etwa Schönke/Schröder/Cramer/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 263 Rn. 120.
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2. Die indizielle Relevanz von Nachtatverhalten im Strafverfahren Wenn das verschuldete Handlungsunrecht auch nachträglichen Änderungen nicht zugänglich ist, so lässt sich doch immerhin erwägen, dass ein Nachtatverhalten Anhaltspunkte bezogen auf die (für die Strafzumessung relevante, § 46 Abs. 2 StGB) Einstellung bietet, mit der die Tathandlung vorgenommen wurde. Dies ist der Ansatzpunkt der Indizkonstruktion, die aus einem Nachtatverhalten auf eine aktuelle Einstellung und von dieser zurück auf die Einstellung zum Tatzeitpunkt schließen will.50 Die Vagheit dieser Konstruktion liegt natürlich auf der Hand.51 Aber letztlich mahnt diese Einsicht nur zur Sorgfalt bei der richterlichen Überzeugungsbildung. Im Übrigen ist die Indizkonstruktion geradezu eine prozessuale Selbstverständlichkeit, weil es Aufgabe der Gerichte ist, die für die Strafzumessung relevanten Umstände, zu denen fraglos auch die Einstellung des Täters zum Tatzeitpunkt gehört, zu ermitteln. Lässt ein Nachtatverhalten solche Schlüsse zu, so sind diese zu berücksichtigen. Die im Regelfall begrenzte Tragfähigkeit der Indizkonstruktion wird freilich dazu führen, dass ein Gericht allein mit Blick auf ein bestimmtes Nachtatverhalten kaum einmal zu der Überzeugung gelangen wird, dass der Tat eine für die Strafzumessung nachteilige Einstellung zugrunde lag.52 Die Relevanz des Nachtatverhaltens liegt dann eher darin, eine auch auf andere Anhaltspunkte gegründete Annahme zusätzlich zu stützen und möglicherweise zu einer Überzeugung zu verdichten. Soweit es um den Täter entlastende Einstellungen bei der Tat geht, genügt es aber nach allgemeinen Grundsätzen,53 dass diese Einstellung mit Blick auf das Nachtatverhalten mehr als eine nur theoretische Möglichkeit darstellt – dann ist in dubio pro reo davon auszugehen, dass beim Täter tatsächlich zum Tatzeitpunkt die entlastende Einstellung vorlag.54 Freilich hat Frisch zutreffend erkannt, dass mit der indiziellen Bedeutung lediglich eine ganz untergeordnete Dimension des Nachtatverhaltens angesprochen ist (zu dessen hauptsächlicher Relevanz sogleich IV.).55 So wird ein von Reue getragenes Geständnis kaum mehr als die Annahme begründen können, dass sich der Täter bei der Tat von einer ad hoc Entscheidung hat leiten lassen, die nicht Ausdruck einer grundsätzlich rechtsfeindlichen Einstellung ist. Damit ist aber eher ein Argu50 Eingehend Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 591 ff. Aus der Rechtsprechung BGHSt 1, 105, 106; BGH, MDR 1954, 693; NStZ 1985, 545. 51 Kritisch gegen die Indizkonstruktion deshalb Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 293; ders., in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 16; vgl. auch Dölling, in diesem Band. 52 Vgl. zum „qualifizierten Leugnen“ Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 296 f. 53 Zu diesen etwa Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 261 Rn. 26; zur Anwendung auf Strafzumessungstatsachen SK-StPO/Velten, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 92. 54 Es geht hier nicht um die umstrittene Frage der Anwendung des Zweifelssatzes auf Indiztatsachen (dazu SK-StPO/Velten (Fn. 53), § 261 Rn. 93 f.), weil das Indiz (Nachtatverhalten) ja feststeht. 55 Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 293 f.
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ment gegen eine strafschärfende Motivationslage gefunden, als dass sich daraus ein Anlass zu nennenswerter Milderung ergeben könnte.
IV. Die Relevanz strafprozessualer Umstände und Vorgänge für die Wiederherstellung des Rechts Dient die Strafe der Wiederherstellung des Rechts (oben II.), so hängt das erforderliche Strafmaß nicht nur von dem Maß der Schuld ab, sondern auch davon, inwieweit der Wiederherstellungsbedarf zum Entscheidungszeitpunkt unverändert fortbesteht oder durch Vorgänge nach der Tat beeinflusst worden ist.56 Dabei kommt ein nach der Tat gesteigerter Wiederherstellungsbedarf auch dann nicht in Betracht, wenn der Täter etwa nachträglich die Nichtanerkennung der Norm bekräftigt, indem er z. B. erklärt, das Opfer habe die Verletzung verdient. Im gleichen Zusammenhang ließe sich auch an das sogenannte „qualifizierte Leugnen“ denken.57 Dabei wirkt nicht nur die Strafzumessungsschuld limitierend – insofern ließe sich immerhin noch daran denken, dass ein gesteigerter Wiederherstellungsbedarf im Rahmen des Spielraums schuldangemessener Strafe berücksichtigt werden könnte. Auch damit würde aber verkannt, dass der Täter durch solches Verhalten nicht etwa seinen Normbruch verstärkt, sondern ihn nur bestätigt und in seiner Bedeutung nicht reduziert.58 Begeht der Täter neue Taten, verleumdet er etwa den Opferzeugen, so liegt darin eine neue Rechtsverletzung, die schon mit Blick auf das Verbot der Doppelbestrafung nicht in einem anderen Zusammenhang strafschärfend berücksichtigt werden darf.59 Zu erörtern bleibt also die Frage, inwiefern der Wiederherstellungsbedarf nach der Tat verringert werden kann. Für die Begründung einer solchen (partiellen) Wiederherstellung des Rechts nach der Tat kommen unterschiedliche tatsächliche Anknüpfungspunkte in Betracht. Dabei ist stets entscheidend, ob bestimmte Umstände nach der Tat als (partieller) Ausgleich der Schuld verstanden werden können, so dass der Wiederherstellungsbedarf vermindert ist.60 In Betracht kommen insoweit zunächst einmal Nachteile, die 56 Dezidiert Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 278 f., 294 ff.; ders., in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 17 ff. Ähnlich – freilich von der Frage der Rechtsfriedenstörung aus –, Frisch, ZStW 99 (1987), 780 f. An Frisch anschließend Dölling, in diesem Band. 57 Vgl. dazu Streng (Fn. 37), Rn. 574. Gegen dessen Strafzumessungsrelevanz Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 296 ff. 58 Zutreffend Frisch, FS Jareborg, 2002, S. 230 f. 59 Vgl. Streng (Fn. 37), Rn. 574. Unter spezialpräventiven Gesichtspunkten kann die fehlende Normakzeptanz freilich eine Rolle spielen, vgl. unten V. 60 Ein Sonderproblem, dem hier nicht weiter nachgegangen werden soll, ist die Frage, inwieweit auch der bloße Zeitablauf zwischen Tat und Urteil, also ganz unabhängig von Belastungen durch ein Verfahren und unabhängig von der Verfahrensdauer (z. B. wenn die Ermittlungen erst lange nach der Tat überhaupt aufgenommen werden), den Bedarf nach
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der Täter erleidet und die deshalb als Strafersatz interpretiert werden können; beispielhaft hierfür ist der Fall der poena naturalis (§ 60 StGB).61 In dem gleichen Kontext lassen sich aber auch besondere Belastungen durch das Strafverfahren, etwa durch dessen lange Dauer oder eine besonders intensive Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, diskutieren. Weiterhin und vor allem kommen Verhaltensweisen des Täters in Betracht, mit denen dieser sich von der der Tat zugrunde liegenden Unrechtsmaxime distanziert, also bestimmte Formen des Nachtatverhaltens. 1. Auswirkungen des Strafverfahrens Die Rechtsprechung akzeptiert die Länge des Strafverfahrens als strafmildernden Umstand – obwohl die Verfahrensdauer auf die Tatschuld ohne jeden Einfluss ist und sich auch nicht notwendig in einem verminderten Präventionsbedarf niederschlagen muss.62 Der sachliche Grund dafür liegt darin, dass sich die Belastungen aufgrund der Verfahrensdauer, die gewissermaßen als Folge der Tat auf den Täter selbst zurückfallen, interpersonal durchaus im Sinne von Sanktionen verstehen lassen („das hat er jetzt davon“), die zu erleiden als partielle Wiederherstellung angerechnet wird.63 Ist die Verfahrensdauer auf eine rechtsstaatswidrige Verzögerung zurückzuführen, so soll dieser Umstand (also gerade die Rechtsstaatswidrigkeit der Verzögerung) nach neuerer Rechtsprechung keinen Einfluss auf die Strafzumessung haben.64 Dafür Wiederherstellung des Rechts zu vermindern vermag. Diese Frage entspricht der nach dem Rechtscharakter der Verjährungsvorschriften: Während ein materielles Verständnis die Verjährung als Strafzumessungsgesichtspunkt interpretiert (SSW-StGB/Rosenau, 2009, § 78 Rn. 2), handelt es sich bei prozessualer Betrachtung um ein Verfahrenshindernis mit der Funktion, eine Störung des Rechtsfriedens zu vermeiden (LK-StGB/Schmid, 12. Aufl. 2008, Vor § 78 Rn. 9). Sachgerecht erscheint gegenüber solchen monistischen Erklärungsansätzen die Orientierung an den Sachgründen, die für die Verjährungsvorschriften zumindest begrenzte Erklärungsansätze bieten. Es spricht nichts dagegen, die schematischen und letztlich einer wirklich überzeugenden Begründung für den Einzelfall nicht zugänglichen Verjährungsvorschriften auf unterschiedliche Sachgründe zu stützen. Immerhin erscheint es dann auch einleuchtend, dass der Wiederherstellungsbedarf mit dem Zeitablauf abnimmt (Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 299; ders., FS Jareborg, 2002, S. 229 f.; Streng [Fn. 37], Rn. 613). Die Begründung dürfte aber mehr in gewissen Eigenheiten der menschlichen Psyche und der Begrenztheit des menschlichen Gedächtnisses, als in einer strikt rationalen Begründung der Wiederherstellung zu liegen. Soziale Störungen werden verdrängt oder vergessen und verlieren ihre Relevanz für das Miteinander. „Die Zeit heilt alle Wunden“, nicht, weil die Tat ihre Bedeutung verlöre, sondern weil diese Bedeutung gleichsam in Vergessenheit gerät. 61 Frisch, FS Jareborg, 2002, S. 227 f. 62 Zutreffend Heghmanns, ZJS 2008, 200. 63 Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 301; ders., FS Jareborg, 2002, S. 228; Streng (Fn. 37), Rn. 534 ff., 613: „Bestrafung“ in einem untechnischen Sinn. Zu Recht weist Streng (Fn. 37) bei Rn. 534, darauf hin, dass die Bezeichnung dieses Sachverhalts als „Schuldminderung“ irreführend ist. 64 Tendenziell anders aber Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 301.
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lässt sich anführen, dass sanktionsähnlichen Charakter nur die Verfahrensdauer hat, nicht die hierfür maßgeblichen Gründe. Es lässt sich, auch in einem übertragenen Sinne, schwerlich sagen, das Fehlverhalten der Behörde habe sanktionierenden Charakter – und die Folgen dieses Fehlverhaltens sind ja, wie gerade gezeigt, als Verlängerung der Verfahrensdauer bereits erfasst. 2. Nachtatverhalten Im Zentrum der Frage nach der Relevanz des Strafverfahrens für die Strafzumessung steht aber das Nachtatverhalten.65 Dessen besondere Bedeutung für den Beschuldigten resultiert daraus, dass er hier durch seine eigene Entscheidung die Strafzumessung beeinflussen kann. Mit dem Gedanken, dass der Beschuldigte durch sein Verhalten zur Wiederherstellung des Rechts beitragen kann,66 ist nicht nur ein theoretisches Konstrukt angesprochen, sondern eine Einsicht, die auch im Gesetz ihren Niederschlag gefunden hat, und zwar in besonderer Deutlichkeit in den Vorschriften zum Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB) und zur tätigen Reue (z. B. § 264 Abs. 5 StGB).67 Die Möglichkeit des Täters, ein verletztes Rechtsverhältnis (zumindest partiell) wieder herzustellen, folgt daraus, dass der Täter als Mitkonstituent des Rechts dieses nicht nur durch seinen manifesten geistigen Angriff verletzen, sondern auch durch die Manifestation seiner Rechtstreue (wieder) festigen kann.68 Würde man diesen konstitutiven Bezug des Einzelnen zum Recht vernachlässigen, so wäre Nachtatverhalten nicht mehr als eine Demutsgeste gegenüber einer fremden Ordnung, der lediglich Relevanz für die Beurteilung des Präventionsbedarfs zukommen könnte. So aber steht auch schon als Voraussetzung für ein strafzumessungsrelevantes Nachtatverhalten fest, dass es eine wirkmächtige Stellungnahme der verantwortlichen Person zum Recht zum Inhalt haben muss. Entscheidend ist der Erklärungsgehalt des Nachtatverhaltens: Das Recht ist eine geistige Ordnung, es ist als geistige Ordnung verletzt und weder die Strafe noch ein etwa sie ersetzendes oder begrenzendes Nachtatverhalten können allein in ihrer Äußerlichkeit maßgeblich sein.69
65 Es sei nochmals betont, dass das Nachtatverhalten hier nicht etwa in einen erweiterten Tatbegriff und eine entsprechend erweiterte Tatschuld einbezogen wird (dazu Streng [Fn. 37], Rn. 527 f.). Das Nachtatverhalten reduziert die Schuld so wenig wie die Strafe dies tut. Es geht vielmehr um die Frage, inwieweit das Nachtatverhalten – wie die Strafe – die Schuld auszugleichen bzw. das Recht wieder herzustellen vermag. 66 Frisch, FS Jareborg, 2002, S. 228 f. 67 Siehe dazu auch Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 294 f. Eingehend hierzu am Beispiel des Rücktritts vom Versuch Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, 1999, S. 27 ff. Weitere Beispiele sind Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung (§ 46a StGB). 68 Murmann (Fn. 67), S. 29 f. 69 Weshalb die Entscheidung des EGMR zur Sicherungsverwahrung (StV 2010, 181, 185 ff.) ihren Gegenstand in grundsätzlicher Weise verfehlt.
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Freilich bedarf es noch der Konkretisierung, welches Verhalten in welchem Umfang zur Wiederherstellung des Rechts führt. Anhaltspunkte dafür bietet der Rücktritt gleichsam als Prototyp einer gesetzlich normierten Wiederherstellungsleistung: Die Strafbefreiung beim Rücktritt bezieht ihre (freilich in ihrer Radikalität angreifbare)70 Plausibilität daraus, dass die Abstandnahme von der Erfolgsherbeiführung in ganz besonders nachdrücklicher Weise die Rückkehr zum Recht zum Ausdruck zu bringen vermag.71 Jedes der Vollendung nachfolgende Verhalten muss dahinter in seinem Bedeutungsgehalt zurückbleiben (sofern der Vollendungstatbestand nicht in der Sache bloßes Versuchsunrecht normiert).72 Ein der Tatbeendigung nachfolgendes Verhalten kann nicht mehr den Makel beseitigen, dass der Täter sein deliktisches Vorhaben zunächst konsequent und ohne die Bereitschaft zur Umkehr verfolgt hat. Die Wiederherstellungsleistung muss sich auf eine konkret in einer Tat zum Ausdruck gebrachte Unrechtsmaxime (und nicht etwa auf einen generell bösen Willen) beziehen. Denn der Schuldvorwurf hat nicht eine allgemeine Missachtung des Rechts zum Inhalt, sondern ist in einem Tatschuldstrafrecht immer ein konkreter.73 Demgemäß mag allgemeines Wohlverhalten präventiv von Belang sein; es kann aber nicht das verletzte Rechtsverhältnis wieder herstellen – weshalb sich die Kronzeugenregelung (§ 46b StGB) nicht aus diesem Aspekt legitimieren lässt.74 Es liegt auf der Hand, dass Nachtatverhalten im Rahmen des Strafverfahrens aufgrund seiner Distanz zur Tat einen schwächeren Erklärungswert als der Rücktritt entfaltet. Andererseits kann die Botschaft im Strafverfahren besonders anschaulich vermittelt werden. Das Strafverfahren ist gewissermaßen ein Ort, wo institutionalisiert und häufig in Anwesenheit des Verletzten wie auch von Vertretern der Öffentlichkeit der Täter seine Abstandnahme von der Unrechtsmaxime zum Ausdruck bringen kann. Ist damit einerseits die Plattform, die das Verfahren, und hier insbesondere die Hauptverhandlung, bietet, für eine interpersonal wirkmächtige Abstandnahme von der Unrechtsmaxime besonders günstig, so sind doch andererseits mit der Verfahrenssituation auch Bedingungen verbunden, die die Bedeutung des Nachtatverhaltens zu schwächen vermögen. Denn der Täter handelt natürlich auch immer unter 70 Folglich steht die obligatorische Strafaufhebung beim Rücktritt international auch durchaus anderen Modellen gegenüber, bei denen (alternativ) die Möglichkeit bloßer Strafmilderung vorgesehen ist; vgl. etwa im koreanischen Strafrecht § 26 kStGB. 71 Murmann (Fn. 67), S. 30 ff. 72 Weshalb in manchen Fällen der tätigen Reue parallel zu § 24 StGB zwingend Straffreiheit angeordnet ist (z. B. §§ 264 Abs. 5; 264a Abs. 3 StGB). Das gilt freilich nicht für alle Fälle tätiger Reue (z. B. §§ 83a; 129 Abs. 6 StGB), so dass es insgesamt schwer fällt, ein konsistentes Konzept zu erkennen; vgl. SSW-StGB/Kudlich, 2009, § 24 Rn. 8. 73 Dementsprechend ist auch der Tatentschluss beim Versuch (als Bezugspunkt des Rücktrittsverhaltens) nicht generell böser Wille oder zumindest nicht als solcher relevant; s. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 234 f. 74 Zutreffend Frisch, FS Jareborg, 2002, S. 232 f.; Streng (Fn. 37), Rn. 597. Vgl. nun auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Drs. 172/12.
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dem Druck des Verfahrens, so dass die Überzeugungskraft seiner Abstandnahme von der Unrechtsmaxime regelmäßig dem Bedenken ausgesetzt ist, dass er lediglich opportunistisch ein für ihn zweckmäßiges Verhalten an den Tag legt, das mit seiner Einstellung zur Unrechtsmaxime nichts zu tun hat. Sieht man die Wiederherstellungsleistung gerade in dem Bekenntnis der Person zum verletzten Recht, so genügt das pragmatische, lediglich in Erwartung einer Strafmilderung abgelegte Geständnis gerade nicht.75 Vor diesem Hintergrund gibt es keinen Anlass, das Geständnis gleichsam ritualisiert als Strafmilderungsgrund zu akzeptieren. Das ist in der Rechtsprechung schon lange insofern anerkannt, als etwa ein Geständnis bei erdrückender Beweislast allenfalls geringen Einfluss auf die Strafzumessung ausüben kann.76 Noch deutlicher ist dies beim Geständnis eines Überzeugungstäters, der das Verfahren dazu nutzt, sein abweichendes Verständnis von den staatlichen Normen zur Schau zu stellen.77 Solche Begrenzungen der Bedeutung von Nachtatverhalten im Rahmen des Strafverfahrens sind in dem Maße brüchig geworden, wie die Justiz der Verfolgung eigener Interessen Raum gegeben hat.78 Der Wert des Geständnisses besteht aus der Sicht einer Justiz, die verfahrensökonomische Ziele verfolgt, nicht in der Abstandnahme von der Unrechtsmaxime, sondern in der Vereinfachung des Verfahrens aufgrund der Verzichtbarkeit weiterer Beweismittel.79 Damit geraten auch andere Formen des Nachtatverhaltens, die mit einer Abstandnahme nichts zu tun haben, als denkbare günstige Strafzumessungsfaktoren in den Blick.80 Und weil die Justiz nun ein eigenes Interesse daran hat, das diesen Zumessungsfaktoren zugrunde liegende Prozessverhalten möglichst stark zu fördern, war und ist sie bereit, Vereinbarungen zu treffen, in denen der Strafnachlass
75 Und auch der in dubio pro reo-Grundsatz hilft nur von Fall zu Fall weiter, nämlich dort, wo das Gericht wirklich Zweifel hat (für den Regelfall a.A. BGHSt 43, 195, 209; Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. FG aus der Wissenschaft, 2000, S. 295) – gerade bei Absprachen wird aber in vielen Fällen klar sein, dass die Anerkennung des Rechts keine oder allenfalls eine ganz untergeordnete (und dementsprechend auch im Rahmen der Strafzumessung lediglich marginal zu berücksichtigende) Rolle spielt; zutreffend Streng (Fn. 37), Rn. 609. 76 BGH, NStZ 1996, 424, 426; 1998, 181, 184; 1999, 494, 497. Es gibt freilich auch jenseits der „erdrückenden Beweislage“ häufig gute taktische Gründe für einen Beschuldigten, sich auf eine Strafmaßverteidigung zu konzentrieren und in deren Rahmen ein Geständnis abzulegen. Dafür spricht schon das statistisch hohe Verurteilungsrisiko nach einmal erfolgter Anklageerhebung. 77 Dazu Bruns (Fn. 50), S. 557 ff., wobei hier freilich weiter nach der Qualität der Überzeugung zu differenzieren sein kann. 78 Dazu Murmann, Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Abschied von der Wahrheitssuche, 2012, S. 81 ff. 79 Für Bruns (Fn. 50), S. 596, war noch klar, dass das Geständnis, auch wenn es „möglicherweise dem Gericht die Arbeit erleichtert, … angesichts dessen Amtsaufklärungspflicht kein Grund für eine mildere Strafe sein“ kann. 80 Dazu und zum Folgenden Murmann, FS Roxin II, 2011, S. 1391 ff.
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als Gegenleistung für Verfahrenserleichterungen gewährt wird.81 Die mittlerweile gesetzlich verankerte Absprachepraxis lässt sich damit als Bonussystem für Beiträge zur Arbeitserleichterung für die Gerichte verstehen. Das wird besonders plastisch, wenn sich nunmehr auch der Verzicht auf Beweisanträge und Befangenheitsanträge günstig auf die Strafzumessungsentscheidung auswirken können soll. Freilich verbindet sich das Interesse der Justiz an Arbeitserleichterung mit dem überindividuellen und auch im Interesse des Beschuldigten liegenden Interesse an Verfahrensbeschleunigung. Aus naheliegenden Gründen ist es dieser Aspekt, der von den Befürwortern der Absprachen besonders betont wird.82 Aber Beschleunigung kann immer nur im Rahmen eines der Aufklärungsmaxime und dem Schuldgrundsatz verpflichteten Verfahren angestrebt werden, sie darf diese Ziele nicht konterkarieren, wie dies gerade beim Verzicht auf Beweis- und Befangenheitsanträge deutlich hervortritt.83 Vor allem aber ist nicht ersichtlich, weshalb Beiträge des Angeklagten zur Verfahrensbeschleunigung sich günstig auf die Strafzumessung auswirken sollten.84 Dies sehen die Gerichte in der Sache nicht anders, was sich deutlich daran zeigt, dass außerhalb von Absprachen die Zurückhaltung des Angeklagten bzw. seines Verteidigers bei der Stellung von Beweis- und Befangenheitsanträgen mit Blick auf die dadurch erzielte Zeiteinsparung nicht in gleicher Weise durch Strafmilderung honoriert wird.85 Und es sollte selbstverständlich sein, dass sich daran nicht deshalb etwas ändert, weil der Angeklagte seine Optionen gleichsam zu Markte trägt und als Gegenleistung für eine Strafmilderung anbietet. Bindet man die vorstehenden Überlegungen in die allgemeine Frage nach dem Verhältnis von Strafverfahren und Strafzumessung ein, so lässt sich festhalten, dass dem Strafprozess, insbesondere der Hauptverhandlung, bei der Strafzumessung eine besondere Bedeutung zukommt. Während das Verfahren hinsichtlich der Frage, ob verschuldetes Unrecht vorliegt, auf die Rekonstruktion der Vergangenheit mit den Mitteln des Strafverfahrens abzielt (wobei freilich die Art der Verfahrensgestaltung nicht ohne Einfluss auf das Ergebnis bleibt),86 wird bei der Frage der Strafzumessung das Verfahren selbst auch insofern zum relevanten Faktor, als es die Möglichkeit zur Schaffung neuer Strafzumessungsumstände eröffnet. Diese Dimension des Strafverfahrens ist auf den ersten Blick keine Selbstverständlichkeit, wird aber plausibel und 81
Affirmativ zusammenfassend LK-StGB/Theune, 12. Aufl. 2006, § 46 Rn. 205 f. Die Einsicht, dass zwischen wahren und verkündeten Strafzumessungsgründen zu unterscheiden ist (Bruns (Fn. 1), S. 8), scheint auf die abstrakte Frage nach den sachangemessenen Strafzumessungsgründen übertragbar zu sein. 83 Dazu Murmann, FS Roxin II, 2011, S. 1394 f.; vgl. auch Duttge/Neumann, HRRS 2010, 37. 84 Murmann, FS Roxin II, 2011, S. 1394; Streng (Fn. 37), Rn. 609. 85 Wozu es selbstverständlich verpflichtet wäre, wenn es sich tatsächlich um Strafzumessungsumstände handeln würde; vgl. Frisch (Fn. 1), S. 226. Im Übrigen würden solche Fragen dann auch zum Gegenstand der Amtsaufklärungspflicht. 86 Näher zum Zweck des Strafprozesses Murmann, GA 2004, 65 ff. 82
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sogar unabdingbar, wenn man bestimmte Formen des Nachtatverhaltens als – in begrenztem Umfang – der Strafe äquivalente Möglichkeiten zur Wiederherstellung des Rechts begreift. Dann ist es nämlich geradezu eine Forderung der Verhältnismäßigkeit, dem Täter als Rechtsperson im Verfahren Gelegenheit zu geben, seinen Schuldvorwurf auch in anderer Weise zu tilgen als nur durch die Hinnahme einer Strafe. Freilich hat sich auch gezeigt, dass die Justiz aus eigenen Interessen auf die Ausübung dieser Gestaltungsmacht durch Anreize Einfluss zu nehmen versucht und dabei dazu tendiert, auf eine Wiederherstellungsleistung zu verzichten.
V. Die Relevanz strafprozessualer Umstände und Vorgänge für den Präventionsbedarf Die Prävention ist, wie schon gezeigt (II.), nach der Spielraumtheorie im Rahmen der schuldangemessenen Strafe zu berücksichtigen. Dabei ist Basis der Strafzumessung die schuldangemessene Strafe zum Entscheidungszeitpunkt, weshalb ein reduzierter Wiederherstellungsbedarf (oben IV.) sich bereits auf den auszufüllenden Rahmen auswirkt. Leistet der Täter einen Beitrag zur Wiederherstellung des Rechts, so wird dieses Nachtatverhalten regelmäßig auch spezialpräventiv von Bedeutung sein, weil die Anerkennung der Norm die Annahme begründen wird, dass der Täter künftig Straftaten dieser Art nicht mehr begehen wird.87 Daraus folgt dann auch, dass das lediglich taktisch abgelegte Geständnis eine solche Erwartung gerade nicht rechtfertigt.88 Entsprechend müsste die Beurteilung der generalpräventiven Relevanz ausfallen: Das bloße „Lippenbekenntnis“ wird auch die anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft schwerlich überzeugen können. – Aber damit ist, wie Frisch überzeugend gezeigt hat, lediglich ein sozialpsychologischer Reflex der fehlenden Wiederherstellung des Rechts angesprochen (oben II.). Wird der Wiederherstellungsbedarf durch Vorgänge, auf die der Täter keinen Einfluss hat, reduziert, so ist dieser Sachverhalt unter spezialpräventiven Gesichtspunkten wenig aussagekräftig. Denn da der Täter die Belastungen durch ein Strafverfahren nicht auch selbst als Sanktion für sein Fehlverhalten annehmen muss,89 ist es nicht zwingend, dass hiervon irgendein Einfluss auf sein künftiges Verhalten ausgeht. Freilich mag es sein, dass sich über die lange Verfahrensdauer soziale Verhältnisse stabilisieren oder der Täter zumindest Straffreiheit über diesen Zeitraum und damit eine
87 Siehe dazu auch Dölling, in diesem Band. Eingehend zu Individualprävention und Strafbemessung Frisch, FS Kaiser, 1998, S. 765 ff. 88 BeckOK-StGB/Eschelbach, StPO, § 257c Rn. 21; Murmann, FS Roxin II, 2011, S. 1392; Streng (Fn. 37), Rn. 609. 89 Was auch für die Strafe zutrifft, weshalb die Sühnetheorie zu Recht als überholt gilt; vgl. Murmann (Fn. 16), § 8 Rn. 27.
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gewisse Bewährung demonstriert.90 Aber das sind lediglich Umstände, die mit der langen Verfahrensdauer eintreten können, aber nicht aus dieser selbst folgen.
VI. Faktische Einflüsse Neben der rechtlich begründeten Relevanz des Strafverfahrens auf die Strafzumessungsentscheidung ist der tatsächliche Einfluss des Verfahrens auf diese Entscheidung von erheblicher Bedeutung. Die Gründe dafür sind vielfältig, hängen aber im Wesentlichen mit den Schwierigkeiten zusammen, die die Strafzumessungsentscheidung in rechtlicher Hinsicht bietet. Einige Aspekte sollen zumindest noch kurz angesprochen werden: Vor allem führen die beträchtlichen Unsicherheiten, die sowohl die Bewertung der Strafzumessungsumstände als auch deren Umwertung in Strafarten und Strafhöhen kennzeichnen, dazu, dass die zur Entscheidung berufenen Richter sich zur Selbstvergewisserung an Kriterien orientieren (müssen), die nicht gesetzlich verankert sind. Dazu gehört die Praxis der Gerichte in vergleichbaren Fällen (womit freilich auch das rechtliche Problem der komparativen Strafzumessung angesprochen ist)91 und die Interaktion mit den anderen Verfahrensbeteiligten. Empirische Untersuchungen haben vor allem Korrelationen von Strafzumessungsentscheidung und Antrag der Staatsanwaltschaft gezeigt.92 Es liegt auf der Hand, dass ein Richter für die Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte umso offener sein wird, je unsicherer er selbst in seinem Urteil ist – womit auch der Erfahrung des jeweiligen Richters Bedeutung zukommt.93 Wenn auch der Verteidigung ein vergleichbarer Einfluss auf die gerichtliche Strafzumessungsentscheidung in empirischen Untersuchungen abgesprochen wird,94 so ist der tatsächliche Einfluss, insbesondere im Abspracheverfahren, doch nicht zu übersehen. Da Absprachen in der Regel nur mit dem verteidigten Beschuldigten stattfinden,95 eröffnen sich Möglichkeiten der Strafmaßreduzierung hier sogar von vornherein nur dem Beschuldigten, der einen Verteidiger hat. Aber auch außerhalb von Absprachen liegt es nicht fern, dass das Gericht versuchen wird, ein auch für den Angeklagten und seinen Verteidiger akzeptables Urteil zu fällen, um Rechtsmittel zu vermeiden und damit in den Genuss abgekürzter Urteilsgründe (§ 267 Abs. 4 90
LK-StGB/Theune (Fn. 81), § 46 Rn. 240. Dazu Frisch, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 28 ff.; Maurer, Komparative Strafzumessung, 2005. 92 Dazu – und auch zu den Schwierigkeiten der Interpretation dieses Befundes – Streng (Fn. 37), Rn. 494 ff.; ders., in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 53 f. 93 Streng (Fn. 37), Rn. 494. 94 Streng (Fn. 37), Rn. 496. 95 Dazu Murmann, ZIS 2009, 535. 91
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StPO) zu gelangen. So loten die Gerichte auch jenseits von Verständigungen nach § 257c StPO häufig die Vorstellungen der Verfahrensbeteiligten aus. Insgesamt führen die eingangs schon betonten Schwierigkeiten, eine an rechtlichen Maßstäben orientierte Strafzumessungsentscheidung zu treffen, offenbar zu einem besonderen Bedarf an Orientierungshilfen, die das Strafverfahren – teils formell, teils informell – eröffnet.
VII. Schluss Die Beschäftigung mit der Strafzumessungsentscheidung eröffnet ein weites Feld, das von grundsätzlichen Fragen nach dem Verständnis von Recht und Strafe über subtile rechtliche Erwägungen bis hin zu stärker rechtssoziologisch geprägten Beobachtungen reicht. Schon der kleine hier behandelte Ausschnitt hat sowohl die Schwierigkeiten der Materie als auch deren praktische Relevanz deutlich gezeigt. Man kann sich nur wünschen, dass Wolfgang Frisch als einer der wenigen ausgewiesenen Kenner des Sanktionenrechts auch weiterhin dieses Gebiet mit seinen scharfsinnigen Überlegungen erhellt.
Über „Fälle“ als Vergleichsfälle und „Umstände“ als Ausgangswerte oder Bezugspunkte zur Ermittlung der Bewertungsrichtung bei der Strafzumessung Zugleich zu dem Satz, dass das Fehlen strafmildernder Umstände nicht strafschärfend und das Fehlen strafschärfender Umstände nicht strafmildernd berücksichtigt werden darf Von Michael Hettinger
I. Zum Werk Wolfgang Frischs Wer sich je mit Fragen der (objektiven) Zurechnung oder solchen aus dem Bereich des Sanktionenrechts, und hier insbesondere mit Problemen der Strafzumessung, der Maßregeln oder der Prognoseentscheidungen, befasst hat, ist immer und mehrfach Überlegungen Wolfgang Frischs begegnet. Auch der am Verfahrensrecht Interessierte stößt unweigerlich auf Arbeiten des Jubilars, zumal wenn er sich mit Schwierigkeiten des Rechtsmittelrechts und der dazugehörigen Rechtsprechung herumzuplagen hat. Aber auch abseits von diesen großen Feldern, zu denen Frisch sich offenkundig besonders und immer wieder hingezogen fühlt, hat er schon, wovon sein Schriftenverzeichnis Zeugnis ablegt, zahlreiche Spuren hinterlassen. Aus der Themenfülle seiner oft sehr umfangreichen Schriften ragen allerdings die drei eingangs genannten Bereiche als Schwerpunkte seines fachlichen Interesses eindeutig heraus1. In einem Buch zu seinen Ehren kommt mithin, zumal angesichts etlicher paralleler Interessen (etwa zur weithin immer noch unterschätzten oder übergangenen Bedeutung des Erfordernisses der Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung2), so manches in Betracht. 1
Wobei seine von Bruns (dem, wie Frisch, in: 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht: eine Würdigung zum 70. Geburtstag von Paul-Günter Pötz [zit.: FS Pötz], 1993, S. 1 – 38, 7 zu Recht schreibt „die Strafrechtswissenschaft im Bereich der Strafzumessung Besonderes verdankt“) thematisch angeregte, bis heute viel zitierte Dissertation „Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung. Eine Untersuchung über die Struktur und Revisibilität des richterlichen Ermessens bei der Strafzumessung“ von 1971 zwei dieser Schwerpunkte vereint, deren Problemstellungen ihn bis heute nicht „loslassen“. 2 Vgl. dazu nur Frischs Opus magnum „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs“, 1988 (Nachdruck 2012 mit Rezension von Hettinger, GA 2012, 528 f. mit Nachw. zu neueren Arbeiten Frischs zum Thema) einerseits, andererseits Hettinger, Die „actio libera in causa“: Strafbarkeit wegen Begehungstat trotz Schuldunfähigkeit? Eine historisch-
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Was also aufgreifen aus der Menge des Möglichen? Nun, man könnte – einmal mehr – auf Goethe hören. „Das Gleiche lässt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht“, sagte der zu Eckermann; dieser Einsicht folgte ja Frisch, als er seinen großen zweiteiligen Aufsatz „Gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven der Strafzumessungsdogmatik“3 publizierte und damit eine intensive Diskussion, insbesondere mit dem seinerzeit intimsten Kenner dieser Materie, Hans-Jürgen Bruns, auslöste, die diesen in seinen (ebenfalls sehr kritischen) Erwiderungen auf die Diagnosen und Therapievorschläge seines Schülers zu bemerkenswerten Klarstellungen und Relativierungen veranlasste.4 Da Frischs Erwartungen und die meinen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Dogmatik des Strafzumessungsrechts einschließlich der Reichweite der Revisibilität bei gleichem Ansatz im Ausgangspunkt5 bisher unterschiedlich hoch waren, der Jubilar insoweit jedoch wesentlich mehr Anlass zu Optimismus hinsichtlich der Weiterentwicklung sah, sei die im Titel angesprochene Thematik und ihr Hintergrund – noch einmal6 – kurz aufgegriffen. Sie wird ihn, wie sich in diesem „Fall“ (vgl. demgegenüber Fn. 39) „mit einiger Sicherheit“ prognostizieren lässt, interessieren, hat sie ihn doch selbst – wie schon betont – mehrfach intensiv beschäftigt.7
II. Zum Thema 1. Eine Zustandsbeschreibung aus dem Jahr 1987 „Wer heute versuchen wollte, für einen ihm minutiös mitgeteilten Strafzumessungssachverhalt auf der Basis der Lehrwerke, Kommentierungen und Judikate auf dem Sektor der Strafzumessung die für diesen Fall adäquate (Schuld-)Strafe dogmatische Untersuchung, 1988, S. 9 f. (Vorwort) und passim; ferner ders., Der sog. dolus generalis: Sonderfall eines „Irrtums über den Kausalverlauf“?, FS Spendel, 1992, S. 237; ders., Handlungsentschluss und -beginn als Grenzkriterien tatbestandsmäßigen Verhaltens beim fahrlässig begangenen sog. reinen Erfolgsdelikt – Zugleich zur sog. fahrlässigen actio libera in causa, FS F.-C. Schroeder, 2006, S. 209. 3 Frisch, ZStW 99 (1987), 349 – 388; 751 – 805. 4 Bruns, JZ 1988, 1053 und insb. ders., Neues Strafzumessungsrecht? „Reflexionen“ über eine geforderte Umgestaltung, 1988. Die 75 S. umfassende Monografie bietet geradezu einen „Anti-Frisch“, was diesen wiederum nicht ruhen ließ (und Goethe bestätigt); s. GA 1989, 338 – 375; ders., FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 1 ff. 5 s. dazu Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (§§ 46 Abs. 3, 50 StGB), 1982, S. 88 – 127 und passim; ders., JZ 1982, 849 – 853; Frisch, FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 1, 5 ff. 6 Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 135 ff.; ders., JZ 1982, 849, 851 f. mit Fn. 27; ders., StV 1987, 147; ders., GA 1993, 1 – 27. 7 Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 784 und 792; sehr eingehend in GA 1989, 338 ff.; FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 1, 24 ff. und Frisch, Maßstäbe der Tatproportionalität und Veränderungen des Sanktionsniveaus, in: Frisch/v. Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität. Normative und empirische Aspekte einer tatproportionalen Strafzumessung. Buchenbach-Symposium 1999, 2003, S. 155 – 184, 174 ff.
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zu bestimmen, täte sich schwer“.8 So ließ Frisch sich 1987 im zweiten Teil seines schon eingangs erwähnten Aufsatzes vernehmen. Drei Seiten später – nach Kritik an den Aussagen der Theorie der Schwereskala im Verhältnis zu den tatsächlich verhängten Strafen und an der fehlenden Konkretisierung des Regelfalls durch dessen Befürworter – schrieb er: „Das vorstehend gezeichnete Bild ist nicht dramatisiert; man hat sich nur daran gewöhnt, mit ihm zu leben (oder: es nicht wahrzunehmen). Ich selbst empfinde es als in hohem Maße besorgniserregend. Dies nicht nur deshalb, weil bei dem gegenwärtigen Zustand der Rechtsunklarheit in Bezug auf die eigentlich entscheidenden Phasen der Strafmaßbestimmung die Gefahr besteht, daß all die wertvollen Überlegungen, die vielen feinsinnigen Differenzierungen und Systematisierungen, die im Strafzumessungsrecht … herausgearbeitet worden sind und mittlerweile zum Teil auch in die Rechtsprechung Eingang gefunden haben, wertlos zu werden drohen, nichts bringen, weil man hinterher in der Höhenfrage so klug ist wie zuvor“.9 – Je nun, das kann ja der Sachstand im Jahr 1987 gewesen sein, so mag mancher heute denken, zwischenzeitlich habe aber das Recht der Strafzumessung einen solchen Aufschwung genommen, auch durch die Revisionsgerichtsbarkeit, dass den zitierten Sätzen schon die Patina einer vergangenen Ära anhafte. Dass dem durchaus nicht so ist, soll anhand eines kleinen Ausschnitts aus dem großen Thema „Strafzumessungsrecht“ gezeigt werden; und zwar anhand eines schon lange schwelenden Streits um die Gültigkeit des, wie Karl Lackner bereits 1989 formulierte, „schon aus Gründen der Logik“ nicht bezweifelbaren Grundsatzes, dass „das bloße Fehlen eines Strafschärfungsgrundes nicht mildernd und das Fehlen eines Milderungsgrundes nicht schärfend bewertet werden darf“ (ganzes Zitat bei Fn. 45). 2. Eine „Klage“ aus dem Jahr 2012 Diesen Streit facht nun Martin Niemöller erneut an. Seinen aktuellen Beitrag „Strafschärfung wegen fehlenden Milderungsgrunds?“10 eröffnet er mit einer Klage: „Der Grundsatz, dass dem Angeklagten das Fehlen eines Strafmilderungsgrunds nicht strafschärfend zur Last gelegt werden darf, war in der Rechtsprechung des BGH lange Zeit anerkannt, bis ihn der Große Senat für Strafsachen 1987 außer Kraft setzte (BGHSt 34, 345)“. Dabei sei doch, so die These des Autors, „die Bestimmung der Bewertungsrichtung zumessungserheblicher Umstände als strafschärfend 8 Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 789; es lohnt durchaus noch heute, die folgenden Sätze ebenfalls zu lesen. Denn diese Bestandsaufnahme ist in vielerlei Hinsicht noch aktuell. Trotz reichlich vorhandener Literatur zum Recht der Strafzumessung (unter der Flagge: „Strafzumessung ist strukturell Rechtsanwendung!“) ist der Fortschritt – auch hier – eine Schnecke; s. dazu auch Hettinger, StV 1987, 147 unter I.; ders., GA 1993, 1 ff. (Vorspann und I 1). 9 Frisch, ZStW 99 (1987), 792 f., wo er auch auf „die unübersehbare Gefahr“ hinweist, die Strafzumessungslehre könne aus den zuvor dargelegten Gründen „zu einer Art Begründungswissenschaft“ erstarren. 10 Niemöller, GA 2012, 337; die spiegelbildliche „Umkehrung“, dass nämlich das Fehlen eines Strafschärfungsgrundes keine Strafmilderung rechtfertigt, verfolgt er nicht weiter, ebd. S. 338 Fn. 3.
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oder strafmildernd11 eine Rechtsfrage …, deren Beantwortung nicht in den tatrichterlichen Beurteilungsspielraum fällt, sondern voller revisionsgerichtlicher Nachprüfung unterliegt. Daraus ergibt sich zugleich die Frage nach dem Maßstab dieser Bestimmung, die im Schrifttum eingehend erörtert, aber in der Rechtsprechung des BGH bislang vernachlässigt worden ist“12. 3. Die Lage vor der Entscheidung BGHSt GrS 34, 345 Im Folgenden soll in erster Linie der „Grundsatz“, anlassgemäß, aber ohnehin „unvermeidbar“, unter näherer Berücksichtigung der Stellungnahmen Frischs, etwas näher betrachtet werden. Die Rechtsgrundlage dieses von Niemöller an den Anfang gestellten „Grundsatzes“ sieht er in § 46 II 1 StGB13: „Bei der Zumessung (der Strafe i.S. des § 46 II 1) wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab“.14 In der Tat unterlag lange keinem Zweifel, dass für die Feststellung des Schuldmaßes einschließlich präventiver Notwendigkeiten (ein Problem für sich) das Gericht die insoweit bedeutsamen Tatsachen zu ermitteln und jeweils ihre schärfende oder mildernde Wirkung festzulegen hatte15. So schrieb etwa Lackner 1985: „Damit ist es – soweit nicht nur eine missverständliche Formulierung vorliegt (NJW 80, 2821 mit Anm. Bruns NStZ 81, 60) – unvereinbar, 11 Diese weit überwiegend verwendete Terminologie wird im Folgenden mit Bedauern zugrunde gelegt; dazu, dass sie – zumindest – missverständlich ist, Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 23 ff. „Bene docet, qui distinguit“, oder deutlicher „gut entscheidet, wer gut unterscheidet“, spricht m. E. für eine Änderung der Begrifflichkeit hin zu der im StGB (abweichend von §§ 263 II, 267 II StPO) überwiegend verwendeten, jedenfalls aber für eine Vereinheitlichung; s. auch Fn. 87 sowie – andererseits – Beling, zit. bei Bruns, Strafzumessungsrecht. Gesamtdarstellung, 2. Aufl., 1974, S. 37 f. 12 Niemöller, GA 2012, 337; Strate, NStZ 2010, 362 – 366, 363 hält den „Grundsatz“ hingegen für eine modische Abschweifung, eine Abirrung. 13 Paragraphen ohne nähere Bezeichnung sind im Folgenden solche des StGB. Hervorhebungen in Zitaten sind solche des jeweiligen Urhebers. 14 Niemöller, GA 2012, 337, 343 legt seinen weiteren Darlegungen dann das „von Bruns entwickelte 5-Phasen-Modell“ (Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 6, 15, 23 ff. und passim) zugrunde, nach dem zunächst die Ausrichtung an den gesetzlichen Strafzwecken vorzunehmen, sodann die Ermittlung der relevanten Strafzumessungstatsachen zu ermitteln und danach als dritte Phase die Bewertungsrichtung (strafschärfend/strafmildernd) zu bestimmen ist. Da eine notwendige Verknüpfung des Modells mit der hier diskutierten Problematik nicht besteht, bedarf das Modell keiner näheren Darstellung; krit. zu ihm etwa Frisch, GA 1989, 338, 374: „… nicht haltbar“; ders., FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 1, 24 ff.; ders., Tatproportionalität (Fn. 7), S. 168 ff., 173 f.; krit. auch hinsichtlich der Praxisrelevanz NKStGB/Streng, 3. Aufl., 2010, § 46 Rn. 123 f.; ders., Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen, 3. Aufl. 2011, Rn. 650 ff.; ferner Hettinger, GA 1993, 1, 2 f.; SSW-StGB/Eschelbach, StGB, 2009, § 46 Rn. 175. 15 Nach dem Fünf-Phasen-Modell (s. Fn. 14) als dritte Phase für die abschließende Abwägung und Umwertung in ein bestimmtes Strafmaß. Zu den „Aufgaben eines Sanktionensystems“ Wolters, ZStW 114 (2002), 63, 65 ff.; zu den „ganz erheblichen Schwächen“ der sog. Spielraumtheorie s. die als Alternative konzipierte Arbeit Tatjana Hörnles, Tatproportionale Strafzumessung, 1999 (Zitat S. 17).
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das bloße Fehlen eines Strafschärfungsgrundes mildernd und das Fehlen eines Milderungsgrundes schärfend zu bewerten (JR 1980, 335 mit Anm. Bruns; NStZ 81, 343; auch Theune, StV 85, 205)“.16 Das schien außer Frage zu stehen. Wie sollte es auch rechtlich möglich sein, allein aus der Tatsache, dass beispielsweise der Täter nicht in einem Affekt i.S. des § 213 Alt. 1 gehandelt hatte, einen Strafschärfungsgrund im Rahmen einer Verurteilung wegen Totschlags gem. § 212 I abzuleiten? Die vermeintliche „Strafschärfung“ ist hier gesetzlich als Totschlag (ohne Affekt) geregelt. Es wäre also evident rechtsfehlerhaft, bei der Strafzumessung aus dem Strafrahmen des § 212 I schärfend berücksichtigen zu wollen, dass die Voraussetzungen des § 213 Alt. 1 nicht gegeben waren. Ebenso falsch wäre – mutatis mutandis – eine Milderung im Rahmen des § 242 I, weil der Täter keine Waffe i.S. des § 244 I Nr. 1a bei sich geführt habe. Das Fehlerhafte solcher Begründung ergibt sich in den Beispielen jeweils „schon“ aus dem gesetzlichen Sinnzusammenhang selbst. Die Erwägungen wären aber in unserem Schuldstrafrecht auch dann unzutreffend, wenn es die Regelungen der §§ 213 Alt. 1, 244 I Nr. 1a neben den §§ 212 I, 242 I nicht gäbe; denn zu bewerten sind die für erwiesen erachteten Tatsachen (§ 267 I StPO), nicht etwas, was sich gerade nicht ereignet hat17. Dass das ebenso für andere „Umstände“ gilt, wird dem Grund nach kaum bestritten18. Ob mit diesem „Grundsatz“ freilich allzu viel gewonnen ist, ist eine andere, noch zu klärende Frage, nämlich die nach seiner Reichweite, den möglichen Bezugspunkten. 4. Ein Protest und eine Erwiderung Die in Lackners „Strafgesetzbuch mit Erläuterungen“ bündig wie immer formulierte Rechtsansicht, von Niemöller wieder in Erinnerung gerufen, rief im Herbst 1985 jedenfalls den Bundesrichter Eberhard Foth auf den Plan. Er meldete „Bedenken“ gegen die Rechtsprechung an, nach der das Fehlen von Milderungsgründen nicht strafschärfend, das Fehlen von Strafschärfungsgründen nicht mildernd wirken dürfe. Er bestritt schon deren Ausgangspunkt, die „unausgesprochene, aber denknotwendige Voraussetzung …, daß am Beginn der Strafzumessung ein ,mittlerer‘ oder ein ,normaler‘ Ausgangswert steht, der – je nach Schärfungs- oder Milderungsgrund – nach oben oder unten korrigiert wird“19. Dieser „Ausgangswert“ trenne „– der NullLinie eines Seismogrammes vergleichbar – beide Gruppen von Zumessungsgründen dergestalt, daß jeder Grund nur in seiner Hälfte wirken kann“20. „Indes“, so kommentierte Foth diese Vorstellung, „gibt es einen solchen Ausgangswert nicht; es gibt nur einen Strafrahmen, der ,alle Schweregrade der jeweils zu beurteilenden Gesetzesver16
In seinem StGB mit Erläuterungen, 16. Aufl., § 46 Anm. 4. Dazu BGH NStZ 81, 60 m. Anm. Bruns; BGHSt GrS 34, 345, 350; Beispiele bei Frisch, GA 1989, 338, 356 ff.; Tatjana Hörnle (Fn. 15), S. 195 ff. (mit Fn. 11), 283 ff., 306 ff., jeweils m. w. N.; s. auch Niemöller, GA 2012, 337, 345 f. mit problematischen Folgerungen. 18 Zu Kritikern der Geltung des Satzes „in seiner allgemeinen Form“ s. den folgenden Text. 19 Foth, JR 1985, 397. 20 Foth, JR 1985, 397. 17
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letzung abdecken‘ soll. Zu Beginn der Zumessung diesem Rahmen einen irgendwie gearteten Durchschnittswert zu entnehmen, ist weder zulässig noch möglich“21. Es sei die Aufgabe des Tatrichters, nach der von der Rechtsprechung nicht ohne Grund verlangten Gesamtbetrachtung – sie entspreche dem Strafrahmen – „die Stelle innerhalb des Strafrahmens zu finden, an der die konkrete Tat gerechterweise anzusiedeln ist“22. Was die Strafe nicht mildere, schärfe sie, und umgekehrt. „Wem ein bestimmter Milderungsgrund nicht zur Seite steht, dessen Strafe fällt strenger aus, als wenn er ihn hätte; es gibt keinen Freiraum, keine neutrale Zone zwischen ,Schärfung‘ und ,Milderung‘“.23 Die Frage nach dem Bezugspunkt für die komparative Strafschärfung und Strafmilderung griff alsbald Eckhard Horn auf und unterzog Foths Standpunkt einer Kritik24. Welche Strafe geschärft oder gemildert werden solle, stehe in keinem Urteil. Der „Ausgangswert“, geradezu denknotwendige Voraussetzung für diese Operation, werde nämlich niemals genannt. Horn hielt Foth entgegen, es sei nicht recht einzusehen, „warum es … grundsätzlich unmöglich sein soll, innerhalb des Strafrahmens für ein bestimmtes Delikt Schweregruppen (,Durchschnittsfall‘, ,Regelfall‘ usw.) zu bilden (und dann auch die Orientierung der konkreten Tat und Strafe an einer solchen Gruppe zuzulassen)“25. Zum einen arbeite die Rechtsprechung „seit einigen Jahren“26 an der Beschreibung der Gruppe minder schwerer und besonders schwerer Fälle, zum anderen sei die Herausbildung von Schweregruppen „der einzige Hoffnungsträger für ein Minimum an Fortschritt in Richtung einer ,wirklichen, rationalen Strafzumessung‘“27. Deshalb müssten „die Bemühungen um die Beschreibung der ,Regel‘- und der ,Durchschnittsfälle‘ verstärkt werden“, wobei man durchaus nicht bei Null beginnen müsse28. – Nach Horn gehört „die Zukunft … dem Regel-
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Foth, JR 1985, 397. Foth, JR 1985, 398. 23 Foth, JR 1985, 398. 24 Treffend der Titel seiner kurzen Erwiderung: Strafschärfung und Strafmilderung – im Verhältnis wozu?, Horn, StV 1986, 168 – 170. 25 Horn, StV 1986, 169. 26 Das tat sie hinsichtlich dieser beiden Rechtsfiguren nicht erst „seit einigen Jahren“; s. Hettinger, FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 77 – 113; ders., FS Maiwald, 2010, S. 293 – 321. 27 Horn, StV 1986, 168, 169 mit Zitat Foth, JR 1985, 397, 399. Hier wechselt Horn zu einer ganz anderen „Baustelle“: Die minder schweren und die besonders schweren Fälle dienen, grob gesagt, der Abgrenzung von den – ihnen gegenüber: – Regelfällen, dem Durchschnitt der erfahrungsgemäß (gewöhnlich) vorkommenden Fälle; dazu näher Hettinger, FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 77, 82; ders., FS Maiwald, 2010, S. 293, 302 f. Es handelt sich bei diesen Rechtsfiguren um Modifikationen des Regelstrafrahmens eines Straftatbestands. Die Begriffe Durchschnittsfall und Regelfall hingegen, um die es Horn an dieser Stelle geht, gliedern die in einem Straftatbestand erfassten Fälle nach ihrem jeweiligen Gewicht, von den leichtesten bis zu den schwersten. Das mag zur Klärung an dieser Stelle genügen. 28 Horn, StV 1986, 168, 169. 22
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fall“29, worunter er den „statistisch häufigsten Regelfall“ versteht, den „erfahrungsgemäß immer wieder vorkommenden Regelfall“, der als „Fall der (deliktsspezifischen) ,Alltagskriminalität‘ … wohl (!) im unteren Drittel des gesetzlichen Strafrahmens anzusiedeln“30 sei. „Dabei stehen wir natürlich erst am Anfang. Viele Fragen sind noch ungeklärt“. Das schrieb Horn 1986; noch 15 Jahre später wiederholte er dieses Fazit31, sah also zwischenzeitlich selbst keinen Fortschritt. Für Lackner bildete diese Stellungnahme Horns den Anlass, in der 17. Aufl. seines Erläuterungswerks (Stand: 2/1987) die Passage um einen Einschub zu ergänzen. Sie lautete jetzt: „Soweit nicht nur eine mißverständliche Formulierung vorliegt …, ist es damit – bezogen auf den erfahrungsgemäß immer wieder vorkommenden Durchschnittsfall (StV 86, 430; zusf Horn StV 86, 168 mwN.; str.) – unvereinbar, das bloße Fehlen eines Strafschärfungsgrundes mildernd und das Fehlen eines Milderungsgrundes schärfend zu bewerten …“.32 5. Der Vorlegungsbeschluss des 1. Strafsenats vom 29. 10. 1986 Der 1. Strafsenat kannte die Argumente Horns, er zitiert dessen Aufsatz in der Begründung seines Vorlegungsbeschlusses, konnte sich jedoch offenkundig von deren Stichhaltigkeit nicht überzeugen. In den wesentlichen Teilen machte er sich mit seinem Beschluss vielmehr die Argumentation des Senatsmitglieds Foth zu Eigen. Er fragte beim Großen Senat des BGH an, „ob strafschärfend (oder zu Ungunsten, zum Nachteil, erschwerend) gewertet werden kann, daß der des Diebstahls schuldige Angeklagte ,nicht in Geldnot‘ war und es bei seinen Verdienstmöglichkeiten ,(absolut) nicht nötig hatte zu stehlen‘“33. Wie der Senat darlegte, reichten die Antworten der 29 Horn, StV 1986, 168, 170; zust. Bruns, JR 1987, 89 – 94, 92; ders., JZ 1988, 1053, 1057; LK-StGB/Gribbohm, 11. Aufl., 1994, § 46 Rn. 62; das hindert Frisch nicht, ein Jahr später vom „nebulose(n) Regel- oder Durchschnittsfall“ zu sprechen, ZStW 99 (1987), 751, 792; er favorisiert „statt einer phänomenologischen eine normative Betrachtung“, deren „normativ entscheidenden Kategorien“ er in „Handlungs-, Erfolgsunrecht, Vermeidemacht usw.“ sieht. Durch ein aus diesen Grundkategorien entwickeltes System werde „die Einheit von Strafzumessungslehre und Verbrechensdogmatik optimal gewährleistet werden“, aaO, S. 795. 30 Horn, StV 1986, 168, 169; er nennt ihn auch „den typisch konditionierten Regelfall“, mit dem der „insgesamt betrachtete konkrete Fall“ zu vergleichen sei. Der Regelfall sei „statistisch oder wenigstens mit praktischer Erfahrung begründbar“; er beschreibe „eine Fallgruppe im allzu weiten gesetzlichen Strafrahmen“; alle Zitate ebd. Am Rand: Soweit Horn sich für „seinen“ Regelfall auf BGHSt 27, 2 beruft (in SK-StGB [1/2001], § 46 Rn. 87), missversteht er die Entscheidung; zu ihr Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 137, 147 ff. 31 In SK-StGB (Fn. 30), § 46 Rn. 87, 88. Festgehalten sei Horns Vorstellung, der Tatrichter habe die „Elemente“ des Regelfalls nach seiner Erfahrung zu bestimmen; das Revisionsgericht könne korrigierend eingreifen und so den Tatrichtern vermitteln, was jeweils als typisch in diese Gruppe gehöre und was nicht. 32 StGB mit Erläuterungen, 17. Aufl. 1987, § 46 Anm. 4, S. 260; Text der Voraufl. oben bei Fn 16. 33 BGH NStZ 87, 119 m. Anm. Bruns, JR 1987, 89 und Hettinger, StV 1987, 147; zusf. Niemöller, GA 2012, 337, 339.
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von ihm befragten anderen Senate von der Anwendung des Satzes vom „Fehlen eines Strafmilderungsgrundes“ über die Verwertung schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse als Strafmilderungsgrund bis zur Strafschärfung nur bei besonderer guter wirtschaftlicher Lage. „Dagegen dürften“, so notierte die Begründung, „normale, ordentliche, auch noch gute wirtschaftliche Verhältnisse nicht straferschwerend wirken; sie bleiben – das ist die Konsequenz dieser Auffassung – zumessungsunerheblich“34. Die zuletzt genannte Behauptung greift der Senat dann auf und an. Bei der Strafzumessung habe das Tatgericht nach § 46 II auch die wirtschaftlichen Verhältnisse in seine Abwägung einzubeziehen. Es habe insoweit einen weiten Beurteilungsspielraum. Das Revisionsgericht könne nur eingreifen, wenn ein Rechtsfehler vorliege. Worin ein solcher bei strafschärfender Verwertung ordentlicher wirtschaftlicher Verhältnisse liegen solle, werde in der bisherigen Rechtsprechung nicht deutlich. Wie schon Foth, so lehnte auch der Senat die Vorstellung des „Normalfalls“35 eines zumessungsrelevanten Umstands ab, an dem Schärfungen und Milderungen zu messen wären. Da die strafschärfende Erwägung des Tatrichters in dem der Vorlage zugrundeliegenden Fall „nicht so sehr aus dem Rahmen des Üblichen fällt, daß sie aus Rechtsgründen nicht mehr hingenommen werden“36 könne, sei ein Rechtsfehler nicht erkennbar. Anders wäre das allenfalls, „wenn es ein allgemein gültiges ,Normaleinkommen‘ oder ebensolche ,normale wirtschaftliche Verhältnisse‘ gäbe, an denen die tatrichterliche Beurteilung zu messen wäre. Es liegt auf der Hand, daß davon nicht gesprochen werden kann“37. Auch der Senat zielt auf eine „Ganzheitsbetrachtung“ (bei Foth: Gesamtbetrachtung) ab, „eine Gesamtschau der Tatumstände im weitesten Sinne sowie der Persönlichkeit des Täters“. Der weiteren Überlegungen des Senats bedarf es für den hier verfolgten Zweck nicht. Erwähnt sei allerdings noch, dass der Senat die Ansicht Foths, was die Strafe nicht mildere, schärfe sie, und umgekehrt, nicht aufgreift, und dies, wenn darin eine Entscheidung zu sehen sein sollte, m. E. zu 34 BGH NStZ 87, 119; sie wären mithin, bezogen auf die Frage nach ihrem Zumessungswert, „neutral“. 35 Foth hatte, wie gesehen, von einem mittleren oder normalen Ausgangswert, einer NullLinie gesprochen, damit freilich das gemeint, was der Senat – etwas unglücklich – Normalfall nennt; denn bezogen auf einen Strafzumessungsumstand kann zwar (weil man, quantitativ gesehen, einen „Nullpunkt“ im Auge hat) von einem Ausgangswert, besser von einer Normalform oder -ausprägung gesprochen werden, schwerlich aber von einem „Fall“; s. auch Wilcken, Die Doppelverwertung von Strafzumessungstatsachen. Probleme komparativer Strafzumessungserwägungen, 2004, S. 65 f., der für „Regelausprägung“ plädiert. Zur Auffassung des Großen Senats s. den Text nach Fn. 43. 36 BGH NStZ 1987, 119. Zur Entwicklung der Revisibilität der Strafzumessung in der Rechtsprechung s. Bruns, Strafzumessungsrecht (Fn. 11), S. 663 ff.; Frisch, FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 1, 1 ff.; zur „Vertretbarkeitsrechtsprechung“ des BGH hinsichtlich der Strafzumessung LR-StPO/Hanack, 25. Aufl., 2003, § 337 Rn. 189 ff.; Wiedner, in: Graf (Hrsg.), StPO, 2010, § 337 Rn. 107, 111; HK-StPO/Temming, 5. Aufl., 2012, § 337 Rn. 28, 31; KK-StPO/ Kuckein, 6. Aufl., 2008, § 337 Rn. 32; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl., 2008, Rn. 462; Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 654 f., 661 ff., 666 f. 37 BGH NStZ 1987, 120; zur Kritik eines von der Voraussetzungs- wie von der Rechtsfolgenseite her bestimmten Regelfalls Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 149 ff.
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Recht. Der Satz stimmt nämlich nur in dem Sinn, dass die Strafe im Verhältnis zu einem im Übrigen gleichliegend gedachten Fall (oder Umstand) ohne den Milderungsgrund höher ausfallen (der Umstand in Abwägung und Umwertung mehr Gewicht haben) müsste; denn sonst käme dem Milderungsgrund keine Wirkung zu. Schärfen meint in diesem Zusammenhang aber etwas anderes als höher ausfallen. „Schärfen“ heißt nämlich gerade die Strafe erhöhen, weil dieser Fall einen Aspekt aufweist (oder der Umstand einer ist), der ihn von dem Vergleichsfall (oder Vergleichsumstand) nach „oben“ so abhebt, dass eine Schärfung der Strafe angebracht / geboten ist. Es ist, von der Skala der Strafquanten her gedacht, die den Strafrahmen ausmachen, ein Unterschied, ob ein Milderungsgrund fehlt oder ob ein Schärfungsgrund vorhanden ist. Nur in ersterem Fall ist nichts veranlasst. Dieser Unterschied wird dadurch verdeckt, dass der Strafrahmen ihn nicht speziell ausdrücken kann. In einem Bild: Ein Weitspringer, der im Wettkampf nicht kürzer springt als für ihn üblich, ist deshalb nicht weiter gesprungen (als für ihn üblich38). 6. Die Entscheidung des Großen Senats v. 10. 04. 1987 Der Große Senat antwortete auf die Anfrage des 1. Senats „vorsichtig“: Ob ein solcher Umstand wie etwa „nicht in Geldnot“ strafschärfend gewertet werden dürfe, könne nur „nach Lage des Einzelfalls beurteilt werden“39. Die Entscheidung entsprach, wie Niemöller selbst feststellt40, weitgehend dem Anliegen des 1. Senats. Das Gericht betonte, der Tatrichter habe sich auf die festgestellten Tatsachen zu beschränken; er dürfe die „Strafe“ (Tat?) nicht an einem hypothetischen Sachverhalt messen, der zu dem zu beurteilenden keinen Bezug habe. Seien die wirtschaftlichen Verhältnisse im zu beurteilenden Fall „zumessungserheblich“, so habe über die Richtung (i.S. des § 46 II 1) der Tatrichter zu entscheiden. Bei dieser Entscheidung über die Bewertungsrichtung bestimmter wirtschaftlicher Verhältnisse könne er aber „nicht von einem (normativen) Normalfall (der nicht zu verwechseln ist mit dem ,Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle‘, vgl. BGHSt 28, 318,
38 s. auch Hettinger, StV 1987, 147, 148; ebenso Frisch, GA 1989, 338, 366: „Der bloße Fortfall dessen, was gemessen an einem bestimmten Vergleichssachverhalt eine Milderung begründet, führt zunächst nur zum Vergleichssachverhalt zurück“; s. auch Günther, JZ 1989, 1025 – 1030, 1028; NK-StGB/Streng (Fn. 14), § 46 Rn. 136; Niemöller, GA 2012, 337, 345. Zur Bedeutung der Strafrahmen näher Hettinger, FS Maiwald, 2010, S. 293, 294 f. m. w. N. in Fn. 15; ders., GA 1995, 399, 408 ff. Krit. zur Theorie der (kontinuierlichen) Schwereskala hinsichtlich ihrer Aussagekraft für die Strafrahmen Freund, GA 1999, 509 – 538. 39 BGHSt GrS 34, 345 m. Anm. Bruns, NStZ 87, 451 und Grasnick, JZ 1988, 157. In StV 1987, 147 hatte ich vermutet, der Große Senat werde die Figur des Regeltatbilds bemühen, was er – m. E. zu Recht, s. Hettinger, JZ 1982, 849, 852 Fn. 27 – nach dem damaligen Stand des Wissens zu dieser Figur nicht getan hat. 40 GA 2012, 337, 340. Der 1. Senat hatte gefragt, ob so gewertet werden „kann“, der Große Senat insoweit auf die Lage des Einzelfalls verwiesen, die Frage also – entgegen Niemöller – durchaus i.S. des 1. Senats entschieden.
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319; Horn StV 1986, 186, 189) ausgehen“41. Die gegenteilige Auffassung Werner Theunes42 beruhe „auf der Prämisse, das Gesetz kenne einen Regelfall und eine ihm angemessene Normalstrafe, von der ausgehend der Richter mit Hilfe von Abstrichen und Zuschlägen die zu verhängende Strafe festzulegen habe“43. Sie führe „im Übrigen zwangsläufig zu einer bis ins einzelne gehenden revisionsrichterlichen Kontrolle der Strafzumessung; was ,normativ‘, also im Gesetz festgelegt ist, ist auch dem Revisionsgericht unmittelbar zugänglich. Dieses stünde vor der Aufgabe, den Normalfall – des einzelnen Zumessungsumstandes und der Straftat insgesamt – zu umschreiben, und würde auf diese Weise einen wesentlichen Teil der Strafzumessung an sich ziehen … Der Annahme eines normativen Normalfalls widerspricht auch die Systematik des deutschen Strafrechts, das dem Tatrichter weite Strafrahmen zur Verfügung stellt …“44. Abschließend meint der Senat, ein (normativer) Normalfall sei „dem Gesetz fremd“. 7. Das Echo Lackner reagierte, wie bei diesem Kommentator nicht anders zu erwarten, auf die von Niemöller erwähnte Entscheidung des Großen Senats schnellstmöglich. An die Stelle des oben bei Fn. 32 zitierten „Soweit“-Satzes trat folgender Text: „Dabei ist der schon aus Gründen der Logik nicht bezweifelbare Grundsatz zu wahren, daß das bloße Fehlen eines Strafschärfungsgrundes nicht mildernd und das Fehlen eines Milderungsgrundes nicht schärfend bewertet werden darf (so die bisher stRspr). Dabei kommt es aber nicht auf mehr oder weniger zufällige positive oder negative Formulierungen der Strafzumessungsgründe, sondern auf deren sachlichen Gehalt an … Ob danach das in einem Urteil beschriebene Fehlen entlastender bzw. belastender Umstände schärfend bzw. mildernd bewertet werden darf, kann nur nach Lage des Einzelfalls beurteilt werden (BGHSt GrS 34, 345 …). Dabei ist es auch 41
BGHSt GrS 34, 345, 350 f.; das Gericht merkt an, dass das auch für andere zumessungserhebliche Umstände und für die Strafzumessung überhaupt gelte; zust. LK-StGB/ Gribbohm (Fn. 29), § 46 Rn. 61; MK-StGB/Miebach, 2. Aufl., 2012, § 46 Rn. 187; bezogen auf die Nichtexistenz eines Normalfalls zust. auch Bruns, NStZ 1987, 451, 452; Frisch, GA 1987, 338, 354; Streng, NStZ 1989, 393, 397. 42 Der Senat zitiert StV 1985, 162, 168; 205, nicht aber 208 ff.; und er zitiert für die Kritik nur Theune, was wiederum Grasnick, JZ 1988, 157, 158 rügt. 43 BGHSt GrS 34, 345, 351. Wie bei Theune (m. E. auch noch bei Frisch; verständlicher Protest desselben in ZStW 99 [1987], 349, 362 Fn. 7), so könnte man auch bei Niemöller den Verdacht haben, sie wandelten auf Pfaden der Theorie der Punktstrafe; zu ihr Frisch, Revisionsrechtliche Probleme (Fn. 1), S. 84 ff., 135 ff., 175 ff. (i.S. einer „ideell eindeutigen Strafe“); Günther, JZ 1989, 1025 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 656 ff.; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (Fn. 15), S. 157 ff. 44 Wie Fn. 43. Nach SSW-StGB/Eschelbach (Fn. 14), § 46 Rn. 176 ist dieser Grund zur Zurückweisung eines normativen Normalfalls mit der Einführung des § 354 I a StPO durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. 08. 2004 entfallen; wie weit die Wirkung dieser systemsprengenden Regelung reicht, wird noch zum Thema werden. Zu dieser neuen Regelung s. auch Frisch, StV 2006, 431 – 442; Sander, StraFo 2010, 365, 369 ff.; ferner etwa HKStPO/Temming (Fn. 36), § 354 Rn. 18 ff.; KK-StPO/Kuckein (Fn. 36), § 354 Rn. 26a ff.
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nicht möglich, vom Maßstab eines gedachten Durchschnittsfalls auszugehen …; abgesehen von den damit verbundenen Schwierigkeiten der Konkretisierung bedarf es einer solchen Konstruktion nicht, wenn die Rechtsprechung für die Ermittlung der sog. ,Einstiegsstelle‘ … an der Orientierung am sog. Regelfall festhält …“.45 Schon zwei Jahre später „widerruft“ Lackner, offenbar aufgrund der Kritiken Frischs und Strengs, seine bisherige Ansicht und verwirft „wegen der damit verbundenen Schwierigkeiten der Konkretisierung“ die Maßstäbe eines gedachten oder empirisch zu bestimmenden Durchschnittsfalls wie jetzt auch den „Regelfall im Sinne des tatsächlich am häufigsten vorkommenden Falles (so Horn StV 86, 168; Bruns, JZ 88, 1053; ebenso auch die Voraufl.; aM Frisch, GA 89, 338, 352)“46. Alsdann nimmt Lackner, bemüht um die von ihm für notwendig gehaltene Bestimmung eines „Bezugspunkts“ zur Konkretisierung der „Einstiegsstelle“ in den Strafrahmen, eben die zwei Ansätze Frischs und Strengs etwas näher in den Blick, die sich seinerzeit in der Auseinandersetzung um die Frage nach einem Ausgangswert oder Bezugspunkt herausgebildet hatten47. Wer die aktuelle Auflage des (seit 1999) Lackner/ Kühl48 zu Rate zieht, um sich über den Sachstand zu informieren, sieht, dass die Debatte zwischenzeitlich zwar nichts grundstürzend Neues, wohl aber einige gediegene Dissertationen49 hervorgebracht hat. Die Diskussion verharrt i.W. auf dem Stand der 1990er Jahre. „Neu“ eingefügt findet sich im Lackner/Kühl50 des Jahres 1999, dass der „Bezugspunkt“ in einem „wie auch immer zu umschreibenden“ Regeltatbild51 zu sehen sein soll, gefolgt von der Bemerkung, die Bemühungen der Strafrechtswissenschaft um dessen nähere Konkretisierung hätten noch nicht zum Konsens geführt. Ein 45 Lackner, StGB mit Erläuterungen, 18. Aufl. (Stand: 2/1989), § 46 Anm. IV, S. 270; s. auch Anm. V 2. Zur Erinnerung: unter dem „sog. Regelfall“ verstand Lackner, was er in der Voraufl. (Fn. 32) geschrieben hatte: den erfahrungsgemäß immer wieder vorkommenden Durchschnittsfall; ebenso LK-StGB/Gribbohm (Fn. 29), § 46 Rn. 62. 46 Lackner, StGB mit Erläuterungen, 19. Aufl. (Stand: 3/1991), § 46 Rn. 32; vgl. auch die Ausführungen § 46 Rn. 48, die deutlich die Unsicherheit zeigen, die ein Kommentator von der Güte Lackners nicht „zu“-schreibt, sondern offenlegt. – Es ist bemerkenswert, dass die „Dramatik“ der Entwicklung sich in anderen Kommentaren nicht so minutiös spiegelte wie in Lackners Werk; vgl. etwa Schönke/Schröder/Stree, StGB, 24. Aufl. 1991, § 46 Rn. 57a. 47 Frisch, GA 1989, 338 – 375 und Streng, NStZ 1989, 393 – 400, wobei Lackner den (Aus-) Weg aus der Malaise in einer Verknüpfung der beiden Ansätze, des an normativen Maßstäben orientierten Ansatzes Frischs und des an den Erfahrungen der Praxis mit Falltypen von vergleichbarer Ausprägung der tatbestandlichen Leitmerkmale orientierten Ansatzes Strengs sieht. 48 Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., 2011, § 46 Rn. 32. 49 Bert Götting, Gesetzliche Strafrahmen und Strafzumessungspraxis. Eine empirische Untersuchung anhand der Strafverfolgungsstatistik für die Jahre 1987 bis 1991, 1997; Ute Ahlers-Grzibek, Der normative Normalfall in der Strafzumessung, 2003; Alexander Wilcken, Die Doppelverwertung (Fn. 35), 2004; Mattias Maurer, Komparative Strafzumessung. Ein Beitrag zur Fortentwicklung des Sanktionenrechts, 2005. 50 Lackner/Kühl, StGB mit Erläuterungen, 23. Aufl., 1999, § 46 Rn. 32; die Kommentierung stammt noch von Lackner, s. S. IV. 51 Dazu auch Lackner/Kühl (Fn. 48), StGB, § 46 Rn. 45.
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Blick in andere aktuelle Kommentare bestätigt das im Lackner/Kühl gezeichnete Bild52. Die Antwort des Großen Senats wurde verschiedentlich als „wenig klärend“ empfunden53. Die Entscheidung habe, so würdigt sie Theune, „nicht zu einer Systematisierung und Durchdringung der Probleme der Strafzumessung beigetragen, insbesondere nicht zu einer einheitlichen und berechenbaren Rechtsprechung“54. Nach Niemöller ist sie „nicht nur unbestimmt, sondern nichtssagend“55. Er hält dem Großen Senat entgegen, das Gesetz gehe davon aus, „dass es Umstände gibt, die für und gegen den Täter sprechen; es postuliert also – von Rechts wegen und zu Recht – die Existenz von Umständen mit gegensätzlicher Bewertungsrichtung. Diese Bewertungsrichtung kann aber nur bestimmt werden, wenn für die Relationsmerkmale schärfend und mildernd ein Bezugspunkt gewonnen ist, der den Maßstab für die Wertung zu liefern vermag“56. Damit kommt „die Figur des Normalfalls ins Spiel“57, bestritten hinsichtlich ihrer „Existenz“, i.Ü. umstritten hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausgestaltung58. 8. Die eigene Meinung als Zwischenruf Alle in den letzten Jahrzehnten gehandelten „Fälle“ leisten nicht, was sie sollen, nämlich die erwünschte Konstellation zu liefern, bestehend aus „den“ Voraussetzungen, die einen Fall beschreiben, der nur aus Umständen besteht, die, für sich genom-
52 MK-StGB/Miebach (Fn. 41), § 46 Rn. 187 ff.; NK-StGB/Streng (Fn. 14), § 46 Rn. 133, 138 ff.; S/S/W-StGB/Eschelbach (Fn. 14), § 46 Rn. 173 ff., jeweils m.w.N.; ferner Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung (Fn. 36), Rn. 405 ff., 620, 624 ff. 53 Bruns, NStZ 1987, 451, 452; Grasnick, JZ 1988, 157, 158; Günther, JZ 1989, 1025, 1028; LK-StGB/Theune, 12. Aufl., 2006, § 46 Rn. 69. Betrachtet man den Stand der Debatte, so ahnt man, warum der BGH bisher auf dieser Position verharrt. „Ein Regelfall und eine ihm angemessene Normalstrafe“, so BGHSt GrS 34, 345, 351, wurde zwar, wie gesehen, immer wieder behauptet, aus dem Gesetz belegt oder sonst brauchbar umschrieben ist beides nicht, bis heute nicht; seinerzeit noch sehr kühn Frisch, GA 1989, 338, 343. 54 LK-StGB/Theune (Fn. 53), § 46 Rn. 69. Diese Kritik ist voraussetzungsvoll: Eine einheitliche und berechenbare Rechtsprechung kann durchaus auf falschen Prämissen beruhen; und ob der Große Senat zur Systematisierung und Durchdringung beigetragen hat, hängt durchaus davon ab, wie man seinen Beschluss deutet; und immerhin hat Theune seine bisherige Bestimmung des Begriffs „normativer Normalfall“ aufgegeben; s. ebd. § 46 Rn. 63; seine Ausführungen in StV 1985, 162, 205 wurden nicht etwa „überschätzt“, denn dort (S. 168, 205) war durchaus die Rede vom (dogmatischen, normativen) „Normalfall“. 55 Niemöller, GA 2012, 337, 341 m.w.N. zu krit. Stimmen und, wie er meint, „abweichenden“ Entscheidungen der Senate. Dem Großen Senat zust. hingegen NK-StGB/Streng (Fn. 14), § 46 Rn. 138 ff. 56 Niemöller, GA 2012, 337, 351 m.w.N.; darauf weisen schon Frisch, GA 1989, 338, 345 f. und Streng, NStZ 1989, 393, 397 hin; vgl. ferner Schall/Schirrmacher, Jura 1992, 514, 517. 57 Niemöller, GA 2012, 337, 351. 58 Niemöller, GA 2012, 337, 351.
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men, keinen über die Tatbestandsverwirklichung als solche hinausreichenden Aussagewert haben sowie einer hierzu „passenden“ Strafdrohung. a) Zum theoretischen Durchschnittsfall Der theoretische (denkbare, denkmäßige, gedankliche) Durchschnittsfall hat eine lange Tradition59. Es soll sich um den „theoretischen“60 Fall im jeweiligen Straftatbestand des Schuldstrafrechts handeln, für den die Strafe der Mitte des zugehörigen Strafrahmens zu entnehmen ist, weil letzterer nicht nur „die Schweregrenzwerte von Unrecht und Schuld“ dieses Straftatbestands festlegt, sondern zugleich eine Schwereskala (oder: Stufenfolge) „von der denkbar leichtesten bis zur schwersten Fallgruppe“. Deshalb müssen nach diesem Modell „die Fälle mittlerer Schwere … auch innerhalb des Strafrahmens in dessen mathematischer Mitte plaziert sein“61. 1976 hat der 3. Strafsenat des BGH sich in einer großes Aufsehen erregenden Entscheidung dieser Figur – zur Abgrenzung von der anderen der „praktisch am häufigsten vorkommenden Fälle“ – einmal bedient62. Inzwischen ist außer Streit, dass dieser „gedankliche Durchschnittsfall“ für einen Straftatbestand nicht formulierbar, die Figur schon deshalb ohne Aussagewert, mithin unbrauchbar ist.63 b) Zum (statistischen) Regelfall Wie der theoretische (denkmäßige) Durchschnittsfall, so ist auch der „Regelfall“ ein bereits alter Wegbegleiter, der ebenfalls, wie schon bei Horn (Text bei Fn. 29) 59
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Nachw. bei Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 139; ders., StV 1987, 147,
60 Dass die Begriffe denkmäßiger, gedanklicher, denkbarer, theoretischer Durchschnittsfall nicht von allen Autoren gleichsinnig verwendet werden, sei hier nur registriert. Den Wirrwarr in der Begrifflichkeit monierten schon etliche „beteiligte“ Autoren, etwa Hettinger, StV 1987, 147, 149; Bruns, JZ 1988, 1053, 1054; Frisch, GA 1989, 338, 347; Streng, NStZ 1989, 398, 399; Christian Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe, 1996, S. 68 ff., 77. 61 So Dreher, Über Strafrahmen, FS Bruns, 1978, S. 141, 149 f.; Bruns, Recht der Strafzumessung (Fn. 14), S. 61. Zur Theorie der Schwereskala oder Stufenfolge s. auch Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 129 ff.; Bernd-Dieter Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl., 2009, S. 207 f. 62 BGHSt 27, 2, 4; diese Entscheidung betrifft die einzige Konstellation, in der die Denkfigur zu einer Sachaussage führt; näher dazu Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 142 ff., 144 f. 63 Zur Kritik dieses „Durchschnittsfalls“ einschließlich der angeblich in der Mitte des Strafrahmens liegenden „Normalstrafe“ Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 142 ff. m.w.N.; ders., GA 1993, 1, 11 f. mit Fn. 58; Streng, NStZ 1989, 393, 395 f.; ders., Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 642 ff., 752; Meier, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 61), S. 208 f.; Frisch, Strafzumessung (Fn. 1), S. 193, 196 ff.; ders., GA 1989, 338, 350; U. Neumann, Zur Bedeutung von Modellen in der Dogmatik des Strafzumessungsrechts („Punktstrafe“, „Spielraumtheorie“, „Normalfall“), FS Spendel, 1992, S. 435 – 449, 445 f.
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gesehen, unter verschiedenen Namen firmiert64. Üblicherweise wird er bestimmt als der „praktisch am häufigsten vorkommende Fall“ (statistischer Regelfall), dessen Tatschwere im mittleren Bereich der erfahrungsgemäß immer wieder vorkommenden Fälle liegen soll. Eduard Dreher hatte, bezogen auf die im Strafrahmen einzuordnende Tatschwere schon früh geltend gemacht, dass „dieser Regelfall schweremäßig unter der Mitte des denkmäßigen Durchschnittsfalles liegen muss“65, eine Ansicht, die der BGH dann „bestätigt“ hat66. Die Zukunft, die Horn 1986 dem Regelfall vorausgesagt hatte, ist 2012 immer noch „Zukunft“. Woran das liegt? Man versuche sich beispielsweise einmal an der Aufgabe, „den“ (angeblich) statistisch häufigsten Fall, etwa des Diebstahls nach § 242 in seinen Voraussetzungen zu beschreiben. Es gibt ihn nicht; dafür gibt es höchst unterschiedliche Erscheinungsformen von Diebstahlstaten67. Sie sind sich alle (nur) darin gleich, dass sie den Tatbestand des § 242 erfüllen. Es wäre also nicht ein erfahrungsgemäß immer wieder vorkommender Durchschnittsfall (i.S. Lackners) etwa des Diebstahls gem. § 242 (ggf. i.V. mit § 243 I 2) begrifflich herauszuformen, sondern eine Vielzahl, deren Typisierung wiederum untereinander, also auf einer höheren Abstraktionsstufe abgestimmt werden müsste. Dabei war von der Frage des typischen (Regel-)Beutewerts beim Diebstahl gar nicht erst die Rede. 9. Die Ansicht Wolfgang Frischs Die von ihm 1987 vorgefundene Lage kommentierte Frisch so: „Eine Lehre von der Bewertungsrichtung, die bestimmte relevante Fakten, wie z. B. den Erfolg als mildernd oder schärfend zu bewerten trachtet, je nachdem ob diese oberhalb oder unterhalb eines bestimmten Regel- oder Normalwertes (dieses Faktors) liegen, ist zu nichts weiter geeignet, als die Strafzumessungsdogmatik einem zusätzlichen Verwirrspiel auszusetzen. Denn angesichts der völligen Vagheit, die heute schon den ,Regelfall‘ oder diverse andere Konstrukte kennzeichnet, ist nicht zu erwarten, daß auf dieser Basis jemand noch eine intersubjektiv jederzeit nachvollziehbare Aussage über die präzise normative Relevanz bestimmter Faktoren machen kann“.68 64
Dazu Fahl, Regeltatbild (Fn. 60), S. 121 ff. m.w.N. Dreher, Über die gerechte Strafe. Eine theoretische Untersuchung für die deutsche strafrechtliche Praxis, 1947, S. 63. 66 BGHSt 27, 2, 4 (zur Kritik der Deutung des Begriffs „Regelfall“ durch den Senat Hettinger, Doppelverwertungsverbot [Fn. 5], S. 148); klarstellende Ergänzungen zu BGHSt 27, 2 dann in BGH NStZ 1984, 359 (m. Anm. Zipf); BGHSt 34, 355, 360; BGH StV 1999, 576 f. 67 Zu Arten des Diebstahls s. etwa Günter Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch, 3. Aufl., 1996, § 67 Rn. 8. Schon der einfache Diebstahl (auch i.V.m. § 243 I 2) ist sehr variantenreich; man denke an den Diebstahl von Fahrrädern, Mopeds, Kraftfahrzeugen, an den Ladendiebstahl und den Taschendiebstahl, den Beischlafdiebstahl und andere Erscheinungsformen mehr sowie an die Regelbeispiele des § 243. Auch §§ 244, 244a bieten eine reichhaltige Kasuistik; zur Problematik schon Frisch, Strafzumessung (Fn. 1), S. 193, 196 ff.; ders., ZStW 99 (1987), 751, 791. 68 Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 795; auf den folgenden Seiten stellt Frisch das Gerüst seines Modells vor, das er dann in GA 1989, 338 ff. ausgearbeitet vorgelegt hat. 65
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„Eine gewisse Bedeutung“ könne „der Lehre von der Bewertungsrichtung nur in einem modifizierten Sinn zukommen“. Es lasse sich ja tatsächlich fragen, von welchem Punkt aus man ein graduierbares Merkmal, wie etwa den Erfolg oder die Modalität der Ausführung, ordnen solle, ob von einem bestimmten Mittelwert her oder von den minderen oder stärksten Ausprägungen usw. Dabei bedürfe „wohl kaum noch näherer Betonung, daß man als Ausgangspunkt hier den Regelfall ,vergessen‘ kann: Was das bei dem ,Erfolg‘ eines bestimmten Delikts, unter dem Aspekt der oder einer bestimmten ,Ausführungsart‘ ist, vermag niemand zu sagen“69. Eine Passage weiter ist zu lesen: „Über das nebulose Modell des Regelfalles, das bislang entweder überhaupt nicht näher oder in einer inadäquaten Weise definiert worden ist, sehe ich hier kein Weiterkommen – um so weniger, als für die aufgrund der strafzumessungsrelevanten Besonderheiten des Falles indizierten Zu- und Abschläge samt möglichen Kompensationen auch so gut wie keine gesetzlich rückgebundenen Vorschläge gemacht werden“.70 Warum er die verschiedenen Arten der diskutierten Regelfälle als mögliche Bezugspunkte des Urteils über die Bewertungsrichtung alle für ungeeignet hält, hat Frisch in der schon anmerkungsweise erwähnten, später erschienenen Publikation näher dargelegt71. An diesen Einwänden und anderen kritischen Überlegungen72 dürfte es liegen, dass der Regelfall immer noch ein Zukunftsprojekt darstellt. Die Tatsacheninstanzen, die hieran zu beteiligen wären, verfügen zudem nur über eine begrenzte Zahl von Fällen, also keine zureichende Basis zur Formulierung von Regelfällen im erhofften Sinn73. 10. Ein „junger“ Konkurrent des Durchschnitts- und des Regelfalls: Das Regeltatbild Der letzte – als wie auch immer zu umschreibende Form eines Falls – diskutierte „Ausgangsfall“, dem eine bestimmte, bisher in ihrem Wert offen gelassene „Normalstrafe“ (entsprechend der Spielraumtheorie ein Strafbereich für derartige „Normalfälle“) korrespondieren müsste, bildet das im Verhältnis zum theoretischen (gedanklichen) Durchschnittsfall und zum Regelfall noch sehr junge Regeltatbild. Soweit ersichtlich, hatte es seinen ersten Auftritt 1978 in einer Revisionsentscheidung zu einer Verurteilung wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs. Das Landgericht hatte zum Nachteil des Angeklagten gewertet, „daß die Fahrt … in gar keiner Weise notwendig war“. Das bewertete der 4. Strafsenat als fehlerhaft: „Das Fahren im Zu69 Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 796; Maurer, Komparative Strafzumessung (Fn. 49), S. 104 ff., 108 ff. 70 Frisch, ZStW 99 (1987), 797. 71 Frisch, GA 1989, 338, 349 ff.; in seiner Dissertation (Fn. 1), S. 191 ff. hatte Frisch für den Bereich der Strafzumessung noch „eine typologische Rechtsfindung“ vorgeschlagen, ein Weg, der m. E. damals schwerlich zu dem von Frisch angestrebten Erfolg hätte führen können; vgl. Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 139 ff. mit Fn. 35. 72 Streng, NStZ 1989, 393 ff. 73 Vgl. nur Theune, StV 1985, 205, 209 f.; hieran dürfte sich nur wenig geändert haben.
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stand der Fahruntüchtigkeit, ohne daß hierfür eine Notwendigkeit besteht, gehört zum Regeltatbild des § 315c StGB. Umstände, die im Regelfall einer Tatbestandsverwirklichung vorliegen, dürfen aber nicht strafschärfend verwertet werden“.74 Der Senat verwies auf eine frühere Entscheidung des 2. Strafsenats75, in der dieser anlässlich der tatrichterlichen Begründung einer Straferschwerung im Fall einer Blutschande wegen des Vertrauensbruchs gegenüber der Ehefrau bemerkt hatte, dass „in Umständen, die im Regelfalle des Tatbestandes vorliegen, kein gesteigertes Unrecht gesehen werden“ kann. Nach dieser Lesart kann mithin in Umständen, die im Regelfall der Tatbestandsverwirklichung (nicht: des Tatbestandes) vorliegen, kein gesteigertes Unrecht gesehen werden; sie gehören, so der BGH, zum „Regeltatbild“ bzw. zum „Regelbild“76. In anderen Entscheidungen ist die Rede von „regelmäßigem“77 oder „normalem Erscheinungsbild“78 und anderen Bildern mehr79. Wer nun das Regeltatbild als Synonym zu dem erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Durchschnitts- oder Regelfall nehmen wollte, hätte die Fragen zu beantworten, die bislang niemand auch nur ernstlich angegangen hat80. Man kann den Begriff des Regeltatbilds aber auch anders deuten. Nämlich so, dass man ihn „nur“ zum Ausgangspunkt für die Frage nimmt, wann ein bei der Strafzumessung grundsätzlich berücksichtigbarer „Umstand“ im Einzelfall keine Strafzumessungsrelevanz hat, obwohl er im Sachverhalt beispielsweise als Tatsache i.S. des § 267 I StPO konkrete Ausprägung eines Tatbestandsmerkmals des jeweiligen Delikts ist81. Dass die „Em74
BGH bei Holtz MDR 1978, 985. BGH bei Dallinger MDR 1971, 362. 76 BGH StV 1982, 70 = JZ 1982, 868 mit abl. Besprechung Hettinger, JZ 1982, 849, 851 f.; s. auch ders., GA 1993, 1, 4; weitere Entscheidungen zum „Regeltatbild“ bei Fahl, ZStW 111 (1999), 156 ff. und bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 706. 77 BGH StV 1986, 430. 78 BGH NStZ 1985, 215; s. auch BGHSt 37, 153, 155, wo der 1. Senat als „gleichbedeutend: ,Normalfall‘, ,Regeltatbild‘, ,regelmäßiges Erscheinungsbild‘“ aufführt. 79 Weitere „Bilder“ listet Fahl, Regeltatbild (Fn. 60), S. 11 auf; s. auch die Darstellung bei Bruns, Recht der Strafzumessung (Fn. 14), S. 133, der die Problematik unzutreffend – wie auch immer wieder die ältere Rechtsprechung (bis BGHSt 37, 153) – mit dem Doppelverwertungsverbot nach § 46 III verknüpft, also die abstrakte Begrifflichkeit der Strafbarkeitsvoraussetzungen mit den Tatsachen i.S. des § 267 I StPO oder den Umständen i.S. des § 46 II StGB und § 267 II und III StPO, die bei Zumessung der Strafe i.S. des § 267 III 1 StPO von Bedeutung sind, vermengt; s. dazu auch Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 94 Fn. 60; ders., GA 1993, 1, 7 f. mit Fn. 37 sowie Fahl, Regeltatbild (Fn. 60), S. 68 ff., 92 ff. 80 Zur Kritik Hettinger, JZ 1982, 849, 852 mit Fn. 27; ders., Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 135 ff.; Frisch, GA 1989, 338, 351, 354 f.; zum „normalen Erscheinungsbild“ als Synonym für das „Regeltatbild“ und den Gründen, diese Figur zu verwerfen Hettinger, GA 1993, 1, 15 ff. mit Fn. 73. 81 Was Bruns, Recht der Strafzumessung (Fn. 14), S. 250 etwas schief „normale Strafzumessungstatsachen“, in JR 1987, 89, 93 und NStZ 1987, 451, 452 auch (schlicht) „strafzumessungsrelevant“ genannt hat. Gemeint ist, dass es sich um Umstände handelt, die für die Strafzumessung ohne wägbaren Wert sind; vgl. auch SSW-StGB/Eschelbach (Fn. 14), § 46 Rn. 173, Fahl, Regeltatbild (Fn. 60), S. 219 ff. sowie Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 707 ff. 75
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pirie“, nach Frisch die „phänomenologische Betrachtungsweise“82, keine Fortschritte gebracht habe, ist im Wesentlichen auch heute noch zutreffend83. Unabhängig davon, ob sich das noch ändern lässt oder wird, war nach Wegen zu suchen, auf denen man ein Stück weiter kommen könnte. Löst man sich von der nicht umsetzbaren Vorstellung, es sei nur „der“ Ausgangsfall zu finden, von dem aus die Strafe dann anhand der Besonderheiten des konkreten Sachverhalts zu ermitteln bliebe – man wird „ihn“ nicht finden und die „zugehörige“ Strafe dementsprechend auch nicht –, so bleiben gleichwohl Fragen zu beantworten. Wie bereits aufgezeigt84, sind 1989 zwei große Aufsätze von Frisch und von Streng erschienen, die auf der Basis vorhandener Erkenntnisse nach Antworten suchten. Das von Frisch entworfene Konzept soll hier – aus Raumgründen nur sehr kursorisch – erinnert werden85. 11. Frischs Konzeption a) Weg von den „Fällen“, hin zu den „Umständen“ Wenn man, wie auch er, mit dem Großen Senat „einen Regelfall und eine ihm angemessene Normalstrafe, von der ausgehend der Richter mit Hilfe von Abstrichen und Zuschlägen die zu verhängende Strafe festzulegen“ hätte86, ablehnt, aber an dem Erfordernis eines Maßstabs, eines Ausgangspunkts grundsätzlich festhält, muss man zur Ermittlung der Bewertungsrichtung alle „Umstände“ in den Blick nehmen, die für die Strafzumessung von Bedeutung sein können, also die „Strafzumessungstatsachen“87. Zu den Tatbestandsmerkmalen als Abstraktionen der Tatsachen i.S. des § 267 I StPO gehören u. a. die sog. steigerungsfähigen und die quantifizierbaren (von mir so genannten „konkretisierungsfähigen“) Tatbestandsmerkmale88. 82
Frisch, GA 1989, 338, 354. Man könnte sie aber u. U. noch brauchen, denn rein normativ, am grünen Tisch, werden sich die Probleme nicht lösen lassen; dazu Näheres bei Streng, NStZ 1993, 393; ders., Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 661 ff., 757 ff., 768 f. Freilich lassen die Absprache-Regelungen kaum noch Hoffnung auf eine abgesicherte klare Systematik. 84 Vgl. den Text nach Fn. 45 und die Nachw. in Fn. 47. 85 Frisch, GA 1989, 338, 345 ff.; bezogen auf die „Tatsachen“ i.S. des § 267 I 1 StPO und die „Umstände“ i.S. des § 267 II und III StPO schon Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), 1. Teil II-VIII S. 52 – 153. 86 BGHSt GrS 34, 345, 351; dem BGH insoweit zust. Frisch, GA 1989, 338, 344. 87 Dieser „eingefahrene“ Begriff ist als Oberbegriff angesichts der Terminologie des § 267 StPO nicht unproblematisch. Dort ist nämlich der Begriff der Tatsachen in Abs. 1 enger als derjenige der Umstände in Abs. 2 und 3; missverständlich ist auch § 46 StGB, der sowohl in Abs. 2 als auch in Abs. 3 den Begriff „Umstände“ verwendet. In Abs. 3 sollte man ihn ersatzlos streichen und stattdessen schreiben: Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes dürfen nicht berücksichtigt werden (die Konkretionen der Tatbestandsmerkmale i.S. des § 46 III sind eben die Tatsachen i.S. des § 267 I StPO). In Abs. 2 deckt der Begriff „Umstände“ das ab, was in § 267 StPO weiter ausdifferenziert ist; s. auch schon Fn. 11. 88 Dazu Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 90, 91 ff. mit Fn. 60 und m.w.N.; auch „Umstände“ i.S. des § 267 II, III StPO können steigerbare oder konkretisierungsfähige 83
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Frisch spricht im Zusammenhang der Entwicklung eines „Bezugspunkts und der grundsätzlichen Möglichkeit einer Bewertung bei normativer Konzeption der Strafzumessungsdogmatik“ von „normativen Kategorien“, „mit Bezug auf die bestimmte reale Umstände bedeutsam sind, weil sie in den Bereich dieser Kategorien ,einschlagen‘, nämlich die Dimension mitbestimmen, in der diese Kategorien im konkreten Fall ausgeprägt sind“89. Für sie lasse sich „eine ,Norm‘, ein bestimmter normativer Ausgangspunkt, durchaus finden“90. Es handle es sich bei diesen Kategorien um keine anderen als die der Straftat selbst zugrundeliegenden, „also z. B. das Handlungsunrecht, das Erfolgsunrecht, die Zurechnung, die Möglichkeit der Vermeidung des Normbruchs usw.“91. „Auf der Basis einer solchen normativen Betrachtung“ lasse sich nun, so Frisch, „ein normativer Ausgangspunkt für die Bewertungsrichtung bestimmter Umstände oder Ausprägungen durchaus erkennen“92. Solche Ausgangspunkte sieht er etwa in § 21, in Notlagen, soweit sie nicht zum Ausschluss der Strafbarkeit oder Bestrafung führen, in Regelungen wie den §§ 35 I 2, 248a und (dem 1998 weggefallenen) § 21793. § 21 ist, um dieses Beispiel zur Erläuterung des Gemeinten herauszugreifen, als Milderungsgrund aufzufassen, weil das StGB grundsätzlich von der „Fähigkeit zur Normbefolgung“ ausgeht, wie § 20 zeigt. Unter der Überschrift „Tatbestandsspezifische Aussagen zum Bezugspunkt der Bewertung“ führt Frisch sodann das Regeltatbild ein. Es verkörpere „jenen engeren Kreis von Umständen, die bei oder im Falle der Verwirklichung eines bestimmten Deliktstatbestandes so sehr typisch und mitgegeben sind, daß sie adäquaterweise als stillschweigende Basisannahmen der Bewertung fungieren und man sie daher sinnvollerweise nicht mehr neben den wirklich individuellen Umständen als den Einzelfall charakterisierend und seine Bewertung erklärend verwenden kann“94. Für die Strafzumessung bedeutsam seien allein die Abweichungen vom Regeltatbild, zu denen Frisch die schon genannten „steigerungsfähigen Deliktsmerkmale“95 zählt. Es folgen eine „Konkretisierung am Beispiel der ,ordentlichen Vermögensver-
sein; Hettinger ebd., S. 111 ff.; Bruns, Das Recht der Strafzumessung (Fn. 14), S. 44, 58, 145 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 700. 89 Frisch, GA 1989, 338, 355. Zu den „Kategorien“ des Straftatsystems und der Strafzumessung Frisch, FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 1, 7 ff. 90 Wie Fn. 89; bezogen auf das Regeltatbild eines Straftatbestands als Strafzumessungsfixpunkt a.A. Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 710. 91 Frisch, GA 1989, 338, 355; zu den „deliktsspezifischen Strafzumessungsumständen“ Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 36), Rn. 850 – 1047. 92 Frisch, GA 1989, 338, 355; zu einer normativ orientierten Auslegung s. Engländer, in: Symposion für Beulke, 2012, S. 85 – 94. 93 Frisch, GA 1989, 338, 356 ff. m.w.N. 94 Frisch, GA 1989, 338, 361; als Beispiele benennt er die mit einer Tat typischerweise verbundenen (nicht schon tatbestandlich vorausgesetzten) Folgen und die einer bestimmten Tat üblicherweise zugrundeliegenden Motivationen. Hier wäre noch beträchtlicher Erläuterungsbedarf; krit. Wilcken, Die Doppelverwertung (Fn. 35), S. 87 f., 90 ff. 95 Frisch, GA 1989, 338, 362 (mit Fn. 94) und 369 ff.
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hältnisse‘“96 und „Grenzen der Qualifizierbarkeit von Umständen als strafmildernd oder strafschärfend im Blick auf die Struktur des Strafzumessungsvorgangs“. Hier greift er die bereits erwähnten „besonderen Ausprägungen“ auf, in denen Umstände bei der Strafzumessung berücksichtigt werden dürfen. Da es für derartige Umstände keine allgemeinen Regelungen zur Erschließung eines Ausgangspunkts gebe, bleibe nur „der in jedem Falle zu erfüllende tatbestandliche Schwellenwert“97. b) Zu „Abwägung“ und „Umwertung“ Im „komparativen System“ bedarf es nun aber mit Blick auf das Ziel der Veranstaltung „Strafzumessung“ – in den Worten des Fünf-Phasen-Modells – noch der Abwägung der i.S. des § 267 III 1 StPO „für die Zumessung der Strafe bestimmenden“ Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, und der Umwertung der so gewonnenen relativen Größen in absolute Zahlen, also der Eingliederung des Falls in die Strafenstaffelung des zuvor bestimmten Strafrahmens98. Auch diesen Aspekten im Rahmen des komplexen Gesamtvorgangs hat Frisch sich gewidmet99, und sich – sehe ich recht – zusehends dem Programm angenähert, das Streng zur Verbesserung der Strafzumessung schon lange propagiert100. Man könnte mutmaßen, die „Phänomenologie“ fordere jetzt ihr Recht. Es zeigt sich hierbei m. E., dass der von Frisch beschrittene Weg wohl doch „kurvenreicher“ geworden ist, als von ihm selbst vermutet, die Orientierungsmittel letztlich nicht so präzise sind, wie lange erhofft, und das Ziel nicht so greifbar (und) nah, wie ehedem geglaubt101. In der Tat braucht man womöglich am Ende – mangels einer vorzugswürdigen Alternative – Ausgangs-
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Frisch, GA 1989, 338, 366 ff. mit einer sehr problematischen Annahme zum Regeltatbild des Diebstahls, S. 368. 97 Frisch, GA 1989, 338, 370 mit näherer Begründung (371 ff.) und insoweit in ausdrücklicher Übereinstimmung mit Foth, JR 1985, 397 f.; s. dazu auch Fahl, Regeltatbild (Fn. 60), S. 87 ff. 98 Dass dieses, noch heute auf das von Spendel, Zur Lehre vom Strafmass, 1954, S. 191 ff.; ders., NJW 1964, 1758 ff., gegründete, von Bruns, Strafzumessungsrecht (Fn. 11), S. 46 ff., 52 ff. ausgebaute Modell zur Darstellung des komplexen Vorgangs der Strafzumessung bedingt geeignet ist, geben auch seine Kritiker, u. a. Frisch, FS Pötz (Fn. 1), S. 1, 24 ff. und Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 650 – 653 zu. Mehr sollte man von dem Modell nicht erwarten, so man sich nicht bei weißen Kaninchen aus dem Zylinder beruhigen will. Ob die Alternativen Besseres bieten können, steht noch dahin. 99 Frisch, FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 1 ff., 30 ff. 100 Zuerst in Strafzumessung und relative Gerechtigkeit. Eine Untersuchung zu rechtlichen, psychologischen und soziologischen Aspekten ungleicher Strafzumessung, 1984, zuletzt in Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 645 – 648 und passim; eingehend schon in NStZ 1989, 393 – 400. 101 Die „umfassende empirische Aufarbeitung“ der Strafzumessungspraxis der Gerichte, von der er sich „weitere wertvolle Anhaltspunkte“ verspricht – wie Fn. 99, S. 38 –, ist ja ein schon seit Jahrzehnten gefordertes Desiderat; vgl. nur Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit (Fn. 100), S. 316 f. Zur Absprache (Vereinbarung, Deal) s. Fn. 83.
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fälle mit den dazugehörigen engeren Strafrahmenbereichen, die als konsentierter102 Vergleichsmaßstab dienen können, und sodann auch Maßstäbe für die „Abweichungen“103 vom jeweiligen „Ausgangsfall“. Indessen ist selbst die Eingrenzung der vagen Strafzumessungsproblematik auf diese verbleibenden Fragen schon ein beachtliches Ergebnis des vorgestellten Modells104. Am Ende seines Aufsatzes tippt Frisch dann ein Problem an, das zeigt, warum auch die Interpretation des Satzes „Strafzumessung ist strukturell Rechtsanwendung“105 unbedingt „Bodenkontakt“ halten sollte: „Mehr Sorge als der Maßstab für die Veranschlagung gewisser Unrechts- und Schuldfaktoren“, so schreibt er, „sollte die Frage bereiten, innerhalb welcher Grenzen etwa als relevant angesehene rein präventiv bedeutsame Faktoren berücksichtigt werden dürfen. Die Frage nach diesen Grenzen tritt in dem Augenblick in voller Schärfe zutage, in dem sich die Schuldstrafe – auf der Basis der Methode des Vergleichens mit Leitfällen – einigermaßen (!) genau bestimmen lässt“106. Letzterer Problematik wendet er sich – folgerichtig – in einem Beitrag zu, den er zum „Buchenbach-Symposium 1999“107 beigesteuert hat. Denn diese Frage muss geklärt sein108, bevor die der Auswirkungen und Grenzen präventionsorientierten Denkens ernstlich angegangen werden kann. Nachdem er zunächst seine Sympathie für das Konzept einer „Tatproportionale(n) Strafzumessung“109 bekundet hat, fahndet Frisch „sachgerecht“ nach diesen Ansatz stützenden Aspekten110. Er findet sie in für die einzelnen Straftatbestände unterschiedlichen Obergrenzen und Untergrenzen der Strafrahmen, differenziert nach Rechtsgut, Ausmaßen der Beeinträchtigung und unterschiedlicher Intensität des Angriffs, sowie in speziellen Tatbeständen oder Strafzumessungsregeln; ferner in der „Schwere- oder Wertungsskala jedes Strafrahmens, die freilich einen nur begrenzt leitfähi-
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Das ist die Linie, die Streng schon lange verfolgt. Dazu der Text bei Fn. 95. – Insoweit bleibe ich sehr skeptisch. 104 Frisch, FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 37 f. Das dort Gesagte klingt weniger optimistisch als ehedem; vielleicht deshalb macht sich der nimmermüde Sanktionsrechtler Wolfgang Frisch hinsichtlich der „Restarbeit“ alsbald wieder Mut; vgl. ebd. S. 38. 105 Bruns, Strafzumessungsrecht (Fn. 36), S. 91 mit Bezugnahme auf Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, 1962, S. 119. 106 Frisch, FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 1, 38. 107 Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 155 – 184. 108 „Einigermaßen genau“, also soweit möglich! 109 Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 155, 156. „Tatproportionale Strafzumessung“ lautet auch der Titel der Dissertation von Tatjana Hörnle (Fn. 15), die das Programm dieses Ansatzes ebenso minutiös auflistet wie die Mängel, die der Spielraumtheorie ihres Erachtens anhaften; zu dieser Arbeit s. die Rezensionen von Heghmanns, GA 2001, 182 – 184 und Andrew von Hirsch, MschrKrim 84 (2001), 497 – 500; einen „Irrweg“ sieht Ellscheid, FS MüllerDietz, 2001, S. 201, 212 in diesem Ansatz. De lege lata ist freilich an § 46 I 2 nicht vorbeizukommen; so auch Streng, FS Müller-Dietz, 2001, S. 875, 892 mit Fn. 44. 110 Unter der Überschrift „Verfügbare grundsätzliche Aussagen über Tatproportionalität von Strafen“, Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 155, 157 ff. 103
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gen Maßstab“ abgebe111, sowie – vor dem Hintergrund seiner früheren Arbeiten eben schon etwas überraschend – in der Strafzumessungstradition der Praxis112, wobei Frisch im Fall von Defiziten im Bereich objektiver Maßstäbe einräumt, dass „in einem letzten Bereich ein gewisser persönlicher Einschlag der Strafzumessung nicht zu vermeiden“ sei113. Einen Schwerpunkt bildet – unter dem Titel: „Unterthematisierte Maßstabsfragen“ – sodann die bislang unbefriedigend bearbeitete Vorfrage zur eigentlichen Strafmaßbestimmung, die Erfassung des relativen Gewichts der Tat. Die auf der Rechtsfolgenseite angesiedelte Frage – sie begegnet schon bei der Diskussion der Figur(en) des erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Durchschnitts- oder Regelfalls114 – ist, soweit ein solcher Fall überhaupt herausbildbar (standardisierbar) erscheint, m. E. nur unter Mitwirkung der Praxis einer „einigermaßen brauchbaren“ Lösung näher zu bringen115. Die Problematik kann hier nicht diskutiert werden116.
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Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 155, 160 f. Wenn Frisch dort etliche Strafrahmen als veraltet bezeichnet, hat er inhaltlich Recht; freilich übergeht er das Hauptziel des 6. StrRG: Der Gesetzgeber hält die aktuellen Strafrahmen (auch die nur „bestätigten“) für zutreffend, traurig genug; dazu Hettinger, FS Küper, 2007, S. 95 – 121 und schon ders., Entwicklungen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Gegenwart. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, 1997, S. 32 ff. Hier werden noch manche dicke Bretter zu bohren sein, um den derzeit unerfreulichen Zustand zu beenden, falls dies überhaupt gelingen kann. 112 Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 155, 162 ff., 165 f., was über das dann Gesagte hinaus freilich weiterer Vertiefung bedürfte, wie hier nur angemerkt sei. 113 Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 155, 166. In diesem „Zugeständnis“ an die Realität des geltenden Strafrechts spiegeln sich „Unwägbarkeiten“, die im derzeitigen „System“ angelegt sind; wie Frisch LK-StGB/Theune (Fn. 53), Vor § 46 Rn. 5. Der „gewisse persönliche Einschlag“ (Frisch) oder die „individuelle Komponente“ (Theune) bedeutet, dass der Richter bei der Strafzumessung zwar in seinem Ermessen rechtlich gebunden ist, aber eben doch einen Entscheidungsspielraum hat, über dessen Weite man streiten mag – und weiterhin noch wird. Je weiter man ihn ansetzt, desto weiter entfernt von der Idee der Punktstrafe (der beide Autoren im Streben nach dem Bestmöglichen nahe stehen) bleiben die Bemühungen um eine Rationalisierung der Strafzumessung – es gibt eben „Leerstellen“ im zur Verfügung stehenden dogmatischen Gebäude. Angemerkt sei, dass Frisch m. E. zu Recht die Alternative bindender (abschließender) Strafzumessungsrichtlinien ablehnt, ebd., S. 166 ff. 114 s. bei Fn. 64; ferner dazu Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 5), S. 147 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 644, 754; er nennt ihn sehr anschaulich den „empirischen Normalfall“. 115 Das war schon immer die Ansicht von Streng; grundlegend seine Habilitationsschrift „Strafzumessung und relative Gerechtigkeit“ (Fn. 100); s. schon oben Fn. 47. 116 Entgegen Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 155, 170, meine ich, dass das Problem bisher nicht nur „ansatzweise“ gesehen ist, ganz im Gegenteil: Man meidet es, weil man keine Lösung weiß – und die wird auch – aus meiner heutigen Sicht – in rundum befriedigender Weise kaum zu finden sein; abschließend hierzu Stellung nehmen könnte man erst dann, wenn die im „Konsens“ der beteiligten Strafjuristen erzielten Ergebnisse mit den zugehörigen Begründungen vorlägen.
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12. Ein „Zwischenfazit“ zu Frischs bisherigen Bemühungen Zieht man ein – sehr vorläufiges – Fazit zu dem Weg, den dieser bedeutende Dogmatiker des Strafzumessungsrechts bislang gegangen ist auf der Suche nach der Brücke vom Bestand der abstrakten Regelungen des geltenden Rechts (mit seinen Lücken) zu einer erstrebten besseren Praxis in der (konkreten) Lebenswirklichkeit, so zeigt sich m. E., dass der frühe(re) Optimismus Frischs, seine Zuversicht, das Ziel in Bälde erreichen zu können, zunehmend verschattet worden ist von der unerfreulichen Erkenntnis, dass die „Fortschritte“, etwa im Bereich der Festlegung der Bewertungsrichtung (Gewichtung) und der Abwägung117, keinen spürbaren Nutzen für die Beantwortung der „entscheidenden“ Frage nach der „Umwertung“ in das Endstrafmaß haben. Deren bisheriger Mehrwert besteht „lediglich“, aber immerhin, darin, sowohl der tatrichterlichen Praxis wie der der Revisionsrechtsprechung Fehlerquellen im Wertungsvorgang aufzuzeigen – soweit diese Praxis einer solchen theoretischen Anleitung überhaupt zu folgen gewillt ist. 13. Wie nun weiter? „Was der Rechtsanwender braucht, sind Maßstäbe, die ihm für den konkreten Fall sagen, wie, mit welchem Gewicht oder mit welchem Stellenwert die jeweiligen Strafzumessungsumstände, insbesondere auch bei ihrem Zusammentreffen mit anderen, prinzipiell und in ihrer konkreten Ausformung, zu berücksichtigen sind. Solange es an klaren Antworten auf diese Fragen mangelt118, fehlen dem Rechtsanwender jene Hilfen, die er dringend benötigt, um klar strukturiert und sachlich fundiert Aussagen über das Gewicht des Falls und die diesem entsprechende sachgerechte Strafe zu machen – bleibt mit anderen Worten alles der intuitiven Improvisation des Rechtsanwenders überlassen“.119 Noch einmal geißelt Frisch die „Gesamtabwägung“ und das Fünf-Phasen-(Struktur-)Modell der h.M., das eben diese „Methode“ einer „einheitlichen Gesamtabwägung“ fördere, obwohl es für sie gesetzliche Maßstäbe nicht gebe, „vor allem solche, an deren Ende nicht nur ein Überwiegen in der einen oder anderen Richtung, sondern auch noch ein komparatives Urteil (leicht, mittelschwer usw.) steht“.120 Für überlegen hält er folgende (praktisch anspruchsvolle) Vorgehens117
Hier zeigt sich exemplarisch das – zumindest derzeit noch – Hilfreiche der „Orientierungsfunktion“ des schon mehrfach erwähnten Fünf-Phasen-Modells, was über seine inhaltliche Leistungsfähigkeit, wie ebenfalls schon mehrfach hervorgehoben, nichts aussagt. – Zum Problem der Umwertung aus Sicht der Revision SK-StPO/Frisch (3/2004), § 337 Rn. 173. 118 Und daran fehlt es bislang augenfällig; s. noch den folgenden Text. 119 Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 155, 170 f. mit dem Hinweis auf Bemühungen einiger Autoren, „gerade in diesen Abschnitt des Strafzumessungsvorgangs mehr Transparenz zu bringen, auch insoweit Maßstäbe zu benennen“; für die neuere Zeit ist dies insbesondere Streng, für die neueste auch Hörnle. Ein anderer Weg, vielleicht weiter zu kommen, ist in der Tat derzeit nicht zu sehen. 120 Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 155, 173 f.
