Zwischen Wort und Syntagma: Zur grammatischen Fundierung der Getrennt- und Zusammenschreibung 9783484305137, 9783110936544

Doubts about whether to write words separately or together in German are frequently grammatical in nature. Here various

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German Pages 207 [208] Year 2007

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Zwischen Wort und Syntagma: Zur grammatischen Fundierung der Getrennt- und Zusammenschreibung
 9783484305137, 9783110936544

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Linguistische Arbeiten

513

Herausgegeben von Klaus von Heusinger, Gereon Mller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Elisabeth Stark und Richard Wiese

Nanna Fuhrhop

Zwischen Wort und Syntagma Zur grammatischen Fundierung der Getrennt- und Zusammenschreibung

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2007

n

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-30513-7

ISSN 0344-6727

) Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul=ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf=ltigungen, >bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest=ndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Vorwort

Dieses Buch ist der überarbeitete zweite Teil meiner Habilitationsschrift, die ich an der Universität Potsdam im April 2004 eingereicht habe, im Januar 2005 wurde das Verfahren abgeschlossen. Begutachtet wurde die Schrift von Peter Eisenberg, Ewald Lang und Ilse Wischer – allen drei danke ich hiermit für ihre Arbeit. Die Arbeit hieß zunächst ‚Wortartige Zwischenfälle‘, ein schwieriger Titel, weil ‚die Autorin selbst eine Seite brauchte, um den Titel zu erklären‘, so wörtlich einer der Gutachter. Der ursprüngliche Titel steht nun nicht mehr zur Debatte, weil der erste Teil der Arbeit hier nicht enthalten ist: er hieß ‚Zwischen den Wortarten‘ und umfasste drei Analysen von Fällen mit unklarem kategorialem Status. Diese drei Untersuchungen sind während der Arbeit – zum Teil in Vorfassungen – anderweitig erschienen; dies ist ein wesentlicher Grund, warum sie in dieser überarbeiteten Fassung fehlen. Ich möchte sie jedoch nennen, da sie zu den hier behandelten Fragen einen engen Zusammenhang aufweisen: Stadtadjektive (Fuhrhop 2003a), Infinitivverben (Fuhrhop 2003b) und das Partizip I (Fuhrhop/ Teuber 2000). Die Stadtadjektive (Berliner in Berliner Luft) stehen in ihren Eigenschaften zwischen Substantiven und Adjektiven. Die Ergänzungen von Infinitivverben (lernen, lehren, lieben usw.) stehen zwischen Substantiven und Verben: In ich lerne tanzen regiert das Infinitivverb lernen den Infinitiv tanzen, der sowohl verbal ich lerne zu tanzen als auch substantivisch sein kann ich lerne das Tanzen. Die Partizipien I stehen in ihren Eigenschaften zwischen Verben und Adjektiven. Die Ergebnisse dieser drei Untersuchungen werden in diesem Buch insoweit referiert als auch sie typische Fälle zwischen Wort und Syntagma bilden, so zum Beispiel Schweizerkäse – Schweizer Käse, kennenlernen – tanzen lernen, biertrinkend/ entzündungshemmend – Bier trinkend. Für inhaltliche Diskussionen danke ich Peter Eisenberg, Joachim Jacobs, Beatrice Primus, Ulrike Sayatz, Oliver Teuber und Petra Vogel. Meinem Mann Daniel danke ich dafür, dass er mir geholfen hat, eine Habilitation ‚alltäglich‘ zu gestalten. Meine Kinder Leo und Luise haben verhindert, dass ich mich in einen dreijährigen Ausnahmezustand begebe. Dass ich überhaupt eine Habilitationsschrift in Angriff genommen habe, verdanke ich meinen Eltern. Meiner Mutter Jutta Fuhrhop danke ich für den unerschütterlichen Glauben an ihre Tochter. Mein Vater Jürgen Fuhrhop hat mir das Wissenschaftlerleben vorgelebt; es war für mich schon immer präsent, wie groß die Freude an wissenschaftlicher Erkenntnis sein kann und wie befriedigend es ist, den Beruf zu haben, der einen fordert und einen ausfüllt. Potsdam/ Oldenburg, im September 2006

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ..................................................................................................................................... 1.1 Wortarten................................................................................................................................ 1.1.1 Wortarten als grammatische Kategorien........................................................................ 1.1.2 Wortarten in Kontexten ................................................................................................. 1.2 Prototypentheorie.................................................................................................................... 1.3 Wort – Syntagma .................................................................................................................... 1.3.1 Das Wort ....................................................................................................................... 1.3.2 Syntagmen oder Nicht-Wörter....................................................................................... 1.4 Trennbare und untrennbare Verben ........................................................................................ 1.5 Die Wortbildungsprozesse: Rückbildung, Univerbierung, Inkorporation............................... 1.5.1 Rückbildung .................................................................................................................. 1.5.2 Univerbierung – Inkorporation ...................................................................................... 1.5.3 Univerbierung................................................................................................................ 1.6 Rektionskomposita .................................................................................................................

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2. Substantiv-Verb-Verbindungen: radfahren und eislaufen ............................................................ 2.1 Tests zum grammatischen Verhalten der substantivischen Einheiten ..................................... 2.2 Interpretation der Testergebnisse ............................................................................................ 2.3 Zur Kategorisierung der substantivischen Einheiten............................................................... 2.3.1 Vergleich mit Substantiven............................................................................................ 2.3.2 Vergleich mit anderen substantivischen Erstgliedern .................................................... 2.3.3 Vergleich mit Verbpartikeln .......................................................................................... 2.3.4 Substantiv-Verb-Komposita .......................................................................................... 2.3.5 Entstehensprozess und die Interpretation als ein Wort .................................................. 2.4 Die ‚Funktionsverbgefüge‘ des Typs Partei ergreifen............................................................ 2.5 Schluss....................................................................................................................................