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weise: „Schrittweise Strafmaßbestimmung (und gewichtsmäßige Einordnung) durch direkte Berücksichtigung einzelner Strafzumessungsumstände nach Maßgabe gesetzlicher Vorwertungen als Alternative“121. Man sieht auch hier, Manches ist noch ungeklärt122, und Vieles noch Programm. Frisch hat nun, wie gesehen, Durchschnittsfall und Regelfall sowie „diverse andere Konstrukte“ dezidiert verworfen123, und auch das Regeltatbild nicht als „Fall“ aufgefasst, sondern als Figur zur Abgrenzung verwertbarer von im konkreten Fall „neutralen“ Umständen124. Zwar sieht er eine Reihe von „normativen Ausgangspunkten für die Bewertungsrichtung bestimmter Umstände oder Ausprägungen“125, (an-) erkennt aber auch strafzumessungserhebliche Umstände, die nicht über einen „Ausgangspunkt“, sondern nur über den „in jedem Falle zu erfüllende(n) tatbestandliche(n) Schwellenwert“ sachgerecht erfasst werden könnten126. 14. Kann es nur einen Bezugspunkt geben? Eben diese Annahme, „es gebe für die Bewertung von Strafzumessungstatsachen keinen Bezugspunkt, an dem sich messen ließe, ob sie mildernd oder schärfend wirken“, ist für Niemöller „brisant. Sie sprengt das Strafzumessungsgefüge. Träfe sie zu, dann hätten diese Merkmale keinen sicher bestimmbaren Ort, sie schwebten im Freien, wären nicht zu fixieren und könnten auf der Skala aller denkbaren Ausprägungen 121 Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 174 ff., wo Frisch das genannte Vorgehen etwas näher skizziert. Man könnte die Skizze wiederum so charakterisieren: Auch hier führt der Weg hin zu den dem Gesetz entnehmbaren Wertungen, was Frisch – wiederum! – zu dem „bislang noch“ unbestimmten Ausgangspunkt bringt als Voraussetzung einer „Verarbeitung von Zuund Abschlägen“ gegen und für den Täter sprechender Umstände, ebd., S. 175. Näheres zu diesem Ausgangspunkt noch S. 176 f. mit Fn. 75. 122 So etwa, was Bezugspunkt (Nullpunkt, Ausgangswert) sein soll; vgl. dazu LK-StGB/ Theune (Fn. 53); er setzt seinen normativen Normalfall, den er jetzt nicht mehr als „Fall“ auffasst, sondern auf einzelne Umstände bezieht, § 46 Rn. 64, gleich mit dem Regeltatbild Frischs und dem Regelfall Horns, § 46 Rn. 61, 68 (abl. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung [Fn. 15], S. 378 ff., 381); er hält ferner die gesetzlichen Strafrahmen (hinsichtlich ihrer Qualität „gesetzestreu“) für den bedeutsamsten Strafbemessungsfaktor, Vor § 46 Rn. 7, während Frisch, Tatproportionalität (Fn. 7), S. 161 meint, dass etliche dieser Strafrahmen veraltet seien; krit. auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen (Fn. 14), Rn. 507, 643 f. m.w.N. Das 6. StrRG spricht, da geltendes Recht, für Theune. – Auch die Offenlegung des vom BGH postulierten Spielraums, die Theune, § 46 Rn. 43 f. fordert, wird nicht aller Orten goutiert; s. etwa Dreher, JZ 1967, 41, 45; ders., in: Institut für Konfliktforschung (Hrsg.), Pönometrie. Rationalität oder Irrationalität der Strafzumessung, 1977, S. 37, 40 ff. Zipf, Die Strafmaßrevision, 1969, S. 69 f.; Streng, FS Müller-Dietz, 2001, S. 875, 876; zur Kritik auch Frisch, ZStW 99 (1987), 349, 363 f., 372 f.; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (Fn. 15), S. 27 ff. 123 s. den Text bei und nach Fn. 68. 124 Vgl. den Text bei und nach Fn. 86. 125 GA 1989, 338, 355 und oben Text bei und nach Fn. 86. 126 GA 1989, 338, 370; i.E. zust. LK-StGB/Theune (Fn. 53), § 46 Rn. 66.
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des zumessungserheblichen Umstands an jeder beliebigen Stelle eingesetzt werden“127. Zur Frage, ob es einen Bezugspunkt für die Bestimmung der Bewertungsrichtung des jeweils einzelnen Umstands gebe oder es sich um „ein Phantom“ handele, lautet Niemöllers Antwort, „dass es ihn gibt und ihn geben muss“128. Das ist radikal, die „Logik“ scheint die Geltung des „Grundsatzes“ zwingend zu fordern. Zudem, so Niemöller: „Jeder Verstoß gegen die Logik ist aber in der Strafzumessung wie bei der Beweiswürdigung zugleich ein Rechtsfehler, weil die Rechtsordnung überall die Geltung der logischen Gesetze voraussetzt und als integrierenden Bestandteil in sich schließt“.129 Demnach hielte sich jeder, der glaubt, das „so allgemein“ nicht unterschreiben zu können, im Bereich des Irrtums, der Rechtsfehler, auf. Nun muss bei Wertungsfragen, wie sie hier in Rede stehen, die Logik einen Bezug zum „Gegenstand“ der Wertung und dem Maßstab haben, an dem der „Gegenstand“ gemessen wird. Ob eine Bewertung falsch ist, bestimmt sich aber keineswegs zwingend immer nach dem Maßstab des „Normalfalls“, den Niemöller „ins Spiel“ bringt; eine Figur, die, wie schon gesehen, unter verschiedenen Subnamen mit verschiedenen Inhalten durch die Welt des Sanktionsrechts geistert130. Das gilt es, noch kurz zu erläutern. 15. Was kann Bezugspunkt sein? In seinen „Schlussbemerkungen“131 erwähnt Niemöller mehr beiläufig BGHSt 37, 153, eine Folgeentscheidung des 1. Strafsenats nach seinem im Wesentlichen erfolgreichen Vorlegungsbeschluss (oben II. 5.). In dem der neuen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, einem Vergewaltigungsfall, hatte das LG beim Strafmaß „zu Lasten des Angeklagten die Tatsache des ungeschützten Geschlechtsverkehrs mit Samenerguss“ in die Scheide berücksichtigt und die Tat – nach Verneinung eines minder schweren Falls – mit einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten geahndet. Der Senat vermochte in dieser Strafschärfungsbegründung keinen Rechtsfehler zu erkennen und verwarf die Revision des Angeklagten als unbe-
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Niemöller, GA 2012, 337, 350 f. Niemöller, GA 2012, 337, 351; er fährt fort: „– andernfalls fiele die Unterscheidung zwischen strafschärfenden und strafmildernden Umständen in sich zusammen“. Zur näheren Konkretisierung verweist Niemöller auf die Arbeit von Ahlers-Grzibek, Der normative Normalfall (Fn. 49), S. 128 ff. – M. E. ist die Frage, ob es nur einen Bezugspunkt geben kann oder ob Niemöller hier nur einen Teil der Aspekte sieht, die bei Beantwortung der Frage zu bedenken sind; Näheres im folgenden Text. 129 Niemöller, GA 2012, 337, 346. 130 Vgl. nur den Text bei Fn. 56 m.w.N.; in GA 2012, 337, 352 tauft Niemöller dann den Bezugspunkt der Bewertung treffender „Normalumstand“; die dem noch folgenden bemerkenswerten Klarstellungen können hier nicht (mehr) aufgegriffen werden. 131 Niemöller, GA 2012, 337, 353. 128
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gründet132. Diese Entscheidung des 1. Senats hätte Niemöller im vorliegenden Zusammenhang einer näheren Erörterung wert sein sollen, zeigt sie doch manches von Niemöller Angeführte in einem etwas anderen Licht133. – Der 1. Senat hat erst nach einer Anfrage beim 3. Strafsenat entschieden. Dieser hatte in einem vergleichbaren Fall die Entscheidung der Vorinstanz aufgehoben, weil eine derartige Erwägung im Ergebnis auf einen Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot (§ 46 III) hinauslaufe; denn es gehöre „zum normalen Erscheinungsbild des vom Tatbestand der Vergewaltigung erfassten Unrechts, daß der Täter den gewaltsamen Geschlechtsverkehr mit einer empfängnisfähigen Frau bis zum Samenerguss ausführt“134. Mit Blick auf BGHSt GrS 34, 345 teilte der 3. Senat auf die Anfrage mit, dass er „an seiner früheren Rechtsprechung in der in BGH NStZ 185, 215 wiedergegebenen allgemeinen Form nicht festhält“135. Der 1. Senat stellte daraufhin fest, dass nach § 177 wegen vollendeter Tat nur verurteilt werden könne, wer dessen Tatbestandsmerkmale verwirklicht habe. Mit dem Eindringen des Glieds in den Scheidenvorhof sei der Beischlaf vollendet. Alles, was diese „Tat im Übrigen begleitet oder sonst prägt, ist nicht mehr bloße Tatbestandserfüllung, sondern ,Art der Ausführung‘, die als Strafzumessungsgrund ,namentlich in Betracht kommt‘ (§ 46 Abs. 2 StGB) … Die (grundsätzlich verwertbaren; M.H.) Modalitäten des in § 177 StGB genannten Tatbestandsmerkmals ,Beischlaf‘ sind vielfältig“, u. a. Art des Eindringens, Zeitdauer, ungeschützt, mit Samenerguss136. Wenn der 3. Senat „den Begriff des ,normalen Erscheinungsbildes‘ (gleichbedeutend: ,Normalfall‘, ,Regeltatbild‘, ,regelmäßiges Erscheinungsbild‘), zu dem bei § 177 StGB der Geschlechtsverkehr ,mit einer empfängnisfähigen Frau auch bis zum Samenerguß‘ gehöre“137, verwende, verkenne er die Grenze des § 46 III. In Wahrheit gehe es um die Frage, ob eine Modalität der Tatausführung im konkreten Fall (!) hinreichendes Gewicht und hinreichende Unterscheidungskraft zu anderen Spielarten der Tatbestandsvollendung habe, um bei der Zumessung der Strafe ins Gewicht zu fallen138. Niemöllers kurzer Kommen132 BGHSt 37, 153; zu den Reaktionen in der Literatur s. die Nachw. bei Lackner/Kühl (Fn. 48), StGB, § 46 Rn. 45. 133 Hettinger, GA 1993, 1 ff.; s. auch Fahl, Regeltatbild (Fn. 60), S. 79 ff. 134 BGH NStZ 1985, 215, wiedergegeben auch in BGHSt 37, 153; seit 1985/1990 hat § 177 Änderungen erfahren – zu ihnen MK-StGB/Renzikowski, 2. Aufl., 2012, § 177 Rn. 13 ff. –; das hier aufgeworfene Rechtsproblem ist davon unberührt geblieben. 135 BGHSt 37, 153, 157. 136 BGHSt 37, 153, 154; dem Ergebnis zust. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (Fn. 15) S. 382 Fn. 83. 137 BGHSt 37, 153, 155. 138 Hier geht es mithin um die Abgrenzung der im konkreten Fall bei der Strafzumessung verwertbaren Umstände von den sog. neutralen ohne solche Aussagekraft (Gewicht); hierzu meint der Senat, S. 156, es könne sein, dass ein Umstand, weil häufig vorkommend, über das Maß der Schuld im Einzelfall wenig aussage (eine m. E. erläuterungsbedürftige Erwägung); es sei das aber „weithin Sache des Tatrichters“, mit Hinw. auf BGHSt GrS 34, 345, 349; eingehend zu den einzelnen Facetten der Entscheidung des 1. Senats Hettinger, GA 1993, 1, 7 ff.; Wilcken, Die Doppelverwertung (Fn. 35), S. 36 ff.; zu den Aspekten Umfang und Grenzen des Doppelverwertungsverbots auch Fahl, Regeltatbild (Fn. 60), S. 79 ff., 85 ff., 92. Wenn
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tar: „Diente als Ausgangspunkt dieser Bewertung das Minimum der Tatbestandsverwirklichung, das schon bei einem Verkehr mit Kondom ohne Samenerguss überschritten wäre? Das könnte zwar die Schärfung begründen, aber der Maßstab selbst wäre falsch“139. Dieser „Schluss“ ist nun aber seinerseits problematisch, weil der Autor die Relativität der Verwendung des Begriffs „strafschärfend“ im Zusammenhang mit dem konkreten Fall nicht in den Blick nimmt, weshalb für ihn der „Fehler“ schon unverrückbar fest steht. Der 1. Strafsenat hingegen hatte in der Argumentation des LG einen Rechtsfehler nicht erkennen können; wie auch, wenn man den Vergleichsfall vor Augen hat, von dem her das Tatgericht seinen konkreten Fall als „schlimmer“ beurteilt hatte. Dieser Vergleichsfall ergibt sich hier aus dem Strafmaß von zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe, wobei der Regelstrafrahmen (von einem bis zu fünfzehn Jahren) und nicht der auch damals vorhandene Strafrahmen für minder schwere Fälle (von sechs Monaten bis zu fünf Jahren) zugrundegelegt worden war140. Die Strafe lag also unter dem Mittelwert (von drei Jahren) des für minder schwere Fälle vorgesehenen Strafrahmens und nahe am untersten Ende des Regelstrafrahmens141. Das Tatgericht hat mithin offensichtlich „seinen“ Fall als einen leichten, wenn auch noch nicht minder schweren i.S. des § 177 II a.F. eingeordnet und gemeint, gemessen an Fällen dieses Bereichs sprächen die angeführten Umstände gegen den Angeklagten142. Der „Rechtsfehler“, den Niemöller moniert, ist dem LG mithin gar nicht unterlaufen, denn es ging gerade nicht „allgemein“ von einem normativen Normalfall (einem normativen oder regelmäßigen Erscheinungsbild oder wie auch immer die Benennungen lauten mögen) aus, weshalb es sich an diesem „Maßstab“143 auch nicht orientierte. Der 1. Senat würde wohl anders Theune, LK-StGB (Fn. 53), § 46 Rn. 61 meint, die Entscheidung über die Bewertung eines Umstands als mildernd oder schärfend setze bei Relations- oder Steigerungsbegriffen die Festlegung eines neutralen Bezugspunkts voraus, „an dem sich die Bewertung orientieren kann und der – ähnlich wie ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes – weder strafschärfende noch strafmildernde Wirkung hat“, so ist das höchst missverständlich, weil „kategorial“ unzutreffend: Der Tatbestand ist kein Fall und er beschreibt auch keinen Fall; er ist vielmehr eine Art Schablone für alle Lebenssachverhalte, die konkret seine abstrakten Voraussetzungen erfüllen, deren „Summe“, auf die sich wiederum die Rechtsfolge als nur rahmenmäßig bestimmte Strafe bezieht. 139 Niemöller, GA 2012, 337, 353. 140 Einen minder schweren Fall hatte das LG offenbar rechtsfehlerfrei verneint. 141 Leider teilte der Senat zur Strafzumessungsbegründung des LG nichts Näheres mit, Hettinger, GA 1993, 1. 6. 142 Näher zur Entscheidung Hettinger, GA 1993, 1, 6. Dass der denkbare Einwand einer Konfundierung von Herstellungs- und Überprüfungsebene hier sticht, scheint mir zu verneinen zu sein. 143 Vgl. hierzu nochmals LK-StGB/Theune (Fn. 53), § 46 Rn. 62 ff.; auch von der Warte dieses Modells aus wäre von einem falschen Zungenschlag zu sprechen, einer „– möglicherweise missverständlichen oder sonst unzureichenden –“ (BGHSt GrS 34, 345, 349 f.) Formulierung, allenfalls – aus Theunes Sicht – einem nicht revisiblen Überspringen einer gedanklichen Operation; wie hier Wilcken, Die Doppelverwertung (Fn. 35), S. 69, 77 ff., 84 f.; Fahl, Regeltatbild (Fn. 60), S. 86 ff.
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entschieden haben, hätte das LG mit diesen Erwägungen etwa eine Strafe von zehn Jahren begründet144. Sowohl BGHSt 37, 153 als auch zwei Sätze aus seinen eigenen „Schlussbemerkungen“ hätten Niemöller veranlassen können, seinen „starren“ Standpunkt noch einmal zu überprüfen. Er schreibt dort: „Die Bestätigung des Grundsatzes, dass sich die strafschärfende Berücksichtigung eines fehlenden Milderungsgrundes verbietet, hat freilich für die Strafzumessungspraxis nur begrenzte Bedeutung; denn die Gewichtung der einzelnen Umstände, ihre Abwägung und die Umsetzung des Abwägungsergebnisses in eine bestimmte Strafe bleiben einer Beurteilung ihrer Richtigkeit, insbesondere durch das Revisionsgericht, verschlossen. Diese Vorgänge, die letztlich über das Strafmaß entscheiden, sind die ,Domäne des Tatrichters‘, in die das Revisionsgericht nur bei Rechtsfehlern eingreifen kann“.145
III. Schluss Wie am Ende angedeutet, wirkt es unschön im Vorgang der Strafzumessung durch den Tatrichter, in Teilbereichen zwischenzeitlich über eine geradezu filigrane Dogmatik zu verfügen, aber schließlich doch nicht wenigstens „einigermaßen genau“ sagen zu können, was die Tat denn nun „wert“ ist, ob die im konkreten Fall verhängte Strafe „gerecht“ (also zumindest der Tatschuld angemessen) ist. Denn auf dem Weg zum Strafmaß kann Einiges mangels hinreichender rechtlicher Vorgaben146 nicht „normgeleitet“ ausbuchstabiert („ausgerechnet“) werden147. Das gilt auch aus der Sicht des Revisionsgerichts. Wer volle Überprüfbarkeit der Strafzumessungsentscheidung will, müsste sich mit – der alte Inquisitionsprozess
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Zur Relativität verwendeter Begriffe Hettinger, GA 1993, 1, 5 f. mit Fn. 30; s. auch 18 ff. mit Fn. 96. 145 Niemöller, GA 2012, 337, 353; s. auch Frisch, FS Pötz (Fn. 1), 1993, S. 1, 24 ff.; aus anderer Perspektive Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (Fn. 15), S. 70. Mephistofeles würde an dieser Stelle vermutlich gleichwohl fragen: „Wozu der Lärm?“ 146 Eine die Argumentation erleichternde wesentliche Verengung der Strafrahmen wird es vermutlich nicht geben, behält man im Auge, wie der Gesetzgeber auf die jahrzehntelangen Forderungen reagiert hat, „die exorbitanten Strafrahmen des Besonderen Teils … auf überschaubare Blöcke“ zu reduzieren – so Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 7; s. auch Hettinger, GA 1995, 399 – 429, 405 f.; ders., FS Küper, 2007, S. 95 – 121 –, nämlich mit dem 6. StrRG. Dass der Große Senat den normativen Normalfall verworfen hat, ist angesichts des Gesagten gut nachvollziehbar. Wäre dieser „Fall“ beschreibbar, kennte man ihn inzwischen schon länger. 147 Sehr zuversichtlich Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (Fn. 15), S. 69 ff., 387 ff.; zu ihrem Ansatz eingehend Heghmanns und Andrew von Hirsch (Fn. 109); s. auch die Beiträge in dem Sammelband Frisch/von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität (Fn. 7); ferner SSW-StGB/Eschelbach (Fn. 14), § 46 Rn. 41. Ganz anders wohl F.-C. Schroeder, Beiträge zur Gesetzgebungslehre und zur Strafrechtsdogmatik, hrsg. von Andreas Hoyer, 2001, S. 31 f.
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ließe grüßen – Entscheidungen nach Aktenlage begnügen148 oder aber volle Überprüfbarkeit der Hauptverhandlung durch deren (Video-)Dokumentation fordern149. Angesichts der „unbefriedigenden“ Lage ist es naheliegend, „wenigstens“ größere Gleichmäßigkeit der Strafen anzustreben. Wie gesehen, schlägt Frisch diesen Weg ein. Ob das, was man auf diese Weise gewinnen kann, die angestrebte „gleiche“ Behandlung „gleicher“ Fälle auch im Strafmaß, nicht nur sprachlich zu wenigstens relativer Gerechtigkeit führt150, weiß (noch) niemand. Man mag mit Frisch und Streng hoffen, dass diese Art der Gerechtigkeit erreichbar ist151, dermaleinst. Zu dem letztlich ungebrochenen Optimismus des Jubilars kann ich mich auch deshalb noch nicht verstehen152. Aber wie dem auch sei, gesichert ist m. E. schon heute, dass Wolfgang Frisch sich mit der ihm eigenen großen Zähigkeit und Gründlichkeit um das Recht der Strafzumessung höchst verdient gemacht hat.
148 Wie sie jetzt schon im „Verständigungsverfahren“ in der Tatsacheninstanz vorkommen mögen … 149 Was Verständigungsverfahren möglicherweise „durchsichtiger“ machen würde. 150 Dazu Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit (Fn. 100), S. 1 ff. 151 Es genügt vermutlich schon, an das in Fn. 38 a.E. Gesagte zu erinnern. I.Ü. „gilt“ womöglich in manchen „Kreisen“ und nicht nur für das Gebiet des Strafzumessungsrechts: Theoretiker dürfen (über) Alles schreiben, Praktiker müssen nichts davon lesen, was man meinethalben als „deskriptive“ Erwiderung auf den „Elfenbeinturm“ auffassen mag … Ganz passend dazu Thomas Fischer, Strafrechtswissenschaft und strafrechtliche Rechtsprechung – Fremde seltsame Welten, in: FS Rainer Hamm, 2008, S 63 – 81, 65 f. 152 Thomas Fischer hat einen Teil der Strafzumessungsproblematik, den wir („reinen“) Theoretiker nicht unmittelbar vor Augen haben, wohl aber der Tatrichter in der konkreten Entscheidungssituation, in der FG Paulus, 2009, S. 53, 62 so ausgedrückt: „Schmerz und Leid einer Körperverletzung in Tagessätze einer Geldstrafe umzurechnen, ist ein Vorgang, dessen komplexe soziale Abstraktion, jenseits aller praktischen Evidenz, nur schwer überboten werden kann“.
Zur Bedeutung des Nachtatverhaltens des Täters für die Strafzumessung Von Dieter Dölling Der verehrte Jubilar hat sich in seinem umfassenden Werk eingehend mit Fragen der Strafzumessung befasst1 und damit wesentlich dazu beigetragen, dass das Strafzumessungsrecht in den letzten Jahrzehnten durch die deutsche Strafrechtswissenschaft erheblich weiterentwickelt worden ist. Der vorliegende Beitrag befasst sich daher mit einer Frage des Strafzumessungsrechts. Es wird erörtert, welche Bedeutung dem Verhalten des Täters nach der Tat für die Strafzumessung zukommt. Diese Frage ist praktisch von erheblicher Bedeutung und noch nicht hinreichend geklärt. Das deutsche Strafrecht schreibt an mehreren Stellen die Berücksichtigung des Nachtatverhaltens des Täters bei der Strafzumessung vor.2 In der zentralen Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB ist in Abs. 2 S. 2 geregelt, dass bei der Abwägung der Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, namentlich unter anderem das Verhalten des Täters nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, in Betracht kommt. Nach § 46a StGB kann das Gericht die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern oder, wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen verwirkt ist, von Strafe absehen, wenn der Täter 1. in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich) seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt hat oder 2. in einem Fall, in welchem die Schadenswiedergutmachung von ihm erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat, das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt hat. 1
Vgl. etwa Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung, 1971; ders., Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983; ders., Gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven der Strafzumessungsdogmatik, ZStW 99 (1987), 349 – 388, 751 – 805; ders., Über die „Bewertungsrichtung“ von Strafzumessungstatsachen, GA 1989, 338 – 375; ders., in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 1 – 38; ders., in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV Strafrecht, Strafprozessrecht, 2000, S. 49 – 116; ders., in: Frisch/von Hirsch/H.-J. Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, 2003, S. 1 – 21 und S. 155 – 184; ders., in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen der Strafzumessung in deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 3 – 26 und S. 221 – 240. 2 Siehe auch die Regelung des strafbefreienden Rücktritts vom Versuch in § 24 StGB und die Vorschriften über die tätige Reue, z. B. §§ 306e, 314a und 320 StGB.
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Gemäß § 46b Abs. 1 S. 1 StGB kann das Gericht die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern, wobei an die Stelle ausschließlich angedrohter lebenslanger Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren tritt, wenn der Täter einer Straftat, die mit einer im Mindestmaß erhöhten Freiheitsstrafe oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist, 1. durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine Tat nach § 100a Abs. 2 StPO aufgedeckt werden konnte, oder 2. freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, dass eine Tat nach § 100a Abs. 2 StPO, von deren Planung er weiß, noch verhindert werden kann.3 Anstelle einer Milderung kann das Gericht nach § 46b Abs. 1 S. 4 StGB von Strafe absehen, wenn die Straftat ausschließlich mit zeitiger Freiheitsstrafe bedroht ist und der Täter keine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verwirkt hat. Die Milderung sowie das Absehen von Strafe nach Abs. 1 ist gemäß Abs. 4 ausgeschlossen, wenn der Täter sein Wissen erst offenbart, nachdem die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn beschlossen worden ist. Gemäß § 31 BtMG4 kann das Gericht die Strafe wegen Straftaten nach den §§ 29 ff. BtMG nach § 49 Abs. 1 StGB mildern oder, wenn der Täter keine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verwirkt hat, von Strafe absehen, wenn der Täter 1. durch freiwillige Offenbarung seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Tat über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus aufgedeckt werden konnte, oder 2. freiwillig sein Wissen so rechtzeitige einer Dienststelle offenbart, dass Straftaten nach § 29 Abs. 3, § 29a Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 30a Abs. 1 BtMG, von deren Planung er weiß, noch verhindert werden können. Nach § 56 Abs. 1 S. 2 StGB ist bei der Prüfung einer günstigen Kriminalprognose als Voraussetzung für die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung namentlich unter anderem das Verhalten des Täters nach der Tat zu berücksichtigen. Gemäß § 56 Abs. 2 S. 2 StGB ist bei der Entscheidung über das Vorliegen besonderer Umstände, die gemäß § 56 Abs. 2 S. 1 StGB Voraussetzung für die Aussetzung der Vollstreckung von Freiheitsstrafen von mehr als einem bis zu zwei Jahren sind, namentlich auch das Bemühen des Verurteilten, den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, zu berücksichtigen. Diese Berücksichtigung des Verhaltens des Täters nach der Tat ist erklärungsbedürftig, denn nach § 46 Abs. 1 S. 1 StGB ist die Schuld die Grundlage der Zumessung der Strafe und ein nach der Vollendung oder Beendigung der Tat erfolgendes Verhalten des Täters scheint am Schuldgehalt des Delikts nichts ändern zu können. So hat Arthur Kaufmann ausgeführt: „Nun kann sicher kein Zweifel sein, dass mit der Vollendung der Tat die beiden Größen Unrecht und Schuld für immer feststehen, sich also später nicht mehr ändern können. Den Angeklagten wegen seines Leugnens schwerer oder wegen seines Geständnisses milder zu bestrafen, wäre also sicher 3
Eine Vorgängerregelung bildete das am 31. 12. 1999 ausgelaufene sog. Kronzeugengesetz vom 09. 06. 1989 (BGBl. I, 1989, S. 1059, BGBl. I, 1994, S. 3186, BGBl. I, 1996, S. 58), das eine Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten und später auch bei organisiert begangenen Delikten vorsah. 4 Zum Verhältnis dieser Vorschrift zu § 46b StGB vgl. Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 7. Aufl. 2012, § 31 Rn. 12 f.
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ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz“,5 und hat Horn dargelegt, dass mit der Vollendung der Tat die beiden strafmaßbegründenden Größen Unrecht und Schuld für immer feststehen und sich später nicht mehr ändern können6. Es ist also zu fragen, welches der Grund für die Berücksichtigung des Nachtatverhaltens bei der Strafzumessung ist. Nur wenn dieser erkannt ist, können Einzelfragen hinsichtlich der Strafzumessungsrelevanz von Nachtatverhalten sachgerecht beantwortet werden. Ein Grund für die Berücksichtigung des Verhaltens des Täters nach der Tat bei der Strafzumessung liegt darin, dass das Nachtatverhalten unter spezialpräventiven Gesichtspunkten von Bedeutung ist.7 Die Spezialprävention spielt bei der Strafzumessung im Rahmen der durch den Grundsatz schuldangemessenen Strafens gezogenen Grenzen eine wichtige Rolle. Dies ergibt sich aus § 46 Abs.1 S. 2 StGB, nach dem die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, zu berücksichtigen sind. Sowohl bei der Wahl der Strafart als auch bei der Bestimmung der Strafhöhe hat der Richter die Strafe möglichst so auszugestalten, dass sie den Täter von weiteren Delikten abhält.8 Für die Frage, welcher Reaktion es zur Verhinderung weiterer Delikte des Täters bedarf, ist sein Verhalten nach der Tat von erheblicher Bedeutung. Gesteht der Täter die Tat, erkennt er ihren Unrechtsgehalt an, übernimmt er die Verantwortung für das Delikt und bemüht er sich um Schadenswiedergutmachung, so spricht dies für eine Bereitschaft und Fähigkeit des Täters zur Reintegration in die Gesellschaft, die das Bedürfnis nach einer strafrechtlichen Reaktion geringer erscheinen lässt.9 Günstig zu bewerten ist es auch, wenn nach der Tat eine Stabilisierung der Lebensverhältnisse des Täters eingetreten ist, sodass die Tat den „Endpunkt einer Lebensphase“ bildet,10 oder wenn der Täter erkennt, dass die Straftat mit Defiziten in seiner Person zusammenhängt, und er bereit ist, sich einer Behandlung zu unterziehen, mit der diese Defizite behoben oder zumindest gemildert werden können. Anders verhält es sich dagegen, wenn der Täter das Tatunrecht nicht einsieht, seine Verantwortung für die Tat ablehnt oder nicht einsieht, dass kriminogene Defizite in seiner Person der Behandlung bedürfen. Dies spricht dafür, dass die in der Tat zum Ausdruck gekommene Gefährlichkeit fortbesteht und eine stärkere strafrechtliche Intervention zur Verhinderung weiterer Delikte angezeigt ist. Die Bedeutung des Verhaltens nach der Tat für die Kriminalprognose und damit für eine spezialpräventiv ausgerichtete Rechtsfolgenzumessung ist in der Kriminologie anerkannt. In den aktuellen Kriterienlisten mit den für die Erstellung von Kri5
Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 259. SK-StGB/Horn, (35. Lieferung, 2001) § 46 Rn. 132. 7 Vgl. Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 778 f. Nach Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, 1972, S. 32, ist die Spezialprävention der einzige Aspekt, unter dem das Nachtatverhalten strafzumessungsrelevant ist. 8 Siehe Dölling, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 85, 89, 90. 9 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, S. 91. 10 HK-GS/Rössner/Kempfer, 2. Aufl. 2011, § 46 StGB Rn. 32. 6
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minalprognosen relevanten Umständen spielt das Verhalten nach der Tat eine erhebliche Rolle. So werden in der Kriterienliste der Schweizer Fachkommissionen des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz (sog. Dittmann-Liste) als prognostisch relevante Umstände die Einsicht des Täters in seine Krankheit oder Störung, die Auseinandersetzung mit der Tat, die Therapiebereitschaft und der bisherige Verlauf nach der Tat genannt.11 In der Integrierten Liste der Risikovariablen von Nedopil besteht eine Dimension in der postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung, die unter anderem Krankheitseinsicht und Therapiemotivation, den selbstkritischen Umgang mit bisheriger Delinquenz und die Besserung psychopathologischer Auffälligkeiten umfasst.12 In der Kriterienliste von Rasch/Konrad ist das Verhalten nach der Tat unter der Bezeichnung Zwischenanamnese (Verlauf seit Begehung der Tat) eine der prognoserelevanten Dimensionen.13 Auch Dahle14 und Kröber15 betonen in ihren Darstellungen des Vorgehens bei der kriminalprognostischen Beurteilung die Bedeutung des Verhaltens nach der Tat. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob das Nachtatverhalten des Täters auch für die Beurteilung des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat herangezogen werden kann. Die Rechtsprechung hat dies im Wege einer „Indizkonstruktion“ bejaht. Danach ist das Verhalten des Täters nach der Tat bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, wenn es mit der Tat zusammenhängt und insbesondere Schlüsse auf den Unrechtsgehalt der Tat zulässt oder Einblick in die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat gewährt.16 Das Nachtatverhalten sei zumessungsrelevant, wenn es mit dem Tatgeschehen eine „konkrete Sinneinheit“ bilde.17 Fehlt es an dem Zusammenhang mit der Tat, ist nach der Indizkonstruktion eine Berücksichtigung des Nachtatverhaltens bei der Strafzumessung nicht zulässig.18 Hierdurch soll verhindert werden, dass die Strafzumessung zu einer Gesamtabrechnung mit der Lebensführung des Täters wird.19
11
Siehe den Abdruck der Liste bei Nedopil, Prognosen in der Forensischen Psychiatrie, 2005, S. 293 ff. 12 Nedopil (Fn. 11), S. 126. 13 Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. 2004, S. 394 f., 396. 14 Dahle, in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 3, 2006, S. 1, 55 f. 15 Kröber, in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Fn. 14), S. 69, 112 ff. 16 BGH NJW 1954, 693; BGH bei Dallinger MDR 1970, 14; BGH NJW 1971, 1758; NStZ 1985, 545; StV 1982, 20; 1990, 259, 260; 1995, 131, 132; der Indizkonstruktion zustimmend Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 219 ff. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl. 2008, S. 118. Da aus dem Nachtatverhalten nicht nur Rückschlüsse auf den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat, sondern auch auf die Gefährlichkeit des Täters gezogen werden, wird von einer „doppelspurigen Indizkonstruktion“ gesprochen, siehe Bruns, a.a.O., S. 222, 231. 17 BGH StV 1984, 21; BGH bei Holtz MDR 1984, 274, 275. 18 Vgl. BGH NJW 1954, 1416: Verstoß „gegen die Grundsätze rechtsstaatlichen Strafens“. 19 Siehe Bruns (Fn. 16), S. 219.
Zur Bedeutung des Nachtatverhaltens des Täters für die Strafzumessung
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Die Indizkonstruktion wirft jedoch Probleme auf. Zwar kann es in Einzelfällen möglich sein, aus Verhaltensweisen des Täters nach der Tat auf die Einstellung zurückzuschließen, die der Tat zugrunde lag.20 In vielen Fällen wird jedoch ein sicherer Rückschluss nicht gezogen werden können.21 Der Jubilar hat der Indizkonstruktion nachdrücklich den Realitätsgehalt abgesprochen. Nach ihm ist es „ganz einfach Illusion zu glauben, man könne aus dem – noch dazu problematischen – Eindruck einer Monate oder Jahre nach der Tat stattfindenden Hauptverhandlung oder aus gewissen sonstigen Ereignissen (z. B. Wiedergutmachung, irreführenden Einlassungen usw.) auf die Gesinnung des Täters schließen, welche die Tat prägt (und damit auch für die Tatschuld maßgebend ist)“,22 entbehrt „das empirische Fundament der sogenannten Indizkonstruktion … jeder Absicherung (bzw. auch nur Plausibilität)“23 und sind die „(oft gar nicht explizit formulierten) Regeln, nach denen solche Rückschlüsse erfolgen, … empirisch völlig unabgesichert“24. Außerdem führt die Indizkonstruktion zu einem weiteren, durch den Jubilar zutreffend herausgearbeiteten Problem: Es kann feststehen, dass die Einstellung des Täters zur Tat zurzeit der Tatbegehung nicht günstig war, nach der Tat aber eine Veränderung zum Besseren eingetreten ist. „Soll hier tatsächlich“ – so fragt der Jubilar mit Recht – „ein im Geständnis, der Reue, der Wiedergutmachung usw. sichtbarer Wandel nicht berücksichtigt werden dürfen (bzw. allenfalls im Rahmen der spezialpräventiven Strafe bedeutsam sein)“?25 Auch in der neueren Rechtsprechung finden sich – worauf der Jubilar hingewiesen hat26 – Wendungen, die auf eine gewissen Skepsis gegenüber der Indizkonstruktion hindeuten. So erscheint es nach BGHSt 43, 195, 209 „fraglich, ob es überhaupt möglich ist, aus dem Prozessverhalten des Angeklagten für ihn nachteilige sichere Schlüsse auf seine Einstellung zur Tat zu ziehen“. Es könnte versucht werden, eine Lösung der Problematik durch Erweiterung des für die Strafzumessung relevanten Tatbegriffs über den Zeitpunkt der Vollendung bzw. Beendigung der Straftat hinaus zu finden.27 Für diese Lösung könnte z. B. angeführt werden, dass der für die Strafzumessung relevante Umfang des Erfolgsunwerts einer Straftat durch die Rückgängigmachung der Tatfolgen durch den Täter und damit durch ein Verhalten nach der Vollendung der Straftat beeinflusst werden
20
Vgl. Dölling, FS Schreiber, 2003, S. 55, 59; Kunz, in: Frisch (Fn. 8), S. 135, 138, 143. Siehe Hertz, Das Verhalten des Täters nach der Tat, 1973, S. 79. 22 Frisch, ZStW 99 (1987), 780. 23 Frisch, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 1, 16. 24 Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV Strafrecht, Strafprozessrecht, 2000, S. 269, 293. Gegen die Indizkonstruktion auch Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 56 f. 25 Frisch (Fn. 24), S. 293. 26 Frisch (Fn. 24), S. 293. 27 Siehe Lang-Hinrichsen, FS Engisch, 1969, S. 353, 358 ff.; LK-StGB/Theune, StGB, 12. Aufl. 2006, § 46 Rn. 6, 197; Streng, ZStW 101 (1989), 273, 326 ff. 21
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kann.28 Es erscheint jedoch problematisch, etwa ein Geständnis als Bestandteil der Tat anzusehen und Umstände, die in den Strafzumessungsvorschriften der §§ 46 Abs. 2 S. 2 und 56 Abs. 1 S. 2 StGB als Verhalten nach der Tat bezeichnet werden, dogmatisch unter den Tatbegriff einzuordnen.29 Einer solchen Einordnung bedarf es auch nicht, weil mit dem Jubilar außerhalb von Unrecht und Schuld liegende strafzumessungsrelevante Umstände anerkannt werden können.30 Ist eine Straftat begangen worden, sollen nach der Rechtsordnung zivil- und strafrechtliche Rechtsfolgen eintreten, durch die der durch die Tat verursachte Schaden wiedergutgemacht, die schuldhaft begangene Unrechtstat ausgeglichen, die Verbindlichkeit der verletzten Norm bestätigt und der Täter und andere Personen von weiteren Straftaten abgehalten werden.31 Dies setzt voraus, dass die Begehung der Straftat festgestellt und der Täter ermittelt wird. Trägt der Täter zur Verwirklichung dieser Rechtsfolgen und damit zur Wiederherstellung des Rechts bei, hat er eine Strafmilderung verdient. Die Strafmilderung hat umso höher auszufallen, je größer der Beitrag des Täters zur Herstellung des von der Rechtsordnung gewollten Zustandes ist und umso mehr sein Verhalten durch Freiwilligkeit gekennzeichnet ist. Die strafrechtliche Berücksichtigung von Nachtatverhalten entspricht einem humanen Strafrecht. Der Täter kann die begangene Straftat nicht ungeschehen machen. Ihm sollte aber die Chance eingeräumt werden, durch Beiträge zur Wiederherstellung des Rechts die Strafzumessung zu seinen Gunsten zu beeinflussen und damit seine Zukunft mitzugestalten. Ein Geständnis des Täters, eine Entschuldigung und eine Schadenswiedergutmachung sind daher grundsätzlich strafmildernd zu berücksichtigen. Ein Geständnis ist „ein erster Schritt des Täters zur Wiederherstellung des Rechts“32 und kann dem Täter auch als „Beitrag zur Sachaufklärung und Verfahrensabkürzung zugute gehalten werden“33. Deshalb darf auch ein Geständnis, das im Rahmen einer Absprache aus verfahrenstechnischen Gründen abgegeben wird, strafmildernd berücksichtigt werden.34 Beruht das Geständnis dagegen auf „erdrückenden Beweisen“, wird es
28
Vgl. Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, AT, Teilbd. 2, 7. Aufl. 1989, S. 574 f., 576; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2009, S. 189. 29 Gegen die Erweiterung des Tatbegriffs Frisch, ZStW 99 (1987), 778 und (Fn. 23), S. 16. 30 Siehe Frisch, ZStW 99 (1987), 780 f.; ders. (Fn. 23), S. 17 ff.; ders. (Fn. 24), S. 294 ff. 31 Vgl. Lampe, Strafphilosophie, 1999, S. 19, 48 ff., 130 ff., nach dem es die Aufgabe der Strafe ist, das Tatunrecht auszugleichen, die Dominanz des Rechts wiederherzustellen und künftigen Unrechtstaten vorzubeugen. 32 Frisch (Fn. 24), S. 295. 33 BGHSt 43, 195, 209; Niemöller, StV 1990, 34, 36 Fn. 16, Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 16), S. 129. Nach BGHSt 1, 105, 106; SSW-StGB/Eschelbach, 2009, § 46 Rn. 126, ist es dagegen unzulässig, den Angeklagten allein deshalb milder zu bestrafen, weil er ein Geständnis abgelegt hat; vgl. auch Dencker, ZStW 102 (1990), 59. 34 BGH, a.a.O., 209, 210; siehe aber auch Streng (Fn. 9), S. 283, nach dem „der Hinweis auf den durch ein Geständnis ersparten prozessualen Aufwand schwerlich als Strafmilderungsgrund zu überzeugen“ vermag; kritisch auch Kunz (Fn. 20), S. 146.
Zur Bedeutung des Nachtatverhaltens des Täters für die Strafzumessung
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nicht wesentlich strafmildernd zu berücksichtigen sein.35 Auch wenn der Täter die Tat über seinen Tatbeitrag hinaus, etwa durch die Benennung von Mittätern, aufdeckt, ist dies strafmildernd zu berücksichtigen.36 Dem könnte zwar entgegengehalten werden, dass damit Denunziantentum begünstigt werde,37 für die strafzumessungsrechtliche Bewertung kann es aber nicht auf Solidaritätserwartungen unter den Tätern ankommen, sondern muss der Wille der Rechtsordnung zur Wiederherstellung des Rechts maßgeblich sein. Auch die Verhinderung weiterer Delikte, die mit der abzuurteilenden Tat im Zusammenhang stehen, muss dem Täter bei der Strafzumessung zugutekommen.38 Sind Beiträge des Täters zur Wiederherstellung des Rechts strafmildernd zu berücksichtigen, liegt es nahe, Verhaltensweisen des Täters, durch die er die Herstellung des von der Rechtsordnung gewollten Zustandes behindert oder sogar das Tatunrecht vertieft, strafschärfend in Ansatz zu bringen. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Versuch des Täters, sich der Strafverfolgung zu entziehen, und zulässiges Verteidigungsverhalten nicht zu einer Strafschärfung führen dürfen.39 Die Beseitigung von Tatspuren durch den Täter und das Leugnen der Tat dürfen daher grundsätzlich nicht strafschärfend gewertet werden.40 Die Frage, wann die Grenzen angemessener Verteidigung überschritten sind, kann freilich schwierig zu beantworten sein.41 Auch wenn diese Frage zu bejahen ist, kommt eine strafschärfende Berücksichtigung von Nachtatverhalten nur in Betracht, wenn es Rückschlüsse auf die Einstellung des Täters im Zeitpunkt der Tatbegehung zulässt oder den Umgang mit der rechtlichen Aufarbeitung der Tat betrifft. Durch das Erfordernis eines Bezuges des Nachtatverhaltens zur Tat oder zum Umgang mit ihr wird verhindert,
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BGHSt 43, 195, 209. Meier (Fn. 28), S. 191. 37 Vgl. die Nachweise zu einer entsprechenden an § 46b StGB geübten Kritik bei Schönke/ Schröder/Kinzig, StGB, 28. Aufl. 2010, § 46b Rn. 2. 38 Sehr weitgehend greift die Regelung des § 46b StGB auch bei der Aufdeckung oder Verhinderung von Delikten ein, die mit der abzuurteilenden Tat in keinem Zusammenhang stehen; dazu kritisch Streng (Fn. 9), S. 294 f. Für eine Beschränkung des § 46b StGB auf die Aufdeckung oder Verhinderung von mit der abzuurteilenden Tat im Zusammenhang stehenden Delikten der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 30. 03. 2012 (BR-Drs. 172/12). 39 Frisch, ZStW 99 (1987), 778, 782; Streng (Fn. 9), S. 91; Meier (Fn. 28), S. 191. 40 Siehe zur Beseitigung von Tatspuren BGH NStZ 1985, 21; StV 1990, 260; zum Leugnen BGH NStZ 1985, 545; 1996, 80. Vgl. auch Torka, Nachtatverhalten und Nemo tenetur, 2000, S. 244 ff., 281 ff. 41 So beurteilt die Rechtsprechung die Spurenbeseitigung strafschärfend, wenn sie eine rechtsfeindliche Einstellung des Täters dokumentiert oder neues Unrecht schafft, vgl. BGH NStZ 2011, 512. Das Leugnen darf nach der Rechtsprechung auch dann nicht strafschärfend berücksichtigt werden, wenn hierdurch ein Belastungszeuge als unglaubwürdig hingestellt wird, es sei denn, der Angeklagte überschreitet die Grenzen angemessener Verteidigung und würdigt den Zeugen herab. Inwieweit Angriffe auf die Ehre des Zeugen erlaubt sind, beurteilt die Rechtsprechung nach § 193 StGB, siehe BGH NStZ 1988, 35; 2001, 419; 2004, 616; StV 2001, 456. 36
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dass eine allgemeine negative Beurteilung des Täters oder seines Auftretens in der Hauptverhandlung zu einem Strafzumessungsgrund wird. Das Verhalten des Täters nach der Tat spielt somit für die Strafzumessung eine erhebliche Rolle. Zur konsistenten Begründung der Strafzumessungsrelevanz des Nachtatverhaltens hat der Jubilar wesentliche Beiträge geleistet. Vielleicht konnten die vorstehenden Ausführungen diese Beiträge ein wenig weiterführen.
Wiederherstellung des Rechts als Grundsatz der Strafzumessung und der Strafandrohung Von Masami Okaue
I. Einleitung Die modernen Strafrechtssysteme in der Welt sind sich einig in der Anerkennung des Schuldgrundsatzes und gehen deshalb auch von der Vergeltungstheorie aus1. Das gilt gegenwärtig ausnahmslos in den deutschsprachigen Ländern und in solchen Ländern, die sich zumindest unter starkem deutschen Einfluss befindenden, wie z. B. in Japan. Sehr unterschiedlich beurteilt wird jedoch nach wie vor überall in der Welt, welchen Inhalt und welchen Stellenwert die Generalprävention und die Spezialprävention sowohl in der Straftheorie als auch bei der Strafzumessung haben, ob und wie sie für die Strafzumessung zu berücksichtigen sind, und vor allem, ob und inwieweit ihnen das Schuldprinzip den Vorzug einräumen soll. Dieser Beitrag befasst sich nicht unmittelbar mit dem aktuellen Thema „Bedeutung der Prävention im Schuldstrafrecht“ als solchem, sondern nur mit dem Wesen der Vergeltung. Denn mir scheint das Schuldprinzip im japanischen Schöffengerichtssystem in der letzten Zeit in eine Krise wegen der zu weitgehenden Erwartungen in die präventiven Effekte der Strafe geraten zu sein.2 Vor diesem Hintergrund erscheint es besonders sinnvoll, sich nochmals über die Bedeutung des Schuldprinzips unter dem Gesichtspunkt der Wiederherstellung des Rechts3 Gedanken zu machen. Bekanntlich hat das fruchtbare Verhältnis, in dem die japanische Strafrechtswissenschaft zur deutschen Strafrechtswissenschaft steht, eine lange Tradition. Der Jubilar gehört ohne Zweifel zu den deutschen Wissenschaftlern, die seit langem eine 1
Es handelt sich selbstverständlich nicht darum, ob der Grundsatz mit dem Wort „Schuldprinzip“ ausgedrückt wird. Z. B. gibt es im anglo-amerikanischen Recht nicht die Terminologie „principle of responsibility“, aber dort spielt das Wort „Tatproportionalität“, nämlich „proportionality between crime and punishment“ die gleiche oder eine ähnliche Rolle. Den meisten Rechtskreisen muss mindestens ein Punkt gemeinsam sein. Das heißt, dass nur das verschuldete Unrecht in der ersten Linie der wichtigste, entscheidende Maßstab ist. 2 Ab und zu erwähnt das Schöffengericht im Urteil das Bedürfnis nach Prävention als verschärfenden Grund, um ähnliche Fälle zu verhindern. Ferner s. unten II. 3 Frisch, Festgabe der Wissenschaft zum 50-jährigen Bestehen des Bundesgerichtshofs, Band 4, 2000, S. 269–308.
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tiefe Beziehung mit der japanischen Wissenschaft pflegen; insbesondere im Bereich des Strafzumessungsrechts hat er großen Einfluss auf die japanische Strafrechtswissenschaft ausgeübt4. Das japanische Strafzumessungsrecht ist zweifelsohne unter den starken Einfluss des deutschen Rechts geraten, sei es dogmatisch, sei es methodologisch. Dieser Beitrag hat es sich zum vorrangigen Ziel gesetzt, aus Anlass dieser Festschrift mit Blick auf die gegenwärtige japanische Rechtslage auf dem Gebiet der Strafzumessung einige Auslegungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Wiederherstellung des Rechts zu untersuchen.
II. Der gegenwärtige Zustand des Strafzumessungsrechts und die Schuldstrafe in Japan 1. Die Strafzumessung gehört seit jeher zur Strafjustiz dazu. Die Verrechtlichung der Strafzumessung hat jedoch in Japan keine lange Geschichte. Der Anlass dafür, dass das Recht der Strafzumessung in der letzten Zeit sprunghafte Fortschritte gemacht hat, war sicher die Einführung des Schöffengerichtssystem im Jahr 2009, in dem drei Berufsrichter und sechs Laienrichter in erster Instanz5 bei schweren Fällen6 die Tatsachen feststellen, für schuldig oder frei sprechen und zum Schluss bei der Verurteilung eine Strafe bemessen. Schon lange vor der Einführung dieses Gerichtssystems sollten Richter und andere Praktiker dafür vorbereitet werden, und zwar im Hinblick auf ihre Beratungen mit Laienrichtern über die Strafbemessung. Das vorrangige Anliegen für die Richter war, wie sie den Laienrichtern die Strafzumessung erklären sollen. Sie benötigten dazu dringend ein theoretisch fundiertes Recht der Strafzumessung. Zuvor gab es in der Praxis schon lange eine ungeschriebene Tradition der Strafzumessung, wonach der Richter (intuitiv) eine einzige richtige Strafe gegen den Straftäter finden könne. Deswegen sollte das Strafzumessungsrecht unantastbar für die Wissenschaft sein und wurde aus dogmatischer Sicht fast nicht erörtert. Aber weil der Richter unter dem Schöffensystem den Laienrichtern in ganzer Breite erklären muss, wie und nach welchen Gründen sie eine Strafe bemessen sollen, bedarf es vor allem für die Richter einer Theoretisierung bzw. einer Verrechtlichung der Strafzumessung. Mit Blick auf dieses dringende Erfordernis wurde eine 4 Eines der Ergebnisse der guten strafrechtswissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Japan ist das deutsch-japanische Symposium unter dem Titel „Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht“, das 2009 in Kyoto, Japan an der Universität Ritsumeikan stattfand. Der Sammelband zu diesem Symposium mit demselben Namen, dessen Herausgeber Herr Prof. Dr. Frisch ist, wurde 2011 in Deutschland und auch in Japan publiziert. 5 Im japanischen Justizsystem ist in erster Instanz bei schweren Fällen das Distriktsgericht zuständig. In Japan gilt generell ein Dreiinstanzensystem. 6 Das Schöffengericht ist zuständig nur für Verbrechen wie Tötung, die mit Todesstrafe, einer lebenslange Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe strafbewehrt ist, und für vorsätzliche Verbrechen mit Todesfolge, wie Körperverletzung mit Todesfolge, Raub mit Todesfolge (§ 2 Gesetz betreffend die Beteiligung von Laienbeisitzern an strafrechtlichen Verfahren).
Wiederherstellung des Rechts als Grundsatz der Strafzumessung und -androhung 1191
hauptsächlich aus Richtern bestehende Forschungsgruppe gebildet, die sehr energisch in einer Jurazeitschrift eine Reihe von Aufsätzen über das Strafzumessungsrecht in der Literatur und in der Rechtsprechung veröffentlicht haben7. 2. Darüber hinaus verwendet die japanische Strafzumessungspraxis sowohl das Schuldprinzip als auch den Gesichtspunkt der Tatproportionalität ohne genaue Differenzierung nebeneinander. Insofern hat Frisch auf die Notwendigkeit hingewiesen, über diese beiden Begriffe sorgfältig nachzudenken8. In Japan wird das Verhältnis zwischen dem Schuldprinzip und der Tatproportionalität weder bewusst thematisiert noch erläutert. In diesem Sinne ist die Fragestellung nach den Grundlagen der Tatproportionalität auch in Japan sehr interessant, aber von einer klaren Beantwortung noch weit entfernt. Mir scheint jedoch mindestens eine Tendenz klar, dass nämlich das Wort „Tatproportionalität“ in der japanischen Rechtsprechung bei der Strafzumessung viel häufiger Verwendung findet als das „Schuldprinzip“. Manche Praktiker haben sogar Zweifel an der im konkreten Fall strafbegrenzenden Funktion der Schuld geäußert9. Ich sehe, dass der Begriff „Tatproportionalität“ in der Praxis ein verständliches, klares und deshalb nützliches Leitmotiv der Strafzumessung ist, und dass die Strafzumessungspraxis einen guten Grund dafür hat, diesen Grundsatz anzuwenden, weil das japanische Gericht bei der Strafzumessung als ihm zur Verfügung stehendes Material die Strafzumessungsdatenbank benutzt10. In dieser Datenbank kann man durch Eingabe von Suchbegriffen sowohl Tabellen als auch Verbreitungskarten von anderen ähnlichen Fällen sehen und die Strafzumessungstradition in ganz Japan erfahren. Das ist die sogenannte ordinale Proportionalität11. Darin liegt der Grund dafür, dass die Proportionalität, nicht das Schuldprinzip, nach Ansicht der Praktiker über das Strafmaß entscheidet. Aber die Tatproportionalität selbst kann die Strafe weder begründen oder legitimeren noch über die treffende Auswahl der Strafzumessungstatsachen entscheiden. Sie ist lediglich ein formaler Grundsatz. Der Schuldbegriff wurde in Japan intensiv entwickelt, als 1966 in Deutschland von Baumann u. a. der Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches veröffentlicht wurde. Darin hatte die strafrechtliche Schuld nur eine strafbegrenzende Funktion und man legte viel Wert auf die Resozialisierung. Im Gefolge dessen haben damals 7 Dieser Fortsetzungsaufsätze haben in der Jurazeitschrift namens Hanrei Times [Rechtsprechung Times] von Nr. 1183 am 15. 09. 2005 bis zur Nr. 1325 am 15. 08. 2010 angedauert. Später wurde diese Aufsatzserie in einen Band gesammelt. 8 Frisch, in: Frisch/von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität. Normative und empirische Aspekte einer tatproportionalen Strafzumessung, 2003, S. 18 ff. 9 Nach dem Ex-Richter Harada soll die Rolle der Schuld bei der Strafzumessung nur sekundär und klein sein, weil der Schuldbegriff ideal und unrealistisch ist und es schwer ist, die Schuld in eine Strafe zu quantifizieren. Harada, Ryokeihandan no jissai [Praxis der Strafzumessung], 3. Aufl. 2008, S. 354. 10 Dazu s. Nakagawa, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 210. 11 Dazu und zu dem Unterschied zur kardinalen Proportionalität siehe von Hirsch, Censure and Sanction, 1993, S. 36 ff.
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viele auch in Japan einer Säkularisierung bzw. Entmoralisierung des Schuldbegriffs zugestimmt. Der Schuld wurde nur eine strafbegrenzende Funktion zugebilligt und der Gedanke des Schuldausgleichs wurde als Straftheorie in Zweifel gezogen. Für strafbegründend hielt man die Idee der Prävention, vor allem die Resozialisierung. In der gleichen Richtung wurde Roxins Verantwortlichkeitstheorie, auch wenn sie nicht zur herrschenden Meinung wurde, allgemein positiv beurteilt und geschätzt. Danach entwickelte sich die japanische Straftheorie anders als die deutsche. Die herrschende Meinung konnte einen anderen treffenden Legitimationsgrund der Schuldstrafe und auch des Inhalts der Schuld statt Schuldausgleich oder Prävention nicht finden. Während die früher herrschende Meinung die strafrechtliche Schuld mit der moralischen Schuld gleichgestellt hatte12, ist sie nach der gegenwärtig herrschenden Meinung der Tadel aus juristischer Sicht, der deshalb die rechtliche Schuld heißt. Die herrschende Meinung kann aber den Inhalt und die Bedeutung der rechtlichen Schuld nicht hinreichend erklären. Sie betont nur den Unterschied zur moralischen Schuld, hat aber zur Zeit keinen Erfolg damit, ihren positiven Inhalt zu definieren. 3. Diese Inhaltsleere des Schuldbegriffs führte zu einem unerwarteten Ergebnis, nämlich zu einem zu großen Einfluß des Präventionsgedankens und zur Missachtung des Schuldprinzips. Ein problematisches Urteil wurde von einem Schöffengericht gefällt und von den Rechtswissenschaftlern, der Rechtsanwaltskammer und auch von den betroffenen Wissenschaftlern wie Psychologen usw. heftig diskutiert13. In diesem Urteil wurde der Angeklagte mit Asperger-Syndrom, einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, wegen eines Mordes an seiner Schwester mit Zuchthausstrafe von zwanzig Jahren, das ist im geltenden japanischen Strafgesetzbuch die Obergrenze der Zuchthausstrafe14, bestraft, obwohl der Staatsanwalt sechzehn Jahre Zuchthausstrafe beantragt hatte und obwohl das Gericht sicher eine Ursache der Tat in seinem geistigen Zustand sah. Die Gründe der Erhöhung der Strafe seien einerseits die Gefährlichkeit der Wiederholung von Straftaten und andererseits die Tatsache, dass es in der Gesellschaft keine Anstalt gebe, die ihn angemessen behandeln könne. Im Urteil heißt es: „Eine möglichst lange Unterbringung im Gefängnis dient der Erhaltung der sozialen Ordnung.“ Nach dem japanischen Strafgesetzbuch ist die verminderte Schuldfähigkeit ein obligatorischer Milderungsgrund15. Auch wenn sein geistiger Zustand nicht zum vollen Schuldausschluss führt, liegt dem geltenden japanischen Strafgesetzbuch die Annahme zu Grunde, dass solche Tatsachen die Strafe mildern sollen. Trotz der Annahme, dass sein geistiger Zustand den Hintergrund der Straftat bildet, hat das Gericht die Strafmilderung abgelehnt und gleichzeitig die Strafe wegen seiner Gefährlichkeit erhöht, was mir als offenbar widersprüchlich erscheint. 12
Z.B. Dando, Keiho Koyo Soron [Strafrecht Lehrbuch AT], 1990, S. 258. Urteil des Distriktsgerichts Osaka vom 30. 07. 2012 (noch nicht in der Urteilssammlung veröffentlicht). 14 § 12 j. StGB. 15 § 39 j. StGB. 13
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4. Bedauerlicherweise habe ich indessen den Eindruck, dass man in der letzten Zeit in Japan die Straftheorie nur wenig entwickelt, ohne dabei die deutsche Literatur hinreichend heranzuziehen. Die japanische Wissenschaft wird sich noch um eine weitere Vertiefung der Straftheorie bemühen müssen. Wir sollten vor allem über die der Gegenwart angemessene Legitimation der Strafe nachdenken. Man soll und kann nicht von der Tatproportionalität an sich, sondern von dem Begriff „Wiederherstellung des Rechts“ ausgehen, weil die Proportionalität kein Legitimationsgrund, sondern nur die Methode der Strafzumessung zur Quantifizierung ist.
III. Bedeutung der Wiederherstellung des Rechts für die Strafzumessung und für die Strafandrohung 1. An dem Strafgrund bzw. dem Grundsatz der Strafzumessung „Wiederherstellung des Rechts“ wird manchmal Kritik dahingehend geübt, dass er zu abstrakt sei und für die Strafzumessung keinen effektiven Maßstab abgeben könne16. Daran ist sicher richtig, dass es unmöglich sein wird, durch irgendeinen einzigen Leitsatz den ganzen komplizierten Vorgang der Strafzumessung zu erläutern. Das würde jedoch bedeuten, dass dieser Strafzweck gar nicht der Fundierung der Strafzumessung dient. Es scheint mir dennoch, dass man einige Ergebnisse aus der Auslegung, oder, mit anderen Worten, eine bessere Begründung deduzieren kann. Im Folgenden werden einige Beispiele aus der japanischen Rechtsprechung dargestellt. 2. Der erste typische Fall ist der eines Straftäters, der während der Aussetzung des Strafrestes, z. B. aus der Motivation zur Rache gegen das Opfer, wieder einen Mord beging17. In Japan ist die Differenzierung zwischen der Todesstrafe und der lebenslangen Zuchthausstrafe ein großes Problem im Strafzumessungsrecht. In der Regel kann das Gericht gegen einen Angeklagten dann nicht die Todesstrafe verhängen, wenn er nur einen einzigen Menschen getötet hat. Indessen wird gegen Angeklagte auch im Fall der Tötung nur eines Opfers die Todesstrafe verhängt18. Auf dieser Weise begründet eine Tötung während der Aussetzung des Strafrests eine straferhöhende Strafzumessungstatsache. Die Terminologie „kriminelle Energie“ als Strafzumessungstatsache ist noch unklar. Kriminelle Energie wie diejenige, die für die Rechtsordnung zur Bedrohung wird, hängt meistens mit der Wiederherstellung des Rechts zusammen.
16 Hörnle, in: Frisch/von Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität. Normative und empirische Aspekte einer tatproportionalen Strafzumessung, 2003, S. 101 ff. 17 Urteil des Distriktsgerichts Osaka vom 25. 10. 1989. 18 In diesem Beitrag kann ich das Pro oder Contra Problem nicht behandeln.
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Beim Rückfalltäter spricht man oft vom Warnungseffekt der Strafe19. Eine Tötung während einer Aussetzung des Strafrestes zeigt eine aggressive Missachtung des Rechts; aber dieser Faktor bedeutet etwas anderes als bloß eine Rückfalltat oder einfache Missachtung. Ein Beispiel dieses Typs ist ein Todesstrafe-Fall, in dem ein ExPolizist sofort nach der Entlassung aus dem Gefängnis zur Verfolgung seiner Rache gegen die Polizei von einem Polizisten eine Pistole gestohlen hatte. Diese Tatsache drückt sogar eine Herausforderung gegen die Rechtsordnung aus und soll mit Blick auf die Wiederherstellung des Rechts als strafschärfende Tatsache angesehen werden. 3. Im japanischen Strafgesetzbuch ist eine Strafverschärfung beim Rückfalltäter gesetzlich vorgesehen20. Danach wird bei einer zeitigen Zuchthausstrafe auf eine zweimal so lange Strafe erkannt. Hat eine Person, gegen die eine Zuchthausstrafe verhängt worden ist, innerhalb von fünf Jahren seit dem Ende der Vollstreckung oder seit dem Erlass der Vollstreckung eine weitere Straftat begangen, wird sie Rückfalltäter genannt. In der Praxis wird der Rückfalltäter mit der doppelten Strafandrohung betraft. Fordert die Wiederherstellung des Rechts dies21? Gefährdet der Rückfalltäter das Recht besonders? Wie allgemein bekannt, ist es theoretisch sehr schwer, aus der Sicht der Tatschuld die Strafschärfung beim Rückfalltäter zu begründen, und niemand kann für sie mit überzeugenden Gründen argumentieren. Wie oben erwähnt, misst die japanische Strafrechtspraxis dem Rückfall große Bedeutung bei. Nach der japanischen herrschenden Meinung steht der Rückfall nur mit der Spezialprävention, nicht mit der Schuld in einem Zusammenhang. Auch das Recht fordert in bestimmten Fällen die schwere Strafe. Im Grunde genommen geht es bei diesem Problem darum, ob die Tatschuld eines Rückfalltäters und die eines Ersttäters gleich oder anders ist. Wenn die Auswirkung der Tat beim Rückfalltäter schlimmer wäre, dürfte es angemessen sein, diese Tatsache in einer schwereren Strafe zu spiegeln. Aber wenn die Taten und die Tatschuld zwischen dem Rückfall- und dem Ersttäter keinen großen Unterschied machen, ist die Verschärfung der Strafe nicht erlaubt. Beim Rückfalltäter wird die Schuldstrafe bestimmt gefordert, während der Spielraum der möglichen Resozialisierung beim Ersttäter größer ist. Zumindest ist gerade die Verdoppelung der Strafandrohung beim Rückfalltäter, wie sie im japanischen StGB vorgesehen ist, nicht theoretisch begründbar. 4. Als japanspezifische, aber von der japanischen Rechtsprechung allgemein anerkannte Strafzumessungstatsache, gibt es die sogenannten „sozialen Auswirkungen“. Wenn eine schwere Straftat in der Gesellschaft bekannt wird und die Allge19
Bruns, Das Recht der Strafzumessung. Eine systematische Darstellung für die Praxis, 2. Aufl. 1985, S. 227. 20 § 56 f. j. StGB. 21 Im Jahr 2012 hat der Jubilar bei der japanischen Strafrechtslehrertagung in seinem Vortrag „Zur Zukunft des Schuldstrafrechts“ diese Möglichkeit suggeriert.
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meinheit ein großes Interesse daran hat, sie z. B. in Zorn gerät, sollte die Strafe gegen den Täter wegen solcher gesellschaftlicher Störungen schwerer werden. In der Literatur wird dieser Tradition stark kritisiert22, weil der Täter für solche äußerlichen sozialen Auswirkungen nicht verantwortlich ist, und weil der Grund der gesellschaftlichen Störung aus den Medien usw. herrührt. Wenn die Tradition der Rechtsprechung legitimiert werden soll, wäre es zunächst möglich zu argumentieren, dass die Straftat so schwer oder so grausam war, dass die Allgemeinheit ein großes Interesse an ihr hat. Außerdem wäre eine Begründung darin zu sehen, dass die Wiederherstellung des Rechts dann besonders nötig ist, wenn viele Leute in der Gesellschaft ein erhebliches Interesse an die Straftat haben.
IV. Neuere gravierende Erhöhung der Strafandrohung Obwohl der Grundsatz der Strafzumessung und der der Strafandrohung prinzipiell im Zusammenhang gesehen werden sollen, wird die „Wiederherstellung des Rechts“ bei der Gesetzgebung nicht direkt berücksichtigt. Ist der Grundsatz „Wiederherstellung des Rechts“ für die Gesetzgebung gar nicht bedeutsam? Ich finde schon! In der neuesten Gesetzgebung in Japan scheint mir die Tendenz der mit Blick auf den Lebensschutz erhöhten Strafandrohung weit verbreitet. Mit anderen Worten: die Gesetzgebung orientiert sich in der letzten Zeit tendenziell immer mehr am Erfolg. Beispielhaft: das japanische StGB enthält eine Vorschrift über die gefährliche Autofahrt mit Todes- und Körperverletzungsfolge. Diese Delikt besteht aus Autofahren unter Alkohol- oder Drogeneinwirkung usw. Beim Tod des Opfers ist die Obergrenze der Freiheitsstrafe zwanzig Jahre. Die Gesetzgebung nahm in diesem Fall einen grausamen Autounfall auf einer Autobahn zum Anlass, dessen Opfer, zwei kleine Mädchen, im brennenden Auto ihr Leben verloren. Die Begründung der Gesetzgebung lag in der Berücksichtigung von Opfern. Dieser Typus ist der des erfolgsqualifizierten Delikts, obwohl der Erfolg manchmal sehr bedeutsam sein kann. Auch wenn der Schuldausgleich nötig wäre, hätte die Gesellschaft keine große Notwendigkeit zur Wiederherstellung des Rechts.
V. Schlusswort In diesem kleinen Beitrag habe ich versucht, im Hinblick auf die japanische Rechtslage und Rechtsprechung eine bessere Begründung zu finden oder sie in einigen Punkten kritisch darzustellen. 22 Vgl. Kuzuhara, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 131 f.
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Seit der Einführung des Schöffengerichts 2009 hat sich das Strafzumessungsrecht in Japan gewiss geändert, aber nur, soweit es die schweren Fälle anbelangt23. Eine der Änderungen ist sicher, dass das Gericht im Urteil die Beratung zwischen Berufsrichtern und Laienrichtern niederschreibt; und weil die Beratung im Vergleich mit der früheren Tradition unter den Berufsrichtern nicht sehr lang dauert, kann man den Schwerpunkt der Strafzumessung klar erfahren. Im Urteil drückt das Gericht klar aus, auf welche Tatsachen es Wert legte und welche es nicht ernst nahm. Damit sollen sich die Wissenschaftler in der Zukunft befassen und mit der deutschen Strafzumessungspraxis vergleichen. Im Strafzumessungsrecht haben wir noch eine Menge wissenschaftliche Aufgaben. Dazu können wir aus Deutschland viel lernen.
23 Die Japanische Rechtsanwaltsvereinigung hat die Änderungen der Strafzumessung beim Schöffengericht untersucht. Der Erfolg ist noch nicht offiziell veröffentlicht. Weil es seitdem noch nicht lange her ist, wird man später mit genauen Daten die statistischen Änderungen herausarbeiten.
V. Strafprozessrecht
Die Beschuldigtenstellung im Strafverfahren Objektivismus und Subjektivismus bei der Statusbegründung Von Klaus Rogall
A. Einführung Die Frage nach dem Beginn des Strafverfahrens und die damit in Zusammenhang stehende – wenn auch von ihr zu trennende – Frage nach dem Beginn der Beschuldigteneigenschaft schien bisher jedenfalls in ihren Grundzügen geklärt zu sein:1 Für die Einleitung des Strafverfahrens ist die Schöpfung eines „einfachen“ Tatverdachtes i.S.v. zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten (§ 152 Abs. 2 StPO; sog. „Anfangsverdacht“) ebenso erforderlich wie genügend.2 Der Statuserwerb als Beschuldigter soll demgegenüber ein Dreifaches erfordern: Zum personifizierten Anfangsverdacht als erste Voraussetzung muss hinzutreten, dass – zweitens – ein Strafrechtspflegeorgan gegenüber einer verdächtigen Person Maßnahmen ergreift, die – drittens – äußerlich erkennbar in der Absicht erfolgen, gegen sie strafrechtlich vorzugehen.3 Diese Konzeption entspricht der h.M., die einen „objektiv-subjektiven“ Beschuldigtenbegriff vertritt (sog. „Kombinationslehre“).4 Sie geht dabei in enger Anlehnung an die vom Gesetzgeber in § 397 Abs. 1 AO getroffene Regelung davon aus, dass der Statuserwerb als Beschuldigter erfolgt, sobald eine Strafverfolgungsbehörde äußer1
Vgl. dazu statt aller Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, Einl. Rn. 76 ff.; Löwe/Rosenberg/Gleß, StPO, 26. Aufl. 2006, § 136 Rn. 4 ff.; AnwK-StPO/Walther, 2. Aufl. 2010, § 136 Rn. 5; HK-GS/Jäger, 2. Aufl. 2011, § 133 Rn. 1; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, Rn. 25/11 ff.; Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, Rn. 110 ff., jeweils m.w.N. 2 Radtke/Hohmann, StPO (2011), § 152 Rn. 5; Graf/Beukelmann, StPO (2010), § 152 Rn. 4 ff.; Meyer-Goßner (Fn. 1), StPO, § 152 Rn. 2 ff., 4; HK/Gercke, StPO, 5. Aufl. 2012, § 152 Rn. 11. 3 Schlauri, Das Verbot des Selbstbelastungszwangs im Strafverfahren, 2003, S. 33 m.w.N. 4 Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 24 ff., 27 ff.; Löwe/Rosenberg/Gleß (Fn. 1), § 136 Rn. 5; AK-StPO/Achenbach, Bd. 2/1, 1992, § 163a Rn. 20; Eisenberg, Das Beweisrecht der StPO, 7. Aufl. 2011, Rn. 505; Roxin/Schünemann (Fn. 1), Rn. 25/11; Beulke (Fn. 1), Rn. 112; Volk, Grundkurs StPO, 7. Aufl. 2010, Rn. 9/1 ff.; sachlich übereinstimmend Ranft, Strafprozeßrecht, 3. Aufl. 2005, Rn. 323 f. Aus der Rechtsprechung vgl. etwa BGH StV 1985, 397; BGH NStZ 1997, 398 (399) m. Anm. Rogall; BGHSt 38, 214 (228); BGHSt 51, 150 (157); 51, 367.
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lich erkennbar eine faktische Verfolgungshandlung gegen einen Verdächtigen setzt5 und ihn auf diese Weise „inkulpiert“.6 Maßgeblicher Zeitpunkt ist somit die erste „Manifestation des Verfolgungswillens in personam“.7 Die höchstrichterliche Rechtsprechung folgt dieser Auffassung, indem auch sie in Anlehnung an § 397 Abs. 1 AO formuliert, dass ein Verdächtiger die Stellung eines Beschuldigten erlangt, wenn die Staatsanwaltschaft Maßnahmen gegen ihn ergreift, die erkennbar darauf abzielen, gegen ihn wegen einer Straftat vorzugehen.8 Diese Betrachtungsweise ist vom BVerfG9 zustimmend zur Kenntnis genommen worden. Auch der Alternativ-Entwurf (AE) „Reform des Ermittlungsverfahrens“10 ist dem Standpunkt der h.M. beigetreten.11 Angesichts dieses Befundes ist eigentlich kein Anlass ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, die Problematik in einem Beitrag, den ich Wolfgang Frisch mit den herzlichsten Glückwünschen zum Geburtstag widme, erneut aufzugreifen. Doch ist dem nicht so. Neuere Beiträge zum Thema zeigen, dass weiterer Diskussionsbedarf besteht. So hat Schumann12 nachzuweisen versucht, dass die am Anfang der Rechtsprechungsentwicklung stehende Entscheidung BGHSt 10, 8 ff., in der die These aufgestellt worden ist, Beschuldigter sei jemand nur dann, wenn das zuständige Strafrechtspflegeorgan es gegen ihn gerade als Beschuldigten betreibe, eine tragfähige Begründung vermissen lasse. Auch wenn Schumann in ihrem Beitrag einer Äußerung zu der Frage, wie denn die Begründung der Beschuldigteneigen-
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Moos, FS Jescheck I, 1985, S. 725 (754). Der aus dem früheren französischen Recht stammende Begriff der „Inkulpation“ ist von Fincke (ZStW 95 [1983], 918 [919]) in die deutsche Diskussion eingeführt worden. Fincke begründet die Verwendung dieses Begriffs damit, dass „dieser Terminus international eingeführt ist und der deutsche Begriff ,Beschuldigung‘ für den Gegenstand dessen, was zur Last gelegt ist, Verwendung findet“ (S. 919). Zwingend ist das freilich nicht, aber immerhin wird deutlich, dass die Inkulpation in einem Verhalten des verfahrensleitenden Strafrechtspflegeorgans zu erblicken ist, mit dem einer Person die Beteiligung an einer verfolgbaren Straftat zur Last gelegt wird. In § 136 Abs. 1 S. 1 StPO wird das vorausgesetzt, wenn es dort heißt, dem Beschuldigten sei zu eröffnen, „welche Tat“ ihm zur Last gelegt wird. Das setzt voraus, dass ihm überhaupt strafrechtlich relevantes Verhalten zum Vorwurf gemacht wird. Ihm muss dann nur noch gesagt werden, worum es genau geht. 7 Fincke, ZStW 95 (1983), 918 (937). 8 BGH NStZ 1997, 398 m. Anm. Rogall; vgl. ferner BGHSt 38, 228; 51, 370; BGH, BGHR StPO § 136 – Beschuldigter 1. 9 BVerfG StV 2001, 257 (258). 10 Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer, Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV), 2001, S. 95 ff. (zu § 157 AE-EV). 11 § 157 Abs. 2 AE-EV lautet: „Beschuldigter ist ein Verdächtiger, gegen den ein Strafverfolgungsorgan eine Ermittlungshandlung vornimmt, die erkennbar darauf abzielt, ihn wegen einer Straftat zu verfolgen.“ Zur Begründung dieser Vorschrift vgl. AE-EV, S. 97 ff.; s. dazu auch Jahn, JuS 2007, 962 (964). 12 GA 2010, 699 ff. 6
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schaft im Vorverfahren zu bestimmen sei, aus dem Wege geht,13 erscheint eine Auseinandersetzung mit ihren Feststellungen und Schlussfolgerungen angezeigt. Denn es wäre natürlich beunruhigend, wenn die h.M. ihre Position auf Sand gebaut hätte. Weitere Bedenken richten sich gegen die Eignung des § 397 Abs. 1 AO als normative Referenz für die Bestimmung des Beschuldigtenbegriffs und des entsprechenden Statuserwerbs. Diese Bedenken sind früher bereits von Gundlach14 und Bosch15 geltend gemacht worden. Unlängst hat sich auch Roxin16 dieser Kritik angeschlossen. Wäre diese Kritik berechtigt, würde ein weiterer wesentlicher Stützpfeiler der h.M. zum Einsturz gebracht worden sein. Doch sind die geschilderten Einwände relativ bedeutungslos gegenüber dem Angriff, den Roxin17 gegen die Bestimmung des Beschuldigtenbegriffs durch die h.L. geführt hat. Nach seiner Ansicht18 muss der Beschuldigtenbegriff rein funktional bestimmt und an den Schutzinteressen des Betroffenen orientiert werden. Diese Schutzinteressen werden von ihm mit dem Schutz vor Selbstbelastung identifiziert.19 Das hat zur Folge, dass eine in ein Strafverfahren verstrickte Person die Beschuldigteneigenschaft erwirbt, wenn sie aus Gründen des Schutzes vor Selbstbelastung dieser Rechtsstellung bedarf.20 Das alles führt Roxin im Ergebnis dazu, vier Inkulpationsformen, nämlich die ausdrückliche, die konkludente und die faktische Inkulpation sowie die Verdachtsinkulpation zu entwickeln, von denen nur die ersten beiden einen Willensakt der Strafverfolgungsorgane voraussetzen, während die zuletzt genannten Inkulpationsformen auf einer objektiven Deutung des Verhaltens der Strafverfolgungsorgane beruhen sollen.21 Das läuft jedenfalls zum Teil auf eine Wiederbelebung der objektiven Beschuldigtentheorie22 hinaus, die seit langer Zeit überwunden schien. Freilich hat sich die Rechtsprechung selbst angreifbar gemacht, indem sie bereits in BGHSt 10, 8 (12) eine leicht misszuverstehende „Missbrauchsklausel“ 13
Vgl. Schumann, GA 2010, 714: „Wie die Begründung der Beschuldigteneigenschaft im Ermittlungsverfahren zu bestimmen ist, kann und soll hier nicht abschließend geklärt werden.“ 14 Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten (1984), S. 33 ff. 15 Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht (1998), S. 153 ff., 158 ff. 16 Roxin, FS Schöch (2010), S. 823 ff. 17 Roxin, FS Schöch (2010), S. 827 ff. 18 Ebenso bereits Schumann, GA 2010, 713, die wie Roxin verschiedene Beschuldigtenbegriffe anerkennt. 19 Roxin, FS Schöch (2010), S. 827. 20 Roxin, FS Schöch (2010), S. 827, 831, 837. 21 Roxin, FS Schöch (2010), S. 828 ff., 836 f. 22 Vgl. dazu v. Gerlach, NJW 1969, 776 (779 f.); ders., JR 1969, 149 (150); Gundlach (Fn. 14), S. 24 ff., 40; Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 200 f.; s. auch Geerds, GA 1965, 321; Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozeßordnung, 1993, S. 78; wohl auch Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung, 1990, S. 60 ff.; zu dieser Theorie näher SK-StPO/Rogall, 4. Aufl. 2010, Vor § 133 Rn. 29 f.
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(„Willkürausnahme“) eingeführt hat, derzufolge ein Gestaltungsmissbrauch bei der Zuschreibung von Verfahrensrollen (willkürliche Vorenthaltung der Beschuldigtenposition, um die Aussageperson dem Zeugnis- und Eideszwang auszusetzen) unwirksam sein soll.23 Als missverständlich hat sich auch der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Standard gewordene Rechtssatz erwiesen, dass nach pflichtgemäßer Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde spätestens dann von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung überzugehen ist, wenn sich der Verdacht so verdichtet hat, dass die vernommene Person ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt.24 Die daraus gezogene Schlussfolgerung, es sei verfahrensfehlerhaft, wenn in diesem Falle nicht zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen werde,25 mag ja noch zutreffend sein. Aber der weiter hinzugefügte, leider nicht näher begründete Satz, es liege in diesem Falle ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO unter dem Gesichtspunkt der Umgehung vor,26 muss den Leser zwangsläufig dazu verleiten, einen Inkulpationszustand anzuerkennen, dem kein Inkulpationsakt vorausgegangen ist. Wie das zugehen soll, ist an sich nicht einzusehen, wird aber offenbar für so einleuchtend und prozessrechtlich adäquat gehalten, dass sich Autoren wie etwa Geppert,27 Beulke28 und jetzt auch Roxin29 dieser Sichtweise angeschlossen haben. Ein Bedürfnis für das Wiederaufgreifen der Thematik ergibt sich aber auch daraus, dass die Frage nach den zeitlichen Grenzen des Strafprozesses und der Beschuldigteneigenschaft tatsächlich etwas Vages und Unbestimmtes an sich hat. Und es ist auch keineswegs zu verkennen, dass sich die Praxis mit schwierigen Abgrenzungsfragen in diesem Bereich beschäftigen muss.30 Aus ihren Reihen werden denn auch erhebliche Rechtsunsicherheiten beklagt.31 Als Beleg sei an dieser Stelle eine Äußerung Egon Müllers32 ausführlich wiedergegeben, die das Problem sehr gut veranschaulicht: 23
BGHSt 10, 12. BGH NJW 1994, 2904 (2907); BGH NStZ-RR (B) 2002, 67; BGH NStZ-RR 2004, 368; BGH StraFo 2004, 241 f.; BGHSt 53, 112 (114). 25 BGHSt 37, 48 (51 f.); 38, 228; 51, 367 (371). 26 BGH NStZ-RR 2012, 49 f.; BGHSt 51, 371 m.w.N. 27 Geppert, FS Schroeder (2006), S. 675 ff. (681). 28 Beulke, Strafprozessrecht (Fn. 1), Rn. 112. Beulke sagt dazu: „Im Ergebnis bedeutet dies, dass das Erfordernis des Willensaktes eines Strafverfolgungsorganes für die Begründung der Beschuldigtenstellung ab einem bestimmten Verdachtsgrad praktisch aufgegeben wird und eine Wertung nach objektiven Kriterien an dessen Stelle tritt. Diese Inkonsequenz ist zum Schutz der Beschuldigtenrechte durchaus akzeptabel.“ 29 Roxin, FS Schöch (2010), S. 836 f. 30 Geppert, FS Schroeder (2006), S. 676 f. 31 Vgl. dazu etwa Beck, ZRP 2011, 21 (22) mit der Bemerkung, es könne oft nicht ohne Weiteres festgestellt werden, wann genau jemand zum „Beschuldigten“ wird; die rechtliche Debatte hierzu sei – so wörtlich – „ausgesprochen komplex“. 32 Egon Müllers, GA 2011, 630 (632). 24
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„Neuralgischer Punkt ist der Beginn des Ermittlungsverfahrens, den die alternde Kodifikation der StPO vernachlässigt hat. Detaillierte Vorschriften zum Beginn fehlen. Während das Ende des Ermittlungsverfahrens Schritt für Schritt minutiös bis hin zum Klageerzwingungsverfahren geregelt wird, sucht man vergeblich nach Normen, die den Anfang markieren – mit Ausnahme des Anfangsverdachts, der in § 152 StPO nach wie vor mit geringer definitorischer Kraft umschrieben wird mit ,zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten‘. Es kann nicht verwundern, dass bis heute strittig ist, unter welchen StPO-Voraussetzungen der Bürger in den Status des Beschuldigten versetzt wird.“
Das Anliegen der nachfolgenden Ausführungen ist es, die prinzipielle Richtigkeit der h.M. darzutun und diese gegen Angriffe zu verteidigen. Es wird sich zeigen, dass es notwendig ist, zwischen dem Inkulpationsverdacht als Voraussetzung einer prozessordnungsgemäßen Inkulpation und der Inkulpation als Prozesshandlung zu unterscheiden. Für den Statuserwerb ist nur die letztere maßgeblich. Als Formen der Inkulpation sind im Ergebnis nur die ausdrückliche und die konkludente Inkulpation anzuerkennen. Eine reine Verdachtsinkulpation gibt es nicht. Bei der Begründung dieser Thesen werden freilich Missverständnisse beiseite zu räumen und einige Klarstellungen vorzunehmen sein. Im Interesse einer besseren Annäherung an das Problemfeld empfiehlt es sich, zunächst den Beginn des Strafverfahrens in den Blick zu nehmen. Zwar können die Einleitung eines Strafverfahrens und die Beschuldigung einer Person zeitlich zusammen fallen und werden das auch häufig tun, doch ist das keineswegs zwingend.33 Jedenfalls gibt es eine Inkulpation nur in einem laufenden Strafverfahren. Es muss also eingeleitet sein.
B. Der Beginn des Strafverfahrens Die StPO enthält in der Tat keine „detaillierten Vorschriften“ zum Beginn eines Strafverfahrens. Nun ist eine präzise Zeitangabe aber auch nicht zu erwarten, weil eine solche Festlegung weder zweckmäßig wäre noch vom Gesetzgeber in sinnvoller Weise geleistet werden könnte. Die Strafverfolgung ist nach dem Gesetz Sache der dafür eingerichteten Organe; nur sie können im Einzelfall und damit gewissermaßen „vor Ort“ bestimmen, wann mit Ermittlungen und Maßnahmen der Strafverfolgung zu beginnen ist. Das Ganze ist also ein Problem des Einzelfalles, das sich einer Regelung entzieht, die konkrete Einzelvorgaben enthält. Der Gesetzgeber kann aber selbstverständlich Grundsatzregelungen treffen, und dieser Aufgabe hat er sich ja auch durchaus unterzogen.
33 Zur Erforderlichkeit einer entsprechenden Differenzierung Lüttger, GA 1957, 193 (194); Kuhlmann, NStZ 1983, 130; Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2243; Grosjean, Der Beginn der Beschuldigteneigenschaft, 1999, S. 7 ff.; Löwe/Rosenberg/Beulke, StPO, 2008, § 152 Rn. 23; HK-StPO/Gercke, § 152 Rn. 11.
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I. Die gesetzliche Ausgangslage Die StPO gibt in den §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 und 163 Abs. 1 S. 1 StPO eine genügende Antwort auf die Frage, welches Strafverfolgungsorgan wann und unter welchen Voraussetzungen zur Strafverfolgung tätig zu werden hat. § 152 Abs. 2 StPO bestimmt, dass die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, „wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.“ Auf der Tatbestandsseite der Norm befindet sich der unbestimmte Rechtsbegriff34 der „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte“. Ersichtlich sind damit Anhaltspunkte dafür gemeint, dass eine Straftat begangen worden ist, die auch verfolgbar ist.35 Nach einhelliger Ansicht entsprechen die zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat in § 152 Abs. 2 StPO dem in § 160 Abs. 1 StPO erwähnten „Verdacht einer Straftat“.36 In Bezug auf diesen Verdacht spricht man bekanntlich von einem „Anfangsverdacht“,37 der in Abgrenzung zum dringenden (§ 112 Abs. 1 StPO) und hinreichenden Tatverdacht (§ 203 StPO) das geringste Gewicht hat.38 Wird dieser Verdacht von der Staatsanwaltschaft „geschöpft“, so kommt es zur Aktivierung der Rechtsfolgenseite des § 152 Abs. 2 StPO: Für die Staatsanwaltschaft entsteht die Pflicht zum Einschreiten.39 Was „Einschreiten“ bedeutet, lässt das Gesetz in den §§ 160 ff. StPO erkennen:40 Die Staatsanwaltschaft hat „den Sachverhalt zu erforschen“ (§ 160 Abs. 1 StPO), die relevanten „(Tat-)Umstände zu ermitteln“ (§ 160 Abs. 2, 3 S. 1 StPO), Beweise zu erheben (§ 160 Abs. 2 StPO) und „Ermittlungsmaßnahmen“ (§ 160 Abs. 4 StPO; begrifflich: § 160a Abs. 1 S. 1 StPO) vorzunehmen. Zu diesem Zweck darf sie Auskünfte einholen und „Ermittlungen jeder Art“ entweder selbst vornehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes vornehmen lassen (§ 161 Abs. 1 S. 1 StPO). Als Ziel der Sachverhaltserforschung benennt das Gesetz in § 160 Abs. 1 StPO ferner die Entschließung der Staatsanwaltschaft darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist. Das setzt eine Individualisierung der Ermittlungsrichtung voraus, weil die Klage nur gegen eine bestimmte Person erhoben werden 34
BGH(Z), NStZ 1988, 510 (511); L. Schulz, Normiertes Misstrauen, 2001, S. 223 ff., 619 ff.; Grosjean (Fn. 33), S. 11 ff.; vgl. ferner Lohner, Der Tatverdacht im Ermittlungsverfahren, 1994, S. 46 ff. 35 SK-StPO/Weßlau, 4. Aufl. 2011, § 152 Rn. 17. 36 BVerfG, Beschl. v. 05.10.2004 – 2 BvR 563/04 Rn. 4 f. (juris); Meyer-Goßner (Fn. 1), StPO, § 160 Rn. 4; HK-StPO/Gercke, § 160 Rn. 4; AnwK-StPO/Walther (Fn. 1), § 152 Rn. 5; vgl. auch Pommer, Jura 2007, 662. 37 AK-StPO/Schöch, § 152 Rn. 10; Löwe/Rosenberg/Beulke (Fn. 33), StPO, § 152 Rn. 21 f.; Deiters, Legalitätsprinzip und Normgeltung, 2006, S. 115 ff.; Lohner (Fn. 34), S. 65 ff. 38 Zu den Verdachtsgraden im Strafverfahren erhellend und weiterführend Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 314 ff., 321 ff.; L. Schulz (Fn. 34), S. 581 ff.; Huber, JuS 2008, 21 f.; Steinberg, JZ 2006, 1045 (1048 f.). 39 Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2241. 40 Vgl. dazu Lüttger, GA 1957, 193 (194); OLG Düsseldorf NJW 1996, 530.
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kann. Die Einschreitenspflicht ist aber, worauf bereits hingewiesen worden ist, nicht davon abhängig, dass eine namentlich bekannte Person schon zu Beginn der Ermittlungen als Täter in Betracht kommt. Wenn § 160 Abs. 1 bestimmt, dass die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt zu erforschen hat, sobald sie (durch eine Strafanzeige oder auf anderem Wege) von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, so wird damit, d. h. mit dem Kenntniserwerb oder (vielleicht besser) mit der Verdachtsschöpfung, ein interner Vorgang beschrieben, der nach außen nicht in Erscheinung tritt. Wenn das zuständige Verfolgungsorgan aber Verdacht geschöpft hat, verpflichtet es das Gesetz grundsätzlich zu einem sofortigen Einschreiten.41 Es hat dem von ihm geschöpften Verdacht unverzüglich nachzugehen, d. h. Feststellungen dazu zu treffen, ob sich der Verdacht als begründet oder als unbegründet erweist. Wer einem Verdacht nachgeht, wird zur Strafverfolgung tätig, denn er betätigt sich innerhalb der ihm von der StPO übertragenen Kompetenzen mit Mitteln, die ihm ebenfalls die StPO zur Verfügung stellt. Wir befinden uns dann im Strafverfahren. Um zu diesem Schluss zu gelangen, bedarf es mithin zweier Komponenten: Und zwar erstens des Umstandes, dass das zuständige Strafverfolgungsorgan42 einen Straftatverdacht geschöpft hat sowie zweitens, dass das Organ innerhalb seiner Zuständigkeit43 den Entschluss betätigt hat, diesem Verdacht mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln nachzugehen. In der Betätigung dieses Entschlusses liegt regelmäßig die Externalisierung einer internen Verdachtsbeurteilung, die eine spätere prozessuale Bewertung und Kontrolle ermöglicht.44
II. Der Anfangsverdacht und seine Beurteilung Nach h.M. handelt es sich bei den „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten“ i.S.d. §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO um solche tatsachengestützten – konkreten – Umstände, die es nach kriminalistischer Erfahrung als möglich erscheinen lassen,
41 Zu Ausnahmekonstellationen vgl. etwa Radtke/Hohmann, § 152 Rn. 25; KK-StPO/ Schoreit, 6. Aufl. 2008, § 152 Rn. 38. 42 Für den ersten Zugriff durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes gilt, wie aus § 163 Abs. 1 StPO hervorgeht, dasselbe. Wenn es dort heißt, dass es ihre Aufgabe ist, Straftaten zu erforschen und dass sie befugt sind, zur Erfüllung dieser Aufgabe exekutiv tätig zu werden, so setzt dies natürlich auch bei ihnen voraus, dass sie von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhalten haben. 43 Bedeutsam kann dies werden, wenn z. B. die originäre oder evokative Zuständigkeit des GBA in Rede steht, vgl. dazu Diemer, NStZ 2005, 666 ff. 44 Zur Frage des Rechtsschutzes gegen die Einleitung des Ermittlungsverfahrens Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2246 ff.; L. Schulz (Fn. 34), S. 619 ff.; Radtke/Hohmann, § 152 Rn. 31 ff. Zu dieser Frage hat sich auch der Jubilar in einem Vortrag geäußert, den er im April 2012 im Rahmen einer gemeinsam mit dem Verf. besuchten Veranstaltung an der Özyeg˘inUniversität in Istanbul gehalten hat, vgl. Frisch, Rechtsschutz im und gegen Ermittlungsverfahren, Istanbul 2012.
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dass eine verfolgbare Straftat begangen wurde.45 Diese Umstände müssen nicht zu voller Überzeugung des Strafverfolgungsorgans feststehen; es genügen auch entferntere Indizien für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat.46 Vom Sachverhalt losgelöste vage Vermutungen oder Gerüchte oder allgemeine kriminalistische Hypothesen reichen nicht aus.47 Es ist auch nicht erforderlich, dass sich aus den Umständen des Anfangsverdachts bereits eine genaue Tatkonkretisierung ergibt.48 Die am Anfangsverdacht festgemachte Einschreitensschwelle ist somit von relativ niedriger Intensität.49 Es geht bei dem konstitutiven Verdachtsurteil50 um eine Wahrscheinlichkeitsaussage mit diagnostischen und prognostischen Elementen,51 die sich wie folgt darstellen:52 (1) die Wahrscheinlichkeit der Begehung einer Straftat, (2) die Wahrscheinlichkeit der Verfolgbarkeit dieser Tat und (3) die Wahrscheinlichkeit, dass einer Person die Begehung dieser Tat im Strafverfahren nachgewiesen werden kann.53 Die vorzunehmende Beurteilung ist mithin sowohl tatsächlicher als auch rechtlicher Natur;54 sie umfasst als Vorfrage auch die Zuständigkeit des ermittelnden Organs.55 Die Verdachtsbeurteilung, d. h. die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte“ erfordert im Einzelfall „die Abwägung aller für die Entscheidung wesentlichen be- und entlastenden Umstände in Gestalt einer Gesamtschau.“56 Hierbei streitet nach Ansicht der Rechtsprechung57 und der h.M.58 zugunsten der Strafverfolgungsbehörde ein Beurteilungsspielraum, der 45 BVerfG NStZ 1982, 430; Meyer-Goßner (Fn. 1), StPO, § 152 Rn. 4; AK-StPO/Schöch, § 152 Rn. 10; HK-StPO/Gercke, § 152 Rn. 11; KK-StPO/Schoreit (Fn. 41), § 152 Rn. 28; KMR/Plöd, 56. Erg.-Lfg. 2009, § 152 Rn. 17; SK-StPO/Weßlau, § 152 Rn. 15; Löwe/Rosenberg/Beulke (Fn. 33), StPO, § 152 Rn. 23 ff. 46 OLG München, NStZ 1985, 549 (550); AnwK-StPO/Walther (Fn. 1), § 152 Rn. 5. 47 BVerfG, Beschl. v. 05. 10. 2004 – 2 BvR 563/04 Rn. 4 (juris); Graf/Beukelmann, § 152 Rn. 4; HK-StPO/Gercke, § 152 Rn. 11; KK-StPO/Schoreit (Fn. 41), § 152 Rn. 31; Roxin/ Schünemann (Fn. 1), Rn. 39/15; Pommer, Jura 2007, 662; Huber, JuS 2008, 21. 48 BVerfG, Beschl. v. 05. 10. 2004, 2 BvR 563/04 (juris). 49 AK-StPO/Schöch, § 152 Rn. 10; Radtke/Hohmann, § 152 Rn. 17; Keller/Griesbaum, NStZ 1990, 416; Wölfl, JuS 2001, 478 (479). 50 Näher und weiterführend dazu L. Schulz (Fn. 34), S. 223; Lohner (Fn. 34), S. 38 ff.; Steinberg, JZ 2006, 1047 f. 51 Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2244. 52 Näher dazu Steinberg, JZ 2006, 1046 ff. 53 Noch weiter differenzierend Steinberg, JZ 2006, 1047; Radtke/Hohmann, § 152 Rn. 16. 54 Nr. I 1 der Richtlinien für die Prüfung eines Anfangsverdachtes wegen einer Straftat, Rundverfügung des GStA des Landes Brandenburg v. 21. 08. 1998 – 411 – 40 i. d. F. v. 10. 12. 2008. 55 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 43 (zur Zuständigkeit des GBA). 56 BGH(Z), NStZ 1988, 510 (511); Nr. IV 2 der Richtlinien (Fn. 54). 57 BVerfG NJW 1984, 1451 = NStZ 1984, 228; BGH(Z), NStZ 1988, 511; BGH NStZ 2005, 519 m. Anm. Rogall NStZ 2006, 41. 58 AnwK-StPO/Walther (Fn. 1), § 152 Rn. 5; Graf/Beukelmann, § 152 Rn. 5.
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zur Folge hat, dass eine gerichtliche Überprüfung der getroffenen Entscheidung nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit stattfindet.59 Dazu hat der BGH in einer Amtshaftungssache Folgendes ausgeführt:60 „Deren Ergebnis (scil. das Ergebnis der Gesamtschau aller Umstände der Verdachtsbeurteilung) hängt maßgeblich davon ab, welche Umstände der Staatsanwalt für wesentlich hält und welches Gewicht er den in die Abwägung einfließenden Sachverhaltselementen in ihrem Verhältnis zueinander beimisst. Diese die Gesamtschau prägenden Akzentuierungen ergeben sich nicht allein aus der Natur der Sache, sondern beruhen regelmäßig auch auf subjektiven, nicht näher verifizierbaren Wertungen des Abwägenden, wobei verschiedene Betrachter, ohne pflichtwidrig zu handeln, durchaus zu unterschiedlichen Lösungen gelangen können. Das spricht dafür, dem Staatsanwalt bei der Entscheidung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens einen Spielraum der Würdigung und eine gewisse Freiheit bei der Bildung seiner Auffassung zu gewähren … Hiernach ist im Amtshaftungsprozess „die Entscheidung der StA nach § 152 II StPO … nicht auf ihre ,Richtigkeit‘, sondern allein daraufhin zu überprüfen ob sie vertretbar ist. Die Vertretbarkeit darf nur dann verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege … die Einleitung der Ermittlungen … nicht mehr verständlich ist.“
Gegen diese Betrachtungsweise könnte eingewandt werden, dass im Strafverfahren ein logischer Wahrscheinlichkeitsbegriff anzuwenden ist, bei dem es nicht auf ein subjektives Für-Wahrscheinlich-Halten, sondern auf die Einschätzung eines idealen objektiven Beobachters ankommt.61 Auch Fincke bemüht für das Verdachtsurteil den normal befähigten Ermittlungsbeamten,62 erkennt ihm jedoch einen Beurteilungsspielraum zu,63 der allerdings auf die intersubjektive Erfahrung beschränkt sein soll, während es in Bezug auf das den Gegenstand der Erfahrung bildende Bestätigungsmaß nur eine richtige Lösung geben könne.64 Das mag zwar im Ansatz richtig sein, doch ist zu bedenken, dass auch der (objektive) Beweiswert von Indizien einer unterschiedlichen Bewertung durch gleichermaßen kenntnisreiche und erfahrene Ermittler zugänglich sein kann. Intersubjektive Erfahrung und objektives Indiziengewicht werden sich nicht immer, aber doch häufig verschränken. Insbesondere die individuell-psychologischen und prognostischen Elemente der Verdachtsbeurteilung belegen die Notwendigkeit und rechtliche Angemessenheit der Anerkennung eines gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums.65 Hiergegen sind zwar in der Literatur Bedenken erhoben worden,66 doch sind 59
BGH(Z), NStZ 1988, 511; Nr. IV 2 der Richtlinien (Fn. 54). BGH(Z), NStZ 1988, 511. 61 Steinberg, JZ 2006, 1046. 62 Fincke, ZStW 95 (1983), 930. 63 Fincke, ZStW 95 (1983), 935 f. 64 Fincke, ZStW 95 (1983), 936. 65 Vgl. dazu BVerfG NStZ 1984, 228. 66 Vgl. namentlich Störmer, ZStW 108 (1996), 494 ff.; Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2249; SK-StPO/Weßlau, Vor §§ 151 ff. Rn. 36; L. Schulz (Fn. 34), S. 623 ff. m.w.N. 60
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die geltend gemachten Gründe, die vor allem Rechtsschutzaspekte in den Vordergrund stellen, nicht überzeugend.67 Es bleibt aber dabei, dass die Entscheidung über das Vorliegen eines Anfangsverdachts eine sorgfältige Prüfung voraussetzt, zumal Fehler bei der Verdachtsbeurteilung dienstrechtliche sowie zivil- und strafrechtliche Folgen haben können.68
III. Der Zeitpunkt der Einleitung des Strafverfahrens Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass der Beginn des Strafverfahrens (Ermittlungsverfahrens) nicht mit der Verdachtsschöpfung in Eins gesetzt werden kann. Verdacht ist immer der Verdacht einer für die Führung des Verfahrens zuständigen Person. Vorausgesetzt ist, dass diese Person in den Besitz von verdachtsrelevanten Informationen gelangt ist, diese pflichtgemäß beurteilt hat und zu einem positiven Verdachtsurteil gelangt ist. Dieser innerpsychische Vorgang ist indessen als Fixpunkt für den Beginn des Strafverfahrens ungeeignet, weil er nicht in rechtssicherer Weise festgestellt und überprüft werden kann. Die ohne äußere Folgen gelassene innere Verdachtsbeurteilung ist jedenfalls verfahrensrechtlich irrelevant. Schon aus § 152 Abs. 2 StPO geht hervor, dass die Verdachtsschöpfung äußere Folgen haben muss. Und diese bestehen in einem Einschreiten. Es ist naheliegend und alternativlos, dieses (dann) erste „Einschreiten“ als Zeitpunkt des Beginns des Strafverfahrens zu postulieren. Dieses Einschreiten kann, und das ist ebenfalls schon deutlich geworden (oben II. 1.), in verschiedener Form in Erscheinung treten. Den Formen gemeinsam ist ihre Eigenschaft als Prozesshandlungen, d. h. als solche dem „Betriebe eines bestimmten Prozesses“ dienenden „prozessgestaltenden Verhaltensweisen“, die „nach Voraussetzungen und Wirkungen vom Prozessrecht geregelt sind.“69 Es ist hier nicht der Ort, den Streit um die wissenschaftliche Tragfähigkeit und Fruchtbarkeit des Prozesshandlungsbegriffs70 nachzuzeichnen oder abschließend zu entscheiden. Hierzu hat Paulus71 bereits das Notwendige gesagt. Es muss daher der Hinweis genügen, dass die Lehre von den Prozesshandlungen hier nicht als inhaltsleer und heuristisch wertlos betrachtet wird. Unter „Einschreiten“ sind nach alledem alle Handlungen zu verstehen, die im Prozessrecht vorgesehen und von ihm zugelassen sind und die von dem zuständigen
67
Ausführlich dazu Grosjean (Fn. 33), S. 11 ff. m.w.N. Nr. I 2 der Richtlinien (Fn. 54). 69 Vgl. dazu Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Bd. I, 2. Aufl. 1964, Rn. 202 f. unter Berufung auf die Arbeiten von Goldschmidt, Rosenberg und Niese. 70 Ausführlich zum Ganzen Löwe/Rosenberg/Kühne, StPO, Bd. I, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. K, Rn. 5 ff. 71 Paulus, GS Meyer,1990, S. 309 ff. 68
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Strafverfolgungsorgan zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Täterermittlung vorgenommen werden. Dazu können auch Realakte gehören.72 In Betracht kommt z. B. ein Einleitungsvermerk, der zu den Akten gebracht wird.73 Die Eintragung der Sache in das Js-Register ist allerdings nach Lage der Dinge nicht immer als Ausdruck der Bejahung eines Anfangsverdachts zu interpretieren.74 Im Übrigen kann jede gesetzlich zulässige Ermittlungsmaßnahme als eine das Verfahren einleitende Prozesshandlung (Bewirkungshandlung)75 aufgefasst werden.
IV. Die Folgen unvertretbarer Beurteilungen des Anfangsverdachts Die vorstehenden Ausführungen hatten zur Voraussetzung, dass die Verdachtsschöpfung rechtlich einwandfrei und im Ergebnis vertretbar zustande gekommen ist und zu einem Einschreiten geführt hat. Die Frage ist aber, was gilt, wenn die Bejahung eines Tatverdachts nicht mehr als rechtsrichtige und vertretbare Entscheidung anerkannt werden kann. Zu unterscheiden ist zwischen Fällen, in denen Ermittlungen (1) trotz zu bejahenden Tatverdachts unterbleiben und solchen Fällen, in denen (2) Ermittlungen angestellt werden, obwohl ein Tatverdacht richtigerweise noch nicht oder überhaupt nicht bejaht werden kann. Sieht die Staatsanwaltschaft trotz zureichenden Anfangsverdachts von Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung ab, so kann diese Untätigkeit für den zuständigen Amtsträger dienstrechtliche und strafrechtliche (§ 258a StGB) Folgen haben. Die Aufnahme von Ermittlungen kann indessen in gewissen Grenzen nach Maßgabe der §§ 172 ff. StPO erzwungen werden.76 Ein zivilrechtlicher Amtshaftungsanspruch wegen unterlassener Ermittlungstätigkeit steht dem Verletzten nicht zu, weil die Pflicht zur Strafverfolgung der Staatsanwaltschaft nur gegenüber der Allgemeinheit, nicht aber gegenüber dem Verletzten obliegt.77 Ein Beschuldigter kann im Übrigen nicht verlangen, dass die Ermittlungen auf andere Personen ausgedehnt werden, bei denen dieselbe Verdachtslage besteht.78 Die Untätigkeit der Staatsanwaltschaft hat prozessual zur Folge, dass ein Strafverfahren nicht eingeleitet ist. Es 72
Paulus, GS Meyer, 1990, S. 317; Eb. Schmidt (Fn. 69), Rn. 220, jeweils m.w.N. Vgl. auch Roxin, FS Schöch, 2010, S. 828 f. Gesetzlich vorgeschrieben ist das nicht; anders aber § 397 Abs. 2 AO: „Die Maßnahme (scil.: diejenige, in der sich die Einleitung des Strafverfahrens manifestiert) ist unter Angabe des Zeitpunkts unverzüglich in den Akten zu vermerken.“ 74 Nr. III der Richtlinien (Fn. 54). 75 Vgl. dazu näher Eb. Schmidt (Fn. 69), Rn. 213 ff., 220 m.w.N. 76 Zur Problematik eines „Ermittlungserzwingungsverfahrens“ vgl. statt aller Radtke/ Hohmann, § 152 Rn. 32 f.; OLG München NJW 2007, 3734 ff. 77 OLG Düsseldorf NJW 1996, 530. 78 BVerfG NStZ 1982, 430. 73
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fehlt an der dafür erforderlichen Prozesshandlung.79 Allerdings kann das Untätigbleiben zu einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) führen, wie etwa dann, wenn mit dem Zuwarten der alleinige Zweck verfolgt wird, eine Verurteilung wegen vollendeten statt wegen versuchten Delikts zu erreichen.80 Tritt die Staatsanwaltschaft in ein Ermittlungsverfahren ein, ohne sich auf den dafür erforderlichen Anfangsverdacht stützen zu können, kommen dienst- und strafrechtliche (§§ 344, 164 StGB) Rechtsfolgen in Betracht.81 Unvertretbare Entscheidungen können Amtshaftungsansprüche auslösen.82 Prozessual sind die vorgenommenen Strafverfolgungsmaßnahmen zwar als rechtsgrundlos, nicht aber als „unbeachtlich“ oder „nichtig“ einzustufen. Für Prozesshandlungen gilt, dass sie „so zu nehmen sind, wie sie sich in ihrer offensichtlichen und allen anderen Beteiligten erkennbaren Gestalt geben.“83 Die Maßnahmen sind wirksam, aber anfechtbar, soweit das Gesetz sie nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht. Da nach h.M. keine Möglichkeit besteht, rechtliche Schritte gegen die Einleitung eines Strafverfahrens zu ergreifen,84 wird das allerdings erst in Betracht kommen, wenn die getroffenen Ermittlungsmaßnahmen zu Eingriffen in Rechte Dritter geführt haben oder das Verfahren bereits gegen eine bestimmte Person als Beschuldigten betrieben wird und dieser Objekt eines exekutiven Zugriffs geworden ist.
V. Ergebnis Das Strafverfahren (Ermittlungsverfahren) ist eingeleitet, wenn das Strafverfolgungsorgan, das zur Führung des Strafverfahrens berufen ist, Maßnahmen der Sachverhaltserforschung trifft. Das ist auch der Fall, wenn die Aufnahme der Ermittlungen auf einer unvertretbaren und nicht mehr verständlichen rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung beruht. Es spricht alles dafür, dass es sich bei der Beschuldigung einer Person als Täter der aufzuklärenden Straftat strukturell genauso verhält.
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Ihr Unterbleiben bildet ja gerade den Gegenstand des Tatvorwurfs nach § 258a StGB. BGH NStZ 2005, 519; HK-GS/Gercke, § 152 Rn. 11; Graf/Beukelmann, § 152 Rn. 5; s. auch Nr. I 3 der Richtlinien (Fn. 54). 81 OLG München NStZ 1985, 549. 82 BGH(Z), NJW 1988, 510. 83 Eb. Schmidt (Fn. 69), Rn. 206. 84 BVerfG NStZ 1984, 228; Nr. 2 der Richtlinien für die Prüfung eines Anfangsverdachtes wegen einer Straftat (Fn. 68). 80
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C. Der Beginn der Beschuldigtenstellung I. Vorbemerkung Die Einleitung eines Strafverfahrens (Ermittlungsverfahrens) ist, wie bereits ausgeführt, von der Beschuldigung einer Person als Täter oder Teilnehmer der aufzuklärenden Straftat zu unterscheiden. Ein Strafverfahren ist bekanntlich auch dann einzuleiten, wenn in Betracht kommende Tatbeteiligte noch nicht bekannt sind.85 Das Verfahren wird dann (als UJs-Sache) zunächst gegen Unbekannt geführt.86 Voraussetzung dafür ist natürlich, dass von dem Vorliegen einer verfolgbaren Straftat nach den oben angeführten Grundsätzen auszugehen ist. Auch wenn die Einleitung eines Strafverfahrens immer unter der Prämisse erfolgt, dass die Ermittlungen zur Anklagereife87 gegen eine bestimmte Person führen können, wird in der Praxis ein Verfahren zu Recht88 auch dann eingeleitet, wenn nach Lage der Dinge nur geringe Chancen dafür bestehen, dass ein Täter ermittelt werden kann. Das Verfahren wird dann – hoffentlich erst, nachdem der Versuch einer Täterermittlung unternommen worden ist – durch Einstellung (§ 170 Abs. 2 S. 1 StPO) beendet.
II. Der Inkulpationsverdacht89 Die Beschuldigung einer Person als Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist ein Vorgang, der nur innerhalb eines Strafverfahrens gedacht werden kann. Auch wenn es gerade in den Fällen eines polizeilichen Erstzugriffs regelmäßig so sein wird, dass Verfahrenseröffnung und Beschuldigung zusammenfallen,90 darf nicht übersehen werden, dass der von dem Ermittlungsorgan geschöpfte (Anfangs-)Verdacht eine Voraussetzung dafür ist, dass das von ihm daraufhin eingeleitete Verfahren seine Richtung gegen bestimmte Personen nehmen kann. Es ist daher zu fragen, nach welchen Grundsätzen sich die Personalisierung der Ermittlungsrichtung zu vollziehen hat. Um die Anschaulichkeit der nachfolgenden Ausführungen zu verbessern, sei als Fallbeispiel eine Entscheidung des BGH in Zivilsachen (in concreto: Rechtsschutz85
Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 33. HK-GS/Gercke, § 152 Rn. 11. 87 Oder zu einem sonstigen Modus des Verfahrensabschlusses (z. B. Einstellung gegen Auflagen; Erlass eines Strafbefehls, etc.). 88 Das ergibt sich daraus, dass § 152 Abs. 2 StPO eine von weiteren (externen) Voraussetzungen unabhängige Einschreitenspflicht begründet. 89 Der Begriff „Inkulpationsverdacht“ ist, soweit ersichtlich, zuerst von Fincke (ZStW 95 [1983], 925 ff.) verwendet worden. Fincke behandelt den Inkulpationsverdacht jedoch mit der h.M. als Unterfall des Anfangsverdachts, während er hier als eine selbständige Verdachtsstufe entwickelt wird. 90 Vgl. L. Schulz (Fn. 34), S. 546. 86
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bedürfnis für eine Klage auf Zahlung einer Geldentschädigung wegen ehrkränkender Äußerungen in einem anderen Gerichtsverfahren und gegenüber den Strafverfolgungsbehörden) angeführt,91 deren straf(verfahrens)rechtliche Relevanz ohne Weiteres einleuchten dürfte: Der Beklagte hatte bei der Klägerin (einer Versicherungsgesellschaft) Ende 2001 einen Lebensversicherungsvertrag mit einer Versicherungssumme von 1.682.163,00 E abgeschlossen. Versicherte Person war seine Ehefrau. Ende 2003 verbrachten die Eheleute einen Badeurlaub in Vietnam. Am 01. 01. 2004 kam die Ehefrau unter ungeklärten Umständen beim Baden im Meer zu Tode. Entsprechend der Bitte des Beklagten unterblieb eine Obduktion der Leiche. Den Leichnam ließ er am 03. 01. 2004 ohne vorherige Unterrichtung der Familie verbrennen. Der Verbleib der Urne mit der Asche der Verstorbenen ist ungeklärt. Das auf Betreiben der Klägerin und offenbar auch der Eltern der Verstorbenen eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen den Beklagten wegen des Verdachts der Tötung seiner Ehefrau wurde von der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 S. 1 StPO eingestellt. In einem Vorprozess stritten die Parteien über die Leistungspflicht aus dem Versicherungsvertrag. Die Klägerin behauptete, der Beklagte habe seine Ehefrau vorsätzlich getötet und sei deshalb von ihrer Leistungspflicht frei. Sie führte zur Begründung folgende Indizien an, die diesen Vorwurf stützen sollten: *
Unstimmigkeiten in den verschiedenen Schilderungen des Geschehensablaufs durch den Beklagten;
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das Unterbleiben einer Obduktion;
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das rasche Verbrennen der Leiche;
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das Verschwinden der Urne mit der Asche;
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finanzielle Schwierigkeiten des Beklagten, der bei mehreren Versicherungsgesellschaften Lebensversicherungsverträge abgeschlossen hatte, als naheliegendes Tatmotiv; Zweifel an der persönlichen Integrität des Beklagten (Verhältnis der Eheleute zueinander; Vorwürfe der sexuellen Belästigung asiatischer Haushaltshilfen durch den Beklagten).