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3. Adjektiv-Verb-Verbindungen: weich kochen und krankschreiben ............................................... 3.1 Tests zur Beschreibung der Adjektiv-Verb-Verbindungen..................................................... 3.2 Die transitiven und reflexiven Adjektiv-Verb-Verbindungen................................................. 3.2.1 Wortbildung, Komposition oder Syntagma? ................................................................. 3.2.2 Reflexivierungen ........................................................................................................... 3.3 Zwischenzusammenfassung: Produktive Adjektiv-Verb-Verbindungen ................................ 3.4 Die Adjektive fest, tot und voll ............................................................................................... 3.5 Die Verben machen und stellen .............................................................................................. 3.5.1 Adjektiv-Verb-Verbindungen mit machen .................................................................... 3.5.2 Adjektiv-Verb-Verbindungen mit stellen ...................................................................... 3.5.3 Sind stellen und machen Vollverben? ........................................................................... 3.6 Weitere Adjektiv-Verb-Verbindungen.................................................................................... 3.6.1 Rückbildungen............................................................................................................... 3.6.2 Adjektiv-Verb-Verbindungen und Wortbildungen ........................................................ 3.6.3 Restklasse ...................................................................................................................... 3.6.4 Überlegungen zu Entstehensprozessen .......................................................................... 3.7 Schluss....................................................................................................................................

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VIII 4. Verb-Verb-Verbindungen: kennenlernen, spazierengehen und sitzenbleiben ............................ 4.1 Die Verb-Verb-Verbindung kennenlernen............................................................................ 4.2 Die Verb-Verb-Verbindungen spazierengehen und spazierenfahren ................................... 4.3 Die Verb-Verb-Verbindungen sitzenbleiben/ liegenbleiben ................................................. 4.4 Schluss..................................................................................................................................

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5. Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen ............................................................................................... 5.1 Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen: Allgemeine Überlegungen ............................................. 5.1.1 Kombinatorik............................................................................................................... 5.1.2 Unterschiede zu den Verb-Verbindungen.................................................................... 5.1.3 Mehrdeutigkeit der Syntagmen.................................................................................... 5.2 Komposition mit Adjektiven................................................................................................. 5.3 Syntagmen aus zwei Adjektiven ........................................................................................... 5.3.1 Beschränkungen bei adjektivmodifizierenden Adjektiven .......................................... 5.3.2 Exkurs: Attribute zu Adjektiven .................................................................................. 5.4 Wort – Syntagma: schwerverständlich – schwer verständlich.............................................. 5.5 Zugrundeliegende Bildungsprozesse .................................................................................... 5.6 Schluss..................................................................................................................................

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6. Das Kompositionserstglied nicht ................................................................................................ 6.1 Nicht öffentlich – nichtöffentlich........................................................................................... 6.2 Die Partizipien, der adjektivische zu-Infinitiv und nicht....................................................... 6.2.1 Das Partizip I und nicht ............................................................................................... 6.2.2 Das Partizip II und nicht.............................................................................................. 6.2.3 Der adjektivische zu-Infinitiv und nicht ...................................................................... 6.3 Ist nicht- ein Präfix oder ein Kompositionserstglied? ........................................................... 6.4 Adjektive, Partizipien und nicht: Schluss .............................................................................

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7. Schweizerkäse – Schweizer Käse: Schweizer als Kompositionserstglied? .................................. 126 8. Substantiv-Partizip-I-Verbindungen ........................................................................................... 8.1 Das Partizip I zwischen Adjektiv und Verbform .................................................................. 8.1.1 Adjektivische Eigenschaften des Partizip I.................................................................. 8.1.2 Verbale Eigenschaften des Partizip I ........................................................................... 8.1.3 Zur Einheitlichkeit der einfachen Partizipien I ............................................................ 8.1.4 Partizip-I-Verbindungen zwischen Wort und Syntagma ............................................. 8.2 Die Substantiv-Partizip-I-Komposita.................................................................................... 8.2.1 ‚Akkusativische’ Komposita ....................................................................................... 8.2.2 ‚Nicht-akkusativische’ Komposita .............................................................................. 8.3 Substantiv-Adjektiv-Komposita ........................................................................................... 8.4 Die Bildung von Partizip-I-Komposita ................................................................................. 8.5 Die Fugenelemente in den Substantiv-Partizip-I-Komposita................................................ 8.6 Bildet der adjektivische zu-Infinitiv vergleichbare Verbindungen? ...................................... 8.7 Die Substantiv-Partizip-I-Komposita in ihrem Verhalten..................................................... 8.8 Schluss..................................................................................................................................

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9. Adjektiv-Partizip-Verbindungen................................................................................................. 9.1 Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen ........................................................................................ 9.2 Adjektiv-Partizip-II-Verbindungen....................................................................................... 9.3 Schluss..................................................................................................................................

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IX 10. Zusammenfassung: Wortartigkeit............................................................................................. 10.1 Eigenschaften von Wörtern – Eigenschaften von Syntagmen........................................... 10.2 Valenz und Wortbildung ................................................................................................... 10.2.1 Rektionskomposita ................................................................................................. 10.2.2 Verbkomposita – Trennbare Verben....................................................................... 10.3 Die Prozesse: Univerbierung, Inkorporation, Rückbildung...............................................

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11. Zusammenschreiben ................................................................................................................. 11.1 Einleitung.......................................................................................................................... 11.1.1 Problemfälle der Grammatik oder der Schreibung?................................................ 11.1.2 Graphematik – Orthografie..................................................................................... 11.2 Zur Beschreibung der Getrennt- und Zusammenschreibung ............................................. 11.3 Das System der Getrennt- und Zusammenschreibung....................................................... 11.3.1 Regelung der Getrennt- oder Zusammenschreibung?............................................. 11.3.2 Zugrundeliegende Prinzipien.................................................................................. 11.3.3 Die unproblematischen Fälle .................................................................................. 11.3.4 Die problematischen Fälle ...................................................................................... 11.4 Das morphologische Prinzip ↔ Das syntaktische Prinzip ................................................ 11.4.1 Stärke der Prinzipien .............................................................................................. 11.4.2 Keine Hierarchie der Prinzipien ............................................................................. 11.5 Vorschlag für eine Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung............................ 11.5.1 Trennbare Verbindungen mit Verben ..................................................................... 11.5.2 Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen........................................................................... 11.5.3 Partizip-Verbindungen............................................................................................ 11.5.4 Komplexe Präpositionen........................................................................................

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Literatur .......................................................................................................................................... 189 Register........................................................................................................................................... 197

1. Einleitung

Wann sind Verbindungen Wörter, und wann sind es keine Wörter, also Syntagmen? Diese Arbeit beschäftigt sich mit Verbindungen, bei denen der Wortstatus unklar ist. So wird bei verschiedenen Substantiv-, Adjektiv- und Verb-Verbindungen diskutiert, inwieweit komplexe Wörter und inwieweit Syntagmen vorliegen. Dabei ist eine wesentliche Aufgabe dieser Arbeit die Benennung von Kriterien oder Eigenschaften von Wörtern und Nicht-Wörtern (oder Syntagmen). Je nachdem, wie stark die Worteigenschaften oder die Syntagmaeigenschaften ausgeprägt sind, kann auf dieser Grundlage auch eine Entscheidung über Getrennt- und Zusammenschreibung gefällt werden. Darum geht es im abschließenden 11. Kapitel. Zuvor geht es ab dem 2. Kapitel um die verschiedenen Verbindungen. Die Frage, welche Verbindungen Wörter sind und welche keine Wörter, also Syntagmen sind, kann von zwei Seiten gestellt werden: Es können Merkmale von Wörtern und Merkmale von Syntagmen herausgearbeitet werden. Die Frage, wann mehrere Stämme zusammen ein Wort bilden, wird vielfach in der Literatur untersucht. Allerdings unterstellen diese Untersuchungen häufig folgendes (implizites) Ergebnis: Wenn etwas kein Wort ist, dann ist es ein Syntagma. Diese Schlussfolgerung ist bis zu einem gewissen Grad zulässig. In der vorliegenden Arbeit kann ich diese scheinbar einfache Lösung so nicht wählen, weil es um ‚Zwischenfälle‘ geht. Sehr häufig haben die Verbindungen sowohl Worteigenschaften als auch Syntagmaeigenschaften und entsprechend ‚fehlen‘ auch Eigenschaften. Wenn eine Verbindung ein Syntagma ist, dann sind alle beteiligten Einheiten selbstständige Wörter bzw. selbstständige syntaktische Einheiten. Auch selbstständige Wörter und selbstständige syntaktische Einheiten können mit prototypischen Eigenschaften beschrieben werden. Zunächst möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, wie Einheiten als Wörter bestimmt werden können. Dabei geht es zum einen um eine möglichst allgemeine Wortbestimmung, zum anderen speziell um die Bestimmung von graphematischen Wörtern. Für die Wortbestimmung tauchen in der Literatur viele Kriterien auf. Grundsätzlich betrachten die folgenden Kapitel komplexe Einheiten, also Verbindungen von Stämmen oder Wörtern/ Wortformen. Es geht nicht völlig allgemein um eine Wortbestimmung, sondern darum, wann Verbindungen von Stämmen Wörter und wann sie Syntagmen sind. Alle beteiligten Einheiten können an sich Lexeme sein. In den meisten Fällen im Deutschen ist die jeweilige Entscheidung leicht zu fällen: grüner Tee ist ein Syntagma, das heißt es sind hier zwei Wörter oder zwei Wortformen, Grüntee ist ein Wort, es ist ein Kompositum. Andererseits sind Tee trinken in einer Äußerung wir wollen Tee trinken zwei Wörter/ zwei Wortformen, in einer Äußerung wie wir treffen uns zum Teetrinken ist es ein Wort/ eine Wortform. In der ersten Äußerung handelt es sich um ein Substantiv und ein Verb, im zweiten Fall um ein (komplexes) Substantiv. Der Unterschied zwischen Wort und Syntagma hängt in diesem Fall auch mit einem kategorialen Unterschied zusammen: Das Verb trinken wird syntaktisch umkategorisiert zu einem Substantiv, als Substantiv bildet es dann ein (Rektions-)Kompositum. Für Substantive ist dies ein normaler produktiver Wortbildungsprozess, hingegen wäre das entsprechende Syntagma (*wir treffen uns zum Tee trinken) ungewöhnlich; bei den Verben hingegen ist das Syntagma normal, die entsprechende