Im Vorprozess hatte das Landgericht die von dem Beklagten erhobene Klage abgewiesen, weil es der Überzeugung war, dass der Beklagte den Tod seiner Ehefrau vorsätzlich herbeigeführt hatte. Das zuständige OLG hob jedoch die Entscheidung des Landgerichts auf und stellte fest, dass die Klägerin verpflichtet ist, die Leistung aus dem Lebensversicherungsvertrag zu erbringen, weil sie die vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Beklagten nicht bewiesen habe. Dieses Urteil ist rechtskräftig.
Hat die Staatsanwaltschaft wie hier durch eine Strafanzeige Kenntnis vom Verdacht einer Straftat erhalten (§§ 158 Abs. 1, 160 Abs. 1 StPO), so verpflichtet dies nur dann zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, wenn die Anzeige so weit substanziiert ist, dass sie einer rechtlichen und tatsächlichen Schlüssigkeitsprüfung standhält.92 Das dürfte hier wohl der Fall gewesen sein. Jedenfalls hat die Staatsan91
BGH Urt. v. 28. 02. 2012 – VI ZR 79/11 – juris. Der BGH hat die Klage übrigens abgewiesen. 92 SK-StPO/Wohlers, § 158 Rn. 20; § 160 Rn. 33; KK-StPO/Griesbaum, § 158 Rn. 6, 16; KMR/Plöd, § 158 Rn. 7; AK-StPO/Schöch, § 158 Rn. 7.
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waltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Sie hat dieses Verfahren auch gegen den Beklagten als Beschuldigten gerichtet, wobei der bekannt gewordene Sachverhalt nicht erkennen lässt, ob dies zeitgleich oder erst später geschehen ist. Richtig ist jedenfalls, dass eine Strafanzeige, die eine Person gegen eine andere richtet, noch keineswegs zur automatischen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die beschuldigte Person führen muss.93 Die individualisierte Privatanzeige enthält nur eine Privatbeschuldigung, die prozessrechtlich keine statusbegründende Wirkung haben kann. Das ist nur möglich, wenn das zuständige Strafverfolgungsorgan der Anzeige Folge gibt (§ 171 Abs. 1 S. 1 StPO), die Privatbeschuldigung also zu einer amtlichen macht. Insbesondere dann, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Anzeigende den Angezeigten dem unbegründeten Verdacht einer Straftat aussetzen und ihn also falsch verdächtigen will, aber auch in Fällen von „Aussage gegen Aussage“ ist Zurückhaltung geboten.94 Insoweit ist einerseits zu bedenken, dass die Staatsanwaltschaft von Amts wegen zur Aufklärung der Sache einschließlich der Täterermittlung verpflichtet ist (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1, 244 Abs. 2 StPO). Die Erfüllung dieser Aufgabe setzt in der Regel Exekutivzugriffe voraus, deren Zulässigkeit davon abhängt, dass die Zielperson „Beschuldigter“ ist. Die Staatsanwaltschaft muss dabei zusätzlich in Rechnung stellen, dass demjenigen, der von ihr verfolgt wird, Rechte zustehen, die sie zu garantieren hat und die ebenfalls davon abhängig sind, dass die Zielperson „Beschuldigter“ ist (z. B. die Einlassungsfreiheit, das Recht auf Gehör und Verteidigung etc.). Andererseits hat die Staatsanwaltschaft in ihre Erwägungen einzubeziehen, dass die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens für die betroffene Person ganz erhebliche private und berufliche Nachteile haben kann, wenn der zugrunde liegende Tatvorwurf aktenkundig und darüber hinaus auch öffentlich bekannt wird.95 Das wird gerade an dem soeben geschilderten Fall deutlich, bei dem es um den nicht geringen Vorwurf eines Kapitaldelikts ging. Bedenkt man zudem die unterschiedliche Würdigung der Indizienlage durch die Staatsanwaltschaft und die Zivilgerichte, so unterstreicht das nachdrücklich die in diesem Zusammenhang häufig bestehende Problemlage.96 In der Praxis dient in solchen Fällen allein eine Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Anzeigeerstatters als Beleg für das Vorhandensein von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten.97 Jedenfalls zeigt auch der dem Beschuldigten zustehende Strafschutz nach § 344 StGB, dass eine Beschul-
93 Vgl. dazu auch Fincke, ZStW 95 (1983), 938, 947; Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2243 f.; Lohner (Fn. 34), S 68 ff. 94 Zum Ganzen Lohner (Fn. 34), S. 71 f. 95 Nr. I 2 der Richtlinien (Fn. 54); BGHSt 51, 372; BGH NStZ 2008, 49; zu den Nachteilen, denen der Beschuldigte sich ausgesetzt sieht, vgl. nur L. Schulz (Fn. 34), S. 546 ff.; Fincke, ZStW 95 (1983), 967; Lohner (Fn. 34), S. 34 ff. 96 Es wird hier nicht verkannt, dass die Zivilgerichte nach Beweislastgrundsätzen zu entscheiden hatten. 97 Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2244; Lohner (Fn. 34), S. 71 f.
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digung wegen ihrer Auswirkungen auf seine rechtlich geschützten Interessen nicht leicht zu nehmen ist.98 Es stellt sich damit die Frage, ob der Anlass für die strafrechtliche Verfolgung einer Person derselbe ist, der für die Einleitung des Strafverfahrens benötigt wird. Das wäre der Anfangsverdacht i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO. Es müsste daher genügen, dass aufgrund von tatsächlichen Anhaltspunkten unter Berücksichtigung kriminalistischer Erfahrung die Möglichkeit besteht, dass eine bestimmte Person als Beteiligter an der Straftat in Frage kommt.99 Das ist eine Annahme, die gemeinhin als richtig unterstellt wird.100 Es bedeutete aber eine Verkürzung der Zusammenhänge, wenn man den Inkulpationsverdacht als bloße individualisierte Variante des Anfangsverdachts begreifen würde. Denn in der Rechtsprechung, insbesondere der des BGH, wird dies offenbar gerade nicht so gesehen. Bereits in BGHSt 10, 12 heißt es, dass es der pflichtgemäßen Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde überlassen bleiben müsse, ob sie gegen jemand einen solchen Grad des Verdachts auf eine strafbare Handlung für gegeben hält, dass sie ihn als Beschuldigten verfolgt.101 Diese Formulierung taucht erneut in BGHSt 37, 48 auf, wo auf die Bedeutung der Stärke des Tatverdachts hingewiesen102 und die Verfolgung eines Beteiligten als Beschuldigter davon abhängig gemacht wird, dass sich ein etwa bestehender Verdacht „so verdichtet hat, daß die vernommene Person ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt.“103 Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung104 hat zur Generierung eines Rechtssatzes geführt, der wie folgt lautet: „Nicht jeder Tatverdacht begründet bereits die Beschuldigteneigenschaft mit entsprechender Belehrungspflicht, es kommt vielmehr auf die Stärke des Tatverdachts an. Nach pflichtgemäßer Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde ist dann von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung überzugehen, wenn sich der Verdacht so verdichtet hat, daß die vernommene Person ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt.“105
98 Zwar schützt § 344 StGB in erster Linie die Rechtspflege, doch sind die Interessen des zu Unrecht Verfolgten nach h.M. mitgeschützt, vgl. SK-StGB/Wolters, Loseblattausgabe, Stand: 127. Lfg. 2011, § 344 Rn. 2 m.w.N. in Fn. 5. 99 Vgl. dazu oben II. 2. sowie Meyer-Goßner (Fn. 1), StPO, § 152 Rn. 4. 100 HansOLG Hamburg StV 1995, 588 (589); Löwe/Rosenberg/Gleß (Fn. 1), § 136 Rn. 6; Geppert, FS Schroeder, 2006, S. 681; Fincke, ZStW 95 (1983), 924; Wölfl, JuS 2001, 479; AE-EV (Fn. 10), S. 99. Auch ich bin von dieser Annahme ausgegangen, vgl. Rogall (Fn. 4), S. 22 ff., 23. 101 BGHSt 10, 12. 102 Ebenso BGHSt 38, 214 (228). 103 BGHSt 37, 51, 52. 104 BGHSt 38, 228; BGHSt 53, 112 (114); BGH NJW 1994, 2904 (2907); BGH NStZ-RR (B) 2002, 67; BGH NStZ-RR 2004, 368; BGH StraFo 2004, 241 f.; BGH NStZ 2008, 48 f.; BGH NStZ-RR 2012, 49. 105 BGH, BGHR StPO § 136 – Belehrung 6; BGH NStZ-RR (B) 2002, 67.
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Die so formulierte „Übergangsrechtsprechung“ des BGH, die sich durch die Begriffe der „Konkretheit“, „Ernstlichkeit“, „Stärke“ und „Verdichtung“ des Tatverdachts auszeichnet,106 markiert den Zeitpunkt, ab dem jemand zwingend als Beschuldigter zu behandeln ist, das zuständige Strafverfolgungsorgan also tätig werden und das Verfahren von einem gegen Unbekannt gerichteten zu einem gegen eine bestimmte Person gerichteten Verfahren machen muss. Der Anlass, der die Pflicht zum Übergang in ein personalisiertes Verfahren auslöst, ist – anders kann das wohl nicht verstanden werden – ein „verdichteter Verdacht“ in dem Sinn, dass sich der Ermittler sagen muss, dass die ihm gegenüberstehende Person ernstlich als Täter in Betracht zu ziehen ist. Er hat somit ab dann von der Hypothese der Täterschaft dieser Person auszugehen und sich um Verifizierung oder Falsifizierung dieser Hypothese zu bemühen.107 Das führt zu der Frage, wie diese Form des Verdachts in die strafprozessualen Verdachtskategorien108 einzuordnen ist. Einleuchtend dürfte sein, dass dieser Verdacht nicht identisch ist mit dem dringenden (§ 112 Abs. 1 StPO)109 oder dem hinreichenden (§ 203 StPO) Tatverdacht. Für den letzteren bedarf das hier sicher keiner Begründung,110 und für den zuerst genannten ist darauf hinzuweisen, dass eine Inkulpation ja auch dann erfolgen muss, wenn der Beschuldigte nicht „dringend“ verdächtig ist und daher auch nicht in Untersuchungshaft genommen wird.111 In dem oben erwähnten Fall des BGH ist z. B. nicht mitgeteilt, ob gegen den Beschuldigten überhaupt Untersuchungshaft verhängt wurde. Andererseits kann das von der Rechtsprechung geforderte Verdachtsmerkmal nicht mit dem Anfangsverdacht des § 152 Abs. 2 StPO identisch sein. Denn der BGH fordert ja gerade eine Steigerung der Verdachtsintensität in der Form, dass der Betroffene „ernstlich“ als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt. Es spricht deshalb vieles dafür, dass von einem eigenständigen Verdachtsgrad auszugehen ist, der – trotz einer andersartigen Bedeutungszuweisung durch Fincke112 – als „Inkulpationsverdacht“ bezeichnet werden könnte. Während die Schöpfung eines 106
Vgl. Roxin, FS Schöch, 2010, S. 834; s. dazu auch Geppert, FS Schroeder, 2006, S. 680. Fincke, ZStW 95 (1983), 928, 946. Fincke sagt mit Recht, dass das Recht und die Pflicht zur Inkulpation entsteht, wenn der Beamte die nächstliegenden nichtinkulpativen Ermittlungen so weit durchgeführt hat, dass ein gewissenhafter Ermittler den erreichten bzw. gehaltenen ausreichenden Verdachtsgrad für stabil genug ansieht, um seinem Untersuchungsplan die These der Täterschaft des Verdächtigen zugrunde zu legen, vgl. S. 928. 108 Vgl. dazu nochmals die Nachweise in Fn. 38. 109 Anders Roxin, FS Schöch, 2010, S. 834. Das geht jedoch, wie sogleich darzulegen ist, fehl. 110 Auch wenn Roxin (JR 2008, 16 [17]) dies früher für naheliegend gehalten hat. Auf eine Verurteilungswahrscheinlichkeit kann es zu diesem Zeitpunkt noch nicht ankommen, allenfalls auf eine Erzielung von Anklagereife. Diese Meinung hat der Autor aber anscheinend wieder aufgegeben, tritt er doch jetzt überraschend für eine Anknüpfung an den dringenden Tatverdacht ein. 111 Das übersieht anscheinend Roxin, FS Schöch, 2010, S. 834. 112 Vgl. den Nachweis in Fn. 89. 107
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„Anfangsverdachts“ zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zwingt – die Strafverfolgung als solche also aufgenommen werden muss – zwingt der Inkulpationsverdacht dazu, das Verfahren gegen die Person zu richten, die nach dem aktuellen Ermittlungsstand ernstlich als Täter in Betracht kommt. Der sachliche Grund für diese dem Gesetz allerdings nicht ohne Weiteres zu entnehmende Differenzierung besteht darin, dass der Betroffene „nicht vorschnell mit einem Ermittlungsverfahren überzogen (wird), das erhebliche nachteilige Konsequenzen für ihn haben kann.“113 Immerhin wird ihm durch die Beschuldigung klar vor Augen geführt, dass ihm die Tat zuzutrauen ist. Gerade bei Tötungsdelikten114 verlangt die Rechtsprechung daher eine besonders sorgfältige Abwägung aller Umstände des Einzelfalls,115 also letztlich wiederum eine Gesamtschau. Aber wodurch unterscheidet sich nun der „Anfangsverdacht“ von dem (hier sog.) „Inkulpationsverdacht“? Nach der Rechtsprechung verhält es sich ersichtlich so, dass der Inkulpationsverdacht eine gegenüber dem Anfangsverdacht gesteigerte Verdachtsintensität aufweisen muss. Nun mag es ja sein, dass mit dem Wort von der „Stärke des Tatverdachts“ nicht die Vorstellung einer besonders großen Stärke verbunden werden darf.116 Aber der Verdacht muss doch auf einer gesicherten Tatsachengrundlage beruhen, die zu einem über reine Möglichkeiten hinausgehenden Wahrscheinlichkeitsurteil des Inhalts zwingt, dass der Betroffene ernstlich als Beteiligter an der aufzuklärenden Straftat in Betracht kommt. Während also für den Anfangsverdacht die plausible Möglichkeit genügt, dass eine verfolgbare Straftat vorliegt,117 ist für den Inkulpationsverdacht die ernstzunehmende Wahrscheinlichkeit der Täterschaft eines Beteiligten zu fordern. Der Inkulpationsverdacht dürfte noch über den auf „bestimmten Tatsachen“ beruhenden Verdacht, der bei bestimmten Exekutivmaßnamen gefordert wird,118 hinausgehen. Nach dem BVerfG genügt für jenen nicht das bloße Vorliegen von Anhaltspunkten, sondern es müssen „konkrete und in gewissem Umfang verdichtete Umstände als Tatsachenbasis für den Verdacht vorhanden sein.“119 In dieser Beziehung ist von einer „erhöhten Wahrscheinlichkeit“ die Rede,120 die ihn angeblich vom einfachen Tatverdacht abhebt.121 Das Gesetz selbst enthält in den §§ 55, 60 Nr. 2 StPO einen Hinweis auf die Existenz eines über den Anfangsverdacht hinausgehenden Inkulpationsverdachts. Denn 113
BGHSt 51, 372; BGH NStZ 2008, 49; BGH NStZ-RR 2012, 50. Die Erwähnung und Hervorhebung dieser Deliktsgruppe ist allerdings missverständlich, denn natürlich darf die Frage nicht anhand der zu verfolgenden Straftat entschieden werden, vgl. Bosch (Fn. 15), S. 157 f. 115 So schon BGHSt 37, 52; vgl. ferner BGHSt 51, 371; BGH NStZ 2008, 48. 116 HansOLG Hamburg StV 1995, 589. 117 Vgl. Lüttger, GA 1957, 194. 118 Näher dazu L. Schulz (Fn. 34), S. 588 ff.; Kühne (Rn. 38), Rn. 336 f. 119 BVerfGE 100, 313 (395); BVerfGE 109, 279 (350 f.). 120 BVerfGE 109, 351. 121 Dagegen zutreffend Kühne (Rn. 38), Rn. 336 f. 114
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diese Vorschriften lassen erkennen, dass bei Vorliegen eines nur „einfachen“ Tatoder Beteiligungsverdachts keineswegs zwingend zu einer Inkulpation überzugehen ist. Vielmehr darf eine Vernehmung dann durchaus als Zeugenvernehmung fortgesetzt werden.122 Das gilt auch im Fall einer Vernehmung durch die Polizei (§ 163 Abs. 3 S. 1 StPO) und die Staatsanwaltschaft (§ 161a Abs. 1 S. 2, 3 StPO), also durch Organe, die ihrerseits zu einer Inkulpation berechtigt und verpflichtet sind. Schumann123 bezweifelt zwar, dass es für die Strafverfolgungsbehörde im Ermittlungsverfahren die Figur eines verdächtigen Zeugen überhaupt geben kann, doch ist ihr das Gesetz entgegenzuhalten. Es wird vor dem Hintergrund der Annahme verständlich, dass Anfangsverdacht und Inkulpationsverdacht eine unterschiedliche Qualität bei der Verdachtsintensität aufweisen. Bei der Entscheidung darüber, ob der erforderliche Inkulpationsverdacht vorhanden ist, obliegt dem zuständigen Ermittlungsorgan, dem bei seiner Entscheidung nach h.M. ein Beurteilungsspielraum124 zukommt.125 In der Sache erscheint das durchaus berechtigt, denn die Gründe, die dafür bei der Beurteilung des Anfangsverdachts gesprochen haben (oben B. II.), liegen hier natürlich in derselben Weise vor.126 Die Rechtsprechung hat in verschiedenen Fällen Gelegenheit gehabt, sich zu der Frage zu äußern, wann ein zur Inkulpation verpflichtender Inkulpationsverdacht zu bejahen ist. Bei Todesfällen ist eine Inkulpation solange nicht geboten, wie andere Ursachen – z. B. eine mögliche Selbsttötung oder eine Fremdeinwirkung – nicht ausgeschlossen sind und kein Tatmotiv ersichtlich ist.127 Anders verhält sich das aber dann, wenn das Tatopfer identifiziert ist und der Verdächtige, der das Opfer als vermisst gemeldet und zuletzt Umgang mit ihm hatte, zugibt, dass er dieselben Spanngurte besitzt, die an der Leiche gefunden wurden.128 Eine Verdachtsverdichtung kann schließlich auch dadurch eintreten, dass ein Zeuge gravierende Widersprüche in der Aussage des Verdächtigen aufdeckt.129 Dagegen kann ein niedriger Verkaufspreis bei 122
Vgl. dazu auch BGHSt 51, 371. Schumann, GA 2010, 714. 124 Anders Roxin, JR 2008, 17, der fälschlich von einem „Ermessensspielraum“ ausgeht. 125 BGH(Z), NStZ 1988, 511; BGHSt 38, 228; BGHSt 53, 114; BGH StV 2010, 5; BGH NStZ 2008, 48; BGH NStZ-RR 2004, 368; BGH StraFo 2004, 241 f.; BGH NStZ-RR (B) 2002, 67; BGH NJW 1994, 2907; AE-EV (Fn. 10), S. 97; Rogall, NStZ 1997, 400; anders z. B. Grosjean (Fn. 33), S. 64 ff., 71 m.w.N. 126 Eine andere Frage ist natürlich, ob eine Überschreitung des Beurteilungsspielraums bei der Inkulpation früher und häufiger anzunehmen ist als bei der Einleitung des Strafverfahrens. Doch mag das hier auf sich beruhen. 127 Vgl. BGH NStZ-RR 2004, 368 (369): Der mitfahrende OStA kondolierte der Angeklagten – was er bei Vorliegen eines Verdachtes gegen sie nach eigenem Bekunden nicht getan hätte –; außerdem war die Angeklagte auf der Polizeiwache unbeaufsichtigt und konnte ihr Mobiltelefon uneingeschränkt benutzen; vgl. ferner BGH NStZ-RR 2012, 50: Der herbeigerufene Rechtsanwalt sah den Angeklagten bei dessen Polizeivernehmung nicht als Beschuldigten an und entfernte sich, weil er anwaltlichen Beistand nicht mehr für erforderlich hielt. 128 BGH NStZ-RR (B) 2002, 67. 129 BGH NJW 1994, 2907. 123
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einer Ware noch keinen Betrugsverdacht hervorrufen, weil es für den niedrigen Preis auch gute Gründe geben kann (z. B. zwischenzeitliche Beschädigung der Ware).130 Die Rechtslage, so wie sie vorstehend zur Darstellung gelangt ist, wird in der Literatur als wenig befriedigend für die Gewährleistung der Rechte des Beschuldigten empfunden.131 Vor dem Hintergrund eines gegenüber dem Anfangsverdacht gesteigerten Inkulpationsverdachts bei gleichzeitiger Gewährung eines Beurteilungsspielraums wird die Gefahr einer zu späten Inkulpation („inculpation tardive“) beschworen, die eine unerwünschte Selbstbelastung zur Folge haben könnte. Diese Gefahr ist in der Rechtsprechung des BGH und der Untergerichte aber keineswegs verkannt worden.132 Wie ernst sie zu nehmen ist, hängt davon ab, wie man die Versetzung in den Beschuldigtenstand prozessual konfiguriert und welche Schutzmechanismen in Fällen fehlerhafter Inkulpation greifen.133 Es wird sich zeigen, dass eine sachgerechte Lösung dieser Fragen unangemessene Ergebnisse verhindert.134 Im Übrigen darf man nicht außer Acht lassen,135 dass ja auch eine zu frühe Beschuldigung (inculpation hâtive) die Interessen des Betroffenen beeinträchtigen kann.136 Aus diesem Grunde bedeutet es eine Verkürzung der Interessenlage, wenn Roxin137 den Beschuldigtenbegriff einseitig in eine funktionale Beziehung zur Selbstbelastungsfreiheit (§ 136 StPO) bringt. Wie Fincke138 bereits zutreffend ausgeführt hat, geht es bei der Beschuldigtenstellung um die Position eines Prozesssubjekts (dazu sogleich) und nicht um einzelne Aspekte dieser Rechtsstellung wie z. B. das Schweigerecht, die nur bei bestimmten Prozesshandlungen relevant werden. Eine Beschuldigtenstellung „für einzelne Prozesshandlungen“ gibt es gerade nicht.139
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BGH StraFo 2004, 241 (242). Vgl. Schumann, GA 2010, 712 ff.; Roxin, FS Schöch, 2010, S. 828 ff., 830 ff. 132 Vgl. dazu näher unten IV. 133 Fincke (ZStW 93 [1983], 964) geht davon aus, dass ein Interesse des Ermittlers an einer verzögerten Inkulpation nicht bestehen kann, weil die Kombinationsformel der h.L. ihm keine Einflussmöglichkeit belässt. 134 Tatsächlich sind mir aus der Rechtsprechung keine Fälle bekannt, die als deutliche Fehlentscheidung zu kritisieren wären. 135 Was aber überwiegend leider doch geschieht. 136 Richtig Fincke, ZStW 95 (1983), 968. 137 Roxin, FS Schöch, 2010, S. 827 ff. 138 Fincke, ZStW 95 (1983), 920. 139 Fincke, ZStW 95 (1983), 920. 131
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III. Die Inkulpation 1. Die Inkulpation als prozessuale Zuweisung einer Prozesssubjektsrolle Die Fassung eines Inkulpationsverdachtes verpflichtet den verantwortlichen Ermittler zur unverzüglichen140 Inkulpation der von dem Verdacht betroffenen Person. Strukturell verhält es sich damit ganz genauso wie beim Schöpfen eines Anfangsverdachts (oben B. III.). Der Inkulpationsverdacht ist somit kein Merkmal des Beschuldigtenbegriffs oder der Inkulpation, sondern nur Voraussetzung der Pflicht zur Inkulpation.141 Das zuständige Strafverfolgungsorgan hat also dann, wenn es der Überzeugung ist, dass die Verdachtslage einen Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht hat, der die Täterschaft einer bestimmten Person als vernünftige und naheliegende Hypothese ausweist, eben diese Person zu inkulpieren.142 Sie muss also den Entschluss fassen, die weiteren Ermittlungen und Maßnahmen der Sachaufklärung gegen diese Person zu richten. Insoweit ist es richtig und jedenfalls nicht anders zu konstruieren, als dass die Inkulpation im Ausgangspunkt auf einer Entscheidung (einem Entschluss) des zuständigen Strafverfolgungsorgans beruht.143 Man mag dies als „Willensakt“ bezeichnen, auch wenn in Rechnung gestellt werden muss, dass gerade diese Wortwahl Missverständnisse geradezu herausgefordert hat. Die Inkulpation ist als Prozesshandlung jedenfalls immer willensgesteuert und kein Produkt des Zufalls. Nun handelt es sich bei dieser Form der Entschlussfassung wie bei der Schöpfung eines Anfangsverdachts um einen innerpsychischen Vorgang, der nicht nach außen in Erscheinung tritt. Als solcher ist er unbeachtlich und folgenlos. Prozessuale Realität und Wirkung (Beachtlichkeit) kann er erst erlangen, wenn er in Prozesshandlungen Gestalt gewinnt, die der Verifizierung oder Falsifizierung des Inkulpationsverdachts dienen, wenn also einer der Verdachtsschöpfung nachfolgenden Untersuchungshandlung die Hypothese zugrunde liegt, dass die in Rede stehende Person Täter der aufzuklärenden Straftat ist,144 wenn also die Untersuchungshandlung Ausdruck dafür ist, dass dem Betroffenen „die Straftat zur Last gelegt wird“, mag ihm das auch noch nicht eröffnet worden sein (vgl. §§ 136 Abs. 1 S. 1, 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 1).145 Es findet also ein Rückschluss von äußeren Tatsachen auf eine innere Tatsache statt, ein Vorgang, der forensisch sicher nicht völlig ungewöhnlich, sondern geradezu – wie z. B. bei der Vorsatzbeurteilung – geradezu die Regel ist. 140 Eisenberg (Fn. 4), Rn. 506a; BGH(Z), NStZ 1988, 511. Zu den im Ermittlungsverfahren zu beachtenden Verfahrensgrundsätzen näher SK-StPO/Wohlers, § 160 Rn. 42 ff. 141 Vgl. Grosjean (Fn. 33), S. 63 ff. (zur mangelnden Trennung dieser Fragen durch den BGH). 142 Fincke, ZStW 95 (1983), 945 ff. 143 Fincke, ZStW 95 (1983), 920, 945. 144 Zutreffend Fincke, ZStW 95 (1983), 946. 145 Ich verzichte hier auf eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine „Vollendung“ der Inkulpation zu erfolgen hat, wie das Fincke annimmt, vgl. Fincke, ZStW 95 (1983), 952 ff.; dagegen SK-StPO-Rogall, Vor § 133 Rn. 35.
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Von diesem Ausgangspunkt her ist weder eine rein subjektive146 noch eine rein objektive147 Beschuldigtentheorie zu halten. Auf eine idealtypische objektive Verdachtsbeurteilung kann es schon deshalb nicht ankommen, weil die Verdachtsschöpfung stets einem bestimmten Strafverfolgungsorgan in einer konkreten Prozessrechtslage zugewiesen ist. Der Verdachtsgrad kann sich im Laufe der Zeit auch ändern, so dass sich dann nach der objektiven Theorie wechselnde Verfahrenspositionen ergäben. Man denke nur an den oben geschilderten Fall, in dem die Gerichte und auch die Staatsanwaltschaft zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangt waren. Es geht aber bei der Beschuldigtenstellung um die Stellung eines Prozesssubjekts und hierfür bedarf es rechtssicherer Zuweisungskriterien, die nur in einem Externum gefunden werden können, und zwar in einer Rollenzuweisung durch das jeweils zuständige Organ.148 Wie sich ein außenstehender Beobachter verhalten hätte, ist vielleicht für eine Rechtskontrolle, nicht aber für die Zuweisung selbst relevant. Es ist deshalb richtig, wenn die h.M.149 für die Versetzung in den Beschuldigtenstand eine Prozesshandlung im Sinne eines Inkulpationsaktes fordert und sich von rein subjektiven oder objektiven Erklärungsschemata löst. Der 2. Leitsatz der Entscheidung BGHSt 10, 8 trifft somit genau ins Schwarze, wenn es dort heißt, dass die Eigenschaft als Beschuldigter davon abhängig sei, dass das Verfahren von dem zuständigen Organ gegen ihn betrieben werde. Die Kritik Schumanns150 gegen diese Betrachtungsweise ist nicht berechtigt. Ihrer Auffassung nach leidet BGHSt 10, 8 unter einem Begründungsmangel, weil die dort herangezogenen Entscheidungen des RG einerseits nur den Mitbeschuldigtenbegriff und andererseits nur Vorgänge und Prozessstadien nach Abschluss des Vorverfahrens (Anklageerhebung, Hauptverhandlung) betroffen hätten.151 Aber diese Einwände sind nicht stichhaltig. Denn warum sollte man nicht von Spezialfällen der Inkulpation – und darum handelt es sich ja ersichtlich152 – auf ihren Grundfall zurückschließen können? Die Kritik ist umso weniger verständlich, als die Autorin selbst konzediert, dass die Begründung der Beschuldigteneigenschaft ein Tätigwerden bzw. einen Akt der Strafverfolgungsorgane – also offenbar eine Prozesshandlung in obigem Sinne – voraussetzt.153 Das ist ersichtlich auch die Meinung Roxins, der am Anfang seines Festschrift-Beitrages schreibt:154 „Und sicher setzt die Stellung eines Beschuldigten immer voraus, dass bei den Strafverfolgungsbehörden der Wille zur Verfolgung 146
Zu dieser Theorie vgl. SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 26 ff. Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 22. 148 Eine Rollenzuweisung durch die Polizei, die „mit Außenwirkung“ gegen eine Person als Beschuldigten erfolgt ist, bindet auch die Staatsanwaltschaft, vgl. BGH, BGHR StPO § 136 – Beschuldigter 1. 149 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 4. 150 Schumann, GA 2010, 700 ff., 707 ff. 151 Schumann, GA 2010, 702 ff. 152 Zum Mitbeschuldigtenbegriff vgl. SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 51 ff. 153 Schumann, GA 2010, 714. 154 Roxin, FS Schöch, 2010, S. 825. 147
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einer potentiellen Straftat vorliegt und sich in Ermittlungshandlungen manifestiert.“155 Dass Roxin diese Erkenntnis später wieder beiseiteschiebt, ist bedauerlich. Die Richtigkeit von der h.M. geteilten Ansicht folgt also zwingend daraus, dass die Inkulpation eine Versetzung in den Beschuldigtenstand bewirkt und damit die Zuweisung einer Prozessrolle impliziert.156 Dieser Vorgang kann nur von einem Strafrechtspflegeorgan in Gang gesetzt werden, das berechtigt ist, eine derartige Rollenzuweisung vorzunehmen. Das muss umso mehr gelten, als selbst der Tod eines Beschuldigten das Verfahren nicht beendet, sondern die Prozessorgane dazu zwingt, das Verfahren in einem actus contrarius einzustellen.157 2. Die Inkulpationshandlung Die Fassung eines Inkulpationsverdachts verpflichtet das die Ermittlungen führende Prozessorgan dazu, den Verdächtigen zu inkulpieren, d. h. eine Handlung vorzunehmen, die seiner strafrechtlichen Verfolgung dient. Dazu ist jedes Verhalten geeignet, das der Erforschung des Sachverhalts und der Ermittlung der Tatbeteiligung dient.158 Die Inkulpation ist formlos und nicht an bestimmte Exekutivmaßnahmen gebunden.159 Die Einleitung eines (förmlichen) Ermittlungsverfahrens oder die Ladung einer Person zur Vernehmung als Beschuldigter ist zweifellos ein eindeutiger Ausdruck des Willens, diese Person strafrechtlich zu verfolgen. Die Strafverfolgungsbehörde macht dadurch deutlich, dass sie einen Inkulpationsverdacht geschöpft hat und diesem nunmehr nachgeht. Dieser Fall einer „ausdrücklichen Inkulpation“ bereitet die geringsten Schwierigkeiten.160 Der Verfolgungswille muss aber nicht in einer ausdrücklichen Inkulpation hervortreten. Er kann vielmehr aus jedem prozessualen Verhalten gefolgert werden, das sich als Maßnahme der Verdachtsklärung deuten lässt, die Verfolgung also anscheinend „deswegen“ erfolgt, weil der Betroffene „verdächtigt“ wird. Dieser Fall der Inkulpation ist als „konkludente Inkulpation“ zu bezeichnen, geht es bei ihr doch darum, den Verfolgungswillen aus einem behördlichen Verhalten abzuleiten, das nur unter der Prämisse verständlich ist, dass eine Verdachtsklärung beabsichtigt ist. Das ist gemeint, wenn die h.L.161 auf die „steuerrechtliche 155 Die weiteren Ausführungen von Roxin lassen sich freilich nicht mehr mit diesem Ausgangspunkt vereinbaren, vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen, insbesondere zur „Verdachtsinkulpation“. 156 Eb. Schmidt, Lehrkommentar Bd. II (1957), Vor § 158 Rn. 9; SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 26. 157 Vgl. dazu BGHSt 45, 108 ff.; Kühl, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 715 ff.; SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 36. 158 Dazu gehört natürlich auch die Ermittlung entlastender Umstände, § 160 Abs. 2 StPO. 159 Fincke, ZStW 95 (1983), 948 ff.; AE-EV (Fn. 10), S. 98. 160 Vgl. BGH NStZ 1997, 398; BGH NStZ 2008, 48; Roxin, FS Schöch, 2010, S. 828 f. 161 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 4.
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Formel“162 des § 397 Abs. 1 AO verweist, wo es heißt, dass das Strafverfahren eingeleitet ist, sobald (die zuständige Behörde) eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat strafrechtlich vorzugehen.163 Diese Formel geht nicht über den Gehalt des früheren Art. 37 Abs. 1 der StPO für den Kanton Schaffhausen vom 15. 12. 1986164 hinaus, demzufolge Beschuldigter ist, „wer von einem Organ der Strafrechtspflege verdächtigt und deswegen verfolgt wird.“ Eine konkludente Inkulpation liegt in diesem Sinne vor, wenn prozessuale Maßnahmen beantragt oder vorgenommen werden, die nur gegenüber Beschuldigten zulässig sind.165 Sie ist aber hierauf nicht beschränkt.166 Auch aus der Art einer Frage,167 „aus dem Ziel, der Gestaltung und den Begleitumständen der Vernehmung“,168 aus einem Antrag auf richterliche Zeugenvernehmung,169 aus einem Antrag auf Durchsuchung und Beschlagnahme, wenn und soweit er einen Verfolgungswillen verlautbart170 oder aus sonstigen Verhaltensweisen, die als Verfolgungsaktivität zu deuten sind (z. B. die Nacheile und Beobachtung einer verdächtigten Person),171 lassen den Schluss auf eine Inkulpation zu. Es geht bei der konkludenten Inkulpation nämlich um nichts anderes als um die Feststellung des Sinnausdrucks eines behördlichen Verhaltens, also um dessen objektive Deutung. Es kommt daher auch nicht entscheidend darauf an, wie sich dieses Verhalten aus der Sicht des Betroffenen darstellt, also etwa darauf, ob er sich als Beschuldigter verfolgt fühlt.172 Ebenso wenig ist von Bedeutung, wie der zuständige Ermittler seine Verfolgungsaktivität einschätzt, ob ihm also etwa bewusst ist, dass er eine Verfolgungshandlung ausführt. Seine Vorstellung,
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So wird sie von Roxin (FS Schöch, 2010, S. 824) „wegen ihrer Herkunft“ genannt. Vgl. dazu auch AE-EV (Fn. 10), S. 98 m.w.N. aus der steuerrechtlichen Literatur. 164 Schaffhauser Rechtsbuch, Band IV, Ordnungsnummer 373. 165 BGHSt 51, 370; BGH StV 2010, 5; Roxin, FS Schöch, 2010, S. 829. 166 Näher dazu SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 32 m.w.N. 167 BGHSt 38, 228. 168 BGHSt 51, 370, 373; BGH NStZ 2008, 48. 169 Vgl. dazu BGH, BGHR StPO § 136 – Beschuldigter 1: „Aufgrund der vorangegangenen polizeilichen Vernehmung der Zeugin H war bereits bekannt, daß deren Angaben den Beschwerdeführer und den S. erheblich belasteten. Die von der Strafverfolgungsbehörde erwirkte richterliche Vernehmung konnte deshalb nur den Zweck haben, einen Beweis gegen diese beiden Personen zu sichern.“ Besonders die Formulierung „konnte … nur den Zweck haben …“, entspricht ganz dem hier entwickelten Prüfungsschema. 170 Dazu, dass derartige Anträge nach §§ 102, 94 StPO nicht immer inkulpativ sind, vgl. Rogall, NStZ 1997, 400; SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 23; Grosjean (Fn. 33), S. 102 f. Nach Fincke (ZStW 95 [1983], 951) soll es allerdings unter den Zwangsmaßnahmen keine einzige geben, die generell inkulpativ wirkt. 171 HansOLG Hamburg StV 1995, 588; OLG Celle, Beschl. v. 23. 07. 2012 – 31 Ss 27/12 – juris; zu diesen Fällen ausführlich unten IV. 1., 2. 172 Anders anscheinend die Rechtsprechung, vgl. BGHSt 38, 228; BGH StV 2010, 5. 163
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sich außerhalb des repressiven Bereichs zu befinden oder dem Betroffenen nicht als Beschuldigtem zu begegnen, wäre als „protestatio facto contraria“173 unbeachtlich.174 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Kritik an der „steuerrechtlichen Formel“ des § 397 Abs. 1 AO als vollkommen unberechtigt. Zum einen wird sie zu eng interpretiert, wenn man sie allein auf die zu prüfende Maßnahme bezieht und deren Begleitumstände ausblendet.175 Denn natürlich können sämtliche Begleitumstände der jeweiligen Ermittlungshandlung herangezogen werden, um festzustellen, ob sie auf die Verfolgung einer bestimmten Person gerichtet war.176 Und die Formel ermöglicht eine Lösung auch in Fällen, in denen der zuständige Beamte eine Ermittlungsform wählt, die der Tarnung seines Verfolgungswillens dienen soll.177 Gegen die Anwendung des Rechtsgedankens des § 397 Abs. 1 AO spricht auch nicht ihre Verortung im Steuerstrafverfahrensrecht und ihre dortige Abgrenzungsfunktion zwischen Besteuerungsverfahren und Steuerstrafverfahren.178 Dieses Problem ist im rein strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zwar nicht gegeben, doch handelt es sich bei der Abgrenzung zwischen der Stellung eines Beschuldigten und der eines verdächtigen Zeugen durchaus um einen vergleichbaren Sachverhalt: nämlich um die Frage, ob einer Person die Aussage- und Mitwirkungsfreiheit zukommt oder ob sie verpflichtet ist, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken.179 Für eine „faktische Inkulpation“ besteht nach alledem entgegen Roxin180 kein Bedürfnis. Roxin hat hier Fälle im Auge, in denen die Beamten den Vernommenen offenbar in der Zeugenrolle belassen wollten, ihn aber zugleich für den wahrscheinlichen Täter hielten und ihn als solchen zu überführen trachteten.181 Aber wenn das so war, diente die Vernehmung eben der Verdachtsbestätigung und war schon deshalb inkulpativ, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sich die Ermittler in einer Zeugenvernehmung wähnten.182 Ein solcher Fall liegt auch dann vor, wenn Polizeibeamte eine spontane selbstbelastende Erklärung (pauschales Geständnis einer schweren 173
Vgl. Roxin, JR 2008, 17. Vgl. dazu Rogall, NStZ 1997, 399; ebenso AE-EV (Fn. 10), S. 99: „Unbeachtlicher geheimer Vorbehalt“. 175 Das tut aber etwa Bosch (Fn. 15), S. 158 ff. 176 SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 32; so auch BGHSt 51, 371; BGH NStZ 2008, 48. 177 SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 33; Löwe/Rosenberg/Erb, 26. Aufl. 2008, § 163a Rn. 11; Fincke, ZStW 95 (1983), 936; Grosjean (Fn. 33), S. 38, 74; Schumann, GA 2010, 70; Roxin, JR 2008, 17; Mikolajczyk, ZIS 2007, 565 (567). Wenn Bosch (Fn. 15), S. 160 dieser Sichtweise widerspricht, so übersieht er, dass sich der Beamte an dem festhalten lassen muss, was er getan hat. Auf seine persönliche Beurteilung kommt es nicht an, solange er nur am Täterschaftsnachweis gearbeitet hat. 178 So aber Bosch (Fn. 15), S. 160 f.; Roxin, FS Schöch, 2010, S. 827. 179 Zutreffend Grosjean (Fn. 33), S. 50 ff.; übereinstimmend AE-EV (Fn. 10), S. 98. 180 Roxin, FS Schöch, 2010, S. 830 ff. 181 Roxin, FS Schöch, 2010, S. 830 f. 182 Roxin hat ja selbst (vgl. JR 2008, 179) richtig auf die Unbeachtlichkeit einer subjektiven „Inkulpationsverweigerung“ hingewiesen. 174
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Straftat) entgegennehmen und sich dann anschließend „über eine beträchtliche Zeitspanne Einzelheiten der Tat berichten lassen, ohne den von ihnen ersichtlich als Beschuldigten behandelten Täter auf sein Aussageverweigerungsrecht hinzuweisen.“183 Im Ergebnis sind somit alle Prozesshandlungen inkulpativ, die sich ausdrücklich oder konkludent als Verfolgungsmaßnahme ausweisen. Sie sind als solche auch einer objektiven Beweisführung zugänglich. Das gilt für die Ermittlungsmaßnahme als solche, aber auch auch für ihren Grund, denn es besteht die Möglichkeit, dienstliche Erklärungen der Ermittler darüber herbeizuführen, was der Grund für die Maßnahme war und welcher Zweck damit verfolgt wurde. 3. Willkürausnahme und Verdachtsinkulpation Sind danach nur die ausdrückliche und die konkludente Inkulpation als Inkulpationsformen anzuerkennen, so bedarf es doch noch eines Eingehens auf die entgegenstehende bzw. weitergehende Rechtsprechung des BGH, aus der sich ergibt, dass bei missbräuchlicher Vorenthaltung der Beschuldigtenrechte – also bei Vermeidung einer an sich gebotenen Inkulpation – ein Statuserwerb stattfinde. Diese sog. Missbrauchs- oder Willkürausnahme geht auf BGHSt 10, 8 (12) zurück, wo es heißt, dass ein sachfremdes Verhalten der Strafverfolgungsorgane bei der Inkulpation, das in der willkürlichen Vorenthaltung der Beschuldigtenstellung bestehe, dem Beschuldigten nicht die Eigenschaft eines Zeugen verleihen könnte. In modernerer Form wird dieser Rechtssatz in der BGH-Rechtsprechung heute so formuliert, dass die Grenzen des Beurteilungsspielraums überschritten seien – mithin ein Verfahrensfehler vorliege –, wenn trotz starken Tatverdachts nicht von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen wird.184 Unter dem Gesichtspunkt der Umgehung der Beschuldigtenrechte könne in Abhängigkeit von der objektiven Stärke des Tatverdachts gleichwohl ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO vorliegen.185 Roxin186 zieht daraus den Schluss, dass es eine vierte Inkulpationsform, nämlich die sog. Verdachtsinkulpation gebe. Dem ist jedoch zu widersprechen. Eine „Verdachtsinkulpation“ ist schon deshalb nicht anzuerkennen, weil ein Verdacht ohne eine Person, die verdächtigt bzw. eine Inkulpation ohne einen Inkulpierenden nicht denkbar ist.187 Sie ist auch nicht als Ausnahme von dem Grundsatz, dass der Statuserwerb eine Inkulpationshandlung als prozessualen Zuschreibungsakt voraussetzt,188 anzuerkennen.189 Dafür besteht nämlich 183
BGH StV 2010, 5. Vgl. dazu etwa BGHSt 37, 48; 38, 228; 53, 114; BGH NJW 1994, 2907; BGH NStZ 2008, 48 f.; BGH NStZ-RR 2012, 49. 185 BGHSt 51, 371; BGH NStZ 2008, 48. 186 FS Schöch, 2010, S. 833 ff. 187 Fincke, ZStW 95 (1983), 923. 188 So aber Beulke (Fn. 1), Rn. 112 und Geppert, FS Schröder, 2006, S. 681. 184
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gar kein Bedürfnis. Sollte der Fall einmal – wenig wahrscheinlich – so liegen, dass der Schöpfung eines Inkulpationsverdachtes tatsächlich keine Inkulpationshandlung nachgefolgt ist, so richtet sich der rechtliche Vorwurf gegen ein pflichtwidriges Unterlassen und damit gegen die pflichtwidrige Vorenthaltung des Beschuldigtenstatus.190 Der Vorwurf besteht hier nicht etwa darin, dass eine Beschuldigtenbelehrung fehlt. Denn diese setzt ja den Statuserwerb voraus.191 Vielmehr kann es nur darum gehen, die Rechtsfolgen der pflichtwidrigen Versäumung der Inkulpation zu bestimmen. Sie können, soweit der Betroffene eine Aussage gemacht hat, ersichtlich nur in deren Nichtverwertung bestehen.192 Anders als BGH meint, bedarf es dafür nicht der Heranziehung des Gedankens der Umgehung, zumal diese wohl ein entsprechendes Bewusstsein bzw. eine entsprechende Absicht auf Seiten der Ermittler voraussetzen würde.193 Der Beschuldigte wird jedenfalls durch das Verwertungsverbot hinreichend geschützt. Dass es eine reine Verdachtsinkulpation nicht geben kann, zeigt sich auch an dem umgekehrten Fall einer Inkulpation ohne Inkulpationsverdacht, d. h. einer – unzulässigen194 und ggf. strafbaren (§ 344 StGB) – Überschreitung des Beurteilungsspielraums in die umgekehrte Richtung. Für den Statuserwerb als Beschuldigter bleibt auch hier nur maßgeblich, ob der Ermittler zu einer Verfolgungshandlung angesetzt hat, mag dieser auch kein belastbarer Verdacht zugrunde gelegen haben.195 Der Inkulpationsverdacht ist nicht Bestandteil der Inkulpation, sondern eben nur deren regelmäßige Voraussetzung.196 Auch das entspricht strukturell der Situation bei Einleitung eines Strafverfahrens.
IV. Fallbeispiele Die folgenden Fallbeispiele aus der Rechtsprechung zeigen, dass die Praxis regelmäßig zu Ergebnissen gelangt, die als Bestätigung der h.L. verstanden werden können und weder unter dem Gesichtspunkt der Beschuldigteninteressen noch unter dem 189
Zur Verfehltheit der „Missbrauchsausnahme“ vgl. Grosjean (Fn. 33), S. 44 ff.; Schumann, GA 2010, 707, 712; Mikolajczyk, ZIS 2007, 567; SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 28; s. auch Bosch (Fn. 15), S. 156 Fn. 133. Offen bleiben kann hier, ob man die Bedeutung der Missbrauchsklausel auf das materielle Recht beschränken kann (so SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 28) oder nicht (so Grosjean [Fn. 33], S. 46 f.). 190 SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 33. Richtig erkannt wird dies auch vom AE-EV (Fn. 10, S. 99 f.). Es wird aber nicht ganz klar, worin die prozessualen Folgen dieser Vorenthaltung bestehen sollen. 191 Mikolajczyk, ZIS 2007, 567; SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 33 Fn. 136. 192 SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 33, 17. 193 Vgl. dazu auch BGH StV 2010, 5. 194 Vgl. AE-EV (Fn. 10), S. 96 f. 195 Zutreffend Geppert, FS Schroeder, 2006, S. 681; Grosjean (Fn. 33), S. 57 ff.; vgl. ferner § 157 Abs. 3 AE-EV, zur Begründung AE-EV (Fn. 10), S. 96 f.; Rogall, NStZ 1997, 400 mit dem Hinweis darauf, dass allfällige Beweisergebnisse einem Verwertungsverbot unterliegen. 196 Grosjean (Fn. 33), S. 63.
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des Strafverfolgungsinteresses Bedenken erwecken. Sie zeigen auch, dass die Falllösung in Übereinstimmung mit den oben gewonnenen Erkenntnissen nur eine doppelstufige Prüfung erfordert: (1) Hat das zuständige Strafverfolgungsorgan einen Straftatverdacht geschöpft? (2) Hat das zuständige Strafverfolgungsorgan prozessuale Schritte oder Maßnahmen zur Abklärung dieses Verdachts unternommen? Auf die Frage, ob die Verdachtsprüfung zu Recht erfolgt ist, kommt es nicht für die Zuweisung der Prozessrolle, sondern nur für die Beantwortung der Frage an, ob die Zuweisung zulässig oder unzulässig ist. 1. OLG Celle, Beschl. v. 23. 07. 2012 – 31 Ss 27/12 (BeckRS 2012, 18009) Der Angeklagte befuhr mit seinem Pkw eine Straße, auf der ebenfalls die Polizeibeamten K und B in ihrem Dienstfahrzeug unterwegs waren. Ihrer Auffassung zufolge hatte der Angeklagte ein auffällig rotes Gesicht, weshalb sie den Verdacht hegten, dass der Angeklagte sein Fahrzeug alkoholisiert fahre. Sie beschlossen daher, ihre Annahme im Rahmen einer allgemeinen Verkehrskontrolle (§ 36 Abs. 5 StVO) zu überprüfen. Zu diesem Zweck gaben sie mehrfach mit den Einrichtungen ihres Polizeifahrzeugs Signale, um den Angeklagten zum Anhalten zu veranlassen. Der Angeklagte, der dies bemerkt hatte, befolgte die Stopp-Signale aufgrund einer negativen Einstellung gegenüber der Polizei nicht und fuhr zügig weiter. Es gelang dem Angeklagten, sein Grundstück zu erreichen, wo er sein Auto abstellte. Die Polizeibeamten stellten ihn auf seinem Grundstück und eröffneten ihm, dass sie eine allgemeine Verkehrskontrolle durchführen wollten und forderten ihn auf, sich auszuweisen und Fahrzeugpapiere und Führerschein vorzuweisen. Der Angeklagte schrie die Beamten daraufhin an und forderte sie auf, sein Grundstück zu verlassen. Diese versuchten, ihm den Zweck ihrer auf die Durchführung einer allgemeinen Verkehrskontrolle gerichteten Anwesenheit zu erklären, doch kamen sie gegenüber dem schimpfenden und schreienden Angeklagten, der sich immer noch weigerte, sich auszuweisen, kaum zu Wort. Es kam dann bei dem Versuch der Beamten, dem Angeklagten seine Papiere aus der von ihm mitgeführten Brusttasche zu entnehmen, zu einer Rangelei, an deren Ende der Angeklagte zu Fall gebracht und nach einer Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter wegen des Verdachts des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung und Beleidigung gefesselt wurde. Eine Belehrung im Hinblick auf den Verdacht einer Trunkenheitsfahrt erfolgte nicht und wurde von den Beamten auch nicht versucht. Nach Verbringung auf die Dienststelle ergab sich, dass der Angeklagte keinen Alkohol getrunken hatte und auch nicht unter Drogeneinfluss stand. Der Angeklagte konnte sodann das Polizeirevier verlassen und zu Fuß nach Hause gehen. Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe und wegen Missachtung des polizeilichen Anhaltesignals zu einer Geldbuße verurteilt. Eine Verurteilung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und wegen Körperverletzung erfolgte nicht, weil das Amtsgericht aufgrund der Annahme eines nicht rechtmäßigen Vorgehens der Polizeibeamten vom Vorliegen einer Notwehrlage ausging. Im Berufungsverfahren hat das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts teilweise aufgehoben und den Angeklagten auch
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wegen tateinheitlich begangener Körperverletzung und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt. Die Revision des Angeklagten führte u. a. zu einer Berichtigung des Schuldspruchs insofern, als der Angeklagte nur wegen Beleidigung schuldig gesprochen wurde. Die verhängte Geldbuße blieb bestehen. Das OLG Celle hatte zu klären, ob die Diensthandlung der Polizeibeamten (formell) rechtmäßig war (§ 113 Abs. 2 StGB). Das hängt davon ab, ob die wesentlichen Förmlichkeiten der Diensthandlung eingehalten waren. Dazu gehört auch die ordnungsgemäße Belehrung des Betroffenen. Das OLG geht davon aus, dass die Polizeibeamten K und B den Verdacht der Begehung einer Verkehrsstraftat oder Verkehrsordnungswidrigkeit geschöpft hatten und den Angeklagten deshalb zum Anhalten veranlassen wollten. In einem solchen Falle sei indessen für eine Präventivmaßnahme nach § 36 Abs. 5 StVO kein Raum mehr. Vielmehr seien die polizeilichen Maßnahmen als repressives Einschreiten zu beurteilen mit der Folge, dass der Angeklagte über den Verdacht des Fahrens unter Alkoholeinfluss hätte belehrt werden müssen. Das Unterbleiben der erforderlichen Belehrung führe zur Rechtswidrigkeit der Diensthandlung.
Ob der Umstand, dass ein Fahrzeugführer ein „auffällig rotes Gesicht“ hat, den Schluss zulässt, dass eine Fahrt unter Alkoholeinfluss stattfindet, dürfte mangels weitergehender Indizien (Fahrfehler etc.) grundsätzlich zu verneinen sein, denn nach der Lebenserfahrung kommen ersichtlich auch andere Ursachen (z. B. Bluthochdruck, Sonnenbrand, Urlaubsbräune) in Betracht. Doch kann dies dahinstehen. Denn nach den Feststellungen des Tatrichters hegten die Polizeibeamten den Verdacht, es mit einer Fahrzeugführung unter Alkoholeinfluss zu tun zu haben, die rechtlich als Ordnungswidrigkeit oder sogar als Straftat einzustufen ist. Sie gingen deshalb von der Hypothese aus, der Angeklagte könne als Betroffener i.S.d. OWiG oder als Beschuldigter zu betrachten sein. Wenn sie dann aber den Angeklagten zur Überprüfung ihres Verdachts anzuhalten versuchten, so war dies eine Maßnahme, die „deswegen“ – d. h. zur Verdachtsklärung – erfolgte. Der Bereich des repressiven Einschreitens war damit erreicht. Der Angeklagte hätte deshalb, sobald dies möglich war, entsprechend belehrt werden müssen. Dass die Polizeibeamten in irriger rechtlicher Vorstellung davon ausgingen, präventiv tätig zu sein, ändert daran nichts. 2. HansOLG Hamburg, Beschl. v. 22. 07. 1994 – 1 Ss 61/94 (StV 1995, 588) Der wegen Vortäuschens einer Straftat verurteilte Angeklagte war zusammen mit seiner Freundin, der Zeugin N., in einem Mercedes-Pkw nach Hamburg gefahren. Er suchte morgens gegen 05.10 Uhr ein Polizeirevier auf und erstattete Strafanzeige, wobei er wahrheitswidrig angab, ihm sei hier sein Pkw, ein Porsche mit dem amtlichen Kennzeichen (…), gestohlen worden. Nach Verlassen des Reviers ging der Angeklagte – anders als dort angegeben – zu seinem Mercedes-Pkw zurück, wo seine Freundin auf ihn wartete. Die Zeugin stieg kurz aus, beide unterhielten sich und stiegen danach wieder in das Fahrzeug ein. Als sie losfahren wollten, wurden sie von vier Polizeibeamten angesprochen und als Beschuldigte belehrt. Die Polizeibeamten waren dem Angeklagten nach Verlassen des Polizeireviers gefolgt. Sie hatten Unklarheiten bei der Anzeigeerstattung festgestellt und sich deshalb entschlossen, dem Angeklagten zu folgen.
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Das OLG hat das Urteil des AG auf die Sprungrevision des Angeklagten hin aufgehoben. Das OLG erblickt einen sachlich-rechtlichen Mangel darin, dass der Vorgang der Anzeigeerstattung im Urteil des Tatrichters nicht vollständig und differenziert mitgeteilt worden sei. Darauf komme es aber zur Bestimmung des Vollendungszeitpunkts der Tat nach § 145d StGB als auch im Hinblick darauf an, ob ggf. Äußerungen des Angeklagten im Urteil verwertet worden sind, die er unbelehrt gemacht hatte. Dazu bedürfe der Feststellung, ob die Polizeibeamten konkrete Anhaltspunkte für den Verdacht des Vortäuschens einer Straftat hatten und ob sie – neben der Vorstellung, die nicht von vornherein auszuschließende Möglichkeit eines Autodiebstahls zu klären – gleichzeitig auch das Ziel verfolgten, den Angeklagten wegen einer unwahren Anzeige zu überführen. Ihr Verfolgungswille könne sich nach Lage der Dinge bereits im Entschluss der Polizeibeamten, dem Angeklagten zu folgen, aber auch schon früher während seiner laufenden Befragung manifestiert haben.
Der Umstand, dass angezeigte Diebstähle bei teuren Fahrzeugen erfahrungsgemäß oft nur vorgetäuscht sind, kann nicht bedeuten, dass jeder Anzeigeerstatter sofort als Beschuldigter zu behandeln ist.197 Hier scheint es aber so gewesen zu sein, dass die Darstellung des Angeklagten Anhaltspunkte dafür lieferte, dass er eine Straftat nur vortäuschen wollte, der Diebstahl also nur erfunden war. Wenn die Polizeibeamten danach den Entschluss fassten, dem Angeklagten nachzugehen, so ist das nur unter der Prämisse erklärlich, dass sie gegen ihn Verdacht geschöpft hatten. Das Nachgehen konnte also nur der Aufklärung einer Straftat nach § 145d StGB, aber nicht der Aufklärung einer Tat nach §§ 242, 243 StGB dienen. Vor diesem Hintergrund ist es zutreffend, jedes Verhalten nach Verdachtsschöpfung als Manifestation des Verfolgungswillens gelten zu lassen. Das konnte die Art und Weise der Befragung,198 aber auch der Entschluss zum Verlassen des Reviers gewesen sein. 3. OLG Stuttgart, Beschl. v. 27. 03. 2001 – 4 Ss 113/01 (StV 2001, 388) Nach den Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils wollte der Angeklagte auf dem Polizeirevier eine Verkehrsunfallflucht zur Anzeige bringen. Dabei nahm einer der Beamten des Polizeireviers beim Angeklagten Alkoholgeruch wahr. Die unmittelbar anschließend gestellte Frage des Polizeibeamten, ob er – der Angeklagte – sein Fahrzeug soeben selbst zum Polizeirevier gelenkt habe, bejahte der Angeklagte. Bis zu diesem Zeitpunkt war er nicht über seine Rechte als Beschuldigter belehrt worden. In der Hauptverhandlung wurden vier Polizeibeamte als Zeugen vernommen und ihre Angaben im Urteil gegen den Angeklagten, der wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr verurteilt wurde, verwertet. Das OLG hob das angefochtene Urteil auf, weil die Aussagen der Zeugen nicht hätten verwertet werden dürfen. Für die Polizeibeamten sei eine Pflicht zur Belehrung des Angeklagten als Beschuldigten in dem Moment entstanden, als sie Alkoholgeruch bei ihm wahrnahmen.
197 198
So das AG, vgl. StV 1995, 589. So jetzt auch BGHSt 51, 367 ff.
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Nach den Umständen des Falles199 stand offenbar fest, dass der Angeklagte das Polizeirevier in seinem Fahrzeug aufgesucht hatte. Als die Polizeibeamten Alkoholgeruch bei ihm feststellten, musste nach Lage der Dinge der Verdacht aufkommen, dass der Angeklagte sein Fahrzeug in einem Zustand gesteuert hatte, der als Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu beurteilen ist. Die an ihn gerichtete Frage diente der Abklärung dieses Verdachts und hatte daher die Bedeutung einer (konkludenten) Inkulpation, der eine Beschuldigtenbelehrung auf der Stelle hätte folgen müssen, weil der Angeklagte mit der Frage zum Beschuldigten geworden war. Die fehlende Belehrung macht die Aussage unverwertbar; damit ist aber – wie allgemein anerkannt ist – auch die Aussage der Verhörspersonen unverwertbar. 4. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 16. 08. 2010 – 1 SsBs 2/10 (VRS 119 [2010], 358) Der Betroffene meldete sich auf einer Polizeiinspektion, um einen Bekannten abzuholen. Der auf der Dienststelle anwesende Polizeibeamte P. gewann den Eindruck, dass der Betroffene unter Drogeneinfluss stehe. Auf seine Frage, wie er hierher gekommen sei, erklärte der Betroffene, er sei mit dem Auto gefahren. Daraufhin belehrte der Polizeibeamte den Betroffenen als Beschuldigten und setzte die Befragung fort, bei der sich der Beschuldigte in Widersprüche verwickelte. Spätere Tests ergaben das Vorliegen einer akuten Cannabis-Intoxikation zum Entnahmezeitpunkt. Das OLG hat hier keinen Verstoß gegen die Belehrungspflicht erkennen können. Die Wahrnehmungen des Polizeibeamten hätten zunächst nur auf den Einfluss von Drogen hingedeutet. Der erforderliche Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs (§ 24a Abs. 2 StVG) sei erst durch die Antwort des Betroffenen hergestellt worden. Die Wertung des Beamten, dass erst dadurch der zur Belehrungspflicht führende Verdachtsgrad erreicht worden sei, könne nicht beanstandet werden.
Im Unterschied zu der unter 3 mitgeteilten Entscheidung des OLG Stuttgart stand hier offenbar nicht fest, dass sich der Betroffene gerade mit einem Kraftfahrzeug zur Polizeiinspektion begeben hatte. Die Frage lautete deshalb auch nicht, ob er etwa „mit einem Pkw“ gekommen sei, sondern „wie“ er hierhergekommen sei. Man wird deshalb – da es hier mehrere Möglichkeiten gibt, die gleich wahrscheinlich sind – nicht annehmen können, dass die Frage auf die Verifizierung oder Falsifizierung des Verdachts abzielt, der Betroffene sei wahrscheinlich mit dem Pkw zur Dienststelle gefahren. Der Entscheidung ist deshalb zuzustimmen.
199 Dieser Fall dient auch als Grundmuster für die Referendarausbildung; vgl. dazu den bei Russack, Die Revision in der strafrechtlichen Assessorklausur, 7. Aufl. (2012), Rn. 449 mitgeteilten Fall.
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5. LG Bielefeld, Beschl. v. 29. 09. 2010, 10 Qs 404710, 10 Qs 405/10 (Kriminalistik 2011, 20) Der Beschwerdeführer hatte eine freiwillige Teilnahme an einem sog. „Massen-DNA-Test“ abgelehnt. Nach deren Durchführung stellte sich heraus, dass der Beschwerdeführer, der kein Alibi für die Tatzeit vorweisen konnte, einer von 27 weiteren Personen war, die die Abgabe einer Speichelprobe abgelehnt hatten. Der Beschwerdeführer wurde daraufhin aus seiner Wohnung geholt und unter Anwendung körperlicher Gewalt zur Polizeiwache verbracht, wo ihm eine Speichelprobe entnommen wurde. Er beantragt nunmehr die Feststellung der Rechtswidrigkeit der gegen ihn getroffenen Anordnungen. Das LG hat die Rechtswidrigkeit der Anordnungen mit der Begründung bejaht, der Beschwerdeführer sei im Anordnungszeitpunkt kein Beschuldigter i.S.d. § 81a StPO gewesen. Es habe nämlich kein Anfangsverdacht gegen ihn bestanden. Ein solcher könne nicht aus seiner Weigerung, an dem DNA-Massentest teilzunehmen, hergeleitet werden.200 Auch die Tatsache, dass er kein Alibi habe bzw. Angaben dazu verweigert habe, könnten keinen Anfangsverdacht begründen.201 Das dem Massentest zugrunde gelegte Täterprofil sei unspezifisch und nicht aussagekräftig gewesen. Ansonsten habe sich die Polizei nur auf Vermutungen stützen können, die zur Begründung eines Tatverdachts bekanntlich nicht ausreichen. Das gelte für Äußerungen des Beschwerdeführers („Meine DNA bekommt die Polizei nur über meine Leiche“) ebenso wie für Äußerungen Dritter über ihn („Ihm müsse man alles zutrauen“, er habe seine Mutter „terrorisiert“ und „tyrannisiert“).
Die Entscheidung des LG ist nur im Ergebnis, nicht aber in der Begründung richtig. Der Beschwerdeführer ist hier mit der Beantragung der schließlich auch erlassenen Anordnung nach § 81a StPO zum Beschuldigten geworden. Dieser Antrag hätte aber nicht gestellt und die Anordnung hätte nicht erlassen werden dürfen, weil es ersichtlich an einem Inkulpationsverdacht gegen den Beschwerdeführer fehlte. Die Entscheidung zeigt, dass es immer noch schwer fällt, zwischen den Voraussetzungen der Inkulpation und der Inkulpation selbst zu unterscheiden. Dies ist aber, wie erkennbar geworden ist, unbedingt erforderlich.
D. Schlussbetrachtung Die vorstehenden Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die Beschuldigteneigenschaft im Strafverfahren nur durch einen Inkulpationsakt der zuständigen Strafverfolgungsorgane erworben werden kann. Als Form der Inkulpation kommen nur die ausdrückliche und die konkludente Inkulpation in Betracht. Die konkludente Inkulpation erfasst jedes Verhalten der Strafverfolgungsorgane, das sich dem äußeren Befund nach als Verfolgungsaktivität deuten lässt. Das ist der Fall, wenn der zuständige Beamte einen Inkulpationsverdacht geschöpft hat und deshalb ermittelnd tätig 200 BVerfG NJW 1996, 1587 (1588); BVerfG NJW 1996, 3071 (3072); Rogall, NStZ 1997, 400; SK-StPO/Rogall, Stand: 46. Lfg. 2006, § 81 h Rn. 6. 201 BGHSt 49, 56 (58 ff., 60).
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geworden ist. Ob das so war, sollte sich freibeweislich ohne Weiteres feststellen lassen. Der Ermittler braucht nur danach gefragt zu werden, was er zur Aufklärung des Sachverhalts getan hat,202 warum er sich dazu entschlossen und was er sich davon versprochen hat. Sollte eine objektive Verfolgungsaktivität ausnahmsweise nicht feststellbar sein, so stellt das Unterlassen der – wegen Vorliegens eines Inkulpationsverdachtes gebotenen – Inkulpation einen Verfahrensfehler dar, der eine etwaige Aussage unverwertbar macht. Wird ein Inkulpationsakt vorgenommen, obwohl ein Inkulpationsverdacht nicht bestand bzw. nur aufgrund unvertretbarer Beurteilung bejaht wurde, so ist der davon Betroffene inkulpiert. Die Inkulpation ist wirksam,203 aber anfechtbar und unverzüglich aufzuheben. Etwaige Beweisergebnisse unterliegen einem Verwertungsverbot. Die Schutzinteressen des Beschuldigten sind bei Zugrundelegung dieses Verständnisses von Inkulpationsverdacht und Inkulpation umfassend gewahrt. Tatsächlich kann „kein Beschuldigtenbegriff der Wirklichkeit näher sein und die Besetzung der Beschuldigtenrolle der Manipulation besser entziehen als jener, der an die Tatsache der Verfolgung anknüpft“.204 Ein nach Schutzbedürfnissen und Verfahrensstadien gespaltener Beschuldigtenbegriff, der auch abwägende Elemente (!) enthalten soll,205 führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Rechtsunsicherheit. Dass der historische Gesetzgeber der RStPO einen solchen Beschuldigtenbegriff gewollt haben könnte,206 ist jedenfalls ins Reich der Legende zu verweisen.207 In der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren208 wird in Art. 2 Abs. 1 deren Anwendungsbereich so bestimmt, dass sie ab dem Zeitpunkt gilt, „zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“ Die Möglichkeit eines inkulpationsunabhängigen Erwerbs der Verfahrensrolle eines Be202
Dieser äußerliche Vorgang dürfte aber ohnehin objektiv rekonstruierbar sein. Die Verdachtsstärke ist damit entgegen Roxin (FS Schöch, 2010, S. 837) kein Element des Beschuldigtenbegriffs. Vielmehr besteht ein verdachtsunabhängiger Beschuldigtenbegriff (Grosjean [Fn. 33], S. 71 ff., 78). Bei rechtskonformer Führung des Ermittlungsverfahrens wird es freilich nur dann zu einer Inkulpation kommen, wenn der Ermittler deren Voraussetzung, nämlich den Inkulpationsverdacht, in vertretbarer Weise bejaht hat und sich deshalb zu einem Handeln aufgerufen fühlt. 204 Richtig Fincke, ZStW 95 (1983), 920. 205 In diesem Sinne Roxin, FS Schöch, 2010, S. 828. 206 So aber Roxin, FS Schöch, 2010, S. 837. 207 Zu den rechtshistorischen Grundlagen Geppert, FS Schroeder, 2006, S. 677 f.; Grosjean (Fn. 33), S. 3 ff.; SK-StPO/Rogall, Vor § 133 Rn. 9. 208 ABl. EU L 142/1 vom 1. Juni 2012. 203
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schuldigten ist dadurch jedenfalls ausgeschlossen, auch wenn es richtig ist, dass eine Differenzierung zwischen Verdächtigen und Beschuldigten hier nicht erfolgt.209 Dafür gibt es aber Gründe, die mit der Rechtsprechung des EGMR210 und damit zusammenhängen, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Rechtsstellung der Personen, die in ein Strafverfahren einbezogen werden, sehr unterschiedlich sind.211 Für den Beginn der Beschuldigtenstellung nach der StPO ist das ohne Belang. Er kann nach wie vor so bestimmt werden, wie das in diesem Beitrag dargelegt worden ist.
209
Vgl. dazu auch Löwe/Rosenberg/Gleß (Fn. 1), § 136 Rn. 10. Vgl. AE-EV (Fn. 10), S. 105 (Fall Deweer, EGMR Serie A Nr. 35, §§ 43 f.). 211 Rechtsvergleichend AE-EV (Fn. 10), S. 100 ff.; Grosjean (Fn. 33), S. 109 ff.; Cape/ Hodgson/Prakken/Spronken (Hrsg.), Suspects in Europe. Procedural Rights at the Investigative Stage of the Criminal Process in the European Union, 2007. 210
Die einzelne Zeugenaussage und das Zweifelsprinzip Von Marcelo A. Sancinetti*
I. Einführung in die Fragestellung In einer bedeutsamen Stellungnahme Wolfgang Frischs zugunsten einer umfassenden Prüfung tatrichterlicher Urteile steht die folgende Feststellung zu lesen: „Urteile mit erheblichen Defiziten im Bereich der tatsächlichen Urteilsbasis (schon auf die Sachrüge hin) aufzuheben, trägt unabweisbaren Gerechtigkeitsbedürfnissen Rechnung.“1 Seinem früheren Beitrag über den Grundsatz in dubio pro reo2 legte er außerdem eine der humanistischen Tradition eigene Wertentscheidung zugrunde, wonach die Verurteilung eines Unschuldigen ein wesentlich höheres Unrecht darstelle, als der Freispruch eines Schuldigen3. Frisch gibt nicht an, bei welcher Anzahl der freigesprochenen – oder von vornherein nicht verfolgten – Schuldigen jenes Maß liege, das die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu tolerieren bereit wäre, solange ein Unschuldiger nicht verurteilt werde. Von dieser Warte aus unterscheidet sich seine Stellungnahme nicht von der Maxime Trajans4. Aber bedeutet dies, dass die Straflosigkeit zweier Schuldiger der Bestrafung eines Unschuldigen ebenfalls vorzuziehen wäre? Möglicherweise ja. Erscheint damit aber zugleich die Straflosigkeit von zehn oder einhundert Schuldigen vorzugswürdig? Diese Fragen sind mit der Sorge um die „Befreiung des Gerechten“ verwandt, die wahrscheinlich in unserer Kultur erstmalig in der bewegenden „Fürbitte Abrahams“5 vor Gott im Umfeld einer „kollektiven Verantwortlichkeit“ in Erscheinung tritt, als dieser im Begriff ist, die Einwohner Sodoms zu vernichten: „Willst Du wirklich den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?“6 Abraham eröffnet seine Bitte um Ver* Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Buenos Aires. Deutsche Fassung von Thomas Wostry (Düsseldorf). 1 SK-StPO/Frisch, Loseblattausgabe, 37. Lfg. (März 2004), § 337 Rn. 119. 2 Frisch, FS Henkel, 1974, S. 273 ff. 3 Frisch, FS Henkel, 1974, S. 284 f. 4 Ulpian, D. 48, 19, 5: „Satius enim esse impunitum relinqui facinus nocentis quam innocentem damnari“, vgl. Schmoeckel, Humanität und Staatsraison – Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, 2000, S. 433 (mit Fn. 155). 5 Gen 18, 23 – 32. 6 Gen 18, 23.
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gebung damit, dass es möglicherweise 50 Rechtschaffende in der Stadt gebe, und tritt an dieser Stelle in von Huldigungen begleitete Verhandlungen ein, die so lange „fortschreiten“, bis er schließlich zu einer Anzahl von 10 Rechtschaffenden gelangt. Sowohl bei der Frage nach einer kollektiven als auch einer individuellen Verantwortlichkeit ist es möglich, auf verschiedene Weise Berechnungen darüber aufzustellen, bis zu welchem Grade man einen Effizienzverlust innerhalb des strafrechtlichen Systems hinzunehmen bereit wäre, um die Unschuldigen im Gegenzug nicht zu schädigen. Denn bekanntlich ist kein Rechtssystem von derartiger Leistungsfähigkeit, dass es allein in Bezug auf die tatsächlich Schuldigen Strafurteile hervorzubringen vermöchte, das heißt: ohne dass zugleich auch einige Unschuldige mit gewisser Häufigkeit verurteilt würden. Es lässt sich mit anderen Worten also festhalten: Die Anzahl jener Schuldigen, deren Straffreiheit das Rechtssystem zu tolerieren bereit ist, bedarf der Begrenzung. In dem berühmten Urteil Coffin v. United States7, in dem der Supreme Court der Vereinigten Staaten die Unschuldsvermutung als grundlegende Wertentscheidung des common law identifizierte – die in Wahrheit schon für antike Präzedenzfälle galt, obschon sie nunmehr auf Quellen des römischen Rechts gestützt wurde –, wird auf einige Autoren des angelsächsischen Rechtskreises verwiesen, die tatsächlich Angaben zu der Anzahl jener Schuldigen machen, deren Straffreiheit vorzugswürdig sei, wenn dafür nur kein Unschuldiger bestraft werde: 20 (Fortescue8), 10 (Blackstone9), 5 (Lord Hale10). Darüber hinaus gibt es weitere Formulierungen des für angemessen erachteten „Verhältnisses“ oder der entsprechenden „Quote“ – so auch ein Konzept, das Hoyer als „Umrechnungskurs“11 beschrieben hat. Man geht hierbei davon aus, dass das Erfordernis eines objektiv erhöhten Beweisstandards für ein rechtsgültiges Urteil umso bedeutsamer sei, je höher die Anzahl der Schuldigen ausfalle, deren Straflosigkeit man in Kauf zu nehmen bereit wäre, auf dass kein Unschuldiger hafte. Nach Hoyer käme der „Umrechnungskurs“ von 1 zu 20, den etwa Friedrich II. favorisierte, einem Beweisstandard gleich, der einen Wahrscheinlichkeitsgrad in Bezug auf die Wahrhaftigkeit der Anschuldigung von 95,24 % erforderte12. Gälte demnach ein „Umrechnungskurs“ von 1 zu 10, so beliefe sich der er7
156 U. S. 432 (1895), Nr. 741. Sir John Fortescue, De Laudibus Legum Angliae (ca. 1470). 9 Die sogenannte „Blackstone’s ratio“, vgl. William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 1753 – 1765, Komm. 27, 358, ad finem. 10 Sir Matthew Hale, Pleas of the Crown; A Methodical Summary, 1678, S. 290. 11 Hoyer, ZStW 105 (1993), 523 (538). 12 Hoyer, ZStW 105 (1993), 523 (539 ff.). Zwar kommt Hoyer auf eine andere Zahl: 95,74 % (aaO., S. 540 f.), die er sodann auf 96 % rundet und fortan verwendet. Diesen Prozentsatz gewinnt Hoyer aber, indem er status negativus und status positivus in Beziehung setzt und die bis zur Freilassung auf Bewährung zu verbüßende Maximalstrafe bei einer Verurteilung wegen eines Tötungsdelikts (§§ 211, 220a a.F. StGB) mit der entsprechenden Zeit bei einer Maximalstrafe wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) vergleicht. Auf dieser Grundlage nimmt Hoyer an, dass die von Friedrich II. favorisierte Formel „sich im übrigen 8
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forderliche Wahrscheinlichkeitsgrad auf 90,9 % und bei einer Relation von 1 zu 5 wiederum auf 83,33 %. Im Verhältnis 1 zu 2 entspräche er schließlich einem Wert von 66,66 % und so weiter13. Derartige Fragestellungen geben Anlass, sich dem immerwährenden Thema des Beweises einer Straftat zu widmen. Das Augenmerk wird mithin auf ein Verfahren gerichtet, das die Ehre und Reputation einer Person zunichte machen kann und damit oftmals das Einzige ihr Verbleibende zu nehmen vermag14. auch positiv-rechtlich durchaus plausibel machen“ (aaO., S. 539) lasse. Gegen diese Annahme sind jedoch zwei Einwände zu erheben. In erster Linie erscheint es „kontraintuitiv“, dass die Reichweite des in dubio pro reo-Grundsatzes von der Maximalstrafe abhängen soll, die der Gesetzgeber für die unterlassene Hilfeleistung festgelegt hat. Veränderte sich der „Umrechnungskurs“ und damit zugleich der objektiv einforderbare Beweisstandard, wenn der Gesetzgeber sich entschlösse, das in § 323c StGB geschützte Prinzip der Mindestsolidarität zu stärken und das Höchstmaß auf zwei Jahre Freiheitsstrafe anhöbe (= 91,83 %) oder gar ein noch höheres Strafmaß vorsähe? Es ist offensichtlich, dass der Möglichkeit, den Beweisstandard zu senken, Grenzen gesetzt werden müssen. Die Maximalstrafe für die unterlassene Hilfeleistung könnte hingegen nach Belieben angehoben werden. Wie auch immer man zu diesem ersten Einwand stehen mag, einem zweiten Argument wird man sich nicht ohne weiteres verschließen können: Während nämlich der Mordtatbestand eine absolute Strafe androht, kann die unterlassene Hilfeleistung mit einer Strafe von weniger als einem Jahr Freiheitsentzug oder sogar nur mit einer Geldstrafe belegt werden. Damit müsste im konkreten Fall das tatsächliche Verhältnis einen wesentlich höheren Beweisstandard indizieren, möglicherweise sogar von 99 %. Die Formel Hoyers verliert damit eine hinreichende und beständige Stütze. 13 Offengelassen werden kann an dieser Stelle die Frage, ob derartige Standards tatsächlich aufweisen, dass für jeden verurteilten Unschuldigen eine entsprechende Anzahl x an Schuldigen verbleibt, die entweder freigesprochen werden oder bereits im Ermittlungsverfahren aus dem Raster des Strafverfahrens fallen. Der amerikanische Epistemologe Larry Laudan neigt dazu, diese Frage zu verneinen (vgl. Larry Laudan, El contrato social y las reglas del juicio, in: ders., El estándar de prueba y las garantías en el proceso penal, 2011, Übersetzung von Béguelin auf der Grundlage des englischen Manuskripts, S. 199 – 309, insbes. S. 242. Das englische Manuskript mit dem Titel: „The Social Contract and the Rules of Trial: Re-Thinking Procedural Rules“, das als „Working Draft – Not for Quotation“ gekennzeichnet ist, findet sich unter SSRN: http://ssrn.com/abstract=1075403 oder http://dx.doi.org/10.2139/ ssrn.1075403). In Wahrheit verfügt das System per definitionem über keine zuverlässigen Methoden, um festzustellen, wieviele unschuldige Personen verurteilt werden, und (noch viel weniger) bei wievielen Schuldigen ein Freispruch ergeht oder das entsprechende Ermittlungsverfahren eingestellt wird, auch wenn die Frage des „Justizunrechts“ die Aufmerksamkeit der deutschen Rechtslehre schon bei zahlreichen Gelegenheiten erregte, vgl. Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß: Zur Pathologie der Rechtsprechung, 1960; Peters, FS Olivecrona, 1964, S. 532 ff. 14 Laudan, Is Reasonable Doubt Reasonable?, Legal Theory, Band 9 (2003), S. 295 – 331, weist am Ende seiner Untersuchung darauf hin, dass die hohen Anforderungen in Gestalt einer „über alle vernünftigen Zweifel erhabenen Überzeugung“ in Zeiten ihre Berechtigung hatten, in denen fast alle schweren Straftaten (felonies) mit der Todesstrafe bedroht waren. Da jedoch im Verlauf der Zeit die Strafdrohungen abgeschwächt worden seien, könne auch ein weniger anspruchsvoller Beweisstandard ausreichen (vgl. Laudan, Is Reasonable Doubt Reasonable?, Legal Theory, Band 9 [2003], S. 295 [324 ff.]). Hingegen berücksichtigt diese „Relativierung“ der Tragweite verurteilender Richtersprüche nicht, dass gewisse Anschuldigungen – für den Ehrenmann – schlimmer als der Tod sein können. Was verbliebe einem tadellosen Mann noch
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Die zentrale Themenstellung dieses Beitrages betrifft die Frage, ob es mit dem Gleichheitsgrundsatz (Artikel 3 GG) und der Unschuldsvermutung (Artikel 6 Abs. 2 EMRK) vereinbar ist, wenn eine Verurteilung auf die Aussagen nur eines Zeugen gestützt wird, denen der Beschuldigte eisernes Leugnen entgegensetzt. Um den Gegenstand der Diskussion zu vereinfachen, soll im Folgenden davon ausgegangen werden, dass es sich um Tatvorwürfe handelt, die man allein durch das Wort jener Person „als bewiesen“ anzusehen sucht, welche sich als „Opfer“ einer Tat präsentiert, die angeblich mehrere Jahre zuvor ausgeführt worden sei und zu der es weder objektive Anhaltspunkte noch den Vorwurf bestätigende äußerliche Indizien gibt. Dies bedeutet, dass alle Glieder der „Beschuldigungskette“ auf dem Wort jener Person beruhen, die den Beschuldigten bezichtigt, mithin einer Person, die zugleich ein vordergründiges Interesse daran hat, dass man ihrem Wort Glauben schenkt. In fast allen westlichen Staaten werden seit langem zahlreiche Verurteilungen auf dieser einzigen Grundlage ausgesprochen. Insbesondere in Bezug auf den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs ist dies oft zu beobachten und allenthalben finden sich im Internet Einträge, die jenen „Strafrausch“ mit den Hexenprozessen des Mittelalters vergleichen. Wenn Peters 1964 sagen konnte: „Ich habe […] den Eindruck, daß heute – namentlich bei Sittlichkeitsdelikten – in Fällen angeklagt und verurteilt wird, bei denen wir früher – ich denke an die Zeit vor 1933 – überhaupt nicht angeklagt hätten“15, so kann man fast fünfzig Jahre später behaupten, dass sich die Lage für einen Beschuldigten, der potentiell unschuldig ist, deutlich verschlechtert hat. Diese Überlegungen laufen auf die folgenden Fragen hinaus: Kann das Wort eines einzelnen Zeugen ohne weiteres Beweismaterial eine hinreichende Grundlage für die „subjektive Überzeugung“ sein, die das Strafprozessrecht und ein Teil der Lehre für an „Lebensfreude“, wenn man ihn fälschlicherweise des sexuellen Missbrauchs am eigenen Kind verurteilte? Zöge es dieser Mann nicht vor, dass ihn der „natürliche“ Tod lieber ein wenig früher ereilte, bevor die belastende Aussage entstünde? Laudan äußert sich auch zu den Kosten, die dem Staat durch die Bereitstellung eines mit allen Garantien versehenen Gerichtsverfahrens bei minderschweren Delikten (less serious felonies) entstehen. Dabei sei die gegebenenfalls verhängte Strafe entweder leicht oder sie werde sogar zur Bewährung ausgesetzt, sodass es möglich sein müsse, in diesen Fällen einen weniger strengen Beweisstandard zugrunde zu legen. Diese Argumentation lässt indes unberücksichtigt, dass mit einer geringeren strafrechtlichen Reaktion auf ein kriminelles Verhalten sich zugleich das staatliche Interesse daran, diese Reaktion eintreten zu lassen, proportional vermindert, da die entsprechende Tat nicht in besonderem Maße geeignet ist, grundlegende Verhaltensnormen zu erschüttern. Weshalb sollte man also den „Beweisstandard“ und damit auch den Wert der Unschuldsvermutung vermindern? Wenn Laudan darauf hinweist, dass sich das amerikanische Zivilprozessrecht allein mit einer „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ begnüge, obwohl eine zivilrechtliche Entschädigung wesentlich belastender sein könne als gewisse Strafen, dann sieht er über den Umstand hinweg, dass die Verurteilung zu Schadensersatz nur in seltenen Fällen die Ehre und den Ruf einer Person beeinträchtigt, gerade weil man einerseits um den objektiv niedrigeren Beweisstandard weiß und andererseits der zivilrechtliche Schadensersatz bekanntlich auch Umständen geschuldet sein kann, die keine moralische Missbilligung implizieren. 15 Peters, FS Olivecrona, 1964, S. 532 (538 f.).
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eine Verurteilung zu fordern scheinen? Verhält es sich nicht stattdessen so, dass das Erfordernis einer objektiv-rationalen Urteilsgrundlage es unmöglich macht, ein Strafurteil auf den reinen „Glauben an das Wort des Zeugen“ zu stützen, auch wenn man sich auf die Unterstützung eines „aussagepsychologischen“ Gutachtens verließe? Implizierte die Gewinnung einer „persönlichen Gewissheit“ auf der Grundlage dieses einzigen Umstandes nicht schon den Angriff auf die „Erfahrungssätze“, die auch Frisch16 – indem er eine alte Tradition aufgreift17 – als verbindlich anerkennt?
II. Das Verbot des einzelnen Zeugnisses in der jüdisch-christlichen Tradition Eine weitläufige Tradition spricht dagegen, dass ein Strafurteil allein auf die Angaben einer einzigen Person gestützt werden könnte. Immerhin ist das Verbot, eine Strafe auf der Grundlage eines einzelnen Zeugnisses zu verhängen, ein Allgemeingut der jüdisch-christlichen Kultur: Testimonium unius non valet, besser bekannt in der Formulierung: Unus testis nullus testis18. Im Prinzip findet sich bereits im 4. Buch Mose die Zurückweisung einer Anklage, die ausschließlich auf den Angaben eines einzelnen Zeugen basiert. Dort ist dieser Grundsatz gleichwohl auf Tötungsfälle beschränkt und basiert zudem auf den Voraussetzungen eines Prinzips der vergeltenden Gerechtigkeit, das sogar talionische 16
Zu diesem Erfordernis und jenem der „Denkgesetze“ vgl. SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 118 – 120, mit weiteren Nachweisen bereits zu der Rechtsprechung des RG, vgl. auch die dortigen Rn. 137 ff. 17 Vgl. von Savigny, Über Schwurgerichte und Beweistheorie im Strafprozesse, GA 6 (1858), S. 469 (484). 18 Vgl. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter – Zusammengestellt, übersetzt und erläutert von Detlef Liebs, 5. Aufl. 1991, Buchstabe U, Nr. 28 (S. 215): „Unus testis nullus testis. Ein Zeuge kein Zeuge. Das Zeugnis eines einzelnen genügt nicht, um jemanden einer Straftat zu überführen. S. Cod. Just. 4, 20, 9, S. 2 u. 3 (Konstantin) S. schon 5. Mose 19, 15; u. Matthäusevangelium 18, 16. Galt bis um 1800“. Zu dieser Formulierung vgl. auch Schott, FS Elsener, 1977, S. 222 ff. In dem Beitrag Schotts finden sich auch zahlreiche Sprichwörter und Aphorismen in deutscher und lateinischer Sprache, die mit dem Hinweis auf unzählige Quellen belegt werden. Schott gruppiert die Sätze auf Deutsch danach, ob sie entweder das Erfordernis zweier oder dreier Zeugen hervorheben oder den Umstand betonen, dass ein einzelner Zeuge unzureichend sei. Zu der ersten Gruppe zählen: Zwei Männer sind eines Mannes Zeugen. In zweier oder dreier Zeugnis liegt alle Wahrheit. In zweier oder dreier Wissenden Mund steht alle wahre Wahrheit. Zweien oder dreien steht eine Wahrheit zu glauben. In dreier Leute Mund liegt alle Wahrheit. Zwei sind besser als einer. Zwei sehen mehr als einer. Zu der zweiten: Ein Zeuge wie keiner, zwei wie zehn. Ein Zeuge, kein Zeuge. Ein Mann, kein Mann. Eines Mannes Zeugnis taugt nicht und wäre es ein Bischof. Eine Stimme ist so viel wie keine und wäre es ein Richter. Ein Zeuge ist einäuge. Eines Mannes Rede ist von keiner Würde. Eines Mannes Rede ist von keinem Werte. Eines Mannes Rede ist eine halbe Rede. Zu den lateinischen Sätzen zählen: Vox unius vox nullius. Unus vir nullus vir. Unus testis nullus testis. In ore duorum vel trium testium stet omne verbum. Plus vident oculi quam oculus.
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Charakterzüge aufweist19. Mit gleicher Formulierung erscheint die Regel im 5. Buch Mose, welche sich auch an dieser Stelle wiederum auf Delikte bezieht, die mit der Todesstrafe bedroht sind20. Doch wenig später kann man feststellen, dass ihr Anwendungsbereich auf jedwede Deliktsart ausgeweitet wird21. Die Anerkennung des Erfordernisses einer Zeugenmehrheit wird – im Gegensatz zu dem Schicksal des Talionsprinzips22 – in der Tradition des Neuen Testaments bewahrt. Jene Regel wird im Worte Christi wiederholt, nämlich im Matthäus-Evangelium im Kontext der „brüderlichen Zurechtweisung“23. Ebenso tritt sie im JohannesEvangelium hervor24. Später erscheint sie wiederum im Zweiten Korintherbrief25, im 1. Brief des Paulus an Timotheus26 und in dem Brief an die Hebräer27. Diese Maximen werden ferner in das römisch-kanonische Recht überführt28, was durch ein reichhaltiges Schrifttum aus dem 12. und 13. Jahrhundert belegt wird, in dem sowohl Zitate aus dem römischen Zivilrecht als auch aus den kirchlichen Zusammenstellungen zu finden sind29. 19
Num 35, 30. Dtn 17, 6. 21 Dtn 19, 15: Gegen Landraub und falsches Zeugnis. […] Es soll kein einzelner Zeuge gegen jemand auftreten wegen irgendeiner Missetat oder Sünde, was für eine Sünde es auch sei, die man tun kann, sondern durch zweier oder dreier Zeugen Mund soll eine Sache gültig sein. 22 Mt 5, 38 – 41. 23 Mt 18, 15 – 16: Die brüderliche Zurechtweisung. Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde. 24 Joh 8, 17: Auch steht in eurem Gesetz geschrieben, dass zweier Menschen Zeugnis wahr sei. Ich bin’s, der von sich selbst zeugt; und der Vater, der mich gesandt hat, zeugt auch von mir. 25 2 Kor 13, 1: Jetzt komme ich zum dritten Mal zu euch. Durch zweier oder dreier Zeugen Mund soll jede Sache bestätigt werden. 26 1 Tim 5, 19: Gegen einen Ältesten nimm keine Klage an ohne zwei oder drei Zeugen. 27 Hebr 10, 28: Wenn jemand das Gesetz des Mose bricht, muss er sterben ohne Erbarmen auf zwei oder drei Zeugen hin. 28 In einem Dekret aus dem Jahre 382 liest man bereits eine Handreichung für die Ankläger: Imperatores Gratianus, Valentinianus, Theodosius. Sciant cuncti accusatores eam se rem deferre debere in publicam notionem, quae munita sit testibus idoneis vel instructa apertissimis documentis vel indiciis ad probationem indubitatis et luce clarioribus expedita, C.I. 4.19.25. (Von den Imperatoren Gratianus, Valentinianus, Theodosius. Alle Ankläger sollen wissen, dass sie nur eine solche Sache zur öffentlichen Untersuchung bringen sollen, die durch geeignete Zeugen, mit eindeutigen Urkunden oder durch Indizien belegt werden, die unzweifelhaften Beweis erbringen und klarer als das Tageslicht sind.); vgl. Schmoeckel, (Fn. 4), S. 194 (dort Fn. 42). 29 Vgl. die Nachweise bei Schott, FS Elsener, 1977, S. 227, mit einer Wiedergabe der Summa de ordine judiciari (1196) von Riccardus Anglicus nach den Quellen zur Geschichte des römisch-kanonischen Processes im Mittelalter, hrsg. v. Ludwig Wahrmund, 1906 – 1931, Neudruck der Ausgabe 1913, 1962, Band II, Heft 3, S. 43, 46. 20
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Übrigens fand die Regel nicht nur Aufnahme in die romanischen Kodizes, sondern wurde auch vom Hl. Thomas von Aquin in den „Summa Theologiae“ aufgegriffen30. Bereits im antiken Kirchenrecht legte man Wert darauf, dass der einzelne Zeuge nicht ausreichend sei, weder nach göttlichem noch weltlichem Recht. So heißt es etwa bei Gratian, C. 33, 2, 8: Nec evangelium, nec ulla divina humanaque lex unius testimonio etiam idoneo quempiam condemnat vel iustificat (Weder nach dem Evangelium noch gemäß einem göttlichen oder weltlichen Gesetz ist das Zeugnis des Einzelnen selbst geeignet, jemanden zu verurteilen oder zu rechtfertigen). Dieses Vermächtnis des Alten Testaments besteht heute in der talmudischen Tradition fort31 und auch in Bezug auf den Kodex des kanonischen Rechts ist festzuhalten, dass das Verbot des einzelnen Zeugnisses zumindest als allgemeine Regel beibehalten wird, auch wenn Ausnahmen von diesem Verbot zugelassen werden32.
III. Das Verbot eines einzigen Zeugen in der Aufklärung Es müsste überraschen, wenn Regeln der Moral, die Religionen aus einem sehr weiten kulturellen Spektrum überformen, anlässlich eines schlichten Übergangs von den „Legalbeweisen“ zu der „freien Beweiswürdigung“, der von der Feststellung begleitet wird, dass Zeugen nicht gezählt, sondern gewichtet werden, vernachlässigt werden könnten33. Müsste man nicht zunächst eine Aussagenmehrheit feststellen, sodass jede einzelne Aussage sich dergestalt auf übereinstimmende Angaben der übrigen Zeugnisse stütze, dass sich die Nuancen jeweils mit jenen der anderen Schilderungen „verzahnen“, bevor man ihr jeweiliges Gewicht prüfen könnte? Als ausgesprochener Verfechter der These, dass ein Strafrechtssystem seine Effizienz erhöhen müsse, damit die durch den Staat im „Gesellschaftsvertrag“ übernommene Verpflichtung, den unschuldigen Bürger vor unrechten Verurteilungen zu schützen, sich nicht zum Nachteil der korrespondierenden – am besten durch eine Erhöhung der entsprechenden Verurteilungszahlen zu erfüllenden – Pflicht auswirke, den Bürger vor Gewalttaten zu bewahren, gilt Larry Laudan34. Sogar er wirbt jedenfalls für ein Wiedererstarken der von den Philosophen Wilkins, Boyle (17. Jhd.) und 30
Thomas von Aquin (1224 – 1274), Summa Theologiae, II-II, Frage 70, Art. 2. Vgl. hierzu den Babylonischen Talmud, Sotah 2a und 2b, der sich in englischer Sprache unter http://halakhah.com/sotah/sotah_2.html#chapter_i abrufen lässt. Vgl. insbesondere den Beginn des Sotah 2b, wo als Auslegungsregel festgelegt wird, dass wann immer man den Begriff „Zeugen“ ohne die Angabe ihrer Anzahl verwende, mehr als einer gemeint sein solle. Vgl. auch den Babylonischen Talmud, Makkoth 5b, in dem auch der Satz aus Dtn 17, 6 analysiert wird. 32 Can. 1573. 33 „Testes non numerantur, sed ponderantur. Zeugen werden nicht gezählt, sondern gewogen. Ob eine Tatsache als bewiesen anzusehen ist, richtet sich nicht nach der Zahl der sie bestätigenden Zeugen, sondern nach dem Gewicht ihrer Aussagen. s. heute § 286 ZPO.“ (Liebs [Fn. 18], Buchstabe T, Nr. 16 [S. 208]). 34 Laudan (Fn. 13). 31
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Whewell (19. Jhd.) geäußerten Gedanken, wonach „man auf sachgerechte Weise zu einem moralisch treffsicheren Schluss nur dann gelangt, wenn man über mehrere unabhängige Beweisstränge verfügt, von denen zwar keiner diesen Schluss mit Sicherheit bedingt, gleichwohl aber jeder einzelne mit Wahrscheinlichkeit in die gleiche Richtung zeigt. […] Sowohl die Unabhängigkeit als auch die Vielfalt der Beweisstränge bildeten die Voraussetzungen dafür, dass eine Überzeugung als moralisch zutreffend bestätigt werden konnte“; „ein Tatzeuge wäre nicht ausreichend für eine Verurteilung … etc.“35 Es handelt sich dabei nicht nur um ein „den Religionen“ zugehöriges Vermächtnis. Vielmehr bildete das Verbot des Einzelzeugnisses ein Gemeingut der Aufklärung und damit einer Bewegung, die es sich in gewisser Weise zur Aufgabe machte, einen „von der Gottesidee unabhängigen“ oder jedenfalls einen auch für einen Nichtgläubigen annehmbaren Staat zu begründen. Dies bezeugen etwa die Stellungnahmen von Beccaria36, Montesquieu37 und von Filangieri38. Diese Autoren votierten für die Etablierung einer Jury nach dem Vorbild des angelsächsischen Rechtskreises. Mithin überwog das Konzept der „conviction intime“, obschon es von Filangieri – dem hervorragendsten italienischen Autor der Aufklärung – durch die Vorstellung relativiert wurde, dass man der „moralischen Gewissheit“ auch die Einhaltung von Beweisregeln, beispielsweise der negativen Legalbeweise39 hinzugesellen müsse. Folgte man diesem Vorschlag nicht, so könnte „eine gute oder schlechte Verdauung einen Menschen mehr oder minder leichtgläubig machen“40. Bekanntlich lieferte diese Auffassung aber nicht das Kriterium, das sich in der Kultur des 19. Jahrhunderts durchsetzte, denn man vertraute viel zu sehr darauf, 35
Laudan (Fn. 14), S. 323. Vgl. Beccaria, Dei delitti e delle pene, a cura di Piero Calamandrei, 1945, nach dem berühmten Werk, das erstmalig anonym im Sommer des Jahres 1764 in Livorno veröffentlicht wurde. § VIII. Dei testimoni, S. 198 und 200. 37 Vgl. Montesquieu, Del espíritu de las leyes (Vom Geist der Gesetze), spanische Übersetzung von M. V. M., Imprenta de Demonville, 1821, Band I, S. 292. 38 Vgl. Filangieri, Ciencia de la Legislación (Die Wissenschaft der Gesetzgebung), mit Anmerkungen von B. Constant, nach der spanischen Übersetzung der 3. Aufl., die in Paris von der Librería Espan˜ola von Lecointe 1836 veröffentlicht wurde (die erste Ausgabe datiert von 1780), Band 5, S. 171: „3. Regel: Ein einziger Zeuge soll nie hinreichend sein, um für sich allein einen gesetzlichen Beweis zu formieren“. Nach Filangieri konnte eine Person kein Zeuge sein, die ein Interesse am Ausgang des Verfahrens hatte, vgl. seine erste Regel: „Jeder Mensch, der weder höchsteinfältig noch wahnsinnig ist […] kann ein tüchtiger Zeuge sein, sofern er kein Interesse daran hat, die Wahrheit zu verändern oder die Unwahrheit zu sagen“. Dies bedeutete, dass das „Opfer“ nicht zu dem Kreis der tauglichen Zeugen rechnete. 39 Filangieri (Fn. 38), S. 154 ff. Heutzutage setzt sich der italienische Autor Luigi Ferrajoli (Derecho y razón – Teoría del garantismo penal, Übersetzung der italienischen Ausgabe von 1989 durch P. Andrés Ibán˜ez und andere, 1995, S. 147) für ein System der „negativen Legalbeweise“ ein. 40 Filangieri (Fn. 38), S. 155. 36
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dass die „freie Beweiswürdigung“ bzw. die „persönliche Überzeugung“ auf natürliche Weise zu einer gerechten Entscheidung führen könnten. Fast zweihundert Jahre später ist jedoch festzustellen, dass die Massenmedien einerseits im Zuge der Häufung solcher Verfahren, die den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs zum Gegenstand haben, aber jeweils nur auf der Aussage einer Person beruhen, ihre Geldbeutel füllen. Andererseits empören sie sich darüber, wenn in ein und demselben Fall das eine Gericht glaubt, die Tat habe stattgefunden und der Beschuldigte sich strafbar gemacht, während das andere Gericht davon ausgeht, dass die Anschuldigungen von vorne bis hinten erfunden wurden: „Ist der Strafprozess denn ein Glückspiel? Kommt es nur auf das Bauchgefühl der Richter an?“41
IV. Die „persönliche Gewissheit“ im Widerstreit mit der „objektiv-rationalistischen Urteilsgrundlage“ 1. Gemäß § 261 StPO entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung und nach § 337 StPO kann die Revision eines Urteils nur darauf gestützt werden, dass dieses auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Auf der anderen Seite verpflichtet aber § 267 StPO das Gericht, eine Urteilsbegründung vorzulegen, aus der sich die Gründe dafür ergeben, dass man die Tatsachen für erwiesen erachtet, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Frisch setzt deutlich auseinander, in welchem Maße sich die ursprüngliche Konzeption des Gesetzgebers, wonach die Revision der tatrichterlich festgestellten Tatsachengrundlage untersagt war, zugunsten einer immer umfassenderen Ausgestaltung des Revisionsrechts gewandelt hat42. Er billigt es nicht nur, wenn der BGH und die Oberlandesgerichte prüfen, ob das Urteil in sich geschlossene, verständliche und widerspruchsfreie Feststellungen der Tatsachen enthält und im Einklang mit den Denkgesetzen und dem Erfahrungswissen steht, sondern auch dass die „Beweiswürdigung […] der Prüfung [unterliegt] und […] beanstandet [wird], wenn sie unklar, in sich widersprüchlich oder unvollständig ist, nämlich Ausführungen zu erörterungsbedürftigen Fragen nicht enthält, wenn sie mit Denkgesetzen oder dem Erfahrungswissen nicht vereinbar ist oder der Tatrichter die Anforderungen an die ihm für eine Verurteilung abverlangte Überzeugung verkannt hat.“43 Diese sogenannten Fälle der „Darstellungsrüge“ haben derart an Bedeutung gewonnen, dass „in der Praxis […] Rügen, die das Revisionsgericht zu Prüfungen in diesem Bereich veranlassen, mindestens so zahlreich [sind] wie reine Rechtsrügen“44. 41 Gisela Friedrichsen, Strafjustiz: „Von vorn bis hinten erfunden“, in: Der Spiegel, 33/ 2011, S. 56 (57). 42 SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 118. 43 SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 118. 44 SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 118.
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Obschon diese einleitenden Feststellungen im Hinblick auf die Möglichkeit recht „ermutigend“ erscheinen, unmittelbar auf unseren Problemkreis gemünzte Grenzziehungen zu finden, so hat es doch den Anschein, dass es für die persönliche Gewissheit und die subjektive Überzeugung „gut aussieht“, wenn man die Auffassung Frischs zu dem möglichen Konflikt zwischen der freien (subjektiven) Überzeugung und der objektiv-rationalistischen Urteilsgrundlage einmal tiefergehend studiert. Einerseits scheint Frisch sich in den Fällen der „Aussage gegen Aussage“ mit der gleichsam lauen Rechtsprechung des BGH zu begnügen, die „eine besonders eingehende Beweiswürdigung [fordert], vor allem zur Glaubwürdigkeit, […] wenn die Entscheidungen im wesentlichen auf einer einzelnen Zeugenaussage [beruhen].“45 Es trifft zu, dass der BGH auf der Grundlage dieser weisen Worte zahlreiche verurteilende Entscheidungen aufgehoben hat. Indes trifft es ebenso zu, dass „eine besonders eingehende Würdigung“ die Pflicht des Tatrichters in jedwedem Strafverfahren ist, und zwar hinsichtlich jedweder Art des Beweises. Es ist nicht so, dass im Gegensatz dazu in solchen Fällen, die mit zahlreichen Zeugenaussagen, Begutachtungen und diversen objektiven Beweismitteln einhergehen, das urteilende Gericht keine „besonders eingehende Würdigung“ vorzunehmen hätte. Mit dem Hinweis auf eine „besonders eingehende Würdigung“ möchte man in den Fällen der „Aussage gegen Aussage“ nur zu verstehen geben, dass der reine Umstand, wonach „eine einzige inkriminierende Aussage“ gegen die Einwendungen des Beschuldigten steht, kein hinreichender Grund für die Annahme ist, eine Verurteilung sei unbegründet, wenn man zugleich die „persönliche Gewissheit“ erlangt hat. Dies bedeutet: Was im Gewand einer auf Gewährleistungen ausgerichteten Rechtsprechung auftritt, entfaltet sich vielmehr als Doktrin, die jedem unschuldigen Bürger Angst einflößen müsste, weil sein Wort von vornherein als wertlos gelten könnte. Auch trifft es zu, dass nach der Rechtsprechung des BGH in dem Fall, dass der Beschuldigte sich mit eigenen Tatsachenbehauptungen verteidigt, das urteilende Gericht gleichermaßen aufgefordert ist, jene Tatsachenfeststellungen darzulegen und jene Einschätzungen vorzunehmen, welche die Behauptungen des Beschuldigten widerlegen, wenn es seinen Angaben nicht folgen will. Ebenfalls trifft es zu, dass der BGH eine besondere Begründung einfordert, wenn das Gericht einem von mehreren sich widersprechenden Gutachten gefolgt ist, der Beschuldigte bestimmte Tatsachen gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen angeführt oder das Gericht einem Zeugen nur teilweise Glauben geschenkt hat46. Doch mit diesen „erhöhten Anforderungen“ wird dem urteilenden Gericht nur die Pflicht auferlegt, „schön zu formulieren“, auf welchem Weg es dazu gekommen ist, dem Wort des einzelnen Zeugen bis über die Schwelle der „persönlichen Gewissheit“ hinaus zu glauben. Soweit diese Formulierung „überzeugend erscheint“, wird das Urteil unanfechtbar. Freilich hat jede Person von gewissem Lebensalter im Alltag bei unzähligen Gelegenheiten den Eindruck erfahren, dass ihr das Wort dieser oder jener Person in 45 46
SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 130 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen. SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 130.
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Bezug auf eine Behauptung p „völlig überzeugend“ oder, in einer kleineren Anzahl von Fällen, „absolut unglaubwürdig“ erschien. Dies ist jedoch kein ausreichender Grund dafür, dass alle anderen davon ausgehen müssten, diese „persönliche Überzeugung“ ruhte auf einem kritisch-rationalistischen Fundament, das einem Dritten entgegengesetzt werden könnte: „Es gibt für ,rational‘ kein besseres Synonym als ,kritisch‘. (Eine Überzeugung, ein Glaube, ist natürlich nie rational: rational ist es vielmehr, die Überzeugung in der Schwebe zu lassen …)“47. Hiergegen könnte man einwenden, dass wenn man nicht darauf abzielt, den Zeugenbeweis gänzlich abzuschaffen, dem Richter kein anderer Weg verbleibt, als zu beurteilen, ob er dem Zeugen „glaubt“ oder nicht. Dennoch müsste der Richter, damit sich eine Verurteilung auf die Schilderungen einer Person stützen könnte, Gründe angeben, warum ebendiese Angaben nicht falsch sein können. Wie wir später sehen werden, hat die Experimentalpsychologie bis heute kein Kriterium dafür gefunden, um mit ausreichend hohem Wahrscheinlichkeitsgrad festzustellen, ob die Angaben eines Aussagenden wahrheitsgemäß sind. Allenfalls könnte man es zugunsten des Beschuldigten zulassen, dass der subjektive Glaube des Gerichts an die Wahrhaftigkeit seines Wortes oder der Angaben der Entlastungszeugen ein zureichender Grund für einen Freispruch sein kann, soweit dies den Richter daran hindert, eine „persönliche Gewissheit“ über die Schuldhaftigkeit zu erlangen. 2. Es bereitet wenig Mühe festzustellen, dass Frisch der „persönlichen Gewissheit“ „sein Vertrauen“ ausspricht, geradeso als vermöchte diese eine Begründungszulage für eine Entscheidung zu liefern, die im Übrigen nur über eine gegenüber jenem Grad der subjektiven Überzeugung minderwertige objektive Grundlage verfügte. Indes scheint diese Beobachtung auf den ersten Blick gar nicht zuzutreffen, denn Frisch weist schon im einleitenden Teil seiner Kommentierung zu § 337 StPO darauf hin, dass man „nicht jede Vorstellung bzw. Überzeugung des Gerichts vom Gegebensein des in der Norm thematisch umschriebenen Gegenstands ausreichen lassen kann“48. Diese und weitere unmittelbar folgende Stellungnahmen geben zunächst Anlass zu der Überlegung, Frisch forderte etwa den Nachweis, dass ein objektiver Beweisstandard erfüllt worden sei, aus dem wiederum die „persönliche Gewissheit“ hervorgehen könnte, ohne dass die zu erreichende Gewissheit über diesem Standard stünde. Doch dieser Eindruck trügt. Frisch fordert von dem Tatrichter insbesondere für den Fall einer Verurteilung eine bestimmte Beurteilung. Der Tatrichter müsse „überzeugt sein“. Auf diese Weise tritt Frisch der herrschenden Meinung bei, welche eine „persönliche Gewissheit“ voraussetzt, die keine „mathematische Sicherheit“ erfordert und sich auch der Existenz jedenfalls abstrakt vorstellbarer, theoretischer Zweifel nicht verschließt, die
47 48
Popper, Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, 1979, S. 119. SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 120.
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sich aus der Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens ergeben49. Ein Urteil sei jedoch dann rechtlich fehlerhaft, wenn der Richter zu geringe Anforderungen an seine eigene Überzeugung gestellt habe. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn sich der Richter „lediglich“ auf eine hohe Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung stütze und es keine (zusätzliche) Bestätigung für diese subjektive Überzeugung von der Strafbarkeit gebe50. Den Schlüsselbegriff bildet in diesem Zusammenhang die „hohe Wahrscheinlichkeit“. Man könnte auf den Gedanken verfallen, dass dies ein recht konturenloser Ausdruck sei. Wie wäre es aber, wenn der Richter vermittels kritisch-rationalistischer Verfahren feststellte, dass die hohe Wahrscheinlichkeit eine Marke von 90 % oder 95 % überschritte? Wäre es trotzdem erforderlich, dieser Bestätigung die „persönliche Gewissheit“ zur Seite zu stellen? Wie könnte es denn anders gelingen, dass der Richter eine gegenüber dem objektiv begründeten hohen Wahrscheinlichkeitsgrad noch festere Überzeugung erlangte, als auf rational unergründlichen Wegen? Ein Rechtsstaat ist auch verpflichtet, über die Effizienz des Strafrechtswesens zu wachen, und insofern muss es ihn überhaupt nicht interessieren, wie sich die „geistige Haltung“ des Richters zu den vorgebrachten Beweismitteln verhält. Vielmehr zählt der Umstand, dass der Richter die Feststellung trifft, der Anklage sei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Nachweis gelungen, dass die Anschuldigungen zutreffen. Mit den Worten Laudans zählt für die Grundlage eines Urteils nicht „der mentale Status der Richter an sich, sondern vielmehr die Frage, wie diese den entsprechenden Status erreichten. Man wird nicht Wissenschaftler, indem man Kenntnisse über einen Geisteszustand erwirbt, den man erreichen sollte, bevor man eine Theorie anerkennt, sondern indem man lernt, die Beweise und ihre Auswirkungen auf die entsprechende Theorie zu würdigen“51. Was zählt ist die „Beständigkeit des Beweises“ und nicht der subjektive Zustand jener Person, die den Beweis evaluiert. Dass es bei Frisch für die subjektive Überzeugung – auch wider den Beschuldigten – stets „gut aussieht“, belegt der Umstand, dass er der Rechtsprechung folgend die Auffassung vertritt, der in dubio pro reo – Grundsatz werde nicht verletzt, „wenn der Tatrichter von der Täterschaft persönlich überzeugt ist und nur der [Beschwerdeführer] der Auffassung ist, daß der Richter angesichts der Umstände des Falles Zweifel hätte haben müssen und nicht hätte überzeugt sein dürfen“52. Dieser Standpunkt stimmt mit der Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts überein53. Allerdings hat Hoyer diese Position einer schlüssigen Kritik zugeführt54. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mit jenem Kriterium erhält der Richter die Fähigkeit, eine ob49 50 51 52 53 54
SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 125. SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 125. Laudan (Fn. 14), S. 318. SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 337 Rn. 125. BVerfG MDR 1975, 468 (469); vgl. auch BGH NJW 1988, 477. Hoyer, ZStW 105 (1993), 523 ff.
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jektiv zweifelhafte Beweislage in die „persönliche, von Zweifeln befreite Gewissheit“ zu überführen. 3. Helmut Frister hat in einer nachdrücklichen Verteidigung des Erfordernisses einer „persönlichen (subjektiven) Gewissheit“ Denkansätze von Grünwald aufgegriffen. Seine Argumentation geht von der Prämisse aus, dass die im Strafprozess zu untersuchende Tat niemals „mit der ,Stringenz, die wir in der Logik oder Mathematik finden‘ und auch nicht mit der ,relativen Sicherheit, die wir in den Naturwissenschaften kennen‘, nachgewiesen werden kann“55. Die Bildung der richterlichen Überzeugung werde in jedem einzelnen Fall schon aufgrund der prinzipiellen Fehleranfälligkeit jeder menschlichen Erkenntnis mit Unsicherheiten belastet. Allein wegen des Fehlens zwingender Erfahrungssätze zur Beurteilung des in den Mitteilungen anderer Personen enthaltenen Wahrheitsgehalts verfüge jede Beweiskette über „Glieder, bei denen die Verbindung nur aus einem Wahrscheinlichkeitsurteil besteht“, sodass es in allen diesen Fällen möglich sei, die Tatsachen auf andere Weise zu erklären56. Frister stellt auf diese Weise die These jener verbreiteten Ansicht in Frage, nach der „eine Verurteilung nicht allein aufgrund einer persönlichen Beurteilung erfolgen könne, sondern auch ein bestimmtes ,objektives‘ Beweisergebnis voraussetze, das zumeist als ,hohe Wahrscheinlichkeit‘, zum Teil auch als an ,Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit‘ für die Schuld des Angeklagten umschrieben wird“57. Im Gegensatz zu dieser Position setzt er sich für die „persönliche Gewissheit“ als notwendige und zugleich hinreichende Bedingung ein. Das erste von ihm hierzu angeführte Argument bezieht sich darauf, dass die „persönlich[e] Gewissheit […] immer noch am besten dazu geeignet sei, die Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen im Strafprozess zu gewährleisten und dadurch eine Verurteilung Unschuldiger zu verhindern“58. Indes könnte dies doch nur dann zutreffend sein, wenn die „persönliche Gewissheit“ bestenfalls zwar eine notwendige Voraussetzung, nicht hingegen hinreichende Bedingung der strafrechtlichen Verurteilung wäre. Die Vorstellung, dass die „persönliche Gewissheit“ eine „Gewährleistung“ dafür bildete, dass die Tatsachenfeststellung richtig sei, ließe sich nur dann halten, wenn es ein statistisches oder anderweitiges Verfahren gäbe, welches aufzeigte, dass eine „subjektive Überzeugung“ grundsätzlich auch in objektiver Hinsicht zutreffe und es im konkreten Fall gleichzeitig nicht möglich sei, das „objektiv Richtige“ zu ermitteln. Wenn es aber einen Weg gäbe, das „objektiv Richtige“ jedenfalls mit gewisser Wahrscheinlichkeit festzustellen: Wozu müsste man ihm noch eine „persönliche Gewissheit“ an die Seite stellen? Frister unterstreicht die Bedeutung der „persönlichen Gewissheit“ damit, dass ein Teil der Sachverhaltserkenntnis „intuitiv“ erfolge, und zwar dergestalt, dass der Er55 Frister, FS Grünwald, 1999, S. 169, mit Verweis auf Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozeßordnung, 1993, S. 85 ff. (89). 56 Frister, FS Grünwald, 1999, S. 169 f. 57 Frister, FS Grünwald, 1999, S. 170 f., mit zahlreichen Nachweisen in den Fn. 9 und 10. 58 Frister, FS Grünwald, 1999, S. 173. Hervorhebung nicht im Original.