2 Wortbildung wäre ungewöhnlich. Die unterschiedliche Interpretation liegt an der unterschiedlichen Grammatik von Verben und Substantiven. In den meisten Fällen ist relativ klar, was ein Wort und was ein Syntagma ist und entsprechend können Kriterien benannt werden. Dass der Unterschied auch intuitiv klar zu sein scheint, ist ja daran zu erkennen, dass Schreibende grüner Tee getrennt schreiben und Grüntee zusammen. Schwierigkeiten bei einer Merkmalsaufzählung tauchen zum Beispiel bei den trennbaren Verben auf. Allerdings gibt es auch hier deutliche intuitive Unterschiede: Während an der Zusammenschreibung von anfangen kaum gezweifelt wird, ist eine Zusammenschreibung von totschlagen/ tot schlagen, radfahren/ Rad fahren umstritten. Offenbar ist es nicht allein die Trennbarkeit, die der graphematischen Interpretation als ein Wort intuitiv widerspricht. Dennoch machen die Verb-Verbindungen einen Großteil der Zweifelsfälle aus, und zwar erstens bestimmte Substantiv-Verb-Verbindungen wie radfahren/ rad fahren/ Rad fahren und eislaufen/ eis laufen/ Eis laufen (Kapitel 2), zweitens Adjektiv-Verb-Verbindungen des Typs weichkochen/ weich kochen, blankputzen/ blank putzen und drittens vereinzelte Verb-Verb-Verbindungen des Typs kennenlernen. Die Trennbarkeit von ‚Wörtern‘ kommt insbesondere bei den Partikelverben vor. Die vorliegenden Verbindungen werde ich mit den Partikelverben vergleichen. Allerdings wird aktuell anhand der Partikelverben eine ausführliche Diskussion geführt, ob diese im Deutschen überhaupt Wörter sind (z.B. Lüdeling 2001, Lüdeling/ de Jong 2002, Müller 2002, fürs Niederländische plädieren Neeleman/ Weermann 1993 explizit für die Analyse als ein Wort). Die genannten Autoren listen dabei Eigenschaften auf, die den Wortcharakter von Partikelverben zeigen oder gerade nicht zeigen. Insbesondere Lüdeling vertritt hier einen sehr morphologischen Wortbegriff. In der vorliegenden Arbeit geht es vornehmlich um den graphematischen Wortbegriff und es geht darum, wie man die Intuition der Schreiber erfassen kann. Die hier untersuchten Einheiten sind in einigen Aspekten mit Partikelverben zu vergleichen, in anderen hingegen nicht. So sind Partikeln häufig reihenbildend und sie verhalten sich zum Teil ‚präfixartig‘; die vorliegenden Fälle der Substantiv-/Adjektiv- und VerbVerb-Verbindungen sind eher nicht reihenbildend. Die Substantiv-Verb-Verbindungen entstehen nicht durch (hoch-)produktive regelmäßige Wortbildungsprozesse. Eine weitere Untersuchung gilt den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass Wörter und Syntagmen gleichlautend oder zumindest strukturell vergleichbar systematisch nebeneinander stehen: schwer verständlich – schwerverständlich. Adjektive, die Adjektive modifizieren, flektieren nicht: das schwer verständliche Buch wie das erstaunlich gute Buch. Hier werden zwei weitere spezielle Fallgruppen hinzugenommen: erstens die Verbindung aus Stadtadjektiven und Substantiven (Schweizerkäse, Pragerschinken) und zweitens Verbindungen von Adjektiven und nicht (nichtöffentlich – nicht öffentlich). Beide Fälle kommen häufig vor und sind den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen vergleichbar im folgenden Sinn: Die Stadtadjektive flektieren auch als Attribute vor Substantiven nicht, ein Syntagma Prager Schinken und ein Wort Pragerschinken unterscheiden sich nicht durch ein Flexionssuffix wie zum Beispiel das ansonsten analoge Paar roter Wein und Rotwein. Nicht ist unter den Adverbien eine Ausnahme, es hat Eigenschaften eines Wortbildungselementes und wird daher hier aufgenommen. Kapitel 8 untersucht schließlich die Substantiv-Partizip-I-Verbindungen: auch hier ist deutlich, dass es sich bei entzündungshemmend um ein Wort handelt, bei die die Entzündung besonders schnell hemmende Salbe um ein Syntagma. Aber auch hier gibt es strukturell doppeldeutige Fälle wie die teetrinkenden Frauen und die Tee trinkenden Frauen.

3 Diese Einleitung stellt die Grundlagen der einzelnen Untersuchungen dar. Das geschieht nach sechs Aspekten: 1. Wortarten Benennungen wie ‚Substantiv-Verb-Verbindung‘ lassen erahnen, dass eine solche Untersuchung ohne einen Wortartenbegriff schwer möglich ist. Zum Beispiel ist ein Kriterium der ‚einheitlichen Flexion‘ nur dann hilfreich, wenn man Thesen über die Flexion (oder Nicht-Flexion) der einzelnen Bestandteile hat. Man muss sogar noch einen Schritt weitergehen, denn zum Beispiel flektieren Adjektive nur in bestimmten syntaktischen Funktionen. Also braucht man auch Thesen über die jeweiligen syntaktischen Funktionen, um zum Beispiel die Nicht-Flexion von Adjektiven richtig interpretieren zu können. (Abschnitt 1.1) 2. Prototypentheorie Insgesamt geht es in diesem Buch um eine Unterscheidung von Wort und Syntagma bei klassischen Zweifelsfällen. Die hier untersuchten Zweifelsfälle haben einige Worteigenschaften, einige Syntagmaeigenschaften, aber jeweils nicht alle dieser Eigenschaften. Diese Tatsache führt dazu, die ganze Untersuchung im Rahmen einer Prototypentheorie durchzuführen. In der Einleitung wird darum eine kurze Beschreibung der Prototypentheorie gegeben. In den Untersuchungen selbst geht es dann um die jeweiligen Eigenschaften der Verbindungen und darum zu verstehen, inwieweit die untersuchten Einheiten zwischen Wort und Syntagma stehen. (Abschnitt 1.2) 3. Eigenschaften von Wörtern – Eigenschaften von Syntagmen Zunächst werden gängige Wortkriterien beschrieben. Dabei geht es insbesondere um eine Abgrenzung von Wort und Syntagma. Wörter müssen hier nicht von kleineren Einheiten abgegrenzt werden; es geht nicht um eine ‚Minimalbestimmung‘, was ein Wort ist, wie es zum Beispiel eine Untersuchung zu Klitika verlangen würde, sondern es geht um eine ‚Maximalbestimmung‘. (Abschnitt 1.3.1) Zur Abgrenzung werden auch mögliche Eigenschaften von Syntagmen oder ‚Nicht-Wörtern‘ beschrieben, so dass die Fälle von beiden Seiten her betrachtet werden können. (Abschnitt 1.3.2) 4. Trennbare und untrennbare Verben Im ersten Teil (Kapitel 2 bis 4) geht es um Verbindungen von Verben mit Substantiven, Adjektiven und Verben. Wenn diese Verbindungen Wörter sind, so handelt es sich um trennbare Verben. Trennbare Verben im Deutschen sind ansonsten die Partikelverben. Daher werden sie in dieser Einleitung erläutert. Die Partikelverben selbst sind in ihrem Wortstatus umstritten. Unumstritten ist aber, dass sie gewisse Worteigenschaften haben. (Abschnitt 1.4) 5. Die Prozesse ‚Rückbildung‘, ‚Univerbierung‘, ‚Inkorporation‘ Allen Verbindungen gemeinsam ist, sofern sie denn Wörter sind, dass sie aussehen wie Komposita: Es sind jeweils zwei – oder mehr – miteinander verbundene Stämme. Sie sind aber nicht durch (die übliche) Komposition entstanden. Eisenberg (2004a: 233f.) greift hier Grimms Unter-

4 scheidung von eigentlichen und uneigentlichen Komposita auf.1 Abschnitt 1.5 erläutert Entstehensweisen dieser ‚uneigentlichen Komposita‘ wie Univerbierung, Inkorporation und Rückbildung. 6. Rektionskomposita Ein spezieller Abschnitt (1.6) ist den Rektionskomposita gewidmet. Für deren Entstehung werden spezielle Prozesse diskutiert, zum Beispiel Inkorporation. Möglicherweise spielen die Rektionskomposita auch bei den Verbindungen mit Verben eine Rolle.

Diese sechs Aspekte liegen den Untersuchungen zugrunde, die dann ab dem 2. Kapitel folgen. In dieser Einleitung werden nun die sechs Aspekte vertieft.

1.1 Wortarten Die Literatur zu Wortarten im allgemeinen und zu Wortarten im Deutschen ist sehr umfangreich. Einerseits sind Wortarten an und für sich umstritten; insbesondere ihr Sinn und ihr Status werden diskutiert (s. jüngst Rauh 2000). Andererseits wird häufig gefragt, wie viele Wortarten eine Sprache wie das Deutsche denn habe. Keine der beiden Diskussionen möchte ich hier im Grundsatz führen; dennoch nimmt auch diese Arbeit direkt oder indirekt Stellung zu den diskutierten Themen. Wortarten sind in dieser Arbeit ein Hilfsmittel; sie sind selbst nicht eigentlich Thema der Arbeit. Daher beschränke ich mich im folgenden auf eine kurze Einordnung von Wortarten für diese Arbeit. Sie nimmt dabei auf aktuelle Diskussionen Bezug, ohne jedoch zu ausführlich darauf einzugehen. 1.1.1 Wortarten als grammatische Kategorien Rauh (2000) macht auf einen grundsätzlichen ‚Irrtum‘ bei der Bestimmung der Wortarten aufmerksam: die Wortarten werden sowohl lexikalisch als auch distributionell bestimmt. Die Art, wie sie verwendet werden, sollte laut Rauh nicht Bestandteil der Bestimmung von Wortarten sein; sie wählt dafür die Formulierung, dass Wortarten keine grammatischen Kategorien sind. Vielmehr kann jede syntaktische Einheit mit Eigenschaften beschrieben werden, aus denen dann sekundär Wortarten abgeleitet werden können (Rauh 2000: 501). Rauh (2000) kritisiert insbesondere den Zusammenhang zwischen der Annahme von Prototypen und der Nutzbarkeit für die Syntax, das heißt in diesem Fall, ob die (syntaktische) Distribution über Prototypen bestimmt werden kann. Voraussetzung für die Beschreibung distributionsrelevanter grammatischer Kategorien ist hingegen eine aristotelische Kategorienstruktur: Nur dann, wenn alle Elemente einer Kategorie alle der 1

Dies ist eine Begriffsübertragung. Nach Grimm sind die uneigentlichen Komposita solche des Typs Gottesdiener, aus denen sich dann die Fugenelemente entwickelt haben. Die von Grimm genannten sind historisch aufgrund von Univerbierung entstanden (jedenfalls ist das eine Möglichkeit). Der Begriff wird hier also reaktiviert für ganz ähnliche Verhältnisse.