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kennende „nicht in der Lage ist, seine Erkenntnis (begrifflich) zu begründen“59. Zur Unterstützung dieser Grundlegung zitiert Frister das von Schopenhauer formulierte Beispiel des Billardspielers, „der den Lauf der Kugeln vorhersieht, ohne je etwas von den Stoßgesetzen elastischer Körper gehört zu haben.“ Frister fügt diesem Exempel das noch anschaulichere Beispiel des „erfahrenen“ Fußballtorhüters hinzu, der die Flugbahn von Flankenbällen einschätzt60. Abgesehen davon, dass diese Argumentationsweise den Umstand unberücksichtigt lässt, dass die genannten Handlungsweisen anhand von „Versuch und Irrtum“ unter der Anleitung eines Lehrers eingeübt und ausgeführt werden, der die Prinzipien hinter den „bloßen Intuitionen“ aufzeigen kann, sehen jene Beispiele darüber hinweg, dass sowohl der Billardspieler als auch der Fußballtorhüter einem Verfahren zur objektiven Prüfung ihres „intuitiven Wissens“ ausgesetzt sind. Wenn also der Fußballtorhüter im Begriff ist, eine Flanke zu halten, den Ball jedoch gar nicht erreicht und schließlich der gegnerische Mittelstürmer durch einen Kopfball das Tor trifft, so kann der Torhüter nicht behaupten, dass er nach seiner „subjektiven Überzeugung“ den Ball tatsächlich eigenhändig gehalten habe. Ständen jedem Beschuldigten solche Falsifizierungsmethoden in Bezug auf die „subjektive Überzeugung“ des Richters zur Verfügung, so müsste kein unschuldiger Angeklagter auch nur die kleinste Sorge ob des Verfahrensausganges haben. Insbesondere mit Blick auf die Bewertung von Zeugenaussagen schreibt Frister, dass „[j]eder Laie – und erst recht ein erfahrener Richter – […] in der Regel schon eine Einschätzung z. B. des Wahrheitsgehalts von Zeugenaussagen [hat], bevor er über die Glaubhaftigkeit begrifflich reflektiert“61. Es kann durchaus sein, dass diese Aussage zutrifft, doch ist es gerade dieser Umstand, der das Risiko einer willkürlichen Entscheidung birgt. Denn ein Richter, der sich als „erfahren“ einschätzt, vereinigt auf sich nur eine gewisse Anzahl an Vorurteilen zu der Bedeutung nonverbalen Verhaltens, die keinesfalls einer wissenschaftlichen Überprüfung zu der Frage standhalten, ob derartige Bedeutungsgehalte von ihm ohne einen sehr hohen Fehlerquotienten zu erfassen sind62. Insbesondere die „Vielzahl nonverbaler Ausdrucks59
Frister, FS Grünwald, 1999, S. 176. Frister, FS Grünwald, 1999, S. 177. 61 Frister, FS Grünwald, 1999, S. 177. 62 Skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit, anhand des nonverbalen Verhaltens herauszufinden, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, äußert sich Aldert Vrij, Detecting Lies and Deceit – Pitfalls and Opportunities, 2. Aufl. 2008, Kapitel 3: Nonverbal Behaviour and Deception, S. 37 ff. „Conclusion: How do people behave when they lie? Unfortunately, it is not possible to provide a simple answer to this question. There is no nonverbal behaviour that is uniquely associated with deception, neither is there a theoretical explanation why such cues akin to Pinocchio’s growing nose would exist“ („Zusammenfassung: Wie verhalten sich Menschen, wenn sie lügen? Unglücklicherweise ist es nicht möglich, eine einfache Antwort auf diese Frage zu geben. Weder gibt es nonverbale Verhaltensweisen, die allein mit der Täuschung in Verbindung zu bringen sind, noch gibt es eine theoretische Grundlegung dafür, warum derartige Anzeichen gleichsam der wachsenden Nase des Pinocchio existieren sollten“), aaO., S. 88 f. 60
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weisen“ („Gesichtsausdruck und Gesten“)63, die in der Tat die gerichtliche Bewertung der Zeugenaussagen beeinflusst, sind zu großen Teilen ambivalente Komponenten, die niemals eine experimentelle Validierung bestehen könnten. Und auch wenn diese Ausdrucksweisen Informationen übermitteln können, so eröffnen sie sich allein dem in der Materie bewanderten Experten und auch nur insofern, als man eine hinreichend große Menge an nonverbalen Verhaltensweisen heranzieht, die zuvor identifiziert und anschließend mit rationalen Methoden analysiert wurden64. Auch kritisiert Frister jene Konzeption, wonach die gerichtliche Beweiswürdigung in einer numerischen Quantifikation ausgedrückt werden könnte, mit dem Hinweis, dass die intuitive Beweiswertung dies nicht zulasse65. Selbst wenn man aber zugestünde, dass dem Tatrichter nicht abverlangt werden könne, eine exakte Angabe darüber zu machen, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad er die Anschuldigung als bewiesen erachte, so müsste es doch jedenfalls eine Übereinkunft dahingehend geben, dass in Fällen, in denen man eine objektive Beweisunsicherheit in gewisser Höhe (bspw. 30 %) belegen könnte, diese „objektive Kenntnislücke“ nicht mit dem „Sprungstab“ der „persönlichen Gewissheit“ oder der „intuitiven Kenntnis“ überwunden werden dürfte. Doch selbst für den Fall, dass eine Aussage vermittels des sogenannten „Statement Validity Assessment“ (SVA) in besonders gründlicher Weise evaluiert wird, vermag die Aussagepsychologie66 nicht mehr zu leisten, als eine probabilistische Beurteilung der Wahrhaftigkeit einer Aussage, die wiederum einen viel zu hohen Unsicherheitsgrad aufweist. Abgesehen davon, dass bereits der „wissenschaftliche“ Charakter solcher Begutachtungen in Zweifel gezogen werden kann67, wäre es illusorisch zu glauben, die persönliche Intuition eines Laien oder eines „erfahrenen“ Richters könnte bessere Ergebnisse erzielen als die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung der Aussagepsychologie. 63
Vgl. Frister, FS Grünwald, 1999, S. 178 f. Vgl. Vrij (Fn. 62), S. 66 f. An anderer Stelle (aaO., S. 73) kommentiert er die „Idiosyncratic Patterns“: „(…) That is, perhaps such cues are idiosyncratic, and perhaps each individual has his or her own unique set of nonverbal cues which betray his or her lie“ („Idiosynkratische Verhaltensmuster“: „[…] Dies bedeutet, dass derartige Anzeichen möglicherweise idiosynkratisch sind und dass möglicherweise jedes Individuum über einen eigenen Fundus an nonverbalen Anzeichen verfügt, die ihre oder seine Lügen verraten“). 65 Frister, FS Grünwald, 1999, S. 180 f. (mit Fn. 45). 66 Vgl. Vrij (Fn. 62), Kapitel 8, S. 201 – 260, wobei es noch weitere Evaluationssysteme gibt, die ebenfalls von Vrij beleuchtet werden; siehe auch Jaume Masip und Eugenio Garrido, La evaluación del abuso sexual infantil – Análisis de la validez de las declaraciones del niño, 2007, S. 110 ff. Der Autor hat zwei psychologischen Begutachtungen in tatsächlichen Fällen an zwei verschiedenen deutschen Gerichten beigewohnt. In keinem der Fälle ging man anhand der Liste der 19 Kriterien der „CBCA“ vor, folgte aber im Großen und Ganzen der „Undeutsch-Hypothese“. In beiden Gutachten wurde eine „auf ein tatsächliches Erlebnis bezogene“, damit im Prinzip „wahrhaftige“ Aussage festgestellt. Dennoch konnte in einem der Gutachten die Möglichkeit einer Täuschung nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. 67 So etwa nach den Standards des Supreme Courts der Vereinigten Staaten, vgl. Daubert v. Merrel Dow Pharmaceuticals, Inc. (1993); vgl. auch Vrij (Fn. 62), S. 251 ff. 64
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Diese Überlegungen führen zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass ein Urteil, das sich auf eine einzelne Zeugenaussage stützt – insbesondere wenn der Zeuge zugleich die Anschuldigungen erhebt –, niemals über eine objektiv hinreichende Grundlage verfügt, um eine „persönliche Gewissheit“ zu erlangen, die auf einem anderen Weg zustande gekommen wäre, als über eine „Eingebung“ oder „Vorahnung“. Die Forderung nach unparteiischen Gerichten wäre ihres Sinnes beraubt, wenn diese ihre Urteile ausschließlich auf die Aussage eines gänzlich voreingenommenen Zeugen stützen könnten.
V. Vermag die Experimentalpsychologie eine von dem Verbot des einzelnen Zeugen abweichende Regel beizusteuern? Man könnte eine tausendjährige Maxime, die sehr unterschiedliche, von humanistischem Gedankengut inspirierte Kulturen überdauert hat, allerdings beiseite lassen, wenn die moderne Experimentalpsychologie in der Lage wäre aufzuzeigen, welche Person lügt und welche die Wahrheit sagt. Indes bestätigen die in der Forschung zur Aufdeckung lügnerischer Aussagen ausgewiesenen Fachleute, dass einerseits die Mehrzahl der Lügner ihre Gesprächspartner in den meisten Fällen erfolgreich hinter das Licht führen können und andererseits gerade Kinder schon in sehr jungen Jahren die Fähigkeit zur Lüge besitzen68. Jenes Beurteilungssystem, das unter den europäischen Psychologen und jedenfalls für das Ermittlungsverfahren69 auch in den Vereinigten Staaten zum Teil höchstes Ansehen genießt, ist die bereits erwähnte SVA, die sich aus vier Stufen zusammensetzt. Von diesen Stufen erlangt der dritte Analyseschritt besondere Relevanz: die Anwendung der sogenannten „Criteria-Based Content Analysis“ (CBCA) auf den verbalen (nicht aber den visuellen) Teil der Vernehmung. Die Realkennzeichen der CBCA sind in einzelne Gruppen unterteilt, die insgesamt 19 Kriterien umfassen, wobei die Tauglichkeit für die Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen jedenfalls in Bezug auf einige der Kriterien von Experten auch in Frage gestellt wird. Steller und Köhnken70 haben es unternommen, die „kriterienorientierte Aussageanalyse“ zu verteidigen. Der zentrale Gedanke, auf dem auch die sogenannte „Un68 Vgl. Paul Ekman, Cómo detectar mentiras (spanische Übersetzung von Wolfson), 3. Aufl. 2010, S. 167. Vgl. auch aaO., S. 205: „Es wäre alles sehr viel einfacher, wenn es irgendein spezifisches Anzeichen für die Lüge gäbe, das auch zu keinem anderen Umstand in Beziehung stünde; aber ein solches gibt es nicht.“ 69 So wird beispielsweise diskutiert, ob diese Methoden eine Einmischung in den Funktionsbereich der Jury darstellen. Mit ähnlichem Blickwinkel zu der „ureigenen Aufgabe“ des Richters aus deutscher Perspektive vgl. auch Fischer, NStZ 1994, 1 ff. 70 Steller/Köhnken, Criteria-Based Content Analysis, in: Raskin (Hrsg.), Psychological methods in criminal investigation and evidence, S. 217 – 245, 1989. Ich zitiere im Folgenden aus der spanischen Version von Gorbeña Etxebarria, in: Raskin (Hrsg.), Métodos psicológicos en la investigación y pruebas criminales, 1994, S. 189 – 211.
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deutsch-Hypothese“ beruht, besteht darin, dass sich wahre Angaben, die „sich auf ein Erlebnis beziehen“, im Hinblick auf ihre Nuancen sowohl in der Qualität als auch in der Quantität von erfundenen Erzählungen unterscheiden. Steller und Köhnken weisen darauf hin, dass Undeutsch „etwa 1.500 Aussageanalysen [durchgeführt habe], von denen die Mehrzahl auf Sexualdelikte mit Bezug zu Kindern oder jungen Frauen entfielen. In 90 % der Fälle wurden die Aussagen für aufrichtig befunden und in 95 % dieser Fälle wurde der Angeklagte von dem Gericht verurteilt.“71 Zwar wird an dieser Stelle nicht erläutert, ob jede einzelne dieser Aussagen auch die alleinige Grundlage der verurteilenden Entscheidungen bildete, doch es steht zu vermuten, dass sie in einem gewichtigen Anteil dieser Fälle tatsächlich das einzige Fundament für den „Beweis der Strafbarkeit“ darstellten. Mit welchem „Umrechnungskurs“ wurde hier in Wahrheit gearbeitet? Gab es womöglich sogar eine „Verkehrung“: zehn schuldig gesprochene Unschuldige für jeden verurteilten Schuldigen? Steller und Köhnken geben ausdrücklich an, dass „eine generelle Beurteilung des Anteils, mit dem die Inhaltskriterien in einer Aussage vorhanden sind, zu einer Einschätzung der Aussagequalität führt. Dies ermöglicht eine Beurteilung des Wahrheitsgrades, mit anderen Worten, eine probabilistische Einschätzung dahingehend, ob der Zeuge das angebliche Geschehen tatsächlich erlebt hat oder nicht.“72 Doch sie geben keine Einschätzung dahingehend ab, wie hoch der „Wahrscheinlichkeitsgrad“ oder der „Fehlerquotient“ ist, den sich derartige Begutachtungen erlauben können. Die Aufklärung über den Fehlerquotienten eines Sachverständigenbeweises ist eines jener fünf Kriterien, die der Supreme Court der Vereinigten Staaten fordert, damit die jeweilige Begutachtung bei Gericht als wissenschaftlicher Beweis zugelassen werden kann. Auch wenn einige Fachleute davon ausgehen, dass die SVA heutzutage das beste zur Verfügung stehende Verfahren sei73, so belegt dies lediglich, dass es sich dabei um einen „Schluss auf die beste Erklärung“ („inference to the best explanation“) handelt. Die Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts zeigt jedoch, dass auch die „beste“ in Reichweite befindliche Erklärung gleichwohl „sehr schlecht“ sein kann. So ernsthaft dieses Verfahren auch betrieben wird, es hat im Hinblick auf eine Fehlbarkeitskontrolle doch keine zufriedenstellenden Ergebnisse hervorgebracht. Im Vergleich zu Laien (und dem „erfahrenen“ Richter) könnte die SVA allem Anschein nach tatsächlich die Fähigkeit erhöhen, zwischen wahren und falschen Zeugenaussagen zu unterscheiden, denn sie liegt bei Laien (und „erfahrenen“ Richtern) in Bezug auf die Erkennung wahrer Aussagen kaum über 50 %, während sie bei unwahren Aussagen nicht einmal diesen Wert erreicht74. Dennoch beträgt die
71
Steller/Köhnken (Fn. 70), S. 203. Steller/Köhnken (Fn. 70), S. 199 f. (Hervorhebung von mir.) 73 Masip/Garrido (Fn. 66), S. 127 ff. 74 Vrij (Fn. 62), S. 148 f. Dies mag sich daraus erklären, dass „der Beobachter dazu neigt, die Nachrichten als erwiesen hinzunehmen.“ (aaO., S. 149). 72
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Fehleranfälligkeit des SVA-Verfahrens nach Vrij etwa 30 %75, sodass unter zehn auf der Grundlage einer SVA verurteilten Personen immer noch drei Unschuldige sein könnten. Ein Verfahren, das einen derartigen Fehlerquotienten aufweist, kann nur zu einem Wiedererstarken des Verbots eines einzelnen Zeugnisses führen. Denn man kann nicht ernsthaft behaupten, dass eine Fehlerhäufigkeit von etwa 30 % der beurteilten Fälle „jeden vernünftigen Zweifel“76 ausschließe und eine derartige objektive Kenntnislücke könnte auch nicht vermittels der „subjektiven Überzeugung“ umgangen werden. Der „Erfahrungssatz“ lautet hier: es bestehen objektiv „vernünftige Zweifel“. Die Untersuchungen von Vrij, die wahrscheinlich zu den modernsten bekannten Arbeiten im Umkreis der Feststellung von Lug und Betrug rechnen, berücksichtigen alle bekannten derartigen Verfahren. Im Epilog seiner Ausführungen steht das Folgende zu lesen: „In diesem Buch berichtete ich, dass zahlreiche Forscher die Behauptung aufgestellt haben, sie hätten sehr treffsichere Methoden zur Unterscheidung von Lüge und Wahrheit entwickelt. Mein Rat an sie lautet, nur nicht die Bodenhaftung zu verlieren. In meinen Augen ist kein Instrument unfehlbar und jedes bis zum heutigen Tage entwickelte Instrument leidet unter erheblichen Problemen und Beschränkungen (…). Dies bedeutet nicht, dass die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge nicht möglich ist.“77
Dieses Zitat sollte ausreichend sein, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass ohne Zweifel Peters die Vernunft zur Seite stand, als er die Frage aufwarf, „ob die Anwendung alter Beweisregeln nicht vor manchen Verurteilungen gesichert hätte, deren Richtigkeit zu Zweifeln Anlaß gibt“78. Dies gilt in gleichem Maße für Freund, wenn er sagt, dass bei „zwei Zeugen […] die strafrechtlich abgesicherte Wahrheitspflicht als normative Garantie [eingreift], sodass das verbleibende Restrisiko tolerabel erscheint.“79 Auch eine Mahnung von Deckers lässt sich in die Reihe dieser restriktiven Stellungnahmen einordnen; sie legt insbesondere für den Fall des sexuellen Missbrauchs ein Augenmerk auf die Bedingungen der Evaluation von Hypothesen: „Als Fazit kann zunächst also grundsätzlich festgehalten werden, dass beim Missbrauchsverdacht die Gesetzmäßigkeiten sozialen Hypothesentestens auf Bedingungen treffen, die die Bestätigung des Verdachts übermäßig fördern.“80
75
Vrij (Fn. 62), S. 252 f. Vrij (Fn. 62), S. 253, 262. 77 Vrij (Fn. 62), S. 419 (Epilog). 78 Peters, FS Olivecrona, 1964, S. 532 (542). 79 Freund, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 406 (409). 80 Deckers, FS Eisenberg, 2009, S. 473 (477); zu entsprechenden Stellungnahmen vgl. auch Eschelbach, in: Graf (Hrsg.), BeckOK-StPO, Stand: 01. 06. 2012, § 261 Rn. 55.2; Geipel, StV 2008, 271. 76
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VI. Vorwegnahme von Gegenargumenten Gegen die hier vertretene Position werden für gewöhnlich zwei unterschiedliche Argumente vorgetragen. Einerseits wird angeführt, dass auch die Zeugenmehrheit keinerlei „Sicherheit“ gewährleiste, da auch zwei oder drei Zeugnisse falsch sein könnten. Andererseits bedeute eine Rückkehr zum „negativen Legalbeweis“ jedenfalls in den Fällen des einzelnen Zeugen, in denen sich Täter und Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, dass die Täter straffrei ausgingen, sofern von der Tat keine objektiven Spuren übrig seien. 1. In Bezug auf das erste Gegenargument mag zugestanden werden, dass sicherlich auch zwei oder mehr Zeugnisse genauso falsch sein können, wie ein einzelnes, insbesondere wenn sie nicht aus unabhängigen Quellen stammen. Schon im 1. Buch der Könige81 wird von der Verführung des Ahab durch seine Frau Isebel berichtet, nachdem Nabot aus Jesreel sich geweigert hatte, Ahab seinen Weinberg zu verkaufen. Isebel schmiedete daraufhin ein Komplott, wonach Nabot von zwei ruchlosen Männern der Gotteslästerung und Majestätsbeleidigung beschuldigt werden sollte. So kam es, dass Nabot tatsächlich auf der Grundlage zweier falscher Zeugenaussagen hingerichtet wurde. Gleichwohl gestattet es eine Mehrzahl unabhängiger Zeugen, die vermittels eines gründlichen und fachkundig durchgeführten Kreuzverhörs befragt werden, ihre Aussagen dahingehend miteinander in Beziehung zu setzen, ob die von jedem einzelnen vorgetragenen Begleitumstände zu den Angaben der übrigen Zeugen passen. Dieses Verfahren ist zugleich jenes, welches Susanna in der Erzählung im Buch Daniel82 vor dem Vorwurf des Ehebruchs bewahrt, den zwei Älteste vorgetragen hatten, die sich nach ihr verzehrten, während Susanna es aber abgelehnt hatte, ihre Treuepflicht zu verletzen83. Als man sie aufgrund der beiden falschen Aussagen schon zur Hinrichtung führte, forderte Daniel die getrennte Befragung beider „Zeugen“84. Die beiden konnten auf die Frage, unter welchem Baum der Ehebruch stattgefunden habe, keine übereinstimmende Antwort geben: Während der eine „Unter einer Zeder“ antwortete, gab der andere „Unter einer Eiche“ zurück. Sicherlich könnte ein Richter, der sich „seiner Intuition sehr sicher ist“, solche Unstimmigkeiten ignorieren und sie als irrelevante „nebensächliche Umstände“ klassifizieren. Damit wäre aber lediglich bewiesen, dass die subjektive Überzeugung „alles möglich macht“. Darüber hinaus ist Folgendes von Bedeutung: Wenn man erstens zwei geeignete und aus unabhängigen Quellen stammende Zeugenaussagen zugrunde legt, zweitens davon ausgeht, dass die Durchführung eines Kreuzverhörs die gleiche Effizienz auf81
1 Kön 21, 1 – 26. Dan 13, 15 – 64. 83 Dan 13, 22: „Da rief Susanna: Ich bin bedrängt von allen Seiten: Wenn ich es tue, so droht mir der Tod; tue ich es aber nicht, so werde ich euch nicht entrinnen. Es ist besser für mich, es nicht zu tun und euch in die Hände zu fallen, als gegen den Herrn zu sündigen.“ 84 Dan 13, 51 – 59. 82
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weist wie die Begutachtung durch einen in der Aussagepsychologie bewanderten Sachverständigen (die Fehlerquote bei der Würdigung der Aussagen betrüge also jeweils 30 %), und drittens annimmt, dass beide Aussagen in Bezug auf die Beschreibung der Tatsachen übereinstimmen und auf die Schuld des Täters hinweisen, so reduzierte sich die Wahrscheinlichkeit, dass beide Aussagen falsch wären, auf 9 % (0,3 x 0,3 = 0,09). Und wenn es sich nunmehr um drei geeignete, geradlinige und übereinstimmende Zeugnisse handelte, so läge die Wahrscheinlichkeit gänzlich falscher Anschuldigungen bei 2,7 % (0,3 x 0,3 x 0,3 = 0,027). Dies belegt, dass die Forderung nach einer Zeugenmehrheit nicht zu einer „Wiederholung ein und desselben Vorganges“ führt, der auch beim zweiten Mal nicht mehr Informationen beizusteuern vermag, als beim ersten. Die Fehlerrate jedenfalls reduzierte sich auf ein Niveau, das von einem Rechtsstaat toleriert werden könnte. Zugleich erhält der biblische Ausdruck „aus dem Munde zweier oder dreier …“ einen vollumfänglichen Sinn. 2. Das zweite zu widerlegende Argument ruft im Grunde nur die Verletzungen von Verfahrensregeln erneut in das Gedächtnis, die einst in den sogenannten delicta excepta angelegt waren, und damit zugleich auch die Maxime „In atrocissimis leviores conjecturae sufficiunt, et licet iudice iura transgredi“, gegen die Beccaria schwerwiegende Einwände erhoben hat85. Es besagt nicht mehr, als dass in jenen Fällen, in denen von einer Tat – sofern sie denn begangen wurde – „kein Beweis“ vorhanden ist, bereits die geringste Vermutung ausreicht, um den Beschuldigten zu bestrafen. Also führt dies tatsächlich zu einer Aufhebung der Unschuldsvermutung an sich. So wird in dem bereits erwähnten Fall Coffing v. United States86 die von Ammianus Marcellinus geschilderte Anekdote referiert, die das Gewicht des Zweifelsprinzips im römischen Recht87 illustriert. Als der Kläger Delphidius die mögliche Zurückweisung der Anklage vorhersah, wandte er sich an Julian und sagte: „Oh großer Caesar, wenn es genügt, alles abzustreiten, was wird dann aus den Schuldigen?“ Daraufhin soll Julian geantwortet haben: „Und wenn es genügt, jemanden nur zur beschuldigen, was wird dann aus den Unschuldigen?“ Das Argument, im anderen Falle blieben zahlreiche Taten ungestraft, erlaubt es nämlich, eine Anschuldigung zu konstruieren, bei der man annimmt, der Täter habe keinerlei Spuren hinterlassen, und schon verliert das eigene Wort des Betroffenen allen Wert; es zählt dann allein das Wort des Anklägers. Dies bedeutete eine Abkehr von den Prinzipien der Gleichheit als Wächter der Unschuldsvermutung. *** Es steht zu vermuten, dass unser heutiger Jubilar sich der hier vertretenen Position nicht anschließen wird. Gleichwohl wurde dieser bescheidene Beitrag zu großen Teilen von jenem „reflective equilibrium“ inspiriert, das die Hörsäle in den Vorlesungen 85
Beccaria, (Fn. 36), § VIII. Dei Testimoni, S. 199 (mit Fn. 1). Vgl. Fn. 7. 87 D. 50.17.192.1: In re dubia benigniorem interpretationem sequi non minus iustius est quam tutius (In einer zweifelhaften Sache der milderen Auslegung zu folgen, ist ebenso gerecht wie sicher). 86
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Wolfgang Frischs erfüllte: Die Abwägung des Für und Wider zu jedem Standpunkt, ohne Furcht vor den Konsequenzen liberaler Überlegungen, die sich stets an den Beschuldigtenrechten und dem Gerechtigkeitsgefühl orientierten.
Tatrichterliche Beurteilungsspielräume im Strafrecht – Zur Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 2 StGB und den Grenzen revisionsgerichtlicher Kontrolle Von Louisa Bartel
I. Einleitung Die Diskussion über die gesetzliche Regelung der Tötungsdelikte ist so alt wie die geltende Regelung selbst.1 Sie ist nie verstummt, im Gegenteil. Seit Jahren herrscht Einigkeit über den Reformbedarf der Tötungsdelikte. Doch der Gesetzgeber hat sich bislang zu einer Novellierung der Vorschriften nicht durchzuringen vermögen. Ob dem kürzlich von einem Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer vorgelegten Alternativ-Entwurf Leben2 ein glücklicheres Schicksal als seinen Vorgängern beschieden sein wird, bleibt abzuwarten. In der Kritik de lege lata steht nicht so sehr die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag, die einer langen Rechtstradition entspricht3. Im Streit steht vielmehr die Frage des Verhältnisses beider Tatbestände zueinander4 und die hieraus resultie1 Durch das Gesetz zur Änderung des RStGB vom 04. 09. 1941 (RGBl. I, S. 549) wurde die noch im Reichsstrafgesetzbuch enthaltene Unterscheidung zwischen Totschlag und der auf „Überlegung“ beruhenden Tötung eines anderen als Mord aufgehoben und zur Unterscheidung auf einen Katalog von Mordmerkmalen abgestellt, die eher dem sozialethischen Unrechtsgehalt der Tat Rechnung tragen. Ob damit „die besondere Verwerflichkeit und die Gefährlichkeit der Tat“ (befürwortend Rissing-van-Saan, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?, Referate und Diskussionen auf dem 2. Karlsruher Strafrechtsdialog am 19. Juni 2009, 2010, S. 29) als Leitkriterien installiert wurden, oder die gesetzliche Regelung defizitär ist, weil es an verbindlichen Leitkriterien für die Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag fehlt (vgl. Heine, GA 2000, 305, 307), nachdem die Lehre vom normativen Tätertyp obsolet geworden ist, steht nicht gänzlich außer Streit. 2 GA 2008, 193 – 270; vgl. dazu Kreutzer, FS Schöch, 2010, S. 495 f. 3 Vgl. Rissing-van-Saan, (Fn. 1), S. 28; Jähnke, MDR 1980, 705, 706; zur geschichtlichen Entwicklung Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2011, S. 57 – 78. 4 Gegen die einhellige Lehre vertritt der Bundesgerichtshof die Auffassung, dass Mord und Totschlag zwei selbstständige Tatbestände sind und nicht im Verhältnis von Grundtatbestand und Qualifikation zueinander stehen, vgl. BGHSt 1, 368, 370; 22, 375, 377; BGH StV 1984, 69; kritisch jedoch der 5. Strafsenat (NStZ 2006, 286, 288). Umfassend zum Meinungsstreit MK-StGB/Schneider, 2003, Vor §§ 211 ff. Rn. 133 und 135 ff. Ob sich hier eine Trendwende ankündigt, bleibt abzuwarten; zurückhaltend Rissing-van-Saan, in: Jahn/Nack, 2. Karlsruher
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renden Folgeprobleme auf der Teilnahmeebene5, die Frage der Tauglichkeit der Mordmerkmale als Abgrenzungskriterien für höchststrafwürdige Tötungsdelikte6, nach den Leitlinien7 für ihre Auslegung, und nicht zuletzt die Frage nach möglichen Restriktionen des Tatbestands des Mordes in atypischen Fällen, in denen die allein angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe nicht schuldangemessen erscheint8. Kritik erfährt nicht selten die Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 2 StGB, die vielen als unbestimmt und vage gilt.9 Die Rechtsprechung hat sich von je her um eine restriktive Anwendung gerade dieses Mordmerkmals bemüht. Nicht zuletzt deshalb erfordert die Feststellung des Mordmerkmals der „sonst niedrigen Beweggründe“ eine umfassende Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter charakterisierenden Umstände, wie sie in Fällen, in denen das Gesetz keine Punktstrafe kennt, die Strafzumessung im engeren Sinne prägt.10 Die Intensität der revisionsgerichtlichen Kontrolle der tatrichterlichen Entscheidung hat jedoch abgenommen. Seit geraumer Zeit billigt der Bundesgerichtshof dem Tatrichter bei der Subsumtion der Feststellungen unter das Mordmerkmal der „sonst niedrigen Beweggründe“ einen „Beurteilungsspielraum“ zu11; er beschränkt die revisionsgerichtliche Prüfung auf die Frage, ob der Tatrichter von einem zutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab ausgegangen ist, ob er eine umfassende Gesamtwürdigung aller insoweit entscheidungserheblichen Umstände vorgenommen hat, und schließlich, ob sich das von ihm gefundene Entscheidungsergebnis innerhalb des ihm eröffneten Beurteilungsspielraums hält. Die damit umschriebene Restriktion revisionsgerichtlicher Prüfungstiefe unter Hinweis auf einen dem Tatrichter eröffneten Beurteilungsspielraum ist dabei kein „Phänomen“12, das allein im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 2 StGB anzutreffen wäre. Von Beurteilungsspielräumen ist in unter-
Strafrechtsdialog – Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?, 2010, S. 24. 5 Vgl. Altvater, NStZ 2006, 87, 88 m.w.N. 6 Pointiert Wolf, FS Schreiber, 2003, S. 519, 524 f.; Mitsch, JZ 2008, 336, 337 f. 7 Rissing-van-Saan (Fn. 1); kritisch Eser, Empfiehlt es sich, die Straftatbestände des Mordes, des Totschlags und der Kindestötung (§§ 211 bis 213, 217 StGB) neu abzugrenzen? Gutachten D zum 53. DJT, 1980, D 50 – 52; Grünewald (Fn. 3), S. 39 – 57; Heine, GA 2000, 305, 307. 8 Vgl. zur Heimtücke BGHSt 30, 105, 119 f. 9 So Woesner, NJW 1978, 1025, 1027; Rüping, JZ 1979, 617, 620; Kargl, StraFo 2001, 365, 367 f.; NK-StGB/Neumann, 3. Aufl. 2010, § 211 Rn. 26; SK-StGB/Sinn, Loseblattausgabe, 125. Lfg. (Oktober 2010), § 211 Rn. 20 und 21. 10 Zutreffend Grünewald (Fn. 3), S. 101. 11 Siehe nur BGHSt 56, 11, 19; BGH NStZ-RR 2008, 308; NStZ 2007, 330, 331; NStZ 2006, 284, 285; NStZ-RR 2004, 79, 80. 12 So die treffende Kennzeichnung von Mosbacher, FS Seebode, 2008, S. 227, 229 f.; diese Begriffswahl deutet an, dass es sich hier um eine einigermaßen schillernde Rechtsfigur handelt, deren dogmatische Grundlagen so vage erscheinen wie ihre Grenzen.
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schiedlichen verfahrensrechtlichen Konstellationen13 die Rede; ihre Anerkennung führt im Bereich der Formalrügen, der ohnehin zahlreichen Restriktionen unterliegt14, zu einer weiteren Einschränkung revisionsgerichtlicher Kontrolldichte.15 Auch im Anwendungsbereich des materiellen Rechts soll dem Tatrichter in einer Reihe weiterer Fallkonstellationen unterschiedlichen Gewichts ein solcher Beurteilungsspielraum zustehen. Nicht nur auf der Rechtsfolgenseite, sondern auch auf der Tatbestandsseite einiger Normen des allgemeinen und des besonderen Teils des Strafgesetzbuchs wird die revisionsgerichtliche Kontrolle des Ergebnisses der tatrichterlichen Subsumtion der Feststellungen unter einen „unbestimmten“ Rechtsbegriff auf die Frage der Vertretbarkeit beschränkt. Beispielsweise16 soll das vom Tatrichter gefundene Entscheidungsergebnis, ob im Einzelfall das Handeln des Angeklagten als aktives Tun oder als Unterlassen (§ 13 StGB)17, als täterschaftliche Verwirklichung des Tatbestands oder als Teilnahme18, als (noch) straflose Vorbereitungshandlung oder als strafbarer Versuch19 anzusehen ist, ob eine Einschränkung der Schuldfähigkeit als „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB zu bewerten ist20 oder 13 Vgl. hierzu Maatz, StraFo 2002, 373, 375; Mosbacher, FS Seebode, 2008, S. 227, 229 f.; Störmer, ZStW 108 (1996), 494 f.; Schmid, ZStW 85 (1973), 360 f. 14 Zu den unterschiedlichen Entwicklungslinien revisionsgerichtlicher Prüfungstiefe im Bereich der Verfahrensrüge und der Sachrüge vgl. Frisch, FS Fezer, 2008, S. 353, 361 f.; ders., FS Eser, 2005, S. 257 f. ders., SK-StPO, Vor § 333 Rn. 8; ders., in: Rudolphi-Symposion, 1995, S. 173, 188. 15 Sie sollen nicht Gegenstand der nachfolgenden Erörterungen sein, denn sie werfen anders akzentuierte, spezifisch verfahrensrechtliche Fragestellungen auf. 16 Umfassende Übersichten über die verschiedenen Fallkonstellationen bieten Tolksdorf (FS Meyer-Goßner, 2001, S. 523, 526 f.), Maatz (StraFo 2002, 373, 375), Mosbacher (FS Seebode, 2008, S. 227, 230 f.), sowie – die ältere Rechtsprechung einschließend – Schmid (ZStW 85 [1973], 360, 387 f.). 17 Vgl. BGH NStZ 1999, 607; ablehnend Tolksdorf, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 523, 536; Merkel, FS Herzberg, 2008, S. 193, 196 Fn. 7 unter Hinweis auf Puppe, Strafrecht, AT II, 2005, § 46 Rn. 2. 18 Vgl. BGH NStZ-RR 2012, 209, 210; NStZ-RR 2012, 241, 243; NStZ-RR 2010, 236, 237; NStZ-RR 2005, 71; NJW 2000, 482. Ob dem Tatrichter hier regelmäßig oder lediglich „in Grenzfällen“ (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 71: „in Grenzfällen“; NStZ-RR 2010, 236, 237: „vor allem in Grenzfällen“) ein Beurteilungsspielraum zuerkannt wird, erscheint unklar; der Beschluss des 3. Strafsenats vom 27. 03. 2012 – 3 StR 63/12 –, NStZ-RR 2012, 209, 210, könnte für Ersteres sprechen, denn der Senat hat dort aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes der Handlungen, bei denen es sich um „typische Beihilfehandlungen“ handelte, die für sich genommen weder auf Tatherrschaft noch auf den Willen zur Tatherrschaft hindeuteten, eine Überschreitung des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums angenommen. 19 BGH NStZ 1998, 210, 211; nach Auffassung des Senats ist dem Tatrichter „bei der insoweit vorzunehmenden rechtlichen Wertung […] ein Beurteilungsrahmen eröffnet“. In älteren Entscheidungen ist gelegentlich vom „Ermessen des Tatrichters bei Beurteilung des Einzelfalls“ (vgl. BGH NJW 1952, 430, 431; ähnlich bereits RGSt 53, 1) oder davon die Rede, dass dies „Tatfrage“ (BGH bei Dallinger, MDR 1967, 896) sei. 20 Vgl. BGH, Beschl. v. 29. 05. 2012 – 1 StR 59/12 –, juris, Rn. 28; zum tatrichterlichen Beurteilungsspielraum im Rahmen der §§ 20, 21 StGB siehe auch Maatz/Wahl, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 531, 553.
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ob eine gemäß § 331 StGB strafbare Unrechtsvereinbarung vorliegt21, vom Revisionsgericht auch dann hinzunehmen sein, wenn ein anderes Entscheidungsergebnis möglich gewesen wäre oder nach Auffassung des Revisionsgerichts sogar näher gelegen hätte22. Diese Ansicht hat früh Kritik erfahren. Der Jubilar dieser Festschrift, mein verehrter Doktorvater, hat vor annähernd 40 Jahren23 in der ihm eigenen, unbestechlich klaren Gedankenführung auf die dogmatischen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, die mit der Anerkennung der Rechtsfigur des Beurteilungsspielraums im Strafrecht – der Annahme eines tatrichterlichen Wahlrechts24 im Bereich der Rechtsanwendung und der Beschränkung der revisionsgerichtlichen Kontrolle auf eine Vertretbarkeit des tatrichterlichen Entscheidungsergebnisses – verbunden sind25 ; er hat „die Konstruktion eines irrevisiblen Spielraums der Vertretbarkeit im Strafrecht“ als „unhaltbar“ bezeichnet. Ungeachtet dieser fundierten Kritik hat sich seine damals formulierte Prognose, die Bedeutung von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen würde künftig auch im Strafrecht erheblich zunehmen, als richtig erwiesen. Der tatrichterliche Beurteilungsspielraum erfreut sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ungebrochener Beliebtheit.26 Dabei ist weder die von Kritikern27 aufgeworfene Frage nach einer tragfähigen Begründung für eine Beschränkung der revisionsgerichtlichen Rechtsfehlerkontrolle auf den Maßstab reiner Vertretbarkeit zufriedenstellend beantwortet noch restlich geklärt, ob die revisionsgerichtliche Restriktion auf „Grenzfälle“ beschränkt ist, ob und gegebenenfalls wie ein solcher Grenzbereich (abstrakt) zu konturieren wäre, und wo die Grenzen eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums verlaufen könnten. Die Frage nach einer tragfähigen Legitimation für einen solchen tatrichterlichen Beurteilungsspielraum bei der Subsumtion der Feststellungen unter eine Strafvorschrift wirft mehrere Fragen auf. Die dem Verwaltungsrecht entlehnte Begriffswahl lädt zum Nachdenken darüber ein, ob eine Übertragung der hinter der Lehre vom Beurteilungsspielraum stehenden Rechtsgedanken auf den Strafprozess im Allgemei21 So Geisler, FS Geppert, 2011, S. 113, 115 unter Bezugnahme auf BGHSt 53, 6, 17. Die Ausführungen des 1. Strafsenats könnten jedoch auch als Hinweis auf die revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare tatrichterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO – „Tatfrage“) verstanden werden. 22 Vgl. nur BGH NStZ-RR 2006, 340, 341. 23 Frisch, NJW 1973, 1345. 24 Zutreffend und hochaktuell erscheint sein Hinweis auf den richterlichen Konkretisierungsauftrag im Bereich des Strafrechts auch und gerade im Anwendungsbereich vager Strafnormen. 25 Vgl. Frisch, NJW 1973, S. 1347. 26 Vgl. SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 110 f.; Löwe/Rosenberg/Hanack, StPO, 25. Aufl. 2003, § 337 Rn. 110. 27 Vgl. Frisch, NJW 1973, S. 1348 f.; Tolksdorf, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 523 f.; Wolf, FS Schreiber, 2003, S. 519, 524 f.; Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 768; Geisler, FS Geppert, 2011, S. 113 f.; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 211 Rn. 15; Löwe/Rosenberg/Hanack (Fn. 26), StPO, § 337 Rn. 110.
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nen und das materielle Strafrecht im Besonderen überhaupt in Betracht kommen kann. Sie ist eng mit der spezifisch revisionsrechtlichen Fragestellung danach verknüpft, ob es im Verhältnis zwischen dem gemäß § 337 StPO auf eine Rechtsfehlerkontrolle beschränkten, aber zu voller Rechtskontrolle auch verpflichteten Revisionsgericht einerseits und dem Tatgericht andererseits, das die Verantwortung für die Feststellung des entscheidungserheblichen Lebenssachverhalts und die Beweiswürdigung (§ 261 StPO) trägt, überhaupt rechtliche Freiräume für den Tatrichter geben kann. Deutet die Akzeptanz verschiedener Entscheidungsergebnisse bei identischem Lebenssachverhalt notwendig auf einen jedenfalls im Detail divergierenden rechtlichen Prüfungsmaßstab hin, so könnte die Zuerkennung eines solchen Spielraums als Indiz dafür angesehen werden, dass die Auslegung des Straftatbestands nicht in jeder Hinsicht im Einklang mit den strengen verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG steht. Zu fragen wäre danach, ob die Zuerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums wegen der damit verbundenen Restriktion revisionsgerichtlicher Kontrolle auf eine reine Vertretbarkeit mit verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG und dem Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes28, in Einklang steht. Und nicht zuletzt ist die Frage aufgeworfen, ob sich hinter dem Topos vom „tatrichterlichen Beurteilungsspielraum“ revisionsgerichtliche Erkenntnisprobleme verbergen, die im Tatsächlichen wurzeln und mit den beschränkten Mitteln des Revisionsrechts nicht befriedigend zu lösen sind; die Anerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums könnte für ein revisionsgerichtliches „Unbehagen“ an den tatrichterlichen Feststellungen und Beweisergebnissen stehen, das nicht in die Kategorie eines Rechtsfehlers im Sinne des § 337 StPO gefasst werden kann.29 Diese Fragen sollen an dem eingangs erwähnten, „besonders bemerkenswerten“30 Beispiel für die Anerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums, der Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 2 StGB, erörtert werden. Dabei soll zunächst (II.) das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in der Auslegung, die es durch den Bundesgerichtshof erfahren hat, skizziert und die Entscheidungen der Strafsenate des Bundesgerichtshofs, die dem Tatrichter einen Beurteilungsspielraum zugestehen, näher beleuchtet werden. Anschließend (III.) sollen die bislang formulierten Argumente für und wider die Anerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspiel28 Ob insoweit tatsächlich – wie das BVerfG (BVerfGE 107, 395, 404 f.) annimmt – der allgemeine Justizgewährungsanspruch des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes einschlägig ist, oder die Kontrolle von Strafurteilen, die den Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Rechte überhaupt erst bewirken, nicht unmittelbar an Art. 19 Abs. 4 GG zu messen wäre (vgl. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 146 f.; Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 404 f.; Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 4 Rn. 442; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2004, Art. 19 IV, Rn. 49) kann hier offen bleiben. 29 Der Hinweis auf den tatrichterlichen Beurteilungsspielraum wirkt gelegentlich wie ein Zeichen der Distanzierung vom tatrichterlichen Entscheidungsergebnis. 30 Vgl. Tolksdorf, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 527.
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raums analysiert und auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft werden. Diese Prüfung wird ergeben, dass ein tatrichterlicher Beurteilungsspielraum weder mit § 337 StPO noch mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen in vollem Umfang in Einklang zu bringen ist. Eine Lösung der von den Befürwortern eines Beurteilungsspielraums angeführten, de lege lata nicht gänzlich befriedigend zu lösenden Beweis- und Bewertungsproblematik bei der Anwendung der Motivgeneralklausel in Grenzfällen wird jedoch nicht mit Hilfe der Restriktion revisionsgerichtlicher Prüfungstiefe gelöst werden können (IV.).
II. Das Mordmerkmal der „sonst niedrigen Beweggründe“ und der tatrichterliche Beurteilungsspielraum Dem Tatrichter soll bei der Prüfung und Entscheidung der Frage, ob der Angeklagte das Mordmerkmal der sonst niedrigen Beweggründe im Sinne der ersten Gruppe des § 211 Abs. 2 StGB verwirklicht hat, oder ob er wegen Totschlags (§ 212 StGB) zu bestrafen ist, ein Beurteilungsspielraum zustehen.31 Es lohnt sich, zunächst die Auslegung dieses reichlich vagen Mordmerkmals durch den Bundesgerichtshof einer näheren Betrachtung zu unterziehen. 1. Das Mordmerkmal der „sonst niedrigen Beweggründe“ a) Die Auffassung des Bundesgerichtshofs Nach der Auslegung der Motivgeneralklausel durch den Bundesgerichtshof sind die Beweggründe für die Tötung eines anderen Menschen als „niedrig“ anzusehen, wenn sie „nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, mithin in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen“32. Die Formulierungen zur Umschreibung des Tatbestandsmerkmals schwanken zeitbedingt, ohne dass greifbare inhaltliche Unterschiede zu erkennen wären.33 Ob ein Tötungsbeweggrund in diesem Sinne als niedrig anzusehen ist, soll auf der Grundlage der „Gesamtheit der Handlungsan31 BGH NStZ-RR 2004, 79, 80; NStZ 2006, 284, 285; NStZ 2007, 330, 331; NStZ-RR 2008, 308; vgl. aber auch BGH NStZ 2005, 35, 36, der Senat hat die Tat dort – auf der Grundlage der von der Strafkammer festgestellten Umstände – abweichend vom Tatrichter als „niedrig“ bewertet. 32 BGH NStZ 2006, 286, 287. 33 Vgl. OGH 1, 321 327 („besonders gemeiner und daher verächtlicher Beweggrund“); BGHSt 2, 60, 63; 3, 132 „Niedrig ist ein Tötungsbeweggrund, der nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht, durch hemmungslose triebhafte Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich ist“); ähnlich BGHSt 35, 116, 127; weiter möglicherweise BGHSt 47, 128, 130 („wenn der Täter in dem Bewusstsein handelt, keinen Grund für eine Tötung zu haben oder zu brauchen, oder wenn er bewusst seine frustrationsbedingten Aggressionen an einem unbeteiligten Opfer abreagiert“).
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triebe des Täters“34 zu beurteilen sein. Erforderlich ist eine Gesamtwürdigung, welche alle Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und seine Persönlichkeit einschließt.35 Das Verhältnis zwischen Anlass und Tat, die Tatvorgeschichte einschließlich einer möglichen Verantwortung des Täters oder des Opfers für die Eskalation eines Konflikts36, das unmittelbar vorherrschende Tatmotiv und sein Verhältnis zu anderen Beweggründen, Handlungsantrieben und Einstellungen des Täters gegenüber dem Opfer und dessen Lebensrecht sollen dabei Berücksichtigung finden. Liegen dem Tötungsentschluss unterschiedliche Motive zugrunde, so soll das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe nur bejaht werden können, wenn das Hauptmotiv oder die das Tatbild prägenden vorherrschenden Motive als niedrig anzusehen sind.37 Der Bundesgerichtshof fordert schließlich, dass die zur Tötung drängenden Motive für den Täter auch beherrschbar gewesen sein müssen38 und räumt dem Tatrichter auch hinsichtlich der insoweit erforderlichen Bewertungen einen Beurteilungsspielraum ein.39 Die Anwendung der Motivgeneralklausel ist mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Nicht gänzlich geklärt erscheint der Begriff der „Beweggründe“40, der auch in anderen Zusammenhängen im Strafgesetzbuch Erwähnung findet41; fraglich ist, ob damit in erster Linie die Handlungsziele des Täters oder die ihn zum Handeln drängenden Antriebe42 umschrieben sein sollen43 und ob ihm
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BGHSt 35, 116, 127. BGHSt 35, 116, 127; 47, 128, 130. Paeffgen (GA 1982, 255, 266) weist nicht zu Unrecht darauf hin, dass es – von der Mordlust abgesehen – keine „niedrigen Beweggründe an sich“ gebe, sondern erst der „Antriebs-, Handlungs- und Erfolgszusammenhang“, in den sie jeweils eingebettet seien, eine Bewertung erlaube. 36 Vgl. BGHSt 28, 210, 212. 37 BGH NStZ-RR 2004, 14. Dass die Behandlung von Motivbündeln, die in der Praxis besonders häufig anzutreffen sind, besondere Beweisschwierigkeiten aufwirft, sei hier nur angedeutet. Siehe dazu im Einzelnen Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, 1988, S. 46 – 54. 38 BGHSt 28, 210, 212; 42, 301, 304; vgl. Schönke/Schröder/Eser, StGB, 28. Aufl. 2010, § 211 Rn. 39. 39 BGH NStZ-RR 2006, 340, 341. 40 Vgl. Heine (Fn. 37) S. 36 – 54; zu den Schwierigkeiten der Motivfeststellung siehe auch Glatzel, Mord und Totschlag, 1987, S. 60. 41 Auch der in § 46 Abs. 2 StGB enthaltene, nicht abschließende Katalog von „Strafzumessungstatsachen“ (vgl. Fischer (Fn. 27), StGB, § 46 Rn. 25) erwähnt die „Beweggründe und Ziele des Täters“. Mit Beweggründen ist dort die Motivation des Täters umschrieben, die je danach strafschärfend oder mildernd zu berücksichtigen ist, ob sie „als mehr oder weniger verständlich, als unverständlich, ja als verwerflich“ erscheint (BGHSt 34, 345, 351 f.). Bei der Festlegung der Bewertungsrichtung soll dem Tatrichter ein Beurteilungsspielraum zukommen (BGHSt 34, 345, 349 f. mit kritischer Anm. Frisch, GA 1989, 338 ff.). 42 Vgl. BGH NStZ 2001, 87, 88: „Tatantriebe“; ebenso BGH, Urt. v. 24. 05. 2012 – 4 StR 62/12 –, juris Rn. 17: „Handlungsantriebe“. 43 Vgl. Küper, GedS Meurer, 2002, S. 191, 192 Fn. 9. 35
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auch unmittelbar tatauslösende Gefühle unterfallen44. Fraglich ist auch der Bezugspunkt des Adjektivs „niedrig“45. Die gelegentlich verwendete Formel, wonach die Beweggründe für die Tötung in „deutlich weiter reichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen“46 müssen, deutet darauf hin, dass der Bundesgerichtshof als Vergleichsmaßstab nicht die enumerativ genannten Mordmerkmale der 1. Gruppe des § 211 Abs. 2 StGB vor Augen hat47, sondern auf die Bewertung der Beweggründe eines Täters abstellt, dessen Tat als Totschlag zu werten ist. Wesentliche Präzision ist mit der Wahl dieses Vergleichsmaßstabes jedoch nicht gewonnen. Die Tötungsmotive, die einem als Totschlag qualifizierten Tötungsdelikt zugrunde liegen, können vielfältig sein. Dies belegt schon der weite gesetzliche Strafrahmen, der von fünf Jahren bis zu 15 Jahren reicht, in besonders schweren Fällen (§ 212 Abs. 2 StGB) lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht, und durch die Privilegierungsvorschrift des § 213 StGB einen Sondertatbestand für minder schwere Fälle eröffnet. Besonders kompliziert wird die Prüfung, wenn im Einzelfall „normalpsychologische Gefühle“ wie Rache, Hass oder Wut als tatauslösend festgestellt werden; in Fallkonstellationen der genannten Art muss geprüft und entschieden werden, ob diese Gefühle ihrerseits auf niedrigen Motiven beruhen.48 Zu den rechtlichen Problemen treten beweisrechtliche Schwierigkeiten. Die (positive) Feststellung des oder der tatauslösenden – bewusstseinsdominanten – Motive als rein innerer Tatsache ist kaum je ohne Schwierigkeiten zu bewältigen. Dies gilt nicht nur in Fällen, in denen der Angeklagte sich nicht zu den Motiven seines Handelns äußert und die tatrichterlichen Feststellungen hierzu auf Rückschlüssen aus äußeren Gegebenheiten beruhen49. Auch wenn der Angeklagte sich 44 BGH NStZ 1995, 181, 182 weist auf die erforderliche Unterscheidung zwischen Wut und Zorn als „Grundlage und Ursache“ für die Entstehung eines Tötungsmotivs und das Tötungsmotiv selbst hin. 45 Dabei handelt es sich um einen Relationsbegriff, der das Verhältnis der im konkreten Einzelfall zu bewertenden Beweggründe zu einem bestimmten Bezugssachverhalt kennzeichnet, vgl. Frisch, GA 1989, 338, 345; Hassemer, Gedächtnisschrift für Radbruch, 1968, S. 281, 288.; ders., JuS 1971, 626, 630. Textanalyse („sonst“) und systematische Auslegung legen die Annahme nahe, dass es sich bei den Mordmotiven der 1. Gruppe des § 211 Abs. 2 StGB – Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier – um Unterfälle der Motivgeneralklausel handelt, und dass sie den zur Bestimmung des Adjektivs „niedrig“ maßgeblichen Bezugspunkt darstellen. Niedrige Beweggründe lägen danach vor, wenn der Täter aus ähnlich niedrigen Motiven handelte wie sie Mordlust, Tötung zur Befriedigung des Geschlechtstriebs oder Habgier darstellen. Zu dem vom Bundesgerichtshof gewählten Bezugspunkt – dem Vergleich zum Totschlag (§ 212 StGB) – siehe sogleich im Text. 46 Vgl. BGH NStZ 2006, 286, 287. 47 Das Verhältnis der speziellen Mordmerkmale der 3. Gruppe zur Motivgeneralklausel ist in BGHSt 35, 116, 121 ausdrücklich offen gelassen worden, auch wenn dort festgehalten ist, dass derjenige, der zur Verdeckung einer Tat töte, „regelmäßig“ aus niedrigen Beweggründen handele. 48 BGH NStZ 1995, 181, 182. 49 Dem Tatrichter wird gelegentlich im Rahmen des § 261 StPO ein weiter Entscheidungsspielraum zugebilligt, wie das Urteil des 2. Strafsenats vom 02. 05. 2012 – 2 StR 395/11 – zeigt. Der Senat hat die tatrichterliche Annahme einer Tötung aus niedrigen Beweggründen
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zu seinen Motiven einlässt, ist die Beweiswürdigung mit Unwägbarkeiten behaftet, die eine erhebliche Herausforderung für den Tatrichter darstellen.50 Die höchstrichterlichen Vorgaben zur Feststellung des Tötungsbeweggrundes sind nicht als Beweiswürdigungsregeln im Sinne des § 261 StPO zu verstehen, die den Grundsatz freier Beweiswürdigung aus Rechtsgründen einengen oder doch lenken. Es handelt sich vielmehr um eine Präzisierung des rechtlichen Prüfungsmaßstabs.51 Die Motivgeneralklausel ist daher in der Auslegung durch den Bundesgerichtshof zu einem „hochkomplexen“52 Tatbestandmerkmal geworden. Das fast konturenlos weite Mordmerkmal wird nicht abstrakt präzisiert, sondern erst unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls konturiert. Vorund Nachteile einer solchen Auslegung, die das Bundesverfassungsgericht für mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar gehalten hat53, liegen auf der Hand. Sie kann durch ihre Flexibilität zu einem hohen Maß an Einzelfallgerechtigkeit führen und Fallkonstellationen aus dem Anwendungsbereich des § 211 StGB ausscheiden, in denen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als schuldunangemessen erscheint.54 Dieses Streben nach größtmöglicher Einzelfallgerechtigkeit ist jedoch um den Preis der Rechtssicherheit und einer Gefährdung der Rechtsanwendungsgleichheit erkauft. Die Anwendung des in der Praxis dominierenden55 Mordmerkmals fordert Bewertungen und Abwägungen im Einzelfall, die denen der Strafzumessung im engeren Sinne bei Straftatbeständen, die keine Punktstrafe vorsehen, nicht unähnlich sind. Unter Berücksichtigung dieses Befunds erscheint es vom Standpunkt der Rechtsprechung aus fast konsequent, dem Tatrichter (auch) bei der Ausfüllung des Mordmerkmals einen Spielraum zuzubilligen und das Ergebnis seiner Wertungen einer auf Vertretbarkeit reduzierten Kontrolle zu unterwerfen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der Gesetzgeber die niedrigen Beweg-
gebilligt, obwohl „Tatsachenfeststellungen zum eigentlichen Tatgeschehen nicht getroffen werden konnten“ (vgl. Urteilsumdruck, Rn. 15). Das Schwurgericht hatte sich auf der Grundlage eines vorangegangenen fehlgeschlagenen Tötungsversuchs (1987) und einer versuchten Anstiftung eines anderen (2002) davon überzeugt, dass der Angeklagte im Jahr 2007 K getötet hat, „um ihn als lästigen Mieter loszuwerden.“ 50 Heine (Fn. 37) weist zu Recht auf das Problem der Verdrängung oder fehlenden Wahrnehmung der eigentlichen Motive im Interesse des Selbstschutzes hin; ebenso SK-StGB/Sinn (Fn. 9), § 211 Rn. 29; anschaulich zu den empirischen und normativen Problemen sowie dem Aspekt der Ambivalenz Grünewald (Fn. 3), S. 104 – 123. 51 Ebenso SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 110: allgemeine Begriffsbestimmung und Vorgabe der für die Anwendung dieser Begriffe maßgebenden Grundsätze. 52 Vgl. Grünewald (Fn. 3), S. 101. 53 Vgl. BVerfGE 54, 100, 112. 54 Die Einbeziehung gefühlsmäßiger und triebhafter Regungen auch außerhalb des eigentlichen Tatgeschehens werden i. d. R. als das Tatunrecht mindernd gewertet (so ausdrücklich BGH NStZ 1994, 239, 240) und sorgen daher für eine Restriktion des Tatbestands. 55 Vgl. Eser (Fn. 7), D 40.
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gründe als Tatbestandsmerkmal ausgestaltet und ihnen damit unrechtsbegründenden Charakter zugeschrieben hat.56 b) Die Kritik der Lehre Neben der Kritik, die sich gegen die Motivgeneralklausel selbst57, ihre mangelnde Bestimmtheit58 und ihre zweifelhafte Rückbindung an sittliche Bewertungsmaßstäbe richtet59, steht auch die Auslegung des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe durch den Bundesgerichtshof in der Kritik60. Sie richtet sich insbesondere gegen die Ausrichtung der Bewertung der Tötungsmotive an sittlichen Maßstäben61, die geforderte Feststellung des Tötungsbeweggrundes aufgrund einer diffusen Gesamtwürdigung62, dem dogmatisch schwer einzuordnenden Erfordernis der Bewusstseinsdominanz und Beherrschbarkeit der Tötungsmotive63, sowie gegen die vom Bundesgerichtshof auch und gerade zum Zwecke der Konkretisierung und Eingrenzung der Motivgeneralklausel geforderte „Vermengung von Straftatbestandsvoraussetzungen und (teils diffusen) Strafzumessungskriterien“64.
56 Jähnke (MDR 1980, 705, 707) hat auf die Vorzüge einer solchen gesetzgeberischen Lösung hingewiesen; sie biete die Möglichkeit zu einer effizienten revisionsgerichtlichen Kontrolle und könne einer möglichen tatrichterlichen Neigung zur Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe wirksam begegnen. 57 Der 53. DJT im Jahr 1980 hatte mehrheitlich für eine Streichung der Motivgeneralklausel votiert; so schon Woesner, NJW 1978, 1025, 1028; Rüping, JZ 1979, 617, 620; für die Erhaltung der Motivgeneralklausel Schneider, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?, Referate und Diskussionen auf dem 2. Karlsruher Strafrechtsdialog am 19. Juni 2009, 2010, S. 44, 57 f. 58 Vgl. Paeffgen, GA 1982, 255, 269; Roxin, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht? Referate und Diskussionen auf dem 2. Karlsruher Strafrechtsdialog am 19. Juni 2009, 2010, S. 24. 59 Vgl. Grünewald (Fn. 3), S. 89; Wolf, FS Schreiber, 2003, S. 526. 60 Vgl. Roxin (Fn. 58), S. 24, der die emotionale Besetzung des Mordmerkmals durch die Auslegung des BGH kritisiert; nach Wolf, FS Schreiber, 2003, S. 527) führt die vom BGH geforderte „Gesamtwürdigung“ „unvermeidlich zur Willkür“. 61 Im Rahmen der Auslegung und Anwendung des § 228 Abs. 2 StGB hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 49, 166, 169) klargestellt, dass der Begriff der „guten Sitten“ nicht mit ethisch-moralischen Kategorien gleichzusetzen sei, sondern – schon um des in Art. 103 Abs. 2 GG wurzelnden Gebots der Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens willen – auf seinen rechtlichen Kern zurückgeführt werden müsse. Siehe hierzu auch Frisch, FS Hans-Joachim-Hirsch, 1999, S. 485 – 506. 62 Wolf, FS Schreiber, 2003, S. 528. 63 Wolf, FS Schreiber, 2003, S. 528 f. ; Engisch, GA 1955, 161, 165. 64 Siehe nur Grünewald, (Fn. 3), S. 103.
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2. Das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe und der tatrichterliche Beurteilungsspielraum Nach Auffassung der Mehrheit der Strafsenate des Bundesgerichtshofs obliegt dem Tatrichter nicht nur die Feststellung des „Tötungsbeweggrunds“65 und der für die geforderte Gesamtwürdigung maßgeblichen weiteren Umstände (§ 261 StPO); ihm soll außerdem bei der Bewertung der festgestellten Beweggründe und damit bei der Beantwortung der Rechtsfrage, ob sie als niedrig anzusehen sind, ein Beurteilungsspielraum eröffnet sein.66 Die revisionsgerichtliche Kontrolle ist auf die Prüfung beschränkt, ob „der Tatrichter die genannten Maßstäbe erkannt und den Sachverhalt vollständig gewürdigt hat“.67 Die tatrichterliche „Bewertung“ des Tötungsbeweggrunds als „niedrig“ oder als „menschlich verständlich“68 soll – ungeachtet des Umstands, dass es sich insoweit zweifelsfrei um eine rechtliche Wertung handelt69 – revisionsrechtlich auch dann hinzunehmen sein, wenn „ein anderes Ergebnis möglich gewesen wäre“70 oder aus Sicht des Revisionsgerichts „sogar näher gelegen hätte“71. Diese Auffassung führt dazu, dass die rechtlich verbindliche Bewertung der Tötungsbeweggründe „in erster Linie dem Tatrichter vorbehalten“ ist.72 Die Zuerkennung eines solchen tatrichterlichen Beurteilungsspielraums73 bei der Anwendung 65
Vgl. BGHSt 42, 226, 228. Dies ist jedenfalls die Auffassung des 1., 2., 4. und 5. Strafsenats, vgl. für den 1. Senat: BGH NStZ-RR 2004, 79, 80; BGHR StGB § 211 Abs. 1 Strafmilderung 7 (Gründe); NStZ 2006, 284, 285; BGHSt 56, 11, 19; für den 2. Senat: BGH NStZ 2006, 338, 340; NStZ-RR 2010, 175, 176; für den 4. Senat: BGH NStZ-RR 2007, 111; NStZ-RR 2008, 308 und für den 5. Senat: BGH, NStZ-RR 2006, 140; NStZ-RR 2006, 340, 341 f.; NStZ 2007, 330. Gelegentlich wird das Mordmerkmal auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen – entgegen der tatrichterlichen Bewertung – bejaht, vgl. BGH NStZ 2005, 35, 36. Von einem tatrichterlichen Beurteilungsspielraum, gegebenenfalls von seiner Überschreitung, ist hier freilich nicht die Rede. Schließlich wird gelegentlich auch die unzureichende Begründung des Mordmerkmals als ein Darlegungsmangel beanstandet (vgl. BGH NStZ 2006, 286 288). Demgegenüber haben die Strafsenate früher das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe wohl uneingeschränkt nachgeprüft (vgl. Löwe/Rosenberg/Hanack (Fn. 26), StPO, § 337 Rn. 115 Fn. 228; zurückhaltender Schmid, ZStW 85 [1973], S. 360). 67 BGH NStZ 2006, 284, 285. 68 BGHSt 56, 11, 21. 69 Vgl. BGH NStZ-RR 1999, 234, 235. 70 Vgl. BGH NStZ 2006, 284, 285. 71 BGH NStZ-RR 2006, 340, 341; soweit darin auf die Entscheidung des 1. Strafsenats vom 10. 05. 2005 – 1 StR 30/05 – verwiesen wird, ist dieser Hinweis nicht gänzlich zutreffend; der 1. Strafsenat spricht dort davon, dass die Verneinung niedriger Beweggründe durch den Tatrichter revisionsrechtlich „noch hinnehmbar“ sei, wenngleich „auch eine andere tatrichterliche Wertung möglich gewesen wäre“ (Hervorhebung nur hier). 72 BGH NStZ-RR 2008, 308. 73 Sie wird – soweit dies den veröffentlichten Entscheidungen entnommen werden kann – allein in Fallkonstellationen bemüht, in denen der Tatrichter das Vorliegen niedriger Beweggründe verneint hat; ob die ungleich bedenklichere Konstellation (Annahme niedriger Beweggründe noch innerhalb des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums, auch wenn die gegenteilige Wertung [„noch verständlich“] näher liegend erschiene) noch nicht Realität ge66
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der Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 1 StGB überrascht im Hinblick auf die Tragweite dieser Wertung. Nicht selten sind damit die Weichen für oder gegen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe gestellt.74 Die Zuerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums erscheint dogmatisch einigermaßen erstaunlich, weil – soweit ersichtlich – nicht ernsthaft bestritten wird, dass die Subsumtion eines Lebenssachverhalts unter eine Strafnorm Rechtsanwendung ist; es wäre daher zu erwarten, dass auch und gerade die Frage des Vorliegens eines Mordmerkmals verbindlich vom Revisionsgericht beantwortet wird. Überraschend erscheint insbesondere die Bereitschaft, die tatrichterliche Bewertung eines Tötungsmotive als niedrig oder als menschlich noch verständlich auch dann hinzunehmen, wenn ein anderes Entscheidungsergebnis nicht nur möglich gewesen wäre, sondern sogar näher gelegen hätte. Diese aus anderen Zusammenhängen75 vertraute Formulierung erscheint bemerkenswert, weil sie auf das Vorliegen bzw. das Fehlen eines Tatbestandsmerkmals bezogen ist, dem wegen des fehlenden Spielraums auf der Rechtsfolgenseite eine besondere Bedeutung zukommt. Sie irritiert schließlich auch den unbefangenen Leser, der sich die allgemeine Definition des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe vergegenwärtigt; danach sind Beweggründe nur dann als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB anzusehen, wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen. Diese Auslegung deutet auf eine gewisse Evidenz des Wertungsergebnisses und darauf hin, dass es nicht auf die individuelle Bewertung des Tatrichters, sondern darauf ankommt, wie eine über die Einzelheiten der Tat und die Täterpersönlichkeit wohlinformierte Allgemeinheit sie unter Berücksichtigung der geltenden rechtlichen Wertmaßstäbe bewerten würde. Die Vorstellung, dass dem Tatrichter ein Beurteilungsspielraum eingeräumt sei, innerhalb dessen mehrere – und das bedeutet im Bereich des Tatbestands: zwei einander diametral widersprechende – Wertungsergebnisse möglich sein könnten, und die Verbindlichkeit der von ihm getroffenen Wertung auch in Fällen, in denen eine andere – also die gegenteilige – Wertung ebenso möglich gewesen wäre oder sogar näher gelegen hätte, steht hierzu worden ist, lässt sich freilich angesichts der bestehenden Praxis der Beschlussverwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO ohne Begründung der Entscheidung nicht verifizieren. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Wendung auch einer revisionsgerichtlichen Distanzierung von einem für „allzu milde“ gehaltenen Wertungsergebnis oder einem Unbehagen an der tatrichterlichen Motivfeststellung geschuldet ist. Gelegentlich mögen auch pragmatische Erwägungen bei unzureichender Gesamtwürdigung eine Rolle spielen; eine eigene Bewertung der Beweggründe als niedrig scheidet bei dieser Sachlage aus; eine Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Sache kann als überflüssig erscheinen, wenn zu erwarten ist, dass (auch) der neue Tatrichter, in dessen Verantwortung die Motivfeststellung liegt, vermutlich (erneut) mit aus Rechtsgründen nicht zu beanstandender Begründung zu einer Verneinung des Mordmerkmals gelangen wird. Ob hierin ein tragfähiger Grund liegen könnte, das Beruhen des Urteils auf dem Erörterungsmangel zu verneinen, erscheint allerdings fraglich. 74 Die Möglichkeit der Zuerkennung von Strafmilderungen in Anwendung der §§ 20, 21 StGB soll hier ausgeblendet werden, vgl. Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759 f. 75 Damit pflegt der revisionsgerichtliche Prüfungsmaßstab im Hinblick auf die tatrichterliche Beweiswürdigung umschrieben zu werden, vgl. nur Fischer, Paulus-FG, 2009, S. 54, 66 f.
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zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis. Zwar ist hinlänglich bekannt, dass tatrichterliche und revisionsgerichtliche Wertungen auch und gerade im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel divergieren.76 Doch erscheint fraglich, worin der legitimierende Grund dafür liegen könnte, dass die Letztentscheidung hierfür beim Tatrichter und nicht beim Revisionsgericht liegen sollte. Dem Tatrichter obliegt es nach Auffassung des Bundesgerichtshofs also, die Tötungsbeweggründe unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls festzustellen und zu bewerten.77 Seine Entscheidung unterliegt in der Gestalt, die sie durch die schriftlichen Urteilsgründe gefunden hat, der revisionsgerichtlichen Kontrolle auf Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit.78 Der Akt der Bewertung des/der festgestellten Tötungsbeweggründe als niedrig wird nur daraufhin überprüft, ob der Tatrichter von einem zutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab ausgegangen ist und ob sein Entscheidungsergebnis vertretbar erscheint. Die Beantwortung der Rechtsfrage, ob die festgestellten – bewusstseinsdominanten und vom Täter beherrschbaren – Tötungsbeweggründe als niedrig im Rechtssinne anzusehen sind oder nicht, ist damit in erster Linie in die Verantwortung des Tatrichter gelegt. Zwar zeigen die raren Entscheidungen, in denen der Bundesgerichtshof sich in der Vergangenheit zu einem Einschreiten veranlasst sah, dass der tatrichterliche Beurteilungsspielraum im Einzelfall auch einmal überschritten sein kann. Wo seine Grenzen verlaufen, erscheint jedoch ungewiss. Die Entscheidungsgründe der Strafsenate geben hierüber in der Regel keinen Aufschluss. Dies gilt auch in Fällen, die zu einer kritischen Betrachtung geradezu einladen. Zur Illustration sei auf die Fallkonstellation verwiesen, die dem bereits an anderer Stelle79 kritisch erörterten Urteil des 5. Strafsenats vom 24. 01. 2006 – 5 StR 410/ 05 –80 zugrunde gelegen hat. Nach den in dem Urteil des 5. Strafsenats wiedergegebenen Feststellungen des Tatrichters hatte der Angeklagte sich spontan „aus Wut und Verärgerung“ zur Tötung einer jungen Frau entschlossen, die er nur wenige Stunden vor der Tat kennen gelernt hatte81. Dem Tötungsgeschehen war eine Auseinandersetzung „offenbar im Zusammenhang mit sexuellen Wünschen des Angeklagten“ vorausgegangen, in deren Verlauf der Angeklagte das spätere Tatopfer an einen Baum
76 Vgl. Heine (Fn. 37), S. 66 f.; Wertungsunterschiede bestehen wohl auch von Schwurgericht zu Schwurgericht, ähnlich Woesner, NJW 1978, S. 1028; Jähnke, MDR 1980, 705, 707; optimistischer hingegen Eser (Fn. 7), D 43. 77 Das insoweit erforderliche zweistufige Vorgehen hat besonders LK-StGB/Jähnke, 11. Aufl. 2005, § 211 Rn. 23 verdeutlicht. 78 BGHSt 56, 11, 19. 79 Vgl. Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 766 f.; Geisler, FS Geppert, S. 113, 117. 80 NStZ-RR 2006, 140. 81 Den Entscheidungsgründen sind die näheren Umstände hierzu nicht zu entnehmen. Festgehalten ist nur der Zeitpunkt („am späten Abend“); die Tat geschah noch in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden des Folgetags. Die Tat (Tatzeit: 1990) lag im Zeitpunkt ihrer Aburteilung lange zurück; die Beweislage dürfte schwierig gewesen sein.
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fesselte.82 Der jungen Frau gelang es, sich zu befreien, und sie floh aus dem Waldstück, in welches der Angeklagte sie verbracht hatte, in Richtung Landstraße. Nachdem der Angeklagte sie eingeholt hatte, zog sie ein Klapptaschenmesser, öffnete es und hielt es dem Angeklagten entgegen, um ihn von sich fern zu halten. Hierüber geriet der Angeklagte in Wut, und er schlug ihr das Messer mit einem Stock aus der Hand. Sie floh erneut, woraufhin sich der Angeklagte „aus Wut und Verärgerung über die Bedrohung mit dem Klapptaschenmesser“83 (spontan) entschloss, sie zu töten. Er nahm das Taschenmesser vom Boden auf, lief hinter der jungen Frau her, holte sie ein und stach mehrfach auf sie ein, bis sie zu Fall kam. Er stürzte sich auf sie, würgte sie („massiv“), stach insgesamt 33 Mal auf sie ein und brachte ihr zahlreiche Stichverletzungen84 bei. Anschließend nahm er einen schweren Ast und fügte ihr „schwerste Schlagverletzungen“ im Gesicht zu. Schließlich schleifte er die sterbende junge Frau etwa 15 Meter in den Wald hinein, legte sie dort „mit gespreizten Beinen und nach oben gestreckten Armen ab“, breitete Hemd und Jacke des Opfers über ihrem teilweise entblößten Oberkörper aus und verließ den Ort. Als tatauslösend hat der Tatrichter „Wut und Verärgerung“ festgestellt, die gemeinhin als normalpsychologische Emotionen bezeichnet werden, und die nur dann als niedrig anzusehen sind, wenn sie ihrerseits auf niedrigen Beweggründen beruhen.85 Der 5. Strafsenat hat die tatrichterliche Wertung, dass das Tötungsmotiv („spontane Wut und Verärgerung über die – freilich durch Notwehr gerechtfertigte – Bedrohung mit einem Messer durch sein Opfer“86) nicht als niedrig anzusehen sei, für vertretbar gehalten. Der knappe Hinweis auf das festgestellte Tötungsmotiv erscheint eigentümlich blass; zwar mag er auch dem Umstand geschuldet sein, dass diese tatrichterliche Feststellung (§ 261 StPO) von Rechts wegen nur dann zu beanstanden wäre, wenn sie auf einer unzureichenden, lückenhaften, unklaren oder widersprüchlichen Beweiswürdigung beruhte87. Doch fehlt es an näheren Erörterungen zu den hinter den genannten Affekten stehenden Beweggründen und ihrer Bewertung.88 Nä-
82 Der Zweck, den der Angeklagte mit der Fixierung des Tatopfers an einen Baum verfolgte, ist nicht festgestellt oder jedenfalls in den Gründen der Entscheidung des 5. Strafsenats nicht wiedergegeben. Nach dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe liegt die Annahme nicht fern, dass der Angeklagte die abgelehnten sexuellen Handlungen zu erzwingen beabsichtigte. 83 Hervorhebung durch die Verfasserin. 84 Das Opfer wies Stichverletzungen unbekannten Verlaufs und unbekannter Tiefe im Brust- und Bauchbereich, in der Lendenregion, im Gesicht und am Hals auf. 85 Zutreffend MK-StGB/Schneider (Fn. 4), § 211 Rn. 88 m.w.N. 86 Hervorhebung durch die Verfasserin. 87 Ungeachtet der insoweit bestehenden Möglichkeiten revisionsgerichtlicher Kontrolle dürfte es hier in der tatrichterlichen Praxis nicht selten zu „Vermeidestrategien“ kommen (vgl. Eser, DJT-Gutachten, D 54 f.). 88 Vgl. BGH NStZ 1995, 181, 182.
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here Einzelheiten zur Person des Täters sind nicht mitgeteilt.89 Die dem Tötungsgeschehen unmittelbar vorausgegangene Tatvorgeschichte90 findet so wenig Erwähnung wie die ungewöhnlich brutale Tatausführung und die außergewöhnliche, fast bizarr anmutende Nachtatphase.91 Doch auch ohne diese Umstände, die auf einen unbedingten Vernichtungswillen des Angeklagten hindeuten könnten, erscheint die Hinnahme der tatrichterlichen Bewertung der Tötungsmotivation als noch „verständlich“ zweifelhaft.92 Dass das Tatopfer – von der durch den Willen zur Verteidigung motivierten und zweifellos gerechtfertigten Gegenwehr mit einem Klapptaschenmesser abgesehen – eine wie auch immer geartete „Mitverantwortung“93 für den Tötungsentschluss des Angeklagten zu tragen hätte, ist den Feststellungen nicht zu entnehmen. Bei dieser Sachlage wäre der Angeklagte von Rechts wegen durch sein vorangegangenes Verhalten zur Hinnahme der – folgenlos gebliebenen – Gegenwehr gehalten gewesen.94 Zwar hebt der Senat die Tatvorgeschichte im weiteren Sinne hervor, wonach Täter und Opfer zuvor „möglicherweise“ einvernehmlichen Geschlechtsverkehr hatten und das Tatopfer „möglicherweise“ auch in die Autofahrt einwilligte. Doch kann dies als ein Verhalten angesehen werden, das zu einer „Mitverantwortung“ des Opfers für die spätere Tat führt? Eine solche „Zuständigkeit“95 des Tatopfers für das spätere Tatgeschehen lässt sich jedenfalls aufgrund der mitgeteilten Tatumstände schwerlich begründen. Denn es stand dem Tatopfer von Rechts 89 Den eingangs mitgeteilten tatrichterlichen Feststellungen kann lediglich entnommen werden, dass der Angeklagte einen weiteren Totschlag begangen hat. 90 Die mitgeteilten Feststellungen legen die Annahme nahe, dass der Angeklagte die vom Tatopfer abgelehnten sexuellen Handlungen erzwingen wollte und sie deshalb an einen Baum gefesselt und sie zumindest ihrer Bewegungsfreiheit beraubt hat; es liegt nicht fern anzunehmen, dass dies zum Zwecke sexueller Nötigung geschah. 91 Das Ablegen des sterbenden Tatopfers im Wald erscheint ungewöhnlich und könnte auf eine sexuelle Konnotation des Tötungsgeschehens hindeuten, die daran zweifeln lässt, ob die Zurückweisung der sexuellen Wünsche des Angeklagten tatsächlich keinen Anteil an der festgestellten Wut und Verärgerung hatte. Allerdings wäre insoweit der Bereich des § 261 StPO berührt. Hat der Tatrichter mit plausiblen Erwägungen ausgeschlossen, dass Wut und Enttäuschung auch über die Zurückweisung der sexuellen Wünsche (mit-)ursächlich für die zum Tötungsentschluss führende Wut des Täters sind, so ist das Revisionsgericht hieran gebunden. 92 Überzeugend Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 766 f. Zwar wirkt die Hinnahme des tatrichterlichen Wertungsakts zugunsten des Angeklagten und scheint daher leichter tragbar (in diesem Sinne Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 766 f.; Geisler, FS Geppert, S. 113, 117). In Fällen klarer Schuldunterschreitung erscheint ein Einschreiten des Bundesgerichtshofs gleichwohl geboten, denn die lebenslangen Freiheitsstrafe erfüllt auch einen gewissen Sicherungszweck; ihre Aussetzung kommt nur bei Vorliegen einer positiven Kriminalprognose in Betracht, vgl. §§ 57a Abs. 1 Nr. 3, 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Eine isolierte Betrachtung des Erkenntnisverfahrens ohne Einbeziehung des Vollstreckungsverfahrens greift hier zu kurz. 93 Vgl. Müssig, Mord und Totschlag, 2005, S. 252 – 288. 94 Vgl. BGHSt 28, 210, 212; siehe auch BGH, Urt. v. 24. 05. 2012 – 4 StR 62/12 –, juris, Rn. 20; zutreffende Kritik auch bei Schneider, FS Widmaier, 2008, S. 759, 766 f. 95 Vgl. Müssig (Fn. 93); Grünewald (Fn. 3), S. 215 ff., 316: partielle Tatverantwortung des Opfers.
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wegen selbstverständlich frei, sexuelle Wünsche des Angeklagten, die sie – ungeachtet ihres Vorverhaltens – nicht zu erfüllen bereit war, zurückzuweisen.96 Die Tötung einer Frau aus Anlass einer ausgebliebenen sexuellen Befriedigung oder einer Zurückweisung kann jedoch auch dann als niedrige Tötungsmotivation bewertet werden, wenn der Täter angesichts ihres Vorverhaltens die Hoffnung hegte, dass sie seine Wünsche erfüllen werde.97 Dem mit den Einzelheiten der – ersichtlich knapp ausgefallenen98 – tatrichterlichen Feststellungen und Wertungen nicht vertrauten Leser erschließt sich daher nicht ohne Weiteres, dass „die Tat als eine noch verständliche Reaktion auf die Situation“99 oder doch wenigstens als ein „Grenzfall“ anzusehen sein könnte100. Nach einer tragfähigen rechtlichen Begründung für die Anerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums auch und gerade im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel sucht man in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vergeblich. Daran hat auch die recht früh einsetzende Kritik des Schrifttums nichts geändert. Die nachfolgenden Ausführungen werden zeigen, dass die Anerkennung eines solchen tatrichterlichen Beurteilungsspielraums auch dann keine Zustimmung verdient, wenn die Bedenken, die mit der Übertragung dieses Begriffs aus dem Verwaltungsrecht auf das materielle Strafrecht einher gehen, ausgeblendet werden.
III. Argumente und Standpunkte für und wider die Anerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums im materiellen Strafrecht Die bisher zwischen Befürwortern101 und Kritikern102 eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums ausgetauschten Argumente und Positionen sind rasch skizziert. 96 Das Verhalten des Tatopfers kann als riskant und möglicherweise auch als „moralisch anstößig“ angesehen werden; dies genügt freilich nicht, um eine rechtliche Mitverantwortung zu begründen; zu den insoweit unerlässlichen Differenzierungen siehe Grünewald (Fn. 3), S. 316. 97 So schon BGHSt 2, 60, 63. 98 Darauf weist der 5. Strafsenat ausdrücklich hin. 99 NK-StGB/Neumann (Fn. 9), § 211 Rn. 27; Müssig (Fn. 93). 100 Zu den subjektiven Anforderungen der Motivgeneralklausel verhält sich die Entscheidung nicht. 101 Zu ihnen sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – neben Maatz, StraFo 2002, 373, 375, Maatz/Wahl, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 531, 553 und Mosbacher, FS Seebode, 2008, S. 227, 229 f., auch Kuckein (in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 337 Rn. 31), Wiedner (in: Graf, StPO, 2010, § 337 Rn. 105), Nagel (in: Radtke/Hohmann, StPO, 2011, § 337 Rn. 30) sowie Momsen (in: Kleinknecht/Müller/Reitberger – KMR StPO –, 2011, § 337 Rn. 171) zu rechnen. 102 Vgl. Frisch, NJW 1973, S. 1345, 1347; Herdegen, FS Kleinknecht 1985, S. 173, 185; Störmer, ZStW 108 (1996), S. 494 f.; Tolksdorf, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 523, 526 f.; Schneider, FS Widmaier 2008, S. 759, 768, Geisler, FS Geppert, 2011, S. 113, 115; Meyer-
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1. Tatrichterlicher Beurteilungsspielraum – ein missglückter Begriff? Die Übertragung des im Verwaltungsrecht gebräuchlichen Begriffs des Beurteilungsspielraums auf das materielle Strafrecht wird überwiegend kritisiert, weil er für den Strafprozess und das Verhältnis zwischen Tatgericht und Revisionsgericht nicht passe.103 Diese Bedenken wird kaum von der Hand weisen, wer sich die verwaltungsrechtliche Lehre vom Beurteilungsspielraum in Erinnerung ruft.104 Danach ist die gerichtliche Kontrolle verwaltungsbehördlichen Handelns in Fällen eingeschränkt, in denen das einschlägige Gesetz auf der Tatbestandsseite einer Norm – ausdrücklich oder konkludent – eine an die Verwaltungsbehörde105 adressierte „Beurteilungsermächtigung“ enthält106. Der verwaltungsbehördliche Beurteilungsspielraum kann im Hinblick auf seine Reichweite – unter Ausblendung der Einzelheiten und der von der Rechtsprechung entwickelten Fallkonstellationen107 – in zwei (Haupt-)Erscheinungsformen zusammengefasst werden. In der ersten Fallkonstellation ist der Verwaltungsbehörde zwar keine Wahlmöglichkeit im eigentlichen Sinne eingeräumt; die von ihr getroffene Entscheidung soll gleichwohl keiner nachträglichen vollständigen Rechtskontrolle unterzogen werden können, weil es sich – beispielsweise – um unwiederholbare Entscheidungssituationen handelt.108 Allerdings sind nur die „prüfungsspezifischen Wertungen“109 der Letztentscheidung der Verwaltungsbehörde überlassen; Fragen „fachlicher Richtigkeit“ unterliegen demgegenüber einer vollen Rechtskontrolle durch das Verwaltungsgericht.110 Nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts111 hat hier zu einer Ausdehnung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu Lasten eines freien Beurteilungsspielraums der Verwaltung geführt. In einer zweiten Erscheinungsform, der beispielsweise behördliche Prognoseentscheidungen zugerechnet werden, soll der Verwaltungsbehörde eine echte Wahlmöglichkeit eröffnet sein.112 Zwar führt die Anerkennung Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 337 Rn. 33); Löwe/Rosenberg/Hanack (Fn. 26), StPO, § 337 Rn. 116. 103 Vgl. Frisch, NJW 1973, 1345, 1348; Geisler, FS Geppert, S. 113, 120 f. 104 Auch im Verwaltungsrecht dürfte die Entwicklung keineswegs abgeschlossen sein, vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, § 40 Rn. 159; Hain, in: FS Starck, 2007, S. 35 f.; siehe auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Lfg. 42 (Februar 2003), Art. 19 Abs. 4 Rn. 180 f. 105 In den Kategorien der Gewaltenteilung also der Exekutive. 106 Uneinigkeit bestand zunächst darin, ob schon die Auslegung oder erst die Subsumtion eines Sachverhalts unter einen unbestimmten Rechtsbegriff einen verwaltungsbehördlichen Beurteilungsspielraum begründen könne, vgl. Störmer, ZStW 108 (1996), 497 f. 107 Vgl. Sachs (Fn. 104), Rn. 175 – 214. 108 Beispielsweise Prüfungssituationen, vgl. dazu BVerfGE 84, 34, 50. 109 Vgl. BVerwG NJW 1996, 942, 943 („Gesamteindruck“). 110 Vgl. Sachs (Fn. 104), Rn. 177, der darauf hinweist, dass die gerichtliche Kontrolle nur im Hinblick auf einzelne Elemente der Entscheidung einschränkt sei. 111 Vgl. nur BVerfGE 83, 130; 84, 30, 50; 85, 36; 88, 40, 56. 112 Vorsichtig formulierend Sachs (Fn. 104), Rn. 173.
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einer „Beurteilungsermächtigung“ in beiden Fallkonstellationen zu einer Reduktion der gerichtlichen Kontrolldichte; der verwaltungsbehördliche Spielraum ist jedoch in der zweiten Fallkonstellation wesentlich weiter. In beiden Fällen ist die verwaltungsgerichtliche Kontrolle auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob der Behörde ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt oder einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist, ob sie bei der Anwendung des Rechts allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzt hat, oder ob sie sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.113 Eine Übertragung der Rechtsfigur des Beurteilungsspielraums auf das Strafrecht – genauer: auf die Subsumtion der Feststellungen unter den Tatbestand einer Strafnorm durch den Tatrichter – begegnet vor dem Hintergrund dieser Aussagen einigen Bedenken. Dass der Strafgesetzgeber dem Tatrichter für die Prüfung der Frage, ob ein von ihm festgestelltes Verhalten den Tatbestand einer Strafnorm erfüllt oder nicht, eine echte Wahlmöglichkeit einräumen wollte, kann ernsthaft nicht vertreten werden. Dies gilt auch in den Fallkonstellationen, in denen das Gesetz ein mit Strafe bewehrtes Verhalten notgedrungen durch Verwendung „unbestimmter“ Begriffe114 oder wertausfüllungsbedürftiger Merkmale umschreibt, die der Konturierung durch Auslegung bedürfen. Der Annahme eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums im Sinne einer echten Wahlmöglichkeit des Tatrichter steht also jedenfalls das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG entgegen.115 Es ist bekanntlich nicht nur an den Strafgesetzgeber, sondern auch an den Richter adressiert und verpflichtet ihn zu einer Auslegung und Anwendung der Strafgesetze, die das Risiko einer Bestrafung für den Einzelnen vorhersehbar machen. Das hierin liegende „Präzisierungsgebot“ ist dabei in erster Linie116 an den Bundesgerichtshof adressiert. Er trägt als oberstes Bundesgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit die Verantwortung für die Fortbildung des materiellen Strafrechts und die verbindliche Auslegung der Strafrechtsnormen. Auch das Verständnis einer aus Sachgründen lediglich eingeschränkten nachträglichen rechtlichen Kontrolle will auf das Verhältnis zwischen Tatgericht und Revisionsgericht nicht so recht passen. Denn unwiederholbare und komplexe Gesamteindrücke fließen zwar in die Überzeugungsbildung des Tatrichters ein, auf der die Feststellungen beruhen, weshalb die revisionsgerichtliche Kontrolle der Beweiswürdigung zu Recht einer nur eingeschränkten revisionsgerichtli-
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Zusammenfassend Sachs (Fn. 104), Rn. 159. In der älteren Terminologie häufig als „Wertbegriffe“ bezeichnet, vgl. Warda, Dogmatische Grundlagen des Richterlichen Ermessens im Strafrecht, 1962, S. 32. 115 Zutreffend Maatz, StraFO 2002, 373, 379; Altvater, NStZ 1998, 342, 343. Warda (Fn. 114), S. 34 f., der auf den anderenfalls bestehenden Konflikt mit dem Gebot der Rechtssicherheit hinweist; Mosbacher (FS Seebode, 2008, S. 227) spricht von einem „Spielraum des Tatrichters bei der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung“ und konzediert, dass der dem Tatrichter zugebilligte Spielraum „nicht zwingend im Gesetz angelegt“ sei (vgl. ders., a.a.O. S. 239). 116 Vgl. BVerfGE 54, 100, 109: „hauptsächlich“. 114
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chen Kontrolle unterworfen ist117. Für den sich daran anschließenden normativen Akt der Bewertung gilt dies jedoch nicht in gleichem Maße. Nach der in anderen Zusammenhängen des Revisionsrechts häufig beschworenen Formel von der „Aufgabenteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht“118 weist § 261 StPO dem Tatrichter die Verantwortung für die Feststellung des Sachverhalts und die Würdigung der Beweise, dem Revisionsgericht jedoch die Letztverantwortung für die rechtliche Kontrolle des Entscheidungsergebnisses (vgl. § 337 StPO) zu.119 Dass die Subsumtion des konkreten Lebenssachverhalts unter einen Straftatbestand „Rechtsanwendung“ ist, steht – zu Recht – außer Streit. Für das mit absoluter Strafe bedrohte Verbrechen des Mordes tritt hinzu, dass das Schuldprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine restriktive Auslegung des Tatbestands erfordern, weil nur in Fällen, in denen die Höchststrafwürdigkeit der Tat außer Frage steht, die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als schuldangemessen und verhältnismäßig angesehen werden kann.120 Nicht übersehen werden sollte außerdem, dass im Revisionsverfahren – anders als im erstinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Verfahren121 – von Amts wegen nicht geprüft wird, ob das tatrichterliche Erkenntnisverfahren an möglichen Verfahrensfehlern oder Aufklärungsmängeln leidet. Zwar sind die Verfahrensbeteiligten nicht gehindert, Verfahrensfehler mittels einer Verfahrensrüge geltend zu machen, doch der mögliche Erfolg solcher Formalrügen ist bekanntlich mit erheblichen Unsicherheiten behaftet.122 Das Revisionsgericht vermag – anders als das Verwaltungsgericht, für das die Aufklärungspflicht gilt – auch nicht verlässlich zu beurteilen, ob der Tatrichter von einem vollständigen und zutreffenden Lebenssachverhalt ausgegangen ist. Dies gilt ungeachtet der Zunahme revisionsgerichtlicher Kontrolldichte im Bereich der Sachrüge. Die Darstellungsrüge führt heute zwar zu einer weit intensiveren Kontrolle der Feststellungen und tatrichterlichen Beweiserwägungen, 117
Rn. 6. 118
Zum Prüfungsmaßstab siehe nur BGH, Urt. v. 16. 08. 2012 – 3 StR 237/12 –, juris,
Vgl. nur Foth, NStZ 1992, 442, 446. Selbst wenn anzunehmen wäre, dass die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Bereich des materiellen Strafrechts dazu führt, dass nicht nur „eine Antwort als sachlich richtig bzw. rechtmäßig“ (vgl. Hain, FS Starck, 2007, S. 42) anzusehen wäre, könnte § 337 StPO dem Revisionsgericht die Kompetenz zur „autoritativen Festsetzung“ der rechtsverbindlichen Antwort – die Letztentscheidung – zuweisen. Siehe dazu sogleich im Text. 120 Vgl. BVerfGE 54, 100, 112. 121 Das verwaltungsgerichtliche Revisionsverfahren scheidet meines Erachtens als Vergleichsmaßstab aus, weil das Urteil des Tatrichters überhaupt erst den Grundrechtseingriff enthält, und deshalb bei dem hier anzustellenden Vergleich unter Ausblendung der bestehenden Unterschiede mit der verwaltungsbehördlichen Entscheidung gleichzusetzen ist. 122 Nicht nur die in Umfangsverfahren recht knapp bemessene Monatsfrist des § 345 Abs. 1 StPO und die strenge Handhabung der Darlegungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, sondern auch das richterrechtliche Verständnis einiger Verfahrensnormen als bloßer Ordnungsvorschriften, die verschiedenen richterrechtlich entwickelten Rügeobliegenheiten und – nicht zuletzt – das Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung – beschränken die Erfolgsaussichten von Verfahrensrügen. Siehe dazu SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 11 und 77 f.; Schnarr, FS Nehm, 2008, S. 327 f.; Barton, FS Fezer, 2008, S. 333 f. 119
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als dies früher der Fall gewesen ist.123 Maßstab und Bezugspunkt dieser Prüfung sind jedoch die Entscheidungsgründe des Tatrichters. Eigene Feststellungen vermag das im Rahmen der Sachrüge auf eine reine Rechtskontrolle beschränkte Revisionsgericht nicht zu treffen, seine Erkenntnisse über den „wahren Sachverhalt“ stammen daher „aus zweiter Hand“. Angesichts der damit im Rahmen dieses Beitrags nur anzudeutenden Unterschiede erscheint die Begriffswahl jedenfalls wenig glücklich; denn sie deutet einen tatrichterlichen Entscheidungsfreiraum an, den es im Bereich der strafbegründenden Tatbestandsmerkmale schwerlich geben kann. Maatz erteilt der Anerkennung eines „echten“ tatrichterlichen Beurteilungsspielraums denn auch eine Absage.124 Er tritt jedoch für eine Beschränkung der revisionsgerichtlichen Überprüfung auf eine Vertretbarkeitskontrolle in Fällen ein, in denen der Tatrichter bei der Feststellung wertausfüllungsbedürftiger normativer Merkmale eine „Beurteilungs- und Bewertungsaufgabe“ zu erfüllen habe. Sie liege in der „Natur der Sache“, weil in den genannten Fällen ein „Rechtsfehler“ im Sinne des § 337 StPO, der ein Eingreifen des Revisionsgerichts rechtfertige, nicht festgestellt werden könne. In den „Grenzfällen eines rechtlichen non liquet“ sei die Entscheidung des „sachnäheren“ Tatrichters – ähnlich wie im Bereich des § 261 StPO – hinzunehmen.125 Damit ist die Frage aufgeworfen, ob der revisionsgerichtlichen Prüfungstiefe tatsächlich Grenzen gesetzt sind und das Vorliegen eines Rechtsfehlers im Sinne des § 337 StPO verneint werden kann, wenn sich das tatrichterliche Wertungsergebnis als vertretbar erweist. 2. Tatrichterlicher Beurteilungsspielraum und die Reichweite des revisionsgerichtlichen Kontrollauftrags (§ 337 StPO) a) Der Begriff des Rechtsfehlers im Sinne des § 337 StPO und die Beschränkung der Prüfung auf die „Vertretbarkeit“ des Entscheidungsergebnisses Die für das Revisionsverfahren zentrale Norm des § 337 StPO weist dem Revisionsgericht die Aufgabe der Überprüfung zu, ob der Tatrichter das Gesetz verletzt, also eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet hat. Damit ist zugleich der Begriff des Rechtsfehlers gesetzlich definiert. Ein Rechtsfehler im Sinne des § 337 Abs. 2 StPO – eine Gesetzesverletzung – liegt nicht nur vor, wenn der Tatrichter seiner Entscheidung einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt hat.126 Weil die Gesetzesanwendung nicht nur die Auslegung des gesetzlichen Tatbestands, sondern auch die Subsumtion der festgestellten Tatsachen unter die im Wege 123
Vgl. Frisch, FS Fezer, 2008, S. 353 – 392; ders., FS Eser, 2005, S. 257 – 290. Maatz, StraFo 2002, 373, 379. 125 Maatz, StraFo 2002, 373, 379. 126 Ein Rechtsfehler liegt auch vor, wenn eine nicht existierende oder eine Norm angewendet wird, die noch nicht oder nicht mehr in Kraft ist, vgl. SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 35. 124
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der Auslegung präzisierten und auf die Besonderheiten des Einzelfalls zugeschnittenen Tatbestandsmerkmale umfasst,127 liegt ein Rechtsfehler auch vor, wenn die Subsumtion der festgestellten Tatsachen unter ein Tatbestandsmerkmal fehlerhaft ist. Vor dem Hintergrund dieses Prüfungsauftrags ist die Annahme, die tatrichterliche Subsumtion sei vom Revisionsgericht auch dann „hinzunehmen“, wenn ein anderes – und dies bedeutet in dem hier näher beleuchteten Bereich des materiellen Strafrechts: das gegenteilige – Ergebnis „möglich gewesen wäre oder näher gelegen“ hätte, schwerlich plausibel. § 337 StPO liegt erkennbar die Erwägung zugrunde, dass das Gesetz nur richtig oder falsch angewendet werden könne. Eine dritte Kategorie – die möglicherweise falsche/möglicherweise richtige Gesetzesanwendung128 – ist in diesem normativen Programm nicht vorgesehen.129 Deshalb erscheint auch die Vorstellung eines „rechtlichen non liquet“ – eine nicht im Tatsächlichen wurzelnde und deshalb nicht unter Rückgriff auf den Zweifelssatz lösbare normative Ungewissheit jedenfalls ungewöhnlich. Dabei soll nicht verkannt werden, dass auch und gerade im Strafrecht strukturell recht unterschiedliche Rechtsfragen130 zu beantworten sind und der richterliche Entscheidungsprozess je nach Fallkonstellation und Tatbestandsmerkmal mehr oder minder klare Antworten auf die Frage geben kann, ob ein Tatbestandsmerkmal im Einzelfall vorliegt oder nicht.131 Dass der forensischen Praxis unter den begrenzten Bedingungen des Strafprozesses und der Vielgestaltigkeit der Fallkonstellationen faktisch ein Wertungsspielraum eröffnet ist, und die Suche nach der einen „richtigen“ Entscheidung nicht stets gelingt, soll nicht in Abrede gestellt werden. Von Rechts wegen jedoch kann die Frage, ob der Angeklagte aus Gründen getötet hat, die als niedrig im Rechtssinne zu bewerten sind, nur eindeutig und klar beantwortet werden. Dies gilt auch in Ansehung der vom Bundesgerichtshof aus Rechtsgründen für erforderlich gehaltenen komplexen Wertungen, die eine umfassende Abwägung verschiedener, einander wechselseitig beeinflussender Faktoren einschließt. Das Entscheidungsergebnis erscheint zwar auf den ersten Blick – besser: im Prozess der Entscheidungsfindung – weniger klar als in Fällen der Subsumtion eines Lebenssachverhalts unter ein einfach gelagertes, deskriptives Tatbestandsmerkmal. Gleichwohl kann nur ein Ergebnis als rechtlich zutreffend und damit als rechtsfehlerfrei anerkannt werden. Um in dem hier gewählten Anwendungsfall der Motivgeneralklausel zu bleiben: Die Bewertung der Beweggründe des Täters als „niedrig“ im Rechtssinne kann – gemessen an § 211 StGB – nur richtig oder falsch sein; dass eine solche Bewertung132 vertretbar sei, also gute Gründe für ihre Bewer127
SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 108. Maatz, StraFO 2002, 373, 379 spricht von einem „rechtlichen non liquet“. 129 Dies räumt auch Momsen (Fn. 101), § 337 Rn. 171 ein. 130 SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 11. 131 Zur intendierten Eindeutigkeit siehe Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung, 1971, S. 129 ff., 179 ff. 132 Siehe nur Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 111 f., die auf die Unterschiede zwischen einer eher emotional gefärbten, persönlichen Stellungnahme zu einem Geschehen und den Besonderheiten des rechtlichen Werturteils 128
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tung als niedrig sprechen, aber ebenso gute Gründe für ihre gegenteilige Bewertung angeführt werden könnten133, kann nicht als hinreichend angesehen werden, um die Tat als Mord mit der Folge zu qualifizieren, dass sie mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnden ist. Erscheint das Wertungsergebnis im Einzelfall in dem geschilderte Sinne zweifelhaft, so scheidet die Annahme niedriger Beweggründe aus. Weil es von Rechts wegen nur eine verbindliche Antwort auf die Frage geben kann, ob die Feststellungen ein Tatbestandsmerkmal erfüllen oder nicht, liegt die letztverbindliche Ausfüllung des in Grenzfällen unvermeidlichen Wertungsspielraums bei dem im Instanzenzug höheren Gericht und damit beim Bundesgerichtshof. Zwar weisen die Befürworter eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums, allen voran Maatz134, darauf hin, dass eine „Rechtskontrolle“ auch hier stattfinde, wenn auch mit einem veränderten, auf die Frage der Vertretbarkeit des Entscheidungsergebnisses reduzierten Prüfungsmaßstab. Dieser Hinweis verfängt jedoch so wenig wie der Versuch, das Vorliegen eines Rechtsfehlers mit dem Hinweis auf die Vertretbarkeit der tatrichterlichen Wertung zu verneinen. Eine Beschränkung der revisionsgerichtlichen Kontrolle auf den Prüfungsmaßstab der Vertretbarkeit in dem oben genannten Sinne lässt sich weder mit dem Wortlaut des § 337 StPO noch mit dem Zweck des Rechtsmittels der Revision in Einklang bringen. § 337 StPO verpflichtet das Revisionsgericht zu voller, nicht lediglich zur Kontrolle, ob die Rechtsanwendung des Tatrichters „vertretbar“ erscheint. Eine Beschränkung der Prüfungsperspektive auf den Maßstab der Vertretbarkeit, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidung aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleitet hat, kann im Verhältnis zweier fachgerichtlicher Instanzen zueinander, die ein- und dieselbe materielle Norm des so genannten „einfachen Rechts“ – hier: des Tatbestands des § 211 StGB – anzuwenden haben, schwerlich zum Prüfungsmaßstab erhoben werden. Eine Beschränkung revisionsgerichtlicher Kontrolle auf den Maßstab der Vertretbarkeit kann heute auch nicht mehr unter Hinweis auf den beschränkten Zweck des Rechtsmittels der Revision gerechtfertigt werden; denn unter der Geltung des Grundgesetzes steht außer Streit, dass das strafprozessuale Rechtsmittel der Revision neben den Zwecken der Rechtsfortbildung und der Gewährleistung von Rechtseinheit auch und gerade der Gewährleistung einer gerechten Entscheidung im Einzelfall dient. Darauf, ob die Entscheidung des Revisionsgerichts über den jeweilige Einzelfall hinaus Bedeutung gewinnen und außerdem der Einheitlichkeit der Rechtsprechung dienen kann, kommt es deshalb nicht entscheidend an. Zur Rechtfertigung einer solchen Beschränkung der revisionsgerichtlichen Kontrolldichte kann schließlich auch nicht darauf verwiesen werden, dass die Beantworaufmerksam machen, das unter Berücksichtigung der Maßstäbe, die sich aus der Rechts- und Verfassungsordnung ergeben, zu treffen ist. 133 Zum Begriff der Vertretbarkeit siehe Larenz/Canaris (Fn. 132), S. 115; Gatgens, Ermessen und Willkür im Straf- und Strafverfahrensrecht, 2007, S. 220, 230. 134 Maatz, StraFo 2002, 373; er verortet die Entstehung der Lehre vom tatrichterlichen Beurteilungsspielraum in der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 10. 04. 1987, BGHSt 34, 341, 349.
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tung einiger Rechtsfragen – etwa die Einordnung eines Tatbeitrags als Täterschaft oder Teilnahme oder seine Bewertung als aktives Tun oder Unterlassen (§ 13 StGB) – in erster Linie für die Strafzumessung135 bedeutsam sei.136 Dieser Gedanke ließe sich auf die Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 2 StGB nur übertragen, wenn darauf abgestellt würde, dass die Bewertung der Beweggründe in erster Linie für die Frage Bedeutung gewinnt, ob lebenslange Freiheitsstrafe als Punktstrafe zu verhängen ist, oder ob ein zeitiger Strafrahmen eröffnet ist.137 Doch auch dies kann die Zuerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums weder rechtfertigen noch als plausibel ausweisen; damit würde die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung überspielt und die Unterscheidung zwischen Straftatbestand und Rechtsfolgen aufgegeben.138 Fraglich kann allenfalls sein, ob eine volle revisionsgerichtliche Kontrolle des tatrichterlichen Wertungsergebnisses aus zwingenden Gründen der Sachgesetzlichkeit ausscheidet. Als hinreichend in diesem Sinne werden Fallkonstellationen diskutiert, in denen die Rechtskonkretisierung auf der Grundlage von „Gesamteindrücken“ und „Gesamtwürdigungen“ erfolgt, die in den Urteilsgründen nur begrenzt mitteilbar sind. Eine volle revisionsgerichtliche Kontrolle soll wegen der auf die schriftlichen Urteilsgründe begrenzten, in bestimmten Konstellationen notwendig defizitären revisionsgerichtlichen Entscheidungsgrundlage ausscheiden.139 Gleiches soll gelten, wenn im Einzelfall Tatsachenfeststellung und -bewertung in unauflöslicher Weise ineinander verschlungen sind140. Ob dies eine nur beschränkte Kontrolle der tatrichterlichen Subsumtion der Feststellungen unter die Motivgeneralklausel rechtfertigen kann, erscheint jedoch zweifelhaft.
135 Dass auch die Strafzumessung revisionsgerichtlicher Kontrolle zu unterziehen ist, darauf hat Frisch (Fn. 131) früh und überzeugend hingewiesen. 136 So aber Mosbacher, FS Seebode, 2008, S. 239. 137 Eine solche Betrachtung hätte das in einem Schuldspruch wegen Mordes liegende höhere Unwerturteil auszublenden. 138 BGHSt 30, 105, 115; a.A. Engisch, ZStW 75, 640, 647 f. unter Hinweis auf die „starke innere Verflochtenheit von Tatbestand und Rechtsfolge“. 139 In diesem Sinne SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 113 f. für Fallkonstellationen in denen die Rechtskonkretisierung von „Gesamteindrücken“ oder „Gesamtwürdigungen“ abhängt. Die Einschränkung der Kontrolldichte ist in den genannten Konstellationen den beschränkten Erkenntnismöglichkeiten des Revisionsgerichts geschuldet. 140 SK-StPO/Frisch, § 337 Rn. 116.
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b) Mögliche Grenzen voller Revisibilität – die begrenzte Mitteilbarkeit entscheidungserheblicher Tatsachen, das Problem der „Verschlingung“ von Motivfeststellung und Bewertung im Bereich der Motivgeneralklausel, und der „originäre Wertungsakt“ des Tatrichters Der gelegentlich im Bereich der Strafzumessung angeführte Aspekt der begrenzten Mitteilbarkeit141 sämtlicher für die Entscheidung bedeutsamer Faktoren kann für eine Beschränkung der revisionsgerichtlichen Kontrolle im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel schwerlich fruchtbar gemacht werden. Hierfür seine nur zwei Argumente angeführt. Zum einen ist der Tatrichter – anders als im Bereich der Strafzumessung, in dem er von Gesetzes wegen nur zur Aufnahme der „bestimmenden“ Strafzumessungserwägungen in die Urteilsgründe verpflichtet ist142 – im Rahmen der Motivgeneralklausel von Rechts wegen zu einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände und zu ihrer vollständigen Wiedergabe in den Urteilsgründen verpflichtet. Die umfassende Würdigung aller für die Bewertung der Beweggründe als niedrig im Sinne des § 211 StGB maßgeblichen Umstände ist – vom Standpunkt der Rechtsprechung aus – eine der Grundvoraussetzungen dafür, damit dem Tatrichter für den nachfolgenden Wertungsakt überhaupt ein Beurteilungsspielraums zugebilligt werden kann. Ein Darlegungsmangel nötigt regelmäßig zur Urteilsaufhebung.143 Zum anderen kann jedenfalls im Bereich der Motivgeneralklausel schwerlich angenommen werden, dass eine Mitteilung der für die Gesamtbewertung der Tötungsmotive entscheidungserheblichen Umstände faktisch auf unüberwindliche Schwierigkeiten stieße. Dies gilt auch für solche Konstellationen, in denen die Bewertung der Tötungsmotive entscheidend von der Persönlichkeit des Angeklagten abhängt;144 dass der Tatrichter hinsichtlich dieser Eindrücke kompetenter ist, weil er einen unmittelbaren Eindruck von der Person des Angeklagten in der Hauptverhandlung gewinnen konnte, ist für ihre rechtliche Bewertung nachrangig. Abstriche an einer vollen revisionsgerichtlichen Kontrolle der tatrichterlichen Wertung der Mordmotive könnten gerechtfertigt sein, wenn anzunehmen wäre, dass die Feststellung und die Bewertung von Motiven, die den Täter im Einzelfall zur Tötung eines anderen Menschen veranlasst haben, auf unauflösliche Weise mit141 Der Gesichtspunkt begrenzter Mitteilbarkeit ist für Schmid (ZStW 85 [1973], 360, 389) in Fällen „extremer Unbestimmtheit“ ein tragfähiger Grund für die Restriktion revisionsgerichtlicher Prüfungstiefe auf eine reine Vertretbarkeit. Damit würde die von Gesetzes wegen bestehende Unbestimmtheit freilich noch verstärkt und nicht durch ein Mehr an Kontrolle ausgeglichen. 142 Vgl. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO. 143 Siehe BGH, Urt. v. 30. 08. 2012 – 4 StR 84/12 –, juris, Rn. 14 f. Ein Beruhen des Urteils auf einem solchen Erörterungsmangel im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO wird sich nur selten ausschließen lassen. Die (revisionsgerichtliche) Prognose, dass auch der neue Tatrichter nicht anders entscheiden werde und dieses Ergebnis rechtsfehlerfrei werde begründen können, ist allerdings schwerlich geeignet, ein Beruhen des Urteils auf dem Erörterungsmangel auszuschließen. 144 Vgl. etwa BGH NStZ-RR 2006, 340, 341.