5 kategoriendefinierenden Eigenschaften teilen, kann die Kategorienzugehörigkeit eine Aussage über die Distribution der Elemente machen. Rauh (2000: 502)

Sie unterscheidet daher zwei unterschiedliche Kategorisierungen: eine lexikonbezogene und in diesem Sinne lexikalische und eine grammatikbezogene, grammatische, und Wortarten erfüllen ausschließlich die Funktion einer lexikalischen Kategorisierung Rauh (2000: 502)

Eisenberg dagegen bezeichnet die Wortarten „als grammatische Kategorien unter anderen“ (2004b: 14). Eisenberg (2004b: 57ff.) bildet dabei Teilklassen, die sowohl grammatisch als auch semantisch fundiert werden, zum Beispiel bei den Verben: Eine Kategorie ‚Hilfsverb‘ meint, dass ihre Mitglieder Teile von Verbformen sind, bei ‚Modalverb‘ regieren die Mitglieder einfache Infinitive usw. Die syntaktische Klassenbildung sollte im Prinzip semantisch fundierbar sein, zum Beispiel so: Kopulaverben haben wenig Eigenbedeutung, sie stellen eine bestimmte Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Prädikatsnomen her. Ein Hilfsverb hat keine lexikalische Eigenbedeutung. Verben, die einen einfachen Infinitiv regieren, sind modal usw. Eine lexikalische Einteilung der Wortarten geht gewissermaßen ‚top-down‘ vor: sie bestimmt, welche Einheiten zu der Wortart gehören aufgrund vorgegebener Prinzipien, häufig auch der Bedeutung. Diese großen Klassen werden aufgrund unterschiedlicher Prinzipien in Unterklassen geteilt, aufgrund der Bedeutung ergibt sich bei den Substantiven zum Beispiel eine Unterteilung in Eigennamen und Nicht-Eigennamen. Eine Beschreibung über das syntaktische Verhalten ist hingegen ‚bottom-up‘: einzelne Eigenschaften werden gesammelt. Einheiten mit den gleichen Eigenschaften können in einer Gruppe zusammengefasst werden. Es kommen dann Klassen zusammen wie zum Beispiel ‚Modalverben‘ (in den Beispielen von Rauh 2000 wäre das eine solche Klasse) oder zählbare Einheiten im Nominativ, die die Subjektfunktion ausfüllen können oder zählbare Einheiten, die nur mit einem Begleiter die Subjektfunktion ausfüllen können usw. Diese Unterklassen können dann wiederum zu größeren Klassen zusammengefasst werden. Jetzt oder auch einen Schritt später ergeben sich die traditionellen Wortarten oder vergleichbare Klassen. Es könnten natürlich auch andere Klassen gebildet werden. Sehr häufig ergeben beide Sichtweisen die gleichen Zuordnungen. Die in dieser Arbeit untersuchten Fälle sind aber gerade solche, bei denen sich nicht von beiden Seiten die gleiche Kategorisierung ergibt, also einerseits über die lexikalische Einteilung und andererseits über das syntaktische Verhalten. Diese Diskrepanz macht die Fälle zu Zwischenfällen. Meine Untersuchungen sollen helfen, die ‚Zwischenfälle‘ zu ‚verstehen‘, insbesondere wie sie sich als solche in das System der Sprache einordnen. 1.1.2 Wortarten in Kontexten In der Arbeit geht es um Einheiten in ganz bestimmten Verbindungen, so zum Beispiel um die Bewertung von rad in radfahren. Sicherlich ist Rad lexikalisch ein Substantiv. In der Verbindung radfahren verhält es sich aber nicht wie ein syntaktisch selbstständiges Substantiv; das Verhalten in solchen Verbindungen wird hier beschrieben. Es geht nicht um die

6 Zuordnung zu Wortarten im allgemeinen, sondern um das spezielle Verhalten bestimmter Einheiten in bestimmten Kontexten. Die Wortartenliteratur listet Kriterien auf, die die Wortarten bestimmen. Diese Kriterien sind im allgemeinen morphologischer, syntaktischer und semantischer Natur. Standardmäßig wird auch diskutiert, ob ein Kriterium oder ein Typ von Kriterium zu dem ‚eigentlichen‘ erklärt werden kann, ob es Kriterien gibt, die eine Wortart notwendig hat oder ob das entsprechende Kriterium die Wortart sogar hinreichend beschreibt. Die neuere Literatur geht im allgemeinen dazu über, Wortarten im Sinne einer Prototypentheorie zu sehen. Ein prototypischer Vertreter trägt dann möglichst viele der typischen Merkmale. Hier wird ausschließlich das Deutsche betrachtet. Es geht nicht um eine typologisch anzuwendende Wortartenklassifikation, sondern es geht um das Verhältnis bestimmter Einheiten zu einem angenommenen bestehenden Wortartensystem im Deutschen. Typischerweise sind die hier untersuchten Einheiten solche, die ‚primär‘ den Hauptwortarten zuzuordnen sind: Substantiv, Verb, Adjektiv. Dabei handelt es sich nicht nur um die ‚Kernwortarten‘ des Deutschen, sondern durchweg auch um flektierende Wortarten. Diverse Eigenheiten der Form ergeben sich von selbst, so die Flexion. Eine weitere Besonderheit der hier vorliegenden Untersuchungsgegenstände ist die Kontextbeschränktheit: es werden Einheiten in Kontexten betrachtet. Es kann nur um ‚distributionelle‘ Klassen gehen. Aus diesem Grund ist auch klar, um welchen Typ von Wortartenbestimmung es geht: es geht nicht um einen lexikalischen Begriff von Wortarten, sondern es geht um einen syntaktischen Begriff oder einen syntaktisch-morphologischen Begriff. Das Verhalten der Einheiten im Kontext steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Einordnung der Einheiten im Lexikon wäre jeweils relativ klar. Das Interessante an den Einheiten hier ist aber gerade, dass sie sich in bestimmten Kontexten anders als sonst verhalten.

1.2 Prototypentheorie Für Wortarten scheint es inzwischen allgemein akzeptiert, sie in Anlehnung an Prototypen zu beschreiben (z.B. Rauh 2000). In dieser Arbeit wird das Konzept der Prototypen einerseits auf die Wortarten bezogen, andererseits aber auch auf die ‚Wörter‘ an und für sich. Sowohl Wortarten als auch Wörter zeichnen sich durch unterschiedliche Merkmale aus. Sie werden semantisch, morphologisch und syntaktisch beschrieben. Nicht alle Elemente einer Wortart haben alle einschlägigen Wortarteigenschaften. Entsprechend hat auch nicht jedes vermeintliche Wort alle Worteigenschaften. Ein prototypischer Vertreter der Klasse hat möglichst viele Eigenschaften der Kategorie. Dabei ist umstritten, ob es immer den Prototypen gibt oder ob der Prototyp an und für sich ein Konstrukt ist. Man kann aber ‚beste‘ Kandidaten annehmen. In diesem Sinne könnte man für die Kategorie ‚Substantiv‘ wohl ein Substantiv nehmen, das konkrete Gegenstände bezeichnet, zum Beispiel Tisch. Es kann referieren, nimmt einen Artikel und kann einen Plural bilden. Dagegen sind Stoffsubstantive (Mehl) weniger prototypisch: sie nehmen nicht den indefiniten Artikel und sind nicht pluralfähig ohne Bedeutungsänderung. Dennoch gehören sie eindeutig zu der Kategorie der Substantive. Im folgenden liste ich einige Eigenschaften der Kriterien in der Prototypentheorie auf:

7 – Es muss in der Prototypentheorie nicht das eine definierende Kriterium geben. – In der Prototypentheorie muss es weder hinreichende noch notwendige Kriterien geben, aber es kann sie geben. Notwendig meint, dass jedes Element dieser Kategorie diese Eigenschaft haben muss. Darin ist zugelassen, dass auch Vertreter anderer Kategorien dieses Merkmal haben können. Hinreichend meint hingegen, dass nur Vertreter dieser Kategorie das Merkmal haben. Hat eine Einheit die für die Kategorie hinreichende Eigenschaft, so gehört die Einheit zu der Kategorie. – Die Eigenschaften können, aber müssen nicht einander bedingen. Sie können unabhängig voneinander sein. – Die Eigenschaften können unterschiedlichster Natur sein. Sie können morphologisch, syntaktisch und semantisch sein. Sie könnten auch zum Beispiel phonologisch oder pragmatisch sein, solche Eigenschaften werden aber in den konkreten Wortartenbeschreibungen und zuordnungen eher als sekundär angesehen. Zum Beispiel hält Eisenberg (2004a: 166) fest, dass deutsche Substantive im allgemeinen zweisilbig sind. Dies ist für die Morphologie eine wesentliche Aussage und hilft zum Beispiel, die Form der Pluralsuffixe zu erklären. Allerdings erscheint ‚zweisilbig‘ für eine Wortartenzuordnung zu unspezifisch. So ist zum Beispiel die Grundform der Verben, also der Infinitiv, in den meisten Fällen ebenfalls zweisilbig. Wir haben im Deutschen zweisilbige Adjektive, Präpositionen, Adverbien usw.

Der Vorteil der Prototypentheorie für die hier vorliegenden Fälle ist unübersehbar, insbesondere da Übergangsbereiche vorgesehen sind und sie beschrieben werden können im Hinblick auf die jeweiligen Prototypen. Damit verlangt eine Prototypentheorie auch keine ‚kategoriale Entscheidung‘; es kann Einheiten geben, die zwischen den Kategorien stehen. Andererseits gibt es solche ‚Bezeichnungen‘ wie ‚verbale Adjektive‘, ein Adjektiv am Rande zum Verb. Und es gibt Fälle, die zwischen Wort und Syntagma stehen. Eine Weiterentwicklung des Prototypengedanken kann in der Konstruktionsgrammatik gesehen werden. Für die Konstruktionsgrammatik liegen jetzt erste Untersuchungen zum Deutschen vor (Fischer/ Stefanowitsch 2006). Was die weitere Entwicklung dieser Richtung für die vorliegend untersuchten Fälle bringen kann, wird sich zeigen. Der konstruktionsverdächtige Fall dieser Arbeit schlechthin ist die Resultativkonstruktion; für diese zeigt Müller (2006, in eben diesem Band), dass eine lexikonbasierte Analyse weiter führt.