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einander verflochten seien. Aber trifft es tatsächlich zu, dass Feststellung und nachfolgende Bewertung der Tötungsmotive nur theoretisch, nicht jedoch rechtspraktisch unterschieden werden können? Wer diese Frage anhand des Sachverhalts zu beantworten versucht, welcher der schon erörterten Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zugrunde liegt, wird rasch zu dem Ergebnis gelangen, dass eine Unterscheidung im Einzelfall schwierig sein mag, jedoch nicht unmöglich ist. Zwar kann nicht bestritten werden, dass die Feststellung der zum Tatentschluss führenden Motive und Beweggründe durch den Tatrichter die Weichen für oder gegen ihre Bewertung als niedrig stellen kann; dem Tatrichter wächst insoweit eine erhebliche Entscheidungsmacht zu, die wegen der ihm insoweit zweifelsfrei zustehenden Freiheit, die Beweise zu würdigen (§ 261 StPO), ungeachtet der auch insoweit bestehenden rechtlichen Bindungen nicht in vollem Umfang und nicht in allen seinen Einzelheiten kontrollierbar ist. Es wäre jedoch ein Fehlschluss anzunehmen, dass eine Unterscheidung zwischen Feststellung und Bewertung der Tötungsmotivation nicht möglich ist. Dem 5. Strafsenat wäre es in dem oben geschilderten Beispielsfall zwar versagt, die vom Tatrichter als Beweggrund für die Tötung festgestellte Wut und Verärgerung auf die möglicherweise nicht fernliegende Zurückweisung des Angeklagten durch das Tatopfer oder seine Enttäuschung angesichts des Ausbleibens der erhofften sexuellen Befriedigung zurückzuführen, wenn der Tatrichter einen solchen Zusammenhang mit nachvollziehbarer Begründung erörtert und verneint hat. Die tatrichterliche Bewertung, dass die (allein) zum Tatentschluss führende Wut und Verärgerung des Täters infolge des zweifellos gerechtfertigten Versuchs des Tatopfers, ihn durch den Vorhalt eines Klapptaschenmessers von sich fernzuhalten, als menschlich noch verständlich oder als niedrig erscheint, kann von diesem Akt der Feststellung des Beweggrunds für den Tötungsentschluss jedoch nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch unterschieden werden. Hätte der Tatrichter angenommen, dass Wut und Verärgerung des Angeklagten infolge dieses Verhaltens des Tatopfers ohne Weiteres als verständlich anzusehen wären, so hätte er – wie Schneider145 vermutet – wohl verkannt, dass das auslösende Verhalten des Tatopfers durch Notwehr gerechtfertigt gewesen wäre und die hieraus resultierende Wut des Angeklagten nicht auf Verständnis hoffen kann. In dieser Verkennung läge ein Rechtsfehler. Hätte der Tatrichter – wie es der 5. Strafsenat getan hat, um die tatrichterliche Entscheidung als vertretbar auszuweisen – auf die Tatvorgeschichte und darauf abgestellt, dass der Angeklagte auf eine Erfüllung seiner sexuellen Wünsche hoffen durfte, so hätte er verkannt, dass diese Hoffnung von Rechts wegen keinen Schutz verdient.146 145
Schneider, Widmaier-FS, S. 759, 766. Wäre die Annahme berechtigt, dass sich Tatsachenfeststellung und -bewertung in besonders gelagerten Fallkonstellationen – in besonderen „Grenzfällen“ – auf unauflösliche Weise verschlängen, so wäre zu erwägen, diese jedenfalls auch im Tatsächlichen wurzelnden Zweifelsfälle unter Berücksichtigung des Grundsatzes in dubio pro reo zugunsten des Angeklagten zu lösen. Doch führt dieser Gedanke nicht weiter und zeigt – einmal mehr – wie wichtig es ist, zwischen tatrichterlichen Spielräumen einerseits und revisionsgerichtlicher Kontrolle andererseits zu unterscheiden (vgl. Frisch, Fn. 23). Der Tatrichter könnte unter 146
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Soweit die Ausführungen Mosbachers147 dahin zu verstehen sein sollten, dass „originäre Wertungsakte“ des Tatrichters deshalb keiner vollen revisionsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden könnten, weil es sich „ganz wesentlich um die tadelnde Bewertung menschlichen Verhaltens“ handele, die „im Kern keine logische Operation“ beinhalte148, könnte eine solche Auffassung schwerlich auf Zustimmung hoffen. Unter der Geltung der rechtsstaatlichen Garantien des Grundgesetzes bedarf die Zuschreibung strafrechtlicher Schuld einer tragfähigen, rationalen Begründung; eine solche Zuschreibung kann nicht dem nicht näher hinterfragbaren „Judiz“149 des einzelnen Tatrichters überlassen sein. Ein Verzicht auf eine rationale Begründung des tatrichterlichen Wertungsakts erscheint auch und gerade im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel angesichts der gravierenden Folgen unhaltbar.150 Die Hypothese, wonach aufgrund der „Art der Entscheidung“ im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel mehrere Entscheidungen als „gleich richtig“151 ausgewiesen werden könnten, verdient so wenig Zustimmung wie die Forderung, die Letztentscheidung über die Bewertung der Tötungsmotive dem Tatrichter zu überlassen. Dieser verfügt hinsichtlich der Bewertung der festgestellten Tötungsmotive keineswegs über die überlegeneren Kompetenzen, im Gegenteil: Auf der Grundlage der spezifischen Erfahrungen der Strafsenate beim Bundesgerichtshof, die mit der Kontrolle einer Vielzahl von Strafurteilen aus unterschiedlichen Gerichtsbezirken befasst sind, erscheinen diese vielmehr kompetenter, die verbindliche rechtliche Bewertung der vom Tatrichter festgestellten Tötungsbeweggründe vorzunehmen.152 Die möglicherweise besseren Erkenntnisse des Tatrichters über die vielfältigen Verästelungen des jeweiligen Einzelfalls dürften dadurch zumindest aufgewogen werden. Hinzu tritt, dass die revisionsgerichtliche Überprüfung zwar auf der Grundlage der schriftlichen Urteilsgründe erfolgt und es sich mithin um eine abgeleitete, auf dem Blickwinkel des TatBerücksichtigung des Zweifelssatzes zu einer Verurteilung wegen Totschlags gelangen. Revisionsrechtlich wäre der Zweifelssatz jedoch nur verletzt, wenn der Tatrichter verurteilte, obwohl er zweifelte. Dass das Revisionsgericht tatsächliche Zweifel hegt, ist angesichts der gesetzlichen Konzeption des Rechtsmittels der Revision nicht vorgesehen. 147 Vgl. Mosbacher, FS Seebode, 2008, S. 239. 148 Mosbacher, FS Seebode, 2008, S. 238. 149 Mosbacher, FS Seebode, 2008, S. 238 Fn. 82; diese Formulierungen und die Betonung der Bedeutung des Judizes für die Tätigkeit des Strafrichters enthalten Anklänge an die subjektive Beweismaßtheorie (vgl. Alsberg, JW 1929, 862, 863; Bendix, GA 63 (1917), 31 f.; Bohne, Zur Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, 1948, S. 15 f.), die sich in den ersten Jahrzehnten des vorvergangenen Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute und auch in der älteren Rechtsprechung vorherrschte. Sie ist heute durch die gemischt objektiv-subjektive Beweismaßtheorie abgelöst, der auch die Rechtsprechung verpflichtet ist. 150 Damit würde im Übrigen auch dem Zeitgeist Tür und Tor geöffnet. Denn es erscheint keineswegs ausgeschlossen, dass die tatrichterliche Zurückhaltung in der Anwendung der Motivgeneralklausel zukünftig aufgegeben werden könnte, wie dies etwa im Maßregelrecht (Sicherungsverwahrung) in den vergangenen Jahren zu beobachten war. 151 So ausdrücklich Mosbacher, FS Seebode, 2008, S. 240. 152 Ein Argument, das Kritikern der Darstellungsrüge nicht selten entgegen gehalten wird, vgl. Fischer, FG Paulus, 2008, S. 53, 58.
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richters beruhende Erkenntnisgrundlage handelt. Gewinnt das tatrichterliche Wertungsergebnis jedoch auf der Grundlager der von ihm formulierten Darlegungen und Erwägungen in den schriftlichen Urteilsgründen nicht an Überzeugungskraft, so spricht dies in hohen Maße dafür, dass das Wertungsergebnis selbst unzulänglich ist. Wenig ergiebig erscheint nicht zuletzt auch der Hinweis auf das „Wesen“ des unbestimmten Rechtsbegriffs. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass auch und gerade unbestimmte Rechtsbegriffe, die im materiellen Strafrecht Verwendung finden, rechtlich grundsätzlich vollständig justiziabel sind.153 Eine Einschränkung der – vollen – Justiziabilität der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe im Einzelfall käme nur in Betracht, wenn die Strafrechtsordnung dem Tatrichter ausdrücklich oder jedenfalls der Sache nach einen eigenständigen Entscheidungsspielraum zuwiese.154 Dass die Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 2 StGB dem Tatrichter einen solchen von revisionsgerichtlicher Kontrolle freien Entscheidungsspielraum eröffnen könnte, kann auch dann nicht angenommen werden, wenn auf ihre Funktion abgestellt wird. Sie soll höchststrafwürdige Fälle besonders verwerflich erscheinender Tötungsdelikte als Mord erfassen, die nicht einem der anderen Mordmerkmale zugeordnet werden können; ihre Elastizität ist erforderlich, um Einzelfälle aus ihrem Anwendungsfeld auszuscheiden, in denen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als schuldunangemessen und unverhältnismäßig erscheint. Ihre Anwendung bleibt mit einigen Unsicherheiten behaftet, weil noch immer nicht verlässlich geklärt ist, worin die tatunrecht- oder schulderhöhenden Umstände des Mordes zu sehen sind, die den gravierenden Sanktionssprung von zeitiger Freiheitsstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren und lebenslanger Freiheitsstrafe rechtfertigen können.155 Doch gerade angesichts dieser Unsicherheiten und der verschiedentlich beschriebenen Divergenzen in der Bewertung der Tatmotive zwischen Tatgericht und Revisi-
153 Vgl. Frisch, NJW 1973, S. 1347; Warda (Fn. 114), S. 19 ff., 60 ff.; Herdegen, FS Kleinknecht, 1985, S. 173 f.; Tolksdorf, FS Meyer-Goßner, S. 523 f. 154 Schneider, a.a.O., bejaht dies – wegen § 267 Abs. 1 StPO – für den Bereich der Strafzumessung und im Maßregelrecht. 155 Siehe dazu Hörnle, Zur Relevanz von Beweggründen für die Bewertung von Tötungsdelikten – am Beispiel sog. „Ehrenmorde“ – in dieser Festschrift; Grünewald (Fn. 3), S. 145 ff. Eine Steigerung des sogen. Erfolgsunrechts erscheint jedenfalls in Fallkonstellationen ausgeschlossen, in denen es sich um ein und nicht um mehrere Tatopfer handelt. Nach herrschender Ansicht ist das Handlungsunrecht jedoch einer Abstufung zugänglich, wenn die Motive und Absichten des Täters berücksichtigt werden (vgl. die umfassenden Nachweise bei Grünewald, S. 160 Fn. 84; ablehnend dies., S. 96 ff., 160 ff.; a.A. Küper, GedS Meurer, 2002, S. 197). Zwar erscheinen die Hinweise Grünewalds, wonach moralisierende Erwägungen in einer modernen, freiheitsorientierten Strafrechtsordnung kein tauglicher Anlass für die Annahme einer Unrechtssteigerung seien, berechtigt. Sie lassen sich in das bestehende gesetzliche Konzept der Tötungsdelikte jedoch nur teilweise integrieren und lassen möglicherweise den unrechtssteigernden Aspekt der „Rechtsfriedensstörung“ außer Acht, der mit Taten in besonderem Maße verbunden sind, die eine besondere Diskrepanz zwischen Anlass und Tat aufweisen.
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onsgericht156 ist es unerlässlich, die tatrichterliche Wertung einer vollen revisionsgerichtlichen Kontrolle zu unterstellen. Ungeachtet der Schwierigkeiten und Verschränkungen von Feststellung und Bewertung von Tötungsmotiven ist an einem Letztentscheidungsrecht des Revisionsgerichts auch und gerade im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel festzuhalten. Für die hier vertretene Auffassung lassen sich auch verfassungsrechtliche Argumente anführen. Die Auslegung, die das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG in einigen neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts157 erfahren hat, könnte für eine intensive Kontrolle auch und gerade der Subsumtion der Feststellungen unter den Tatbestand vage gefasster Strafnormen ins Feld geführt werden, zu denen auch die Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 2 StGB zu rechnen ist. 3. Der tatrichterliche Beurteilungsspielraum und das Verfassungsrecht Die Bedeutung des Verfassungsrechts für die Ausgestaltung und die Anwendung des materiellen Strafrechts ist in der Vergangenheit nicht selten als eigentümlich gering beschrieben worden.158 Dem Strafgesetzgeber wird ein weiter (Beurteilungs-)Spielraum bei der Bestimmung des mit Kriminalstrafe belegten Verhaltens und bei der konkreten Ausgestaltung der Strafrechtsnormen zugebilligt.159 Zwar stellt das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG seinem Wortlaut nach strenge Anforderungen an die Formulierung von Straftatbeständen. In der verfassungsgerichtlichen Praxis sind diese Grenzen jedoch kaum je als überschritten angesehen worden.160 Gleiches lässt sich für das verfassungsrechtliche Schuldprinzip konstatieren, das seine Grundlage in der staatlichen Pflicht zur Achtung der Menschenwürde, der Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen und dem Rechtsstaatsprinzip des Grund156 Vgl. NK-StGB/Neumann (Fn. 9), § 211 Rn. 26; Kargl, StraFo 2001, 365, 368; Heine (Fn. 37), S. 64 f.; Eser, NStZ 1981, 384, 386. Auch Woesner (NJW 1979, 1025, 1028) weist auf Problem hin, dass in verschiedenen Städten für annähernd gleichartige Tötungsdelikte verschiedene Sanktionen verhängt werden. 157 Insbesondere durch den Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG NJW 2012, 907 f., der die vom Bundesgerichtshof auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen vorgenommene Subsumtion unter den Straftatbestand als einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot ausweist. 158 Lagodny (Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 536) konstatiert nicht zu Unrecht, dass das materielle Strafrecht sich „in nahezu genialer Weise einer verfassungsrechtlichen Kontrolle“ entziehe. Ob dieser Befund auch in Zukunft auf Zustimmung hoffen kann, erscheint jedoch fraglich. 159 Besonders eindrücklich zuletzt BVerfGE 120, 224 f. (Inzestverbot) mit Sondervotum Hassemer. 160 Siehe nur BVerfGE 90, 145, 173 (zu § 29 BtmG); 93, 266, 291 (zu § 185 StGB); strenger jedoch BVerfGE 105, 135 (zu § 43a StGB). Zu den zur Vermeidung des Verdikts verfassungswidriger Unbestimmtheit nicht selten herangezogenen Möglichkeiten verfassungskonformer Auslegung siehe Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006.
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gesetzes findet.161 Auch die verfassungsgerichtliche Kontrolle strafgerichtlicher Entscheidungen ist – ungeachtet der gelegentlich geäußerten Sorge, das Bundesverfassungsgericht könne sich zu einer „Superrevisionsinstanz“ entwickeln162 – von Zurückhaltung geprägt. Die verfassungsgerichtliche Prüfung fachgerichtlicher Entscheidungen hat sich in materieller Hinsicht weithin in einer Vertretbarkeitskontrolle der Rechtsanwendung durch die Fachgerichte erschöpft. In dieses festgefügte Eingriffsinstrumentarium des Bundesverfassungsgerichts ist neuerdings Bewegung geraten. Die Anerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums erscheint vor diesem Hintergrund auch verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig. a) Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG hat in der Auslegung, die es durch zwei neuere Entscheidungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts erfahren hat, erhebliche Bedeutung für die Strafrechtsanwendung gewonnen. In seinem Beschluss vom 07. 12. 2011163 hat der Zweite Senat festgehalten, dass das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG den Strafgerichten – über das Verbot strafbegründender Analogie hinaus – „Verpflichtungen in mehrfacher Hinsicht“164 auferlege. Welche dies sind, hatte der Senat in seinem Beschluss vom 23. 06. 2010165 ausführlich dargelegt. Der Zweite Senat hat dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG insbesondere konkrete „Vorgaben für die Handhabung weit gefasster Tatbestände und Tatbestandselemente“ entnommen. Danach sind die Strafgerichte verpflichtet, die in einer Strafnorm angelegten Unsicherheiten nicht durch die von ihnen gewählte Auslegung zu erhöhen,166 sondern sie sind gehalten, diese Unsicherheiten durch „Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung“ möglichst auszuräumen167. Die Strafgerichte sind durch das Verfassungsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG außerdem verpflichtet, eine Auslegung zu wählen, die den einzelnen Tatbestandsmerkmalen die ihnen vom Gesetzgeber zugedachte eigenständige und strafbarkeitsbeschränkende Bedeutung belässt168. In Fällen, in denen die Strafnorm erst durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung Konturen gewinnt, ist die Rechtsprechung schließlich in besonderem Maße verpflichtet, an der Erkennbarkeit der Voraussetzungen der Strafbarkeit mitzuwirken. Wegen des in 161
BVerfGE 20, 323, 331; 45, 187, 228; 50, 205, 214. Vgl. nur Kuckein, Verfassungsgerichtliche Vorgaben für die Urteilsprüfung in der Revision, in: Strafprozessrechtspraxis und Rechtswissenschaft – getrennte Welten? Referate und Diskussionen auf dem 1. Karlsruher Strafrechtsdialog am 15. Juli 2007, 2008, S. 68, 70. 163 BVerfG NJW 2012, 907 f. 164 BVerfG NJW 2012, 907 f, Rn. 165. 165 BVerfGE 126, 170 ff. (Untreue Landowsky), insbes. Rn. 76 – 83. 166 BVerfGE 126, 170, Rn. 80. 167 BVerfGE 126, 170, Rn. 80 – Präzisierungsgebot. 168 BVerfGE 126, 170, Rn. 78 – Verbot der „Verschleifung“ oder „Entgrenzung“ von Tatbestandsmerkmalen. 162
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Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen strengen Gesetzesvorbehalts soll die verfassungsgerichtliche Prüfung, ob die Strafgerichte diese aus Art. 103 Abs. 2 GG resultierenden Verpflichtungen erfüllen, nicht (mehr) auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt sein.169 Das Bundesverfassungsgericht prüft vielmehr in Fällen, in denen die Strafbarkeit mithilfe „gefestigter komplexerer Obersätze, Fallgruppenbildung und sonstigen Spezifizierungen eingegrenzt wird“ in vollem Umfange nach, ob sich die Auslegung und die Anwendung der Norm im Einzelfall170 in dem von den Strafgerichten bestimmten Rahmen hält. In Anwendung dieses strengen Prüfungsmaßstabs hat der Zweite Senat in seinem Beschluss vom 07. 12. 2011171 festgestellt, dass die auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen beruhende revisionsgerichtliche Annahme eines Schadenseintritts bzw. einer Überschreitung der Schwelle vom Vorbereitungsstadium zum Versuch mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar sei. Hier zeichnet sich – wenn der Eindruck nicht gänzlich trügt – eine Trendwende ab, deren Bedeutung schwerlich auf die Straftatbestände der §§ 263, 266 StGB beschränkt werden kann.172 Hatte sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle strafgerichtlicher Entscheidungen bisher häufig auf die Frage der Vertretbarkeit des Entscheidungsergebnisses beschränkt173, könnte sich hier ein unmittelbarerer Zugriff des Bundesverfassungsgerichts auf die Auslegung und die Anwendung unbestimmter Straftatbestände im Einzelfall andeuten.174 Ob damit die in der Vergangenheit gelegentlich geäußerte Sorge, das Bundesverfassungsgericht werde sich zu einer „Su169
So ausdrücklich BVerfGE 126, 170, Rn. 81. Bemerkenswert erscheint insbesondere, dass das Bundesverfassungsgericht auch vollumfänglich nachprüft, ob die Gerichte die von ihnen unter Beachtung der genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben entwickelte Auslegung „der Würdigung des konkreten Falles zugrunde gelegt haben“ (so ausdrücklich Rn. 82 a.A.), mit anderen Worten: Ob sich die Subsumtion des Lebenssachverhalts in diesem Rahmen hält. 171 BVerfG NJW 2012, 907, Rn. 170. 172 A.A. Krüger, NStZ 2011, 369, 373. Möglicherweise wird der strengere Prüfungsmaßstab auf Konstellationen beschränkt, in denen die Abgrenzung von strafbarem von straflosem Verhalten im Raum steht. 173 Weil nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts rechtfertigt, vgl. nur BVerfGE 18, 85, 93. Es lohnt, sich den Inhalt dieser vielfach zitierten Entscheidung in Erinnerung zu rufen, der die Verfassungsbeschwerde einer Patentanmelderin zugrunde lag, die sich durch die Auslegung und Anwendung des § 24 Abs. 3 PatG und die Gewährung von Akteneinsicht an eine Konkurrentin in ihrem Eigentumsrecht aus Art. 14 GG verletzt sah. Spezifisches Verfassungsrecht ist nach der in dieser Entscheidung geprägten so genannten „Heckschen Formel“ nicht schon verletzt, wenn eine gerichtliche Entscheidung, gemessen am einfachen Recht, objektiv fehlerhaft ist, sondern wenn der Fehler gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegt. Die „normalen Subsumtionsvorgänge“ innerhalb des einfachen Rechts sollen danach „so lange der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen sein, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gesicht sind.“ 174 In diesem Sinne Saliger, NJW 2010, 3195; Becker, HRRS 2010, S. 383, 387 f.; zweifelnd Krüger, NStZ 2011, 369, 372 („vielleicht“). 170
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perrevisionsinstanz“ entwickeln175, Realität gewinnen wird, bleibt abzuwarten.176 Dass aber die Motivgeneralklausel als eine Strafnorm von relativ großer Unbestimmtheit anzusehen ist und die Strafgerichte bei ihrer Auslegung und Anwendung zu größtmöglicher Präzisierung des unbestimmten Norminhalts verpflichtet sind, scheint kaum bestreitbar. Es liegt daher nicht fern anzunehmen, dass das Bundesverfassungsgericht177 gegebenenfalls auch im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel prüfen könnte, ob die Subsumtion des Lebenssachverhalts unter das Mordmerkmal sich innerhalb des vom Bundesgerichtshof entwickelten Prüfungsmaßstabs hält oder nicht.178 Bei der Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidungen zum Fall des so genannten „Kannibalen von Rotenburg“179, insbesondere hinsichtlich der Auslegung des Mordmerkmals „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“, hat es sich freilich noch in traditioneller Zurückhaltung geübt. Die weitere Entwicklung bleibt also abzuwarten.180 Jedenfalls aber können die aus dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG abgeleiteten Verpflichtungen als ein Argument dafür ins Feld geführt werden, dass das Revisionsgericht angesichts der Vagheit der Motivgeneralklausel und der Tragweite der Rechtsfolgen von Verfassungs wegen zu voller Überprüfung auch des tatrichterlichen Subsumtionsvorgangs verpflichtet ist. Dies gilt auch und gerade in Ansehung der Schwere der angedrohten Sanktion. 175
Vgl. nur Kuckein (Fn. 162), S. 68, 70. In Frage steht nicht, dass die Fortbildung des Strafrechts in erster Linie den Fachgerichten anvertraut ist, eine inhaltliche Kontrolle der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht auch bei (relativ) unbestimmten Straftatbeständen ausscheidet. 177 Anderes wäre zu erwarten, wenn das neue Kontrollinstrumentarium nur Anwendung in Fällen fände, in denen strafloses von strafbarem Verhalten abzugrenzen ist. 178 Zurückhaltend hingegen noch BVerfGE 54, 100, Rn. 34. 179 BVerfG, Beschluss vom 07. 10. 2008 – 2 BvR 578/07 –, BVerfGK 14, 295; vgl. hierzu Scheinfeld, Der Kannibalen-Fall, 2009; vorgehend BGHSt 50, 80, 86. Der 2. Strafsenat hat das Mordmerkmal „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ über die bisher entschiedenen engeren Fallkonstellationen hinaus erweiternd ausgelegt und angenommen, dass auch derjenige das Mordmerkmal verwirkliche, der nicht unmittelbar durch den Tötungsakt selbst oder durch nekrophile Handlungen sexuelle Befriedigung suche, sondern der beabsichtige, sich später durch die Betrachtung der von der Tötung aufgenommenen Videoaufnahmen sexuell zu stimulieren; auch in dieser Fallkonstellation liege die gesetzlich vorausgesetzte Zweck-MittelRelation vor, die nicht dadurch in Frage gestellt werde, dass zwischen der Tötung und der „Befriedigung“ erhebliche Zeit liege. Während der 2. Strafsenat dem Erfordernis eines „unmittelbaren zeitlich-räumlichen Zusammenhangs zwischen der Tötung eines Menschen und der Triebbefriedigung“ eine Absage erteilt (BGH, a.a.O., S. 87), die vorgenommene erweiternde Auslegung des Mordmerkmals jedoch mit Art. 103 Abs. 2 GG für vereinbar gehalten hat, hat das Bundesverfassungsgericht angenommen, dass zwischen der Tötung und der beabsichtigen Befriedigung des Geschlechtstriebs ein unmittelbarer Zusammenhang bestehe. 180 Der tatrichterliche Beurteilungsspielraum dürfte wohl unmittelbar nicht zur Prüfung des Bundesverfassungsgerichts gestellt werden können. Der Bundesgerichtshof hat – soweit ersichtlich – in Entscheidungen, die ein Rechtsmittel des Angeklagten betreffen, noch nicht darauf verwiesen, dass die tatrichterliche Wertung der Tötungsbeweggründe als „niedrig“ vertretbar erscheine und daher vom Revisionsgericht hinzunehmen sei. Ein solcher Hinweis ist auch nicht zu erwarten; Revisionen des Angeklagten werden überwiegend gemäß § 349 Abs. 2 StPO ohne Begründung verworfen. 176
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b) Der tatrichterliche Beurteilungsspielraum, das verfassungsrechtliche Schuldprinzip und der Justizgewährungsanspruch des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG Die Anerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel könnte auch vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips und des Justizgewährungsanspruchs Bedenken begegnen. Das verfassungsrechtliche Schuldprinzip stellt Anforderungen sowohl an den Strafgesetzgeber als auch an die Strafjustiz. Auf der Ebene des Gesetzes fordert es, dass Tatbestand und Rechtsfolge einer Strafnorm sachgerecht aufeinander abgestimmt sind;181 auf der Ebene der Gesetzesanwendung gebietet es, dass die Schwere der Tat und das Verschulden des Täters im Einzelfall in einem gerechten Verhältnis zu der verhängten Strafe stehen. In seinen die Strafe nach oben begrenzenden Wirkungen deckt es sich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 1 StGB hält insoweit – anders als die Mehrzahl anderer Strafvorschriften und anders als die besonderen Mordmerkmale – besondere Schwierigkeiten bereit. Während im Anwendungsbereich der besonderen Mordmerkmale zweifelhaft sein kann, wie in atypischen Konstellationen ungeachtet der allein angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe eine tat- und schuldangemessene Strafe verhängt werden kann, erscheint im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel fraglich, wann eine Tat unter Berücksichtigung aller ihr anhaftenden Besonderheiten (schon) so schwer wiegt, dass die lebenslange Freiheitsstrafe als tat- und schuldangemessen erscheint. Die Bestimmung der Schulduntergrenze hat der Gesetzgeber weitgehend der Strafjustiz überlassen. Die Offenheit auf der Tatbestandsseite ist jedoch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Aufnahme der Motivgeneralklausel in den Tatbestand des § 211 StGB nicht als eine Ermächtigung dahin zu verstehen, den Bereich der schon für höchststrafwürdig erachteten Fälle des Totschlags unter Berücksichtigung eigener Strafvorstellungen gleichsam freihändig zu bestimmen. Der Strafgesetzgeber hat mit der absoluten Strafdrohung für Mord, mit der Umschreibung spezieller Mordmerkmale und mit der Schaffung der Motivgeneralklausel auch das Ziel verfolgt, einen Beitrag zur Rechtssicherheit zu leisten und für eine möglichst gleichmäßige Bestrafung Sorge zu tragen.182 Die Ausgestaltung der Mordmerkmale als unrechtsbegründende Tatbestandsmerkmale dient dabei jedenfalls auch dem Ziel, gleich strafwürdige Fälle möglichst gleich zu behandeln. Es sollte gerade nicht von der richterlichen Bewertung des Gesamtbildes der Tat abhängig sein, ob eine Tat als Totschlag oder als Mord angesehen und entsprechend geahndet wird.183 Das Hinwirken auf eine möglichst gleichmäßige Strafpraxis kann auch als ein Gebot der materiellen Gerechtigkeit angesehen werden. Vor diesem Hintergrund 181
BVerfGE 90, 145, 173. BVerfGE 45, 187, 260. 183 Vgl. die treffenden Formulierungen des Großen Senats für Strafsachen in BGHSt 9, 385, 389; zustimmend Woesner, NJW 1979, 1025. 182
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erscheint die Hinnahme erheblicher Unterschiede in der Handhabung der Motivgeneralklausel durch die Tatrichter bedenklich, weil sie strukturell geeignet erscheint, eine gleichmäßige Ahndung vergleichbarer Taten zu gefährden. Die Letztentscheidung der Bewertung der Tötungsmotive als niedrig sollte nicht zuletzt im Interesse möglichst gleichmäßiger Bestrafung vergleichbar schwerer Taten beim Bundesgerichtshof liegen. Die Anerkennung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums könnte schließlich auch in Konflikt mit dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch geraten,184 der bekanntlich kein Recht auf einen Instanzenzug, wohl aber einen verfassungsrechtlich abgesicherten Anspruch darauf gewährleistet, dass ein vom Gesetz eröffnetes Rechtsmittel nicht in einer Weise gehandhabt wird, dass es ineffektiv wird und für den Betroffenen praktisch leer läuft.185 Die Analyse der bisherigen Entscheidungen im Bereich der Motivgeneralklausel hat jedoch gezeigt, dass die revisionsgerichtliche Prüfungstiefe – soweit ersichtlich – nur in Fällen eingeschränkt wird, in denen der Tatrichter die Annahme niedriger Beweggründe verneint und damit im Ergebnis zugunsten des Angeklagten entschieden hat. Der dem Einzelnen zustehende Justizgewährleistungsanspruch wäre berührt, wenn der Bundesgerichtshof die tatrichterliche Subsumtion der Beweggründe als niedrig als vertretbar unbeanstandet ließe.186
IV. Folgerungen und Ausblick Die vorstehenden Erwägungen haben gezeigt, dass die Kritik an der Zuerkennung eines Beurteilungsspielraums für den Tatrichter im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel berechtigt ist. Eine Beschränkung der revisionsgerichtlichen Kontrolle der tatrichterlichen Bewertung der Tötungsmotive auf eine reine Vertretbarkeit scheidet in Ermangelung stichhaltiger Argumente aus. § 337 StPO verpflichtet den Bundesgerichtshof vielmehr zu einer vollen Kontrolle der Subsumtion der tatrichterlichen Feststellungen unter die Motivgeneralklausel. Auch wenn ein tatrichterlicher Beurteilungsspielraum allein in Fallkonstellationen Anerkennung finden sollte, in denen der Tatrichter niedrige Beweggründe verneint hat, wäre es aus rechtsdogmatischer Sicht und im Interesse möglichst gleichmäßiger Bestrafung wünschenswert, wenn der Bundesgerichtshof im Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel des § 211 Abs. 2 StGB von der Rechtsfigur des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums Abschied nähme. Ob Gleiches auch für andere Fallkonstellationen zu for-
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Vgl. dazu ausführlich Geisler, FS Geppert, 2011, S. 118, 127 f. Vgl. BVerfGE 77, 275, 284; 88, 118, 124; 96, 27, 39. 186 Der Justizgewährungsanspruchs wäre freilich nur verletzt, wenn eine umfassende revisionsgerichtliche Kontrolle unterbliebe, obwohl sie möglich und durch § 337 StPO auch gefordert wäre. Dies ist nach der hier vertretenen Auffassung zu bejahen. 185
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dern wäre, muss an dieser Stelle offen bleiben.187 Die Chancen stehen jedoch nicht schlecht, dass der Jubilar auch insoweit mit seiner vor rund 40 Jahren formulierten Diagnose in vollem Umfang Recht behielte: Die „Konstruktion eines irrevisiblen Spielraums der Vertretbarkeit ist im Strafrecht unhaltbar“.
187 Kaum zweifelhaft erscheint, dass die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums bei der Abgrenzung von noch strafloser Vorbereitung und schon strafbarem Versuch ausscheiden muss.
Was bedeutet die „ressourcen-ökonomische Logik“ für die Rechtsprechung der Revisionsgerichte? Die Marginalisierung der Verfahrensrüge – einstimmige Diagnose, vielfältige Deutungen Von Edda Weßlau Namhafte Revisions-Spezialisten sind sich in der Diagnose einig: Die Rechtsprechungspraxis der BGH-Strafsenate tendiert zunehmend dahin, die Verfahrensrüge zu marginalisieren. Wolfgang Frisch ist in diesem Chor der Stimmen mit einer historisch ausgreifenden, gedankenreich belegten Analyse hervorgetreten, in der er zunächst die „Erweiterung“ der Revision durch Erfassung fehlerhafter Beweiswürdigungen und fehlerhafter Strafzumessungserwägungen nachgezeichnet und sodann den Trend zur Zurückdrängung der Verfahrensrüge beschrieben, gedeutet und bewertet hat.1 Das besondere Verdienst seines Beitrages ist darin zu sehen, dass Erklärungen in tieferen Schichten, nämlich in geistesgeschichtlich geprägten und dem Wandel unterworfenen Präferenzen und Überzeugungen der Rechtsanwender gesucht werden. Dieser Ansatz kann sich auf den einflussreichen Soziologen Max Weber berufen, der seine Gesellschaftsanalysen mit einer Beschreibung des Wandels im Rechtsdenken verbunden hat und dem wir die Einsicht verdanken, dass die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates mit einer Abkehr von formaler Rationalität im Recht und einer Hinwendung zu materialisierter bzw. Wertrationalität einhergeht.2 Und so zählt wohl die Erkenntnis, man habe es auch in der Rechtsprechung der Revisionsgerichte mit einer „Materialisierung“ der Norminterpretation – oder, wer diese Vokabel bevorzugt: einer „Entformalisierung“3 – zu tun, inzwischen bereits zum Allgemeingut in der Debatte um die Entwicklung des Revisionsrechts.4 So sehr dieses außer Streit steht, so sehr wird aber um die Deutung der jüngeren Wandlungsprozesse und die Bewertung des erreichten Zustandes von unterschiedlichen Standpunkten aus gerungen. Wolfgang Frisch bietet, wie gesagt, Erklärungen an, in denen „Zeitgeist“ und „gesellschaftliche Erwartungen und Bedürfnisse“ als maßgebliche Einflussfaktoren identifiziert werden. Der „Zeitgeist“, der im Revisionsrecht eine spektakuläre Erwei1
Frisch, FS Fezer, 2008, S. 353 ff. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1976, S. 387 ff. 3 So etwa; Hamm, NJW 2007, 3166 (3170); ders., StV 2008, 205 (209); Hassemer, FS Volk, 2009, S. 207 ff. 4 Vgl. nur Kühne, GA 2008, 361 (369, 373). 2
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terung des revisiblen Bereichs sub specie Sachrüge ermöglicht hat, kann also einerseits mit einem Wandel der allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen – Hinwendung zu wertrationalem Denken – in Verbindung gebracht werden; andererseits spielten aber auch – wie Wolfgang Frisch gezeigt hat – wissenschafts-immanenten Faktoren eine Rolle, nämlich die zunehmenden Zweifel an der Trennbarkeit von Tat- und Rechtsfrage.5 Ebenso können – das ist Wolfgang Frischs These – die umstrittenen revisionsrechtlichen Entwicklungen der Gegenwart, wie etwa die Verschärfung der Begründungsanforderungen bei der Erhebung einer Verfahrensrüge und die „Erfindung“ spezieller Rügevoraussetzungen, auf „Zeitgeist“-Einflüsse zurückgeführt werden. An dieser Stelle kommt die „ressourcen-ökonomische Logik“ ins Spiel6, die in ihrer Wirkungsmacht noch durch den aktuell stark betonten Beschleunigungsgrundsatz unterstrichen wird.7 Mit dieser Deutung will ich mich in dem vorliegenden Beitrag kritisch auseinandersetzen. Auf den ersten Blick will es so scheinen, als ob dieser Erklärungsansatz auf einer Linie liegt mit den Überlegungen, die den Prozess der Erweiterung der Revision so plausibel erklärt haben. Doch es kommen Zweifel auf. Die „ressourcenökonomische Logik“ beruht ja keineswegs auf einem allgemein verbreiteten „Zeitgeist“ oder gar auf aktuellen „gesellschaftlichen Bedürfnissen“, sondern ist seit jeher in die justizielle Entscheidungspraxis eingeschrieben, und sie ist als solche auch seit jeher grundsätzlich akzeptiert. Die materiellen Bedingungen des Justizwesens – sprich: die Ressourcenknappheit – haben sich zwar verschärft, und damit kann sicherlich auch die Bereitschaft der Gerichte erklärt werden, nach weiteren Möglichkeit der Justizentlastung Ausschau zu halten. Aber erstens kommt damit eine neue Dimension ins Spiel, nämlich die Realbedingungen des Rechtssystems und die Coping-Strategien seiner Akteure.8 Das ist zumindest nicht dasselbe wie „Zeitgeist“ oder „gesellschaftliche Erwartungen und Bedürfnisse“. Zweitens – und darum soll es in diesem Beitrag in Anknüpfung an die Überlegungen von Wolfgang Frisch gehen – bleibt die Frage zu klären, warum das Motiv, dem stärker verspürten Problemdruck in Bezug auf das Ressourcen-Thema nachzugeben, die Revisionsgerichte gerade auf diejenigen Wege geführt hat, über deren Beschreibung man sich einig ist. Um einer Antwort näher zu kommen, reicht es nicht hin, auf die „ressourcen-ökonomische Logik“ zu verweisen, sondern man wird – das ist meine These – wiederum eine wissenschafts-immanente Erklärungskomponente hinzunehmen müssen.
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Frisch, FS Fezer, 2008, S. 368 ff. Frisch, FS Fezer, 2008, S. 384 ff. 7 Frisch, FS Fezer, 2008, S. 389 ff. 8 Zum Coping-Ansatzs nur Jehle/Wade, Coping with Overloaded Criminal Justice Systems, 2006, allerdings beschränkt auf die Rolle der Anklagebehörde. 6
Was bedeutet die „ressourcen-ökonomische Logik“ für die Rechtsprechung?
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I. „Klassische“ ressourcen-ökonomische Kategorien im Justizalltag Ressourcen-ökonomische Kategorien waren der justiziellen Entscheidungspraxis schon immer und anerkanntermaßen eigen.9 In der Strafgerichtsbarkeit sind diese Kategorien, wenn man auf der tatgerichtlichen Ebene bleibt, zwar nicht zu finden, aber das ist gerade eine Besonderheit, die mit den dort gültigen rechtlichen Gestaltungsprinzipien zusammenhängt – was sogleich noch näher erläutert wird. In allen anderen Gerichtszweigen und auch auf der Ebene der Revisionsgerichte in Strafsachen haben diese Kategorien stets selbstverständlich und alltäglich die Praxis bestimmt. Gemeint ist die Befugnis, ja die Pflicht des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers, mit so wenig Aufwand wie möglich zur Entscheidungsreife zu gelangen und den übrigen vorgetragenen Rechts- und Tatsachenstoff dabei ohne Weiteres beiseite zu lassen.10 Die Besonderheiten der strafprozessualen Tatsacheninstanz sind dogmatisch begründet. Für den Tatrichter besteht eine umfassende Kognitionspflicht in Bezug auf den Verfahrensgegenstand.11 Diese umfassende Kognitionspflicht gibt es nur im Strafprozess, und hier auch nur in den tatgerichtlichen Instanzen. Sie hängt damit zusammen, dass es im Strafverfahren nicht darum geht, die Berechtigung der gestellten Klageanträge zu prüfen, sondern den zur Untersuchung unterbreiteten Fall zu beurteilen, und zwar unter jedem in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkt. Diese spezielle Mischform von Akkusationsprinzip und Inquisitionsmaxime ist dafür verantwortlich, dass Verfahrensgegenstand des Strafprozesses nicht der Antrag des Klägers ist, sondern das zu verhandelnde Tatgeschehen. Im Zivilprozess ebenso wie im Verwaltungsstreitverfahren oder im Verfahren nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde hat das Gericht dagegen über die Berechtigung der gestellten Anträge zu entscheiden. Kennzeichnend für diese Verfahren ist, dass hier der Parteibetrieb herrscht – unbeschadet der Tatsache, dass die Verwaltungsgerichte zur Aufklärung von Amts wegen verpflichtet sind.12 Die klagende Partei bringt durch ihren Antrag das Verfahren nicht nur in Gang, sondern bestimmt durch die Klageanträge auch
9 Bydlinski hält das „ökonomische Prinzip“ sogar für eine übergeordnete allgemeine Regel, die auch für die Gesetzgebung gilt; s. Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 625. 10 Es wird sogar vertreten, dass das Gericht aus prozessökonomischen Gründen über die Frage der Zulässigkeit der Klage hinweggehen dürfe, wenn es die Klage als unbegründet abweisen wolle. Die h. M. will das allerdings höchstens ausnahmsweise zulassen; vgl. Musielak, Grundkurs ZPO, 10. Aufl. 2010, § 3 Rn. 137 f. Unstreitig ist aber, dass es zum Wesen des Urteilsstils gehört, nur diejenigen Fragen anzusprechen und zu entscheiden, auf die es für die Entscheidung ankommt; vgl. Obernheim, Zivilprozessrecht für Referendare, 9. Aufl. 2012, § 10 Rn. 111. 11 Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl., 1995, 18/6 ff.; SK-StPO/Velten, 4. Aufl. 2012, § 264 Rn. 51 ff. 12 § 86 Abs. 1S. 1 VwGO.
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den Verfahrensgegenstand. Der zur Entscheidung berufene Spruchkörper ist nur verpflichtet, die Klageanträge zu erledigen. Ebenso verhält es sich in der Revisionsinstanz im Strafverfahren. Zu entscheiden ist über den Antrag des Revisionsführers, das tatrichterliche Urteil (ganz oder zum Teil) aufzuheben (§ 344 Abs. 1 StPO). Alles andere – also namentlich die einzelnen Revisionsrügen und der dazu gehörige Vortrag – ist Begründung (§ 344 Abs. 2 StPO). Eine Pflicht des Revisionsgerichts, trotz Entscheidungsreife sich mit dem gesamten Vortrag, insbes. also mit den einzelnen Rügen zu befassen, existiert nicht. Eine Besonderheit bei der Prüfungspflicht des Revisionsgerichts besteht nur in entgegen gesetzter Richtung: Es darf bei seiner Entscheidung über die Begründetheit des Revisionsantrages sich ausschließlich auf die Rügen stützen, die der Revisionsführer (ordnungsgemäß) erhoben hat. Das bedeutet aber nicht, das Revisionsgericht sei umgekehrt auch verpflichtet, sich in jedem Fall mit dem Vorbringen vollumfänglich zu befassen. Was das für unser Thema – Marginalisierung der Verfahrensrüge – bedeutet, wird noch zu zeigen sein. Für die justizielle Entscheidungspraxis gilt also ganz allgemein – von der strafgerichtlichen Tatsacheninstanz abgesehen – die Regel, dass ein Gericht verpflichtet ist, denjenigen Gründen nachzugehen, die am klarsten und mit dem geringsten Aufwand zur Entscheidungsreife führen. Herzuleiten ist diese Verpflichtung aus dem Gebot der Prozessökonomie. Es ist eine ungeschriebene Regel, und es gibt Sinn, sie als „Metaregel“ zu bezeichnen. Metaregeln sind Regeln, die einen inoffiziellen Charakter haben und darüber bestimmen, welche offiziellen Normen der Rechtsanwender zum Einsatz bringt.13 Bei der Handhabung dieser Metaregel haben die Gerichte freie Hand. Z. B. darf ein Untergericht abwägen, ob es in sein Kalkül auch den Weg durch die Instanzen einbezieht und deshalb vielleicht nicht den einfachsten Weg zur Entscheidungsreife wählt, sondern den etwas aufwändigeren Weg, der aber mit größerer Sicherheit Bestand haben wird. Die Parteien haben bei diesen Entscheidungsvorgängen kein Mitspracherecht, ja noch nicht einmal das Recht, Gehör zu finden. Sofern die Prozessordnung ein Rechtsgespräch vorsieht (z. B. § 139 ZPO, aber auch § 351 StPO), können zwar die Parteien die aus ihrer Sicht entscheidungserheblichen Tatsachen und Rechtsauffassungen vortragen, das Gericht muss jedoch nicht durchblicken lassen, ob es aus seiner Sicht darauf überhaupt ankommen wird, zumal sich die Erheblichkeitsbeurteilung im Laufe der Verhandlung verändern kann. Insbesondere verpflichtet der Anspruch auf rechtliches Gehör das Gericht nicht, bei seiner Abschlussentscheidung den gesamten Vortrag einer Partei abzuhandeln. Zwar schließt der Anspruch auf rechtliches Gehör die Verpflichtung des Gerichts ein, das Vorbringen eines Prozessbeteiligten zur Kenntnis 13
Barton, StV 2004, 332 (335) unter Verweis auf kriminalsoziologische Terminologie. Teilweise ist auch von einem „informellen Programm“ und einem „second code“ die Rede; vgl. Hassemer, StV 1982, 377; McNaughton-Smith, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten II, Bd. 1: Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, 1975, S. 197 ff.
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zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.14 Das bedeutet jedoch nur, dass eine der jeweiligen Partei nachteilige Entscheidung nicht ergehen darf, ohne dass sich das Gericht mit dem gesamten entscheidungserheblichen Vorbringen dieser Partei auseinandergesetzt hat. Wird dem Begehren der Partei jedoch entsprochen, so steht der Anspruch auf rechtliches Gehör selbst dann nicht entgegen, wenn das Gericht sich bei seiner Entscheidung auf völlig andere Gründe stützen und den Parteivortrag komplett übergehen will.15 All’ das galt schon immer und gilt weiterhin auch für die Revisionsgerichte in Strafsachen – mit zwei Einschränkungen: Erstens darf das aufhebende Urteil des Revisionsgerichts sich nicht auf „völlig andere Gründe“ stützen, sondern ausschließlich auf Rügen, die von der Partei erhoben worden sind; zweitens muss das Revisionsgericht sich auch bei einer ablehnenden Entscheidung nicht mit dem Vorbringen der Partei befassen, sondern kann das Begehren durch Beschluss als „offensichtlich unbegründet“ verwerfen (§ 349 Abs. 2 StPO)16. Solcher Besonderheiten ungeachtet erklärt sich durch die hier in Erinnerung gerufene, „ressourcen-ökonomischer Logik“ geschuldete, vollkommen unspektakuläre Regel bereits, warum es im Laufe der Zeit zu einer Zurückdrängung der Verfahrensrüge gekommen ist. Der Bedeutungsverlust der Verfahrensrüge ist – jedenfalls zum Teil – die Kehrseite jener Entwicklung, in deren Folge mit der Sachrüge die Beweiswürdigung und die Strafzumessung der revisionsrechtlichen Prüfung unterzogen werden können.17 Je vielfältiger die Chancen sind, dass das Revisionsgericht das Urteil bereits aus sachlich-rechtlichen Gründen aufhebt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die zugleich erhobenen Verfahrensrügen gar nicht zum Zuge kommen. Diese Fallkonstellation kommt laut Wolfgang Frisch sogar „relativ häufig“ vor.18 Einen generellen Vorrang der Sachrüge gegenüber der Verfahrensrüge gibt es zwar nicht. Aber es gibt eben die besagte Metaregel. Und schon wegen der Unterschiede im Prüfungsaufwand bei der Sachrüge einerseits und der gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO aufwändig begründeten Verfahrensrüge andererseits liegt es nahe, dass die Sachrüge dem Revisionsgericht regelmäßig weniger Arbeit macht.
14 BVerfGE 11, 218 (220); 60, 247 (249); 70, 288 (293); Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Grundgesetz: Kommentar, Loseblattausgabe, 27. Lfg. (November 1988), Art. 103 Rn. 67: „Recht auf Beachtung“. 15 Das ergibt sich daraus, dass nur ein erheblicher Vortrag gewürdigt werden muss, vgl. Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann (Fn. 14), Grundgesetz: Kommentar, Art. 103 Rn. 94. Hat das Gericht nämlich einen Rechtsgrund gefunden, der eine stattgebende Entscheidung trägt, dann ist allein der Vortrag „erheblich“, der zu diesem Rechtsgrund gehört. 16 Dass die Handhabung dieser Möglichkeit durch die Revisionssenate des BGH ebenfalls zunehmend in die Kritik gerät, sei hier nur erwähnt – denn das ist ein anderes Thema; vgl. dazu Schlothauer, StV 2004, 340; Fezer, StV 2007, 40; zur Gegenkritik vgl. Detter, StV 2004, 345. 17 Hamm, StV 1987, 262 (266), weist auf die Gleichzeitigkeit von Aufwertung der Sachrüge und Zurückdrängung der Verfahrensrüge hin. 18 Frisch, FS Fezer, 2008, S. 376.
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II. Ressourcen-Ökonomie als Erklärungsmuster für aktuelle Trends der Revisionsrechtsprechung? Nun geht der Bedeutungsverlust der Verfahrensrüge aber nur zu einem – wenn auch erheblichen – Teil auf das Konto dieser Metaregel aus dem Bereich der Prozessökonomie. Nicht erklärt sind damit diejenigen Fälle, an denen sich die aktuelle Rechtsprechungs-Kritik besonders entzündet: Fälle, in denen Verfahrensrügen „abgeblockt“19 werden, um das angefochtene Urteil halten zu können. Diese Fälle diskutiert Wolfgang Frisch deshalb besonders gründlich und gerade für sie beansprucht er, mit der „ressourcen-ökonomischen Logik“ ein Erklärungsmuster anbieten zu können. An dieser Stelle muss jedoch weiter differenziert werden. Denn aus dem bisher Gesagten ergibt sich ja, dass diese Logik gar nicht neu und deshalb auch nicht durch „Zeitgeist“-Einflüsse oder gewandelte „gesellschaftliche Erwartungen und Bedürfnisse“ zu erklären ist. Zu fragen ist vielmehr, ob sich unter dem Problemdruck der Ressourcenknappheit eine neue Metaregel herausgebildet hat, die es zu identifizieren gilt. Sie müsste sich von der seit jeher gültigen Metaregel aus dem Bereich der Prozessökonomie unterscheiden. An diesem Punkt angekommen, werde ich dann – wie bereits eingangs angedeutet – eine wissenschafts-immanente Erklärungskomponente ins Spiel bringen. Die „ressourcen-ökonomische Logik“ hat in der Tat zur Ausprägung einer neuen Metaregel geführt. In den Überlegungen Wolfgang Frischs wird diese Metaregel nicht ausgesprochen, aber sie bestimmt seinen Deutungsversuch, was die umstrittenen aktuellen revisionsrechtlichen Tendenzen betrifft. Dieser Deutungsversuch sei hier in aller Kürze skizziert: Den Revisionsgerichten ist bewusst, dass sie selbst und v. a. die zur Neuverhandlung aufgeforderten Tatgerichte das Fallaufkommen nicht mehr bewältigen könnten, wenn die Aufhebungsraten nennenswert höher wären. Man muss also restriktiv mit dem Instrument „Aufhebung“ umgehen. Das kann gelingen, wenn man die Fälle untereinander vergleicht und Selektionskriterien entwickelt. Unter dieser Prämisse ist es vernünftig, sich danach zu richten, ob eine Fehlerkorrektur dringlich erscheint und ob dafür auch ausschließlich die Revisionsinstanz zur Verfügung steht. Wendet man diese Kriterien an, dann können Verfahrensrügen „abgeblockt“ werden, wo die Fehlerkorrektur in der Tatsacheninstanz möglich gewesen wäre (Präklusion), wo der Fehler sich ersichtlich nicht auf das Verfahrensergebnis niedergeschlagen hat (Relativierung der absoluten Revisionsgründe; strengere Beruhensprüfung) oder wo es sich der Revisionsführer selbst zuzuschreiben hat, wenn er mit seinem Begehren in der Revisionsinstanz scheitert (ungenügender Vortrag).20 Diese Beschreibung ist durchaus plausibel. Dabei fällt auf, dass es hier um Kriterien geht, für die das gesamte Fallaufkommen den maßgeblichen Bezugspunkt bil19 20
Barton, StV 2004, 333; so früher schon Peters, FS Dünnebier, 1982, S. 53 ff. Frisch, FS Fezer, 2008, S. 384 ff.
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det und mittels derer eine Auswahlentscheidung ermöglicht werden soll. Im Unterschied dazu bezieht die herkömmliche, allgemein akzeptierte Metaregel ihre Kriterien aus dem jeweiligen Fall, der zu entscheiden ist. Die neue, hinter den eben skizzierten Überlegungen stehende Metaregel könnte so umschrieben werden: Erstens muss die auf die Gesamtheit der Fälle bezogene Aufhebungsrate sich nach den Kapazitäten des Strafjustizsystems richten. Zweitens muss, wenn man es also mit einem Kontingent zu tun hat, ein Verteilungsproblem gelöst werden: Die Chance, in der Revisionsinstanz eine Fehlerkorrektur zu erreichen, muss auf die Gesamtheit der Fälle gerecht verteilt werden. Bei der Handhabung dieser Metaregel haben die Gerichte – wie stets bei solchen Metaregeln – freie Hand. Das wurde oben bereits dargelegt. Bezogen auf die hier formulierte Metaregel heißt das vor allem, dass die Frage, was ein gerechtes Verteilungskriterium ist, völlig dem Gutdünken derjenigen überlassen ist, die diese Metaregel handhaben, also den Revisionsgerichten. Deshalb ist es für den rechtswissenschaftlichen Diskurs ein unschätzbarer Gewinn, wenn es gelingt, Licht in das Dunkel dieser Verteilungskriterien zu bringen und sie auf diese Weise überhaupt erst diskutierbar zu machen. Genau das ist Wolfgang Frisch gelungen. Bevor man sich auf dieses Thema einlässt, muss man freilich die logisch vorgelagerte Frage stellen, ob eine Metaregel, die den Anspruch auf Fehlerkorrektur zu einem Problem der Verteilungsgerechtigkeit erklärt, überhaupt zu rechtfertigen ist. Oder anders gefragt: Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Gerechtigkeitsparameter so verschoben haben und der Anspruch auf Fehlerkorrektur sich nun nicht mehr als Ausdruck des Gebots der Einzelfallgerechtigkeit darstellt, sondern als knappes Gut, um dessen Zuteilung ein Wettbewerb stattfindet? Man könnte z. B. auf die Idee kommen, die Verknüpfungen zwischen Staatsform und Rechtsdenken im Sinne Max Webers fortzuschreiben. Entsprach dem bürgerlichen Rechtsstaat die formale Rationalität und dem Wohlfahrtsstaat die Wertrationalität, so entspricht den modernen Formen des Regierens womöglich die Rationalität des Wettbewerbsdenkens21: Alles ist ein Verteilungsproblem, und Gerechtigkeitsfragen löst man am besten dadurch, dass man um alle denkbaren Güter einen Wettbewerb inszeniert. … Doch es mag für unsere Zwecke dahinstehen, ob in analytischen Betrachtungen dieses Abstraktionsniveaus etwas Wahres steckt oder nicht. Greifbarer erscheinen mir bestimmte wissenschafts-immanente Vorgänge, auf die ich nun die Aufmerksamkeit lenken will.
21 Eine in diese Richtung weisende Analyse findet sich bei Stürner, Markt und Wettbewerb über Alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie, 2007.
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III. Die Forderung nach „Folgenorientierung“ In der juristischen Methodendiskussion ist vor ungefähr drei bis vier Jahrzehnten unter dem Einfluss der Sozialwissenschaften ein neuer Topos aufgetaucht: die „Folgenorientierung in der Rechtsanwendung“.22 Ein Versuch, den Verlauf dieser Diskussion nachzuzeichnen, würde den Umfang dieses Beitrages sprengen. Deshalb können nur einzelne Züge der Debatte herausgegriffen werden, die sich mit unserer Fragestellung verknüpfen lassen. Zu diesen Zügen gehört eine bestimmte Kritik an der juristischen Art, Konflikte zu entscheiden. Der Vorwurf lautete, dass nur die unmittelbaren – höchstens noch die mittelbaren – Entscheidungsfolgen in den Blick genommen würden, während die Realfolgen, die eine bestimmte Auslegungsregel im Unterschied zu einer alternativen Auslegungsmöglichkeit nach sich ziehen könnten, weder systematisch wahrgenommen noch bewertet würden.23 Gemeint war Folgendes: Die „Geltung und Anwendung rechtlicher Regeln (hat) … insofern Wirkungen, als Rechtssubjekte sich, um Vorteile aus der Geltung einer Regel zu ziehen oder Nachteile daraus zu vermeiden, anders verhalten, als sie sich unter der Geltung einer anderslautenden Regel verhalten würden. Es geht also um die verhaltensbeeinflussende Wirkung rechtlicher Regeln“, kurz um „Adaptionsfolgen“.24 Von dieser Art der Folgenberücksichtigung erwartete man sich einen Rationalitätsgewinn. Die Forderung nach Öffnung für sozialwissenschaftliche Erkenntnisse erschien gerade in diesem Zusammenhang plausibel: Wer bereit ist, den Effekten rechtlicher Normierung Beachtung zu schenken, muss sich der Sozialwissenschaften bedienen, weil sie über das methodische Rüstzeug verfügen, um bestimmte Gesetzmäßigkeiten im Sozialleben zu erkennen und entsprechend Vorhersagen über künftige Verhaltensanpassungen machen zu können. Im Hintergrund dieser Kritik an dem typisch „beschränken“ Blick der Juristen und der Forderung nach sozialwissenschaftlich aufgeklärter Handhabung des Rechts stand – wie man heutzutage kritisch einräumt – die Planungseuphorie der 1970er und 1980er Jahre.25 Das Recht galt dem planenden und gestaltenden Staat als Steuerungsressource. Der Steuerungsanspruch richtete sich nicht nur an die normsetzenden Instanzen, was wiederum der Gesetzgebungslehre und der Implementationsforschung einen spürbaren Aufschwung verschaffte, son-
22 Aus der Vielzahl der literarischen Quellen seien hier nur genannt: Rottleuthner, in: Rotter u. a. (Hrsg.), Wissenschaften und Philosophie als Basis der Jurisprudenz (ARSP-Beiheft), 1980, S. 97 ff.; Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981; Hassemer, FS Coing, Bd. 1, 1982, S. 493 ff.; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995. 23 So z. B. Lübbe-Wolff (Fn. 22), S. 143 ff. 24 Lübbe-Wolff (Fn. 22), S. 139; weitere Folgen-Kategorien schlägt Deckert (Fn. 22), S. 113 ff. vor. 25 Diese Euphorie ist längst der Klage über eine „Krise des interventionistischen Rechts“ und „staatlichen Steuerungsverlust“ gewichen, vgl. etwa den zusammenfassenden Überblick bei Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen der Normsetzung, 2005, S. 1 ff.
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dern er richtete sich in Gestalt jener Methodendiskussion auch an den Rechtsanwender. Dass damit an die Rechtsanwendung systemwidrige Ansprüche gestellt werden, die sie überfordern müssen, wie u. a. Niklas Luhmann als Vertreter der Systemtheorie meinte26, war und bleibt in dieser Debatte ein gewichtiger Einwand. Ohne diese Kontroverse hier weiter entfalten zu müssen, wird schon jetzt eines deutlich: Solche Steuerungsansprüche verlangen eine Abkehr von der Fixierung auf den jeweils zu entscheidenden Einzelfall und sogar eine Abkehr von der Fixierung auf das Rechtsproblem, für das der reale Fall nur pars pro toto steht. Sie verlangen die Bereitschaft, Entscheidungskriterien aus einer Gesamtschau von „Mikro- und Makrofolgen“, von „Individual- und Sozialfolgen“ von „unmittelbaren und mittelbaren Folgen“27 zu gewinnen. Hat man dieses Terrain erst einmal betreten, so kann man durchaus auf die Idee kommen, dass auch die eigenen Ressourcen-Probleme des Rechtssystems als „Makrofolge“ in Betracht zu ziehen sind, um sodann – wie es der Methode der Folgenorientierung entspricht – die dogmatische Begriffs- oder Regelbildung zu beeinflussen. Was sollte dagegen sprechen? Doch an diesem Punkt ist Einspruch geboten. Befürworter der folgenorientierten Argumentation haben derartige Entwicklungen offenbar kommen sehen und deshalb die Notwendigkeit betont, „systeminterne Folgen“ auszuklammern: „Nicht zum Folgenbegriff gehören systeminterne Folgen einer Entscheidung, die sich auf das Rechtssystem oder den Rechtsstab beziehen“.28 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass man andernfalls den Folgenbegriff „allzusehr verwässern“ und eine Abgrenzung der spezifischen folgenorientierten Argumente von dogmatischen Argumenten unmöglich machen würde.29 Ferner wird vorgebracht, dass folgenorientierte Argumentation die Überzeugungskraft einer Entscheidung erhöhen solle und deshalb darauf angewiesen sei, die berücksichtigten Folgen auch benennen zu können. Daneben werde es im Justizalltag in der „Herstellungsphase“ einer Entscheidung immer auch Folgenerwägungen geben, die „natürlich unausgesprochen“ bleiben müssten, wie z. B. Überlegungen, die sich auf Durchsetzbarkeit oder Praktikabilität beziehen. Es sei deshalb „nicht sinnvoll, solche Folgeerwägungen in die Methode der Folgenorientierung miteinzubeziehen, von denen anzunehmen ist, dass sie sich auf die Herstellungsphase beschränken werden“.30 Was hier vorgeschlagen wird, läuft also auf eine Unterscheidung nicht nur zwischen folgenorientierten Argumenten und dogmatischen Argumenten, sondern auch zwischen folgenorientierten Argumenten und Metaregeln hinaus. Damit sind 26
Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 25 ff. Diese Aufzählung orientiert sich an den Differenzierungen bei Deckert (Fn. 22), S. 115 ff. 28 Deckert (Fn. 22), S. 112. Ähnlich Hassemer (Fn. 22), S. 513, der bei den „internen Folgen“ jedoch eher Auswirkungen auf die Entwicklung der Dogmatik im Auge hat. 29 Hassemer (Fn. 22), S. 513. 30 Deckert (Fn. 22), S. 112. 27
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wir immerhin ein Stück weiter gekommen. Wir können einerseits festhalten: Die Diskussion um Folgenorientierung als wissenschafts-immanenter Vorgang hat im Rechtsdenken Spuren hinterlassen. Werden an die Rechtsanwendung Steuerungsansprüche gestellt, dann geht es bei der juristischen Entscheidung nicht mehr unbedingt nur um den Einzelfall und dessen gerechte Lösung, es kommen weitere Parameter ins Spiel. Das mag – um auf unser Thema zurückzukommen – die Bereitschaft der Richter in den Strafsenaten des BGH erklären, sich bei der Begriffs- und Regelbildung im Revisionsrecht nicht mehr unbedingt von der Idee leiten zu lassen, man müsse die Entscheidungskriterien aus dem jeweiligen Einzelfall beziehen, sondern auch von der Idee, man habe ein Steuerungsproblem zu lösen. Wir können andererseits aber auch festhalten: Entscheidungskriterien, die bei der Rechtsanwendung31 mit der begrenzten Kapazität des Justizsystems operieren, können nicht unter der Flagge der „folgenorientierten Argumentation“ segeln. Die Befürworter folgenorientierter Argumentation haben sich deshalb konsequenterweise nicht dazu veranlasst gesehen, die Frage der Legitimität solcher „systeminternen“ Folgenerwägungen aufzuwerfen. Zu dieser Frage sollen hier zum Abschluss einige Gedanken beigesteuert werden.
IV. Adäquate und inadäquate Metaregeln Dass in der Entscheidungstätigkeit der Gerichte Metaregeln eine Rolle spielen, die auf dem Grundsatz der Ressourcen-Sparsamkeit beruhen, ist ebenso legitim wie banal. Damit ist nämlich nur das jeder Institution eigene Interesse beschrieben, die Art und Weise der Aufgabenerfüllung an die vorhandenen Kapazitäten anzupassen. Das gilt für Bürokratien ebenso wie für gewinnorientierte Unternehmen, für den Kultur- und Wissenschaftsbetrieb ebenso wie für die Justiz. Dieses Interesse ist aus institutioneller Sicht zwar existenziell, aber es ist eben kein spezifisches Problem der Institution Justiz, sondern ein allgegenwärtiges Problem des Ressourcen-Managements, das – je nach Institution – entweder professionell oder eher zufällig gelöst wird. Lösungen müssen bei der Art und Weise der Aufgabenerfüllung ansetzen, ohne dabei den Sinn dessen, was die Aufgabe ausmacht, zu verändern. Das gilt auch für die Justiz. Deshalb ist die oben in Erinnerung gebrachte, seit jeher angewandte Metaregel eine adäquate Regel: Die Aufgabe, eine juristisch korrekte Entscheidung zu treffen und damit den Streitgegenstand zu erledigen, wird in prozessökonomische Bahnen gelenkt. Ganz anders verhält es sich, wenn die Wege der Begriffs- und Regelbildung durch eine Metaregel verändert werden. Dann ist nicht mehr die Art und Weise der Aufgabenerledigung betroffen, sondern die Aufgabe selbst, die die Insti31
Für die Rechtspolitik gelten diese Aussagen nicht. Das versteht sich eigentlich von selbst, soll hier aber zur Vermeidung von Missverständnissen noch einmal betont werden. Der Gesetzgeber ist sogar gehalten, bei der Gestaltung des Verfahrensrechts nicht nur Gerechtigkeitsgesichtspunkte und Koheränzansprüche zu berücksichtigen, sondern auch auf Praktikabilität und Ressourcenfragen zu achten.
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tution „Justiz“ wahrzunehmen hat. Die Justiz würde ihre Ressourcen-ManagementProbleme mit ihrer Aufgabe vermischen und so den Sinn dessen, was ihre Aufgabe ausmacht, verändern. Aufgabe der Rechtsprechung ist es, den im Einzelfall bestehenden Konflikt am Maßstab des Rechts, also mittels methodengerecht gewonnener Kriterien, zu entscheiden. Für das Revisionsrecht bedeutet das: Der Anspruch auf Fehlerkorrektur, den die Revisionsgerichte durchzusetzen haben, kann nicht von Gesichtspunkten der Verteilungsgerechtigkeit überlagert werden, weil man in einer Art „Zielprogrammierung“ die Aufhebungsquoten zu einer maßgeblichen Richtgröße erklärt hat. Das ist nicht als Absage an die Legitimität ressourcen-ökonomischer Praktiken misszuverstehen. Für solche Praktiken ist Raum, aber sie dürfen nicht den Auftrag verändern, den das Recht den Gerichten erteilt hat.
Ausnehmen vom Revisionsangriff? Von Lutz Meyer-Goßner
I. Häufig liest man in BGH-Entscheidungen1: „Der Angeklagte hat die Nichtanwendung des § 64 StGB von seinem Rechtsmittelangriff nicht ausgenommen.“ Dieser Satz findet sich in Entscheidungen, in denen der Angeklagte durch den Tatrichter zwar zu Strafe verurteilt worden ist, jedoch keine Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erfolgt war – sei es, dass das Tatgericht die Voraussetzungen des § 64 StGB verneint hatte, sei es, dass es die Frage der Unterbringung nach § 64 StGB gar nicht geprüft, der Senat eine solche Prüfung aber für notwendig erachtete – und das Urteil deshalb (auch) wegen Nichtanordnung einer Unterbringung vom BGH aufgehoben wurde. Kann der Angeklagte aber die Nichtanordnung der Unterbringung überhaupt von seinem Rechtsmittelangriff ausnehmen? Der BGH bejaht dies in ständiger Rechtsprechung seit zwei kurz nacheinander ergangenen Entscheidungen: Der 4. Strafsenat hatte am 31. 7. 1992 dargelegt, das Revisionsgericht sei gehindert, die Entscheidung des Tatrichters, von der Unterbringung nach § 64 StGB abzusehen, rechtlich zu prüfen, „wenn der Angeklagte seine Revision auf den Strafausspruch beschränkt hat und sich aus dem Gesamtzusammenhang der Revisionsbegründung ergibt, dass er die verhängte Strafe nicht deswegen beanstandet, weil er glaubt, sie wäre niedriger ausgefallen, wenn gleichzeitig seine Unterbringung gemäß § 64 StGB angeordnet worden wäre“2. Am 7. 10. 1992 erklärte dann der 2. Strafsenat, „die Revision des Angeklagten kann die Nichtanwendung des § 64 StGB vom Rechtsmittelangriff ausnehmen“. Mit dieser – in die amtliche Sammlung aufgenommenen – Entscheidung3 wurde die ständige Rechtsprechung begründet; die Kritik von Hanack4 verhallte beim BGH ungehört. Der BGH hatte in der Entscheidung vom 7. 10. 1992 mit einem „vgl. auch“ ergänzend auf „Bay-
1 Beispielsweise Beschlüsse vom 16. 2. 2012 – 2 StR 29/12, 28. 12. 2011 – 2 StR 543/11, 23. 11. 2010 – 4 StR 513/10, 7. 4. 2010 – 3 StR 91/10; weitere Nachweise bei Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 64 Rn. 29. 2 4 StR 267/92 = NStZ 1992, 539. Ich war an dieser Entscheidung – obwohl damals Mitglied des 4. Strafsenats – nicht beteiligt. 3 2 StR 374/92 = BGHSt 38, 362. 4 Hanack, JR 1993, 430.
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ObLG JR 1987, 172 m. Anm. Meyer-Goßner“ hingewiesen5, ohne sich allerdings näher mit der Entscheidung und meiner ablehnenden Anmerkung auseinanderzusetzen; dort hatte das BayObLG folgenden Rechtssatz geprägt: „Beschränkt der Angeklagte seine Berufung gegen ein amtsgerichtliches Urteil, mit dem er zu einer Freiheitsstrafe, nicht aber zur Unterbringung verurteilt wurde, in zulässiger Weise auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung, so kann das Berufungsgericht aufgrund dieses Rechtsmittels trotz der nach § 331 Abs. 2 StPO grundsätzlich eröffneten Möglichkeit nicht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen.“ Das BayObLG lag damit im Ergebnis auf der Linie der BGH-Rechtsprechung, indem es die Prüfung, ob rechtsfehlerfrei von der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden sei, für unzulässig erklärte. Nun hat kürzlich Dencker die beiden BGH-Entscheidungen in einer eingehenden Untersuchung6 gerechtfertigt und sie in einen Zusammenhang mit einer anderen ständigen Rechtsprechung des BGH gestellt, wonach der Angeklagte nicht beschwert sei, wenn das Tatgericht eine Unterbringung nach § 64 StGB nicht angeordnet hat. Seit der Entscheidung des 2. Strafsenats vom 21. 3. 19797 gilt nämlich, dass der Angeklagte nicht dadurch beschwert ist, dass neben der Verhängung einer Freiheitsstrafe nicht auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet ist8. Dencker kommt zu dem Ergebnis, dass die in ständiger Rechtsprechung vertretenen beiden Thesen – einerseits Ausnehmen der Nichtanordnung vom Rechtsmittelangriff zulässig, andererseits keine Beschwer durch Nichtanordnung – nicht miteinander vereinbar seien. Dass diese beiden Thesen nicht miteinander vereinbar sind, ist zutreffend: Wenn dem Angeklagten die Befugnis zugebilligt wird, die Nichtanordnung der Unterbringung von seinem Rechtsmittelangriff auszunehmen, dann muss ihm im Gegenzug auch die Anfechtung der nicht-erfolgten Unterbringung gestattet sein. Dencker meint nun, die erste These (Ausnehmen vom Revisionsangriff möglich) sei richtig, die zweite These (keine Anfechtungsmöglichkeit wegen fehlender Beschwer) sei falsch. Meiner Meinung nach ist es jedoch gerade umgekehrt: Zu Unrecht glaubt der BGH, der Angeklagte könne wirksam die Nichtanfechtung vom Revisionsangriff ausnehmen; diese Rechtsprechung ist unzutreffend. Hingegen ist daran festzuhalten, dass der Angeklagte durch die Nichtanordnung der Unterbrin5
BGHSt 38, 362, 363. Dencker, FS Mehle, 2009, S. 143 ff. 7 2 StR 743/78 = BGHSt 28, 327. 8 Dass allerdings eine Überprüfung dahin, ob das Tatgericht rechtsfehlerfrei keine Unterbringung angeordnet hat, – auch ohne Annahme einer Beschwer – auf die mit der Revision des Angeklagten erhobenen Sachrüge hin zulässig ist, entspricht seit BGHSt 37, 5 ebenfalls ständiger Rechtsprechung. Diese Rechtsprechung wird von Dencker (Dencker, FS Mehle, 2009, S. 150) nicht beanstandet, da eine Verneinung der Beschwer zu dem unhaltbaren Ergebnis führen müsse, dass auf alleiniges Rechtsmittel des Angeklagten die unterbliebene Anordnung nie oder stets geprüft werden dürfte; diese ständige Rechtsprechung werde daher „zu Recht nicht angefochten“. 6
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gung nicht beschwert ist; ob die Nichtanordnung rechtsfehlerfrei war, kann nur auf eine im Übrigen zulässige Revision des Angeklagten9 (oder der Staatsanwaltschaft) überprüft werden.
II. Betrachtet man die Begründungen der BGH-Entscheidungen vom 31.7. und 7. 10. 1992 und die des BayObLG, so fällt eine unterschiedliche Begründungsdichte auf: Das Urteil vom 7. 10. 1992 weist auf die „weitreichende Dispositionsbefugnis“ des Angeklagten hin und meint, das Rechtsmittelgericht „kann und darf diejenigen Entscheidungsteile nicht nachprüfen, deren Nachprüfung von keiner Seite begehrt wird, wenn und soweit der angegriffene Entscheidungsteil trennbar ist, also losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt selbständig geprüft und beurteilt werden kann (BGHSt 29, 359, 364, 366).“10 Ähnlich hatte das BayObLG auf § 327 StPO hingewiesen und gemeint, § 331 Abs. 2 StPO begründe „eine Ausnahme nur hinsichtlich der in Absatz 1 der Vorschrift getroffenen Regelung, nicht aber gegenüber § 327 StPO“11. Im Beschluss vom 31. 7. 1992 wird ausgeführt, andernfalls wäre zu besorgen, „dass sich Angeklagte, die – möglicherweise zu Recht – meinen, zu einer zu hohen, nicht mehr schuldangemessenen Strafe verurteilt worden zu sein, von der Einlegung der Revision abhalten lassen, weil sie die Anordnung der Maßregel auf ihr Rechtsmittel hin befürchten müssen“12. Der Senat meint dann wörtlich, „diese missliche Konsequenz ließe sich auch mit Hinsicht auf § 358 Abs. 2 S. 2 (heute S. 3) StPO nicht rechtfertigen. Die Vorschrift nimmt zwar die Maßnahmen gemäß §§ 63, 64 StGB vom Verschlechterungsverbot aus. Aus ihr folgt aber nicht, dass das Revisionsgericht ein nur vom Angeklagten und lediglich hinsichtlich des Strafausspruchs angefochtenes Urteil auch dann aufheben darf, wenn dieses insofern nicht zu beanstanden ist und lediglich wegen der unterbliebenen Unterbringungsanordnung Bedenken bestehen“. Dazu kann man nur fragen: Wieso nicht? Warum folgt das nicht daraus? Genau hier liegt das Problem, auf das der BGH keine Antwort gegeben hat. Jedenfalls ist es unzureichend, nur auf die „Dispositionsfreiheit“ des Angeklagten zu verweisen, wie es der 2. Strafsenat und das BayObLG getan haben. Es ist doch die Frage, ob §§ 331 Abs. 2, 358 Abs. 2 S. 3 StPO diese Dispositionsfreiheit nicht gerade einschränken. Hierauf ist auch der 4. Strafsenat eine Antwort schuldig geblieben, indem er lediglich eine Behauptung aufgestellt, diese jedoch mit keinem Wort begründet hat. 9 BGHSt 37, 5. – Dass der Angeklagte hingegen grundsätzlich die Anordnung der Unterbringung von seinem Rechtsmittelangriff ausnehmen kann, ist demgegenüber unproblematisch; er kann sein Rechtsmittel nach allgemeinen Grundsätzen auf andere Urteilsteile beschränken, falls diese Teile nicht mit der Unterbringungsanordnung untrennbar verknüpft sind; vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 318 Rn. 25 mit weit. Nachw. 10 BGHSt 38, 362, 364. 11 JR 1987, 172, 173. 12 NStZ 1992, 539.
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So meint auch Dencker13, man müsse sich mit dem Argument auseinandersetzen, § 331 Abs. 2 (bzw. § 358 Abs. 2) StPO sei zu entnehmen, dass die Nichtanwendung des § 64 StGB nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen werden könne. Er verweist insoweit auf Rautenberg (Heidelberger Kommentar, 4. Aufl. 2009, § 331 Rn. 21) im Anschluss an und unter Berufung auf Hanack JR 1996, 430 ff und – neben Ausführungen von mir (JR 1987, 173 ff und in StPO-Kommentar, 51. Aufl. 2008, § 331 Rn. 2214) – auf die Darlegungen des verehrten Jubilars in SK-StPO § 327 Rn. 18; dieser führt dort aus: „Der hinter § 331 Abs. 2 stehende Gedanke, dass das Berufungsgericht bei erfolgter Anfechtung im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit (oder nach den Gesetzesmotiven [vgl. Hanack aaO]: im Interesse des Angeklagten selbst) die Befugnis haben muss (soll), eine für notwendig erachtete, aber unterbliebene Unterbringung anzuordnen, trägt nicht nur in dem Fall, in dem der Angeklagte ohne Beschränkung angefochten hat, sondern ebenso, wenn er die erfolgte Verurteilung nur begrenzt angreift. Aus § 331 Abs. 2 ergibt sich m.a.W., dass (auch) der Angeklagte, wenn er nur überhaupt anficht, jedenfalls nicht die Möglichkeit haben soll, die Frage einer unterbliebenen Anordnung der Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts zu entziehen“. Damit ist es auf den Punkt gebracht: § 327 StPO vermag § 331 Abs. 2 (bzw. § 358 Abs. 2 S. 3) StPO nicht auszuhebeln: Das Gesetz gibt dem Rechtsmittelgericht über §§ 331 Abs. 1, 358 Abs. 2 S. 1 StPO hinaus eine Eingriffsmöglichkeit, die der Angeklagte weder durch eine Rechtsmittelbeschränkung noch durch ein Ausnehmen vom Rechtsmitteleingriff unwirksam machen kann. Während sonst das Urteil auf seine alleinige Revision nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden kann und darf, erlaubt und verpflichtet das Gesetz durch die Ausnahmeregelung das Rechtsmittelgericht bei einer rechtsfehlerhaft unterbliebenen Unterbringungsanordnung nach §§ 63, 64 StGB auch in diesem Fall zum Eingreifen. Dass man sich mit dem Argument auseinandersetzen muss, aus § 331 Abs. 2 (bzw. § 358 Abs. 2 S. 3) StPO sei zu entnehmen, dass die Nichtanwendung des § 64 StGB nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen werden könne, erkennt auch Dencker an15. Während es sonst allerdings allgemeine Meinung ist, dass diese Vorschriften Ausnahmeregelungen zu § 331 Abs. 1 (bzw. § 358 Abs. 2 S. 1) StPO seien16, bringt Dencker17 eine originelle Auslegung: Er meint, die Regelungen in Absatz 2 der Vorschriften „seien nicht so sehr als Einschränkung der jeweiligen Absätze 1 zu lesen, sondern vielmehr in ihrer Funktion als Klarstellung“; es solle klar sein, dass die Anordnung der in den Absätzen 2 genannten Maßregeln auch auf ein Rechtsmittel des Angeklagten möglich sein solle.
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Dencker, FS Mehle, 2009, S. 146. Unverändert in der 55. Aufl. 2012. 15 Dencker, FS Mehle, 2009, S. 146. 16 Vgl. statt aller nur Löwe/Rosenberg/Gössel, StPO, 25. Aufl. 2003, § 331 Rn. 31. 17 Dencker, FS Mehle, 2009, S. 146. 14
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Aber selbst wenn das so wäre: Damit würde sich doch nichts daran ändern, dass damit eine Maßregel angeordnet würde, die sich zumindest auch zum Nachteil des Angeklagten auswirken kann – wenn er nämlich mit seiner zwangsweisen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ganz und gar nicht einverstanden ist. Und das ist zweifellos eine Ausnahme zu dem Verschlechterungsverbot in § 331 Abs. 1 bzw. § 358 Abs. 2 S. 1 StPO, die jegliche Verschlechterung bei den Rechtsfolgen verbieten. Aber die von Dencker vorgenommene Auslegung widerspricht auch Wortlaut, Entstehungsgeschichte, systematischem Zusammenhang und ratio der Vorschriften: Wenn das Gesetz etwa klarstellen will, dann formuliert es: „Dies gilt auch …“, aber nicht wie in §§ 331, 358 StPO: „Dies steht nicht entgegen“. Wenn eine Regelung einer anderen „entgegensteht“, dann ist es eine Ausnahme von der Regel und nicht eine Klarstellung18. Dass das der Gesetzgeber ebenso gesehen hat, wird – entgegen Dencker19 – auch durch die Entstehungsgeschichte bewiesen: Bei Schaffung der Vorschrift im Jahre 193320 galt das Verschlechterungsverbot grundsätzlich noch uneingeschränkt; selbst wenn damals schon Bedenken dagegen bestanden haben sollten, so wurde es doch erst zwei Jahre später beseitigt21. 1933 bedurfte es noch der Ausnahmeregelung. Nach Beseitigung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes wurde die Regelung des Jahres 1933 durch das Vereinheitlichungsgesetz 1950 wieder eingeführt; es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Gesetzgeber von 1950 die Vorschriften als Ausnahmeregelung zum Verschlechterungsverbot für notwendig erachtet hat22. Wenn man in diesem Zusammenhang 1933 die Regelung mit dem „wohlverstandenen Interesse“ des Angeklagten begründete23 – eine Begründung, die sich auch heute noch in den Kommentierungen findet24 –, so war doch ersichtlich auch das Sicherungsinteresse der Allgemeinheit mitentscheidend; nicht umsonst hieß es damals „Sicherung und Besserung“25, während jetzt der 6. Titel des StGB „Besserung und Sicherung“ lautet. Weil gerade auch Belange der öffentlichen Si-
18 Ein Formulierungsbeispiel dafür, wie eine Klarstellung dahin lauten müsste, dass auch die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt vom Verschlechterungsverbot umfasst ist, bringt Kretschmer, Das strafprozessuale Verbot der reformatio in peius und die Maßregeln der Besserung und Sicherung, 1999, S. 294: „Eine nachträgliche Anordnung der Maßregeln der Besserung und Sicherung ist weder im Austausch mit anderen Rechtsfolgen noch zusätzlich erlaubt.“ 19 Dencker, FS Mehle, 2009, S. 147. 20 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, RGBl. 1933 I, 1000. 21 Durch Gesetz vom 28. 6. 1935, RGBl. 1935 I, 844, 845. 22 Vgl. Nüse, JR 1950, 553, 558. 23 Schäfer/Wagner/Schafheutle, Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 1934, S. 271, 272. 24 Löwe/Rosenberg/Gössel (Fn. 16), StPO, § 331 Rn. 31. 25 Vgl. Fn. 20.
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cherheit die Unterbringung eines gefährlichen Täters zwingend erfordern können, musste das Verschlechterungsverbot eingeschränkt werden. Dem kann nicht entgegengehalten werden, wie es Dencker26 und auch Tolksdorf27 tun, dass das Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit doch auch dadurch gefährdet werde, dass das Verschlechterungsverbot der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB entgegenstehe. Dies Argument trägt heute – nach Einschränkung der Sicherungsverwahrung durch die Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG – schon kaum noch. Aber davon abgesehen würde die Entscheidung des Angeklagten, ob er ein Rechtsmittel einlegen will, in zu starker Weise eingeschränkt, wenn die unterbliebene Anordnung der Sicherungsverwahrung auch auf ein alleiniges Rechtsmittel von ihm aufgehoben werden könnte; das Risiko für den Angeklagten würde damit zu hoch. Die Möglichkeit der Anordnung einer Unterbringung nach § 64 StGB ist hingegen für den Angeklagten nicht unbedingt negativ und zudem ist die Unterbringung zeitlich nach § 67d Abs. 1 StGB einerseits stark eingeschränkt, andererseits verkürzt sich seine Strafe auch durch den Maßregelvollzug; bei der Unterbringung nach § 63 StGB muss das Interesse der Öffentlichkeit, vor einem gefährlichen Täter geschützt zu werden, den Vorrang vor den Interessen des Angeklagten haben. Die Situation bei § 66 StGB ist somit derjenigen bei §§ 63, 64 StGB nicht vergleichbar. Auch der BGH erwähnt das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit, meint jedoch, dem Angeklagten sei es doch auch unbenommen, von einer Urteilsanfechtung gänzlich abzusehen28; ebenso weist Dencker unter Bezugnahme auf Tolksdorf29 darauf hin, dass der Angeklagte sein Rechtsmittel doch nicht durchführen müsse. Aber es ist eine nicht tragende Argumentation, rechtskräftig gewordene mit angefochtenen Entscheidungen zu vergleichen30 : Wenn der Angeklagte (und auch kein anderer Rechtsmittelberechtigter) ein Urteil nicht anficht, kann kein Rechtsmittelgericht tätig werden; das besagt aber doch nicht zugleich, dass ein Rechtsmittelgericht eine angefochtene unrichtige Entscheidung nicht beanstanden kann und muss. Muss die Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern geschützt werden, so muss das Rechtsmittelgericht diesen Schutz gewähren, wenn es sich auf ein zulässiges Rechtsmittel hin mit der Sache befassen darf. Während also die ratio der Vorschrift, die eben nicht nur die Besserung, sondern auch die Sicherung des Täters im Blick hat und dazu führt, den Täter auch – und in der Regel – gegen seinen Willen in einer Entziehungsanstalt unterzubringen, gegen die Auslegung Denckers spricht und keineswegs als „unverständige Ausnahme“ be-
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Dencker, FS Mehle, 2009, S. 147. Tolksdorf, FS Stree und Wessels, 1993, S. 753, 766. 28 BGHSt. 38, 362, 364. 29 Tolksdorf, FS Stree und Wessels, 1993, S. 753, 766. 30 So unrichtig auch in BGHSt 18, 127, 129 f.; dagegen eingehend Meyer-Goßner, Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse, 2011, S. 72 ff. 27
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zeichnet werden kann31, so ist das letztlich entscheidende Argument, dass für § 64 StGB dieselben Regeln wie für § 63 StGB gelten müssen; auch Dencker bemerkt32 dies – allerdings in anderem Zusammenhang und ohne dass er hieraus die für die Zulässigkeit des „Ausnehmens vom Rechtsmittelangriff“ notwendige Folge zieht. Zu § 63 StGB hatte der BGH nämlich bisher nicht entschieden, dass die Nichtanordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vom Revisionsangriff ausgenommen werden könne; vielmehr hatte der BGH dies stets ausdrücklich offen gelassen33. Nun hat allerdings der 3. Strafsenat in einem Beschluss vom 10. 8. 2010 (3 StR 268/10) erklärt, der Beschwerdeführer habe die Nichtanwendung des § 63 StGB wirksam von seinem Revisionsangriff ausgenommen. Dabei wird in der Entscheidung aber mit keinem Wort darauf eingegangen, dass der BGH bisher immer unentschieden gelassen hatte, ob ein solches Ausnehmen vom Rechtsmittelangriff wirksam sein könne; zur Begründung wird lediglich auf einen Beschluss vom 13. 7. 2010 (3 StR 138/10) verwiesen, der aber nicht § 63, sondern § 64 StGB betraf34. So sollte hier wohl nicht von einer ständigen Rechtsprechung abgewichen, vielmehr muss von einem „Ausrutscher“ ausgegangen werden. Dencker meint zwar, es sei nicht ausgeschlossen, dass ein Angeklagter mit der Revision seine Unterbringung nach § 63 StGB erstrebt35 ; einen solchen Fall hat es aber ersichtlich bisher noch nicht gegeben. Man stelle sich jedoch einmal vor, dass ein bisher – erkannt oder unerkannt – geisteskranker Täter, der zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, diese anficht, zugleich aber erklärt, er nähme die Nichtanordnung der Unterbringung nach § 63 StGB von seinem Rechtsmittelangriff aus: Ergibt sich nun im Rechtsmittelverfahren, dass er wegen Geisteskrankheit schuldunfähig ist, so müsste seine Verurteilung aufgehoben werden, eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus könnte aber – geht man von der Wirksamkeit des „Ausnehmens“ aus – nicht erfolgen und ein möglicherweise hochgefährlicher Täter könnte nicht untergebracht werden. Auch in dem vom BGH entschiedenen Fall36 wurde ein Angeklagter, der mehrfach wegen Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls sowie wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und schweren Raubes vorbestraft war und nunmehr wegen vorsätzlicher Körperverletzung in vier Fällen, wegen Diebstahls und versuchten Diebstahls verurteilt wurde, nicht untergebracht, obwohl das Landgericht die Unterbringung mit rechtsfehlerhaften Erwägungen abgelehnt hatte. Die Unmöglichkeit eines solchen Ergebnisses liegt auf der Hand. 31
So aber Dencker, FS Mehle, 2009, S. 149. Dencker, FS Mehle, 2009, S. 155. 33 BGH StV 1998, 342; NStZ-RR 2003, 18; bei Becker NStZ-RR 2006, 5. 34 Auch Schlothauer, StV 2011, 648, 649, geht ganz unbefangen davon aus, dass die Nichtanordnung der Unterbringung nach § 63 StGB vom Rechtsmittelangriff ausgenommen werden könne; er weist aber darauf hin, dass wegen der engen Verknüpfung von Schuldspruch und Unterbringung im konkreten Fall die Beschränkung unwirksam gewesen wäre. 35 Dencker, FS Mehle, 2009, S. 153. 36 Beschluss vom 10. 8. 2010 – 3 StR 268/10. 32
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Das Ergebnis widerspricht auch der neuen Intention des Gesetzgebers: Durch den erst im Jahre 2007 in § 358 Abs. 2 StPO neu eingefügten Satz 2 (durch den der bisherige Satz 2 zum Satz 3 wurde)37 wurde sichergestellt, dass ein Täter, der irrtümlich für schuldunfähig gehalten wurde, aus der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus entlassen und nachträglich zu Strafe verurteilt werden kann. Den umgekehrten Fall, dass jemand, der irrtümlich für schuldfähig gehalten und zu Strafe verurteilt wurde, aus der Strafhaft entlassen und in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden darf, hatte bereits der alte Satz 2 (jetzt Satz 3) des § 358 Abs. 2 StPO geregelt. Mit einer für zulässig angesehenen Rechtsmittelbeschränkung tritt nun aber wieder der Fall ein, den der Gesetzgeber 2007 gerade verhindern wollte: Dass ein Täter weder zu Strafe noch zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verurteilt werden kann. Auch diese Überlegung steht – was Dencker verkennt38 – der Möglichkeit einer Rechtsmittelbeschränkung entgegen. Wenn aber bei § 63 StGB eine Rechtsmittelbeschränkung der Art, dass der Angeklagte die Nichtanordnung seiner Unterbringung vom Rechtsmittelangriff ausnehmen kann, ausgeschlossen ist, kann für § 64 StGB nichts anderes gelten; denn das Gesetz behandelt die beiden Fälle gleich, in dem es in derselben Weise für § 63 wie für § 64 StGB eine Ausnahme zu § 331 Abs. 1 in § 331 Abs. 2 StPO und zu § 358 Abs. 2 S. 1 in § 358 Abs. 2 S. 3 StPO statuiert. Was für § 63 StGB gilt, muss demnach auch für § 64 StGB gelten. Das Gesetz entzieht dem Angeklagten insoweit in beiden Fällen seine Dispositionsbefugnis und leitet diese auf das Rechtsmittelgericht über. Es tut dies aus dem guten Grund, die Allgemeinheit vor einem gefährlichen Täter zu schützen. Es ist offenkundig gesetzeswidrig, dem Täter im Fall des § 64 StGB die Dispositionsbefugnis zu lassen, sie ihm aber im Fall des § 63 StGB abzusprechen. Damit besteht auch kein Widerspruch zu der ständigen Rechtsprechung des BGH, dass der Angeklagte ein Urteil nicht mit der (alleinigen) Begründung anfechten kann, er sei rechtsfehlerhaft nicht nach § 63 oder § 64 StGB untergebracht worden: Es mag ja durchaus Fälle geben, in denen der Angeklagte nach § 64 StGB (aber wohl kaum jemals nach § 63 StGB) untergebracht werden möchte (vielleicht auch deswegen, weil er sich dadurch einen Strafvorteil durch gleichzeitige Milderung der gegen ihn verhängten Strafe verspricht). Aber aus den §§ 331 Abs. 2, 358 Abs. 2 S. 3 StPO ist eben zu entnehmen, dass die Unterbringung für ihn (zumindest auch) einen Nachteil bedeutet. Wird die Unterbringung nicht angeordnet, so erleidet er diesen Nachteil nicht und ist damit durch das tatrichterliche Urteil nicht beschwert39. Mangelnde Beschwer macht das Rechtsmittel aber unzulässig40.
37 Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. 7. 2007, BGBl. 2007, 1327. 38 Dencker, FS Mehle, 2009, S. 154. 39 BGH, Beschluss vom 9. 5. 2012 – 4 StR 649/11. 40 Vgl. zum Ganzen Meyer-Goßner (Fn. 9), StPO, § 318 Rn. 25.
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Es ist mit den Regeln der StPO auch unvereinbar, eine Rechtsfolge zugleich als einen Vor- und einen Nachteil anzusehen, wie es Tolksdorf41 annimmt. Er meint, eine Beschwer liege zwar grundsätzlich nur vor, wenn gegen den Angeklagten die Unterbringung angeordnet werde. Auch in der Nicht-Anordnung könne aber eine Beschwer liegen, „wenn der Täter – weil therapiebereit – die Entscheidung auch subjektiv als Nachteil empfinde“42. Dem kann nicht zugestimmt werden: Ob eine Entscheidung oder Nicht-Entscheidung für den Angeklagten nachteilig ist, kann nur objektiv und nur einheitlich beantwortet werden. Jegliche Sicherheit würde aufgelöst, wenn es insoweit auf den jeweiligen subjektiven Eindruck des Angeklagten ankäme; denn umgekehrt müsste dann ja auch eine Beschwer des Angeklagten durch die Anordnung der Unterbringung verneint werden, wenn er mit dieser einverstanden ist. Das nicht auf die Ansicht des Angeklagten abgestellt werden kann, zeigt sich etwa auch beim Freispruch: Der Angeklagte mag damit unzufrieden sein, dass er mangels Beweises oder wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen worden ist, falls er einen Freispruch wegen erwiesener Unschuld erstrebt hatte. Aber ein Freispruch beschwert ihn nicht – ohne Rücksicht darauf, auf welchen Gründen er beruht. In gleicher Weise lässt sich nur sagen, dass eine unterbliebene Unterbringungsanordnung den Angeklagten nicht beschwert – auch wenn er lieber hätte untergebracht werden wollen43. Und natürlich beschwert die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe den Angeklagten stets – auch wenn er wegen des harten Winters lieber einige Zeit im Gefängnis bleiben würde. Es kommt also nicht darauf an, ob der Angeklagte sich beschwert fühlt, sondern ob er beschwert ist. Es ist somit weder möglich, darauf abzustellen, ob eine gerichtliche Maßnahme für den Angeklagten nach seinem Empfinden vor- oder nachteilig ist, noch ist es möglich, dass eine angeordnete oder nicht angeordnete Maßnahme zugleich als Vor- und als Nachteil angesehen wird. Mit der Tolksdorfschen Betrachtung würden die Regeln der StPO aufgelöst. Zutreffend führt insofern auch Kretschmer44 aus: „Bei der konkreten Betrachtung wäre die Vorausschau von Unwägbarkeiten geprägt, die der Berechenbarkeit die Grundlage entzögen. Die zu erwartende Unterschiedlichkeit in der Abwägung von Einzelfall zu Einzelfall wäre es auch, die eine Gefahr der Uneinheitlichkeit der Gesetzesanwendung begründet.“ Daran, dass die Unterbringung für den Angeklagten einen Nachteil darstellt45, ergibt sich schließlich – entgegen Dencker46 – auch aus § 67 Abs. 4 StGB nichts ande41
Tolksdorf, FS Stree und Wessels, 1993, S. 753, 766. Tolksdorf, FS Stree und Wessels, 1993, S. 760. 43 Zutreffend BGHSt 28, 327, 330 f.: „Für die Beurteilung … kommt es nicht auf die subjektive Einschätzung durch den Betroffenen an, sondern allein darauf, ob nach objektiven Kriterien … durch die begehrte Entscheidung eine Besserstellung des Betroffenen herbeigeführt wird.“ 44 Kretschmer (Fn. 18), S. 111. 45 So übrigens auch die ständige Rechtsprechung von BVerfG und BGH, vgl. nur kürzlich BVerfG NJW 2012, 1784 und BGH, Beschluss vom 8. 5. 2012 – 3 StR 128/12: „Der auf das 42
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res; denn durch die (teilweise) Anrechnung der Maßregel auf die Strafe ändert sich nichts daran, dass beide einen – objektiven – Nachteil für den Angeklagten bedeuten47. Im Übrigen sei bemerkt: Wenn der Angeklagte therapiewillig ist und deshalb so gerne in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden möchte, so steht es ihm doch frei, sich um eine Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder zu bemühen. Es erscheint aber ausgeschlossen, dass der Angeklagte zu diesem Zweck das Rechtsmittelverfahren der StPO benutzt, wenn der Tatrichter zu dem Ergebnis gekommen ist, eine Unterbringung des Angeklagten sei nicht veranlasst. Es geht nicht darum, dem Angeklagten die „Verfolgung einer ihm materiell-rechtlich zustehenden Heilungschance zu verwehren“48, sondern darum, dass das Rechtsmittelsystem der StPO für ein solches Begehren nichts hergibt49.
III. Es ist der Verdienst von Dencker, auf die Unvereinbarkeit der ständigen BGHRechtsprechung zum Ausnehmen vom Rechtsmittelangriff bei Nichtanordnung der Unterbringung nach § 64 StGB und der Nichtanfechtungsmöglichkeit des Urteils für den Angeklagten lediglich hinsichtlich der fehlenden Unterbringungsanordnung nach § 64 StGB aufmerksam gemacht zu haben. Der Widerspruch ist aber nicht dadurch zu beseitigen, dass man dem nicht-beschwerten Angeklagten eine Anfechtungsmöglichkeit eröffnet, sondern nur dadurch, dass man die „Erfindung“ des Ausnehmens vom Rechtsmittelangriff bei fehlender Verurteilung nach § 64 StGB wieder aufgibt und damit §§ 331 Abs. 2, 358 Abs. 2 S. 3 StPO wieder gerecht wird. Der Angeklagte hat in diesem Bereich keine Dispositionsbefugnis; nicht § 327 StPO geht diesen Vorschriften vor, sondern diese schränken § 327 StPO ein50. Der Grundgedanke der §§ 331 Abs. 2, 358 Abs. 2 S. 3 StPO ist gerade, dass das Rechtsmittelgericht die Frage der Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB ohne Rücksicht darauf prüfen kann Unterbleiben einer Anordnung nach § 64 StGB beschränkte Aufhebungsantrag des Generalbundesanwalts … wirkt zu Lasten und nicht zugunsten des Angeklagten“. 46 Dencker, FS Mehle, 2009, S. 151. 47 So auch BGH 4 StR 459/10 vom 2. 12. 2010 = StraFo 2011, 53 = DAR 2012, 87; vgl. auch BGH Beschluss vom 16. 12. 2009 – 2 StR 532/09. Dass Freiheitsstrafe und Maßregel insoweit gleich zu bewerten sind, entspricht auch der Rechtsprechung des BGH zu § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB; denn dazu hat BGH 4 StR 228/12 vom 4. 7. 2012 gerade entschieden, dass der Angeklagte durch die Anordnung des Teilvollzugs der Strafe vor der Maßregel nicht beschwert sei (unter Hinweis auf BGH 4 StR 552/08 vom 16. 12. 2008 = NStZ-RR 2009, 105) unter Hinweis auf Tolksdorf (Fn. 27) S. 759. 48 Dencker, FS Mehle, 2009, S. 151 unter Hinweis auf Tolksdorf (Fn. 27) S. 759. 49 Daher müssen auch die von Dencker beklagten Konsequenzen hinsichtlich einer umfangreicheren Urteilsanfechtung und hinsichtlich des Kostenausspruchs hingenommen werden. 50 A.M. Kretschmer, StV 2011, 161, 165.
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und muss, wer der Beschwerdeführer ist und obwohl das Erstgericht von einer Unterbringung des Angeklagten abgesehen hat. Wird das Rechtsmittelgericht auf Grund eines zulässigen Rechtsmittels mit einem Verfahren befasst, in dem die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt in Betracht kommt, so muss es dieser Frage nachgehen. Das habe ich schon in meiner Anmerkung zur Entscheidung des BayObLG in JR 1987, 172 eingehend dargelegt; darauf – sowie auf die mir zustimmenden Ausführungen von Hanack in JR 1993, 430 („die einzig richtige Lösung“) – darf hier verwiesen werden51. Beseitigt man aber die Möglichkeit des Ausnehmens vom Rechtsmittelangriff in diesem Bereich, so beseitigt man zugleich den Widerspruch zur eingeschränkten Anfechtbarkeit der Nichtanordnung einer Unterbringung. Es wäre schön, wenn sich der BGH von seinem seit BGHSt 38, 362 ständig angewendeten Satz „Der Angeklagte hat die Nichtanordnung der Unterbringung nach § 64 StGB auch nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen“ verabschieden würde. Das würde der verehrte Jubilar, dem dieser Beitrag in kollegialer Verbundenheit und mit Bewunderung für die von ihm erbrachte imponierende wissenschaftliche Leistung gewidmet ist, vermutlich ebenso wie ich begrüßen.
51 Vgl. auch Meyer-Goßner, Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse, 2011, S. 101 f.
Revisionsgerichtliche Freiräume Von Gerhard Fezer
I. Wolfgang Frisch hat vor wenigen Jahren in einer beeindruckenden Abhandlung den „Wandel der Revision“ nur zu einem Teil theoretisch und prozessdogmatisch erklären können, zum anderen Teil aber als wesentliches Element eines geistigen und gesellschaftlichen Wandels begreifen wollen. So gesehen fasst er die heutige restriktive Behandlung der Verfahrensrüge als „Ausdruck knapper Ressourcen“ auf: Auch der BGH stehe unter dem Druck dieser Verhältnisse und insbesondere auch des Beschleunigungsgrundsatzes.1 In einem solchen Erklärungsmodell haben die Strafsenate eher eine Rolle der Anpassung und des Reagierens inne. Diese Deutung schließt jedoch nicht aus, dass der BGH daneben, das heißt unabhängig von den vorstehend beschriebenen Zwängen, auf anderer Ebene auch eine erhebliche gestalterische Aktivität und Energie entwickelt, dass er also insbesondere bei der Anwendung des Verfahrensrechts eine Flexibilität anstrebt, die ich als prozessualen Freiraum bezeichnen möchte. Wie dieser Freiraum zustande kommt und welche Bedeutung er für das Verfahrensrecht gewinnt, wird im Folgenden anhand zweier strafprozessualer Komplexe erläutert, nämlich zum einen am Umgang des BGH mit der Verfahrensrüge, insbesondere in Konkurrenz zur Sachrüge, und zum anderen anhand der Beobachtung der vielfältigen Begründungen, mit denen der BGH seine Beschlussverwerfungen versieht.
II. Der Gesetzgeber der Reichsstrafprozessordnung von 1877 hat das Rechtsmittelverfahren anders als in anderen Rechtsgebieten konzipiert. Die Abweichungen betreffen vor allem die Aufgabe und die Funktion der Strafsenate des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs: Diese haben nicht nur für Rechtsvereinheitlichung und Rechtsfortentwicklung zu sorgen,2 sondern sind darüber hinaus auch (und vor allem) der Einzelfallgerechtigkeit verpflichtet, denn das Rechtsmittel der Revision 1
Frisch, FS Fezer, 2008, S. 353, 384 ff. Im Folgenden sei der Einfachheit halber der von Rieß geprägte Ausdruck „Leitlinienfunktion“ verwendet, vgl. dazu Rieß, FS Hanack, 1999, S. 397, 399 ff. 2
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beinhaltet die Prüfung, ob das angefochtene Urteil auf einer Gesetzesverletzung beruht (§ 337 StPO). Daneben regelt § 132 GVG dann noch ein spezielles Verfahren zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, das aber wiederum an die Entscheidung eines konkreten Falles geknüpft ist. Dieses ganz eigenständige Rechtsmittelsystem war von Anfang an in einem sehr labilen Gleichgewicht, das im Laufe der letzten Jahrzehnte allmählich ganz verloren gegangen ist. Dass dies geschehen ist, ist im Ergebnis nicht verwunderlich: Auf der einen Seite hat die zunehmende revisionsgerichtliche Verantwortung für eine richtige Entscheidung im Einzelfall zu einer Ausdehnung des Prüfungsmaßstabes geführt (Stichwort: „Darstellungsrüge“ als Teil der sachlich-rechtlichen Überprüfung), was – zusammen mit anderen Faktoren – die Strafsenate zunehmend mehr belastet hat. Auf der anderen Seite durfte aber trotz der zunehmenden Belastung die Zahl der Strafsenate nicht erhöht werden, da sonst die Einheitlichkeit der Rechtsprechung noch mehr in Gefahr geraten wäre, als dies ohnehin schon der Fall ist. Ein solchermaßen personell begrenztes oberstes Strafgericht ist nun aber institutionell überfordert, wenn es seine beiden Hauptaufgaben – Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit und Fortbildung des Rechts – gleichermaßen fundiert erfüllen will. Zwar ist im 20. Jahrhundert immer wieder nach besseren Lösungen gesucht worden. Die große Rechtsmitteldiskussion in den 70er Jahren hat indes die ernüchternde Erkenntnis gebracht, dass das bestehende Rechtsmittelsystem immer noch die Lösung ist, die relativ gesehen am wenigsten gravierende Nachteile hat.3 Es ist deshalb bei dem Modell von 1877 geblieben, das – bei allen sonstigen Defiziten – insbesondere die unverzichtbare Möglichkeit bietet, das tatgerichtliche Verfahren zu überprüfen (Stichwort: Berufungsersatz). Gleichzeitig wird sichergestellt, dass die Strafsenate (anders als bei einer bloßen Divergenzrevision) für ihre anderen Aufgaben mit ausreichend „Material“ versorgt werden. Trotz allem waren aber doch erhebliche Entlastungen zur Rettung des Systems unumgänglich. So hat der Gesetzgeber die Möglichkeit der Beschlussverwerfung eingeführt – mit der (so nicht erwarteten) Folge, dass heute nur noch ganz selten Revisionsverfahren durch Urteil abgeschlossen werden. Die gesetzliche Regelung der Verständigung hat natürlich auch zur Konsequenz, dass Revisionsverfahren ausbleiben (trotz des Verzichtsverbots in § 302 StPO). Dabei ist zu erinnern, dass es der BGH selber war, der im Wege der Rechtsfortbildung die „Regeln“ für Verständigungen entwickelt hat, die später vom Gesetzgeber übernommen wurden. Im Bereich der Leitlinienfunktion hat der BGH selbst durch restriktive Auslegung des § 132 GVG die Belastung eines entsprechenden Verfahrens begrenzen wollen (man müsste nicht unbedingt von einem „horror pleni“ reden). Das Bestreben nach Entlastung macht sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten aber vor allem bei der revisionsgerichtlichen Überprüfung von Verfahrensfehlern be3 Vgl. dazu näher Fezer, Möglichkeiten der Reform der Revision in Strafsachen, 1975, S. 20 f.
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merkbar. Die Strafsenate versuchen, auf eine Verfahrensrüge so flexibel zu reagieren, dass sie nicht gezwungen sind, ein Urteil wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben, das an sich – an den Kriterien der Darstellungsprüfung gemessen – inhaltlich akzeptiert werden könnte. Mit welchen Mitteln auf welcher Ebene der Gesetzesanwendung eine solche Auslegung praktiziert wird, ist weitgehend bekannt. Wer mittels einer Verfahrensrüge ein Urteil zu Fall bringen will, muss nicht nur die hohen Anforderungen an die Revisionsbegründung (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) erfüllen, sondern er muss darüber hinaus auch in der tatrichterlichen Hauptverhandlung aufmerksam und sorgfältig sein, denn die Strafsenate sind bemüht, die Rügemöglichkeiten drastisch zu begrenzen. Die folgende „Auflistung“ sollte für sich sprechen, auf Einzelheiten kommt es nicht an:4 - Nicht jede Gesetzesverletzung bei der Beweisgewinnung führt nach Auffassung der Rechtsprechung zu einem Verwertungsverbot, das zur Urteilsaufhebung führen könnte. Der BGH macht das Entstehen eines derartigen Verwertungsverbots vielmehr zunehmend von einer Abwägung abhängig. Gelegentlich wird auch postuliert, dass ein Verfahrensverstoß nicht zwingend zu einem völligen Verwertungsverbot führen, sondern in eine sogenannte Beweiswürdigungs-Lösung oder Rechtsfolgen-Lösung einmünden kann. - Ein Verfahrensverstoß kann auch dann folgenlos bleiben, wenn er nicht bewiesen werden kann. So erschwert das sogenannte Rekonstruktionsverbot den Nachweis der tatrichterlichen Verletzung der §§ 261, 244 Abs. 2 StPO ganz außerordentlich. Ferner ist ein mittels § 274 S. 1 StPO geführter Nachweis eines Verfahrensfehlers dem Verteidiger versagt, wenn dieser weiß, dass entgegen der Protokollformulierung in Wirklichkeit ordnungsgemäß verfahren worden war. Der BGH hält eine Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls noch während des Revisionsverfahrens für zulässig, auch wenn dadurch einer Verfahrensrüge der Boden entzogen wird. - Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe bei der gesetzlichen Regelung von Eingriffsvoraussetzungen (z. B. in § 100c StPO) soll nach mehreren Entscheidungen des BGH einen Beurteilungsspielraum enthalten, der revisionsgerichtlich nicht voll überprüfbar ist, so dass auch insoweit einer Verfahrensrüge Grenzen gesetzt sind. - Mit der sogenannten Widerspruchs-Lösung macht der BGH die spätere Geltendmachung eines in der Hauptverhandlung begangenen Verfahrensfehlers von einem ausdrücklichen Widerspruch des Verteidigers abhängig. - Ganz generell soll die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge voraussetzen, dass der Beschwerdeführer von dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht hat, sonst sei das Recht auf Revision verwirkt. - Vor allem aber sind die Anforderungen an die Begründung einer Verfahrensrüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO in den letzten Jahren ganz enorm gestiegen. Tat4
Ein Verweis auf Frisch, FS Fezer, 2008, S. 353, 380 ff. mag daher genügen.
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sächlich liegt hier wohl die wichtigste Ursache für den Rückgang und vor allem für die Erfolgslosigkeit von Verfahrensrügen. - Ferner sind eine fortschreitende Relativierung der absoluten Revisionsgründe zu beobachten sowie zunehmend höhere Anforderungen an den Nachweis des Beruhens bei den relativen Revisionsgründen. Mit der vorstehenden Liste sind wir aber noch nicht am Ende der Restriktionsmöglichkeiten angelangt. Es gibt zusätzlich noch ein revisionsgerichtliches Entscheidungs- bzw. Begründungsverhalten, das zwar allgemein akzeptiert ist, das bei näherem Zusehen aber große Probleme aufwirft. Es geht um die Frage, wie das Revisionsgericht mit der Situation konkurrierender Rügen umzugehen hat. Zunächst einmal hängt es vom Ergebnis der revisionsgerichtlichen Prüfung ab, ob wirklich alle erhobenen Rügen geprüft werden müssen. Soll die Revision verworfen werden (gleich ob durch Urteil oder durch Beschluss) und hat der Beschwerdeführer neben der Sachrüge noch eine oder mehrere Verfahrensrügen erhoben,5 dann muss das Revisionsgericht alle Rügen untersuchen. Wenn auch nur eine Rüge „erfolgreich“ wäre, dann dürfte die Revision nicht verworfen werden. Wenn nun aber umgekehrt das tatgerichtliche Urteil auf eine erfolgreiche Sachrüge hin aufgehoben werden soll, dann stellt sich die eigentlich schwierige Frage, ob eine gleichzeitig erhobene Verfahrensrüge überhaupt noch einer revisionsgerichtlichen Beurteilung unterzogen werden muss, oder ob diese angesichts des „Erfolgs“ der einen Rüge entfallen kann. Alle fünf Strafsenate des BGH sind sich derzeit – mit leicht unterschiedlicher Intensität und leicht unterschiedlicher Terminologie6 – darin einig, dass in solchen Fällen die Verfahrensrüge nicht mehr untersucht werden muss.7. Die hier zum Ausdruck kommende Bevorzugung der Sachrüge wird indes von den Senaten nicht begründet. Sie knüpfen vielmehr ganz einfach an den „Erfolg“ der Sachrüge an,8 mit der der Beschwerdeführer sein Rechtsmittelziel erreicht habe. Angesichts dieses „Erfolges“ sieht sich die Rechtsprechung dann nicht einmal verpflichtet, eine Verfahrensrüge überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn einer inhaltlichen Beur5 Im Folgenden wird der Einfachheit halber neben der Sachrüge nur von einer Verfahrensrüge ausgegangen. 6 Im Jahre 2010 in 40 Fällen aufgefunden, vgl. z. B. 2 StR 236/10: „Das Rechtsmittel hat mit der Sachbeschwerde Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die Verfahrensrüge nicht bedarf.“ 7 So auch die heute h.M., vgl. zusammenfassend SK-StPO/Wohlers, Loseblattausgabe, 33. Lfg. (September 2003), § 352 Rn. 29 f., der selbst allerdings differenziert: Verfahrensrügen seien dann zu behandeln, wenn das Revisionsgericht tatsächliche Feststellungen aufrecht erhalten oder eine andere Sachentscheidung treffen wolle. Im Übrigen stellt dann aber auch Wohlers auf den Beschleunigungsgrundsatz ab. 8 Unter auffallender Verwendung von alltagssprachlichen Wendungen, z. B. „kommt nicht darauf an […]“, „ eines Eingehens bedarf es nicht“. Offenbar ist es kein Zufall, dass für diesen prozessualen Vorgang keine entsprechenden prozessualen Wendungen zur Verfügung stehen.
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teilung zu unterziehen. Es muss also nicht einmal der Maßstab des § 349 Abs. 2 StPO angelegt werden. Das Revisionsgericht darf weitere Rügen nach Auffassung des BGH allein deswegen ignorieren, weil der Revisionsführer mit einer anderen Rüge sein „Ziel“ erreicht hat. Die Frage ist nur, ob dann auch das Gericht eine weitere Rüge nicht mehr „braucht“. Das wäre nur dann der Fall, wenn es im Revisionsverfahren nur um Einzelfallgerechtigkeit ginge. So ist es aber nicht: Die darüber hinausreichenden Aufgaben des Revisionsgerichts im Hinblick auf die Leitlinienfunktion sind damit nicht erledigt. Und das bloße Nichtbehandeln einer Verfahrensrüge hat insoweit durchaus negative Folgen: Das Revisionsgericht nimmt sich selbst die Gelegenheit, sich mit einem (behaupteten) Verfahrensfehler zu befassen, d. h. es verliert die Möglichkeit, eine verfahrensrechtliche Problematik unter der Perspektive der Rechtsvereinheitlichung oder der Rechtfortbildung zu klären, wenn der Fall dazu Anlass gibt. Unter Berücksichtigung der Leitlinienfunktion der Revision müsste der „Erfolg“ des Rechtsmittels im Einzelfall anders definiert werden: Es ginge darum, dem Revisionsgericht „so viel Gelegenheit wie möglich […]“ zu geben, damit es auch die neben der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit bestehenden anderen Funktionen ausüben kann.9 Ob diese Befassung letztlich ergiebig gewesen wäre, spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle. Die überindividuellen Ziele der Revision erfordern es, dass den Revisionsgerichten ein Beurteilungsmaterial zur Verfügung steht, das die ganze Breite und Fülle des Stoffes enthält. Die Strafsenate des BGH dürfen nicht ausgehungert werden.10 Vor diesem Hintergrund kann es dann aber auch nicht im Belieben der Revisionsgerichte stehen, die ohnedies schon selten genug gewordene Prüfung von Verfahrensfehlern einfach ganz auszulassen, obwohl diese Prüfung rechtlich und faktisch möglich gewesen wäre. Die Wahrnehmung der Aufgaben der Leitlinienfunktion kann auch nicht davon abhängen, ob im konkreten Fall die Revision auf Grund einer anderen Rüge erfolgreich ist oder nicht (denn eine Verwerfung der Revision ist nur möglich, wenn das Revisionsgericht sich mit allen Rügen befasst hatte). Schon der umfassende Prüfungsauftrag der Revision spricht also gegen die „h.M.“. Ganz wesentliche Bedenken vermittelt darüber hinaus aber auch ein Rückblick auf die Entstehung dieser Rechtsprechung. Es war nämlich gerade nicht immer einhellige Auffassung, dass die Sachrüge Vorrang haben sollte vor der Verfahrensrüge. Ganz im Gegenteil: Im Kommentarschrifttum war man sich bis etwa 1960 (ohne große Erörterungen)11 einig, dass die verfahrensrechtliche Prüfung den Vorrang
9
Vgl. Rieß, FS Eisenberg, 2004, S. 569, 580 f. Dazu näher Fezer (Fn. 3), S. 20 f. 11 Dass der BGH inzwischen in unveröffentlichten Entscheidungen diese tradierte Auffassung in aller Stille aufgegeben hatte (siehe BGHSt 17, 253), war nicht einmal der Fachöffentlichkeit bekannt geworden, dazu näher Sarstedt, FS H. Mayer, 1966, S. 529, 533. 10
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habe,12 denn: „Erst wenn fest steht, dass der Vorderrichter die Tatumstände frei von Verstößen gegen zwingende Vorschriften des formellen Rechts ermittelt hat, kann man prüfen, ob er den Sachverhalt auch strafrechtlich richtig gewürdigt hat“.13 Die Kehrtwende wurde im Jahre 1962 ausgelöst durch die Entscheidung BGHSt 17, 253, der allerdings eine ganz speziell gelagerte Prozesssituation zu Grunde lag. Das Revisionsgericht wollte den Angeklagten aus sachlich-rechtlichen Gründen freisprechen, was ihm nach damaliger Auffassung im Schrifttum ohne vorherige Befassung mit der Verfahrensrüge nicht möglich gewesen wäre. Der BGH erteilt dieser Auffassung also allein deswegen eine Absage, weil er den Angeklagten unter Vermeidung einer Zeitverzögerung noch im laufenden Rechtsmittelverfahren selbst frei sprechen wollte. Dieses Ergebnis war für ihn maßgebend, eine tragende Begründung dafür konnte er nicht geben. In der Entscheidung heißt es nur: Es sei nicht einzusehen, dass ein Freispruch unzulässig sein sollte, nur weil der Angeklagte sich zusätzlich noch mittels einer Verfahrensrüge zur Wehr setzen wollte. Es gäbe aber kein Gesetz, das den sofortigen Freispruch verbiete. Sarstedt14 hat im Jahre 1966 festgehalten, dass es ständige Übung des BGH gewesen sei, eine Verpflichtung zur Vorwegbehandlung von Verfahrensrügen abzulehnen. Diese Rechtsprechung sei nur gelegentlich und rein zufällig erkennbar gewesen. Tatsächlich ist also mit BGHSt 17, 253 eine Regel in das Strafverfahrensrecht eingefügt worden, die auf ihre inhaltliche Berechtigung hin nie wirklich überprüft wurde und die auch – entgegen der heute „herrschenden Meinung“ – sachlicher Kritik nicht standhält. Tatsächlich muss das Revisionsgericht auch die Rügen einer Prüfung unterziehen, die für das Ergebnis – Aufhebung des angefochtenen Urteils – nicht mehr entscheidend sind, weil bereits eine andere Rüge durchgreift. Aus der Leitlinienfunktion der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung ergibt sich, dass sich das Revisionsgericht wenigstens ein Bild verschaffen muss, ob etwa eine Verfahrensrüge Fragen aufwirft, welche die Aufgaben der Rechtsvereinheitlichung oder Rechtsfortbildung betreffen.15 Der vorstehende Überblick über die Restriktionen und die Analyse der Rügekonkurrenzen bestätigen das rechtstatsächliche Bild, das sich in den vergangenen Jahren immer deutlicher abgezeichnet hat: Revisionsrichter und auch Tatrichter versuchen auf unterschiedliche Weise auf unterschiedlichen Ebenen die Auswirkungen eines Verfahrensfehlers auf das Urteil zu verhindern oder zu begrenzen. Nach dem, was wir den Entscheidungen selbst entnehmen können, scheint dies gelungen zu sein.16 Damit deutet sich der Freiraum an, der sich in seiner Bedeutung allerdings 12 KM-StPO/Kleinknecht, 4. Aufl. 1958, § 253 Rn. 4c): „Es ist grundsätzlich nicht statthaft, die Prozessrüge unentschieden zu lassen, weil die Sachrüge durchgreift“. – Das Gegenteil ist dann bereits in der 6. Aufl. (1966) zu lesen. 13 Hülle, JZ 1951, 171, 172; zust. für eine bestimmte Konstellation SK-StPO/Wohlers (Fn. 7), § 352 Rn. 30. 14 Sarstedt, FS H. Mayer, 1966, S. 529, 533 m.w.N. 15 Der umgekehrte Fall – Vorrang der Verfahrensrüge gegenüber der Sachrüge – kommt weniger häufig vor. Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden. 16 „Erosion des Verfahrensrechts“, schreibt Schlothauer, StraFo 2000, 289, 295 zu Recht.
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erst dann ganz erschließt, wenn die Sachrüge in die Betrachtung mit einbezogen wird. Vorerst stellen wir fest, dass die Verfahrensbeschwerde praktisch nur noch geringes Gewicht hat.
III. Eine vom Verfasser durchgeführte Sichtung sämtlicher im Jahre 2010 ergangener und mit einer Begründung versehenen Entscheidungen aller fünf Strafsenate des BGH hat ergeben, dass der BGH in diesem Jahr nur in 35 Fällen ein Urteil wegen eines Verfahrensfehlers total aufgehoben hat.17 Was die jeweils verletzte Norm betrifft, so lassen sich gewisse Schwerpunkte erkennen: Während die Aufklärungsrüge nur in drei Fällen erfolgreich war, sind am häufigsten die absoluten Revisionsgründe betroffen, sodann die Vorschriften über die Ablehnung eines Beweisantrags. Überraschend ist dies nicht, weil die hier einschlägigen Verfahrensvorschriften den Gerichten weniger Spielraum lassen, so dass u. U. das Bemühen, einen „Erfolg“ einer solchen Verfahrensrüge zu verhindern, vergeblich sein kann.18 Spätestens jetzt drängt sich die Frage auf, woran sich das Revisionsgericht (bewusst oder auch unausgesprochen) orientiert, wenn es einer Verfahrensrüge nicht stattgeben möchte, obwohl es durchaus möglich wäre, die konkreten Rügevoraussetzungen zu bejahen. Woher nimmt der Revisionsrichter also die Gewissheit, dass es in der Sache geboten sei, das angefochtene Urteil nicht aufzuheben? Hier deuten sich Entwicklungen von beängstigendem Ausmaß an. Sie haben ihren Ursprung in der sog. Darstellungsrüge als einer Ausformung der allgemeinen Sachrüge. Sie ist inzwischen hoch entwickelt und prüfungsintensiv, was die Beurteilung der Tatsachengrundlage und der Beweiswürdigung betrifft. Was das Gesetz so nicht vorsieht, verschaffen sich die Revisionsrichter im Rahmen der Darstellungsprüfung selbst: Sie können einem tatrichterlichen Urteil durch Analyse der Darstellung „ansehen“, ob es im Ergebnis stimmt oder nicht. Dieser unmittelbare Blick auf den materiellen Urteilsinhalt kann sich dann – bewusst oder unbewusst – auf die Kontrolle des Verfahrens auswirken.19 In aller Vorsicht formuliert: Wenn ein Senat davon überzeugt ist, dass ein Urteil inhaltlich richtig ist, dann sinkt die Bereitschaft, es auf Grund eines Verfahrensfehlers aufzuheben, deutlich. Zu „spüren“ bekommen dies die Verfahrensrügen: Sie unterliegen dann ganz informell den Restriktionen, wie sie oben zusammengestellt wurden. Die prozessualen Formvorschriften mit ihrem klaren und strengen Maßstab geraten dann unter den Einfluss einer sachlich-rechtlichen Überprüfung, die wieder17 Erfasst sind nur Vollaufhebungen (also auch den Schuldspruch erfassend), nicht Teilaufhebungen oder aber Änderungen. 18 Manchmal kann ein Senat das Bedauern nicht unterdrücken, z. B. BGH 5 StR 485/10 bezüglich eines Verstoßes gegen § 275 StPO: „Dieser Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des – sehr sorgfältig begründeten – Urteils.“ 19 In dieser Richtung auch Frisch, FS Fezer, 2008, S. 353, 379.
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um entschieden flexibel und keinem klaren Maßstab verpflichtet ist. Form und Inhalt werden hier gegeneinander ausgespielt, mit der Folge, dass die Rüge der Formverletzung „stört“: Diese könnte nämlich unter Umständen den Revisionsrichter zwingen, ein für materiell „richtig“ befundenes Urteil aufzuheben. Die Verfahrensrügen drohen sozusagen „Opfer“ des eigenen Anspruchs zu werden. Die Folgen derartiger Mechanismen treffen den Strafprozess an seinem empfindlichsten Nerv, nämlich an der Grundauffassung, dass die Formenstrenge einen rechtsstaatlichen Eigenwert besitzt. So wurden bisher Inhalt und Form auch als Einheit betrachtet, das heißt, ein Urteil hat nur dann als „richtig“ gegolten, wenn es unter Beachtung der strengen Formen zustande gekommen war. Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Kann sie überhaupt akzeptiert werden? Frisch hält dieser Frage entgegen: „Der heutige Zustand der Verfahrensrüge hat auch etwas mit Ressourcen zu tun. Er ist Ausdruck knapper Ressourcen und des Bewusstseins davon.“20 Ferner meint er: „Es ist daher ganz bestimmt keine Fehleinschätzung, wenn man annimmt, dass der Beschleunigungsgrundsatz längst auch einen der Hintergründe für gewisse einschränkende Tendenzen im Bereich der Verfahrensrüge bildet.“21 So gesehen blieb dem BGH dann wohl offenbar nichts anderes übrig, als sich (unter Berufung, vor allem auf den Beschleunigungsgrundsatz) den äußeren Gegebenheiten anzupassen, er war – so die These – außer Stande, an dieser Entwicklung etwas zu ändern. Ich sehe dies anders. Zwar ist nicht zu leugnen, dass der BGH immer wieder die Aspekte der Verfahrensökonomie und der Beschleunigung berücksichtigt. Jedoch verfolgen die Strafsenate seit Längerem (zumindest auch) ihre spezifischen Eigeninteressen, die ich wiederum schlagwortartig als Herstellung „prozessualer Freiräume“ bezeichnen möchte. So war bereits bei der vorstehenden Darstellung der Behandlung der Sachrüge und der Verfahrensrüge(n) zum Vorschein gekommen, dass bei der Entscheidung über beide Rügearten der BGH auf jeden Fall eine beträchtliche Flexibilität behalten wollte. Bei der spezifischen Form der Sachrüge, der Darstellungsrüge, gehört diese Flexibilität schon zu den Ausgangsvoraussetzungen (Stichwort: „Plausibilität“ als informeller Maßstab). Bei der Handhabung der Verfahrensrüge gibt es zwar die Zwänge, die Frisch für prägend hält. Noch stärker sind aber meines Erachtens die Mechanismen, mit deren Hilfe die Strafsenate erreichen wollen, dass sie „nur“ wegen eines Verfahrensfehlers das sachlich als richtig eingeschätzte Urteil nicht aufheben müssen. Insgesamt ist das Zurückdrängen der Verfahrensrüge als bedenkliche Fehlentwicklung zu werten: die Formenstrenge wird aufgelöst, die Anzahl der Verfahrensrügen, die Gegenstand eines Verfahrens § 132 GVG sein könnten, gehen zurück und der Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit tritt immer stärker in den Vordergrund, wobei sich der BGH damit im Ergebnis zunehmend richterlichen Freiraum verschafft hat.
20 21
Frisch, FS Fezer, 2008, S. 353, 384. Frisch, FS Fezer, 2008, S. 353, 389.
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IV. Das soeben beschriebene Phänomen ist auch an anderer Stelle im Revisionsverfahren aufgetreten, nämlich im Zusammenhang mit der Beschlussverwerfung gemäß § 349 Abs. 2 StPO. Wie sehr ein solches Streben nach Freiraum die Tätigkeit der Sache nach bestimmt, ist an der Spruchpraxis der Beschlussverwerfung abzulesen. Im Jahre 2010 haben die fünf Strafsenate insgesamt 2376 Fälle durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO und nur 141 Fälle durch Urteil abgeschlossen.22 Eine Beschlussquote von 97,5 % war bisher noch nie erreicht worden. Damit ist der gesetzliche Regelfall (Urteil gemäß § 349 Abs. 5 StPO) auf das Extensivste in das Gegenteil verwandelt worden. Diese Entwicklung hat zunächst zur Folge, dass es nur noch äußerst selten eine Revisionshauptverhandlung gibt. Aber das ist nicht das eigentliche Problem, denn der Erkenntnisgewinn von mündlichen Verhandlungen ist im Revisionsverfahren ohnedies äußerst gering. Entscheidend ist die Frage, ob und wie die Revisionsgerichte ihre Beschlüsse begründen. Die äußere Form der Beschlussbegründungen lässt sich für das Jahr 2010 wie folgt beschreiben: Etwa die Hälfte der gemäß § 349 Abs. 2 StPO erlassenen Beschlüsse enthält über die reine Urteilsformel23 hinaus keinen weiteren Satz.24 Die Beschlussentscheidungen der anderen Hälfte enthalten dagegen Begründungen, die aber alles andere als methodisch einheitlich sind. Vielmehr stoßen wir auf einen bunten Strauß vielgestaltiger Begründungen, die sich in Länge, Form und Stil erheblich unterscheiden. Was insbesondere die Länge betrifft, so reicht die Spannweite von ein oder zwei kurzen Sätzen bis hin zu längeren Ausführungen. Die vom Verfasser vorgenomme Auswertung der gemäß § 349 Abs. 2 StPO erlassenen Beschlüsse aus dem Jahre 2010 ergibt zusammengefasst folgendes Bild: Die Strafsenate gehen offenbar davon aus, dass es ihnen – weil sie überhaupt nicht begründen müssen – völlig frei stehe, wie sie ihre Beschlüsse im Einzelnen begründen. Es fällt auf, dass alle Senate sehr häufig (in weit über einhundert Fällen) in ihren Beschlussbegründungen „ergänzende“ Ausführungen machen bzw. „in Ergänzung“ auf etwas hinweisen. Je nach dem, worauf sich die „Ergänzung“ bezieht und welchen Inhalt sie hat, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die der Übersicht halber in Gruppen eingeteilt werden können:
22 Die Daten sind abrufbar im Internet unter http://www.bundesgerichtshof.de/DE/Ent scheidungen/EntscheidungenBGH/entscheidungenBGH_node.html. 23 Die – mit leichten Abweichungen im Einzelfall – dahingehend formuliert wird, dass die Revision verworfen werde, weil die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf die Revisionsrechtfertigung hin keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe (§ 349 Abs. 2 StPO). 24 Was höchstrichterlich gebilligt wird, vgl. nur neuestens BGH 4 StR 536/09 m.w.N.
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- Der Senat bestätigt den Standpunkt der Antragsschrift des Generalbundesanwalts argumentativ oder ergänzt sie durch weitere Argumente. - Der Senat weist auf weitere tatrichterliche Fehler hin, die sich aber im Ergebnis nicht ausgewirkt haben sollen. - Der Senat folgt der Antragsschrift nicht. Er entscheidet deshalb „entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts“. - Der Senat kritisiert den Tatrichter oder den Staatsanwalt oder den Verteidiger jeweils wegen ihres Prozessverhaltens. - Der Senat wirft alle möglichen Fragen auf oder weist (auch hypothetisch) auf Rechtsfehler hin, um sie am Ende für unerheblich zu halten oder offen zu lassen (mangels „Beschwer“, mangels „Beruhen“ oder mangels „Fallbezug“). Dieser (durchaus nicht vollständigen) Liste kann entnommen werden, dass diese „Ergänzungen“ nicht nur beiläufigen Charakter haben. Vielmehr deuten die Häufigkeit und die zum Teil große Ausführlichkeit dieser Ergänzungsteile25 auf eine besonders wichtige Funktion hin. Tatsächlich müsste es wohl besser Funktionen heißen, denn mehrere Erklärungen kommen in Betracht. Ich habe daraufhin die Begründungen der Verwerfungsbeschlüsse aus dem Jahr 2010 gelesen und dabei einen sehr vielschichtigen Eindruck erhalten: - Viele, vor allem kürzere „Ergänzungen“ haben (pädagogisch orientierte) Korrekturfunktion (vor allem dem Generalbundesanwalt gegenüber). Allerkürzeste Bemerkungen sind aber eher „Seitenhiebe“ und haben daher keine erkennbare Funktion. - Längere „Ergänzungen“ haben Unterrichtungsfunktion im Hinblick auf die (zum Beispiel steuerstrafrechtliche) Sondermaterie. - Vor allem aber: Die Senate nutzen diese obiter dicta offensichtlich als Kommunikationsmittel, um ihre jeweilige Auffassung den anderen Senaten kund zu tun und einen Gedankenaustausch zu ermöglichen. Die ehemalige Vorsitzende des 2. Strafsenats hat die Bedeutung der obiter-dictum-Ebene als Ebene unterhalb des Verfahrens nach § 132 GVG ausdrücklich hervorgehoben: „Da aber einem Wandel in der Rechtsauffassung häufig ein längerer Überlegungs- und Abwägungsprozess voraus geht, ist es legitim, wenn ein Senat seine Rolle als anfragender Senat vorbereitet, indem er im Wege eines durch ein konkret bei ihm anhängiges (!) Verfahren veranlasstes obiter dictum seine von der bisherigen Rechtsprechung abweichenden Erwägung den anderen Strafsenaten zur Kenntnis bringt.“26
25 Wobei darauf hinzuweisen ist, dass teilweise Ausführungen, die sachlich Ergänzungen darstellen, nicht als solche kenntlich gemacht werden. 26 Rissing-van Saan, FS Widmaier, 2008, S. 505, 513 f.
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In der Tat ist es so, dass angesichts des obiter-dictum-Charakters kaum mehr Platz ist für erhebliche Abweichungen, so dass davon auszugehen ist, dass der jeweilige Senat gerade nicht in der Situation ist, eine Anfrage vorzubereiten. .Im Zweifel spricht auch die Formulierung „ergänzend“ gegen die Erheblichkeit der Auffassung. Kurz und gut: Hier ist eine blühende Subkultur des obiter dictum entstanden. Die Revisionspraxis umgeht das gesetzlich vorgesehene Divergenzverfahren27 und versucht die Lösung auf einer anderen informellen Ebene zu finden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Rechtsfragen ist aber auf dieser Ebene weder vorgesehen noch möglich. In der Behandlung der Verfahrensrüge und in der Beschlussbegründung tritt auf entgegengesetzte Weise das gleiche Phänomen zutage: die Auflösung der Formenstrenge zugunsten größerer Flexibilität. Die Verfahrensrüge wird zugunsten der (informelleren) sachlich-rechtlichen Prüfung immer weiter zurückgedrängt, während in Beschlussbegründungen zunehmend rechtliche Fragen angesprochen werden, die weder für den konkreten Fall notwendig sind noch geeignet wären, Divergenzen zu benennen oder gar zu klären. Die Wahrnehmung der Leitlinienaufgabe des BGH bleibt bei diesen in diverse Richtungen ausgestreuten „Ergänzungen“ auf der Strecke. Es dominiert inzwischen das Verfahrensziel der Einzelfallgerechtigkeit so sehr, dass von dem eingangs skizzierten Rechtsmittelsystem in der Praxis nicht mehr viel übrig geblieben ist.
27 Im Jahre 2010 ist es soweit ersichtlich zu lediglich drei förmlichen Anfrageverfahren gekommen, wobei nur in einem Fall eine prozessuale Norm Gegenstand des Verfahrens war. Darüber hinaus hat es im Jahre 2010 eine Entscheidung des Großen Senats gegeben (GSSt 1/09 zu § 247 StPO).
Die unzureichende Begründung von Verfahrensrügen Zu den Auswirkungen der Entscheidung Czekalla vs. Portugal auf die Rechtsprechung zu § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO Von Wolfgang Wohlers
I. Einführung in die Problemstellung Während der Beschuldigte andere Rechtsmittel selbst einlegen und – fakultativ – auch selbst begründen kann, müssen die Revisionsanträge und ihre Begründung bei einer vom Beschuldigten erhobenen Revision gemäß § 345 Abs. 2 StPO „in einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle“ angebracht werden. Diese Regelung, bei deren Anwendung die Variante der Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle praktisch keine Rolle spielt, soll gewährleisten, „dass der Inhalt der Begründung gesetzmäßig und sachgerecht ist“.1 Es soll nicht nur den Revisionsgerichten die Prüfung grundloser und unverständlicher Anträge erspart bleiben,2 sondern es soll auch – im Interesse des Beschuldigten3 – gewährleistet werden, „dass die rechtlich verfügbaren Möglichkeiten ausgeschöpft werden und das Scheitern der Revision an bloßen Formfehlern usw. vermieden wird“.4 Die zwingende Einbeziehung einer rechtskundigen Person ist die Voraussetzung dafür, dass das Gesetz in § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO anordnen kann, dass der Revisionsführer bei der Erhebung von Verfahrensrügen „die den Mangel enthaltenden Tatsachen“ anzugeben hat. Zu konstatieren ist allerdings, dass die Revisionsrechtsprechung die Anforderungen an die Begründung einer Verfahrensrüge in den letzten Jahrzehnten so angehoben hat, dass heute selbst anerkannte Revisionsrechtsspezialisten nicht mehr sicher sein können, den diesbezüglichen Anforderungen stets ohne weiteres genügen zu können. Die – unter anderem auch durch Wolfgang Frisch5 – geäußerte Kritik an den überzogenen, mit der Ratio des § 344 nicht mehr in Einklang 1
BGHSt 25, 272, 273; SK-StPO/Frisch, Loseblattausgabe, 55. Lfg. (Dezember 2007), § 345 Rn. 21. 2 BGHSt 32, 326, 328; vgl. auch SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 345 Rn. 21 m.w.N. 3 BGHSt 32, 326, 328; SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 345 Rn. 21; Löwe/Rosenberg/Hanack, StPO, 25. Aufl. 2003, § 345 Rn. 16. 4 SK-StPO/Frisch (Fn. 1), § 345 Rn. 21. 5 SK-StPO/Frisch, Loseblattausgabe, 50. Lfg. (Oktober 2006), § 344 Rn. 61 ff.
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stehenden Anforderungen an die Begründung von Verfahrensrügen6 haben die Rechtsprechung bisher nicht zu einer Änderung ihres Standpunktes veranlasst. Die Kritik hat nun aber aus einer anderen Richtung weitere argumentative Unterstützung erhalten: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Entscheidung Czekalla vs. Portugal entschieden, dass es den Anspruch des Beschuldigten auf effektive Verteidigung verletzt, wenn der Beschuldigte ein Rechtsmittel nur deshalb verliert, weil seiner Verteidigung ein Formfehler unterlaufen ist.7 Sowohl die deutsche Strafrechtswissenschaft als auch die Strafrechtspraxis haben diese Entscheidung bisher lediglich am Rande zur Kenntnis genommen und – soweit ersichtlich mit Ausnahme eines Autoren8 – auch keine Verbindung zu den Fällen gezogen, in denen Revisionen daran scheitern, dass es der Verteidigung nicht gelingt, den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gerecht zu werden. Mit den nachfolgenden Ausführungen soll zweierlei gezeigt werden: Zum einen, dass die deutsche Strafprozessrechtsdogmatik und die deutschen Strafgerichte die Problematik der Schlechtverteidigung nicht weiter als praktisch bedeutsames Problem negieren dürfen, und dass – zum zweiten – in diesem Rahmen auch die ungenügende Leistung im Rahmen der Revisionsbegründung als Problem wahrgenommen werden muss, das der Rechtsprechung zu § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO insoweit den Boden entzieht. Die formal ungenügende Begründung einer Verfahrensrüge darf nicht zu deren Verwerfung führen, sondern ist stattdessen als eine offenkundige Schlechtleistung der Verteidigung einzustufen, die das Revisionsgericht dazu verpflichtet, Massnahmen zu ergreifen, um diesen Mangel zu heilen.
II. Die (Nicht-)Reaktion der deutschen Strafgerichte auf Schlechtverteidigung Stern hat bereits vor mehr als 12 Jahren vollkommen zu Recht darauf hingewiesen, dass „die Mitwirkung eines Statisten in Anwaltsrobe mit effizienter Verteidigung, auf die der Angeklagte gem. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK einen Rechtsanspruch hat, wenig zu tun hat“.9 Wenn aber das Agieren der Verteidigung unter bestimmten Voraussetzungen die Frage aufwirft, ob diese ihrer Aufgabe gewachsen ist oder nicht, dann stellt sich hieran anknüpfend die Frage, ob dies irgendwelche 6 Löwe/Rosenberg/Hanack (Fn. 3), StPO, § 344 Rn. 80 f.; Dahs, FS Salger, 1995, S. 224 ff.; ders., in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht (Hrsg.), Grundprobleme des Revisionsrechts, 1991, S. 85 ff.; Fezer, FS Hanack, 1999, S. 341 ff.; Kutzner, StraFo 2000, 325 (326 f.); Peters, FS Dünnebier, 1982, S. 64 ff.; Ventzke, StV 1992, 338 ff.; Weider, StraFo 2000, 328 (329 ff.); Weiler, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 581 ff.; Wilhelm, ZStW 117 (2005), 143 (153 f.). 7 Vgl. EGMR, Urt. v. 10. 10. 2002 – 38830/97 (Czekalla vs. Portugal), und hierzu unten III. 8 Vgl. aber Gaede, HRRS 2007, 402 (410, 414); ders., HRRS-Festgabe für Fezer, hrsg. von Gaede/Meyer/Schlegel, 2008, S. 50 f. 9 Stern, StV 2000, 404 (405); vgl. auch SK-StPO/Wohlers, 4. Aufl., Bd. 3, 2011, Vor § 137 Rn. 82.
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Konsequenzen für das Strafverfahren nach sich zieht oder ob der Beschuldigte das Unvermögen seiner Verteidigung als persönliches Schicksal hinzunehmen hat. Und weil Schlechtverteidigung im soeben skizzierten Sinne kein akademisches Luxusproblem, sondern für einzelne Beschuldigte eine bittere Realität ist,10 müssen sich nicht nur die Prozessrechtswissenschaft, sondern auch die Strafgerichte dieser Problematik stellen. In der deutschen Strafprozessrechtsdogmatik ist die Schlechtleistung der Verteidigung allerdings bis heute eine Art Tabuthema: Die Schlechtleistung der Verteidigung wird bisher nur von einigen wenigen Autoren – unter ihnen der Verfasser dieser Zeilen11 – als etwas eingestuft, was unter bestimmten Umständen das Tatgericht zum Eingreifen zwingt, mit der Konsequenz, dass das Untätigbleiben des Gerichts letztlich auch mit der Revision geltend gemacht werden können muss.12 Demgegenüber lehnen die herrschende Meinung in der Literatur und vor allem auch die Strafgerichte eine praktisch wirksam werdende Kontrolle der Verteidigungsleistung ab. 1. Der Standpunkt der deutschen Strafgerichte: Schlechtverteidigung als praktisch irrelevantes Problem Die Gerichte hatten und haben offenbar keinerlei Ambitionen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Art und Weise, in der die Verteidigung ihrer Aufgabe nachgeht, die Frage aufwirft, ob der Beschuldigte tatsächlich oder nur scheinbar kompetent verteidigt wird.13 Der BGH geht davon aus, dass das Tatgericht die Tätigkeit des Verteidigers grundsätzlich nicht zu überwachen habe; etwas anderes soll allenfalls dann gelten, wenn konkrete Anhaltspunkte bestehen, aus denen für das Gericht „ohne weiteres erkennbar gewesen wäre, dass der gewählte Verteidiger zu ordnungsgemäßer Verteidigung nicht in der Lage ist“.14 In der neueren Rechtsprechung heißt es nun aber etwas konkreter: „Grobe Pflichtverletzungen des Verteidigers, na10 Vgl. Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, 1994, S. 24 ff.; Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 846 ff. 11 Vgl. SK-StPO/Wohlers (Fn. 9), Vor § 137 Rn. 81 ff. 12 Vgl. auch Barton, Einführung in die Strafverteidigung, 2007, § 4 Rn. 79 ff.; Gaede, HRRS 2007, 402 ff.; ders., Fairness (Fn. 10), S. 846 ff.; ders., HRRS-Festgabe (Fn. 8), S. 47 ff.; Neuhaus, StV 2002, 43 (44 ff.); Ventzke, StV 1997, 543 (548); vgl. auch Weigend, StV 2000, 384 (385). 13 Vgl. die umfassende Darstellung der einschlägigen älteren Rechtsprechung bei Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 130 ff., sowie die zusammenfassende Würdigung, a.a.O., S. 143 ff. 14 BGH NStZ 1998, 311 (312); BGH NStZ 1997, 401; BGH bei Kusch NStZ 1996, 21; BGHR StPO § 338 Nr. 5, Verteidiger 1; BGH GA 1968, 85 f.; vgl. auch BGH, Urt. v. 05. 04. 2001 – 5 StR 495/00, E. II.1.; BGH bei Dallinger MDR 1967, 724 (727); Meyer-Goßner, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 627; Neuhaus, StV 2002, 43, 44 m.w.N. auf – auch unveröffentlichte – Entscheidungen des BGH; vgl. auch die Darstellung bei Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 862 ff.; ablehnend Beulke/Angerer NStZ 2002, 443 (444): Mangels gesetzlicher Grundlage sei ein solcher Eingriff de lege lata nicht möglich.
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mentlich die Nichteinhaltung unverzichtbarer Mindeststandards, sind der gerichtlichen Kontrolle nicht entzogen“.15 Da publizierte Fälle, in denen die Gerichte eine derartige grobe Pflichtverletzung zu beurteilen hatten, nicht bekannt sind, bleibt allerdings offen, was man sich konkret unter diesen Ausnahmefällen vorzustellen hat. Möglicherweise decken sich die Vorstellungen des BGH mit denen von Dahs, der in seinem Handbuch des Strafverteidigers die Auffassung vertritt, die Fürsorgepflicht begründe die Ablösung des Verteidigers nur in Fällen von „Krankheit, Altersstörung oder durch Sucht- und Rauschmittel bedingter Unfähigkeit, die Verteidigung zu führen“.16 In den Entscheidungen, in denen es um die Bestellung eines Sicherungsverteidigers17 geht, wird zwar die Fallgruppe der den Anforderungen an eine wirksame Verteidigung nicht gewachsenen Verteidigung als möglicher Grund für ein Eingreifen des Gerichts erwähnt.18 Die Bestellung eines (Sicherungs-)Verteidigers soll geboten sein, wenn grobe Pflichtverletzungen bzw. ein Fehlverhalten von besonderem Gewicht den Schluss zulässt, „dass der Verteidiger zu einer sachgerechten Verteidigung des Angeklagten nicht in der Lage oder willens“ ist.19 Auch diese Fallgruppe ist aber – soweit ersichtlich – bisher nicht entscheidungsrelevant geworden.20 Fälle, in denen die Gerichte einen Pflichtverteidiger ernannt haben, weil sich der gewählte oder bestellte Verteidiger als inkompetent zur Führung einer effektiven Verteidigung erwiesen hat, sind nicht bekannt geworden. Sicherungsverteidiger wurden und werden in der Praxis soweit ersichtlich allein und ausschließlich in den Fällen ernannt, in denen die Gerichte aufgrund des als renitent eingestuften Verhaltens von (Konflikt-)Verteidigern befürchten, die ungestörte Fortführung des Strafverfahrens sonst nicht gewährleisten zu können.21 Nach ganz herrschender Meinung ist eine Schlechtleistung der Verteidigung auch nichts, was mit der Revision geltend gemacht werden kann. Zwar sieht § 338 Nr. 5 StPO es als einen absoluten Revisionsgrund an, „wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit … einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt,“ statt15
BGH, Beschl. v. 30. 09. 2008 – 5 StR 251/08. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl., 2005, Rn. 29. 17 Zur Institution des dem Beschuldigten gegen seinen Willen aufgezwungenen Sicherungsverteidigers vgl. SK-StPO/Wohlers (Fn. 9), Vor §§ 137 Rn. 45. 18 Vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 236; OLG Frankfurt StV 1985, 450 (451); KG JR 1982, 349; OLG Köln NStZ 1991, 248 (249); OLG Nürnberg StV 1995, 287 (289); vgl. auch Hilgendorf, NStZ 1996, 1 (4). 19 OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 236; vgl. auch KG JR 1982, 349; OLG Köln NStZ 1991, 248 (249); OLG Nürnberg StV 1995, 287 (289 f.); OLG Stuttgart MDR 1979, 780. 20 Vgl. aber die Hinweise bei Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 29 und 126 f. auf ein Verfahren vor dem Landgericht Göttingen, wo die Bestellung von zwei Verteidigern des Vertrauens zu Pflichtverteidigern mit der Begründung zurückgenommen wurde, sie seien nicht hinreichend kompetent, was dann in der Beschwerdeinstanz vor dem OLG Celle keinen Bestand hatte. 21 Vgl. SK-StPO/Wohlers (Fn. 9), Vor § 137 Rn. 45 f., § 140 Rn. 3. 16
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gefunden hat. Diese Norm gilt zwar grundsätzlich auch für die Verteidigung, sie erfasst aber nach ganz h. M. von vornherein nur die Fälle der notwendigen Verteidigung, weil nur in diesen Fällen die Mitwirkung eines Verteidigers gesetzlich vorgeschrieben ist.22 Und auch in den Fällen notwendiger Verteidigung reicht es aus, dass ein Verteidiger körperlich anwesend ist.23 Etwas anderes gilt allein dann, wenn sich der körperlich anwesende Verteidiger kategorisch weigert, die Verteidigung zu führen.24 Zwar muss der körperlich anwesende Verteidiger als Verteidiger bestellungsfähig25 sowie „erkennbar“ verhandlungsfähig sein.26 Verhandlungsfähigkeit in diesem Sinne ist aber bereits dann gegeben, wenn der Verteidiger prozessfähig ist.27 Dass der Verteidiger in der Lage sein muss, bestimmte inhaltliche Mindeststandards einer kompetent geführten Verteidigung zu wahren, soll demgegenüber nicht erforderlich sein. Dies wäre nämlich genau die Nahtstelle, an der die Schlechtverteidigung erfasst wäre, was aber gerade nicht gewollt ist: Eine Revision kann nach ganz vorherrschend vertretener Meinung „nicht mit Erfolg darauf gestützt werden, dass der anwesende Verteidiger die Verteidigung nicht ordnungsgemäß geführt hat“.28 Gleiches gilt für die Rüge, der Verteidiger sei nicht hinreichend vorbereitet gewesen: Nach Auffassung des BGH „steht ein nicht informierter Verteidiger, der zu einer sachgerechten Verteidigung nicht in der Lage ist, einem abwesenden Verteidiger nicht gleich“.29 Zwar wird darauf verwiesen, dass in den Fällen einer Schlechtverteidigung ein rela22
BGHSt 15, 306 (307 f.); BGH GA 1959, 178; BGH bei Dallinger MDR 1956, 11; SKStPO/Frisch, Loseblattausgabe, 42. Lfg. (Januar 2005), § 338 Rn. 113; Löwe/Rosenberg/Hanack (Fn. 3), StPO, § 338 Rn. 93 f.; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., 2012, § 338 Rn. 41; noch restriktiver RGSt 61, 182; BayObLG JR 1960, 190 (191); KG JW 1932, 1169: auch der in den Fällen notwendiger Verteidigung nicht bestellte, sondern gewählte Verteidiger falle nicht unter § 338 Nr. 5. 23 BGH StV 1988, 469 (470); BGH StV 2000, 402 (403); BGH NJW 1964, 1485; SKStPO/Frisch (Fn. 22), § 338 Rn. 116; Löwe/Rosenberg/Hanack (Fn. 3), StPO, § 338 Rn. 93; Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 171, 202; ders., StV 1992, 407 (409). 24 BGH StV 1992, 358 (359); Stern, StV 2000, 404; vgl. auch RGSt 44, 215 (217 f.) sowie Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 173 ff. 25 Vgl. BGHSt 26, 319 f.; 47, 238 (239 f.) mit Anm. Beulke/Angerer, NStZ 2002, 443 f.; BGH bei Becker NStZ-RR 2008, 65, 67; SK-StPO/Frisch (Fn. 22), § 338 Rn. 115; Löwe/ Rosenberg/Hanack (Fn. 3), StPO, § 338 Rn. 93. 26 BGH StV 1988, 469 (470); BGH StV 2000, 402 (403) mit Anm. Stern; SK-StPO/Frisch (Fn. 22), § 338 Rn. 116; Löwe/Rosenberg/Hanack (Fn. 3), StPO, § 338 Rn. 96; Meyer-Goßner (Fn. 22), StPO, § 338 Rn. 41; vgl. aber auch RGSt 57, 373, wo die Befugnis des Revisionsgerichts, die Verhandlungsfähigkeit des Verteidigers zu prüfen, noch verneint wurde. 27 Vgl. BGHSt 39, 310 (313/314); RG HRR 1940 Nr. 344; Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 171 ff., 176 ff. 28 BGHSt 39, 310 (314); vgl. auch BGH StV 1988, 469 (470); BGH NJW 1964, 1485; BGH, Beschl. v. 26. 02. 1998 – 4 StR 7/98, zitiert bei Neuhaus StV 2002, 43 (44); SK-StPO/ Frisch (Fn. 22), § 338 Rn. 116; Löwe/Rosenberg/Hanack (Fn. 3), StPO, § 338 Rn. 96; MeyerGoßner (Fn. 22), StPO, § 338 Rn. 41; kritisch hierzu Barton, Einführung (Fn. 12), § 4 Rn. 79. 29 BGH StV 2000, 402 (403) mit Anm. Stern; sowie Anm. Hammerstein, NStZ 2000, 327; Meyer-Goßner (Fn. 22), StPO, § 338 Rn. 41.
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tiver Revisionsgrund gegeben sein kann.30 Auch insoweit sind aber Fälle, in denen derartige Rügen durchgegriffen haben, nicht bekannt. 2. Der Standpunkt der herrschenden Meinung in der Literatur: Schlechtverteidigung als Tabuthema Wohl vor allem aus der Befürchtung heraus, dass die Annahme einer Pflicht der Gerichte zum Einschreiten in Fällen von Schlechtverteidigung Tür und Tor für eine Disziplinierung engagierter Verteidigung öffnen würde,31 ist die abwehrende Haltung der Gerichte gegenüber einer Kontrolle der Verteidigungsqualität durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte auch und gerade von Seiten der Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger ganz überwiegend gebilligt worden.32 Hierbei ist in Kauf genommen worden, dass so der Anspruch der schlecht verteidigten Beschuldigten auf effektive Verteidigung dem Interesse der gut verteidigten Beschuldigten und vor allem dem Interesse der Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger geopfert worden ist, in keiner Weise einer wie auch immer gearteten externen Kontrolle zu unterliegen.33 Dass die Evaluierung der Qualität der Verteidigung ein Tabubereich sei, in den niemand – und schon gar nicht die Strafverfolgungsorgane – eingreifen dürfen,34 vermag nun allerdings aus mehreren Gründen nicht wirklich zu überzeugen: Angesichts dessen, dass die zivilrechtliche Haftung für Fälle der Schlechtverteidigung sich seit einigen Jahren etabliert hat,35 ist es widersprüchlich, wenn der schlecht verteidigte Beschuldigte zwar einerseits für die finanziell messbaren Konsequenzen einer Schlechtverteidigung bei seinem Verteidiger Regress nehmen kann – wobei dann die Zivilgerichte notwendigerweise die Qualität der Strafverteidigung prüfen müssen und dies offenbar auch zu leisten vermögen –, dass aber andererseits die Schlechtverteidigung kein Grund sein soll, die Ordnungsgemäßheit des Strafverfahrens und damit die in diesem Verfahren ergangene Verurteilung als solche in Frage zu stellen. Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung die Verteidigung zunehmend zum Ga30 Vgl. SK-StPO/Frisch (Fn. 22), § 338 Rn. 113, 116; Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 203 f.; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl., 2012, Rn. 188. 31 So auch die Einschätzung bei Barton, Einführung (Fn. 12), § 4 Rn. 80; vgl. auch Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 31. 32 Vgl. Stern, StV 2000, 404; Dahs, Handbuch (Fn. 16), Rn. 29; Hamm, NJW 1993, 289 (295 f.); ders., NJW 1996, 2185 (2187); Hammerstein, NStZ 2000, 327 (328); vgl. auch Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 122 f., 128 f.; Beulke/Angerer, NStZ 2002, 443 (444); Ignor FS Riess, 2002, S. 194 ff.; Maiwald, FS Lange, 1976, S. 758 f.; für eine Übersicht über den Meinungsstand in der Literatur bezogen auf das Jahr 1994 vgl. Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 117 ff., 152 ff. 33 Vgl. insbesondere Hamm (Fn. 32), der stets apodiktisch betont, dass das Verteidigungsverhältnis ein Tabubereich sei. 34 Vgl. Hamm, NJW 1993, 289 (295). 35 Vgl. Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 268 ff.; SK-StPO/Wohlers (Fn. 9), Vor § 137 Rn. 166 ff.
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ranten für die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens macht,36 z. B. durch die Notwendigkeit, einem prozessordnungswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsorgane zu widersprechen, anderenfalls die Rügemöglichkeit verloren geht.37 Wenn man an dieser Inpflichtnahme der Verteidigung als Garant der Gesetzmäßigkeit des Verfahrens festhält, kann es nun aber nicht angehen, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht wenigstens darauf zu achten haben, dass die Verteidigung bestimmten Mindeststandards genügt.38
III. Die Rechtsprechung des EGMR: Schlechtverteidigung als Beeinträchtigung des Anspruchs auf effektive Verteidigung Der Europäische Gerichtshof für Menschrechte hat sich seit dem Jahre 1980 in mehreren Entscheidungen mit dem Problem der Schlechtverteidigung befasst und sich hierbei auf den mehrfach bekräftigten Standpunkt gestellt, dass der Anspruch auf effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) nicht schon allein dadurch erfüllt wird, dass dem Beschuldigten ein Verteidiger bestellt wird. Erforderlich ist vielmehr, dass dieser Verteidiger dann auch eine Tätigkeit entfaltet, die man als konkrete und wirksame Verteidigung einstufen kann.39 Natürlich hat aber auch der EGMR erkannt, dass von einer Fremdkontrolle gleichzeitig auch Gefahren für die Institution der Verteidigung ausgehen. Für den EGMR ergibt sich schon aus der Unabhängigkeit der Anwaltschaft vom Staat, dass die Art und Weise der Führung der Verteidigung – und dies unabhängig davon, ob der Verteidiger amtlich bestellt oder aber vom Beschuldigten gewählt worden ist – der Entscheidung des Beschuldigten und seiner Verteidigung obliegt.40 In der Entscheidung Goddi vs. Italien führt der Gerichtshof hierzu aus: „Was die Herrn Goddi am 3. Dezember 1977 gewährte Pflichtverteidigung anlangt, so hat der Gerichtshof über die 36 Vgl. Grüner, Über den Mißbrauch von Mitwirkungsrechten und die Mitwirkungspflichten des Verteidigers im Strafprozeß, 2000, S. 220 ff.; SK-StPO/Wohlers (Fn. 9), Vor §§ 137 ff. Rn. 9. 37 Zur sog. Widerspruchslösung vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner (Fn. 22), StPO, § 136 Rn. 25; SK-StPO/Rogall, 4. Aufl., Bd. 2, 2010, § 136 Rn. 77 f.; SK-StPO/Wohlers, 4. Aufl., Bd. 3, 2011, § 163a Rn. 80 f. 38 So bereits Gaede, HRRS 2007, 402 (411/412); Gaede, HRRS-Festgabe (Fn. 8), S. 48; Ventzke, StV 1997, 543 (548). 39 EGMR, Urt. v. 13. 05. 1980 – 6694/74 (Artico vs. Italien), § 33 = EuGRZ 1980, 662 (664); EGMR, Urt. v. 09. 04. 1984 – 8966/80 (Goddi vs. Italien), § 31 = EuGRZ 1985, 234 (237); EGMR, Urt. v. 19. 12. 1989 – 9783/82 (Kamasinski vs. Österreich), § 65; EGMR, Urt. v. 24. 11. 1993 – 32/1992/377/451 (Imbrioscia vs. Schweiz), § 38; EGMR, Urt. v. 21. 04. 1998 – 11/1997/795/997 (Daud vs. Portugal), § 38; EGMR, Urt. v. 10. 10. 2002 – 38830/97 (Czekalla vs. Portugal), § 60 = NJW 2003, 1229 (1230); vgl. auch Demko, HRRS 2006, 250, 251 f.; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 457 f., 490 f.; Gaede, HRRS 2007, 402 (407); Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 63 ff. 40 EGMR, Urt. v. 10. 10. 2002 – 38830/97 (Czekalla vs. Portugal), § 60.
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Art und Weise, wie Herr Straziani, Angehöriger eines freien Berufes, welcher nach bestem Wissen und Gewissen als Organ der Rechtspflege tätig wurde, seiner Aufgabe glaubte nachkommen zu müssen, ein Urteil nicht abzugeben. Hingegen hat er zu ermitteln, ob das Appellationsgericht Bologna dafür Sorge getragen hat, dass dem Angeklagten der Genuss eines fairen Verfahrens unter Einschluss der Möglichkeit einer angemessenen Verteidigung gewährleistet wurde.“41 Nach Auffassung des Gerichtshofs kann der Staat allerdings nicht für jede Unzulänglichkeit der Verteidigung in die Verantwortung genommen werden. Die zuständigen staatlichen Behörden sind nur dann zum Eingreifen verpflichtet, wenn das Versagen der Verteidigung offenkundig ist oder wenn die Behörden in anderer Weise ausreichend davon unterrichtet werden.42 Eine entsprechende Rüge des Beschuldigten ist zwar eine – praktisch wohl besonders relevante – Möglichkeit dafür, auf welchem Wege das Gericht die Erkenntnis erlangen kann, die eine Pflicht zum Tätigwerden auslöst; es besteht aber keine Rügenotwendigkeit: wenn die Gerichte die Kenntnis auf anderem Wege erlangen, sind sie in gleicher Weise zum Eingreifen verpflichtet.43 Eine unzureichende Verteidigungsleistung, die zum Eingreifen verpflichtet, liegt beispielsweise dann vor, wenn die bestellte Verteidigung über einen längeren Zeitraum hinweg keinen Kontakt mit dem Beschuldigten aufnimmt44 und/oder untätig bleibt.45 Als ein Fall, in dem die Notwendigkeit des Eingreifens offenkundig ist, hat der EGMR aber auch den Fall eingestuft, in dem ein Verteidiger offenkundig nicht ausreichend vorbereitet sein konnte,46 sowie den Fall, dass der Verteidigung bei der Einlegung eines Rechtsmittels grobe Formfehler unterlaufen.47 Eine unzureichende Verteidigung kann aber auch dann gegeben sein, wenn die Verteidigung zwar tätig wird, ihr hierbei aber Fehler unterlaufen, die auf ein offenkundiges Versagen hindeuten. In der Entscheidung Czekalla vs. Portugal ist es als ein offenkundiges Versagen angesehen worden, dass die Verteidigerin ein Rechtsmittel unter Missachtung der vom staatlichen Recht und vom Obersten Gerichtshof verlangten Formvorschrif41
EGMR, Urt. v. 09. 04. 1984 – 8966/80 (Goddi vs. Italien), § 31. EGMR, Urt. v. 21. 04. 1998 – 11/1997/795/997 (Daud vs. Portugal), § 38; EGMR, Urt. v. 09. 04. 1984 – 8966/80 (Goddi vs. Italien), § 31; EGMR, Urt. v. 10. 10. 2002 – 38830/97 (Czekalla vs. Portugal), § 60; vgl. hierzu auch Demko, HRRS 2006, 250 (253 f.); Gaede, HRRS 2007, 402 (407); ders., Fairness (Fn. 10), S. 860 f. 43 Demko, HRRS 2006, 250 (256 f.); vgl. EGMR, Urt. v. 09. 04. 1984 – 8966/80 (Goddi vs. Italien), § 31 sogar für den Fall, dass der betroffene Anwalt selbst eine unzureichende Vorbereitung nicht geltend gemacht hatte. 44 EGMR, Urt. v. 21. 04. 1998 – 11/1997/795/997 (Daud vs. Portugal), § 39; vgl. auch Demko, HRRS 2006, 250 (253 ff.). 45 Vgl. EGMR, Urt. v. 13. 05. 1980 – 6694/74 (Artico vs. Italien), §§ 33 ff.; vgl. auch Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 858. 46 EGMR, Urt. v. 09. 04. 1984 – 8966/80 (Goddi vs. Italien), § 31. 47 EGMR, Urt. v. 10. 10. 2002 – 38830/97 (Czekalla vs. Portugal), § 68 = NJW 2003, 1229 (1230). 42
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ten eingelegt hat, mit der Folge, dass dem Beschuldigten der Zugang zum Rechtsmittelgericht versagt blieb.48 Der Gerichtshof legt hier dar, „dass ein möglicherweise falsches oder fehlerhafte Verhalten der Verteidigung durch einen Pflichtverteidiger die Verantwortung des Staats nach der Konvention nicht begründen kann. Jedoch kann unter bestimmten Umständen die fahrlässige Missachtung einer reinen Formvorschrift nicht mit einem solchen Fehlverhalten oder einer einfachen Unzulänglichkeit der Begründung gleichgesetzt werden. Das ist dann der Fall, wenn ein solcher Fehler zur Folge hat, dass dem Betroffenen ein Rechtsbehelf genommen wird, ohne dass dies von einem höherinstanzlichen Gericht berichtigt wird.“49
IV. Der Umfang der (Fremd-)Kontrolle der Verteidigungsleistung 1. Die Gewährleistung von Mindeststandards als Basis und Voraussetzung für die Umsetzung des Anspruchs auf effektive Verteidigung Die Freiheit der Verteidigung von staatlicher Einflussnahme ist für das Institut der effektiven Verteidigung von grundlegender Bedeutung.50 Den gegenüber einer Fremdkontrolle der Verteidigung kritischen Stimmen ist im Grundsatz darin zuzustimmen, dass die Autonomie der Verteidigung durch eine Kontrolle der Verteidigungsleistung in Frage gestellt werden kann.51 In besonderer Weise gilt dies dann, wenn die Kontrolle zu dem Zweck missbraucht wird, unliebsame Verteidigerinnen und Verteidiger zu disziplinieren oder ganz auszuschalten. Dass derartige Gefahren bestehen, ist jedenfalls dann nicht von der Hand zu weisen, wenn die Kontrolle der Verteidigungsqualität an einem Maßstab ausgerichtet wird, der sich daran orientiert, was Staatsanwaltschaft und/oder Gericht als sachgerechte Verteidigung einstufen.52 Dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte die Qualität der Leistung der Verteidigung an ihren eigenen Vorstellungen davon messen sollen, was aus ihrer Sicht eine sinnvolle Verteidigungsstrategie ist, umschreibt nun aber eine Konzeption, die weder vom EGMR noch von den Autoren vertreten wird, die sich dafür einsetzen, dass die Qualität der Verteidigung nicht jeglicher Fremdkontrolle entzogen ist.53 Weder Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK noch das Verfassungsrecht noch die StPO gewährleisten einen Anspruch des Beschuldigten auf optimale Verteidigung – was 48 EGMR, Urt. v. 10. 10. 2002 – 38830/97 (Czekalla vs. Portugal), §§ 62 ff. = NJW 2003, 1229 (1230); vgl. auch Demko, HRRS 2006, 250 (255 f.). 49 EGMR, Urt. v. 10. 10. 2002 – 38830/97 (Czekalla vs. Portugal), § 65 = NJW 2003, 1229 (1230). 50 SK-StPO/Wohlers (Fn. 9), Vor § 137 Rn. 7, § 148 Rn. 1. 51 So auch Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 79. 52 Vgl. Gaede HRRS 2007, 402 (408 f.): Maßstab der objektiven richterlichen Fürsorge. 53 Vgl. auch Barton, Einführung (Fn. 12), § 4 Rn. 82; dass das Verteidigungsverhältnis auch normativ gesehen nicht von vornherein jeglicher Fremdkontrolle entzogen ist, hat Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 79 ff. gezeigt.
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auch immer das ist und wie auch immer man das bestimmen können soll. Und ebenso wenig unterliegt die Frage, welche Verteidigungskonzeption gewählt worden ist, der Fremdkontrolle durch Staatsanwaltschaft und Strafgericht.54 Es geht allein darum, dass die Verteidigung in der Lage ist, bestimmten Mindeststandards gerecht zu werden, die als Grundlage und Voraussetzung einer effektiven Verteidigung unabhängig davon gewährleistet sein müssen, welche Verteidigungskonzeption gewählt und verfolgt wird.55 Einer derartig eingeschränkten Fremdkontrolle kann dann aber der Einwand des unzulässigen Eingriffs in das Verteidigungsverhältnis nicht entgegengehalten werden. Die Unabhängigkeit der Verteidigung ist kein Argument, wenn es darum geht, dass der Verteidigung offenkundige Formfehler unterlaufen sind, die dazu führen, dass sich die prozessuale Situation des Beschuldigten verschlechtert, weil er aufgrund eines Fehlverhaltens seiner Verteidigung ein Rechtsmittel verliert.56 2. Zur inhaltlichen Bestimmung der Mindeststandards Bei der Bestimmung der von der Verteidigung zu wahrenden Mindeststandards geht es zunächst einmal darum, dass die Verteidigung die Basis dafür schaffen muss, dass sie über den Kenntnisstand verfügt, der sie in die Lage versetzt, in Absprache mit dem Mandanten eine sinnvolle Verteidigungskonzeption zu entwickeln.57 Dies setzt zum einen eine ausreichend intensive Kontaktaufnahme mit dem Mandanten voraus,58 d. h. „ein Mindestmaß an Bemühungen des gerichtlich bestellten Verteidigers um Kontaktaufnahme mit dem Beschuldigten“.59 Darüber hinaus hat der Verteidiger auch sonstige Quellen auszuschöpfen, insbesondere die Verfahrensakten.60
54
Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 859, 876, 887 f. BGH, Beschl. v. 30. 09. 2008 – 5 StR 251/08; Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 856 ff., 887 f., 897 f.; Barton, StV 1995, 290 (291) spricht von den „für jede Form sachgerechter Verteidigung erforderlichen Fundamentalvoraussetzungen“; vgl. auch ders., Mindeststandards (Fn. 10), S. 181 ff. 56 So auch EGMR, Urt. v. 10. 10. 2002 – 38830/97 (Czekalla vs. Portugal), § 70 = NJW 2003, 1229 (1230/1231); vgl. auch Gaede, HRRS-Festgabe (Fn. 8), S. 49 f. 57 Gaede HRRS 2007, 402 (409); vgl. auch Barton, Einführung (Fn. 12), § 4 Rn. 82; ders., Mindeststandards (Fn. 10), S. 182, 307 f.; zur Notwendigkeit und zum Verfahren der Entwicklung einer Verteidigungskonzeption vgl. Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 346 ff.; Wohlers, ZStrR 130 (2012) 55 (59 ff.). 58 Vgl. Gaede, HRRS 2007, 402 (414): Es müsse in einem „langwierigen Verfahren ein lediglich zweimaliger Besuch in der Haft bei einer Kapitalstrafsache schon erstaunen“; vgl. auch Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 899 sowie S. 886: „Die Unabhängigkeit des Verteidigers gibt diesem kein Recht, aus Zeitmangel die Hauptverhandlung nicht vorzubereiten oder zum Beispiel maßgebliche Beschuldigtenvernehmungen in Ermittlungsverfahren zu versäumen.“ 59 BGH, Beschl. v. 30. 09. 2008 – 5 StR 251/08. 60 Zu den Pflichten im Rahmen der Informationsgewinnung vgl. Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 326 ff. 55
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Auf der Basis des so gewonnenen Erkenntnisstands hat die Verteidigung dann in Absprache mit dem Mandanten eine Verteidigungskonzeption zu entwickeln.61 Angesichts dessen, dass die konkret gewählte Verteidigungskonzeption nicht zwingend dem entsprechen muss, was aus der Warte eines unbeteiligten Dritten dem wohlverstandenen Interesse des Beschuldigten entsprechen würde,62 und angesichts dessen, dass die Effektivität der Verteidigung darunter leiden würde, wenn die Strafverfolgungsbehörden Kenntnis von der Verteidigungskonzeption erhalten,63 ist dann allerdings die Frage, welche Verteidigungskonzeption verfolgt wird, tatsächlich ein der Fremdkontrolle entzogener Tabubereich.64 Sodann hat die Verteidigung die Maßnahmen zu ergreifen, die – im Rahmen des prozessual und strafrechtlich sowie standesrechtlich Zulässigen – ergriffen werden können, um die Verteidigungskonzeption in sich sinnvoll umzusetzen.65 Weil die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte aber nicht wissen (können und dürfen), welche Verteidigungskonzeption gewählt worden ist, können und dürfen sie nur dann eingreifen, wenn entweder die Verteidigung in sich widersprüchlich agiert, weil dann berechtigterweise davon ausgegangen werden muss, dass die Verteidigung ohne Konzeption agiert, oder wenn die Verteidigung so agiert, dass die Frage aufzuwerfen ist, ob dieses Verhalten überhaupt irgendeiner sinnvollen Verteidigungskonzeption zu dienen vermag. Die Abstandnahme der Verteidigung von bestimmten Aktivitäten ist nur dort ein Indiz für eine Schlechtverteidigung, wo diese Aktivität unabhängig von der Verteidigungskonzeption im Sinne einer effektiven Verteidigung geboten wäre,66 was z. B. bei einer (Nicht-)Teilnahme der Verteidigung bei wichtigen Konfrontationseinvernahmen der Fall sein kann.67 Das Nichtstellen eines Beweisantrags oder der Verzicht auf einen Widerspruch ist auch dann, wenn es sich um wichtige Entlastungsbeweise oder um den Ausschluss belastender Beweismittel handelt, nur dann ein Indiz für eine Schlechtverteidigung, wenn ausgeschlossen ist, dass das Verhalten der Verteidigung sinnvoller Bestandteil einer Verteidigungsstrategie sein kann.68 61 Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 182, 307; zur Vorgehensweise bei der Festlegung der Verteidigungskonzeption vgl. Wohlers, ZStrR 130 (2012) 55 (63 ff.). 62 Vgl. Wohlers, ZStrR 130 (2012), 55 (63 ff.). 63 Zur Bedeutung des Schutzes des Verteidigungsinnenverhältnisses vor einer Kenntnisnahme durch die Strafverfolgungsbehörden vgl. SK-StPO/Wohlers (Fn. 9), § 148 Rn. 5, 11 ff.; die Rechtsprechung sieht allerdings darin, dass die Strafverfolgungsbehörden Kenntnis von der Verteidigungskonzeption erlangt haben, auch dann kein Prozesshindernis, wenn diese Kenntnisnahme gezielt erfolgt ist, krit. hierzu SK-StPO/Paeffgen, 4. Aufl., Bd. 4, 2011, Anhang zu § 206a Rn. 33. 64 A.A. wohl Hilgendorf, NStZ 1996, 1 (4). 65 Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 182, 308 f. 66 Offen gelassen bei BGHSt 39, 310 (314). 67 Weitergehend – im Sinne einer zwingenden Pflicht – Gaede, HRRS 2007, 402 (409); ders., Fairness (Fn. 10), S. 858. 68 Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 901; vgl. auch Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 185.
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Und schließlich ist noch zu beachten, dass die Verteidigung, wenn sie effektiv sein will, über bestimmte Rechtskenntnisse verfügen und diese sinnvoll einsetzen können muss.69 Eine unzureichende Verteidigungsleistung kann z. B. auch dadurch offenkundig werden, dass die Verteidigung durch ihr Auftreten dokumentiert, dass sie nicht in der Lage ist, zulässige Anträge zu stellen und/oder in formal ordnungsgemäßer Art und Weise von Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen.
3. Die Praxis der Strafjustiz der Schweiz als Beleg für die Umsetzbarkeit dieses Maßstabs Die Befürchtung, dass eine auf die Gewährleistung von Mindeststandards abzielende (und konsequenterweise hierauf beschränkte) Fremdkontrolle praktisch nicht umgesetzt werden kann, dass man sich also zwischen den Konzeptionen einer vollständigen Tabuisierung der Verteidigungsqualität einerseits und der totalen Fremdkontrolle andererseits entscheiden müsse, wird durch die Erfahrungen der Praxis anderer Länder widerlegt. Als ein anschauliches Beispiel kann diesbezüglich auf die Situation in der Schweiz verwiesen werden. Die Strafgerichte der Schweiz gehen sachlich übereinstimmend mit der Rechtsprechung des EGMR davon aus, dass den Strafbehörden unter bestimmten Voraussetzungen die Pflicht obliegt, gewisse Mindeststandards der Verteidigung zu gewährleisten. Die prozessuale Fürsorgepflicht gebiete es, dass die Strafbehörden einschreiten, wenn offensichtliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Verteidigung nicht in der Lage oder – was zwar denkbar, in der Praxis aber wohl eher selten der Fall sein dürfte – nicht willens ist, den Anspruch des Beschuldigten auf eine effektive und wirksame Verteidigung faktisch zu erfüllen.70 Angenommen wird dies zunächst einmal dann, wenn die Verteidigung untätig bleibt, obwohl sie – unabhängig davon, welche konkrete Verteidigungsstrategie sie im konkreten Fall verfolgt – im Interesse der beschuldigten Person tätig werden müsste. In der Praxis standen hier bisher neben den Fällen der unterbliebenen Kontaktaufnahme mit dem Mandanten71 vor allem die Fälle der Nichtteilnahme an wichtigen Einvernahmen72 im Vordergrund.73 69
Vgl. Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 303 ff., 338 ff. BGE 120 Ia 48 (50 f.); 124 I 185 (190); 126 I 194 (198); 131 I 185 (192); 131 I 350 (360 f.); BGer Praxis 2000 Nr. 164, E. 5.c; BGer 6B_350/2009 vom 22. 05. 2009, E. 1.1; BGer 1B_67/2009 vom 14. 07. 2009, E. 2.1; Hauser/Schweri/Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., 2005, § 40 Rn. 17; Lieber, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2010, Art. 134 Rn. 14 f.; Ruckstuhl, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar Strafprozessordnung, 2011, Art. 134 Rn. 11; Riklin, Kommentar StPO, 2010, Art. 128 Rn. 5. 71 Vgl. Kassationsgericht Zürich ZR 1978 Nr. 60; Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte, ZR 2009 Nr. 44; BSK-StPO/Ruckstuhl (Fn. 70), Art. 134 Rn. 13. 72 Um die Bedeutung des Untätigbleibens im Vorverfahren unter Geltung des schweizerischen Rechts richtig einschätzen zu können, muss berücksichtigt werden, dass das schweize70
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Eine zweite Gruppe bilden die Fälle, in denen die Verteidigung zwar tätig geworden ist, bei denen aber die Art und Weise, in der dies geschehen ist, zu Zweifeln Anlass gibt. Die Strafbehörden, denen nach eigener Einschätzung in der Regel die notwendigen Informationen fehlen, um zu entscheiden, ob ein bestimmtes Verhalten im Sinne der zugrunde liegenden Verteidigungskonzeption geboten ist oder nicht,74 halten sich zu Recht sehr zurück, wenn es darum geht, dass die Verteidigung bestimmte Fragen und/oder Beweisanträge gestellt oder eben nicht gestellt hat.75 Demgegenüber wird schon eher dann eingegriffen, wenn sich die Verteidigung im Rahmen des Schlussplädoyers mit Punkten nicht oder offensichtlich zu kurz auseinandergesetzt hat, die sich aus der Sicht des Gerichts vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Vorund Hauptverfahrens als wesentlich erwiesen haben.76 Und schliesslich wird auch dann eingegriffen, wenn die Verteidigung bei der Entwicklung ihrer Verteidigungsaktivitäten Fehler macht, die offenbaren – oder doch zumindest zur Vermutung Anlass geben –, dass die Verteidigung nicht über die Fähigkeiten verfügt, die zur adäquaten Ausfüllung ihrer Funktion erforderlich sind.77 Dies ist z. B. dann angenommen worden, wenn der Verteidigung krasse formale Fehler bei der Einlegung eines Rechtsmittels unterlaufen sind78 oder wenn die Verteidigung im Rahmen ihres Schlussplädoyers einen offensichtlich rechtlich nicht haltbaren Antrag gestellt hat.79 rische Strafprozessrecht nur ein eingeschränktes Unmittelbarkeitsprinzip kennt, d. h. die Einvernehmungen im Vorverfahren unmittelbar zur Urteilsgrundlage werden können (vgl. Art. 342, 350 Abs. 2 StPO/CH), wobei dann aber im Gegenzug die Teilhaberechte der Verteidigung und der sonstigen Verfahrensbeteiligten stark ausgebaut sind (vgl. Art. 147 StPO/ CH). Wenn man sich demgegenüber in einem Strafprozesssystem bewegt, in dem – wie in Deutschland – der Grundsatz der Unmittelbarkeit stärker verankert ist und im Gegenzug die Teilhabemöglichkeiten im Ermittlungsverfahren eingeschränkt sind (und die Verteidigung durch Pauschgebühren honoriert wird, die unabhängig vom Umfang der Verteidigungsaktivitäten sind), kann dieser Punkt möglicherweise anders zu beurteilen sein, vgl. hierzu Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 334 ff. 73 Vgl. BGE 120 Ia 48 (53 ff.).; BGer 6B_583/2009 vom 27. 11. 2009, E. 2.4; Kassationsgericht Zürich ZR 1998 Nr. 108; ZR 2001 Nr. 5; Lieber, Kommentar StPO (Fn. 70), Art. 134 Rn. 21; BSK-StPO/Ruckstuhl (Fn. 70), Art. 134 Rn. 13. 74 Vgl. BGE 126 I 194 (200); BGer 6B_350/2009 vom 22. 5. 2009, E. 1.1. 75 Vgl. BGer Praxis 2000 Nr. 164 E. 6; BGer 1B_67/2009 vom 14. 07. 2009, E. 2.3; BGer 1B_67/2009 vom 14. 7. 2009, E. 2.3; Lieber, Kommentar StPO (Fn. 70), Art. 134 Rn. 22. 76 Vgl. Kassationsgericht Zürich ZR 1978 Nr. 60; ZR 1987 Nr. 96; ZR 2001 Nr. 43; Lieber, Kommentar StPO (Fn. 70), Art. 134 Rn. 23; BSK-StPO/Ruckstuhl (Fn. 70), Art. 134 Rn. 13; Hauri, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar Strafprozessordnung, 2011, Art. 346 Rn. 30. 77 Vgl. BSK-StPO/Ruckstuhl (Fn. 70), Art. 134 Rn. 13; Schmid, Praxiskommentar StPO, 2009, Art. 134 Rn. 4. 78 Vgl. Kassationsgericht Zürich, ZR 1997 Nr. 15. 79 Vgl. Kassationsgericht Zürich, forumpoenale 2012 [im Druck] mit Anm. Wohlers: Die Verteidigung hatte in einem Verfahren wegen eines Tötungsdeliktes als Hilfsantrag neben einem auf Freispruch lautenden Hauptantrag eine Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sieben Jahren beantragt. Nach schweizerischem Strafrecht können Freiheitsstrafen allerdings nur bis zu zwei Jahren vollbedingt und bis zu drei Jahren teilbedingt ausgesprochen werden (vgl. Art. 42 f. StGB/CH).
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V. Konsequenzen einer Schlechtverteidigung 1. Die Pflicht(en) des Tatgerichts in der laufenden Hauptverhandlung Geht man in Übereinstimmung mit dem vorstehend entwickelten Ansatz davon aus, dass es allein darum geht, zu gewährleisten, dass die Verteidigung gewissen Mindeststandards genügt, dürfte die Gefahr einer in das Verteidigungsinnenverhältnis eingreifenden Fremdkontrolle der Verteidigung durch Staatsanwaltschaft und Gericht weitgehend gebannt sein. Selbstverständlich sind Missbräuche nie auszuschließen. Die Gefahr des Missbrauchs dürfte aber auch schon deswegen eher klein sein, weil eine unbegründete und überzogene Einflussnahme auf den Beschuldigten eine Ablehnung der betroffenen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit und gegebenenfalls eine erfolgreiche Rüge der Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte begründen kann.80 Rechtlicher Ansatzpunkt für diese Pflicht zum Tätigwerden ist die Fürsorgepflicht. Soweit Beulke/Angerer die Fürsorgepflicht als Rechtsgrundlage für ein Eingreifen mit der Begründung ablehnen, die Frage, wann ein Verteidiger die Grenze der Unfähigkeit erreicht habe, entziehe sich jeder Verifizierung,81 wird dies bereits durch die Rechtsprechung der Strafgerichte der Schweiz widerlegt, denen – im Anschluss an die einschlägige Rechtsprechung des EGMR – genau dies gelungen ist. Ein weiterer, insbesondere von Gaede erhobener Einwand, dass nicht auf eine „objektiv verstandene Fürsorgepflicht des Gerichts“ abgestellt werden dürfe,82 sondern stattdessen auf das Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung abzustellen sei,83 trifft den hier vertretenen Ansatz nicht: Die Fürsorgepflicht des Gerichts besteht nicht darin, eine – wie auch immer zu bestimmende – objektiv verstandene Fürsorgepflicht durchzusetzen, sondern sie besteht darin, die Mindeststandards zu wahren, die der Umsetzung des Rechts auf effektive Verteidigung dienen.84 Ausgehend davon, dass die Rechtsgrundlage für das Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden die Fürsorgepflicht ist, bleibt es grundsätzlich Sache des Beschuldigten und der Verteidigung, darüber zu entscheiden, welche Aktivitäten die Verteidigung zu entfalten hat. Die Strafverfolgungsbehörden müssen und dürfen nur dann tätig werden, wenn sie durch Verfahrensbeteiligte – insbesondere, aber nicht nur: 80
Gaede, HRRS 2007, 402 (411). Beulke/Angerer, NStZ 2002, 443 (444) unter Verweis auf Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 129; vgl. auch Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 157 ff.: Die Fürsorgepflicht sei als Generalklausel zu unbestimmt, sie sei aber eine plastische Überschrift für die gerichtliche Pflicht zur Wahrung des fairen Verfahrens. 82 Vgl. Gaede, HRRS 2007, 402 (406/407). 83 Vgl. Gaede HRRS 2007, 402 (413 ff.); für die Gleichsetzung auch Gaede, HRRS-Festgabe (Fn. 8), S. 47 Fn. 92: „Gewiss können Fürsorgegrundsätze, die sich an einer wirksamen und autonom definierten Verteidigung ausrichten, funktional betrachtet weitgehend die hier geforderten Wirkungen entfalten. Indes wird die Fürsorge weder so verstanden, noch so praktiziert.“ 84 Vgl. auch bereits SK-StPO/Wohlers (Fn. 9), Vor §§ 137 Rn. 82. 81
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den Beschuldigten – oder durch eigene Beobachtung auf mögliche Indizien für eine Unterschreitung der Mindeststandards aufmerksam geworden sind. Erforderlich ist, dass dringende objektive Zweifel daran bestehen, dass die Verteidigung die Mindeststandards gewährleisten kann, denen eine effektive Verteidigung gerecht werden muss. Insoweit gilt nichts anderes als in den Fällen, in denen der Verteidiger – z. B. durch Pressekampagnen, die sich gegen die Verteidigung richten85 oder durch seinen Gesundheitszustand86 – in seiner Verteidigungsbereitschaft eingeschränkt wird. Auch in diesen Fällen muss das Gericht aber nur dann eingreifen, „wenn für das Gericht klar erkennbar ist, dass der Verteidiger aufgrund von Krankheit oder altersbedingter Störungen nicht fähig ist, den Angeklagten sachgemäß zu verteidigen“.87 Ebenso bleibt es grundsätzlich der Einschätzung des Beschuldigten und der Verteidigung überlassen, abzuschätzen, ob die Verteidigung ausreichend vorbereitet ist.88 Die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte haben hier nur dann einzugreifen, wenn klare Indizien dafür bestehen, dass dies nicht der Fall ist – in diesem Fall kann sich die Schlechtverteidigung gerade darin manifestieren, dass die Verteidigerin oder der Verteidiger gar nicht erkennt, dass er nicht ausreichend informiert ist. Von besonderer praktischer Relevanz ist dies in den Fällen, in denen Verteidiger kurzfristig bestellt werden. Wenn z. B. ein kurzfristig zur Sicherung des Verfahrens bestellter Verteidiger zur Vorbereitung einen Nachmittag und möglicherweise noch den folgenden Vormittag zur Verfügung hat und weder die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs vor dem Hauptverhandlungstermin besteht noch sichergestellt ist, dass er über den bisherigen Ablauf der Hauptverhandlung informiert werden kann, dann darf und muss die Verteidigungsfähigkeit in Frage gestellt werden.89 Besteht Anlass, die hinreichende Verteidigung der beschuldigten Person in Zweifel zu ziehen, haben die Strafbehörden diesen Zweifeln nachzugehen und sie haben – wenn sich die Zweifel als berechtigt erweisen – Maßnahmen zu ergreifen.90 Diese Maßnahmen müssen zunächst einmal darin bestehen, die Verteidigung abzumahnen91 und – gegebenenfalls auch wiederholt – zu einem ordnungsgemäßen Agieren anzuhalten. Kann der festgestellte Missstand auf diese Art und Weise nicht oder nicht dauerhaft behoben werden, ist die amtlich bestellte Verteidigung abzuberufen und zu ersetzen.92 Hat der Beschuldigte in einem Fall notwendiger Verteidigung einen Wahl85
Vgl. BGH NJW 1964, 1485. Vgl. BGH JR 1962, 428. 87 BGH bei Dallinger MDR 1967, 724 (727). 88 So auch BGH NStZ 1983, 281; 1997, 401; BGH StV 1998, 414 (415). 89 Rogat, JR 1998, 252 (253 f.); vgl. auch BGH StV 1988, 414 (415); BGH NJW 1965, 2164 (2165) mit Anm. Schmidt-Leichner. 90 Graf, Effiziente Verteidigung im Rechtsmittelverfahren, 2000, S. 117. 91 Vgl. Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 914; vgl. auch Gaede, HRRS 2007, 402 (413): „Pflichtenmahnung als milderes Mittel“. 92 BGE 120 Ia 48 (51); BGer 6B_583/2009 vom 27. 11. 2009, E. 2.1; Kassationsgericht Zürich, ZR 1965 Nr. 47; ZR 1978 Nr. 60; ZR 1998 Nr. 108; ZR 1999 Nr. 48; Graf (Fn. 88), 86
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verteidiger privat bestellt, ist, weil die Strafbehörden einen privat beauftragten Verteidiger nicht entlassen können,93 zusätzlich zu diesem ein Pflichtverteidiger zu bestellen.94 In den Fällen fakultativer Wahlverteidigung wird man das Gericht für verpflichtet halten müssen, den Beschuldigten über die Zweifel an der sachgerechten Führung der Verteidigung zu informieren.95 Dies gilt insbesondere dann, wenn im Falle des Fortbestehens des Verteidigungsverhältnisses zum als inkompetent eingeschätzten Wahlverteidiger die Bestellung eines Sicherungsverteidigers erforderlich wäre.96 Insbesondere in den Fällen, in denen sich die unzureichende Qualität der Verteidigung erst in einem späten Stadium des Verfahrens manifestiert – im Extremfall im Rahmen des Schlussplädoyers oder gar durch die unzureichende Form, in der ein Rechtsmittel eingelegt wird –, stellt sich die Frage, was mit den Verfahrensabschnitten zu geschehen hat, in denen der Beschuldigte nur unzureichend verteidigt war. Letztlich muss hier das Gleiche gelten wie in den Fällen, in denen der Beschuldigte durch einen Scheinverteidiger „verteidigt“ worden ist, d. h. jedenfalls in den Fällen, in denen der Beschuldigte notwendigerweise hätte verteidigt sein müssen, sind die Teile des Verfahrens, an denen ein Verteidiger hätte anwesend sein müssen, zu wiederholen. Wird die mangelhafte Verteidigung erst am Ende der Hauptverhandlung offenkundig, ist gegebenenfalls die Hauptverhandlung mit einem neuen Verteidiger zu wiederholen. Hat das Tatgericht das Verfahren zu Ende geführt, ohne auf die offenkundig werdende Schlechtverteidigung zu reagieren, muss diese in der Revision gerügt werden, wobei allerdings unter Zugrundelegung der h. M. kein absoluter Revisionsgrund i.S. des § 338 Nr. 5 vorliegt.97 Wenn die Verteidigung die Mindeststandards einer effektiven Verteidigung unterschritten und das Gericht hierauf nicht reagiert hat, liegt aber jedenfalls eine Verletzung der Fürsorgepflicht vor, die als relativer Revisionsgrund (§ 337 StPO) einzustufen ist.98
S. 118 f.; Riklin (Fn. 68), Art. 128 Rn. 5; vgl. jetzt auch Art. 134 Abs. 2 StPO und hierzu Schmid (Fn. 75), Art. 134 Rn. 4. 93 Graf (Fn. 90), S. 122. 94 BGE 124 I 185 (190); BGer 6B_583/2009 vom 27. 11. 2009, E. 2.1; Lieber, ZStrR 126 (2008), 174 (190); Riklin (Fn. 70), Art. 128 Rn. 5. 95 Graf (Fn. 88), S. 123 f. 96 Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 914. 97 Stern, StV 2000, 404 (405) sowie die oben Fn. 28 genannten Quellen. 98 Neuhaus, StV 2002, 43 (49); zur Beruhensfrage vgl. Barton, Mindeststandards (Fn. 10), S. 204 ff.; Neuhaus, StV 2002, 43 (49 ff.).
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2. Die Auswirkungen auf die Rechtsprechung zu § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO Nach der hier vertretenen, in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR stehenden Auffassung kann sich eine Schlechtleistung der Verteidigung insbesondere auch darin manifestieren, dass die Verteidigung bei der Einlegung eines Rechtsmittels grobe formale Fehler macht. Die einschlägige Entscheidung Czekalla vs. Portugal ist – obwohl sie in der NJW in deutscher Übersetzung gut zugänglich ist – in der Handbuch- und Kommentarliteratur bisher nur am Rande zur Kenntnis genommen worden.99 Ein nicht unwesentlicher Grund für diese Zurückhaltung dürfte der Umstand sein, dass die Umsetzung der in dieser Entscheidung entwickelten Grundsätze das kunstvolle Gebäude zum Einsturz bringen dürfte, das der BGH mit seiner Rechtsprechung zu § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO errichtet hat: Wenn einerseits das Gesetz verlangt, dass ein Rechtsmittel über einen Verteidiger einzulegen und zu begründen ist (§ 345 Abs. 2 StPO), dann muss dieser Verteidiger auch in der Lage sein, Verfahrensrügen formal ordnungsgemäß zu erheben, anderenfalls man nicht davon sprechen kann, dass der Beschuldigte effektiv verteidigt worden ist.100 Es kann nicht sein, dass einerseits die gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an die Erhebung einer zulässigen Verfahrensrüge zu stellenden Anforderungen höher und höher geschraubt werden101 und andererseits das Risiko, ob der konkret tätig werdende Verteidiger in der Lage ist, diesen Anforderungen gerecht zu werden, dem Beschuldigten aufgebürdet wird, der die revisionsrechtliche Kompetenz seines Verteidigers weder kontrollieren noch beeinflussen kann.102 Dass das gegen die Fremdkontrolle der Qualität der Verteidigung ins Feld geführte Argument des Eingriffs in die Unabhängigkeit der Verteidigung insbesondere in den Fällen formal mangelhaft eingelegter Rechtsmittel kein valides Argument ist, das gegen eine Fremdkontrolle der Verteidigung ins Feld geführt werden kann, hat Gaede bereits mehrfach zutreffend hervorgehoben.103 Früher oder später wird die deutsche Strafgerichtsbarkeit mit dem Problem konfrontiert werden, dass ein Beschuldigter mit Verweis auf Czekalla vs. Portugal geltend macht, durch eine mangelhafte Revisionsbegründung in seinem Recht auf effektive Verteidigung verletzt zu sein. Diese Rüge wird jedenfalls dann nicht abzuweisen sein, wenn der betroffene Beschuldigte als Folge der Begründungsmängel sein 99
Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 22), § 338 Rn. 41. Vgl. auch bereits Gaede HRRS-Festgabe (Fn. 8), S. 48 für die Fälle, in denen der Verteidiger keine einzige zulässige Verfahrensrüge erheben konnte. 101 Vgl. Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 852, der von einer notorischen Überforderung der Verteidigung spricht. Dass diese Einschätzung zutreffend ist, wird dadurch bestätigt, dass einerseits Revisionsrichter nicht müde werden, die formale Unzulänglichkeit vieler Revisionsschriften zu rügen, und dass andererseits auch renommierte Revisionsanwälte nicht in Abrede stellen, dass auch sie stets in der Gefahr schweben, dass Rügen an der Hürde des § 344 Abs. 2 Satz 2 scheitern. 102 Vgl. auch bereits Gaede, HRRS 2007, 402 (410); ders., HRRS-Festgabe (Fn. 8), S. 49. 103 So auch bereits Gaede, Fairness (Fn. 10), S. 861; ders., HRRS-Festgabe (Fn. 8), S. 50 f. 100
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Rechtsmittel insgesamt verliert – z. B., weil der Verteidiger nur Verfahrensrügen erhoben und diese sämtlich in formal unzulässiger Form begründet hat. Gleiches müsste auch dann gelten, wenn man in den Fällen von der Unzulässigkeit der Revision ausgeht, in denen sich die allein erhobene Sachrüge in revisionsrechtlich unzulässigen Angriffen auf die Feststellungen und/oder die Beweiswürdigung erschöpft.104 Da man in diesen Fällen nicht guten Gewissens behaupten kann, der Beschuldigte sei sachgerecht verteidigt worden, wird man richtigerweise in entsprechender Anwendung der Normen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine Heilung des Mangels zu bewirken haben.105 Anders könnte man es für die Fälle sehen, in denen wenigstens die Sachrüge und/ oder einzelne Verfahrensrügen ordnungsgemäß erhoben worden sind: Darin, dass in diesen Fällen der Beschuldigte sein Rechtsmittel nicht insgesamt verliert, könnte man eine Abweichung von der Entscheidung Czekalla vs. Portugal sehen. Andererseits ist zu beachten, dass jede einzelne Rüge der Revision zum Erfolg verhelfen kann und dass damit der partielle Entzug des Rechtsmittels im Ergebnis die gleichen Konsequenzen haben kann wie der integrale. In konsequenter Weiterführung der Rechtsprechung, nach der unter bestimmten Voraussetzungen auch bei einzelnen Verfahrensrügen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich ist,106 sollte auch in den Fällen, in denen nur einzelne von mehreren Verfahrensrügen i.S. des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unzulässig erhoben worden sind, eine Nachbesserung möglich sein.
104
Vgl. SK-StPO/Wohlers, Loseblattausgabe, 33. Lfg. (September 2003), § 349 Rn. 8 m.w.N. 105 Meyer-Goßner (Fn. 22), § 338 Rn. 41. 106 Vgl. SK-StPO/Wohlers, Loseblattausgabe, 33. Lfg. (September 2003), § 352 Rn. 13 ff. m.w.N.
Sportdisziplinarverantwortlichkeit im polnischen Recht Von Andrzej J. Szwarc
I. Einführende Bemerkungen In manchen Ländern wird die Sportdisziplinarverantwortlichkeit – zumindest in bestimmtem Maß – durch Rechtsvorschriften geregelt, während dieses Rechtsgebiet in anderen Ländern nicht durch Rechtsvorschriften geregelt ist. Selbst wenn das Recht diese Verantwortlichkeit in irgendeiner Form normiert, werden die Detailfragen durch von Sportorganisationen geschaffene Vorschriften geregelt, die den Rang von Rechtsvorschriften nicht haben. In Polen sind die mit dem Sport verbundenen Probleme seit geraumer Zeit durch Rechtsvorschriften geregelt, die diese Probleme speziell betreffen oder gar durch eigenständige Rechtsakte, die dem Sport gewidmet sind. In den letzten Jahren galten folgende polnische Sportgesetze: das Gesetz vom 18. Januar 1996 über physische Kultur1, danach das Gesetz vom 29. Juli 2005 über qualifizierten (professionellen) Sport2. Aktuell gilt seit dem 16. Oktober 2010 in diesem Bereich das Gesetz vom 25. Juni 2010 über Sport3. In allen oben erwähnten Rechtsakten wurde in irgendeiner Weise die Frage der Sportdisziplinarverantwortlichkeit geregelt. Das aktuell geltende Sportgesetz normiert diese in einem eingeschränkten Umfang. Es beinhaltet lediglich folgende Regelung: In Art. 9 Abs. 4 bestimmt das Gesetz lediglich, dass die Hauptversammlung der Mitglieder oder Delegierten des polnischen Sportverbands eine Disziplinarordnung erlässt. Art. 13 Abs. 1 Punkt 3 des Sportgesetzes sieht vor, dass bei Sportwettbewerben, die vom polnischen Sportverband veranstaltet werden, der Sportverband das ausschließliche Recht zur Bestimmung und Durchführung von Disziplinarmaßnahmen hat. Art. 16, der die Aufsicht des Sportministers über Tätigkeiten von polnischen Sportverbänden regelt, bestimmt in Abs. 2, dass von der Aufsicht des Ministers Entscheidungen des Vorstands polnischer Sportverbände ausgenommen sind, die Disziplinar- und Ordnungsangelegenheiten betreffen und mit der Veranstaltung oder der Durchführung des Sportwettbewerbs verbunden sind. Art. 43 Abs. 6 sieht des 1
GBl. v. 2007 Nr. 226, Pos. 1675 mit Änderungen. GBl. Nr. 155, Pos. 1298 mit Änderungen. 3 GBl. Nr. 127, Pos. 857 mit Änderungen. 2
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Andrzej J. Szwarc
Weiteren vor, dass bei Anwendung von Dopingmitteln im Sport die Zuständigkeit für die Disziplinarverantwortung (deren Grenzen in Rechtsverordnungen bestimmt wird) bei Subjekten – insbesondere bei polnischen Sportverbänden – liegt, die eine Sporttätigkeit leiten. Obwohl die Entwürfe dieses Gesetzes4 eine breitere Regelung der Sportdisziplinarverantwortung, der Tätigkeit im Sport von Schiedsgerichten und des Schiedsgerichtsverfahrens sowie auch der Tätigkeit des Schiedsgerichtshofs in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee vorsahen, blieben diese Vorschriften in der vom Parlament erlassenen Fassung unberücksichtigt. Der damals beschlossene Verzicht, Regelungen über den Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee ins Sportgesetz und die Sportdisziplinarverantwortung aufzunehmen, beruhte nicht auf einer bedingungslosen Überzeugung von der Entbehrlichkeit solcher Regelungen. Ohne es definitiv auszuschließen, dass solche Regelungen geschaffen werden, wurde folgendes eingewandt: 1. Es sollten keine überflüssigen Regelungen geschaffen werden, insbesondere wenn bereits Rechtsnormen existieren, die einen entsprechenden Regelungsbereich abdecken (dies betrifft insbesondere das sportliche Schiedsverfahren und die Regelungen in Art. 1154 – 1217 der Zivilprozeßordnung5, die – wie behauptet wird – eine hinreichende rechtliche Grundlage für die Schiedsgerichtsbarkeit bei Vermögensstreitigkeiten und anderen Streitigkeiten im Sport darstellen. Solche Streitigkeiten könnten nach diesem Verfahren von ständigen Schiedsgerichten entschieden werden, die für Sport zuständig sind – wie z. B. der Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee – oder von für konkrete Streitigkeiten geschaffenen Schiedsgerichten). 2. Es sollten keine Rechtsregelungen in Angelegenheiten geschaffen werden, die noch bestimmte Zweifel oder Kontroversen auslösen, bevor alles geklärt ist, was grade auf das Disziplinarverfahren (insbesondere in Sportangelegenheiten) zutrifft. Diese Zweifel und Kontroversen betreffen u. a. die Frage, ob die Disziplinarverantwortung ein Element des rein privaten oder eines privat-öffentlichen Verhältnisses ist. Die Entscheidung dieser Frage beeinflusst die Lösungen hinsichtlich einer Reihe von weiteren mit dieser Verantwortung verbundenen Problemen. 3. Bestimmte Rechtsvorschriften bezüglich des Sports (hier konkret bezüglich der Sportdisziplinarverantwortung) sollten ohne unnötigen Eingriff des Staates und des Rechts in die Sportangelegenheiten unter Berücksichtigung der Autonomie von Sportorganisationen geschaffen werden. Ihre Autonomie kann bzw. muss 4
Regierungsentwurf in der Fassung v. 28. 08. 2009 und Abgeordnetenentwurf in der Fassung v. 14. 05. 2009. 5 Gesetz vom 17. 11. 1964 – Zivilprozeßordnung (einheitliche Textversion: GBl. v. 2011 Nr. 138, Pos. 807).
Sportdisziplinarverantwortlichkeit im polnischen Recht
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nur in Fällen der bedingungslosen Notwendigkeit eingeschränkt werden oder wenn ohne einschlägige Gesetzesregelungen den von den Sportorganisationen geschaffenen Vorschriften hätte vorgeworfen werden können, dass sie mit dem geltenden Recht kollidieren. Im Falle der Sportdisziplinarverantwortung betrifft dies z. B. die gesetzliche Legitimierung der Verhängung von Disziplinarstrafen, die schon ihrem Wesen nach bürgerliche Rechte und Freiheiten manchmal einschränken. Ein Beispiel hierfür ist der Ausschluss eines professionellen Sportlers von der Teilnahme am Sportwettbewerb, was für den Betroffenen im Grunde eine Einschränkung der Ausübung des Berufes und der Wahl des Arbeitsortes bedeutet und somit einen Eingriff in die in Art. 65 Abs. 1 der polnischen Verfassung garantierte Freiheit darstellt, die nur durch ein Gesetz eingeschränkt werden darf. Ohne diese Frage hier definitiv zu entscheiden, müssen solche Probleme vor der Schaffung von entsprechenden Rechtsvorschriften in Erwägung gezogen werden. Unter Berücksichtigung oben genannter Voraussetzungen, wurde in Polen neulich eine Änderung des Sportgesetzes durch Aufnahme bestimmter neuer Regelungen zur Sportdisziplinarverantwortlichkeit vorgeschlagen. Es sollte ein neues Kapitel mit dem Titel: „Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee und der Sportdisziplinarverantwortung“ in das Gesetz eingeführt werden. Darin sollten folgende Vorschriften enthalten sein: Art. 45 a 1. Beim Polnischen Olympischen Komitee nimmt der Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten seine Tätigkeit auf, der im Folgenden als „Sportgerichtshof“ bezeichnet wird. 2. Der Sportgerichtshof ist: 1) ein ständiges Schiedsgericht, das auf der Grundlage von Vorschriften aus dem 5. Teil der Zivilprozessordnung tätig ist, 2) ein Berufungsorgan bezüglich der endgültigen Disziplinarentscheidungen in der zweiten Instanz der polnischen Sportverbände. 3. Die Organisation des Sportgerichtshofs und sein Verfahren bestimmt der Vorstand des Polnischen Olympischen Komitees. Dabei berücksichtigt er in den Regelungen zum Berufungsverfahren bei endgültigen Disziplinarentscheidungen der Disziplinarorgane der zweiten Instanz polnischer Sportverbände die Grundsätze aus Art. 45b Abs. 2. 4. Der Sportgerichtshof besteht aus 24 Schiedsrichtern, die durch den Vorstand des Polnischen Olympischen Komitees für die Dauer von 4 Jahren berufen werden. 5. Schiedsrichter kann eine Person sein, 1) welche die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, 2) welche die höhere juristische Ausbildung absolvierte und eine Berechtigung zur Ausübung des Berufs eines Richters, Staatsanwalts, Anwalts oder Rechtsberaters hat, bzw. – unabhängig von einer solchen Berechtigung – den akademischen Titel des Doktors der Rechte erworben hat; 3) die nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat bestraft wurde;
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Andrzej J. Szwarc 4) der die bürgerlichen Ehrenrechte nicht aberkannt wurden; 5) die im Sportbereich das für die Ausübung der Tätigkeit eines Schiedsrichters notwendige Wissen und die Erfahrung hat.
6. Der Vorstand des Polnischen Olympischen Komitees ruft einen Schiedsrichter in folgenden Fällen ab: 1) wenn er auf das Amt des Schiedsrichters verzichtet; 2) wenn er wegen einer vorsätzlichen Straftat rechtskräftig verurteilt wurde; 3) wenn ein dauerhaftes Hindernis in der Ausübung des Schiedsrichteramtes auftritt. 7. Im Falle einer Abberufung des Schiedsrichters oder seines Todes wird ein neuer Schiedsrichter einberufen. 8. Die Tätigkeit des Sportgerichtshofs als Berufungsorgan bezüglich der Disziplinarentscheidungen der Organe der polnischen Sportverbände wird aus dem Anteil des Staatsbudgets kofinanziert, welches dem für physische Kultur und Sport zuständigen Minister zur Verfügung steht. Art. 45 b 1.
Sportdisziplinarverantwortlichkeit im polnischen Sportverband wird nach den in der Disziplinarordnung bestimmten Regeln vollzogen.
2.
Der polnische Sportverband bestimmt in der Disziplinarordnung insbesondere Subjekte, die Disziplinarverantwortung trifft, Taten, für die Disziplinarverantwortung droht, Grundsätze der Disziplinarverantwortung, Arten der Disziplinarstrafen, Disziplinarorgane und ihre Zuständigkeiten sowie das Disziplinarverfahren unter Berücksichtigung, dass bei diesem Verfahren folgende Grundsätze gelten: die Unschuldsvermutung, das Recht auf Verteidigung, die Öffentlichkeit der Verfahrensdurchführung und der Rechtsmittelweg in zwei Instanzen.
3.
Disziplinarstrafen können insbesondere Strafen sein, deren Wesen in Folgendem besteht: 1) Ausschluss aus dem Sportverband oder von der Teilnahme am Sportwettbewerb oder einer anderen Form der Aktivität im Sportverband oder -verein, 2) Aberkennung bzw. Feststellung der Nichtigkeit eines Titels oder Ergebnisses, der bzw. das beim Sportwettbewerb oder einer anderen Sportaktivität erlangt wurde, 3) die Herabstufung eines Sportteams in eine niedrigere Wettbewerbsliga. 4) finanzielle Nachteile, insbesondere Geldstrafe, 5) Aberkennung eines materiellen oder persönlichen Vorteils.
4.
Gegen die endgültige Disziplinarentscheidung eines Disziplinarorgans in der zweiten Instanz des polnischen Sportverbands kann durch die Verfahrenspartei beim Sportgerichtshof innerhalb einer Frist von 14/30 Tagen6 ab der Zustellung der mit Gründen zu versehenden Entscheidung Berufung eingelegt werden.
6 Die Frist zur wirksamen Berufungseinlegung wurde in Art. 45b Abs. 4 alternativ bestimmt: 14 bzw. 30 Tage ab dem Tag des Eingangs der mit einer Begründung zu versehenden Entscheidung. Die vorgeschlagene 14-tägige Frist findet ihre Begründung darin, dass insbe-
Sportdisziplinarverantwortlichkeit im polnischen Recht 5.
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Der Sportgerichtshof: 1) berücksichtigt keine Berufung, die nach Ablauf der Frist von einer unbefugten Person eingelegt wurde; dies gilt auch für eine Berufung, die aus rechtlichen oder disziplinarrechtlichen Gründen unzulässig ist; 2) berücksichtigt keine Berufung, die für unbegründet erklärt wurde und erhält die Entscheidung aufrecht; 3) hebt eine Entscheidung auf, bei der das Disziplinarorgan das Wesen der Sache verkannt hat oder das Beweisverfahren durchgeführt werden muss; in einem solchen Fall wird die Entscheidung an das Organ zurückverwiesen; 4) verändert die angefochtene Entscheidung: zu Ungunsten des Beschuldigten nur bei Berufung zu seinen Ungunsten und nur in den Grenzen der Anklage, zu Gunsten des Beschuldigten sowie Mitbeschuldigter, selbst wenn diese keine Berufung eingelegt haben, soweit auf sie dieselben Umstände zutreffen.
6.
Gegen die Disziplinarentscheidung des Sportgerichtshofs kann durch die Verfahrenspartei – über den Sportgerichtshof – Berufung zum Obersten Gericht (Berufungsgericht in Warschau)7 innerhalb einer Frist von 14/308 Tagen ab der Zustellung der mit einer Begründung zu versehenden Entscheidung eingelegt werden.
7.
Der Sportgerichtshof leitet die Berufung an das staatliche Gericht innerhalb einer Frist von 7 Tagen ab dem Tage des Eingangs der Berufung weiter.
8.
In dem im Punkt 6 genannten Fall kann der Sportgerichtshof die Berufung berücksichtigen, ohne dass die Berufung an das staatliche Gericht weitergeleitet wird.
9.
Beim Verfahren, das vor dem staatlichen Gericht durchgeführt wird, finden die Vorschriften der Strafprozessordnung bezüglich der Beschwerde Anwendung, ausgenommen Art. (noch offene Frage).
10. Das staatliche Gericht entscheidet über die Berufung innerhalb einer Frist von 60 Tagen ab dem Eingang der Berufung beim staatlichen Gericht.
In den vorgeschlagenen Vorschriften ist die gesetzliche Regelung der Tätigkeit des Schiedsgerichtshofs in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee nur in einem eingeschränkten Umfang vorgesehen. Unentschieden bleiben jedenfalls die bislang kontroversen Fragen dieser Verantwortlichkeit. Der Entwurf beschränkt sich somit nur auf die notwendige Regelung von grundlegenden Aspekten.
sondere beim Sport möglichst schnell über eine weitere Teilnahme der bestraften Person definitiv entschieden werden soll. 7 Es handelt sich dabei um einen alternativen Vorschlag, bei dem die definitive Entscheidung für eine Möglichkeit einer gründlichen Analyse bedarf. 8 Vgl. Fn. 6.
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Andrzej J. Szwarc
II. Der Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee Der Vorschlag einer gesetzlichen Regelung (in Form von Art. 45a) hinsichtlich des Schiedsgerichtshofs in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee steht in Verbindung mit einer eventuellen gesetzlichen Regelung der Sportdisziplinarverantwortung. Der Sportgerichtshof sollte nämlich – wie in der bisherigen Praxis – auch als gesetzlich vorgesehenes Organ an der Umsetzung dieser Verantwortung mitwirken. Eine gesetzliche Grundlage für die Tätigkeit des Schiedsgerichtshofs in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee wäre in Form von Art. 45a Abs. 1 und 2 geschaffen. Ihre Schaffung ist im Grunde überflüssig.9 Für die Einführung der vorgeschlagenen Regelung spricht jedoch die Tatsache, dass nicht alle polnischen Sportverbände dem Appell gefolgt sind, eine Regelung vorzusehen, nach der gegen die endgültigen Disziplinarentscheidungen in der zweiten Instanz der polnischen Sportverbände Berufung zum Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee eingelegt werden kann. Da solche Regelungen von polnischen Sportverbänden aktuell nicht erzwungen werden können, ist es – im Hinblick auf diejenigen, die eine Berufung gegen endgültige Disziplinarentscheidungen polnischer Sportverbände beim Gerichtshof einlegen möchten – erwünscht, eine solche gesetzliche Grundlage zu schaffen, die das ermöglichen würde. Obwohl – wie bereits angemerkt – eine gesetzliche Regelung im Fall des Schiedsgerichtshofs in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee für die Aufnahme der Tätigkeit als ständiges Schiedsgericht überflüssig ist, wäre es jedoch erwünscht, wenn die Zuständigkeiten des Sportgerichtshofs in ausführlicher Weise, d. h. auch unter Berücksichtigung seiner Funktion als Schiedsgericht geregelt wären. In Art. 45a Abs. 3 wird das Polnische Olympische Komitee berechtigt, Regelungen zu schaffen, die die Organisation des Sportgerichtshofs und das Verfahren in den unter seine Zuständigkeit fallenden Angelegenheiten betreffen. Diese Lösung beruht auf zwei Überlegungen: 1. Die Schaffung der erwähnten Regelungen durch das Polnische Olympische Komitee geht auf eine lange und gefestigte Tradition zurück. Eine solche Bestimmung beinhaltet auch frühere Rechtsregelungen, als (zur Geltungszeit früherer 9
Die Überflüssigkeit folgt daraus, weil der Gerichtshof auch ohne eine solche Regelung beide Funktionen erfüllen kann und weiterhin erfüllen könnte. Die beiden in Art. 45a Abs. 2 genannten Funktionen betreffen: 1) Die Funktion eines ständigen Schiedsgerichtshofs auf der Grundlage von Vorschriften des fünften Teils der Zivilprozeßordnung, der eine vollkommen ausreichende Rechtsgrundlage dafür vorsieht; 2) Die Funktion einer Berufungsinstanz gegen endgültige Disziplinarentscheidungen der Disziplinarorgane der zweiten Instanz polnischer Sportverbände, was – ohne gesetzliche Regelung – auf der Grundlage entsprechender Regelungen polnischer Sportverbände möglich wäre.
Sportdisziplinarverantwortlichkeit im polnischen Recht
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Rechtsakten bezüglich des Sports) die Tätigkeit des Sportgerichtshofs auf einer gesetzlichen Grundlage beruhte und in gewissem Umfang geregelt war. 2. Es gibt keine Gründe, die eine staatliche Ingerenz in Form einer gesetzlichen Regelung über die Tätigkeit des Sportgerichtshofs bedingungslos erzwingen oder zumindest rechtfertigen würden. Diese Kompetenz dem Polnischen Olympischen Komitee zu überlassen ist gleichzeitig ein Zeichen der erwünschten Hochschätzung der Autonomie von Sportorganisationen in Sportangelegenheiten. Gleichzeitig wird betont, dass die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Tätigkeit des Sportgerichtshofs dessen Bedeutung stärkt, erwünschte Zuständigkeit gewährleistet (indem Bedingungen, die ein Schiedsrichter erfüllen soll, genannt werden) und Unabhängigkeit absichert (durch die Bestimmung, dass Schiedsrichter ausschließlich vom Vorstand des Polnischen Olympischen Komitees – also ohne Einmischung anderer Subjekte, darunter auch Organe der öffentlichen Gewalt – berufen werden). Eine weitere Garantie für die Unabhängigkeit des Sportgerichtshofs ist der in Art. 45a Abs. 4 vorgesehene Richterwechsel nach Ablauf einer Kadenz sowie die Möglichkeit der Abberufung von Schiedsrichtern nur wegen weniger Gründe, die in Art. 45a Abs. 6 enumerativ aufgezählt sind. Die in Art. 45a Abs. 8 vorgeschlagene Regelung wird für erwünscht oder gar unabdingbar gehalten mit der Begründung, dass – abgesehen von den mit der Tätigkeit des Sportgerichtshofs als Schiedsgericht verbundenen Kosten, die von den Streitparteien eines solchen Verfahrens getragen werden können – die Gebühren für Berufungen gegen Disziplinarentscheidungen der Sportverbände in der zweiten Instanz die Verfahrenskosten in solchen Sachen vor dem Sportgerichtshof nicht ausgleichen. Für dieses Ziel müssen Mittel aus der Staatskasse vorgesehen werden. Dafür spricht die Tatsache, dass die Möglichkeit der Berufung – zum einen gegen Disziplinarentscheidungen der Sportverbände in zweiter Instanz und zum anderen eventuell auch gegen Entscheidungen des Gerichtshofs – bei staatlichen Gerichten gesetzlich vorgesehen wurde.
III. Sportdisziplinarverantwortlichkeit 1. Rechtsgrundlage der Sportdisziplinarverantwortlichkeit in den polnischen Sportverbänden Der vorgeschlagene Art. 45b Abs. 1 wäre eine gesetzliche Grundlage für den Vollzug der Sportdisziplinarverantwortlichkeit in den polnischen Sportverbänden und würde diese zur Umsetzung dieser Verantwortlichkeit im eigenen Verband verpflichten. Durch die Verwendung des Ausdrucks „Sportdisziplinarverantwortlichkeit im polnischen Sportverband“ würde die Regelung über den Vollzug der Sportdisziplinarverantwortlichkeit durch polnische Sportverbände nur solche, im Rahmen des Verbandes als Funktionäre tätige Personen betreffen, über die der Verband „Herr-
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schaft“ hat, also bei solchen Personen, die deutlich in den Regelungen des Verbandes bestimmt sind. 2. Disziplinarordnung Der Verzicht auf eine detaillierte Regelung der Sportdisziplinarverantwortlichkeit und die Übergabe dieser Berechtigung an polnische Sportverbände (die solche Bestimmungen in die Disziplinarordnung aufnehmen könnten) zeigt, dass die vorgeschlagenen Vorschriften die Autonomie polnischer Sportverbände achten und eine flexible Gestaltung dieser Verantwortlichkeit durch polnische Sportverbände ermöglichen. Die Berücksichtigung entsprechender Regelungen von internationalen Sportorganisationen wird durch die Mitgliedschaft polnischer Sportverbände in solchen Organisationen gewährleistet. Durch die Verwendung des Wortes „insbesondere“ schließt diese Vorschrift nicht aus, dass auch andere (über die in der Vorschrift expressis verbis erwähnten Aspekte hinaus) mit der Sportdisziplinarverantwortlichkeit verbundene Probleme von den polnischen Sportverbänden geregelt werden könnten. Art. 45b Abs. 2 erwähnt „Subjekte, die der Disziplinarverantwortung unterliegen“. Dadurch wird bei den polnischen Sportverbänden erzwungen, dass solche Subjekte, die im Verband als Funktionäre tätig sind und über die der Verband eine gewisse „Herrschaft“ ausübt, genau bestimmt werden. Durch die verwendete Bezeichnung „Subjekte“ schließt die Vorschrift nicht aus, dass (abgesehen von der Verantwortung natürlicher Personen) der Disziplinarverantwortung auch „Sammelsubjekte“ (juristische Personen, organisatorische Einheiten) wie z. B. Vereine oder Sportteams unterliegen (was im Sport zu einer gängigen Praxis und verfestigten Tradition geworden ist). Daran ändern auch eventuelle Vorbehalte nichts, dass Disziplinarverantwortung – ähnlich wie strafrechtliche Verantwortung – von ihrer „Natur“ aus eine Art Verantwortung ist, die grundsätzlich natürliche Personen betrifft. Daher – ähnlich wie bei der Verantwortung juristischer Personen („Sammelsubjekte“) im polnischen Strafrecht – soll die Disziplinarsportverantwortlichkeit solcher Personen entsprechend der Verantwortung wegen Disziplinardelikten, die von natürlichen Personen begangen wurden, behandelt und geregelt werden. Sie kann entweder als „Disziplinarverantwortung“ (sensu largo), oder anderweitig (z. B. als Verantwortung von „Sammelsubjekten“ für Disziplinardelikte, die von natürlichen Personen begangen wurden) bezeichnet werden. Die kommentierte Vorschrift verwendet den Begriff „Taten unter Androhung der Disziplinarverantwortung“ (sein Pendant ist die Bezeichnung „Disziplinardelikte“). Gemeint sind damit Verhaltensweisen natürlicher Personen, die einer Disziplinarverantwortung unterliegen. Es wäre wahrscheinlich illusorisch zu erwarten, dass diese Taten (aufgrund des Bestimmtheitsgrundsatzes) so genau wie die unter Strafandrohung vorgesehenen Handlungen im Strafrecht beschrieben werden. Notwendig ist jedoch, schon aufgrund des repressiven Charakters der Disziplinarverantwortlich-
Sportdisziplinarverantwortlichkeit im polnischen Recht
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keit, dass (obwohl darüber polnische Sportverbände autonom entscheiden) auch solche Taten möglichst präzise bestimmt werden. Die Bezeichnung „Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit“ bezieht sich im vorgeschlagenen Art. 45b Abs. 2 sowohl auf die Disziplinarverantwortlichkeit von natürlichen Personen (z. B. ähnlich wie im Straf- und Übertretungsrecht die Bestimmungen zu Vorsatz und Fahrlässigkeit, zum Versuch oder der Beteiligung an der Tat) als auch auf die (aus der Natur der Sache unterschiedlich geregelte) Disziplinarverantwortlichkeit juristischer Personen (Sammelsubjekte) wegen Disziplinardelikten, die durch natürliche Personen begangen wurden. Der Begriff „die Arten der Disziplinarstrafen“ bezieht sich in der kommentierten Vorschrift sowohl auf Strafen, die aufgrund der Disziplinarverantwortlichkeit gegen natürliche Personen verhängt werden, als auch auf (aus der Natur der Sache manchmal andere) Strafen, die gegen juristische Personen („Sammelsubjekte“) aufgrund von Taten natürlicher Personen verhängt werden. Die Einführung dieses Begriffs soll die polnischen Sportverbände verpflichten, einen abschließenden Katalog von Disziplinarstrafen einzuführen, damit keine in der Disziplinarordnung nicht vorgesehenen Disziplinarstrafen verhängt werden. Ohne es kategorisch zu verlangen, wäre auch eine maßvolle Einführung von Disziplinarstrafen für die Disziplinardelikte in der Form von Sanktionen, die dem Spruchorgan ermöglichen, jede in den Disziplinarregelungen eines polnischen Sportverbands vorgesehene Disziplinarstrafe zu verhängen, wünschenswert. Dies gilt auch für Sanktionen, die dem Spruchorgan die – an sich erwünschte – Möglichkeit der Wahl der Strafe und somit der Anpassung der Schwere der Disziplinarmaßnahme an konkrete Umstände abschneiden. In dieser Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass die Autonomie polnischer Sportverbände in diesem Bereich durch entsprechende Regelungen von internationalen Sportorganisationen eingeschränkt sein kann, wenn sie für bestimmte Disziplinardelikte bestimmte Disziplinarstrafen vorsehen. Obwohl die polnischen Sportverbände eine gewisse Autonomie genießen, was dazu führt, dass in den polnischen Sportverbänden die Organstruktur unterschiedlich gestaltet werden kann, verdeutlicht die Bezeichnung „Disziplinarorgane und ihre Kompetenzen“ zum Einen, dass in solchen Organen Personen mitwirken sollten, die in einem Sportverband keine andere Funktion ausüben. Zum anderen wird damit klar gestellt, dass in jedem vorgesehenen Instanzenzug bestimmte Organe eine Bestrafung beantragen und andere darüber befinden können. Im Hinblick auf die Bezeichnung „Disziplinarverfahrensweg“ ist anzumerken, dass die vorgeschlagenen Vorschriften weder eine Regelung dieses Verfahrenswegs noch Bestimmungen über seine Regelungsweise vorsehen. Als erwünscht wurde jedoch angesehen, eine gesetzliche Regelung von bestimmten Verfahrensgrundsätzen (wie die Unschuldsvermutung, das Recht auf Verteidigung, Öffentlichkeit des Verfahrens, Rechtsmittelweg in zwei Instanzen) einzuführen. In der kommentierten Gesetzesregelung hat man bewusst und aus tiefer Überzeugung darauf verzichtet, sowohl eine direkte als auch eine entsprechende Anwendung
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von Vorschriften der Prozessordnungen des Straf-, Zivil- oder Verwaltungsverfahrens vorzusehen, obwohl dies in Regelungen zur Disziplinarverantwortung und zum Disziplinarverfahren in anderen Bereichen außerhalb des Sports manchmal praktiziert wird. Es wird nämlich vertreten, dass insbesondere beim Sport das Disziplinarverfahren nicht allzu formalisiert sein soll. Das Verfahren soll autonom von den Sportverbänden gestaltet werden, so dass spezifische Eigenschaften, die den Sport kennzeichnen, berücksichtigt werden können. Infolgedessen sollen Kontrollen von Disziplinarentscheidungen durch den Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee oder ein staatliches Gericht ausschließlich im Lichte der mit den früher genannten Grundsätzen konformen Regelungen aus der Disziplinarordnung eines konkreten polnischen Sportverbands stattfinden. Da eine erschöpfende Auflistung aller denkbaren Disziplinarstrafen aus den Disziplinarregelungen aller polnischen Sportverbände unmöglich ist, verzichtet Art. 45b Abs. 3 auf die Erwähnung von Strafen, die in den Disziplinarregelungen polnischer Sportverbände für bestimmte Taten vorgesehen werden können. Erwähnt werden nur Eigenschaften oder Merkmale von Maßnahmen, die solche Strafen darstellen. Dies bedeutet nicht, dass die in den Disziplinarordnungen vorgesehenen Strafen genauso heißen müssen. Es reicht, wenn sie die aufgelisteten Eigenschaften oder Merkmale aufweisen. Für solche Strafen würde auf diese Weise eine gesetzlich geforderte Grundlage für die Einschränkung von Bürgerrechten und -freiheiten durch Disziplinarmaßnahmen eingeführt. 3. Die Anfechtbarkeit von endgültigen Disziplinarentscheidungen zum Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee Art. 45b Abs. 4 sieht die Möglichkeit der Berufung durch die Verfahrenspartei gegen endgültige Disziplinarentscheidungen der Disziplinarorgane der zweiten Instanz polnischer Sportverbände zum Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee vor. Es handelt sich dabei um eine gesetzliche Regelung einer früheren Praxis, die sich in diesem Bereich etabliert hat. Es wäre gleichzeitig die Verwirklichung von kategorischen Anforderungen, die diesbezüglich durch internationale Sportorganisationen aufgestellt wurden, um die Anfechtbarkeit solcher Entscheidungen durch unabhängige Sportgerichte zu gewährleisten. Die Möglichkeit der Berufung zum Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee gegen eine Disziplinarentscheidung eines Disziplinarorgans der zweiten Instanz eines polnischen Sportverbands bedeutet, dass eine solche Berechtigung sich nicht auf die Entscheidungen eines Disziplinarorgans der ersten Instanz eines polnischen Sportverbands erstreckt. Dies gilt auch dann, wenn aufgrund des Versäumnisses der Berufungseinlegung bei der zweiten Instanz eines polnischen Sportverbands diese Entscheidung endgültig geworden ist.
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Die Berechtigung zur Einlegung der Berufung beim Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee ist also dadurch bedingt, dass die Möglichkeit der Kontrolle in allen Instanzen erschöpft wurde. 4. Die Anfechtbarkeit endgültiger Disziplinarentscheidungen beim staatlichen Gericht Im Entwurf sieht Art. 45 b Abs. 6 die Möglichkeit der Anfechtung einer Disziplinarentscheidung beim Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee und bei staatlichen Gerichten durch die Verfahrenspartei vor. Dies verwirklicht expressis verbis den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör – die Möglichkeit der Kontrolle einer endgültigen Disziplinarentscheidung durch ein staatliches Gericht (Art. 45 Abs. 1 und Art. 77 Abs. 2 der Verfassung der Republik Polen). Obwohl dieser Anspruch auch ohne gesetzliche Regelung garantiert wäre, entstünden ohne eine gesetzliche Verankerung Zweifel hinsichtlich der Zuständigkeit des staatlichen Gerichts und des Verfahrensweges in solchen Rechtssachen. In Bezug auf die Zuständigkeit eines staatlichen Gerichts wurden in der vorgeschlagenen Regelung drei Alternativen aufgezeigt, die den Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleisten sollten. Alternativ wurden folgende staatliche Gerichte vorgeschlagen: entweder das Oberste Gericht (welches bei bestimmten Rechtssachen dieser Art bereits nach dem älteren Rechtsstand zuständig war), das Warschauer Berufungsgericht (als einziges zuständiges Gericht in solchen Fällen für das ganze Land) oder jedes örtlich zuständige Berufungsgericht. Die erste und die zweite Alternative würden besser gewährleisten, dass solche Rechtssachen von (in dieser Art der Rechtssachen spezialisierten) Richtern erkannt werden, als im Falle des dritten Vorschlags. Die Tatsache, dass nur ein Gericht im ganzen Land zuständig ist, wäre in Sportkreisen auch schnell bekannt. Bei der Wahl zwischen den Alternativen sind aber auch andere Umstände zu berücksichtigen – u. a. die voraussichtliche Zahl solcher Rechtssachen und die Tatsache, dass das Oberste Gericht aufgrund seiner Autorität nur bei wichtigsten Rechtssachen einbezogen werden sollte. Im kommentierten Art. 45b Abs. 6 wird vorgeschlagen, die Wirksamkeit der Anfechtung davon abhängig zu machen, dass die Berufung über den Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee an das staatliche Gericht „während der Frist von 14/3010 Tagen ab dem Eingang der mit Begründung zu versehenden Entscheidung“ weitergeleitet wird. Art. 45b Abs. 7 bestimmt, dass der Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee die Berufung innerhalb von 7 Tagen ab dem Eingang der Berufung beim Gerichtshof an das staatliche Gericht weiterleitet.
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Vgl. Fn. 6.
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Mit der oben erwähnten Regelung in Art. 45b Abs. 6 (die Berufungseinlegung über den Schiedsgerichtshof in Sportangelegenheiten beim Polnischen Olympischen Komitee) ist die Regelung in Art. 45b Abs. 8 verbunden. Danach kann der Sportschiedsgerichtshof selbst der Berufung abhelfen, ohne sie an das staatliche Gericht weiterleiten zu müssen. Es wird vertreten, dass im Fall einer an das staatliche Gericht adressierten Berufung dem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur durch die Erkennung durch ein staatliches Gericht, sondern auch durch die Abhilfe durch den Sportschiedsgerichtshof stattgegeben wird. In Art. 45b Abs. 9 wurde vorgesehen, dass das aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör resultierende Berufungsverfahren vor dem staatlichen Gericht in Form des in der Strafprozessordnung geregelten (als relativ vereinfachten angesehenen) Beschwerdeverfahrens geführt werden sollte. Eventuell könnten auch bestimmte Vorschriften der Strafprozessordnung für unanwendbar erklärt werden. Alternativ wurde auch ein Verfahren mit entsprechender Anwendung der Vorschriften der Zivilprozessordnung in Erwägung gezogen. Für die Wahl der Strafverfahrensordnung spricht jedoch der repressive Charakter der Disziplinarverantwortung. Das bestätigt der repressive Charakter von Disziplinarmaßnahmen, von denen manche den im Strafrecht oder Übertretungsrecht vorgesehenen Strafen oder Strafmitteln ähneln bzw. mit ihnen vergleichbar sind. Zu berücksichtigen ist auch der Umstand, dass bei der Erkennung von Disziplinarsachen und der Vollstreckung der Disziplinarmaßnahmen die Beziehung zwischen dem Beschuldigten und dem Organ von einem für das Strafverfahren charakteristischen Verhältnis der Unterordnung geprägt ist. Das Zivilverfahren kennzeichnet dagegen die Gleichheit der Verfahrensparteien. Das Postulat, das Strafverfahren zu wählen, bestätigt auch die Tatsache, dass aufgrund des repressiven Charakters von Disziplinarmaßnahmen, von denen manche den im Strafrecht oder Übertretungsrecht vorgesehenen Strafen oder Strafmitteln ähneln, manchmal bei denselben Taten die Möglichkeit der strafrechtlichen und disziplinarischen Verantwortlichkeit in Frage gestellt wird, obwohl es sich dabei im Grunde um unterschiedliche Arten der Verantwortung handelt, die sich gegenseitig nicht ausschließen.
IV. Schlussbemerkungen Bei dem Regelungsentwurf handelt es sich um einen vorläufigen Vorschlag, der einer genauen und umsichtigen Analyse bedarf. In den weiteren Diskussionen über den Entwurf darf nicht der Umstand aus dem Blickfeld verloren werden, dass es sich dabei um Sportdisziplinarverantwortung handelt, die die von polnischen Sportverbänden organisierten Sportwettbewerbe betrifft. Sie betreffen also nicht Sport, der außerhalb der Organisationsstrukturen polnischer Sportverbände, insbesondere im Rahmen der in solchen Verbänden nicht organisierten Clubs betrieben wird. Diese Herangehensweise in den entworfenen Regelungen entspricht dem Gedanken
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einer gesetzlichen Regelung bezüglich lediglich solcher Sportprobleme, die in von den polnischen Sportverbänden organisierten Sportwettbewerben auftreten. Diese Idee wird in der eindeutigen Mehrheit der Rechtsregelungen des Sportgesetzes verkörpert. Dies schließt nicht die Möglichkeit aus, dass im Rahmen der Disziplinarverantwortung auch bestimmte Lösungen auf Sportwettbewerbe der in den Sportverbänden nicht organisierten Vereinigungen übertragen werden. In Fällen bezüglich der Dopingdisziplinardelikte verpflichtet Art. 43 Abs. 6 des Sportgesetzes zwar insbesondere die polnischen Sportverbände zur Verhängung der Disziplinarverantwortlichkeit, erstreckt diese Pflicht aber auch auf alle anderen Subjekte, die Sportwettbewerbe organisieren.
VI. Europäisches Strafrecht, Strafrechtsvergleichung
Zur Koordination des deutschen und europäischen Menschenrechtsschutzes im Lichte des Urteils des BVerfG vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ff.) zur Sicherungsverwahrung Von Andreas Voßkuhle*
I. Einleitung Die Sicherungsverwahrung kann als Grenzfall des Rechtsstaats1 bezeichnet werden: Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Mitteln darf sich eine Gesellschaft gegen von ihr als gefährlich eingestufte Individuen durch Freiheitsentziehung schützen? Die Antwort auf die Frage nach dem angemessenen Ausgleich zwischen dem Freiheitsrecht des Betroffenen und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit wird nicht allein durch nationales Verfassungsrecht determiniert, sondern hat sich zugleich auch an den Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auszurichten. Das Bundesverfassungsgericht stand daher in seiner Entscheidung vom 4. Mai 20112 vor der Herausforderung, die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der die rückwirkend verlängerte (§ 67d Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 2 Abs. 6 StGB) und die nachträglich angeordnete (§ 66b Abs. 2 StGB, § 7 Abs. 2 JGG) Sicherungsverwahrung wegen Verletzung von Art. 5 Abs. 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 7 Abs. 1 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) als konventionswidrig eingestuft hatte3, in seine eigene, die Sicherungsverwahrung bis dahin inhaltlich unbeanstandet lassende Rechtsprechung4 einzupassen. Die Lösung, die es insoweit gefunden hat, dürfte über den konkreten *
Für wertvolle Unterstützung bei der Erarbeitung des Beitrags danke ich meinem Akademischen Mitarbeiter im wissenschaftlichen Dienst am Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie Herrn Moritz Lange. 1 Volkmann, JZ 2011, 835. 2 BVerfGE 128, 326 ff. 3 EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland) = NJW 2010, 2495 ff. (Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahreshöchstfrist hinaus), und Urt. v. 13. 01. 2012 – 6587/04 (Haidn v. Deutschland) = NJW 2011, 3423 ff. (nachträgliche Sicherungsverwahrung). 4 BVerfGE 109, 133 ff., zur rückwirkend verlängerten Sicherungsverwahrung, und BVerfGE 109, 190 ff., zur nachträglichen Sicherungsverwahrung, die dort nur wegen fehlender Gesetzgebungszuständigkeit für verfassungswidrig erklärt worden war.
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Fall hinaus das künftige Verhältnis zwischen EGMR und BVerfG prägen. Sie soll im Folgenden im Hinblick auf ihre verallgemeinerungsfähigen Aussagen zum Verhältnis von EGMR und BVerfG näher beleuchtet werden.
II. Die Erforderlichkeit einer spezifischen Strategie zur Koordination deutschen und europäischen Menschenrechtsschutzes Damit die nebeneinander existierenden Menschenrechtsgarantien in Europa – zu nennen sind nicht nur die Grundrechte des Grundgesetzes und die Europäische Menschenrechtskonvention, sondern auch die vom EuGH entwickelten und in der Grundrechtecharta kodifizierten Grundrechte der Europäischen Union – volle Wirksamkeit entfalten können, bedarf es ihrer Koordination. Vorrangiges Ziel muss es sein, im Wege der inhaltlichen Parallelisierung Kollisionen5 der verschiedenen Ebenen zu beseitigen und der Entstehung künftiger Konflikte vorzubeugen. Inkohärenzen münden, wie der unterschiedliche Umgang der deutschen Gerichte mit den in Sicherungsverwahrung Untergebrachten nach dem Urteil des EGMR eindrücklich vor Augen geführt hat6, in Unsicherheiten darüber, welche der nebeneinander bestehenden Gewährleistungen nun Geltung beansprucht.7 Ein System von Grundrechtsordnungen, die einander regelmäßig korrigieren, droht zudem insgesamt an Akzeptanz zu verlieren.8 Nicht zuletzt kann durch die weitgehende Parallelisierung grundrechtlicher Garantien die Entstehung immer längerer Instanzenzüge vermieden werden. Koordinationsmaßnahmen dienen aber nicht nur der Abwehr derartiger Gefahren, sondern sie sollen auch den spezifischen Mehrwert erschließen, den die Koexistenz mehrerer, auf verschiedenen Normebenen angesiedelten Grundrechtsgewährleistungen verspricht: Die Öffnung einer Grundrechtsebene für Impulse der jeweils anderen kann Anstoß zur Schließung von Schutzlücken und zur Überprüfung alter Gewissheiten geben; sie erhöht dadurch insgesamt die Qualität des Grundrechtsschutzes.9 Besondere Bedeutung hat dies für die Einwirkung der EMRK auf nationale Grundrechtsregime, wurde sie doch auch aus der Einsicht heraus ins Leben gerufen, dass die nationalen Grund- und Menschenrechte während des Zweiten Weltkriegs keinen
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Siehe zum Begriff der Kollision Sauer, in: Matz-Lück/Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, 2012, S. 1, 5 f. 6 Während einige Gerichte die Sicherungsverwahrung für erledigt erklärten, lehnten andere eine Freilassung ab, s. dazu BVerfGE 128, 326, 343 f., m.w.N.; auch innerhalb des BGH war der Umgang mit der Entscheidung des EGMR umstritten, s. einerseits BGH, NStZ 2010, 567 f., andererseits BGH, NJW 2011, 240 ff. 7 Vgl. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473; Viellechner, EuGRZ 2011, 203. 8 Vgl. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473, 478. 9 Vgl. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473, 482 f.: „Qualitätswettbewerb der Grundrechtsordnungen“.
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wirksamen Schutz vermitteln konnten.10 Aber auch Akzeptanz und Wirkmächtigkeit europäischer und internationaler Menschenrechtsgewährleistungen können nur weiter zunehmen, wenn sie auf die in den Vertragsstaaten gewachsenen Rechtstraditionen Rücksicht nehmen und den staatlichen Gewährleistungen Raum zur eigenständigen Weiterentwicklung lassen. Diese Leitlinien gelten für alle Seiten des Grundrechtsdreiecks zwischen Grundgesetz, EMRK und dem Recht der Europäischen Union mit den zugehörigen Gerichten – BVerfG, EGMR und EuGH.11 Das bedeutet jedoch nicht, dass die Strategien zur gegenseitigen Abstimmung in allen Verhältnissen dieselben sein müssten. Zwar gelangen hier oftmals vergleichbare Bausteine zur Anwendung, etwa die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen, Subsidiaritäts- und Komplementaritätsregeln.12 Entsprechende dogmatische Figuren müssen jedoch auf Art und Inhalt der jeweils abzustimmenden Rechtsordnungen zugeschnitten sein. Während etwa die Beziehung zwischen BVerfG und EuGH durch die „Solange-II“-Rechtsprechung13 bis auf weiteres im Wesentlichen im Sinne der Subsidiarität des nationalen Grundrechtsschutzes gegenüber dem der supranationalen Europäischen Union als geklärt gelten darf, ist zur Koordinierung der Rechtsprechung des EGMR mit der des BVerfG auf andere, dem Verhältnis der Grundrechte zur Menschenrechtskonvention als „herkömmlichem“ völkerrechtlichen Vertrag angepasste Grundsätze zurückzugreifen.
III. Die Öffnung der deutschen Rechtsordnung für den Einfluss der EMRK In seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung konnte das Bundesverfassungsgericht auf die bereits in früheren Entscheidungen14 entwickelten Grundsätze über die weit reichende Öffnung des Grundgesetzes für den Einfluss der EMRK zurückgreifen. Auf dieser Grundlage maß es der Rechtsprechung des EGMR zur Sicherungsverwahrung eine wesentliche Bedeutung für seine eigene Entscheidungsfindung zu. 1. Ausgangspunkt: Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes Dass die Parallelisierung der nationalen Grundrechte mit den Menschenrechten der EMRK nicht nur zur Stärkung des Grundrechtsschutzes wünschenswert, sondern in Deutschland auch durch die Verfassung gefordert ist, entsprach schon vor 10 Grote, in: ders./Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 1 Rn. 10. 11 Zum Europäischen Verfassungsgerichtsverbund s. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 ff. 12 Vgl. dazu mit Beispielen Viellechner, Der Staat 2012, 559, 574 ff. 13 BVerfGE 73, 339 ff.; 102, 147 ff. 14 BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120; 111, 307, 315 ff.
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der Entscheidung des BVerfG über die Sicherungsverwahrung ständiger Rechtsprechung.15 Als völkerrechtlicher Vertrag, dem die Zustimmung gemäß Art. 59 Abs. 2 GG durch Gesetz erteilt wurde, verfügt die EMRK zwar nur über den Rang eines einfachen Bundesgesetzes.16 Als solche ist sie nach Art. 20 Abs. 3 GG wie anderes Gesetzesrecht zu beachten.17 Die insbesondere in den Art. 23 ff. GG zum Ausdruck kommende Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes18 verlangt aber darüber hinaus, die Vorgaben der EMRK als „Hilfe“ bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen, und wirkt damit als Scharnier für die Einwirkung der EMRK auf das Grundgesetz.19 In seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung hat das Bundesverfassungsgericht diese Berücksichtigungspflicht darüber hinaus pointiert mit dem in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltenen Bekenntnis zu den Menschenrechten begründet.20 Zwar wird der EMRK durch Art. 1 Abs. 2 GG ebenso wenig ein unmittelbarer Verfassungsrang eingeräumt wie durch die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Art. 1 Abs. 2 GG verdeutlicht aber, dass die grundrechtlichen Gewährleistungen den Kernbestand des menschenrechtlichen Mindeststandards abdecken sollen,21 weshalb die Menschenrechtskonvention notwendig zu ihrer Auslegung heranzuziehen ist. 2. Das Einwirkungspotential der Rechtsprechung des EGMR auf das Grundgesetz Die Heranziehung der EMRK als Auslegungshilfe bildet ihrerseits den Hebel, über den die Rechtsprechung des EGMR Einfluss auf das Verständnis des Grundgesetzes nimmt. In ihr spiegelt sich der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention wider22, deren Gewährleistungsgehalt infolge ihrer Eigenschaft als living instrument23, das sich auf die gegenwärtigen Verhältnisse in den Vertragsstaaten einstellt, ständiger Veränderung unterliegt. Wenn die Konvention bei der Auslegung des
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BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120; 111, 307, 317. BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120; 111, 307, 316 f.; 128, 326, 367. 17 BVerfGE 111, 307, 317. 18 BVerfGE 111, 307, 317 f.; zur Völkerrechtsfreundlichkeit Payandeh, JÖR N.F. 57 (2009), S. 465 ff. 19 BVerfGE 111, 307, 317 f.; 128, 326, 368; Volkmann, JZ 2011, 835, 837. 20 BVerfGE 128, 326, 368, zuvor auch schon BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 329. Gegen eine Überschätzung der Wirkung des Art. 1 Abs. 2 GG Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507, 509 f. 21 BVerfGE 128, 326, 369. Man kann daher nicht nur von der Völkerrechts-, sondern auch von der Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes sprechen. 22 BVerfGE 111, 307, 319. 23 EGMR, Urt. v. 25. 04. 1987 – 5856/72 (Tyrer v. Vereinigtes Königreich), Rn. 31; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 5 Rn. 12 ff. 16
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Grundgesetzes berücksichtigt wird, geschieht dies daher in der Interpretation, die sie durch ihren obersten Interpreten, den EGMR, gefunden hat.24 Ob den Judikaten des EGMR aus völkerrechtlicher Sicht eine solch weitreichende Wirkung in Deutschland zukommen muss, ist nicht gesichert: Die EMRK selbst misst den im Individualbeschwerdeverfahren ergangenen Feststellungsurteilen des Gerichtshofs in Art. 46 Abs. 1 ausdrücklich nur Bedeutung für den von ihm entschiedenen Streitgegenstand zu.25 In dessen Rahmen darf sich der Vertragsstaat nach der Feststellung eines Konventionsverstoßes nicht mehr darauf berufen, sein Handeln sei konventionsgemäß gewesen; Träger öffentlicher Gewalt im betreffenden Vertragsstaat müssen darauf hinwirken, die festgestellte Konventionsverletzung zu beseitigen.26 Die über den konkreten Streitgegenstand hinausreichende Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR könnte daher aus völkerrechtlicher Warte als eine freiwillige Reaktion auf seine Entscheidungen begriffen werden. Verbindlich wird die Orientierung an den Entscheidungen des EGMR in Deutschland aber jedenfalls durch die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Diese verpflichtet unter Anerkennung der „Leit- und Orientierungsfunktion“27 der Rechtsprechung des EMGR dazu, seine Urteile auch abseits des entschiedenen Streitgegenstands zu berücksichtigen und auf diese Weise Konflikten deutschen Rechts mit völkerrechtlichen Verpflichtungen vorzubeugen.28 Aus diesem Grund ließ das Bundesverfassungsgericht die Urteile des EGMR zur Sicherungsverwahrung nicht etwa unbeachtet, weil es dort um die Verfassungsmäßigkeit der Unterbringung anderer Personen als im konkret zur Entscheidung anstehenden Verfahren ging, sondern setzte sich eingehend mit ihnen auseinander. Die Rezeption der Aussagen des EGMR beschränkt sich aber nicht auf solche Fälle, in denen derselbe Streitgegenstand oder mit diesem inhaltlich praktisch deckungsgleiche Konstellationen betroffen sind. Vielmehr sucht das Bundesverfassungsgericht zur Vorbeugung gegen die Feststellung von Konventionsverletzungen auch in Bereichen, zu denen noch keine Entscheidung des EGMR vorliegt, eine Lösung zu finden, die geeignet ist, sich in dessen Rechtsprechung einzufügen. So enthält beispielsweise 24
BVerfGE 111, 307, 315, 325 f. BVerfGE 111, 307, 320; Grabenwarter, EuGRZ 2011, 229, 229 f. Hingegen geht Sauer (Fn. 5), S. 51 f., gestützt auf Art. 32 Abs. 1 EMRK, davon aus, die Entscheidungen des EGMR seien aus völkerrechtlicher Sicht bei der Interpretation der Konventionsgarantien als „authentische Interpretation“ zu berücksichtigen. 26 BVerfGE 111, 307, 321; Grabenwarter/Pabel (Fn. 23), § 16 Rn. 3. 27 BVerfGE 128, 326, 368; vgl. auch BVerfGE 111, 307, 320. 28 Vgl. auch Sauer (Fn. 5), S. 52: Völkerrechtsfreundlichkeit als „Konfliktvermeidungsstrategie“. In BVerfGE 128, 326, 368, misst das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des EGMR, die einen anderen Streitgegenstand betreffen, eine „zumindest faktische Präzedenzwirkung“ für die Auslegung der EMRK zu. Eine „über den Einzelfall hinausgehende, strenge Präjudizienbindung der mitgliedstaatlichen Gerichte“ erkennt es aber nicht an, a.a.O., S. 403. Zur Problematik s. Viellechner, in: Matz-Lück/Hong (Fn. 5), S. 109, 133 ff. Für eine deutliche Trennung des Umgangs mit Konventionsgarantien von dem mit Urteilen des EGMR Grabenwarter, EuGRZ 2011, 229, 229 f. 25
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der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur vorbehaltenen Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) vom 20. Juni 2012 hinsichtlich des gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. a) EMRK erforderlichen Kausalzusammenhangs zwischen Verurteilung und Bestrafung eine umfassende Analyse der Rechtsprechung des EGMR, der selbst über die Vereinbarkeit dieses Instituts mit der Konvention noch nicht entschieden hatte.29 3. Gewährleistung der dauerhaften Aufnahmefähigkeit der nationalen (Verfassungs-)Rechtsordnung für neue Impulse Soll die Konvention ihre Anstoßfunktion zur immer neuen Überprüfung des nationalen Menschenrechtsschutzes voll entfalten können, so müssen die Rechtsordnungen der Vertragsstaaten zu jeder Zeit in der Lage sein, Impulse der Rechtsprechung des EGMR aufzunehmen. Dem entspricht die völkerrechtliche Verpflichtung der Konventionsstaaten, innerhalb der nationalen Rechtsordnung jedes Hindernis zu beseitigen, das der Bereinigung einer Konventionsverletzung entgegenstehen könnte.30 In Art. 41 EMRK erkennt die Menschenrechtskonvention aber zugleich Grenzen der Anpassungsfähigkeit innerstaatlichen Rechts an. So genügt in Fällen entgegenstehender Rechtskraft nationaler Gerichtsentscheidungen zur Restitution in der Regel die Leistung einer gerechten Entschädigung.31 Nichtsdestoweniger hat das Bundesverfassungsgericht den Entscheidungen des EGMR in seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung eine rechtskraftdurchbrechende Wirkung zugesprochen: Gestützt auf den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, der die Vermeidung künftiger Konflikte nationalen Rechts mit völkerrechtlichen Bindungen verlangt, erkennt es an, dass Judikate des EGMR einer Änderung der Sach- und Rechtslage gleichstehen können.32 Sie verfügen mithin über die erforderliche Kraft, um den Weg zu einer erneuten Kontrolle einer Norm – hier der Vorschriften über die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 3 i.V.m. § 2 Abs. 6 StGB) – frei zu machen, auch wenn diese zuvor durch das Bundesverfassungsgericht für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt worden war. Der oben hervorgehobene enge Zusammenhang zwischen dem Inhalt der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR sowie die Intensität, mit welcher die Rechtsprechung des EGMR auf das Grundgesetz einwirkt, werden dadurch untermauert. 29
BVerfG, EuGRZ 2012, 458, 467 ff. In dieselbe Richtung – Vorbeugung gegen die künftige Feststellung einer Konventionsverletzung – geht es, wenn das BVerfG in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 die Nichtigerklärung der Vorschriften über die nachträgliche und die rückwirkend verlängerte Sicherungsverwahrung zur Vermeidung künftiger Konventionsverstöße mit der Aussage verband, solche Maßnahmen würden praktisch nur noch bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 lit. e) EMRK (psychische Erkrankung) in Betracht kommen (BVerfGE 128, 326, 396 ff.), s. dazu Payandeh/Sauer, Jura 2012, 289, 296, und noch unten IV.2. 30 EGMR, Urt. v. 17. 02. 2004 – 39748/98 (Maestri v. Italien), Rn. 47. 31 Vgl. BVerfGE 111, 307, 325; Ruffert, EuGRZ 2007, 245, 249. 32 BVerfGE 128, 326, 364 f.
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IV. Keine vollständige Parallelisierung des deutschen und europäischen Menschenrechtsschutzes Durch die beschriebenen Konstruktionen sind alle Voraussetzungen für eine möglichst umfassende Einwirkung der Rechtsprechung des EGMR auf das Grundgesetz – und die deutsche Rechtsordnung insgesamt – geschaffen. Zweck der Öffnung des Grundgesetzes für den Einfluss der Konvention ist aber nicht, die Deckungsgleichheit von deutschem und europäischem Menschenrechtsschutz herbeizuführen. Im Gegenteil: Anzustreben ist ein wechselseitiger dynamischer Rezeptionsprozess. 1. Die EMRK als menschenrechtlicher Mindeststandard Weder die EMRK noch das GG fordert die vollständige Übereinstimmung von europäischem und deutschem Menschenrechtsschutz. Eine solche Vollparallelisierung wäre vielmehr kontraproduktiv: Die EMRK versteht sich gemäß ihrem Art. 53 ausdrücklich als Mindeststandard, der von den menschenrechtlichen Gewährleistungen in den Vertragsstaaten übertroffen werden kann. Der EGMR versucht, diesen Mindeststandard dem in den 47 Konventionsstaaten herrschenden Schutzniveau durch eine behutsame – wenn auch in Teilbereichen mittlerweile höchst ausdifferenzierte – Rechtsprechung anzupassen; insbesondere dort, wo sich im Geltungsbereich der Konvention ein einheitliches Niveau nicht herausgebildet hat, erkennt er den Vertragsstaaten einen Beurteilungsspielraum zu.33 Aber nicht nur die EMRK, sondern auch das Grundgesetz selbst stünde einer Absenkung des Grundrechtsschutzes durch den Einfluss der in der Normenhierarchie rangniedrigeren Konvention entgegen.34 Deutlich wird das insbesondere an Art. 1 Abs. 2 GG, aus dessen Wortlaut und systematischer Stellung sich ergibt, dass das Grundgesetz den Kernbestand der Menschenrechte unter der Prämisse aufgenommen hat, dass diese einen Mindeststandard bilden.35 Daher konnte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung ohne Weiteres über die Verurteilung durch den EGMR hinausgehen und nicht nur die von diesem beurteilten Fallgruppen, sondern die Sicherungsverwahrung insgesamt wegen Verstoßes gegen das in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG wurzelnde Abstandsgebot36 für verfassungswidrig erklären. Dies muss nicht als Akt der „Befreiung“37 des BVerfG aus einer fremdbestimmten Situation38, sondern kann auch schlicht als Ausdruck einer ohnehin selbstbestimmten, auf die Schlüssigkeit des nationalen Grundrechtssystems bedachten Aufnahme der Konvention gewertet wer-
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EGMR, Urt. v. 16. 12. 2010 – 25579/05 (A, B und C v. Irland), Rn. 232 ff., m.w.N. BVerfGE 74, 358, 370; 83, 119, 128; 111, 307, 317; 128, 326, 367 f. 35 Vgl. BVerfGE 111, 307, 329; 128, 326, 369. 36 BVerfGE 128, 326, 374 ff. 37 Volkmann, JZ 2011, 835, 839. 38 Volkmann, JZ 2011, 835, 836.
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den.39 Eine Überschreitung des Mindeststandards der Konvention in den Vertragsstaaten birgt auch nicht die eingangs40 beschriebenen Gefahren, die grundsätzlich mit unterschiedlichen Schutzstandards der auf mehreren Ebenen verteilten Menschenrechtsgewährleistungen verbunden sein können. Die Gewährleistung eines höheren Schutzniveaus durch die nationalen Rechtsordnungen ist keine Kollision, sondern Teil einer der Funktion der EMRK adäquaten – hier durch sie selbst positivierten – Koordination.41 2. Die Notwendigkeit eines aktiven Rezeptionsvorgangs Die EMRK fordert auch keine Nivellierung der verschiedenen Gewährleistungsebenen durch die übereinstimmende Ausgestaltung des Menschenrechtsschutzes im Grundgesetz wie in der Konvention. Im nationalen Recht muss der Weg, auf dem die Konvention den Menschenrechtsschutz sichert, nicht durch die Angleichung von Begriffen und Gewährleistungsgehalten einzelner menschenrechtlicher Garantien nachgezeichnet werden.42 Zwar kann eine solche Harmonisierung bei einem Zurückbleiben des nationalen Menschenrechtsschutzes hinter dem durch die Konvention geforderten Standard durchaus zweckmäßig sein.43 Der Anspruch der EMRK an das nationale Recht ist jedoch rein ergebnisorientiert.44 Die Konvention achtet, wie nicht zuletzt Art. 41 EMRK belegt, die gewachsenen nationalen Rechtsordnungen und überlässt es diesen, das geforderte Schutzniveau auf eine mit dem sonstigen innerstaatlichen Recht kohärente Weise zu erreichen. Dies bedeutet insbesondere, dass keine völkerrechtliche Verpflichtung dazu besteht, übereinstimmende Begriffe der EMRK und des Grundgesetzes mit demselben Inhalt aufzufüllen. Aus der Ergebnisorientierung der Konvention ergibt sich die anspruchsvolle Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Vorgaben des EGMR unter Schonung der bestehenden dogmatischen Strukturen in den Kontext des Grundgesetzes zu implementieren.45 Dieser Vorgang der „aktiven Rezeption“46 ist nicht etwa Ausdruck eines 39 Siehe zur „aktiven Rezeption“ der Rechtsprechung des EGMR noch sogleich unter IV.2. Dass die – nach dem Urteil des EGMR zu Art. 7 EMRK: übermäßige – Annäherung der Sicherungsverwahrung an die Strafe nicht nur mit dem Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), das mit dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG „eng verwandt“ (BVerfGE 128, 326, 392) ist, in Konflikt gerät, sondern auch mit dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil der faktischen „Bestrafung“ des Sicherungsverwahrten die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zur Verfolgung des mit der Freiheitsentziehung verbundenen präventiven Zwecks fehlt, liegt nicht fern (a. A. Volkmann, JZ 2011, 835, 840). Im Gegenteil ist nicht ersichtlich, warum die Nähe zur Strafe in beiden Zusammenhängen unterschiedlich beurteilt werden sollte. 40 s. o. II. 41 Sauer (Fn. 5), S. 41 f. 42 BVerfGE 128, 326, 370 f. 43 BVerfGE 128, 326, 370. 44 BVerfGE 128, 326, 370. 45 BVerfGE 111, 307, 327; 128, 326, 371.
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blinden Beharrens auf dem „letzten Wort“.47 Er trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, dass die Konvention, die durch den EGMR so ausgelegt wird, dass ihre Vorgaben in allen Mitgliedstaaten des Europarats rezipiert werden können,48 in Deutschland auf Menschenrechtsgarantien trifft, die im Kontext nicht nur einer Gesamtverfassung, sondern einer umfassenden und ausdifferenzierten Rechtsordnung zu sehen sind.49 Aus systematischen und rechtsstaatlichen Gründen dürfen die in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Grundsätze und Begriffsverständnisse daher nicht schematisch50 auf das nationale Recht übertragen werden. Kennt etwa das nationale Recht die Unterscheidung zwischen repressiver Freiheitsstrafe und präventiver Sicherungsverwahrung, braucht diese Zweispurigkeit nicht schon deshalb aufgegeben zu werden, weil der EGMR51 beide Institute unter dem Begriff der „Strafe“ zusammenfasst. Allein entscheidend ist, dass im Ergebnis ein der Konvention entsprechendes Schutzniveau erreicht wird. Das Bundesverfassungsgericht bewerkstelligte dies in seinem Urteil dadurch, dass es die rückwirkend verlängerte Sicherungsverwahrung nicht dem absoluten Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterwarf, sondern unter Fortsetzung seiner bisherigen Rechtsprechung am Maßstab des sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebots überprüfte.52 Den durch den EGMR formulierten Anforderungen trug es im Rahmen der grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung, wo es ihnen eine den Vertrauensschutz der Untergebrachten verstärkende, diesen an einen absoluten Vertrauensschutz annähernde Wirkung zusprach.53 An dieser Vorgehensweise zeigt sich exemplarisch, wie die Einwirkung der Rechtsprechung des EGMR auf die Grundrechte vonstatten gehen kann, ohne gewachsene Begriffsverständnisse des nationalen Rechts über Bord werfen zu müssen. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu, der eine weitreichende und wirkungsvolle Berücksichtigung konventionsrechtlicher Vorgaben ermöglicht. Er dürfte künftig die entscheidende Schaltstelle für eine Koordinierung des deutschen und europäischen Menschenrechtsschutzes bilden.54
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BVerfGE 128, 326, 370. Das BVerfG begreift das „letzte Wort“ als „normative Grundlage“ eines Rechtsprechungsdialogs, BVerfGE 128, 326, 369. 48 BVerfGE 128, 326, 393: „Die Unabhängigkeit der Begriffsbildung des EGMR und die damit notwendig verbundene Flexibilität und Unschärfe tragen der rechtlichen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt der Mitgliedstaaten des Europarats Rechnung“. 49 BVerfGE 128, 326, 370. 50 BVerfGE 111, 307, 323 f.; 128, 326, 370. 51 EGMR, NJW 2010, 2495, 2498 f. 52 BVerfGE 128, 326, 388 ff., 392 f. 53 BVerfGE 128, 326, 391 ff. 54 Vgl. BVerfGE 111, 307, 324; 128, 326, 371; s. auch Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507, 511: „(Schlüssel)Rolle des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“. 47
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Zur kollisionsfreien Aufrechterhaltung dogmatischer Figuren des nationalen Rechts kann es darüber hinaus erforderlich sein, vom EGMR eingeräumte Beurteilungsspielräume zu erkennen und in einer den Erfordernissen des nationalen Rechts adäquaten Weise auszufüllen.55 Diese Strategie verfolgte das Bundesverfassungsgericht auch in seiner Entscheidung zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011.56 In dieser stützte es die Anordnung der übergangsweisen modifizierten Weitergeltung der angegriffenen Vorschriften unter Verweis auf den insoweit bestehenden Beurteilungsspielraum auch auf die nach der EMRK vorhandene Möglichkeit der Freiheitsentziehung bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung (Art. 5 Abs. 1 lit. e) EMRK).57 3. Rezeptionshemmnisse Die Aufnahmebereitschaft des Grundgesetzes gegenüber der EMRK stößt nur in wenigen Fällen auf absolute Grenzen. Deren Existenz beruht auf dem in Deutschland unter der Ebene des Verfassungsrechts angesiedelten Rang der EMRK. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes kann der Konvention daher nur dort Einfluss auf die Auslegung der Verfassung vermitteln, wo dies mit dem demokratischen und rechtsstaatlichen System des Grundgesetzes noch vereinbar ist.58 Hieraus ergibt sich im Zusammenspiel mit Art. 1 Abs. 2 GG zum einen das schon oben benannte Verbot der Minderung des Grundrechtsschutzes durch die Einwirkung der EMRK. Konflikte zwischen der EMRK und den Grundrechten können insoweit aber nur in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen auftreten, in denen die Stärkung des Grundrechtsschutzes des einen zugleich die Schwächung des Grundrechtsschutzes des anderen bedeutet.59 In einem solchen Fall kann auch die „Koexistenznorm“60 des Art. 53 EMRK nicht über die Kollision hinweghelfen. Angesichts des destabilisierenden Effekts inhaltlicher Kollisionen61 sollte daher erwogen werden, den Vertragsstaaten einen Spielraum bei der Austarierung der menschenrechtlichen Positionen mehrerer Parteien zu belassen.62 Ohnehin sind die nationalen Gerichte eher dafür geeignet, einen solchen Ausgleich zu schaffen: Anders als im Verfahren vor dem EGMR sind im nationalen Ausgangsverfahren regelmäßig beide Parteien am Rechtsstreit beteiligt. Die widerstreitenden Interessen können dort daher besonders gut ab55
Vgl. Sauer (Fn. 5), S. 44 f.: „margin of appreciation als Koexistenzinstrument“. Vgl. auch den Hinweis auf durch den EGMR anerkannte eigenständige Beurteilungsspielräume nationaler Gerichte in BVerfGE 120, 180, 208. 57 BVerfGE 128, 326, 397, 406. 58 BVerfGE 111, 307, 318. 59 BVerfGE 128, 326, 371. 60 Begriff bei Sauer (Fn. 5), S. 41 f. 61 s. o. II. 62 Zum Vorschlag einer „Korridor-Lösung“ s. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492, 499; Lübbe-Wolff, in: Hochhuth (Hrsg.), Nachdenken über Staat und Recht, 2010, S. 193 ff., jeweils m.w.N. 56
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gebildet werden.63 Dass Konflikte zwischen EMRK und Grundgesetz in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen eine erhebliche Bedeutung erlangen werden, ist allerdings nicht zu erwarten.64 Das Bundesverfassungsgericht erkennt bei der Kontrolle zivilgerichtlicher Entscheidungen an, dass der Ausgleich gegenläufiger Grundrechtspositionen oftmals auf verschiedene verfassungskonforme Arten bewerkstelligt werden kann.65 Dieser Spielraum kann auch zur Harmonisierung mit der Rechtsprechung des EGMR genutzt werden. So konnte etwa der in der „Caroline-Entscheidung“ des EGMR66 vorgenommene Ausgleich zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht in der deutschen Grundrechtsrechtsprechung konfliktfrei verarbeitet werden, indem das BVerfG das alte67 wie das neue, auf der Entscheidung des EGMR beruhende Schutzkonzept68 des BGH als verhältnismäßigen Ausgleich der gegenläufigen Positionen billigte.69 Eine Verminderung des Grundrechtsschutzes durch den Einfluss der EMRK kommt mithin nicht in Betracht. Einflüssen der Konvention, die ein „Mehr“ an Schutzgewähr verlangen, steht das Grundgesetz hingegen sehr aufgeschlossen gegenüber. Eine äußerste Grenze ist lediglich dort erreicht, wo ein konventionsfreundliches Verständnis der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze auch bei Ausschöpfung der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht möglich ist.70 Dieselbe Grenze gilt wegen des sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Gesetzesvorrangs auch für den Einfluss der Konvention auf einfaches Bundesrecht, dessen Rang sie teilt.71 Dabei ist allerdings davon auszugehen, dass der Gesetzgeber durch neu geschaffenes Recht keine Konventionsverletzung begehen will, das Eingreifen des Grundsatzes lex posterior derogat legi priori im Verhältnis zur Konvention mithin nicht der Regelfall ist.72
63
Vgl. BVerfGE 111, 307, 328; Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507, 512. Vgl. Hong, in: ders./Matz-Lück (Fn. 5), S. 251, 290 ff. 65 Vgl. BVerfGE 120, 180, 208 ff., m.w.N.; Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492, 496, m.w.N. 66 EGMR, Urt. v. 24. 06. 2004 – 59320/00 (von Hannover v. Deutschland) = NJW 2004, 2647 ff. 67 BGHZ 131, 332 ff. 68 BGHZ 171, 275 ff. 69 Zum alten Schutzkonzept BVerfGE 101, 361 ff.; zum neuen BVerfGE 120, 180, 210 ff.; s. dazu Hong (Fn. 64), S. 285 ff. 70 BVerfGE 111, 307, 329; 128, 326, 371. Als prägnantes Beispiel hierfür hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung über die Sicherungsverwahrung den Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes benannt, der auch im Rahmen der europäischen Integration nicht angetastet werden darf (BVerfGE 123, 267, 344). 71 BVerfGE 111, 307, 329; 128, 326, 371. Zu den Grenzen der verfassungs- und konventionskonformen Auslegung der §§ 67d Abs. 3 S. 1, § 66 Abs. 2, § 2 Abs. 6 StGB und § 7 Abs. 2 JGG s. BVerfGE 128, 326, 400 ff. 72 BVerfGE 74, 358, 370. Zur Problematik, ob ein bewusstes Abweichen des Gesetzgebers von der Konvention möglich ist, s. Payandeh, DÖV 2011, 382, 389 f., m.w.N. Ein solches 64
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V. Zur Rollenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte Was folgt aus diesen Grundsätzen über die Koordination deutschen und europäischen Menschenrechtsschutzes für die Rollenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte? Beide haben im Verbund je spezifische Aufgaben wahrzunehmen und tragen dadurch gemeinsam zur Wirksamkeit eines hochentwickelten und kohärenten Menschenrechtsschutzes bei. 1. Der EGMR als oberster Interpret der EMRK Auch wenn der EGMR in dem nach der Konvention vorgesehenen Instanzenzug (Art. 35 Abs. 1 EMRK) über dem Bundesverfassungsgericht rangiert und nach dem Beitritt der Europäischen Union zur EMRK auch über dem Europäischen Gerichtshof stehen wird73, wäre seine Beschreibung als Europas „oberstes“ Verfassungsgericht unzutreffend. Ihm obliegt vielmehr ein spezifischer Rechtsschutzauftrag, den er im Zusammenwirken mit den anderen Gerichten auf europäischer und nationaler Ebene erfüllen muss. Der EGMR ist oberster Interpret der EMRK. Seine Funktion besteht allein darin, auf die Gewährleistung eines menschenrechtlichen Mindestniveaus in den Konventionsstaaten zu achten (Art. 53 EMRK). Zu diesem Zweck formt der EGMR einen gemeinsamen europäischen Grundrechtsstandard. Eine große Herausforderung für ihn besteht dabei darin, seine Rechtsprechung so fortzuentwickeln, dass sie in den unterschiedlichen rechtlichen „Umgebungen“ der 47 Mitgliedstaaten des Europarats akzeptiert und rezipiert werden kann. Hierzu kann einerseits die inhaltliche Orientierung an der Rechtsprechung der staatlichen Gerichte beitragen, insbesondere aber die Anerkennung staatlicher Beurteilungsspielräume dort, wo sich unter den Mitgliedstaaten kein einheitlicher Standard herausgebildet hat.74 Auch die mit ihrem Verständnis als living instrument verbundene Dynamik der Konvention kann unter Umständen zur Harmonisierung und Steigerung ihrer Akzeptanz genutzt werden.
wird nur dort in Betracht kommen, wo die Konvention nicht vermittelt durch Verfassungsrecht Einfluss auf die Wirksamkeit des betreffenden Gesetzes nehmen kann. 73 Schon jetzt behält sich der EGMR die Überprüfung von Rechtsakten der Vertragsstaaten vor, die auf zwingendes EU-Recht zurückgehen, EGMR, Urt. v. 30. 06. 2005 – 45036/98 (Bosphorus v. Irland) = NJW 2006, 197 ff. 74 Sauer (Fn. 5), S. 44 f.
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2. Das Bundesverfassungsgericht als oberster Interpret des Grundgesetzes und Mittler zwischen deutschem und europäischem Menschenrechtsschutz Das Bundesverfassungsgericht hingegen ist oberster Interpret des Grundgesetzes. Die Berücksichtigung des Einflusses der EMRK erweitert diese Aufgabe um eine Dimension, deren Bedeutung mit der voranschreitenden Ausdifferenzierung der Rechtsprechung des EGMR wächst. Infolge der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes stellt sich das Bundesverfassungsgericht bei seiner Tätigkeit in den Dienst der Konvention75 und wirkt so an der Entstehung eines starken europäischen Menschenrechtsraums mit. Der EGMR ist zur Durchsetzung seiner Feststellungsurteile auf die Mitwirkung der nationalen Träger öffentlicher Gewalt angewiesen. Er selbst kann auf die Vertragsstaaten nur von außen einwirken und – entsprechend der Ergebnisorientierung der Konvention – keine Vorgaben dazu machen, auf welche Weise seiner Rechtsprechung innerstaatlich Rechnung zu tragen ist.76 In den Vertragsstaaten ist es Sache aller Träger öffentlicher Gewalt, die notwendigen Maßnahmen zur Beseitigung einer Konventionsverletzung zu ergreifen. Dem Bundesverfassungsgericht kommt dabei eine besondere Rolle zu. Nicht nur entscheidet es im Rahmen des beschriebenen aktiven Rezeptionsprozesses letztverbindlich darüber, auf welche Weise der Konvention auf höchster nationaler Rechtsebene Rechnung zu tragen ist. Kann das Grundgesetz in einer den Vorgaben der EMRK entsprechenden Art und Weise ausgelegt werden, so verfügt das Gericht auch über alle Mittel, Konventionsverletzungen in vergleichsweise kurzer Zeit abzustellen.77 Insbesondere hat es die Möglichkeit, konventionswidriges Gesetzesrecht teilweise oder vollständig aufzuheben. Seine besondere Implementierungsfunktion kommt dabei auch darin zum Ausdruck, dass das Gericht zur Vermeidung eines „rechtlichen Vakuums“78 Übergangsregelungen für den Umgang mit für verfassungswidrig erklärten Vorschriften in Kraft setzen kann.79 Ohne ein derartiges Rechtsfolgenmanagement wären die Konsequenzen des EGMR-Urteils zur Sicherungsverwahrung zu scharf ausgefallen: Die aus der Nichtigerklärung der einschlägigen Normen an sich folgende sofortige Freilassung sämtlicher Personen, die sich in nachträglich angeordneter oder rückwirkend verlängerter Sicherungsverwahrung befanden – unter ihnen höchstgefährliche Gewalttäter – hätte eine unmittelbare Gefahr für hochrangige Schutzgüter wie Leib und Leben potentieller Verbrechensopfer bedeutet.80
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BVerfGE 111, 307, 328. Ruffert, EuGRZ 2007, 245, 249. 77 Vgl. dazu Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507, 512. 78 BVerfGE 128, 326, 405. 79 Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507, 512. 80 Zur staatlichen Schutzpflicht zugunsten potentieller Verbrechensopfer s. BVerfGE 109, 133, 186. 76
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Soweit nicht das Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts betroffen ist oder der Gesetzgeber tätig wird, sind es idealerweise die mit der Gesetzesanwendung befassten nationalen Behörden und Fachgerichte, die konventionswidrige Zustände beenden. Das Bundesverfassungsgericht wacht darüber, dass alle Träger öffentlicher Gewalt die Konvention berücksichtigen: Eine Verletzung der Berücksichtigungspflicht kann der Bürger gestützt auf das jeweils einschlägige Grundrecht in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), das die Anwendung der Konvention gebietet, im Wege der Verfassungsbeschwerde rügen.81 Diese verfassungsgerichtliche Kontrolle der Konventionsrechtskonformität der Handlungen nationaler Stellen führt nicht nur zu einer Steigerung der „Präsenz“ der Konvention in der nationalen Rechtsordnung82, sondern entfaltet in Verbindung mit der Anerkennung der Leit- und Orientierungsfunktion der Entscheidungen des EGMR auch eine entlastende Wirkung: Konventionsverletzungen wird auf diese Weise schon im innerstaatlichen Bereich effektiv vorgebeugt. Die damit einhergehende Abkürzung des Rechtswegs kann dazu beitragen, dem durch hohe Fallzahlen stark belasteten83 EGMR den erforderlichen Raum zu geben, um sich seiner spezifischen Aufgabe, der kohärenten Weiterentwicklung der EMRK, im Wege der Entscheidung von Präzedenzfällen widmen zu können.84 Zugleich wird auf diese Weise sichergestellt, dass sich die nationalen Gerichte – spätestens das Bundesverfassungsgericht – als Teile des innerstaatlichen Instanzenzugs vor der Einschaltung des EGMR mit der Auslegung der Konvention auseinandergesetzt haben. Wie seine neuen Urteile zur Sicherungsverwahrung mit ihren umfassenden Ausführungen zu Art. 5 Abs. 1 lit a)85 und lit. e)86 EMRK belegen, misst das Bundesverfassungsgericht der vorausschauenden Harmonisierung seiner Rechtsprechung mit den Anforderungen der EMRK eine erhebliche Bedeutung bei. Die Interpretation der Konvention aus der Sicht nationaler Gerichte und ihre Anwendung auf bislang durch den EGMR noch nicht entschiedene Sachverhalte können diesem Hinweise darauf geben, wie eine die nationalen rechtlichen Strukturen schonende Auslegung der Konvention aussehen könnte. Soweit sich der EGMR diesen Erwägungen öffnet oder sie durch die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen unbeanstandet lässt, kann dies – unter Rückgriff auf einen bislang vorwiegend zur Kennzeichnung des Verhältnisses von EuGH und nationalen Gerichten verwendeten Begriff87 – als Ausdruck einer auf die Konvention bezogenen Interpretationsgemeinschaft zwischen EGMR, BVerfG und anderen staatlichen Gerichten angesehen werden. 81
BVerfGE 111, 307, 329 f. Zur akzeptanzsteigernden Wirkung der Rezeption der EGMR-Rechtsprechung durch das BVerfG s. Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507, 513 f. 83 Zur Arbeitsbelastung des EGMR s. Jestaedt, JZ 2011, 872, 873 ff. 84 Vgl. Ruffert, EuGRZ 2007, 245, 250, m.w.N. 85 BVerfG, EuGRZ 2012, 458, 467 ff. 86 BVerfGE 128, 326, 396 ff. 87 Haltern, VerwArch 2005, 311, 345. 82
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VI. Schluss In seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung hat das Bundesverfassungsgericht die besondere Offenheit des Grundgesetzes für den Einfluss der EMRK bestätigt. Die rechtlichen und praktischen Folgen dieser Öffnung – Anstoß zur Nichtigerklärung der Sicherungsverwahrung in ihrer bisherigen Ausgestaltung – sind gravierend.88 Das Urteil beweist aber zugleich, dass der Einfluss der EMRK auch in derartigen Fällen nicht zu einer Nivellierung paralleler Gewährleistungen von Konvention und Grundgesetz führen muss. Die Konvention als menschenrechtlicher Mindeststandard für Europa und das Grundgesetz als vollwertige nationale Verfassung bedürfen der je eigenständigen, wenn auch auf bestmögliche Koordination gerichteten Auslegung. Die Verantwortung für die Abstimmung von EMRK und Grundgesetz trifft im Rahmen ihrer spezifischen Aufgaben alle beteiligten Akteure. Das Bundesverfassungsgericht versteht seine Entscheidung zur Sicherungsverwahrung denn auch als Teil eines „internationalen und europäischen Dialogs der Gerichte“89, in dessen Rahmen es einerseits die Vorgaben des EGMR möglichst weitgehend in die nationale Rechtsordnung integriert, ihm andererseits aber auch Angebote zum künftigen Umgang mit der Konvention unterbreitet.90 Nur durch einen solchen Austausch kann einem Menschenrechtsstandard, der in 47 Staaten mit sehr unterschiedlich ausgeprägtem Grundrechtsschutz greifen soll, nachhaltig zu Durchsetzung und Akzeptanz verholfen werden.
88
Zu den Folgen für die Sicherungsverwahrung s. überblicksmäßig etwa Kinzig, StraFO 2011, 429 ff.; Peglau, NJW 2011, 1924 ff.; Streng, JZ 2011, 827 ff.; und speziell die Diskussionen zum künftigen Umgang mit Altfällen bei Höffler/Stadtland, StV 2012, 239 ff.; Morgenstern, ZIS 2011, 974 ff.; Nußstein, StV 2011, 633 ff., die insbesondere den Begriff der „psychischen Störung“ betreffen; zur Überwachung entlassener gefährlicher Straftäter durch die Polizei Greve/v. Lucius, DÖV 2012, 97 ff.; zur gesetzlichen Neuregelung Cornel, NJ 2012, 2 ff.; Anders, JZ 2012, 498 ff. 89 BVerfGE 128, 326, 369. 90 Vgl. auch Viellechner, EuGRZ 2011, 203: „Responsivität“ der verschiedenen Rechtsordnungen zueinander; ders., Der Staat 2012, 559 ff.: „Responsiver Rechtspluralismus“.
Harmonisierung ohne Harmonie? Zur Bedeutung der Strafrechtsdogmatik für Art. 83 AEUV Von Manfred Maiwald
I. Der Ausgangspunkt: Harmonisierung nach Art. 83 AEUV Die Harmonisierung des europäischen Strafrechts, die in gewissem Umfang als wünschenswert angesehen wird, bereitet bekanntlich erhebliche Schwierigkeiten. Sieht man einmal von der Schaffung originär europäischer Strafnormen ab, die dem Schutz der finanziellen Interessen der EU dienen, und die von der wohl h. M. als zulässig angesehen werden1, so ist das Mittel einer solchen Harmonisierung das in Art. 83 AEUV geregelte Verfahren des Erlasses von „Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen“, das im Wege von Richtlinien zu geschehen hat. Die Richtlinien müssen dann in nationales Recht umgesetzt werden. Die erwähnten Schwierigkeiten für die Harmonisierung des Strafrechts in Europa bestehen darin, dass das Strafrecht mehr noch als andere Rechtsgebiete tief in den Kulturtraditionen der einzelnen Staaten verwurzelt ist. Jeder der Staaten legt Wert darauf, dass er seine eigene Entscheidung über den Bestand der jeweils im Inland geltenden Strafnormen treffen kann. Zu beachten ist jedoch, dass der Umstand der Verwurzelung in den Kulturtraditionen mehrere verschiedenartige Dimensionen aufweist. Da ist zunächst der Bestand von Strafnormen in einem äußerlichen Sinne. An Beispielen aus dem Besonderen Teil des StGB gezeigt, dürfte in Deutschland als „traditionell“ in diesem Sinne anzusehen sein die Existenz eines gegenüber der einfachen vorsätzlichen Tötung hervorgehobenen Tatbestands des Mordes, auch wenn die heutige Fassung des § 211 StGB erst auf eine Neuformulierung des Jahres 1941 zurückgeht2, und auch wenn das StGB der ehemaligen DDR im Jahre 1968 bis zum Ende der DDR geset1
Vgl. etwa Walter, ZStW 117 (2005), 917; Hecker, in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht post Lissabon, 2011, S. 27; Vogel, in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht post Lissabon, 2011, S. 48. Den Gegenstandpunkt vertritt z. B. Sturies, HRRS 2012, 273. 2 Zur deutschen Rechtstradition in dieser Hinsicht vgl. Schaffstein, Abhandlungen zur Strafrechtsgeschichte, 1986, S. 103 ff.; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, BT, Teilbd. 1, 10. Aufl. 2009, § 2 Rn. 1 ff.
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zestechnisch den Mord einfach als vorsätzliche Tötung umschrieb und den Totschlag als Privilegierung z. B. für die sogenannte Kindstötung, aber auch für unbenannte mildernde Tatumstände formulierte3. Als traditionell zu gelten hat im deutschen Strafrecht auch der Tatbestand der Rechtsbeugung, der dem römischen Recht unbekannt ist.4 Aber selbstverständlich hat auch der Allgemeine Teil des Strafrechts in den europäischen Staaten seine jeweils eigenständige Tradition. Man braucht nur einmal ein Lehrbuch des französischen, englischen, spanischen, italienischen Strafrechts zum Allgemeinen Teil durchzumustern, um solche traditionellen Unterschiede in großer Zahl und in großer Deutlichkeit zu entdecken. Hier wird dann eine weitere Dimension der Traditionen sichtbar: Sie äußert sich in der Verschiedenheit der jeweiligen Strafrechtsdogmatik und deren Begrifflichkeit. Um diese Verschiedenheiten und die Möglichkeit von deren „Harmonisierung“ in Europa soll es im Folgenden gehen. Der Begriff „Tradition“ muss jedoch in diesem Zusammenhang relativiert werden. Denn die heutige Ausdifferenzierung der Strafrechtsordnungen in Kontinentaleuropa hat ihren Ursprung vor allem in der Entwicklung der Nationalstaatlichkeit im 19. Jahrhundert, während zuvor – nicht zuletzt im Zeitalter der Aufklärung – der Sache nach das Phänomen eines europäischen Strafrechts als Idee durchaus vorhanden war. Kennzeichnend für das dann darauf folgende nationalstaatliche Denken des 19. Jahrhunderts ist etwa die Klage Karl Bindings, bei der Schaffung des preußischen Strafgesetzbuchs 1851 habe sich der Gesetzgeber, von endlosen Vorarbeiten ermüdet, „schließlich einfach dem französischen Rechte in die Arme“ geworfen, ein Umstand, der für Binding Grund für scharfe Kritik war.5 Für die Harmonisierung des Strafrechts in Europa gem. Art. 83 AEUV können die erwähnten traditionellen Ausdifferenzierungen des Strafrechts in den Einzelstaaten dann eine Rolle spielen, wenn es um die Frage geht, ob das sogenannte Notbremseverfahren gem. Art. 83 Abs. 3 AEUV zulässig ist. Mit diesem Verfahren können solche Mitgliedstaaten, die beim Beschluss über eine Richtlinie gem. Art. 83 Abs. 1 AEUV – für die eine qualifizierte Mehrheit erforderlich, aber auch ausreichend ist – überstimmt worden sind, ein besonderes Verfahren in Gang setzen, das den Erlass der Richtlinie verhindern kann. Das kann dann u. U. zur Anwendung der „Bestimmungen über die verstärkte Zusammenarbeit“ führen.
3 §§ 112, 113 StGB der DDR. Bis 1987 war dort fakultativ für den Mord die Todesstrafe vorgesehen. 4 Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, BT, Teilbd. 2, 9. Aufl. 2005, § 77 Rn. 5. 5 Binding, Handbuch des Strafrechts I, 1885,S. 46; dazu Hartmann, Der Einfluß des französischen Rechts auf das preußische Strafgesetzbuch von 1851 (Allgemeiner Teil), ungedr. Diss., Göttingen, 1922, passim.
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II. Strafrechtsdogmatische Lösungen als „grundlegende Aspekte“? Der Terminus, der die Voraussetzung der Einleitung des Notbremseverfahrens umschreibt, ist der, dass der betreffende Mitgliedstaat der Auffassung ist, dass eine geplante Richtlinie „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren“ würde. Und solche Aspekte können eben in den nationalstaatlichen Besonderheiten der verschiedenen Strafrechtsordnungen in Europa liegen. Freilich: Zwei Umstände sind nach der Formulierung des Art. 83 Abs. 3 AEUV relevant, wenn das Notbremseverfahren eingeleitet werden soll. Zum einen müssen die Aspekte „grundlegend“ sein – dass überhaupt eine nationale Besonderheit berührt wird, genügt also nicht.6 Und zum andern soll es genügen, wenn der betreffende Mitgliedstaat subjektiv der Ansicht ist, die Berührung solcher grundlegender Aspekte seiner Rechtsordnung finde statt. Ob dies objektiv zutrifft, bleibt außerhalb der Betrachtung.7 Lässt man die letztere Subjektivierung einmal außer Betracht, so hängt also dann, wenn durch eine Richtlinie das europäische Strafrecht harmonisiert werden soll, und wenn dadurch die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats geändert werden soll, die Möglichkeit eines Notbremseverfahrens davon ab, ob diese Änderung („Berührung von Aspekten“) der Rechtsordnung grundlegende Gesichtspunkte betrifft oder eben nur als einfache Änderung anzusehen ist. Welche Aspekte sind in diesem Sinne grundlegend? Auf diese Frage drängt sich vor allem die Antwort auf, dass für einen Mitgliedstaat solche Aspekte als grundlegend anzusehen sind, die in seiner Verfassung verankert sind. So werden – sicher mit Recht – für die Bundesrepublik Deutschland das Rückwirkungsverbot und das Schuldprinzip als in diesem Sinne grundlegend bezeichnet.8 Aber problematisch wird die Sache bei solchen nationalen Weichenstellungen, die dem Bereich der Strafrechtsdogmatik zuzurechnen sind.
6 Die englische Version des Textes spricht von fundamental aspects, die französische von aspects fondamentaux, die italienische von aspetti fondamentali. 7 Suhr, in: Calliess/Ruffert, EUV – AEUV, Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 83 AEUV Rn. 30 verlangt insofern immerhin, dass der betreffende Mitgliedstaat begründen müsse, welche grundlegenden Aspekte durch den Richtlinien-Entwurf betroffen seien. Gründe der politischen Opportunität reichten für die Ablehnung nicht aus. Hecker (Fn. 1) spricht hinsichtlich der Beurteilung als „fundamental“ von einer nicht überprüfbaren Einschätzungsprärogative des betreffenden Mitgliedstaates. Doch liege in einem Missbrauch des Notbremseverfahrens eine Verletzung der unionsrechtlichen Treuepflichten gem. Art. 4 Abs. 3 EUV vor, auf welchen die Kommission mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens reagieren könne. Das führt freilich zu der Frage, ob damit nicht die Einschätzungsprärogative wieder ausgehebelt wird. 8 Hecker (Fn. 1), S. 26.
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III. Beispiele nationalstaatlicher Besonderheiten strafrechtsdogmatischer Art Einige Beispiele sollen das Problem unterschiedlicher Strafrechtsdogmatik als einem denkbaren fundamentalen Aspekt beleuchten: 1. Das französische Strafrecht kennt nicht die dem deutschen Strafrecht geläufige Figur der unechten Unterlassungsdelikte der Art, dass – abgesehen von den durch die sogenannte Entsprechensklausel ausgeschlossenen Fällen – bei Vorhandensein einer Garantenstellung die Strafbarkeit auch hinsichtlich solcher Delikte begründet werden kann, die in ihrer tatbestandlichen Fassung nur ein positives Tun umschreiben. Eine dem § 13 des deutschen StGB entsprechende Vorschrift existiert im französischen Nouveau code pénal nicht, und es gab sie auch zuvor nicht. Diese Rechtslage wird aus dem Bestimmtheitsgebot gefolgert: „La règle d‘interprétation stricte interdit en effet tout assimilation d‘omission à une action positive seule prévue par la loi.“9 Bezüglich der Fahrlässigkeitsdelikte wird die Frage des Unterlassens entsprechend der besonderen Struktur dieses Deliktstyps in Frankreich zwar anders gesehen.10 Denn fehlerhaftes und in diesem Sinne fahrlässiges Verhalten kann im Unterlassen gebotener sorgfältiger Handlungen ebenso gesehen werden wie im fehlerhaften positiven Tun. Am Beispiel gezeigt: Ein Arzt, der sorgfaltswidrig eine gebotene Operation unterlässt, so dass der Patient zu Tode kommt, tötet ebenso fahrlässig wie der Arzt, der die Operation mit tödlichem Ausgang fehlerhaft ausführt. Aber für die Vorsatzdelikte wird, wie gesagt, ein allgemeines Garantenunterlassen ausgeschlossen. Gehört nun diese Ablehnung einer generellen Möglichkeit des strafbaren Garantenunterlassens zu den grundlegenden Aspekten des französischen Strafrechts? Spielt diese Auffassung gegebenenfalls bei der Schaffung von „Mindestvorschriften“ gem. Art. 83 AEUV eine Rolle? Rein praktisch dürfte das Beispiel im augenblicklichen Zeitpunkt wohl nicht relevant werden, da Art. 83 AEUV nur auf bestimmte Kriminalitätsbereiche Bezug nimmt, die allerdings gem. Art. 83 Abs. 1 UA 3 AEUV durch weitere Bereiche ergänzt werden können. Denn eine etwaige Unterlassungsstrafbarkeit, sollte sie für die in Frage kommenden Kriminalitätsbereiche als erforderlich angesehen werden, könnte vermutlich durch entsprechende Formulierungen in den zu schaffenden Tatbeständen zum Ausdruck gebracht werden, so dass dem Bestimmtheitsgrundsatz nach französischem Verständnis Genüge getan wäre. Aber es bleibt eben die prinzipielle Frage, welche Rolle die angesprochene Frage des generellen Garantenunterlassens für eine Harmonisierung des Strafrechts in Europa spielen soll.
9
Pradel, Droit Pénal Général, 18. Aufl. 2010, Nr. 364. Pradel (Fn. 9), Nr. 364.
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2. Ein zweites Beispiel sei dem englischen Strafrecht entnommen. Bekanntlich kennt das englische Strafrecht die Figur der strict liability, die eine Strafbarkeit in gewissen Fällen auch dann als möglich ansieht, wenn den Täter keine Schuldbeziehung mit der Tat verbindet. Ein in dieser Hinsicht immer wieder zitierter Fall, der allerdings auch in England in der strafrechtlichen Literatur teilweise als falsch entschieden kritisiert wird11, ist der Fall Larsonneur aus dem Jahre 193312 : Die Beschuldigte hatte nicht die Erlaubnis erhalten, nach Großbritannien einzureisen, war nach Irland gelangt und von dort durch die Polizei zwangsweise mit dem Schiff nach Holyhead, also nach England, gebracht worden, wo sie in einer Arrestzelle landete. In der Arrestzelle wurde sie von der britischen Polizei „aufgefunden“, vor Gericht gestellt und verurteilt – nach einem Gesetz, das Strafe vorsah für solche Personen, die keine Erlaubnis haben, sich im Vereinigten Königreich aufzuhalten und gleichwohl im Vereinigten Königreich „aufgefunden“ werden.13 Ungeachtet dieses recht extrem gelagerten Falles wird die Figur der strict liability in England allgemein als zulässig angesehen für die Fälle von statutory offences, wenn das betreffende statute über die subjektive Seite des Delikts keine Aussage trifft, und überdies auch meist nur für Delikte mit geringerem Schweregrad. Aber es wird betont, dass dies keineswegs ausschließlich der Fall sei, dass also auch Common-Law-Straftaten und auch Delikte mit erheblichem Schweregrad von den Gerichten nach dem Maßstab der strict liability beurteilt würden.14 Und insgesamt ist jedenfalls diese Rechtsfigur im angelsächsischen Recht ein fest etablierter Modus strafrechtlicher Zurechnung.15 Ist aber die strict liability ein grundlegender Aspekt des englischen Rechts im Sinne des Art. 83 AEUV? In der Systematik dieser europarechtlichen Vorschrift kommt es, wie schon bemerkt, nur darauf an, ob Großbritannien subjektiv der Auffassung ist, es handle sich um einen grundlegenden Aspekt. Und vor allem: Da es in Art. 83 AEUV um „Mindestvorschriften“ zur Festlegung von Straftaten und Strafen geht, stünde es Großbritannien zudem formal frei, bei einer Richtlinie, die für bestimmte Straftaten beispielsweise „mindestens“ Vorsatz verlangt, darüber hinaus auch Fahrlässigkeit zu bestrafen und eben auch eine verschuldensunabhängige Haftung im Sinne der strict liability zu schaffen. Aber unter dem Blickwinkel einer Harmonisierung des Strafrechts in Europa bleibt natürlich das grundsätzliche Problem, ob das Schuldprinzip, das vom deutschen BGH als unabdingbar angesehen wird („Strafe setzt Schuld voraus“: BGH 2, 198, 200), auch für ganz Europa unabdingbar 11
So z. B. von Hall, General Principles of Criminal Law, 2. Aufl. 1960, 329 n. 14: „acme of strict injustice“ (Gipfel der Ungerechtigkeit). 12 (1933) 149 LT 542, CCA. 13 Es handelte sich um ein Vergehen gegen den damals geltenden Aliens Restrictions Act. 14 Näher Duff, in: Simester (Hrsg.), Appraising Strict Liability, 2005, S. 139. 15 „Like it or not, strict liability appears to be well entrenched in our legal system“: Simester/Spencer/Sullivan/Virgo, Criminal Law. Theory and Doctrine, 4. Aufl. 2010.
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ist, ob also von einer Harmonisierung – unter welchen Vorzeichen auch immer – auch dann gesprochen werden könnte, wenn die Strafrechtsordnungen einiger Mitgliedstaaten das Schuldprinzip nicht als unabdingbar ansehen, andere dagegen sehr wohl.16 3. Das dritte Beispiel, auf das hier eingegangen werden soll, ist die Regelung des italienischen Strafgesetzbuchs, nach der der untaugliche Versuch straflos ist.17 Bekanntlich wurde auch in Deutschland lange Zeit die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs teilweise verneint, und zwar von einem Teil der Lehre in energischer Opposition zur Rechtsprechung des Reichsgerichts.18 Was die Regelung des italienischen Strafgesetzbuchs von der damaligen deutschen Diskussion aber unterscheidet, ist der Umstand, dass in Deutschland das Problem als ein Problem der Strafrechtsdogmatik und der Kriminalpolitik gesehen wurde. In Italien dagegen folgert man das Erfordernis der Straflosigkeit des untauglichen Versuchs aus der Verfassung, genauer gesagt: aus dem Prinzip der offensività, das in der Verfassung verankert sei. Das Prinzip der offensività bringt zum Ausdruck, dass eine Straftat nur angenommen werden dürfe, wenn ein Rechtsgut verletzt sei.19 Dabei wird es freilich als zulässig angesehen, auch schon die Gefährdung von Rechtsgütern in die Strafbarkeit einzubeziehen, den Begriff der Verletzung also insofern auszudehnen. Aber auch diese Reduzierung der Anforderungen an eine Verletzung erlaubt es nicht, den untauglichen – objektiv ungefährlichen – Versuch zu bestrafen. Wie oben erwähnt, leitet die italienische Doktrin dieses Postulat aus der Verfassung ab, wenn es dort auch nicht ausdrücklich erwähnt wird. Die historischen Entwicklungen und die geistesgeschichtlichen Grundlagen, die in Italien zu dieser für unabweisbar gehaltenen Objektivierung geführt haben, sind neuer16
Frankreich kennt – jedenfalls für contraventions – die infractions matérielles, die ebenfalls keine Schuldbeziehung zwischen dem Täter und seiner Tat voraussetzen: Pradel (Fn. 9), Nr. 529 ff.; in Italien ist die Figur der responsabilità oggettiva zwar im Gesetz verankert (Art. 42 Abs. 3 c. p.), jedoch wird sie inzwischen für verfassungswidrig gehalten: Marinucci/ Dolcini, Manuale di Diritto Penale, Parte generale, 2. Aufl. 2006, VIII, 5. 17 Art. 56 Abs. 1 c. p.: „Wer geeignete Handlungen ausführt, die in eindeutiger Weise auf die Begehung eines Verbrechens abzielen, ist für den Versuch des Verbrechens verantwortlich, wenn die Tat nicht zur Ausführung gelangt oder der Erfolg nicht eintritt.“ Des weiteren ergibt sich die Straflosigkeit des untauglichen Versuchs aus Art. 49 Abs. 2 c. p.: „Die Strafbarkeit ist (auch dann) ausgeschlossen, wenn infolge der Untauglichkeit der Handlung oder des Fehlens des Handlungsgegenstands der schädigende oder gefährliche Erfolg unmöglich ist.“ Näher Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 126 ff. 18 Zum damaligen Streit um die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs vgl. Maiwald, in: Koriath/Krack/Radtke/Jehle (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts, Rechtsphilosophie und die Reform der Juristenausbildung, 2010, S. 161 ff. 19 Vgl. Mantovani, Diritto penale, Parte generale, 6. Aufl. 2009, S. 181: „… il reato deve sostanziarsi … nella offesa di un bene giuridico, non essendo concepibile un reato senza offesa: nullum crimen sine iniuria.“ Grundlegend Manes, Il principio di offensività nel diritto penale, 2005, passim; Catenacci, Stichwort „offensività del reato“, in: Dizionario di diritto pubblico (Hrsg. Sabino Cassese), Bd. 4, 2006, S. 3902 ff.
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dings in aller Ausführlichkeit in der Monographie von Sergio Seminara dargestellt worden.20 Wie nicht anders zu erwarten, führt die Notwendigkeit, zwischen straflosen untauglichen und strafbaren tauglichen Versuchen zu unterscheiden, Rechtsprechung und Lehre in Italien in erhebliche Schwierigkeiten.21 Dessen ungeachtet ist aber der Objektivismus, aus dem Prinzip der offensività folgend, in Italien fest etabliert; die Straflosigkeit des untauglichen Versuchs wird als wichtiges Postulat der Kriminalpolitik angesehen. Für die hier interessierende Frage nach den grundlegenden Aspekten von Strafrechtsordnungen gem. Art. 83 Abs. 3 AEUV stellt sich wieder das Problem, ob im Hinblick auf eine Harmonisierung des Strafrechts in Europa die Strafbarkeit oder Straflosigkeit des untauglichen Versuchs als ein solcher grundlegender Aspekt anzusehen ist. Da – wie gezeigt – die Straflosigkeit des untauglichen Versuchs aus der italienischen Verfassung abgeleitet wird, dürfte die Antwort wohl bejahend lauten: Für Italien ist die Straflosigkeit des untauglichen Versuchs ein grundlegender Aspekt. Ob auch andere Mitgliedstaaten der EU das so sehen, ist, wie schon oben herausgestellt, im Rahmen des Art. 83 Abs. 3 AEUV irrelevant. So lässt sich also verallgemeinernd sagen, dass für Italien eine europäische Richtlinie, deren Umsetzung in Italien als Verletzung des Prinzips der offensività anzusehen wäre, die Einleitung des Notbremseverfahrens mit sich bringen könnte. 4. Es bleiben für das Problem der grundlegenden Aspekte schließlich zahlreiche weitere Ausgestaltungen des Allgemeinen Teils, die in den verschiedenen nationalen Strafrechtsordnungen inzwischen ihrerseits zur Tradition geworden sind. Zu diesen Ausgestaltungen gehört in Deutschland die Ausdifferenzierung der Teilnahmeformen in Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe, der beispielsweise in Italien die sogenannte Einheitstäterlösung gegenübersteht, ebenso – in Deutschland – die Ausdifferenzierung der Strafhöhe bei Vorhandensein „besonderer persönlicher Merkmale“ strafbegründender oder strafändernder Art. Weiterhin stellt sich die Frage der grundlegenden Aspekte im Bereich der Notwehr, deren Regelung bekanntlich in den europäischen Staaten durchaus nicht einheitlich ist. In Deutschland gilt hinsichtlich der Notwehr der Satz „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“, der nur durch die „sozialethischen Einschränkungen“ des Notwehrrechts in seiner Rigorosität abgemildert wird. Im Grundsatz spielt also das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen dem angegriffenen Rechtsgut und dem durch die Notwehrhandlung verletzten Rechtsgut des Angreifers keine Rolle.22 20 Seminara, Il delitto tentato, 2012, insbes. S. 3 ff., 395 ff. Zum „oggettivismo italiano“ gegenüber dem „soggettivismo tedesco“ vgl. auch die rechtsvergleichenden Ausführungen von Militello, Riv. it. dir. proc. pen. 2012, S. 350. 21 Eine Klärung dieser Unterscheidung unternimmt Giacona, Il concetto d’idoneità nella struttura del delitto tentato, 2000, passim (Rezension von Maiwald, ZStW 116, 2004, 209 ff.); vgl. auch Maiwald (Fn. 18), S. 178 ff. 22 Vgl. nur Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl. 1996, S. 337, 343.
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Demgegenüber enthalten die Notwehrregelungen beispielsweise in England, Frankreich und Italien sämtlich in der einen oder anderen Weise das Proportionalitätserfordernis. Das englische Recht verwendet hierfür die Formulierung, es müsse die zur Abwehr eines Angriffs angewandte Gewalt „reasonable“ sein, der Nouveau code pénal fordert, es müssten die angewandten Mittel gegenüber der Schwere der Straftat „proportionnées“ sein, und in Italien ist das Recht der Notwehr vorgesehen unter der Voraussetzung, dass die Verteidigung gegenüber dem Angriff „proporzionata“ sei.23 Würde also eine Richtlinie gem. Art. 83 AEUV in irgendeiner Weise auf den Begriff der „Notwehr“ Bezug nehmen, so müsste also wohl zuvor geklärt werden, was darunter eigentlich genau zu verstehen ist. Ist die Ausgestaltung des Notwehrrechts mit dem oder ohne das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit, ist die Konfiguration der Teilnahmeformen ein grundlegender Aspekt der jeweiligen Strafrechtsordnung – oder handelt es sich lediglich um eine historische Zufälligkeit, die sich in der kulturellen Entwicklung eines Landes einfach irgendwie ergeben hat? Diese Fragestellung führt letzten Endes zu dem im europarechtlichen Kontext häufig vernachlässigten Problem der Harmonisierung der Strafrechtsdogmatik in den einzelnen Mitgliedstaaten – so, als könnte man strafrechtsdogmatische Fragen einfach durch europarechtliche Vertragstexte lösen und schon auf dieser Ebene eine Harmonie herstellen. Man vernachlässigt auf diese Weise den Umstand, dass das europarechtlich Gemeinte erst noch in die jeweilige nationale Strafrechtsdogmatik „übersetzt“ werden muss. Und man stößt dann auch immer wieder auf die oben untersuchte Fragestellung, ob für einen Mitgliedstaat eine bestimmte strafrechtsdogmatische Weichenstellung so wichtig ist, dass sie als ein grundlegender Aspekt anzusehen ist. Auf die damit zusammenhängende und lebhaft diskutierte Frage, ob es denn für Europa (und die ganze Welt) nur eine „richtige“ Strafrechtsdogmatik gebe, die es lediglich aufzufinden gelte und die dann den Strafrechtsordnungen der einzelnen Staaten als Fundament zu dienen habe, kann hier nicht näher eingegangen werden.24
23 Vgl. die Darstellung der Notwehrregelungen dieser drei Länder durch Forster (England), Pfützner (Frankreich), Jarvers (Italien) in: Sieber/Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung V, 2010, S. 78 ff., 114 ff., 160 ff. Rechtsvergleichend zum italienischen Strafrecht Maiwald, Studi in onore di Giorgio Marinucci II, 2006, insbes. S. 1586 ff. 24 Zu dieser Diskussion (mit zahlreichen Nachweisen) Militello (Fn. 20), S. 351 ff. – s. auch Silva Sanchez, GA 2004, 679 f.
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III. Die Strafrechtsdogmatik in den Richtlinien gem. Art. 83 AEUV Wirft, wie gezeigt, eine Harmonisierung des Strafrechts in Europa im Hinblick auf die „grundlegenden Aspekte“, die zum Notbremseverfahren gem. Art. 83 Abs. 3 AEUV führen können, die Probleme des Zusammenhangs zwischen den nationalen strafrechtsdogmatischen Besonderheiten und dem nationalen Wertebewusstsein auf, so führt die Verwendung strafrechtsdogmatischer Begriffe in den verschiedenen sprachlichen Versionen der Richtlinien, die aufgrund von Art. 83 AEUV erlassen werden, zu gewissermaßen intrasystematischen Schwierigkeiten. Das lässt sich leicht an den Richtlinien zeigen, die bisher zum Zweck der Harmonisierung des Strafrechts in Europa erlassen worden sind. Als Beispiel sei die Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt herausgegriffen, die in Deutschland freilich bis jetzt noch nicht umgesetzt worden ist. Die Richtlinie fordert Mindestvorschriften u. a. für die Bestrafung der „Einleitung, Abgabe oder Einbringung einer Menge von Stoffen oder ionisierender Strahlung in die Luft, den Boden oder das Wasser“, wenn dies bestimmte Schädigungen mit sich bringen kann. 1. Die Strafrechtsdogmatik macht sich in dieser Richtlinie dort bemerkbar, wo sie fordert, die betreffenden Handlungen müssten „vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig“ geschehen.25 Soweit der deutsche Text der Richtlinie. Was das Wort „vorsätzlich“ betrifft, so steht dem deutschen Strafrechtler dabei selbstredend die Lehre vom Vorsatz vor Augen, die sich in Deutschland im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hat, und die die Figuren der Absicht, des dolus directus und des dolus eventualis einschließt. Wie steht es aber mit den anderen Nationen, für die die Richtlinie verbindlich ist? Im angelsächsischen Rechtskreis ist die Strafrechtsentwicklung bekanntlich anders verlaufen als auf dem europäischen Kontinent, und so spricht die englische Version des Richtlinien-Textes von „intentionally or with at least serious negligence“. Der französische Text formuliert „intentionellement ou par négligeance au moins grave“. In Italien hat sich eine Vorsatzlehre entwickelt, die der deutschen vergleichbar ist. Daher würde man erwarten, dass der italienische Text der Richtlinie die Worte „con dolo“ oder „dolosamente“ (neben der groben Fahrlässigkeit) enthalten würde. Aber das ist nicht so. Vielmehr heißt es dort „intentionalmente o quanto meno per grave negligenza“. Das italienische Wort „intenzione“ ist in seiner Bedeutung keineswegs mit dem Wort „dolo“ (Vorsatz) identisch – jedenfalls nicht nach Auffassung der italienischen Strafrechtsdogmatik.26 Wie das englische Strafrecht die obige Formulierung „inten25
Richtlinie 2008/99/EG v. 19. 11. 2008, ABlEU L 328/28, Art. 3. Obwohl durch Art. 43 Abs. 1 c. p. der Anschein erweckt wird, „intenzione“ und „dolo“ seien identische Begriffe („il delitto è doloso, o secondo l’intenzione, quando …“), sieht die italienische Dogmatik – entsprechend der Lehre in Deutschland – den Begriff „intenzione“ 26
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tionally or with at least serious negligence“ einordnet, ist unklar. Das Erfordernis der „intention“ umfasst nach englischem Strafrecht jedenfalls nicht den dolus eventualis (nach deutschem Verständnis), und wie die Zwischenform der „recklessness“, die in der Tat Elemente des dolus eventualis enthält, in der Begrifflichkeit der Richtlinie einzuordnen ist, bleibt unklar.27 Was das französische Strafrecht betrifft, so ist der Begriff „intention“ in Art. 1213 Abs. 1 des Nouveau code pénal enthalten und statuiert dort ein Erfordernis für die Begehung von crimes und délits. Für Lehre und Rechtsprechung lautet die Definition, es gehe um das „Wissen und Wollen“ der Tat, und zusätzlich wird gefordert, der Täter müsse das Bewusstsein haben, dass er die gesetzlichen Verbote übertrete: „La volonté de l’agent de commettre le délit tel qu’il est définit par la lois et la conscience chez le coupable d’enfreindre les prohibitions légales“.28 Dass die Umweltschutz-Richtlinie durch die Begrifflichkeit im subjektiven Bereich der Umweltdelikte in ihren verschiedenen sprachlichen Versionen eine Harmonisierung in der Sache erreichen könnte, bleibt nach alledem höchst zweifelhaft.29 2. Schwierigkeiten für eine Harmonisierung bietet auch die in dieser Richtlinie versuchte Regelung über die Teilnahme. Im deutschen Text heißt es in Art. 4, die Mitgliedstaaten hätten sicherzustellen, dass „die Anstiftung und die Beihilfe zu den in Art. 3 genannten vorsätzlichen Handlungen unter Strafe gestellt wird“. In dieser Version nimmt der Text offensichtlich Bezug auf die – bei mancher Unsicherheit in einzelnen Punkten – in der deutschen Dogmatik fest etablierten Begriffe der Anstiftung und der Beihilfe. Ist aber dasselbe zum Ausdruck gebracht, wenn die Richtlinie in ihrer englischen Version im Hinblick auf die geforderte Bestrafung der Teilnahme von „inciting, aiding and abetting“ spricht? Das recht komplizierte englische System der Teilnahme an einer Straftat kennt als sogenanntes inchoate offence die Akte „to encourage or assist“ a crime, ohne dass es zu einer Haupttat gekommen sein müsste.30 Als akzessorische Teilnahmeformen gibt es „to aid, abet, counsel, procure“, wobei das Anstif-
(Absicht) als eine Unterform des Vorsatzes; vgl. Fiandaca/Musco, Diritto penale, Parte generale, 3. Aufl. 1999, S. 320 ff. 27 Zur Figur der mens rea, zu intention und recklessness vgl. Ashworth, Principles of Criminal Law, 6. Aufl. 2009, S. 154 ff., insbes. S. 170 ff.; Helmert, Der Straftatbegriff in Europa, 2011, S. 101 ff. 28 Pradel (Fn. 9), Nr. 502. 29 Dasselbe gilt beispielsweise für die Geldwäsche-Richtlinie 2005/60/EG vom 26. 10. 2005, ABlEU L 309/15, wo ebenfalls in den verschiedenen sprachlichen Versionen versucht wird, die subjektive Seite des Delikts mit strafrechtsdogmatischen Begriffen zum Ausdruck zu bringen. Auch Teilnahme und Versuch sollen dort auf diese Weise erfasst werden. 30 Darstellung bei Ashworth (Fn. 27), S. 458 ff.; Forster, in: Sieber/Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung IV, 2010, S. 71 ff. Diese Form der Teilnahme ist seit 2007 durch den Serious Crime Act in Gesetzesform gefasst. Zuvor existierte das entsprechende Delikt als Common Law offence.
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tungselement in den drei Formen des abetting, counselling oder procuring enthalten sein kann.31 Unter diesen Umständen werden die englischen Strafrechtler jedenfalls Mühe aufwenden müssen, um die in der Umweltschutz-Richtlinie in ihrer Sprache formulierten Teilnahmeformen in das englische Teilnahmesystem einzuordnen. Weniger Mühe wird die in der Richtlinie enthaltene Verpflichtung zur Bestrafung von Teilnahmeformen dem französischen Strafrecht bereiten. Die Richtlinie spricht insofern in ihrer französischen Version von incitation und von complicité. Der Nouveau code pénal enthält in der Tat in Art. 121-6 und 121-7 den rechtstechnischen Begriff des complice, und der Begriff wird dort auch definiert. In Art. 121-7 Abs. 2 ist auch eine Definition hinzugefügt, die die incitation umschreibt, freilich diesen Begriff selbst nicht enthält.32 Die Definition ähnelt im Übrigen derjenigen, die vor der Reform 1969/1975 in Gestalt des § 48 im deutschen Strafgesetzbuch und davor in § 34 Abs. 1 des preußischen StGB enthalten war: Sie formuliert auch eine Beschreibung der möglichen Mittel der Anstiftung, u. a. das Mittel der Drohung und des Missbrauchs des Ansehens oder der Gewalt, was bekanntlich in Deutschland zu Kritik geführt hatte, weil diese Mittel die Anstiftung in die mittelbare Täterschaft umschlagen lassen können, so dass eine Anstiftung gerade ausgeschlossen wäre. Dessen ungeachtet ist aber die französische Version der Richtlinie den dogmatischen Auffassungen des Nouveau code pénal in ihrer Terminologie in unproblematischer Weise angepasst. Anders liegt die Sache bei der italienischen Version der Umweltschutz-Richtlinie. Sie enthält die Anordnung, die Strafbarkeit sei auf „favoreggiamento e istigazione a un reato“ zu erstrecken. Diese beiden Begriffe existieren natürlich in der italienischen Sprache und haben die Bedeutung von Hilfeleistung und Anstiftung, wobei freilich „favoreggiamento“ zusätzlich der terminus technicus für das Delikt der Begünstigung ist. Aber was die strafrechtsdogmatische Bedeutung der beiden Begriffe betrifft, so ist zu beachten, dass das italienische Strafrecht durch den sogenannten Einheitstäterbegriff bestimmt wird, im Gesetz und in den Lehrbüchern also zwischen verschiedenen Teilnahmeformen nicht unterschieden wird.33 Demgemäß bedeutet die Verwendung der beiden Begriffe „favoreggiamento“ und „istigazione“ in der Richtlinie keinen Rückgriff auf Begriffe, die als strafrechtsdogmatische Kategorien im italienischen Recht schon vorhanden wären. Es sind vielmehr außerstrafrechtliche Begriffe, die im Teilnahmesystem erst unterzubringen 31
Vgl. Ashworth (Fn. 27), S. 404 ff.; Forster (Fn. 30), S. 58 ff. Darstellung der Formen der incitation bei Pradel (Fn. 9), Nr. 440 ff.; Pfützner, in: Sieber/Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung IV, 2010, S. 86 ff. 33 Vgl. den Wortlaut des Art. 110 c. p.: „Quando più persone concorrono nel medesimo reato, ciascuna di esse soggiace alla pena per questo stabilita …“. Aus der Literatur vgl. Fiandaca/Musco, Diritto penale, Parte generale, 3. Aufl. 1999, S. 439 ff.; dort wird von der tipizzazione unitaria gesprochen. 32
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sind. Ob die Verwendung derartiger Teilnahmedifferenzierungen für das italienische Strafrecht, das sie nicht kennt, eine zu vernachlässigende Größe darstellt oder im Gegenteil zu besonderen Schwierigkeiten führt, muss die italienische Doktrin entscheiden.
IV. Resümee Der Erlass von EU-Richtlinien gem. Art. 83 AEUV kann unter gewissen Voraussetzungen verhindert werden, wenn „grundlegende Aspekte“ der Strafrechtsordnung eines Mitgliedstaates der EU berührt werden. Stellt man in diesem Zusammenhang die Frage, ob und gegebenenfalls welche Weichenstellungen strafrechtsdogmatischer Art unter den Begriff „grundlegende Aspekte“ fallen können, so kommt man in die Schwierigkeit, bestimmen zu müssen, ob bestimmte „Eigenheiten“ der nationalen Strafrechtsordnungen, die sich in der historischen Entwicklung herausgebildet haben, als in diesem Sinne grundlegend anzusehen, also als jeweils nicht verhandelbar anzusehen sind. Welche Harmonie des Strafrechts lässt sich also in Europa realistischerweise in strafrechtsdogmatischer Hinsicht erreichen? Solche Überlegungen führen, wenn man sie weiterdenkt, zu der weiteren Frage, wie und warum es eigentlich dazu gekommen ist, dass die Staaten zu ihren unterschiedlichen Lösungen gelangt sind – etwa Italien zur Straflosigkeit des untauglichen Versuchs, Frankreich zu seiner am Bestimmtheitsgrundsatz orientierten Unterlassungsdogmatik, England zur Figur der strict liability. Handelt es sich um historische Zufälligkeiten, die sich im Zuge einer Europäisierung des Strafrechts „wegharmonisieren“ lassen? Auch eine Strafrechtsdogmatik des kleinsten gemeinsamen Nenners würde erhebliche Probleme mit sich bringen. Denn wenn die Nationen in ihrem Strafrecht zu verschiedenen Lösungen in Einzelpunkten gelangen, so werden diese meist aus höherrangigen Prinzipien abgeleitet, für die sich ihrerseits das Problem des kleinsten gemeinsamen Nenners stellt. Und spricht man von Prinzipien, so sieht man sie unweigerlich in den Werten verankert, die den gesellschaftlichen Grundkonsens bilden. Damit ist man dann endgültig bei der Fragestellung der europäischen Wertegemeinschaft angelangt. Versucht man andererseits – wie es am Beispiel der Umweltschutz-Richtlinie gezeigt wurde – in einem terminologisch-äußerlichen Sinne die Strafrechtsordnungen der EU-Staaten als einheitliches System zu behandeln, so muss dies notwendig misslingen. Denn die Verschiedenheit der dogmatischen Begriffe – Beispiele: Vorsatz und intention, Differenzierung der Teilnahmeformen – ist ja nicht nur eine sprachliche Verschiedenheit mit einem sachlich einheitlichen Kern, sondern geht letzten Endes auf prinzipielle und unterschiedliche Wertüberzeugungen zurück, die es allererst zu „harmonisieren“ gilt, bevor man sich an die Arbeit der Harmonisierung der dogmatischen Begrifflichkeit machen kann. Diesen grundlegenden Aspekt einer Harmonisierung des Strafrechts durch „Mindestvorschriften zur Festlegung von
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Straftaten und Strafen“ gem. Art. 83 AEUV lässt die europarechtliche Diskussion bisher weitgehend außer Betracht. Der vorliegende Beitrag, der in freundschaftlicher Verbundenheit dem verehrten Jubilar Wolfgang Frisch gewidmet ist, versucht, dieses Defizit ins Bewusstsein zu rufen.
(More Than) Two Decades Later – Does the Principle of Assimilation Still Have a Role to Play Within European Criminal Law?1 By Petter Asp
I. Introduction In this contribution I will focus on the principle of assimilation, i. e. on the principle which – expressed a bit simplified – implies that the Member States should protect the interests of the European Union in the same way as they protect their own national interests. The point of departure when discussing the principle of assimilation within the context of European Criminal Law is normally the Greek maize case (also known as the Yugoslavian maize case – all depending on whether you emphasize the state from which the maize was originally imported or the state from which it was exported). In this case the Commission brought action against Greece arguing that Greece: “by failing to establish and pay to the Community own resources fraudently withheld from the Community budget (when certain consignments of maize imported from Yugoslavia into Greece without a levy being collected were declared to be of Greek origin on their exportation to another Member State) and by refusing to take certain other appropriate measures, the Hellenic Republic [had] failed to fulfil its obligations under Community law.”2
In its judgement the European Court of Justice found that Greece had – more or less in accordance with the view of the Commission – failed to fulfil its obligations under Community law. The interesting thing in a criminal law perspective was, however, that the European Court of Justice explicitly underlined that there is an obligation – on the part of the Member States – to provide for and to make use of penalties for the purpose of protecting the interests of the Community: “23. It should be observed that where Community legislation does not specifically provide any penalty for an infringement or refers for that purpose to national laws, regulations and 1
This text was originally published in Greek language in 2010. See (Volume title originally in Greek) Modern Developments of European Criminal Law. Proceedings of an International Congress 27 – 28. November 2009, Piraeus, Greece. Published by Bar Association of Pireaus, Association of the Greek Penologists & Center for International and European Economic Law. Athens 2010 pp. 35 – 47. Slight modifications and additions have been made by the author. 2 See case 68/88 Commission v. Greece [1989] ECR 2965 paragraph 1.
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administrative provisions, Article 5 of the Treaty requires the Member States to take all measures necessary to guarantee the application and effectiveness of Community law. 24. For that purpose, whilst the choice of penalties remains within their discretion, they must ensure in particular that infringements of Community law are penalized under conditions, both procedural and substantive, which are analogous to those applicable to infringements of national law of a similar nature and importance and which, in any event, make the penalty effective, proportionate and dissuasive. 25. Moreover, the national authorities must proceed, with respect to infringements of Community law, with the same diligence as that which they bring to bear in implementing corresponding national laws.”3
If we focus on the obligations that concerns the penalization as such (thus disregarding requirements concerning procedural rules and as regards the taking of action against fraudsters etc.), the European Court of Justice actually brought two requirements into play. According to the Court of Justice it is required: first (i) that infringements of community law are penalized under conditions which are analogous to those applicable to infringements of national law of a similar nature and importance, and second (ii) that the rules (or penalties) used in relation to infringements of community law are effective, proportionate and dissuasive.
Thus, one could say that the European Court of Justice does not only require (i) assimilation but also and in addition put up (ii) some absolute minimum requirements which should be fulfilled irrespective of how the Member States protect their own national interests.4 The obligations of assimilation and effective protection were derived from the principle of sincere cooperation which is nowadays expressed in Article 4.3 of the EU Treaty. Article 4.3 of the EU Treaty states, among other things, that the Member States shall take all appropriate measures to ensure fulfilment of their obligations under the Treaty and also, and more generally, facilitate the achievement of the European Union’s tasks. The idea of assimilation was, of course, not even in 1989, a new one. If one reads the original treaties of the European Communities one can find obligations of assimilation in the original statues5 of the European Court of Justice6 and in the treaty es3
68/88 Commission v. Greece [1989] ECR 2965 paragraphs 23 – 25. See, e. g., Gröblinghoff, Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1996, pp. 12 ff.; Asp, EG:s sanktionsrätt, 1998, pp. 56 ff.; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen der Europäischen Gemeinschaft, 2000, pp. 30 f.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, pp. 334 ff. and 360 ff. and Hecker, Europäisches Strafrecht, 3rd edition 2010, pp. 234 ff. In German legal writing the two parts are often referred to as the “Gleichstellungsklausel” or “Gleichstellungserfordernis” (Principle of Assimilation) and the “Mindesttrias” (Minimum requirements of effective, proportionate and dissuasive sanctions). 5 There existed one statute for each community; one for EEC, one for Euratom and one for the ECSC. 4
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tablishing the European Atomic Energy Community (Euratom).7 Thus, the idea of assimilation was actually there from the very start and it seems quite clear that the Court in the Greek maize case was inspired by the abovementioned articles when it “invented” the general obligation of assimilation that is expressed in the judgement. Later on, when the Maastricht Treaty (1993) entered into force, the principle of assimilation was, in relation to the protection against fraud, codified in Article 209a of the EC Treaty, which later – when the Amsterdam Treaty entered into force (1999) – became Article 280. Today the principle of assimilation is found in Article 325 of the Treaty on the Functioning of the European Union. Thus, one might say that we have gone all the way around the circle. Originally we had a few primary law articles requiring, for the purpose of criminal law, the assimilation of European Community interests with the interests of the Member States. Later this inspired the European Court of Justice to draw the conclusion that there is a general principle of assimilation.8 And this, in turn, inspired the men and women responsible for drafting the Maastricht Treaty to codify the principle of assimilation as regards the protection of the financial interests of the community. In the early 1990s the principle of assimilation was very important for the development of European Community criminal law since it was one of very few positive legal connections between the European Community and the national criminal law systems.9 Even if it was quite clear that European Community law could bar the ap6
See, e. g., Article 27 of the Protocol on the statute of the Court of Justice of the European Economic Community: “Each Member State shall regard any violation of an oath by witnesses and experts as if the same offence had been committed before a domestic court or tribunal dealing with a case in civil law. When the Court reports such a violation the Member State concerned shall prosecute the offender before the competent domestic court or tribunal.” Nowadays the counterpart to the article is found in Article 30 of protocol 3 on the Statute of the Court of Justice of the European Union. 7 See Article 194: “The members of the institutions of the Community, members of committees, officials and other employees of the Community and any other persons whose functions or whose public or private relations with the institutions or facilities of the Community or with Joint Enterprises make it necessary for them to obtain or receive communication of any facts, information, knowledge, documents or objects which are classified pursuant to provisions enacted by a Member State or an institution of the Community, shall, even after the termination of such functions or relations, maintain their security in respect of any unauthorised person or of the general public. Each Member State shall regard any breach of this obligation as a violation of its classified matters which is subject, as regards both substance and jurisdiction, to the provisions of its municipal law concerning the endangering of the security of the State or concerning the disclosure of professional secrets. It shall, at the demand of any Member State concerned or of the Commission, proceed against any person who has committed such a breach within its jurisdiction.” 8 See also Satzger (Fn. 4), pp. 340 ff. who also emphasizes the similar structure within the area of procedural law. 9 See, e. g., Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, p. 243 f.
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plication of national criminal law – in the same way as it could bar the application of national law in any other area – there was an ongoing discussion as regards the question whether the European Community had any (positive) competence what so ever to create or require the use of criminal law. In this perspective, the judgement in the Greek Maize case was seen as very important, since it did, at least, confirm that national criminal law was not an area free of positive community influence. A few years later, however, the Maastricht Treaty (including the EU Treaty and the three pillar structure) entered into force, and this meant that the cooperation as regards criminal law and international criminal procedure was actually given a domicile – albeit still on an interstate basis – within the institutional structure of the EU. Suddenly there was an explicit legal basis for harmonization. Not surprisingly this had as a consequence that the ambitions to achieve results increased. The question to ask now, when the process has been taken a couple of steps further is whether there are still – i. e. in a situation (i) where the European Court of Justice has clarified that there is actually (under certain conditions) a supranational competence as regards criminal law and (ii) where we have a new treaty that confirms and adjusts this competence10 – reasons to bother about the principle of assimilation. Well, the official answer clearly seems to be no. No one seems to attach that much importance to the principle neither when discussion the development of European Criminal Law in general, nor when discussing concrete areas where there is, actually or allegedly, a need for criminal law measures. Even though the principle is still referred to, now and then, in the case law of the European Court of Justice, it seems to be referred to either (i) when describing the historical development of European Criminal Law or (ii) when made use of in relation to other measures than the criminal law stricto sensu.11 Against this background I will make an attempt to answer the question whether we should try to bring life into the principle or whether we should have celebrated its 20th birthday by saying thanks and farewell.
10 The Lisbon Treaty does, on the whole, widen the criminal law competences of the EU; however, if one only looks at the annex-competence under Article 83.2 of the Treaty on the Functioning of the European Union, it could be argued that the Treaty adjusts and limits the competence that followed from the judgement in case C-176/03 Commission v. Council ECR [2005] p. I-7879. See Asp, The Substantive Criminal Law Competence of the EU, 2012 (forthcoming). 11 See, e. g., C-460/06 Paquay [2007] ECR I-8511, C-430/05 Ntionik & Pikoulas [2007] ECR I-5838 and C-230/01 Penycoed Farming Partnership [2004] ECR I-937.
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II. The Content and the Importance of the Principle The principle of assimilation requires that the Member States take the same measures to protect EU interests as they take to protect national interests of similar nature and importance. This means that one, when faced with an interest of community law, should start by asking how the corresponding national interests are protected, i. e. the requirement presupposes that we can define the protected interest (the Rechtsgut) and then look at how this interest is protected when held by the Member State in question. Thus, in order to apply the principle we have to assess what national interests that correspond to the EU interests in question. As has been pointed out by others, sameness does not require identity, i. e. that the protected interests are identical, but rather that the interests involved fulfil the same functions within the legal framework within which they operate.12 This test might seem fairly straightforward, but it can nevertheless be very hard to apply in concrete cases. For example, different types of national interests are often protected in different ways depending upon the context – the national financial interests are, e. g., protected both by tax offences, by offences of subsidy fraud and by general rules on fraud and embezzlement etc. – and in such cases it is, by no means, evident what standard that should be “transferred” and used for the purpose of protecting the EU interests.13 If one takes a closer look at the case law of the Court of Justice and compare this case law with the requirements that is nowadays expressed in Article 325 of the Treaty on the Functioning of the European Union, one can see certain differences. According to the Greek Maize case it is, for example, required that infringements of EU law are penalized under conditions which are analogous to those applicable to infringements of national law. In the treaty the word analogous is changed to the word same. Thus, one could discuss whether the requirements are identical or not; it is, e. g., possible to argue that the use of the word “same” implies a somewhat stricter requirement than “analogous”. I will not go into this question here, but merely say that I think that it might be to overestimate the preciseness of EU law – as well as the depth of intention of the drafters – to put too much emphasis on such differences.14 There is, however, one important difference between Article 325 Treaty on the Functioning of the European Union and its predecessors on the one hand, and the case law on the other, and that is the generality of the requirement. Article 325 Treaty on the Functioning of the European Union is explicitly limited to fraud. The require12
See, e. g., Gröblinghoff (Fn. 4), pp. 22 ff. and Satzger (Fn. 4), pp. 364 ff. See, e. g., Asp (Fn. 4), pp. 62 f. 14 See, e. g., Protection of the Community’s Financial Interests. Comparative analysis of the reports supplied by the Member States on national measures taken to combat wastefulness and the misuse of Community resources. European Commission. Secretariat General Brussels 1995, p. 9 and Asp (Fn. 4), p. 61. 13
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ment put up in the Greek Maize case is, even though the case concerns a case of fraud in the agricultural sector, a general requirement which applies to all sectors of community law.15 Since the principle of assimilation builds upon the existence of an EU interest, and since the EU is a legal creature, the application of the principle always presupposes that there is some sort of EU background legislation that actually provides the legal basis for saying that there is such a thing as an EU interest. On the other hand, this also means that whenever the EU adopt rules (e. g. a directive, a regulation etc.) for some area (for transport, for agriculture etc.) this actually triggers the application of the principle, i. e. the Member States are – at least to the extent that the instrument in question does not itself provide for penalties – obliged to make sure that the interests of the EU are protected in a similar way as the corresponding national interests. All this means, in theory, that the principle of assimilation provides quite a comprehensive framework for the protection of community interests. Whenever there is such an interest the Member States are obliged to protect it. In practice, however, the almost unlimited scope of the principle may well be one of its biggest weaknesses: the fact that the obligation is general makes it virtually impossible for the Member States to live up to the requirements and it also makes it difficult for the EU to control whether the principle is respected or not. Having said this about the content of the principle I will now turn to the question whether the principle still – in a time when the agenda for European Criminal Law is much more ambitious than it was 20 years ago – have a role to play, and I will try to answer that question by relating the principle to measures of harmonization.
III. Assimilation and Harmonization Let us start the comparison between assimilation and harmonization by looking at the principles in a functional perspective, i. e. to see whether they fulfil the same functions or whether they are different in this respect. The principle of assimilation may first and foremost – and this is especially evident if one looks closer at the history of the principle – be seen as a gap-filling tool, i. e. as a principle requiring that the Member States make sure that their existing national criminal law proscriptions apply also in relation to infringements of the corresponding community interests. The basic idea is – under such a perspective – that community interests are not new types of interests, but rather interests that correspond to different types of national interest typically carried by the state. For example: 15
See, e. g., Satzger (Fn. 4), pp. 347 f.
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the state has economic interests which needs protection (and so does the EU), the state has an interest in protecting its officials from violence, from being threatened etc. (and so does the EU), the state has an interest in ensuring that its officials do not misuse their powers (and so does the EU), the state has an interest in protecting its courts against false statements etc. (and so does the EU), etc. etc.
However, even if one can say that the interests of the EU have their counterparts on national level, this does not, of course, mean that national proscriptions protect EU interests in a satisfactory way. On the contrary: national proscriptions providing for protection of state interests are normally not applicable in relation to the interests of other states or in relation to the interests of supranational bodies. Thus, the problem of non-protection of community interests typically occurs due to the fact that national proscriptions are not necessarily applicable in relation to supranational interests. National proscriptions of perjury have, e. g., often a limited ambit, i. e. they prohibit false testimonies etc. only before national courts. Thus the Swedish section on perjury in Chapter 15 section 1 of the Swedish Criminal Code is applicable only in relation to offences committed before Swedish Courts.16 Due to the requirements of the Statutes of the European Court of Justice, however, a new section was introduced – at the time when Sweden became a member of the EC – which covered also perjury before the European Court of Justice.17 Thus one could say that the function of the principle of assimilation is to fill the gaps that may occur due to the fact that national proscriptions have not always been created with the interests of the EU in mind. On the quite reasonable assumption that the Member States protect their own interests in a satisfactory way, it seems reasonable to say that the principle of assimilation will actually – if applied properly – ensure that also EU interests are protected in a satisfactory way. This means that there is an overlap between the principle of assimilation and the idea of harmonization to the extent that the latter serves the purpose of ensuring that the interests of the EU actually are protected in a satisfactory way under national law. It seems clear, however, that it can, and not without plausibility, be argued that harmonization does not only serve the purpose of ensuring that EU interests are ac16
One should observe that this is not a question about the jurisdiction of national courts, but rather a question of the ambit or the area of application of the offence description in question. See, about the relation between ambit and jurisdiction, Wong, Criminal Act, Criminal Jurisdiction and Criminal Justice, 2004, pp. 139 ff. 17 See, e. g., Holmqvist, Leijonhufvud, Träskman & Wennberg, Brottsbalken, Kap. 13 – 24, 1998 – 2009, pp. 15:13 and 15:37 ff.
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tually protected under national criminal law, but that it rather serves several different and wider purposes. For example, it could be argued that assimilation is not enough should the international procedural cooperation work smoothly. Differences between the criminal law proscriptions of the Member States may, for example, cause difficulties as regards the double criminality requirement and as regards different types of thresholds used within international criminal procedure. Even if differences do not necessarily bar cooperation (the requirement of double criminality could, for example, be fulfilled also if the proscriptions in different Member States are constructed in totally different ways), the fact that one actually will have to control whether the requirements are fulfilled, may in itself make the cooperation slow and burdensome.18 It could also be argued that the principle of assimilation can only do the job if the problems that we are facing actually corresponds to the ones that the national proscriptions are constructed to deal with. Old (national) solutions may, so to say, be enough to meet old problems, but since the problems facing the European Union to a large extent are new and fundamentally different from the problems faced at national level we cannot rely on the principle of assimilation, but must also develop new instruments which does not build upon the old solutions of traditional national law. As a third example, one could, refer to the argument used by the Corpus Jurisgroup (in 1997), i. e. that “it is clear that assimilation guarantees neither efficiency, nor justice providing equal treatment for all economic operators”.19 If we leave the effectiveness aside (the effectiveness of the penal proscriptions does not follow directly from the principle of assimilation, but it is as developed above, an additional minimum requirement according to the case law of the European Court of Justice), the argument that assimilation does not guarantee equal treatment seems totally correct. One of the characteristics of assimilation is that it does not require the Member states to adjust their legislation in relation to each other, but merely to integrate EU interests into the existing framework of national law (i. e. to make sure that supranational interests are put on equal footing with national interests). One can, of course, discuss if and to what extent these arguments justify the conclusion that we actually need harmonization, but they do show that harmonization – in a functional perspective – goes beyond mere assimilation. Well, then: if the principle of assimilation is “left behind” in comparison with the more far reaching measure of harmonization, do the principle still have a role to play? If one, e. g., looks at the “protecting the financial interests of the EU”-area we can see that there are instruments providing for the harmonization of:
18
See, e. g., Perron, in: Husabø/Strandbakken (Eds.), Harmonization of Criminal Law in Europe, 2005, p. 18. 19 See, Delmas-Marty, Corpus Juris – introducing penal provisions for the purpose of [protecting] the financial interests of the European Union, 1997, p. 40.
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Standard cases of fraud,
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Misuse of subsidies legally obtained,
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Passive and active corruption,
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Money laundering, etc. etc.
In such a situation is there still reason to put emphasis on the principle of assimilation? Could one not say that the principle of assimilation has been more or less run over by the measures taken to harmonize the criminal laws of the Member States, and the add that the importance of the principle will decrease even more as the cooperation develops? Well, this is, of course, partly true. However, I think it would be a mistake to draw the conclusion that there is no role at all for the principle of assimilation. First, it is obvious that the principle can be of importance in relation to Member States that, on a national level, provides for criminal law protection that goes beyond the minimum level provided for in the relevant EU instruments. Since EU-instruments require unanimity or – as provided for in the Lisbon Treaty – qualified majority, it is quite natural that there are limits as regards what can be achieved and this, in turn, means that it is not unlikely that there are Member States that are willing to go further than the minimum level which it is actually possible to agree upon. In such situations the principle of assimilation ensures that the Member States does not discriminate EU interests in relation to their own interests. For example the PFI-conventions do not, nor do the other instruments in the area, make it mandatory to introduce criminal liability for negligence in cases of fraud. If, e. g., responsibility for negligent fraud is introduced on a national level, then correct application of the principle of assimilation would ensure that the EU is not given a lower level of protection. Second, the principle of assimilation provides, in relation to harmonization, added value also due to the fact that measures of harmonization are always relatively narrow in scope, i. e. the principle of assimilation provide added value as regards the areas not covered by the instrument. The instruments may be far reaching on a few specific points, but they normally cover only a few specific offences and do not provide a broader framework which obliges the Member States to provide, more generally, for reasonable criminal law protection. For example, there are certainly infringements of community law within the area of agricultural subsidies which are not covered by any of the PFI-conventions or framework decisions. Thus, even though one can be certain that the harmonization instruments will take care of the most central norms within a certain area, there are still ample room for the principle of assimilation in the periphery. In the foregoing paragraphs I have focused on the things that the principle of assimilation can add when compared with measures of harmonization. The added value provided by the principle is, however, limited. It would not be fair to say that the prin-
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ciple is without any importance, but it is certainly not the most central requirement in areas in which measures of harmonization has been adopted. It contribution is, at best, marginal. There is, however, reason to emphasize that the principle of assimilation could also be seen – especially if it is considered together with the principle of effectiveness – as a powerful fall back standard that could and should constantly be used when making assessments under principles such as subsidiarity and proportionality about the need for new harmonizing instruments. Both the principle of subsidiarity and the principle of proportionality contain sort of a necessity requirement20 – under the principle of subsidiarity the necessity of taking measures at EU level; under the principle of proportionality the necessity of taking the measure at all – and the necessity of harmonization must always be assessed in relation to the alternative of status quo, and this is exactly where the principle of assimilation and effectiveness have, or should have, their primary function, i. e. as principles which secure a reasonable standard of protection against which the need form further harmonization must always be assessed. In the absence of any general obligations on the part of the Member States the alternatives would normally be: (i) harmonization on the one hand, and (ii) total freedom (total lack of regulation) on the other. The fact that there is a general principle of assimilation alters the picture quite substantially. The alternatives are no longer harmonization and total freedom, but rather: (i) harmonization on the one hand, and (ii) assimilation (complemented by requirements of effectiveness) on the other. I have, above, more or less taken it for granted that the principle of assimilation should be given priority in relation to harmonisation in a subsidiarity perspective. This assumption is perhaps evident for everybody, but I will nonetheless say a few words to justify it. First, it is clear that the requirements of assimilation and effectiveness do not take away the choice of sanctions from the Member States. Under the above mentioned requirements it is – at least as a starting point – open whether the Member States should introduce criminal proscriptions or make use of another regime of sanctions. The requirement of assimilation may, of course – if the Member State in question protects its own national interests by the means of criminal law – actually necessitate the use of criminal law, but whether the principle actually has this implication depends on how the national interests are protected (not on any decision on EU level). 20 See, as regards the principle of proportionality, Asp, FS in Honour of Raimo Lahti, 2007, p. 208.
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Second, the principle of assimilation does – also this as a starting point – respect the choices made in the national context.21 Consequently it does only under quite extreme circumstances (i. e. when it is justified to say that the Member State in question does not protect its own interests in a reasonable way – I do no know of any cases in which the requirement of effectiveness has been used in such a situation, at least not in a criminal law-context) require the introduction of “new” elements in national criminal law. In this way the principle respects the identities of the national criminal law system (in a way which is in conformity with Article 4.2 of the EU Treaty). In relation to harmonization there is therefore a clear element of subsidiarity, i. e. for any person that takes the principle of subsidiarity seriously there should, as regards the relation between assimilation and harmonization, be evident that the former should be given priority. In addition, I think that the “fall back-function” of the principle of assimilation is important to underline, not only due to the fact that it makes it possible to argue that harmonization is (at times) unnecessary, but also for the purpose of clarifying and specifying the justification needed when arguing for harmonization in a certain area. For example it might not be enough to say that harmonization is needed for the purpose of achieving proper protection of something, but one might have to explicate the reasons why harmonization is actually needed – these reasons might, e. g., be that: *
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harmonization is needed as a step towards a unified criminal code (federalist justification), harmonization is needed for the purpose of facilitating cooperation within the area of international criminal procedure (instrumental justification), harmonization is needed for the purposes of giving competing companies equal preconditions (justification related to the interest in free movement and fair competition), harmonization is needed for the purpose of showing the public that the EU actually take action against organized crime (symbolic justification) etc.
Thus, emphasizing that we already have a quite powerful fall back standard will – in the best of worlds – put at least some pressure on the Member States, on the Commission, on the Council etc. to actually give justification for the need for harmonization, to clarify and specify their intentions for the future, thus improving the discussion and debate on these important issues.22 Obviously, I am not saying that all the justifications suggested above are acceptable as such, but I do think that the discussion on these issues would benefit from being more explicit and to the point. 21 This is of special importance in relation to the principle of coherence. See European Criminal Policy Initiative, A Manifesto on European Criminal Policy, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2009, p. 709. 22 In European Criminal Policy Initiative (Fn. 21) the requirement of justifiction is underlined repeatedly (see, e. g., 707, 708 and 709).
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One objection to the analysis made here might be that the principle of assimilation is so imprecise and general in its application that it cannot really function as an enforcable standard (i. e. a standard that can be subject to evaluation by the Commission etc.). I am not convinced that the principle of assimilation is more problematic than other standards. All supervision and control of the implementation of international obligations is difficult. The weakness of the principle of assimilation is not, I would say, connected to its character as such, but rather that too little interest has been shown in supervising the application of the principle in the Member States. In addition, if the EU legislator wants to emphasise the obligation of assimilation (as well as the minimum requirements concerning effectiveness) in a specific area, there is, of course, nothing that prevents the EU from reminding the Member States of this obligation in, e. g., a directive or a regulation. Such an area-specific obligation must, as such, be possible to supervise.
IV. Concluding Remarks The question asked in the beginning of this paper was whether there is still a role to play for the principle of assimilation. Today’s situation is, that is for sure, quite another one that the one in 1989, but my analysis shows that the principle is still important both for the purpose of supplementing measures of harmonization (harmonization will always be fragmentary in character) and for the purpose of providing a fall back standard when assessing whether harmonization is necessary or not (especially when applying the principles of subsidiarity and proportionality). Perhaps one could also argue that the fact that no one seems to bother about the principles of assimilation and effective protection anymore shows that there is need for a more systematic and careful approach when discussing the need for new instruments and initiatives. When discussing the necessity of harmonization we should not be satisfied with an analysis in abstracto and without considering the alternatives (“is harmonization necessary?”), but we must analyse the necessity of harmonization in relation to the existing alternatives to harmonization (this might be status quo; this might be the taking of some other, less far-reaching measure). In this context one should remember – this is the basic message of this essay – that status quo seldom is the same thing as lack of criminal law protection. In any area that is the object of presumptive harmonization there will normally exist criminal law protection at national level (albeit this might differ from Member State to Member State) and one should also take into account general obligations on part of the Member States such as the obligation of assimilation. Thus, when discussing the need for harmonization we cannot be satisfied with conclusions that imply that criminal law (in general) is a measure which can make a difference, but we must relentlessly and constantly justify the conclusion that the (often fairly limited) adjustments of the national criminal law required by
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the specific instrument will make a difference – and when doing this one should have regard to the obligations that already exist, i. e. the obligations of assimilation and effective protection that follows from the Greek Maize case. To do so is to take one (small) step towards the ideal that has been firmly, but yet eloquently, emphasized by the person in honour of which this whole volume is produced: “More restraint and more sensitivity in dealing with criminal law!”23
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Frisch, Juridisk Tidskrift 2010 – 11, 81.
Strafrechtliche Grundsätze für die neue Türkische Verfassung Von Adem Sözüer*
A. Einführung Der folgende Beitrag widmet sich den Verfassungsprinzipien zum Straf- und Strafverfahrensrecht in der Türkei. Gegenstand ist sowohl die historische Entwicklung als auch der aktuelle Prozess der Verfassungsgebung in der Türkei. Mit der Entwicklung des türkischen Straf- und Strafverfahrensrechts geht es um ein Thema, zu dem der Jubilar sei es als akademischer Lehrer türkischer Strafrechtler oder durch ihre großzügige Aufnahme, sei es durch die Teilnahme an wissenschaftlichen Veranstaltungen in der Türkei einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Es ist für uns deshalb eine besondere Ehre uns an einer Festschrift für Wolfgang Frisch beteiligen zu können, der uns in jeder Hinsicht unterstützt hat. Strafrechtliche Eingriffe sind einschneidender als andere Eingriffe des Staates in die Freiheiten und Rechte des Bürgers. Besonders die willkürliche Anwendung bzw. der Missbrauch des Strafrechts, wie dies in der Vergangenheit geschehen ist aber auch heute noch geschieht, stellt eine große Bedrohung für die individuellen Freiheiten dar. Deswegen sind die rechtsstaatlichen Garantien im Strafrecht von besonderer Bedeutung und deswegen müssen gegen die Missbrauchsgefahr besondere Schutzvorkehrungen getroffen werden.1 Dies sind in erster Linie die verfassungsrechtlichen Garantien. Das gilt sowohl für das materielle Strafrecht als auch für das Strafverfahrensrecht: „Strafrecht ist angewandtes Verfassungsrecht.“2„Das Strafverfahrensrecht ist der Seismograf der Staatsverfassung.“3 Die strafrechtlichen Grundsätze in einer Verfassung sind deshalb äußerst wichtig. Die derzeit geltende Verfassung der Republik Türkei aus dem Jahre 1982 wurde nach dem Militärputsch von 1980 verabschiedet. In dieser autoritären Verfassung mit ihrer übermäßig starken Betonung der Schranken der Freiheiten und Rechte der Bürger stellen auch die Regelungen zum Strafrecht ein erhebliches Problem dar. Aller* Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul und Inhaber des Lehrstuhls für Straf- und Strafprozessrecht. 1 Jescheck/Weigend, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 1996, S. 26, 126. 2 Schmidhäuser, Strafrecht, AT, 1. Aufl. 1971, S. 5, 34. 3 Roxin, Strafverfahrensrecht, 20. Aufl. 1987, S. 9.
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dings muss man heute sagen, dass insbesondere durch die Verfassungsänderungen, die parallel zu dem Beitrittsprozess in die EU erfolgten, ein Teil dieser Probleme gelöst wurde. Trotz der Verfassungsänderungen gibt es jedoch immer noch verschiedene Probleme und Ungereimtheiten in der Verfassung von 1982, die sowohl das materielle Strafrecht als auch das Strafverfahrensrecht betreffen. Hinzu kommt, dass durch die im Rahmen der 2005 verwirklichten Reform des Strafrechts neu eingeführten Regelungen Widersprüche zur geltenden Verfassung aufgetaucht sind und dass mit der Einführung der Individualbeschwerde das Thema Verfassung und Strafrecht wieder aktuell geworden ist. Der wesentliche Grund für die Diskussionen über diese Fragen ist jedoch der Beginn der Arbeiten an einer von Grund auf neu gestalten Verfassung der Türkei. Da an der Erstellung der Verfassung von 1982 die Zivilgesellschaft nicht beteiligt war und es keine Form der demokratischen Partizipation und Beratungen gab, soll ein neuer Verfassungsgebungsprozess diesen Zustand überwinden. Wobei festzuhalten ist, dass die fehlende demokratische Partizipation nicht nur ein Mangel bei der Verfassungsgebung von 1982 war, sondern ebenso für die Verfassungen des Osmanischen Reichs (1876) als auch der Republik Türkei (1921, 1924 und 1961) gilt.4 In dem seit über 200 Jahren andauernden Prozess der Modernisierung und gesellschaftlichen Veränderung in der Türkei vollzog sich ein Übergang von der Monarchie zur Republik, vom Einparteienregime zum Mehrparteiensystem und vom Konventsystem zum parlamentarischen System. Diese bedeutenden Wandlungs- und Transformationsprozesse wurden von Staatsorganen und staatlichen Eliten von oben herab organisiert.5 Mit dem immer stärker werdenden gesellschaftlichen Verlangen nach einer freiheitlichen Demokratie bildete sich ein Konsens heraus, einen neuen Verfassungsgebungsprozess einzuleiten, der sich auf eine demokratische Partizipation und Beratungen stützt. Schließlich kam es im Jahre 2011 in der türkischen Nationalversammlung zur Bildung einer Kommission zur Verständigung über die Verfassung, die sich aus der gleichen Anzahl von Vertretern aller politischen Parteien, die im Parlament vertreten sind, zusammensetzt. Als Aufgabe der Kommission wurde „die Steuerung des Verfassungsgebungsprozesses und Vorbereitung eines Entwurfs einer neuen Verfassung“ festgelegt. Die Arbeiten an einem Entwurf für eine neue Verfassung dauern zurzeit an.6 In diesem Prozess einer neuen Verfassungsgebung wurden verschiedens4
In der Türkei betrachtet man das Dokument der Einhelligkeit von 1808 (Senedi ittifak) und das Grossherrliche Edikt von Gülhane vom 3. November 1839 (Gülhane Hattı Hümayunu) als den Beginn der Verfassungsbewegungen im modernen Sinne. Vgl. Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, 2009, S. 84. 5 Plagemann (Fn. 4), S. 130. 6 Die Aufgaben und die Arbeitsweise der Kommission wurde in einer Ordnung der Arbeitsweise der Verfassungsverständigungskommission geregelt. Darin heißt es in Art. 6, dass die Kommission ihre Beschlüsse nur im Konsens aller Mitglieder fällen kann. Art. 12 schreibt unter der Überschrift Partizipation vor, dass es Aufgabe der Kommission ist, die Beteiligung aller Schichten der Gesellschaft an der Verfassungsgebung zu verwirklichen. Auf der extra
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te Veranstaltungen durchgeführt, die dazu dienten in Universitäten, Gewerkschaften, Berufsorganisationen und NGO’s Positionen zur neuen Verfassung zu entwickeln. Dabei vorbereitete Verfassungsentwürfe wurden sowohl der Öffentlichkeit vorgestellt als auch der Kommission der Nationalversammlung übermittelt. Die Türkei erlebt damit das erste Mal einen Prozess der Verfassungsgebung, an dem die Bürger sowohl als Individuen als auch in organisierter Form aktiv beteiligt sind. Die juristische Fakultät der Istanbul Universität hat unter Beteiligung von Personen aus verschiedenen sozialen, ökonomischen und politischen Schichten und Gruppen sowie Akademikern, Künstlern, Politikern und Studierenden zahlreiche Veranstaltungen organisiert, in denen diese ihre unterschiedlichen Vorstellungen präsentieren und diskutieren konnten. Aus etwa 70 Ländern haben an die 500 Teilnehmer ihre Beiträge vorgetragen.7 Alle Beiträge und die Diskussionen wurden in einem sechsbändigen Werk veröffentlicht und dem Parlament zur Nutzung bei der Verfassungsgebung unterbreitet.8
B. Historische Entwicklung Sowohl die ersten Verfassungsdokumente als auch alle Verfassungen der Türkei enthalten Regelungen, die von großer Bedeutung für das Strafrecht waren und sind. Für ein besseres Verständnis der Überlegungen zu den heute diskutierten Verfassungsgrundsätzen werden deshalb im Folgenden strafrechtliche Grundsätze in den Verfassungsdokumenten und Verfassungen des Osmanischen Reichs und der Republik Türkei dargestellt.
I. Strafrechtliche Grundsätze in der Verfassungsentwicklung im Osmanischen Reich Die Kodifikationsbewegung sowie die Rezeption fremden Rechts sowohl auf dem Gebiete des Strafrechts als auch auf anderen Gebieten begann im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert. Dieser Prozess stützte sich auf die Reformerlasse der Tanzimat,9 die als Verfassungsdokumente betrachtet werden.10 eingerichteten Webseite der Komission sind sämtliche eingesandten Stellungnahmen und Vorschläge von Einzelpersonen, Gruppen und Institutionen namentlich aufgezählt. https:// yenianayasa.tbmm.gov.tr/tesekkur.aspx (letzter Zugriff: 17. 10. 2012). 7 Vgl. Uluslararası Anayasa Kongresi [Internationaler Verfassungskongress], Istanbul 2012. 8 Die „Stellungnahme zur neuen Verfassung/Yeni Anayasa Raporu“ der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul vom 19. Mai 2012 kann unter http://istanbuluni versitesi.hukukfakultesi.gen.tr/anayasaRaporu.pdf abgerufen werden. 9 Rumpf, in: Scholler/Tellenbach (Hrsg.), Westliches Recht in der Republik Türkei 70 Jahre nach der Gründung, 1996, S. 56 – 58.
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Die wichtigsten dieser Reformerlasse waren das Edikt von Gülhane von 1839 und der Reformerlass von 1851. Das Edikt von Gülhane betont zum einen, dass die Beachtung des Islams und seiner wesentliche Grundsätze erforderlich ist, um einen Niedergang des Osmanischen Reichs zu verhindern. Zum anderen enthält es das erste Mal eine Liste von Grundrechten mit einigen strafrechtlichen Prinzipien.11 Der Erlass enthält das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf Leben, den Schutz der Ehre und die Garantie des Eigentums.12 Darüber hinaus gibt es einige grundlegende strafrechtliche Prinzipien, die eine willkürliche Bestrafung verhindern sollen: die Garantie der Unverletzlichkeit und Sicherheit der Person, das Gesetzlichkeitsprinzip sowie das Prinzip des fairen und öffentlichen Verfahrens.13 Um insbesondere die Vollstreckung der Todesstrafe ohne Verfahren zu verhindern14 ist festgehalten, dass Strafen nur durch Gerichte verhängt werden dürfen, die auf Grund eines Gesetzes errichtet wurden, und es wurde die Strafe der Einziehung als ungerecht abgeschafft.15 Im Gülhane Edikt wurde der Erlass eines Strafgesetzes angekündigt, in dem die Strafen festgesetzt werden sollten, die bei Verstoß gegen das Gesetz zu verhängen sind,16 und es wurde betont, dass nach diesem Gesetz jeder zu bestrafen ist, der eine Straftat begangen hat, was auch immer seine Stellung oder sein Rang sei. Der Erlass und die damit proklamierten Grundsätze waren deshalb gerade für die Entwicklung des Strafrechts von großer Bedeutung17 und entsprechend seiner Anordnung wurde am 3. Mai 1840 ein Strafgesetzbuch erlassen, das sich auf die Grundsätze des Reformerlasses bezog und die Beachtung des Gleichheitssatzes bei der Anwendung des Strafrechts betonte. „Der Hirte in den Bergen und der Wesir sind gleich zu behandeln.“18 Das Strafgesetzbuch von 1840 beinhaltete jedoch noch kein systematisch geordnetes und umfassendes Strafrecht, sondern nur einige Straftaten und Sanktionen. Um die Lücken im Gesetz zu schließen, wurden in einem neuen Strafgesetzbuch vom 14. Juli 1861 neben einigen weiteren Straftatbeständen auch der Rückfall und die Beteiligung an Straftaten geregelt. Gemäß dieser Änderung war 10 Zur Diskussion über die Qualifikation dieser Erlasse als Verfassungsdokument oder als Deklaration von Rechten vgl. Tanör, osmanlı- türk anayasal gelis¸meleri, 12. Aufl. 2004, S. 92 – 93. 11 Tanör (Fn. 10), S. 91 – 92. 12 Taner, Tanzimat Devrinde Ceza Hukuku, in: Tanzimat I, 1940, S. 225; Üçok/Mumcu/ Bozkurt, Türk Hukuk Tarihi, 13. Aufl. 2008, S. 331. 13 Vgl. Taner (Fn. 12), S. 224 – 225. 14 Tanör (Fn. 10), S. 90; Üçok/Mumcu/Bozkurt (Fn. 12), S. 331. 15 Üçok/Mumcu/Bozkurt (Fn. 12), S. 331. 16 Taner (Fn. 12), S. 225; Dönmezer, in: ˙Istanbul Üniversitesi, Hukuk Fakültesi (Hrsg.), Atatürk Sempozyumu Atatürk I˙lkeleri ve Ceza Hukuku, 1984, S. 25; Aydın, Türk Hukuk Tarihi, 7. Aufl. 2009, S. 428 – 429; S¸entop, Tanzimat Dönemi Osmanlı Ceza Hukuku, 2004, S. 27; Üçok/Mumcu/Bozkurt (Fn. 12), S. 332. 17 Taner (Fn. 12), S. 221. 18 Zu den Einzelheiten vgl. Taner (Fn. 12), S. 228; Üçok/Mumcu/Bozkurt (Fn. 12), S. 343.
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der Staat bei einem Verbrechen, für das die Anwendung des Talionsprinzips vorgesehen ist, für den Fall, dass die Erben dem Täter vergeben, nicht an diesen Verzicht gebunden. Für Straftäter, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten, waren Maßregeln vorgesehen, die etwa mit einer auf unbestimmte Zeit verhängten Sicherungsverwahrung verglichen werden können.19 Im Reformerlass von 1851 wurde als wesentlicher Grund für die Schwäche des Staates die Korruption genannt und dementsprechend am 3. Februar 1855 eine Verordnung mit Gesetzeskraft zur Bekämpfung der Bestechung erlassen, die sich an französischen Vorschriften orientierte.20 Die europäischen Mächte, hielten die durch die Reformen garantierten Rechte für unzureichend und bemängelten darüber hinaus, dass die im Gülhane Edikt angekündigten Maßnahmen nicht verwirklicht worden seien. Vor der Pariser Konferenz 1856 verlangten sie deshalb für ihre Unterstützung des Osmanischen Reichs gegen Russland und für die Aufnahme in die ,europäische Familie‘ die Fortführung der Reformen als Gegenleistung.21 Der unter dem Druck dieser Entwicklung verkündete Reformerlass von 1856 wiederholte die Unverletzlichkeit von Leben, Eigentum und Ehre und verkündete, dass diese Rechte auf alle Staatsangehörigen angewandt werden, egal welcher Religion oder Glaubensrichtung sie angehören. Auch weitere Grundsätze zum Strafrecht waren Teil des Erlasses.22 Es gab ein ausdrückliches Verbot der Folter und die Humanisierung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde angekündigt. In dieser Zeit, in der auch die Bestrafung der Apostasie beendet wurde, wurde auch die strafrechtliche Gesetzgebung entsprechend den Anweisungen im Reformerlass fortgeführt. Tatsächlich wurde am 9. August 1858 ein neues Strafgesetzbuch „Ceza Kanunname-i Hümayunu“ in Kraft gesetzt, welches weitgehend von dem französischen Strafgesetzbuch von 1810 übernommen worden war.23 Dieses Gesetz war mit seinem allgemeinen und besonderen Teil das erste Strafgesetzbuch im modernen Sinne24 und blieb bis zur Gründung der Republik und der Verabschiedung des Türkischen Strafgesetzbuchs im Jahre 1926 in Kraft. Im Gegensatz zu den ersten beiden Strafgesetzbüchern stellte das Strafgesetzbuch von 1858 einen entscheidenden Wendepunkt zu einem Strafrecht mit modernen Rechtsinstituten dar.25 Die Rezeption der modernen Strafrechtsprinzipien als Verfassungsgrundsätze setzte sich mit der Verabschiedung des „Grundgesetzes/Kanun-i Esasi“, der ersten Verfassung des Osmanischen Reichs im Jahre 1876 fort. Die Verfassung von 1876 enthielt im Verhältnis zu den früheren Erlassen einen umfassenderen Katalog von Grundrechten. Jeder osmanische Staatsangehörige wurde unabhängig von seiner Re19
Üçok/Mumcu/Bozkurt (Fn. 12), S. 344; Taner (Fn. 12), S. 229. Üçok/Mumcu/Bozkurt (Fn. 12). 21 Tanör (Fn. 10), S. 95. 22 Üçok/Mumcu/Bozkurt (Fn. 12), S. 334 – 335. 23 Üçok/Mumcu/Bozkurt (Fn. 12), S. 344; Aydın (Fn. 16), S. 432. 24 Gökcen, Tanzimat Dönemi Osmanlı Ceza Kanunları ve Bu Kanunlardaki Ceza Müeyyideleri, 1989, S. 26. 25 S¸entop (Fn. 16), S. 113 – 115. 20
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ligion und Glaubensrichtung zum Osmanen erklärt und für alle Osmanen wurde in Bezug auf ihre Rechte und Pflichten die Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. Die Freiheit und Unverletzlichkeit der Person, das Verbot der Bestrafung ohne Erfüllung der gesetzlichen Bedingungen, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Verbot der Folter, Misshandlung, Einziehung und Zwangsarbeit wurden in dieser Verfassung garantiert.26 Von besonderer Bedeutung war die Garantie der Unabhängigkeit der Justiz und von Justizgrundrechten:27 die gesetzliche Regelung der Personalangelegenheiten der Richter, das Verbot der Entlassung wegen einer Straftat, solange der Richter nicht deshalb verurteilt wurde, der Schutz der Gerichte vor Eingriffen, die gesetzliche Regelung der Ernennung von Richtern, die damit nicht mehr im reinen Ermessen der Exekutive lag, die Aufnahme der Staatsanwaltschaft in die Verfassung, das Verbot der Bildung von Ausnahmegerichten und das Recht auf Verhandlung vor dem gesetzlich vorgesehenen Gericht entsprechend dem Prinzip des gesetzlichen Richters.28 Die Garantie dieser Rechte wurde jedoch durch das in Art. 113 der Verfassung geregelte Recht des Sultans, Personen ohne Gerichtsverfahren in die Verbannung zu schicken, konterkariert. Tatsächlich nutzte der Sultan diese Befugnis und schickte einige Oppositionelle in die Verbannung, allen voran Mithat Pascha, der an führender Stelle an der Erstellung des Entwurfs der Verfassung von 1876 beteiligt war. Das mit der neuen Verfassung gewählte erste Parlament des Osmanischen Reichs wurde bald nach dem Ausbruch des Osmanisch-Russischen Krieges im Jahre 1877 und der Eroberung Edirnes vom Sultan für 33 Jahre beurlaubt, so dass die Verfassung von 1878 – 1908 faktisch außer Kraft war.29 Auch in dieser Periode setzte sich die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts und des Strafvollzugs fort. 1879 wurde das von dem französischen Strafverfahrensgesetz von 1808 übernommene Strafverfahrensgesetz in Kraft gesetzt.30 Zur Verbesserung der Situation in den Strafvollzugsanstalten holte man aus England Rat und verabschiedete im Jahre 1880 die „Verordnung über die Verwaltung der Untersuchungshaft- und Strafvollzugsanstalten/Tevkifhane ve Hapishanelerin I˙darelerine Dair Nizamname“.31 Es wurden neue Gerichte gegründet. Neben den Scharia-Gerichten wurden Instanzgerichte geschaffen. Zu dieser ordentlichen Gerichtsbarkeit gehörte der Rat für Justizangelegenheiten (Divanı Ahkam-ı Adliye) als Revisionsin26 Erdinç, Batı Demokrasilerinde Klasik Kamu Özgürlükleri Alanında Görülen Sapmalar, 2. Aufl. 2002, S. 99. 27 Dönmezer (Fn. 16), S. 29. 28 Tanör/Yüzbas¸ıog˘lu, 1982 Anayasasına Göre Türk Anayasa Hukuku, 10. Aufl. 2011, S. 202. 29 Tanör (Fn. 10), S. 152, 161. 30 Als Ergebnis dieser Reformbewegungen in dieser Periode wurde 1861 die Handelsgerichtsordnung (Usul-i Muhâkeme-i Ticaret Nizamnamesi), 1863 das Seehandelsgesetz (Ticaret-i Bahriye Kanunnâmesi) und 1879 die Zivilprozessordnung (Usul-i Muhakemat-ı Hukukiye Kanunu) erlassen. Vgl. Aydın (Fn. 16), S. 432 – 234; zur Kodifikationsbewegung in dieser Periode vgl. außerdem Plagemann (Fn. 4), S. 102 ff. 31 Üçok/Mumcu/Bozkurt (Fn. 12), S. 345.
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stanz und der sich an dem französischen Staatsrat orientierende Staatsrat (S¸ura-yı Devlet) und die Handelsgerichte.32 1908 leiteten die Jungtürken und andere oppositionelle Gruppen mit ihrer „Proklamation der Freiheit“ die Periode des zweiten Konstitutionalismus ein. In dieser Periode und insbesondere im Jahre 1909 gab es Änderungen der wieder in Kraft gesetzten Verfassung, mit denen die Grundrechtsgewährleistungen gestärkt wurden: die Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit, neue Garantien zur Verhinderung von willkürlicher Festnahme und Bestrafung, die Einführung des Richtervorbehalts für Postbeschlagnahme. Die Balkankriege und der Erste Weltkrieg verhinderten jedoch, dass diese Reformen ihre Wirkung entfalten konnten.33 Die Bedeutung und die sozialen und politischen Gründe für die Entwicklung des Verfassungs- und Strafrechts im 19. Jahrhundert sind heute umstritten. Einer Ansicht nach waren die Reformen ein Ergebnis des Drucks aus dem Ausland und bereiteten letztlich den Weg zur Auflösung des Reichs. Nach anderer Ansicht handelte es sich jedoch um einen nützlichen und notwendigen Prozess der Modernisierung hin zu einem Rechtsstaat und einer Laizisierung. Bemerkenswert ist dabei, dass man auch von einer ähnlich gegensätzlichen Bewertung für den Beitrittsprozess der Türkei zur EU sprechen kann. Ohne näher auf diese Diskussion einzugehen, kann man allerdings folgendes sagen: Grundsätzlich zielten die Reformen im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert auf die Stärkung der Freiheiten und Rechte der Person und den Schutz der Rechte, die eine willkürliche Behandlung verhindern sollten. Diese positive Entwicklung auf der Normenebene wurde jedoch nicht effektiv umgesetzt. Womit sich die Frage aufdrängt, ob in der Republik Türkei die Fortschritte in den Rechtstexten auch in der Rechtsanwendung verwirklicht werden konnten. Darauf soll im Folgenden eingegangen werden.
II. Die Entwicklung strafrechtlicher Verfassungsgrundsätze in der Republik Türkei In der Periode der Republik wurden mit der zurzeit geltenden Verfassung von 1982 zusammen vier Verfassungen (1921, 1924, 1961) verabschiedet. Die Bedeutung der Verfassung von 1921, die unter den Bedingungen des Unabhängigkeitskrieges entstand, liegt insbesondere in der Proklamation der unbedingten und vollständigen Souveränität der Nation. Dabei ist zu beachten, dass in dieser Zeit auch die Verfassung von 1876 weiter in Kraft blieb. Die Verfassung von 1921 war deshalb die erste Stufe des Übergangs von der Monarchie zur Republik. Zu den Grundrechten und zum Strafrecht finden sich darin keine Regelungen.34 Deshalb wird hier nicht weiter auf diese Verfassung eingegangen. 32
Aydın (Fn. 16), S. 424 – 428. Erdinç (Fn. 26), S. 179 – 181. 34 Tanör (Fn. 10), S. 252 ff. 33
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1. Das Ein-Parteien-Regime a) Die Verfassung von 1924 und die Grundrechte Die nach der Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 durch das Parlament, die Nationalversammlung, verabschiedete Verfassung von 1924 enthielt sämtliche klassischen Grundrechte.35 Art. 70 betont „Die Unverletzlichkeit der Person, die Gewissens-, Gedanken-, Meinungs-, Veröffentlichungs-, Reise-, Vertrags-, Betätigungs-, Versammlungs-, Vereins- und Vereinigungsfreiheiten und das Recht auf Eigentum“ als die „natürlichen Rechte der Türken.“ Im Geiste des Naturrechts und eines liberalen und individualistischen Verständnisses werden die persönliche Freiheit und ihre Schranken in Art. 68 wie folgt beschrieben: „Jeder Türke wird frei geboren und lebt als freier Mensch. Freiheit ist die Freiheit in jeder Form zu handeln, die anderen keinen Schaden zufügt. Die Schranken der Freiheit, die zu den natürlichen Rechten gehört, sind für jedermann die Schranken der Freiheit des anderen. Diese Schranken werden allein durch Gesetz festgelegt.“ Wie man sieht, werden die öffentliche Sicherheit, die Unteilbarkeit des Staates, die öffentliche Ordnung und ähnliche Gründe nicht als Maßstab einer Grundrechtsbeschränkung aufgeführt.36 Dagegen finden sich in den späteren Verfassungen von 1961 und 1982 Vorschriften mit zahlreichen und umfangreichen Grundrechtsbeschränkungen. In der Verfassung von 1924 sind neben der Garantie der Unverletzlichkeit der Person außerdem umfangreiche Justizgrundrechte enthalten. So z. B. das Verbot der Verhaftung und Inhaftierung ohne gesetzlichen Grund, das Verbot von Folter, Misshandlung, Enteignung und Zwangsarbeit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die nur auf Grund eines Gesetzes betreten und durchsucht werden darf, der Schutz des Post- und Kommunikationsgeheimnisses, in die nur auf Grund eines richterlichen Beschlusses eingegriffen werden darf, das Prinzip des natürlichen Richters, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Prinzip der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen und das Recht auf Verteidigung.37 b) Die Entwicklung der Kodifikation Die im Osmanischen Reich begonnene Kodifikation und Rezeption setzten sich in der Republik in sehr viel größerem Umfang fort. Mit der Verabschiedung des Türkischen Strafgesetzbuchs (tStGB) 1926 wurde das italienische Strafgesetzbuch von Zanerdelli übernommen und 1929 wurde mit dem Strafverfahrensgesetz die deutsche Strafprozessordnung übernommen.38 Die aus Europa übernommenen Strafgesetze waren für die damalige Zeit liberale und das Rechtsstaatsprinzip verwirkli35
Erdinç (Fn. 26), S. 248. Akın, 50. Yıl Armag˘anı, 1973, S. 22; Tanör (Fn. 10), S. 308. 37 Özçelik, Esas Tes¸kilat Hukuku Dersleri, Bd. II, 1976, S. 108 – 109. 38 Diese umfangreichen Rezeptionen beschränkten sich nicht auf das Strafrecht. So wurde beispielsweise das Türkische Zivilgesetzbuch von 1926 vom Schweizerischen Zivilgesetzbuch übernommen und das Türkische Handelsgesetzbuch 1926 vom deutschen Handelsgesetzbuch übernommen. Vgl. Plagemann (Fn. 4), S. 169 – 170. 36
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chende Gesetze. Wie wir später auch noch sehen werden, blieben die liberalen und freiheitlichen strafrechtlichen Garantien jedoch oft nur auf dem Papier. c) Die Periode des Einparteiensystems Die Zeit der Geltung der Verfassung von 1924 bis zum Jahre 1960 muss man als zwei getrennte unterschiedliche Perioden, die Periode des Einparteienregimes und die Periode des Mehrparteiensystems untersuchen. In der Periode des Einparteienregimes der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi – CHP) von 1924 – 1945 lag die Herrschaft in der Hand der Exekutive.39 Mit der Verfassungsänderung von 1937 wurden die Grundprinzipien der CHP als offizielle Staatsideologie in die Verfassung aufgenommen. „Der türkische Staat ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, etatistisch, laizistisch und revolutionär.“ (Art. 2) Nach dem Tod des Republikgründers Atatürk im Jahre 1938 wurde der Vorsitzende der CHP, I˙smet I˙nönü, auf Lebenszeit zum „nationalen Chef/Milli S¸ef“ proklamiert und hatte so faktisch die Gesetzgebung und Exekutive in der Hand.40 In dieser Zeit, als Partei und Staat miteinander verschmolzen waren, gab es viele Gesetze und Maßnahmen, die einen Verstoß gegen die in der Verfassung garantierten Grundrechte, strafrechtlichen Verfassungsgrundsätze und das Recht auf ein faires Verfahren darstellten.41 Diese Verstöße vollzogen sich insbesondere auf zwei Wegen. Zum einen über die Änderung des Türkischen Strafgesetzbuchs, das als Rezeption auch das liberale und freiheitliche Verständnis des Zanerdelli Gesetzes übernommen hatte. Die Änderungen des tStGB42 orientierten sich an dem in der Mussolini-Ära verfassten neuen italienischen Strafgesetzbuch von 1931 und verleihen dem türkischen Strafgesetzbuch einen neuen autoritären Charakter, der den Schutz des Staates in den Vordergrund stellt.43 Hier zeigt sich die Rechtsrezeption als negativer Prozess. Während des Einparteienregimes wurde durch Zensur die Meinungs- und Pressefreiheit in erheblichem Maße eingeschränkt. Im vom faschistischen italienischen Strafgesetzbuch geprägten tStGB war es eine Straftat, sozialistische oder religiöse Gedanken zu äußern oder sich für solche Vorstellungen zu organisieren.44 In 39 Auf die Besonderheiten der Phase der Errichtung dieses Einparteienregimes in den Jahren 1924, 25 und auf den kurzen Versuch, eine Opposition zuzulassen, im Jahre 1930 wird hier nicht eingegangen. 40 Plagemann (Fn. 4), S. 154 – 155. 41 Tanör (Fn. 10), S. 314 ff. 42 Die umfassende Gesetzesänderung erfolgte mit dem Gesetz Nr. 3038 vom 23. Februar 1936. 43 Özek, Siyasi I˙ktidar Düzeni ve Fonksiyonları Alaeyhine Cürümler, 1967, S. 32 ff. 44 Die Art. 141 und 142 (Versuch der Errichtung einer Klassenherrschaft/Bildung einer entsprechenden Vereinigung und Propaganda für diese) des tStGB von 1926 wurden von den Art. 270 und 272 des italienischen Strafgesetzbuchs von 1931 übernommen. Die Artikel wurden in der Praxis auf kommunistische und sozialistische Äußerungen und Organisationen angewandt. Vgl. dazu Alacakaptan, Demokratik Anayasa ve Türk Ceza Kanunu’nun 141 ve
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dieser Zeit wurden weltberühmte Dichter, Schriftsteller und Künstler zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, drastische Beschränkungen der Religions- und Gewissensfreiheit praktiziert, z. B. Moscheen geschlossen und den Personen untersagt, auf Pilgerfahrt zu gehen.45 Eine andere Methode des Missbrauchs des Strafrechts waren bestimmte offen gegen verfassungsrechtliche Garantien verstoßende Gesetze,46 mit denen aus besonderen Anlässen außerordentliche Gerichte errichtet wurden. In diesen Gerichten verhängten die Richter, die sich nach den Anweisungen der Exekutive richteten, schwere Strafen und insbesondere Todesstrafen. Den Angeklagten wurde das Recht auf Verteidigung und ein faires Verfahren verweigert. In einigen Gesetzen wurde sogar die Einlegung eines Rechtsmittels gegen verhängte Todesstrafen untersagt47. Die Formulierung „An den Menschen wurde erst die Todesstrafe vollstreckt, dann wurden sie angeklagt“48 bringt die Willkür und den Missbrauch der Mittel des Strafrechts in dieser Phase der Republik überdeutlich und prägnant zum Ausdruck. Wie konnten Gesetze, die eine derartig willkürliche und autoritäre Praxis ermöglichten, trotz einer Verfassung erlassen werden, die die Freiheiten und Recht der Individuen garantiert und das Recht auf ein faires Verfahren garantiert? Auch in der Verfassung von 1924 hieß es, dass Gesetze nicht gegen die Verfassung verstoßen dürfen (Art. 103), es gab aber keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die dies kontrollieren konnte. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes erfolgte durch das Parlament, welches die Gesetze verabschiedete. Im Parlament gab es eine Partei und diese Partei war mit dem Staatsapparat verschmolzen. Es wird behauptet, dass die Außerkraftsetzung der Rechte und Freiheiten und die willkürliche Anwendung des Strafrechts erforderlich waren, um das Regime der Republik zu stabilisieren und ihre Ideologie und die verwirklichten Revolutionen in der Gesellschaft zu verankern. Tatsächlich werden die Errichtung eines modernen Staats und Schaffung einer Nation als Entschuldigungsgrund für eine autoritäre und willkürliche Praxis gesehen.49 Unserer Auffassung nach sollten Gesetze, die ein Unrecht darstellen, aus keinem Grunde, welcher Art er auch sein mag, als entschuldigt betrachtet werden. 2. Das Mehrparteiensystem und der Militärputsch von 1960 Nach dem Übergang zum Mehrparteiensystem im Jahre 1945 und dem Machtwechsel zur Demokratischen Partei 1950 gab es einige positive Entwicklungen in 142’inci Maddeleri, AÜHFD (Ankara Üniversitesi Hukuk Fakültesi Dergisi), 1965 – 1966, Jahrgang 22 – 23/ Heft 1 – 4, S. 5. 45 Tanör (Fn. 10), S. 318. 46 Zu diesen Gesetzen s. Erdinç (Fn. 26), S. 259 – 263. 47 Nach dem Gesetz Nr. 2884, dem Tunceli-Gesetz, vom 23. Dezember 1935 war gegen Urteile der lokalen Gerichtsbarkeit der Rechtsweg zum Kassationshof ausgeschlossen. Vgl. Erdinç (Fn. 26), S. 261. 48 Can, Darbe Yargısının Sonu, Karagâh Yargısından Halkın Yargısına, 2010, S. 34. 49 Dönmezer (Fn. 16), S. 37 – 38; Tanör (Fn. 10), S. 326.
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Bezug auf die Rechte und Freiheiten der Individuen. Insbesondere bei der Meinungsund Pressefreiheit gab es wichtige Fortschritte. Als Ergebnis des strengen Laiszismusverständnisses während des Einparteienregimes wurde der arabische Gebetsruf, der eine seit Jahrhunderten praktizierte Tradition ist, verboten und erzwungen, dass dieser nun in Türkisch erfolgte. Der Religionsunterricht wurde ganz aus dem Schulunterricht herausgenommen. Während der Regierungszeit der Demokratischen Partei wurde der arabische Gebetsruf wieder zugelassen und der Religionsunterricht als Wahlfach wieder eingeführt.50 Das Pressegesetz von 1931, mit dem der Regierung die Befugnis erteilt worden war, Zeitungen zu schließen und die Nutzung der Pressefreiheit praktisch unmöglich gemacht wurde, wurde durch ein neues freiheitliches Pressegesetz ersetzt, das auf einem liberalen Verständnis beruhte.51 Aus der Sicht der zivilen und militärischen Elite des Landes, die sich als Behüter der Republik begriffen, erschienen insbesondere die Entwicklungen auf dem Gebiet der Religionsfreiheit als Rückschritt und eine Gefahr für die Grundprinzipien der Republik. In den Schichten, die um den Verlust ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Privilegien fürchteten, begann eine massive Opposition gegen die Regierung und im Militär begannen Vorbereitungen für einen Militärputsch gegen die Regierung der Demokratischen Partei. Auf der anderen Seite begann die Demokratische Partei in der letzten Phase ihrer Regierungszeit, als sie das dritte Mal die Wahlen gewonnen hatte, gestützt auf ihre parlamentarische Mehrheit mit einer aus demokratischer und freiheitlichen Sicht fragwürdigen Praxis und Gesetzgebung. Diese Entwicklungen führten zu großen Spannungen im politischen und gesellschaftlichen Leben sowie zu Feindschaft gegenüberstehenden Lagern. Am 27. Mai 1960 führten die Bewaffneten Streitkräfte das erste Mal in der Geschichte der Republik einen Militärputsch durch, den sie damit begründeten, dass sie Republik „schützen und behüten und aus den Händen der gierigen Politiker befreien müssen, die das Land in die Krise und die Katastrophe führen.“ Das Militärregime verbot die Demokratische Partei, die mit Wahlen an die Macht gekommen war, und ließ den Ministerpräsident und drei Minister in einem Schauprozess zum Tode verurteilen und hinrichten sowie zahlreiche Mitglieder der Partei zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilen. Bis heute finden sich auf politischen, sozialen und rechtlichen Gebieten die negativen Spuren des Putsches von 1960, der keinerlei rechtliche Rechtfertigung hatte, und des als Unrechtssystem zu qualifizierenden Militärregimes. 3. Die Verfassung von 1961 Die Verfassung von 1961 wurde von der Militärführung und einem Teil der Elite, der sie unterstützte, unter völligem Ausschluss der verbotenen Demokratischen Partei und ihrer Anhänger entworfen. Die Grundvorstellung der Verfassung von 1961, die sich auf keinen gesellschaftlichen Konsensus stützen konnte, war die Begrenzung Bas¸gil, 27 Mayıs ˙Ihtilali ve sebepleri, 2. Aufl. 2006, S. 71; Erdinç (Fn. 26), S. 262 – 263. Das Gesetz Nr. 5680 vom 17. 7. 1950 blieb bis 2004 in Kraft. Vgl. Sözüer, Basın Suçlarında Ceza Sorumlulug˘u, 1996, S. 59 – 62. 50
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der gewählten Macht. Deshalb wurde in die Verfassung eine Art von „Vormundschaftssystem“ aufgenommen, denn es bestand ja die Gefahr, dass in freien Wahlen die Mehrheit des Volkes eine „falsche Partei“ bevorzugt. In der Verfassung wurde die Staatsideologie als Verfassungsnorm aufgenommen und der Nationale Sicherheitsrat, der sich in seiner Mehrheit aus Vertretern des Militärs zusammensetzte, als Verfassungsorgan aufgenommen und in allen wichtigen politischen Entscheidungen zum Wortführer gemacht.52 Dies führte dazu, dass bis vor wenigen Jahren sämtliche grundlegenden politischen Entscheidungen im Nationalen Sicherheitsrat entschieden wurden. Im Senat, der zweiten Kammer des Parlaments, waren die Putschisten natürliche Mitglieder auf Lebenszeit und der Staatspräsident ernannte 15 Senatoren (bis 1987 kamen diese immer aus dem Militär). Deshalb wird die Zeit der Verfassung von 1961 auch als „Vormundschaftsregime“ bezeichnet.53 Alle klassischen Freiheiten und Rechte wie auch die strafrechtlichen Grundsätze finden sich in der Verfassung von 1961. Es ist allgemein anerkannt, dass diese Regelungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Verfassungen der westlichen demokratischen Länder übereinstimmen und ein wirksames Gewährleistungssystem der Grundrechte gebracht haben. Eine wichtige Neuerung ist dabei jedoch die Einführung eines Verfassungsgerichts mit der Verfassung von 1961.54 Auch unter der Geltung der Verfassung von 1961 gelang jedoch wieder nicht, wie auch in den Perioden zuvor, die in der Verfassung vorgesehenen Freiheiten und Rechte wirksam zu gewährleisten. Die Putschisten und der Teil der Staatselite, der in Zusammenarbeit mit ihnen die Verfassung entworfen hatte, entwickelten eine Mechanismus, der Freiheiten und Rechte soweit gewährleistete, wie sie in Übereinstimmung mit der von ihnen verinnerlichten Grundsätzen und der Ideologie der Republik gebraucht wurden. In der Verfassung wurde die sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Justiz garantiert, aber während des Putsches und des nachfolgenden Militärregimes wurden in einer Säuberungsaktion zahllose Richter und Staatsanwälte am höchsten Verwaltungsgericht, dem Staatsrat, am Kassationshof und den örtlichen Gerichten in den Ruhestand versetzt und allen voran das Verfassungsgericht in die Hände „vertrauenswürdiger Kräfte“ gegeben. Das neu errichtete Verfassungsgericht wurde mit der Fortführung der Verfahren betraut, die nach dem Putsch vor Ausnahmegerichten durchgeführt wurden, und so führte es unter Verletzung des Grundsatzes des natürlichen Richters als außerordentliches Gericht Verfahren durch.55 Tatsächlich finden sich in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zahlreiche Urteile, 52
Yazıcı, Demokratikles¸me Sürecinde Türkiye, 2009, S. 84 ff.; Erdinç (Fn. 26), S. 272. Özbudun, Otoriter Rejimler, Seçimsel Demokrasiler ve Türkiye, I˙stanbul Bilgi Üniversitesi Yayınları, 2011, S. 132; Erdinç (Fn. 26), S. 273. 54 Tanör (Fn. 10), S. 380 – 384; Özbudun (Fn. 53), S. 132. 55 Gemäß Übergangsartikel 7 des Gesetzes über die Gründung und das Verfahren vor dem Verfassungsgericht, Gesetz Nr. 44 vom 22. April 1962 wurde „Hohe Gerichtshof“, vor dem diese sog. Gerichtsverfahren stattfanden, mit der Gründung des Verfassungsgerichts geschlossen und die dort begonnenen Verfahren zur Fortführung an das Verfassungsgericht übertragen. 53
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in denen es das Recht nicht im Sinne der Freiheiten und Rechte und ihres Ausbaus, sondern im Sinne einer Beschränkung dieser Rechte auslegt. So gibt es etwa eine große Zahl von Urteilen, mit denen Parteien verboten wurden.56 Der Putsch vom 27. Mai 1960 und die Rechtspraxis in dieser Zeit wurde als zu schützende Werte betrachtet und eine Straftat geschaffen, die Ansichten, die den Putsch und die Zeit des Militärregimes kritisieren unter eine Strafdrohung von 1 bis fünf Jahre Freiheitsstrafe gestellt.57 Dieses Verständnis von Rechtsgütern und der Strafbarkeit, das ausschließlich ideologischen Zielen dient, wurde vom Verfassungsgericht mit der Begründung, dass „die Gedanken nur im Kopf des Menschen grenzenlos sein könnten,“ als verfassungsgemäß bewertet.58 Auch die Straftaten des Art. 141 und 142 des tStGB, mit denen die Äußerung sozialistischer und kommunistischer Gedanken und Vereinigungen, die sich dafür einsetzen bestraft wurden, wurden als verfassungsgemäß bewertet.59 In vielen weiteren Urteilen, in denen Verletzungen der Freiheiten und Rechte der Individuen als verfassungsgemäß bewertet wurden, zeigte sich diese Tendenz des Verfassungsgerichts:60 Die Bestimmung von Straftaten durch eine Rechtsnorm der Verwaltung,61 die Bestrafung ohne Vorliegen einer Schuld,62 die Verhängung einer Arreststrafe bei Wasser und Brot ohne richterliche Entscheidung durch den Kommandanten bei Verletzung der militärischen Disziplin,63 die mildere Bestrafung einer Vergewaltigung einer Prostituierten.64 Wie man sieht wurden wesentliche Grundsätze wie das Gleichheitsprinzip, das Gesetzlichkeitsprinzip und das Schuldprinzip so durch das Verfassungsgericht ausgelegt, dass es faktisch inhaltsleer 56 Unter der Geltung der Verfassung von 1961 hat das Verfassungsgericht sechs Parteien, die teils sozialistische teils konservative Vorstellungen vertraten, verboten, Vgl. dazu Met, Cumhuriyet Döneminde Kapatılan Siyasi Partiler, 2008, S. 49 – 53. 57 Gemäß Art. 1 des „Gesetzes über Taten, die die Verfassungsordnung oder die nationale Ruhe und Ordnung stören“ vom 7. März 1962, Gesetz Nr. 38, wurde jede Meinung unter Strafe gestellt, die den Putsch von 1960 in irgendeiner Weise negativ darstellt oder die mit dem Putsch abgelöste Regierung der Demokratischen Partei in irgendeiner Weise lobt. 58 Urteil des Verfassungsgerichts vom 8. April 1963, E. 1963/16, K. 1963/83. 59 Urteil des Verfassungsgerichts vom 26. September 1965, E. 1963/73, K. 1965/40. Bis in die Zeit um 2000 hat sich diese Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, die Verfassungsvorschriften, welche die Meinungsfreiheit betreffen, in einer die Freiheit in extremen Maße beschneidenden Weise auslegt, fortgesetzt. Vgl. dazu Sunay, I˙fade Hürriyetinin Muhtevası ve Sınırları, 2001, S. 286. 60 Zu den Urteilen des Verfassungsgerichts, die strafrechtliche Fragen betreffen, vgl. S¸en, Anayasa Mahkemesi Kararlarında Ceza Hukuku Ceza Özel Hukuku Ceza Yargılaması Hukuku Ceza I˙nfaz Hukuku, 1998. 61 Urteil des Verfassungsgerichts vom 28. März 1963, E. 1963/4, K. 1963/71. 62 Urteil des Verfassungsgerichts vom 21. September 1966, E. 1966/14, E. 1966/36; und vom 14. Dezember 1968, E. 1968/32, K. 1968/62. 63 Urteil des Verfassungsgerichts vom 27. Dezember 1965, E. 1963/57, K. 1965/65. Die Arreststrafe bei Wasser und Brot nach Art. 23 und 26 des Militärstrafgesetzbuchs wurde gegen Wehrpflichtige, Rekruten und Gefreite bis zu drei Wochen, in denen sie lediglich Wasser und Brot erhielten, vollstreckt. Am 22. März 2000 wurde diese Disziplinarstrafe abgeschafft. s. Art. 38 des Gesetzes Nr. 4551. 64 Urteil des Verfassungsgerichts vom 12. Januar 1989, E. 1988/4, K. 1989/3.
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wurde.65 Diese Beispiele zeigen, dass das Verfassungsgericht bei der Auslegung der Grundrechte und der strafrechtlichen Verfassungsgrundsätze generell von einer Höherwertigkeit der Revolution, den Prinzipien und der Ideologie der Republik ausgeht, diese also über die Grundrechte stellt. Man kann auch sagen, dass nicht die Gewährleistung dieser Rechte als solche erfolgt, sondern ihr Gebrauch nur insoweit garanatiert wurde, als er nicht die Ideologie der Republik, wie sie von den Anhängern des Putsches vom 27. Mai verstanden wird, gefährdet. Ganz im Gegensatz zur verbreiteten Vorstellung über die Verfassung von 1961 wurde diese Verfassung nicht geschaffen, um die Minderheit davor zu schützen, dass ihre Rechte von der Mehrheit verletzt werden, sondern um die Herrschaft einer bestimmten Minderheit über die Mehrheit zu sichern. Trotz des hier beschriebenen „Vormundschaftssystems“ und der die Grundrechte beschränkenden Rechtsprechung des Verfassungsgericht hat die Gesellschaft nach dem Putsch und dem Militärregime wieder politische Parteien an die Macht gebracht, die von den Militärs und der zivilen Elite unerwünscht waren. Das rief wieder das Militär auf den Plan, führte zu Drohungen mit einem Militärputsch,66 und dazu, dass die Regierung über ein Memorandum des Militärs gestürzt wurde und militärisch geduldete Übergangsregime gebildet wurden. Auch in diesen Phasen kam es zu Gesetzen und Rechtspraktiken, die Grundrechte und strafrechtliche Grundprinzipien verletzten.67 4. Der Putsch von 1980 und die Verfassung von 1982 Einer der wesentlichen Gründe, die für den Putsch von 1960 und die Verfassung von 1961 angeführt werden, ist der Schutz der Grundrechte und Freiheiten gegen eine politische Macht, deren Demokratieverständnis auf der Herrschaft der Mehrheit be65 Tanör, der die Bewertung der antidemokratischen Gesetze, welche sich gegen die Unverletzlichkeit der Person und die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit richten, als Verfassungsgemäß kritisiert, weist jedoch darauf hin, dass es auch einige Urteile des Verfassungsgerichts gibt, welche die Rechte und Freiheiten schützen. Vgl. Tanör (Fn. 10), S. 410. 66 So erhielten beispielsweise bei den ersten Wahlen nach in Kraft treten der Verfassung von 1961 am 15. Oktober 1961 die Parteien die Mehrheit, die die gleichen politische Vorstellungen wie die mit dem Putsch verbotene Demokratische Partei vertraten. Die Militärs haben daraufhin die Führer der politischen Parteien vorgeladen und mit der Drohung eines Militärputsches gezwungen, ihre Vorgaben für die Regierung zu akzeptieren, und haben sie ein entsprechendes Protokoll unterzeichnen lassen. s. Erdinç (Fn. 26), S. 274 – 275. 67 Der wichtigste Eingriff der Militärs war das Memorandum vom 12. März 1971 mit dem die Regierung der Gerechtigkeitspartei, die als Fortsetzung der beim Putsch aufgelösten Demokratischen Partei zu betrachten ist, zum Rücktritt gezwungen wurde. Unter dem Druck der Militärs wurde die Verfassung von 1961 geändert und die Grundrechte eingeschränkt und die Privilegien des Militärs ausgebaut. So wurde z. B. die Kontrolle des Rechnungshofs über die Bewaffneten Streitkräfte aufgehoben, die Ausrufung des Ausnahmezustandes erleichtert, das Gesetz über den Ausnahmezustand so geändert, dass es auch schon vor der Ausrufung des Ausnahmezustandes anwendbar wurde und damit der Grundsatz des natürlichen Richters verletzt. Die Staatssicherheitsgerichte, an denen auch Militärrichter beteiligt waren, wurden in die Verfassung aufgenommen und es wurde das Hohe Militärverwaltungsgericht gegründet. Vgl. Yazıcı (Fn. 52), S. 87 – 92; Erdinç (Fn. 26), S. 318 – 319; Tanör (Fn. 10), S. 416 – 418.
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ruht. Dementsprechend wurde der Putsch vom 27. Mai 1960 als „Fest der Freiheit und Verfassung“ proklamiert. Um die gesellschaftliche Legitimation des Putsches zu sichern oder zumindest diesen Eindruck zu erwecken, betonten die Putschisten in Ihren Äußerungen immer die Freiheiten. Wie oben ausgeführt, verdeckte diese Betonung der Freiheit nur das Verständnis von einem Staat, der die Privilegien der zivilmilitärischen Eliten schützt und zugleich die Gesellschaft nach den Vorstellungen dieser Eliten gestaltet. Auf Entwicklungen, die den Vorstellungen der Eliten zuwider lief, wurde mit offenen und verdeckten Einmischungen des Militärs reagiert, so geschah es in den 60er Jahren und zuletzt 1971. Die instabile Lage in den 70er Jahren und die Kämpfe zwischen politischen Gruppen, die zum Tode von Tausenden von Menschen führte, bereiteten den Boden für einen neuen Militärputsch. Und am 12. September 1980 nahmen die Bewaffneten Streitkräfte die Staatsführung in ihre Hand. In der von den Putschisten veröffentlichten Erklärung68 heißt es, dass die Armee „gezwungen war, die Führung in ihre Hand zu nehmen, um der Einheit des Vaterlandes und der Nation und den zunehmend an Einfluss verlierenden Prinzipien Atatürks wieder neue Kraft zu verleihen, so dass sie ihre Funktion erfüllen können, um die Demokratie, der es nicht gelingt, sich selbst zu kontrollieren, wieder auf eine gesunde Grundlage zu stellen und um die verlorengegangene Autorität des Staates wieder herzustellen.“ Die im Kommuniqué Nr. 1 des nationalen Sicherheitskomitees,69 also der Militärregierung, erklärte Begründung des Putsches spiegelt sich vollständig in der Verfassung von 1982 wider.70 In der Präambel der Verfassung von 68
Resmi Gazete [Amtsblatt] vom 12. 09. 1980, Nr. 17103. Die Begründung für den Putsch lautete: „Indem sie an Stelle des Geistes Atatürks reaktionäre und andere abweichende Ideologien und Vorstellungen entwickelt haben, haben sie systematisch und verräterisch von den Grundschulen bis zu den Universitäten alle Bildungseinrichtungen, das Verwaltungssystem, die Justizorgane, den Sicherheitsapparat, die Arbeitnehmerorganisationen, die politischen Parteien und nicht zuletzt die Bürger, die in den entlegenen Regionen unseres Landes leben, unter Druck gesetzt und Angriffen ausgesetzt, womit sie das Land an den Rand der Spaltung und des Bürgerkrieges gebracht haben. Kurz gesagt, sie haben den Staat in eine schwache und kraftlose Lage gebracht. […] Das Ziel unserer heute begonnenen Operation ist, die Einheit unseres Landes zu schützen, die nationale Einheit und Gemeinschaft zu garantieren, einen möglichen Bürgerkrieg und Bruderkrieg zu verhindern, die Autorität des Staates und seiner Existenz neu zu errichten und die Gründe zu beseitigen, die das Funktionieren der demokratischen Ordnung verhindert haben.“ Resmi Gazete vom 12. September 1980, Nr. 17103. 70 Resmi Gazete vom 12. 09. 1980, Nr. 17103. Nach dem Putsch 1960 wurde in Übergangsartikel 4 der Verfassung von 1961 die Unantastbarkeit aller Verfügungen und Entscheidungen des Militärregimes festgeschrieben. In gleicher Weise wurde es mit Art. 3 des Gesetzes Nr. 2324 verboten, die Verfassungswidrigkeit von Erklärungen, Entscheidungen und Gesetzen des Nationalen Sicherheitskomitees geltend zu machen. Diese Vorschrift wurde dann in Übergangsartikel 15 der Verfassung von 1982 übernommen. Gemäß Übergangsartikel 15 durfte eine strafrechtliche, finanzielle oder sonst rechtliche Verantwortlichkeit für jede Art von Entscheidungen und Verfügungen des Nationalen Sicherheitskomitees, der von diesem gebildeten Regierung und Beratenden Versammlung oder eine Verfassungswidrigkeit von Gesetzen aus dieser Zeit nicht geltend gemacht werden. Das Verbot der Geltendmachung der Verfassungswidrigkeit wurde mit der Verfassungsänderung 69
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1982 werden der Nationalismus Atatürks, die Prinzipien Atatürks und die von Atatürk verwirklichten revolutionären Umwälzungen stärker betont als die Menschenrechte, die Demokratie und die grundlegenden Rechte und Freiheiten. „Keine Meinung oder Ansicht“, die sich gegen die nationalen Interessen, die Unteilbarkeit des Staatsgebietes und der Nation, den Nationalismus, die Prinzipien und die revolutionären Umwälzungen Atatürks richtet, wird geschützt, hieß es in der Präambel.71 Diese Formulierung stellte heraus, dass das grundlegende Ziel der Verfassung nicht die Verwirklichung der Rechte und Freiheiten der Individuen, sondern des Staates und seiner Ideologie war.72 Dieses Ziel der Verfassung spiegelte sich auch in der Grundrechteordnung der Verfassung wider. Als Schranken der Rechte und Freiheiten wurden zum einen allgemeine Schranken für alle Grundrechte und zum zweiten Schranken jeweils bei den einzelnen Rechten und Freiheiten festgelegt. Nach Art. 13 der Verfassung konnten die in der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten zum Schutz der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Nation, der nationalen Souveränität, der Republik, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der allgemeinen Sicherheit, des öffentlichen Interesses, des Sittengesetzes und der allgemeinen Gesundheit sowie aus besonderen Gründen, die in den jeweiligen Artikeln der Verfassung vorgesehen sind, beschränkt werden.73 Zwar sind als Schrankenschranke in Art. 13 Abs. 2 die Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung sowie der jeweils vorgesehene Zweck der Rechte und Freiheiten vorgesehen, die Unbestimmtheit dieser Begriffe hat jedoch verhindert, dass sich daraus ein wirksamer Schutzmechanismus entwickelt hat.74 Von besonderer Bedeutung für die strafrechtlichen Grundsätze ist das in Art. 14 vorgesehene Verbot des Missbrauchs der Grundrechte und Freiheiten. Nach Art. 14 war es untersagt, die in der Verfassung garantierten Grundrechte und Freiheiten zu benutzen, um die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Nation zu zerstören, die Existenz des türkischen Staates und der Republik in Gefahr zu bringen, die Grundrechte und Freiheiten zu beseitigen, die Beherrschung des Staates durch eine Person oder eine Gruppe oder die Herrschaft einer sozialen Klasse über andere sozialen Klassen herbeizuführen oder Unterschiede in Sprache, Rasse, Religion oder Glaubensrichtung zu schaffen oder auf sonstigem Wege eine auf diesen Begriffen und Ansichten beruhende Staatsordnung zu gründen. Gem. Abs. 2 werden die Sankvon 2001 aufgehoben und die Indemnität der Putschisten wurde mit der Verfassungsänderung, die durch Referendum am 12. September 2010 angenommen wurde, aufgehoben. 71 Inzwischen wurde die Formulierung in „keinerlei Aktivitäten“ geändert. 72 Tanör, Türkiye’nin I˙nsan Hakları Sorunu, 1994, S. 197; das Verfassungsgericht nutzt die Präambel in seinen Urteilen als Maßstab. Vgl. Yüzbas¸ıog˘lu, Türk Anayasa Yargısında Anayasallık Bloku, 1993, S. 126. 73 Für Übersetzungen aus der Verfassung von 1982 wurde auf die Übersetzung von Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, Einführung mit vollständigem Verfassungstext, 1996 zurückgegriffen. 74 Für die Änderung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu den Notwendigkeiten der demokratischen Gesellschaft vgl. Yüzbas¸ıog˘lu (Fn. 72), S. 312; Tanör (Fn. 72), S. 204.
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tionen, die bei Verstößen gegen diese Verbote anzuwenden sind, durch Gesetz festgelegt. Diese Regelung wurde benutzt, um insbesondere auf den Gebieten der Meinungsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit und der politischen Freiheiten strafrechtliche Sanktionen zu rechtfertigen.75 Neben diesem Artikel macht Art. 15 die in der Verfassung garantierten Freiheiten gewissermaßen bedeutungslos: „In den Fällen des Krieges, der Mobilmachung, des Ausnahmezustandes oder des Notstandes kann unter der Voraussetzung, dass die sich aus dem Völkerrecht ergebenden Verpflichtungen nicht verletzt werden, in dem der Lage entsprechend erforderlichen Maße der Gebrauch der Grundrechte und -freiheiten teilweise oder vollständig ausgesetzt werden oder können Maßnahmen getroffen werden, die den für jene in der Verfassung vorgesehenen Garantien widersprechen.“ Damit werden die grundlegenden Garantien der Freiheiten bedeutungslos, denn in den bezeichneten Fällen wird dem Gesetzgeber die Möglichkeit gegeben Maßnahmen zu ergreifen, die gegen die verfassungsrechtlichen Garantien verstoßen. Bedenkt man, dass in der Türkei der Ausnahmezustand in manchen Provinzen bis 1987 ausgerufen war und dass manche Provinzen bis 2002 Notstandsgebiete waren, wird deutlich wie bedeutend diese Regelung für die Geltung der Freiheiten ist.76 Die Gedanken- und Meinungsäußerungsfreiheit ist in der Verfassung in den Artikel 25 und 26 getrennt geregelt. Die Meinungsäußerung war jedoch nur in den nicht verbotenen Sprachen vorgesehen, es wurde also eine Kategorie der verbotenen Sprache geschaffen. Straftatbestände, mit denen die Meinungsfreiheit beschränkt wurde,77 wurden weit ausgelegt, so dass diese Freiheit bedeutungslos wurde und Normenkontrollklagen gegen diese Artikel wurden vom Verfassungsgericht abgewiesen.78 Die Höchstdauer der Polizeihaft bei Organisationsdelikten betrug 15 Tage und diese Dauer konnte im Ausnahmezustand oder im Notstand noch ausgeweitet werden. In Art. 143 wurden die Staatssicherheitsgerichte geregelt, an denen ein Militärrichter beteiligt war. Nach dem Gesetz über diese Gerichte galten besondere Vorschriften für das Ermittlungsverfahren und das Hauptverfahren. Diese Regelungen 75 Eine ähnliche Vorschrift wurde mit der Verfassungsänderung von 1971 in die Verfassung von 1961 eingefügt. Insbesondere zu den Art. 141, 142 tStGB vgl. Tanör, TCK 142. Madde, Düs¸ünce Özgürlüg˘ü ve Uygulaması, 1979, S. 98 – 103; Tanör (Fn. 72), S. 205. 76 Bei einer Untersuchung der Dauer zeigt sich, dass von der Gründung der Republik bis zum Jahre 2002 in der Türkei in manchen Provinzen bis zu 40 Jahre der Ausnahmezustand oder der Notstand verhängt worden war. Damit gab es in der Türkei nahezu während der Hälfte der Geschichte der Republik einen Ausnahmezustand oder Notstand, was deutlich macht, welche Bedeutung diese „Ausnahme“ für die Beschränkung der Freiheiten hat. 77 Hier ist insbesondere an die Art. 141, 142, 159, 163, und 312 des tStGB und an den Art. 8 des Antiterrorgesetzes über Propaganda für eine terroristische Vereinigung zu erinnern. Für eine verfassungsrechtliche Bewertung der Art. 141, 142 und 163 tStGB und die dazu einschlägige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts vgl. Tanör, TCK 142. Madde, Düs¸ünce Özgürlüg˘ü ve Uygulaması (Fn. 75), S. 63, 73. 78 Urteil des Verfassungsgerichts, E 1991/18, K 1992/20 vom 31. 3. 1992, in: RG. vom 27. 01. 1993, S. 21478.
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zeigen das Verständnis vom Schutz des Individuums und vom Recht auf ein faires Verfahren in der Verfassung von 1982. In allen Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht wurde die Mitgliedschaft eines Soldaten in dem Gericht als Verletzung des Prinzip der Unabhängigkeit der Justiz und damit des Rechts auf ein faires Verfahren gerügt und die Türkei verurteilt.79 Zwar enthält die Verfassung die detailliert geregelte Gewährleistung der personellen und sachlichen Unabhängigkeit der Richter, die Struktur des Hohen Rats für Richter und Staatsanwälte widersprach dem aber. Der Ausschluss des Rechtswegs gegen seine Entscheidungen, die ausschließliche Mitgliedschaft im Rat von Mitgliedern der hohen Gerichte, die Wahl der richterlichen und staatsanwaltlichen Mitglieder durch die hohen Gerichte und die Entscheidung über den Aufstieg der Richter an den lokalen Gerichten auf Grund von Benotung ihrer Urteile durch die hohen Gerichte, all dies führte nicht zu einer aus unabhängigen Mitgliedern gebildeten rechtsprechenden Gewalt, sondern zu einem hierarchischen Gebilde. Auch wenn in Art. 38 der Verfassung strafrechtliche Grundsätze, wie das Gesetzlichkeitsprinzip, das Rückwirkungsverbot, der nemo tenetur Grundsatz und das Prinzip der persönlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit geregelt ist, kam es zu einer ganzen Reihe von Verstößen gegen diese Grundsätze durch Gesetze und die Praxis.80 Die in der Türkei immer verbreitete Folter als Ermittlungsmaßnahme wurde nach dem Militärputsch 1980 noch verbreiteter und systematischer angewandt.81 Noch dazu verloren in dieser Zeit sehr viele Menschen ihr Leben als Folge der Befugnis der Sicherheitskräfte zum unverhältnismäßigen Waffeneinsatz.82 Mit der Anerkennung des Individualbeschwerderechts beim EGMR durch die Türkei und der Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat durch die EU im Jahre 1999 kam es zu grundlegenden Veränderungen insbesondere der Verfassung und der strafrechtlichen Vorschriften. In diesem Rahmen wurde die Verfassung seit 2001 zwölfmal geändert.83 Mit diesen Veränderungen wurde die Regelung der Grundrechte und -freiheiten in der Verfassung fast vollständig geändert und man versuchte die Spuren des Militärputschs in der Verfassung bei den Menschenrechten zu löschen. Die Änderungen brachten zusammen mit der Ausweitung der Rechte und Freiheiten der Individuen Regelungen für die Garantie eines fairen Verfahrens und die Unabhängigkeit und Neutralität der Richter. Eine der wichtigsten Reformen im Rahmen des Harmonisierungsprozesses mit der EU waren die am 26. September 79 Zu den Einzelheiten s. Özel, ˙Insan Hakları Avrupa Mahkemesi Kararlarında Adil Yargılanma Hakkı, 2002, S. 177 f. 80 Özgenç, Türk Ceza Hukuku, 6. Aufl. 2012, S. 106 f. 81 Tanör (Fn. 72), S. 26 ff. 82 Bkz. Sözüer, FS Roxin, Bd. II, 2011, S. 1753 ff. 83 s. die Gesetze vom 3. Oktober 2001; 21. November 2001; 27. Dezember 2002; 7. Mai 2004; 21. Juni 2005; 29. Oktober 2005;13. Oktober 2006;10. Mai 2007; 31. Mai 2007; 16. Oktober 2007; 9. Februar 2008; 7. Mai 2010.
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2004 verabschiedeten und am 1. Juni 2005 in Kraft getretenen Strafgesetze. Zahlreiche Gesetze, wie das neue Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung, das Gesetz über die Vollstreckung der Strafen und Sicherungsmaßregeln, das Ordnungswidrigkeitengesetz und das Kinderschutzgesetz wurden neu verabschiedet. So wurde in Fortsetzung der Reform des Strafrechts zu Beginn der Republik die zweite große Strafrechtsreform verwirklicht. Der wichtigste Aspekt dieser Reform ist die Philosophie, auf die sie sich stützt. In der Zeit der Republik kann man im Strafrecht von zwei unterschiedlichen Grundverständnissen sprechen. Das erste geht davon aus, dass es Aufgabe und Funktion des Strafrechts ist, die Ideologie der Republik und des Staates zu schützen.84 Diese Haltung findet sich auch heute noch. Danach „dürfen in der Türkei bei der Gesetzgebung bestimmte Grundsätze nicht außer Acht gelassen werden. Dies sind die Grundsätze, die von Atatürk geprägt wurden und seit Gründung der Republik gelten. Deshalb dürfen in neuen Gesetzen weder religiöse noch diskriminierende Handlungen unterstützt werden. Der Schutz und die Fortgeltung dieser in den zwanziger Jahren übernommenen Grundsätze muss beachtet werden.“85 Diese Haltung, die den Staat und seine Ideologie über anderes stellt, entfaltete jedoch bei den Reformgesetzen von 2005 keine Wirkung. Bei der Strafrechtsreform von 2005 ging man von einem Verständnis aus, das den Schutz der Freiheiten des Individuums zur Grundlage nahm und die Rechte und Freiheiten des Individuums gegen die willkürliche Anwendung des Strafrechts schützen will. Im Vordergrund dieser Strafrechtsreform, die den Schutz des Individuums und als wesentliche Funktion des Strafrechts den Schutz der Freiheiten zur Grundlage nahm, standen die folgenden Punkte: mit Regelungen, die auf eine Verhinderung der Praxis der systematischen Folter zielten, wurde dieses Problem weitgehend gelöst; die Todesstrafe wurde aufgehoben; die Befugnis zum Waffeneinsatz für die Polizeikräfte wurde auf der Basis des Rechts auf Leben neu geregelt. Die Polizei darf Waffen nur noch zu dem Ziel einsetzten, für das eine Befugnis zum Waffeneinsatz besteht, und der Waffengebrauch, der den Tod verursacht ist gesetzeswidrig. Als letztes wurden unter Berücksichtigung der Urteile des EGMR das Recht auf eine faires Verfahren ausgeweitet und für die Garantien dieses Rechts gesorgt. Die Grundprinzipien für eine Kriminalpolitik, das Rechtsstaatsprinzip, der Humanismus und das Schuldprinzip wurden für das Strafrecht im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs ausführlich geregelt. Art. 5 hebt alle strafrechtlichen Vorschriften auf, die gegen den allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs verstoßen. In seiner heu84 Dönmezer (Fn. 16), S. 25 f.; Dönmezer, Devletin Ülkesi ve Milleti ile Bütünlüg˘ü ve Bölünmezlig˘i ˙Ilkesi, 50. Yıl Armag˘anı – Cumhuriyet Döneminde Hukuk, 1973, S. 1 – 4, 20. 85 Bayraktar, Türkiye’de Hukuku Güncelles¸tirmede Bas¸vurulacak ˙Ilk Yöntemler, Yeni Türkiye, Yargı Reformu Özel Sayısı, Juli-August 1996, Jahrgang 2, Heft 10, S. 183 und Dönmezer, Hukuk Kurultayı 2000, Bd. I, S. 131. Zitiert nach Hakeri, in: Hilgendorf (Hrsg.), Das Strafrecht im deutsch-türkischen Rechtsvergleich – Alman Türk Kars¸ılas¸tırmalı Ceza Hukuku, S. 117, abrufbar unter; http://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02150100/IWAS/Materiali en/Deutsch-tuerkische_Tagung_Sammelband.pdf (letzter Zugriff 21. 10. 2012).
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tigen Form enthält das Strafgesetzbuch weitaus mehr und detaillierte Regelungen zugunsten der Freiheiten als die Verfassung.86 In Art. 1 des Strafgesetzbuchs ist festgehalten, dass der grundlegende Zweck des Strafgesetzbuchs der Schutz der Grundrechte und -freiheiten ist und mit dem systematischen Aufbau des Gesetzes wird herausgestellt, dass das eigentliche Gut, das geschützt wird das Individuum und nicht der Staat ist. Art. 21687 und 301, die aus Sicht der Meinungsfreiheit ein Problem darstellten, wurden unter Beachtung des Gesetzlichkeitsprinzips und der Meinungsfreiheit neu geregelt. Die Neuregelung zielte darauf, die Vorschriften zumindest als konkrete Gefährdungsdelikte zu gestalten.88 Die Strafprozessordnung wurde unter Berücksichtigung des Rechts auf ein faires Verfahren neu geregelt. Die Staatssicherheitsgerichte wurden aufgelöst und es wurden Fachgerichte gebildet, die für Straftaten gegen den Staat und organisierte Kriminalität zuständig sind. Die Rechte der Beschuldigten und Angeklagten wurden unter Beachtung der Urteile des EGMR neu gestaltet, ein System der teilweisen Pflichtverteidigung wurde eingeführt und es wurden Maßnahmen ergriffen, um den Einfluss und die Kontrolle der Polizei im Ermittlungsverfahren zu reduzieren bzw. zu beenden.89 Der Polizei wurden die Befugnisse entzogen, über Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren zu entscheiden, die Entscheidungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft wurden begrenzt und der Richtervorbehalt so weit wie möglich ausgeweitet. Bei dem heutigen Stand ist offensichtlich, dass im Hinblick auf die strafrechtlichen Grundsätze und den Schutz der Freiheiten das Strafgesetzbuch weitaus freiheitlicher als der durch die Verfassung gezogene Rahmen ist. Offen gesagt, sind die strafrechtlichen Vorschriften modernere Regelungen als die in der Verfassung enthaltenen. Trotz aller Änderungen und Verbesserungen der Verfassung bleibt diese beim Schutz der Grundrechte und -freiheiten hinter den strafrechtlichen Vorschriften zurück. Trotz aller Verbesserungen der Verfassung bleibt auch die Notwendigkeit einer weiteren Änderung der Verfassung bestehen, allein schon um die Verinnerlichung der erfolgten Veränderungen zu erreichen und mögliche Rückschritte zu vermeiden. Untersucht man den Demokratisierungsprozess und die Entwicklung der Menschenrechte in der Türkei ist die negative Wirkung der Militärputsche und Militärregime überdeutlich. Um den Einfluss des Militarismus auf das politische und soziale Leben zu reduzieren, um ein demokratisches und pluralistisches Rechtssystem, das auf den Menschenrechten beruht, zu verankern und um den soziologischen Unterbau dafür zu schaffen, ist eine neue Verfassung für die Türkei eine zwingende Notwendigkeit.
86 Roxin, Hukuki Perspektifler Dergisi (HPD) Heft 7, 50; Sözüer, ZStW 119 (2007), 717 f.; Özgenç, HPD Heft 2, 104. 87 Aydın, HPD Heft 6, 131 – 133. 88 Gökcen, HPD Heft 2, 114 – 115. 89 Öztürk (Hrsg.), Ceza Muhakemesi Hukuku, 2009, S. 208.
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C. Strafrechtliche Grundsätze in der neuen türkischen Verfassung Zweifellos gab es mit den Verfassungsänderungen und der Strafrechtsreform im Rahmen des Beitrittsprozesses zur EU große Fortschritte auf einigen Gebieten, wie dem Schutz der Individuen, der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, dem Recht auf ein faires Verfahren und der Verhinderung der Folter. Im Folgenden sei dies an Hand einiger Beispiele erläutert. Während es noch bis vor einiger Zeit verboten war lokale Sprachen, wie das Kurdische zu nutzen und dies eine Straftat darstellte, sind inzwischen Fernsehsendungen in diesen Sprachen und allen voran in Kurdisch und die Herausgabe von Zeitungen in kurdischer Sprache frei, an den Universitäten wurden Kurdologie-Institute gegründet. Während es nach dem Antiterrorgesetz als Straftat betrachtet wurde, wenn jemand von der Existenz der Kurden sprach und deren politische und kulturelle Rechte verteidigte, wurden Parteien gegründet, die diese Position verteidigten, und heute im Parlament vertreten sind. Wir erleben heute das erste Mal seit den letzten Perioden des Osmanischen Reichs und seit der Gründung der Republik eine Zeit, in der es keine Ausrufung des Ausnahmezustands oder des Notstands gibt. Das erste Mal werden die Täter politischer Morde, die bisher nicht aufgeklärt worden waren, angeklagt, werden Militärs wegen den Putschversuchen seit den 90er Jahren angeklagt und das erste Mal werden die Putschisten des Putsches von 1980 angeklagt. All diese positiven Entwicklungen wurden gegen den Widerstand einer Elite aus Politik, Verwaltung, Militär und Justiz durchgesetzt, die versuchte, die Reformen und ihre Umsetzung zu verhindern. Gerade in Bezug auf die Reform des Strafrechts sind wir insbesondere aus akademischen Kreisen im In- und Ausland mit einer Kampagne gegen die Reformen und ihre Folgen konfrontiert, die aus politischen Gründen die Reformen schlecht macht. Als Grundlage dieser Ablehnung und Kampagne werden Gründe angeführt, wonach es mit den Reformgesetzen nicht möglich sei, die Kriminalität und den Terror zu bekämpfen und dass die Ideologie der Republik und insbesondere der Laizismus sowie die Existenz und unteilbare Einheit des Staates damit in Gefahr gebracht würden. Prüft man die Ergebnisse der Reformen, muss man heute feststellen, dass es trotz positiver Entwicklungen und Reformen in der Praxis immer noch wichtige Probleme in Bezug auf die Meinungsund Pressefreiheit, das faire Verfahren, die Unabhängigkeit der Richter und insbesondere die Untersuchungshaft gibt. Damit stellt sich die Frage, ob es nicht ausreichen würde, die Bemühungen um die wirkungsvolle Umsetzung der Reformen zu verstärken anstatt eine neue Verfassung zu machen. Unserer Auffassung nach könnte man diese Probleme auch mit der geltenden Verfassung und den geltenden Strafgesetzen lösen. Allerdings wird die Verfassung immer noch von der autoritären Philosophie des Militärregimes geprägt und es finden sich immer noch die Spuren dieser Zeit. Diese Staatsideologie ist immer noch ein normativer Maßstab der Verfassung und es bestehen auch immer noch unangemessene Beschränkungen mancher Grundrechte. Es fehlen immer noch manche verfassungsrechtliche Garantien für strafrechtliche Grundsätze, die in den Gesetzen normiert sind. Hinzu kommt, dass die Legiti-
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mität der Verfassung von 1982 immer noch in der Gesellschaft umstritten ist und eine gesellschaftliche Akzeptanz der Verfassung eher gering ist. Deshalb ist es unter verschiedenen Gesichtspunkten erforderlich, einen gesellschaftlichen Konsensus herzustellen und unter weitest möglicher Beteiligung und Beratung in der Gesellschaft eine neue Verfassung zu schaffen. Eine solche Verfassungsgebung und Verfassung würde das erste Mal keine Regelung von oben darstellen, sondern einen gesellschaftlichen Vertrag, der aus eigener Initiative geschaffen wurde. Dies wäre auch ein wesentlicher Schritt zur Entmilitarisierung und zur Entwicklung eines Demokratie- und Rechtsbewusstseins, ein Schritt zur Überwindung der Rolle des unmündigen Bürgers. Darüber hinaus besteht ein Bedarf an stärkeren verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, mit denen die durch die Strafrechtsreform gebrachten Veränderungen geschützt und weiter entwickelt werden. Im Hinblick auf das Strafrecht können wir folgende zentrale Punkte festhalten, deren Regelung wir in einer neuen türkischen Verfassung vorschlagen. Als erstes sollte in der neuen Verfassung keiner bestimmten Staatsideologie Raum gegeben werden. Als Grundlage soll die Würde des Menschen festgeschrieben werden und als grundlegender Wert der Verfassung das Verbot, den Menschen zu einem Objekt zu erniedrigen, aufgenommen werden. Die Gewährleistung der grundlegenden Prinzipien des Strafrechts, wie das Gesetzlichkeitsprinzip, das Schuldprinzip, das Recht auf ein faires Verfahren sollte klar und eindeutig geregelt werden. Die Befugnis der Polizei zum Waffeneinsatz bei der Festnahme sollte nicht als Ausnahme vom Recht auf Leben geregelt werden. Hohe Militärgerichte, die eine Fortsetzung des „Vormundschaftssystems“ darstellen, sollten nicht mehr in der Verfassung geregelt sein. Es müssen Regelungen getroffen werden, die den Hohen Rat für Richter und Staatsanwälte, der von großer Bedeutung für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ist, von dem Einfluss der Exekutive befreien. Der Rat sollte als getrennter Rat für Richter und Rat für Staatsanwälte gestaltet werden und die Organisation der Staatsanwaltschaft und der Staatsanwälte schon von der Verfassung her von den Richtern getrennt erfolgen. Der Justizminister sollte nicht Vorsitzender des Hohen Rates für Richter sein. Gegen alle Entscheidungen dieses Rates sollte der Rechtsweg offen stehen. Das Verfassungsgericht sollte als Garant der Grundrechte und -freiheiten neu gestaltet werden. Die Mehrheit der Mitglieder sollte vom Parlament gewählt werden und Juristen sein. Die Anklage der hohe Politiker und Militärs vor dem Verfassungsgericht als Hohem Gerichtshof, ohne dass in den Verfahren eine Revisionsinstanz zur Verfügung steht, sollte aufgegeben werden. Das Privileg der Mitglieder der zivilen und militärischen Bürokratie, dass ihre Anklage von einer Genehmigung der Verwaltung abhängt, sollte abgeschafft werden.90
90 Diese Vorschläge und eine Stellungnahme dazu sind in der Stellungnahme der Istanbul Universität zur neuen Verfassung enthalten. Abrufbar unter http://istanbuluniversitesi.hukukfa kultesi.gen.tr/anayasaRaporu.pdf.
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Eine der wichtigsten Faktoren um weiter voranzukommen bei der Verhinderung des Missbrauchs des Strafrechts für ideologische Ziele und der willkürlichen Anwendung des Strafrechts, um die grundlegenden Reformen zu sichern und fortzusetzen, ist der Ausbau der internationalen Kooperation und des internationalen wissenschaftlichen Austauschs. Unser Dank gilt daher Prof. Dr. Wolfgang Frisch für seinen Beitrag dazu und mit seiner Person allen unseren Strafrechtsfreunden.
Arbeiten zur Angleichung an das Europarecht im Bereich des Strafrechts in der Türkei und das dritte Justizpaket Von Yener Ünver1
I. Einführung Die Türkei hat schon in den vergangenen Jahren ihre Gesetzgebung den Rechtsvorstellungen in der EU anzugleichen versucht. Ein Beispiel dafür ist das in der Öffentlichkeit als das dritte Justizpaket bezeichnete „Gesetz über die Durchführung von Änderungen in einigen Gesetzen zum Zwecke der Umsetzung von Justizdiensten und der Aussetzung von Verfahren und Strafen bezüglich Straftaten, die im Bereich der Presse begangen wurden“ mit der Nr. 6352 vom 02. 07. 2012. Obgleich die genannten Regelungen zum Zweck der Anpassung an das EU-Recht geschaffen wurden, um die Widersprüche zum EU-Recht in den Gesetzen seit 2005 (die auch durchaus positive Seiten haben) zu beseitigen, beinhalten die neuen Vorschriften, die eigentlich die Ungerechtigkeiten in der Praxis des Gesetzgebers und der Rechtsorgane beseitigen sollen, selbst jedoch auch wiederum problematische Vorschriften.
II. Änderungen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung, insbesondere des Terrorismusbekämpfungsgesetzes Die speziell für schwere Delikte zuständigen Strafgerichte, die in der Öffentlichkeit wegen der Anwendung von strafprozessualen Maßnahmen und von anderen gesetzlichen Vorschriften, als sie für normale Gerichte gelten, sehr in der Kritik standen, wurden mit Art. 75 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes abgeschafft. Sie waren erst mit der Verfassungsänderung von 2004 an die Stelle der Staatssicherheitsgerichte getreten, deren Gerichtsstruktur und deren angewandte Normen vom EGMR als EMRK-widrig beurteilt worden waren. Statt der Strafgerichte wurde eine Vorschrift zur Gründung von (Bezirks-)Strafgerichten für schwere Delikte aufgenommen, die überwiegend die Verhandlungen 1 Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Özyeg˘in Universität.
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von Terrorismusdelikten und solchen der organisierten Kriminalität durchführen sollen und deren Zuständigkeitsbereich mehr als einen Bezirk umfassen wird. Die Ermittlungen von Straftaten, die in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fallen, werden von Staatsanwälten durchgeführt, die durch das Hohe Amt für Richter und Staatsanwälte mit der strafrechtlichen Ermittlung und der Hauptverhandlung dieser Straftaten beauftragt werden. Diese Staatsanwälte können weder durch Staatsanwaltschaften bei anderen Gerichten ersetzt noch mit anderen Aufgaben beauftragt werden. Es wurden auch einige Maßnahmen zum Schutz von Polizeibeamten vor kriminellen Organisationen eingeführt. Demgemäß wird nun auf Protokollen, die von der Polizei aufgenommen werden, anstatt persönlicher Daten des betroffenen Polizisten nur die Matrikelnummer angegeben. Wenn man die Aussage des Polizeibeamten einholen muss, wird das Ladungsschreiben an die Adresse der Arbeitsstelle des Polizeibeamten geschickt. Hinsichtlich der Gewährleistung der Sicherheit während der Verhandlung bei Gericht kann entschieden werden, dass die Verhandlung an einem anderen Ort als dem des Gerichts stattfinden soll. Die in Art. 135 Abs. 6a Nr. 8, 139 Abs. 7a Nr. 2 und 140 Abs. 1a Nr. 5 tStPO vorgesehenen Ausnahmen werden nicht angewendet. In der vorherigen Regelung wurde eine Unterscheidung zwischen kriminellen Organisationen und bewaffneten/unbewaffneten kriminellen Organisationen gemacht und man konnte bei manch einer Straftat bei dem Beschuldigten oder Angeklagten (weil die Organisationsart oder der Täterschaftsstatus unterschiedlich ist) Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung, der Verfolgung durch technische Mittel und durch verdeckte Ermittler nicht anwenden. Dies war eine problematische Regelung und man hätte eine solche Unterscheidung besser nicht treffen sollen. Wenn eine kriminelle Organisation besteht und die Rechtfertigungsvoraussetzungen der betreffenden Maßnahme vorhanden sind, hätten diese Maßnahmen bei jedem Beschuldigten und Angeklagten durchgeführt werden müssen.2
III. Änderungen im Bereich des Strafgesetzbuches Mit dem Gesetz im Rahmen des dritten Justizpakets (Art. 79 ff.) wurden insbesondere im tStGB zahlreiche Änderungen vorgenommen. Nachfolgend werden nur die wichtigsten dieser Regelungen erläutert. Zunächst wurde die Strafe für die Straftat des Bruchs des Kommunikationsgeheimnisses (Art. 132 tStGB) erhöht. Der Grund hierfür liegt in der Zunahme von rechtswidrigen Eingriffen in die Kommunikation sowohl von Angeklagten in unterschiedlichen Verfahren als auch allgemein von manchen Politikern. 2
Vgl. Ünver/Hakerı, Ceza Muhakemesi Hukuku, 5. Aufl., Ankara 2012, S. 470.
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Während der Vorbereitungen dieses Justizpakets wurde geplant, dass nach der das Kommunikationsgeheimnis brechenden Veröffentlichungshandlung durch irgendein Medienorgan die nochmalige Veröffentlichung des Kommunikationsinhalts durch andere Personen oder Einrichtungen als legal eingestuft wird. Jedoch wurde hiervon nach ernstlicher Kritik von Juristen und seitens der Presse wieder abgesehen. Obwohl es einer eigenen Vorschrift nicht bedurft hätte, wurde dem Art. 132 Abs. 3 tStGB, der die Straftaten des Bruchs des Kommunikationsgeheimnisses regelt, folgender Absatz hinzugefügt: „Im Falle der Verbreitung dieser bekannt gemachten Daten im Wege der Presse oder durch sonstige Veröffentlichung wird die gleiche Strafe verhängt.“ Die Verbreitung dieser Daten durch die Presse oder durch sonstige Veröffentlichung wird jedoch weder als ein strafschärfender Gesichtspunkt angesehen noch wird dieser Umstand im Hinblick auf Presse- und Veröffentlichungsorgane als eine rechtmäßige Handlung gelten können. Tatsächlich bedurfte es einer solchen Vorschrift nicht, weil eine Handlung, die den Tatbestand des Art. 132 erfüllt, auch im Hinblick auf Presse- und Veröffentlichungsorgane eine Straftat ist; vorausgesetzt, es ist kein Rechtfertigungsgrund vorhanden. Auch im Hinblick auf die Straftat der Verletzung des Privatlebens wurde mit gleichlautender Begründung eine Vorschrift eingefügt, bei der auch dann, wenn sich die Straftat durch die Vorgehensweise im Wege der Presse oder sonstigen Veröffentlichung etwas verschärft, die gleiche Strafte verhängt werden soll. Eine Politik hinsichtlich einer Straftat fand mit Änderungen, die in ernstlicher Weise kritisiert werden sollten, bei der Straftat der Entziehung (beim Diebstahl) elektrischer Energie statt. Zunächst wurde, weil der Gegenstand der Straftat den Diebstahl von elektrischer Energie bildete, die Vorschrift als Strafverschärfungsgrund aufgehoben (Art. 82 Gesetz des 3. Justizpakets; Art. 142 Abs. 1 tStGB). Demgegenüber wurde dann die Strafhöhe hinsichtlich anderer Diebstahlsdelikte in auffälliger Weise erhöht. Die türkische Gerichtspraxis weigerte sich seit langer Zeit und insbesondere nach der Privatisierung des Bereiches der elektrischen Energie in rechtswidriger Weise, die Existenz der Straftat im Hinblick auf die meisten der in Betracht kommenden Taten anzuerkennen. Sie qualifizierte in einer mit dem Gesetz unvereinbaren Auslegung in Fällen, in denen man die Häufigkeit des Diebstahls feststellen konnte, dies als ein Problem des Privatrechts (als Schadensersatzproblem) und in Fällen, in denen diese Häufigkeit nicht festgestellt werden konnte, als eine Straftat. Die Justiz hat sich insbesondere von einer erheblichen Arbeitsbelastung befreit und führt, anstatt die Gerechtigkeit zu verwirklichen, das bisherige Verfahren fort, indem sie die Straftatbegehung ignoriert und die Gültigkeit der Vorschriften, die das Eigentumsrecht schützen, aufschiebt. Zur Stützung dieser fehlerhaften Praxis wird behauptet, dass die Straftat nicht zustande gekommen sei, indem man sich auf künstliche Begründungen stützt, wie die angeblich nur zeitweise Feststellbarkeit des Ausmaßes und des Wertes des materiellen Schadens, der durch die begangene Straftat verursacht worden ist, oder auch teilweise auf die Begehung der Straftat
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ohne Beschädigung des Stromzählers3, und gelegentlich auf den Willen des Täters, den gegenständlichen Stromrechnungsbetrag zu begleichen4. All dies sind deshalb künstliche Begründungen, weil sie weder mit einer zutreffenden rechtlichen Auslegung und Logik noch mit dem Straftatbestand zusammenhängen, die Gerichtsorgane aber davon befreien, eine Reihe von Prozessen durchzuführen und eine Parallele zu den alltäglichen politischen Anschauungen aufweisen. Diese gesetzliche Regelung selbst sieht damit die Handlung desjenigen, der eine Straftat geschickt und ohne Spuren zu hinterlassen begeht, nicht als Straftat an; und es wird dabei eine Position eingenommen, die weder mit der Theorie des geschützten Rechtsguts5 noch mit dem Eigentumsrecht noch mit dem Rechtsstaat und auch nicht mit der Logik im Einklang steht. Mit Art. 85 des dritten Justizpakets wurde dem Richter bzw. dem Gericht bezüglich der Straftat der Gründung einer Vereinigung mit dem Ziel der Begehung von Straftaten eine Ermessensbefugnis eingeräumt, die Strafe eines Täters, der der Vereinigung nicht angehört, jedoch im Namen der Vereinigung eine Straftat begeht, und einer Person, die zwar nicht in die hierarchische Struktur innerhalb der Vereinigung einbezogen ist, aber der Vereinigung wissentlich und willentlich hilft, bis zur Hälfte zu erlassen. Warum diese Möglichkeiten einer Strafmilderung geschaffen wurde, ist nicht ganz einzusehen. Gem. Art. 86 des Gesetzes des dritten Justizpaketes wurde hinsichtlich der Straftat der Erpressung im Amt im Wege der Nötigung eine zusätzliche Regelung getroffen. Demgemäß „wird im Falle, dass eine Person gezwungenermaßen dem Amtsträger oder der Person, zu der er weitergeleitet wurde, angesichts ungerechtfertigter Haltung und Verhaltens des Amtsträgers in der Befürchtung, dass eine berechtigte Angelegenheit der Person nicht wie erforderlich oder zumindest nicht rechtzeitig bearbeitet wird, einen Nutzen verspricht, das Vorliegen einer Erpressung im Amt angenommen.“ Hier wurde mithin eine unwiderlegliche Vermutung eingefügt. Jedoch wurde eine rechtliche Folge vorgesehen, die hinsichtlich der Begehung dieses Tatbestandes so auf die besagte Vermutung gestützt wird, als ob der Täter aus subjektiven Gründen, die vom Opfer herrühren, das Opfer genötigt hat; das kann jedoch nicht akzeptiert werden. Denn wenn ungerechtfertigte Haltungen und Verhaltensweisen eines Amtsträgers gegeben sind, stellt schon dies eine Straftat und/oder ein Disziplinarvergehen dar. Jedoch ist es fehlerhaft, dass dann, wenn der Amtsträger gar nicht genötigt hat, aber sein ungerechtfertigtes Verhalten in der Weise vom (potentiellen) Opfer ausgelegt worden ist, dass der Amtsträger die jeweiligen Angelegenheiten 3 Siehe für diese fehlerhaften Anwendungen: Großer Strafsenat 10. 02. 1998, E:1997/6 – 348, K:1998/22; 10. Strafkammer 28. 11. 2005, E:2005/13512, K:2005/17022; 2. Strafkammer 27. 06. 2007, E:2007/6143, K:2007/9610; Strafkammer 27. 01. 2009, E:2008/18600, K:2009/1870; 6. Strafkammer 15. 11. 2005, E. 2004/17550, K. 2005/15755 und 6. Strafkammer 11. 04. 2002, E. 4617, K. 4929 und 11. Strafkammer 27. 01. 2000, E. 8084, K. 164. 4 Großer Strafsenat 04. 07. 2006, E:2006/7 – 187, K:2006/179. 5 Siehe Ünver, Ceza Hukukuyla Korunması Amaçlanan Hukuksal Deg˘er, Ankara 2003, S. 601 ff.
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nicht ohne die Verschaffung eines ungerechtfertigten Nutzens bearbeiten werde, dies im Wege einer gesetzlichen „Zwangsvermutung“ einfach zugrunde gelegt wird. Es mag sein, dass der Amtsträger den ungerechtfertigten Nutzen nicht offen gefordert hat und dass er willkürlich handelt. Es gibt Straf- und andere Rechtsnormen, die dies erfassen. Dass jedoch die bloße Wahrnehmung und Einschätzung des potentiellen Opfers (zumal das Gegenteil schwer zu beweisen ist) als Erpressung des Amtsträgers ausgelegt und dieser daraufhin bestraft wird, ist nicht zu rechtfertigen. Bei Straftaten gegen die öffentliche Verwaltung ist, anders als bei Straftaten gegen eine Person und noch weitergehend als bei den Maßstäben in Art. 61 tStGB, keine rechtliche Logik und Begründung eingehalten, insofern als diese Regelung als Strafminderungsgrund erachtet wird; dies ist fehlerhaft. Auf der anderen Seite ist das Opfer dieser Straftat keine Person, sondern die Öffentlichkeit bzw. alle Menschen in der Gesellschaft bzw. der Staat. Diese Regelung, die den Geschädigten und das Opfer miteinander vertauscht, kann daher nicht akzeptiert werden. Wenn der Artikel in der vorhandenen Weise rechtmäßig angewendet wird, wird er unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Opfers nicht zu einer Minderung der Strafe führen; er wird uns vielmehr als eine gesetzliche Vorschrift begegnen, deren Anwendung in keiner Weise möglich ist. Auch wenn der Artikel abgeändert und statt des Begriffs „Opfer“ der Begriff „Geschädigter“ verwendet würde, bleibt er trotzdem eine fehlerhafte Regelung, und zwar weil bei Straftaten gegen die Öffentlichkeit der Schaden, den eine Person aufgrund der Tat erleidet, kein besonderer Minderungsgrund sein kann; denn während die einfache Art der Straftat geregelt wird, bildet die Strafsanktion zunächst zu diesem Gleichgewicht eine Parallele, indem mehr als ein geschütztes Rechtsgut zusammen berücksichtigt wird. Eine der Änderungen, die mit dem Gesetz des dritten Justizpaketes (Art. 87) durchgeführt wurde, betrifft die Straftat der Bestechlichkeit. Als das tStGB im Jahre 2005 in Kraft getreten ist, wurde im Rahmen einer rechtswidrigen und fehlerhaften Strafrechtspolitik die einfache Form der Bestechlichkeit nicht mehr als Straftat erfasst, sondern nur die qualifizierte Form der Bestechlichkeit (im Hinblick auf das pflichtwidrige Tun oder Unterlassen einer Handlung). Weil man aber vor der Lücke, die die Außerkraftsetzung der Regelung der Straftat der einfachen Form der Bestechlichkeit hervorrufen würde, Angst hatte, wurde eine Vorschrift (Art. 257 Abs. 3 tStGB) eingefügt, die eine merkwürdige Mischung der Straftaten der Bestechlichkeit und der Erpressung im Amt darstellt, deren Anwendungsbereich zudem äußerst problematisch ist und die in letzter Zeit bei denjenigen Personen angewendet wurde, die die Gerichtsorgane nicht wegen einer Erpressung im Amt verurteilen wollten. Mit einer erneuten Änderung wurde diese, in der Praxis kritisierte, fehlerhafte Vorschrift (Art. 257 Abs. 3 tStGB) wieder außer Kraft gesetzt (Art. 105 Abs. 5b Gesetz des dritten Justizpakets). Eine der Innovationen in der neuen Regelung ist die, dass dann, wenn der Amtsträger die Bestechung fordert, dies aber von der betreffenden Person nicht akzeptiert wird oder die betreffende Person dem Amtsträger die Verschaffung eines Vorteils an-
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bietet oder verspricht, dies jedoch von dem Amtsträger nicht angenommen wird, die zu verhängende Strafe um die Hälfte gemindert wird. Eine andere Innovation wurde hinsichtlich derjenigen Personen eingeführt, die bei einer Bestechung vermitteln. Danach wird das Übermitteln des Angebots oder der Forderung der Bestechung an die Gegenseite, das Bewirken einer Bestechungsvereinbarung oder die Vermittlung in Bezug auf die Verschaffung des Vorteils der Bestechung als Mittäterschaft bei der Bestechung bestraft, ohne dass berücksichtigt wird, ob die handelnde Person selbst Amtsträger ist oder nicht. Es wurden auch Regelungen getroffen, die ernstlich kritisiert werden müssen und die mit den EU-Normen nicht vereinbar sind. Beispielsweise wird gem. der neuen Regelung eine dritte Person, der in einer Bestechungsbeziehung mittelbar Vorteile verschafft wurden, oder der Bevollmächtigte einer juristischen Person, der die Vorteile annimmt, als Mittäter der Bestechung bestraft, ohne dass man berücksichtigt, ob er Amtsträger ist oder nicht. Die getroffene Regelung hinsichtlich der juristischen Person ist nicht angemessen. Dass die Person, der Vorteile verschafft werden, als Mittäter gilt, ist eine fehlerhafte Regelung und verstößt gegen Art. 38 der türkischen Verfassung. Denn wenn eine Person, die an der jeweiligen Straftat nicht teilnimmt und mitunter von dieser nicht einmal Kenntnis hat und demnach auch keine Kenntnis sowie keinen Willen und Entschluss zur Straftatbegehung hat, oder – auch wenn diese vorhanden sein sollte – gar keine Handlung vornimmt, für die Handlung einer anderen Person verantwortlich gemacht wird, bedeutet dies eine bloß objektive Straftatverantwortlichkeit und kann daher von einer modernen Strafrechtswissenschaft nicht akzeptiert werden. Eine weitere Änderung, die mit Art. 89 des Gesetzes im Rahmen des dritten Justizpakets vorgenommen wurde, betrifft die in Art. 259 tStGB geregelte Straftat des ,Handelns eines Amtsträgers‘. Der Anwendungsbereich dieser Straftat wurde erweitert und schon das Treffen einer Abrede wurde für das Zustandekommen dieser Straftat akzeptiert. Mit Art. 90 des Gesetzes des dritten Justizpakets wurde bei der Straftat des Versuchs der Einflussnahme auf Justizpersonen, Sachverständige und Zeugen in Art. 277 tStGB auch eine Änderung getroffen. Die neue Regelung bewerten wir positiv, und zwar sowohl aufgrund der bezeichneten Aspekte als auch aufgrund der Regelung „Kommt es durch diese Straftat noch zu einer anderen Straftat, wird die Strafe, die gemäß den Vorschriften über die Idealkonkurrenz zu verhängen ist, um die Hälfte erhöht“, die dem letzten Absatz neu hinzugefügt wurde, der Idealkonkurrenz entspricht und notwendig erscheint. Das türkische Verfassungsgericht hat Art. 278 des tStGB (Nichtanzeige einer Straftat) außer Kraft gesetzt, da es die Regelung innerhalb dieses Artikels für verfassungswidrig hielt, die eine Pflicht auch zur Anzeige von näheren Verwandten, die eine Straftat begangenen hatten, vorsah. Nach Auffassung des türkischen Verfassungsgerichts verstieß diese Vorschrift gegen das Prinzip des nemo tenetur se ipsum accusare; denn der Gesetzgeber dürfe niemanden zu einer Aussage zwingen,
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durch die dieser sich selbst oder einen Verwandten belastet.6 Nach dieser Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts hat der Gesetzgeber mit Art. 91 des Gesetzes im Rahmen des dritten Justizpakets den Art. 278 tStGB neu geregelt.7 In dieser Regelung wurde die Erhöhung der Strafe um die Hälfte angenommen, wenn das Opfer der Straftat ein Kind ist, das das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine körperlich oder geistig behinderte Person ist, oder eine Person ist, die aufgrund einer Schwangerschaft nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen. Außerdem hat der Gesetzgeber aus der Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts gelernt und normiert, dass gegen Personen, die zur Zeugnisverweigerung im Hinblick auf den betreffenden Straftäter berechtigt sind,8 keine Strafe verhängt wird. Weitere Straftaten, die in der Türkei sehr oft begangen werden, bei denen die Täter häufig wichtige Politiker sind und die von den Justizbehörden ignoriert werden, sind die Straftaten der Verletzung der Vertraulichkeit der Ermittlungsverhandlung und der Beeinflussung eines fairen Verfahrens. Diese Taten, als deren Täter nur gelegentlich politisch machtlose oder einfache Personen ermittelt werden, werden, als ob diese im tStGB gar nicht als Straftaten geregelt wären, in der Gerichtspraxis jeden Tag offen begangen; aber es wird aus unterschiedlichen Gründen weder von den Justizbehörden noch von den Juristen etwas dagegen unternommen. Mit Art. 92 und 93 des Gesetzes im Rahmen des dritten Justizpakets wurden nun Änderungen hinsichtlich dieser Straftaten vorgenommen. Mit der Neuregelung wurden aber entgegen der Entwicklung in modernen Ländern die Möglichkeiten zur Erfüllung des Tatbestandes9 der Verletzung der Vertraulichkeit des Ermittlungsverfahrens erschwert und zusätzliche Voraussetzungen geschaffen, die in dem vorangehenden Gesetzestext nicht vorhanden waren. Demgemäß muss für das Zustandekommen dieser Straftat a) das „Recht auf Nutzung der Unschuldsvermutung“ oder das Kommunikationsgeheimnis oder die Vertraulichkeit des Privatlebens dadurch verletzt worden sein, dass der Inhalt des Akts, der im Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde, bekanntgemacht wurde, und b) die Bekanntmachung bezüglich des Inhalts des Akts, der im Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde, geeignet sein, die Aufdeckung der Wahrheit zu verhindern. Auch hinsichtlich der Straftat der Beeinflussung eines fairen Verfahrens10 wurde durch Art. 93 des Gesetzes im Rahmen des dritten Justizpakets in Art. 288 tStGB 6
VerfG 30. 06. 2011, E. 2010/52, K. 2011/113. (RG: 15. 10. 2011, Nr. 28085). Siehe diesbezüglich insbesondere die Kritik an der Regelung dieses Tatbestandes vor der besagten Entscheidung des Verfassungsgerichts. Siehe außerdem Ünver, Adliyeye Kars¸ı Suçlar (TCK. m. 267 – 298), 2. Aufl. Ankara 2010, S. 227 – 247. 8 Auch wenn die Verbesserungen in den rechtlichen Regelungen, die nach der Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts vorgenommen wurden, sehr begrenzt sind, ist es doch eine positive Entwicklung, dass diesbezügliche Kritik von dem türkischen Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber berücksichtigt wird. Siehe dazu näher Ünver (Fn. 7), S. 233. 9 Siehe außerdem Ünver (Fn. 7), S. 343 ff. 10 Siehe außerdem Ünver (Fn. 7), S. 373 ff. 7
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eine Änderung vorgenommen. Hier wurde in erstaunlicher Weise entgegen der allgemeinen Tendenz sowohl der Anwendungsbereich des Tatbestandes begrenzt als auch seine Strafe gemildert. Wir sehen uns hier einer in der letzten Zeit modern werdenden, türkischen Art der Gesetzgebung gegenüber: der Tatbestand, den wir nicht bekämpfen können, wird aufgehoben oder die erforderliche Strafsanktion wird derart herabgesetzt, dass ihre Existenzberechtigung fraglich wird. Während unter den Personen, durch die ein faires Verfahren beeinflusst werden kann, in dem vorangehenden Gesetzestext auch der ,Staatsanwalt‘ genannt wurde, wurde nunmehr durch die Verwendung eines allgemeinen Begriffs wie ,Justizpersonen‘ Unklarheit herbeigeführt. Man kann bei der Anwendung des Artikels mit einer weiten Auslegung den Staatsanwalt durchaus noch als Fall innerhalb dieses Begriffs ansehen aber auch mit einer engen Auslegung ihn außerhalb dieses Begriffs halten, indem er dem (hier nicht genannten) Rechtsanwalt gleichgestellt wird.
IV. Änderungen im Bereich des Strafprozessrechts Mit dieser Änderung (Art. 95) wurde Art. 38a der tStPO hinzugefügt und bei jeder strafprozessualen Handlung die Verwendung des Informationssystems des nationalen Justiznetzwerkes (UYAP) akzeptiert. Jede Art von Daten, Informationen, Urkunden und Entscheidungen der Gerichtspraxis kann durch dieses System bearbeitet, gespeichert und aufbewahrt werden. Von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen, können Akten durch Verwendung elektronischer Unterschriften über dieses Netzwerk überprüft und jede Art von Bearbeitung vorgenommen werden. Man kann ferner jede Art von Urkunde und Entscheidung, deren sachliche Vorbereitung vorgesehen ist, elektronisch bearbeiten, aufbewahren und mit einer sicheren elektronischen Unterschrift unterschreiben. Die durch eine sichere elektronische Unterschrift unterschriebenen Urkunden und Entscheidungen werden per Internet an andere Personen oder Einrichtungen weitergeleitet. Eine interessante Regelung ist die, dass im Falle eines Widerspruchs zwischen der elektronisch unterschriebenen Urkunde und der handschriftlich unterschriebenen Urkunde die mit einer sicheren, bei der UYAP gespeicherten, elektronischen Unterschrift versehene Urkunde gültig ist. Sowohl die Möglichkeit der Manipulation dieser Daten innerhalb der Justiz durch Amtsträger und die schwierige Feststellung dieser Manipulationen durch Sachverständigengutachten als auch die Nichtvergewisserung, dass ausreichende Sicherheitsmaßnahmen getroffen wurden, die jede Art von äußerlichem Angriff verhindern, führen zu Bedenken. Sowohl für ein faires Verfahren als auch für den Schutz persönlicher Daten von Personen muss zuerst – wichtiger und vorrangiger als der Eintrag dieser Daten in das elektronische Informationssystem – ein sehr sicheres System aufgebaut werden. Solange kein System geschaffen wird, das die Sicherheit gewährleistet und der Datenmanipulation vorbeugt, sollten diese Daten nicht in dem
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elektronischen Informationssystem gespeichert werden; und es bedarf auch weiterhin der Aufbewahrung der gegenständlichen Urkunden. Mit Art. 96 des Gesetzes im Rahmen des dritten Justizpakets wurde eine Neuregelung bezüglich des Untersuchungshaftverbots geschaffen. Gem. Art. 100 Abs. 4 der tStPO von 2005 wurde nur bei Straftaten, die eine Geldstrafe erfordern oder bei denen die Strafandrohung bei nicht mehr als zwei Jahren liegt, kein Haftbeschluss erlassen. In dieser Vorschrift wurde aufgrund der Kritik, dass manche Straftaten die Öffentlichkeit zu sehr aufhalten und Probleme entstehen, weil keine Haft erfolgen kann, kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes, und zwar im gleichen Jahr (2005), durch Art. 11 der Gesetzesänderung Nr. 5353 die Grenze der Freiheitsstrafe auf ein Jahr abgeändert; damit war bei Straftaten mit einer Strafandrohung von über einem Jahr die Anordnung von Haft möglich geworden. Mit der neuen Novelle hat der Gesetzgeber nun wieder die ursprüngliche Regelung übernommen. Eine weitere Änderung in diesem Bereich wurde bezüglich der Entscheidungen zur Fortführung der Haft oder zur Abweisung eines Haftentlassungsantrags vorgenommen. Gem. Art. 97 des Gesetzes im Rahmen des dritten Justizpakets ist das Gericht dazu verpflichtet, bei diesen Entscheidungen die Beweise, die einen starken Tatverdacht, das Vorhandensein von Haftgründen und die Verhältnismäßigkeit der Haftmaßnahmen aufzeigen, mit konkreten Tatsachen zu begründen und offen darzulegen. Diese Regelung ist grundsätzlich angemessen. Doch obwohl sie ein Fortschritt zu sein scheint, ist sie trotzdem eine fehlerhafte Regelung, weil ohnehin gem. Art. 141 Abs. 3 der türkischen Verfassung jede Art von Gerichtsentscheidung mit einer Begründung abgefasst werden muss. Gem. Art. 34 Abs. 1 tStPO wird zudem jede richterliche Entscheidung mit einer Begründung, einschließlich abweichender Voten, versehen. Bei der Abfassung der Begründung wird Art. 230 berücksichtigt, d. h. es liegt ein absoluter Revisionsgrund vor, wenn gem. Art. 289 Abs. 1 g tStPO keine Begründung der Entscheidung vorhanden ist. Dass in der Praxis Umstände, die gar keine Begründung darstellen, als Begründungen ausgegeben werden, allgemein-abstrakte Begriffe genauso wie Begründungen verwendet werden, das Urteil, die Entscheidung selbst oder eine gesetzliche Vorschrift als angebliche Begründung wiederholt werden und dass all dies unproblematisch die Kontrollwege überwindet, kann nicht akzeptiert werden.11 Wenn wie in der normalen Praxis eines Rechtsstaats eine ausreichende Kontrolle der Begründungen vorgenommen worden wäre, hätte diese Gesetzesänderung nicht zu erfolgen brauchen. Wenn bei einem in der Praxis zustande gekommenen willkürlichen und unbegründeten Haftbeschluss diese Gesetzesänderung, die vorgenommen wurde, damit Kontrollmechanismen hinsichtlich der Verhängung von Haft durchgeführt werden, in der Praxis mit der gewöhnlichen Willkürlichkeit angewendet wird, wird diese eben erst eingeführte Gesetzesänderung zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Eine Kritik, die wir an der tStPO seit Jahren üben, bezieht sich auf die Regelung in Art. 109 tStPO, wonach es für die Ausübung der gerichtlichen Kontrolle erforderlich 11
Siehe zur diesbezüglichen Kritik Ünver/Hakerı (Fn. 2), S. 734 – 742.
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ist, dass – außer bei den Entscheidungen über die Freilassung auf Kaution und über ein Ausreiseverbot – die oberste Grenze der Strafandrohung mindestens drei Jahre beträgt. Diese Eingrenzung hinderte die ordnungsgemäße Ausübung dieses Rechtsinstituts, das als Alternative zum Haftbeschluss eingerichtet wurde, und vereitelt den von der Regelung erwarteten Nutzen. Mit Art. 98 des Gesetzes im Rahmen des dritten Justizpakets wurde dieser Vorschlag angenommen und es wurde die Begrenzung bezüglich der Dauer der angedrohten Strafe aufgehoben. Unser Vorschlag der Annahme von neuen Alternativen bezüglich der Ausübung der gerichtlichen Kontrolle wurde ebenfalls akzeptiert. Obgleich diese neue Regelung durchaus kritisiert werden sollte, weil manche Verpflichtungen bzw. Auflagen, die sich nicht auf die gerichtliche Kontrolle beziehen und mit der Unschuldsvermutung übereinstimmen, im Wortlaut des Artikels beibehalten werden, ist jedoch die Annahme von manchen neu eingeführten Verpflichtungsarten/Auflagearten (wie beispielsweise die Pflicht des Beschuldigten oder Angeklagten, die Wohnung oder einen bestimmten Ansiedlungsbezirk zu verlassen, oder bestimmte Orte oder Bezirke nicht zu besuchen) angemessen.
V. Änderungen im Nebenstrafrecht Mit Art. 41 des besagten Gesetzes wurde im 1. Absatz des Art. 25 des Gesetzes über den Aufenthalt und die Reise von Ausländern vom 15. 07. 1950 mit der Nr. 5683 eine Änderung vorgenommen. Gem. dieser Änderung wurde anstelle der Formulierung in der vorangehenden Regelung „Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu zwei Jahren“, die Formulierung „(verwaltungsrechtliches) Bußgeld von 500 bis 3.000 türkische Lira durch die Verwaltung“ eingefügt. Hier wurde die Handlung, bei der in der Türkei befindliche Ausländer von dem Ort flüchten, an welchem sie zu wohnen verpflichtet sind, nicht mehr als Straftat, sondern als eine Ordnungswidrigkeit, also als eine Übertretung bewertet. Die Sanktion für diese Handlung wurde zugleich gemildert. Hier liegen Probleme mit politischen Regimen in den Nachbarländern der Türkei in den letzten Jahren zugrunde, insbesondere mit der Zunahme der Anzahl der Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen in die Türkei einwandern oder über die Türkei in europäische Länder immigrieren wollen, sowie mit der Zunahme des Menschenhandels, der Entstehung von Flüchtlingslagern und der Duldungspolitik hinsichtlich Personen, die aus Nachbarländern kommen und in der Türkei als Flüchtlinge leben und schwarzarbeiten bzw. sich durchschlagen. Mit Art. 42 des Gesetzes im Rahmen des dritten Justizpakets wurde auch Art. 26 des Gesetzes mit der Nr. 5683 geändert. Mit dieser Änderung werden diejenigen Handlungen von Ausländern, die, obwohl sie ausgewiesen wurden, zum Verlassen der Türkei angehalten wurden oder zur Einreise ohne Erlaubnis geneigt sind, auch als Übertretungen erfasst. Den auf diese Weise handelnden Ausländern wird nicht durch Gerichtsorgane, sondern durch die Verwaltung ein Bußgeld von 2.000 bis 5.000 türkische Lira auferlegt und diese Personen werden ausgewiesen.
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Mit Art. 77 des Gesetzes im Rahmen des dritten Justizpaketgesetzes wurde weiterhin Art. 26 des Pressegesetzes abgeändert. Dadurch wurde eine Änderung bezüglich der eintägigen, periodischen Dauer und bei der Dauer von anderen Veröffentlichungen, die eine prozessuale Voraussetzung darstellt, vorgenommen. Die Anklagefrist von Straftaten, die mit periodischen Veröffentlichungen begangen werden, wurde von 2 und 4 Monaten auf 4 und 6 Monate und die Anzeigefrist von Straftaten, die mit nicht periodischen Veröffentlichungen begangen wurden, von 2 Monaten auf 4 Monate erhöht. Außerdem wurde eine Änderung des Begriffs vorgenommen, und zwar wurde im Gesetzestext klargestellt, dass die Fristen, die in der Lehre zuvor als ,Anklagefristen‘ bezeichnet wurden, ,prozessuale Voraussetzungen‘ sind. Eine weitere Änderung wurde vorgenommen, indem der Art. 43B des Übertretungsgesetzbuchs hinzugefügt wurde, der nun auf den Art. 43A folgt. Mit dieser Änderung wurde den juristischen Personen auferlegt, den Tatverdacht auf Geldwäsche anzuzeigen, und für den Fall der Nichtvornahme dieser Handlung die Vorschrift geschaffen, dass gegen juristische Personen, die in diesem Artikel aufgezählt werden (die in Art. 3 des Gesetzes mit der Nr. 5411 bestimmten juristischen Personen sind: Banken, Finanzeinrichtungen oder Einrichtungen, die den Banken Unterstützungsdienste leisten, indem sie die Gelder zählen und überprüfen, und Unternehmen, denen im Rahmen des Gesetzes hinsichtlich ausländischer Devisen das Betreiben von Geschäften erlaubt wurde), durch den Staatsanwalt ein Bußgeld von 1.000 bis 5.000 türkische Lira verhängt wird. Mit dem vorläufigen Art. 1 dieses Gesetzes wurde entschieden, dass im Falle des Vorhandenseins einer Straftat, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (31. 12. 2011) im Wege der Presse oder Veröffentlichung oder Gedankenäußerung begangen wurde und aufgrund ihrer Art einer Geld- oder Freiheitsstrafe, deren oberste Grenze nicht mehr als 5 Jahre beträgt, bedarf, die spezielle Aussetzung angewendet wird. Demgemäß wird die Entscheidung getroffen, ohne dass die Voraussetzungen des Art. 171 tStPO gegeben sein müssen, dass im Ermittlungsverfahren die Anklageerhebung, im Hauptverfahren die Verfolgung und die Vollstreckung des rechtskräftigen Strafurteils ausgesetzt wird. Über die Person, die von einer derartigen Entscheidung betroffen ist, wird dann, wenn von ihr ab dem Datum des Aussetzungsbeschlusses innerhalb von 3 Jahren keine Straftat im Sinne des 1. Absatz der Vorschrift begangen wird, bezüglich der Nichtverfolgung oder der Einstellung entschieden. Wenn innerhalb dieser Zeit eine vom 1. Absatz erfasste neue Straftat begangen wird und falls die betreffende Person wegen dieser Straftat in einem rechtskräftigen Urteil zu einer Strafe verurteilt worden ist, wird die zunächst ausgesetzte Ermittlung oder Hauptverhandlung wieder fortgeführt. Für die Person, bei der die Vollstreckung des Strafurteils ausgesetzt wurde, entsteht kein Rechtsverlust, der von dieser Verurteilung abhängt. Jedoch werden für die Person Rechtsfolgen verbunden mit dem ausgesetzten Strafurteil entstehen und die Strafe wird vollstreckt, wenn diese Person ab dem Zeitpunkt der Aussetzung innerhalb von 3 Jahren eine vom 1. Absatz erfasste neue Straf-
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tat begeht und falls die Person wegen dieser Straftat mit rechtskräftigem Urteil zu Strafe verurteilt wurde. Gem. diesen Vorschriften wird die Verjährung der Strafe während der Aussetzungsdauer gehemmt, wenn die Strafvollstreckung ausgesetzt wird; die Verjährung der Anklage und der Klagefristen werden während der Aussetzungsdauer gehemmt, wenn die Eröffnung oder Verfolgung der Anklage ausgesetzt wird. Die Beschlüsse bezüglich der Aussetzung der Eröffnung der Anklage, des Hauptverfahrens oder der Strafvollstreckung, die nach diesen Vorschriften getroffen werden, werden im Strafregister in einem eigenen System gespeichert. Diese Registerdaten dürfen nur auf Antrag des Staatsanwalts, Richters oder des Gerichts und nur bezüglich einer Ermittlung oder eines Hauptverfahrens für die in diesem Artikel bestimmten Zwecke verwendet werden. In diesem Zusammenhang wurde eine weitere Regelung mit dem vorläufigen Art. 2 des Gesetzes getroffen. Demgemäß wird eine Person, die auf einem Abonnementsverhältnis basierend elektrische Energie, Wasser oder Erdgas verbraucht, ohne hierzu aus dem Abonnement ein Recht zu haben, und diese Energieträger in einer die Feststellung des Verbrauchs verhindernden Weise nutzt und wegen der Straftat des Diebstahls seit dem Inkrafttreten des Geset