1.3

Wort – Syntagma

1.3.1 Das Wort Im folgenden werde ich als Beispiel Wurzels Wortbestimmung (2000) darstellen, zu einzelnen Wortkriterien folgt dann mehr in den einzelnen Kapiteln. Wurzels Wortbegriff ist hauptsächlich ein morphologischer und er dient durchaus zur Abgrenzung von Wort und Syntagma. Bei den vorliegenden Fragestellungen geht es um einen graphematischen Wortbegriff, der aber morphologisch-syntaktisch fundiert werden sollte. Ein phonologischer Wortbegriff ist in dieser Arbeit nicht gefragt. Dies möchte ich kurz begründen: Der phonologische Wortbegriff wird wesentlich angewandt, wenn es um die Frage geht: Ist etwas schon ein Wort oder ist es keines? Die Einheiten sind eher kleiner. Bei den Einheiten, die ich hier betrachte, handelt es sich nach einem gängigen Verständnis von ‚phonologischem

8 Wort‘ bereits eindeutig um zwei Wörter und nur morphologisch-syntaktisch können sie als ein Wort betrachtet werden. Wurzel (2000) schlägt folgende Wortkriterien vor: (A’) Kriterium der Nichtunterbrechbarkeit Echte morphologische Wörter haben die Eigenschaft, daß sie nicht durch lexikalisches Material unterbrechbar sind; typische Phrasen haben diese Eigenschaft nicht. (B’) Kriterium der einheitlichen Flexion Echte morphologische Wörter, die flektierbar sind, haben die Eigenschaft, daß sie über eine einheitliche Flexion verfügen; typische Phrasen haben diese Eigenschaft nicht. (C) Kriterium des syntaktischen Status Morphologische Wörter sind grammatische Einheiten, die auch syntaktisch Wortstatus haben. (D1) Definition von echten morphologischen Wörtern Grammatische Einheiten, die die Kriterien (A’) und (B’) erfüllen, sind echte morphologische Wörter; grammatische Einheiten, die nicht beide Kriterien erfüllen, dagegen nicht. (D2) Definition von morphologischen Semiwörtern Grammatische Einheiten, die das Kriterium (C) und eines der Kriterien (A’) und (B’) erfüllen, sind morphologische Semiwörter. Wurzel (2000: 39f.)

Schon eine erste Anwendung dieser Kriterien auf die vorliegenden Fälle zeigt, dass die Kriterien – so hilfreich sie an anderer Stelle sind – hier zum großen Teil nicht greifen. So sind die Adjektiv-Adjektiv-Syntagmen wohl auch nicht unterbrechbar und dies – wie ich zeigen werde (Kapitel 5) – aus gutem Grund. Andererseits sind die Verb-Verbindungen nicht nur unterbrechbar, sie sind sogar trennbar und ‚umkehrbar‘ . Das heißt bei VerbZweitstellung steht das Zweitglied vor dem Erstglied (sie fangen mit dem Schreiben an, sie fahren rad, sie kochen die Kartoffeln weich). Dass die Partikelverben Wörter sind, kann nur mit Hilfe des Kriteriums (C) gezeigt werden; wenn sie dieses Kriterium erfüllen, sind sie morphologische Semiwörter. In der Beschreibung von (C) wird aber nicht deutlich, wie man herausfindet, was Einheiten sind, die „syntaktisch Wortstatus haben“. Wurzel äußert sich konkret zu den komplexen Verben: An dieser Stelle ist noch einmal auf die ‚unfesten‘ verbalen Zusammensetzungen mit Substantiven (ebenso mit Adjektiven und Adverbien) wie stattfinden, radfahren, Schwein haben usw. zu verweisen. Ihre nichtunterbrechbaren Instanzen wie radfahren (vgl. *weil sie Rad oft fahren) sind gemäß (D1) echte morphologische Wörter. Es ist evident, daß sie auch syntaktisch als einheitliche Wörter, d.h. als Konstituenten der V0-Ebene, funktionieren. Ihre unterbrechbaren (aber nicht unterbrochenen) Instanzen wie sie fahren Rad (vgl. dazu sie fahren oft Rad) werden durch (D2) unter der Voraussetzung als Semiwörter klassifiziert, daß auch sie syntaktisch einheitliche Wörter sind. Dagegen sollte nichts sprechen, denn in syntaktischer Hinsicht unterscheiden sie sich von ersteren nicht in ihrem Status, sondern lediglich in der Reihenfolge ihrer Konstituenten. Wurzel (2000: 40)

Das Kriterium ist ungewöhnlich formuliert, in der Partikelverbforschung kommt es als ‚Nichtunterbrechbarkeit im Nebensatz‘ vor. Wurzel geht es um die Bestimmung von morphologischen Wörtern. Er nimmt ein Kriterium der Syntax hinzu, um Partikelverben und ähnlichem Wortstatus zuschreiben zu können; es geht ihm aber nicht um eine Bestim-

9 mung von ‚syntaktischen‘ Wörtern, daher steht bei ihm die Morphologie, insbesondere die Flexionsmorphologie im Vordergrund. Kriterien zur Beschreibung von Partikelverben und insbesondere zur Beschreibung von partikelverbähnlichen Einheiten werden an entsprechender Stelle eingeführt. Die Flexion als Kriterium Wurzel nennt als wesentliches Kriterium die ‚einheitliche Flexion‘. Dies wird für die vorliegende Fragestellung folgendermaßen interpretiert: Das (vermeintliche) Erstglied flektiert nicht selbstständig. Dieses Kriterium hilft allerdings für die vorliegenden Fälle nur sehr bedingt weiter, es erscheint geradezu als gemeinsame Eigenschaft der vorliegenden Fälle, dass die Erstglieder nicht flektieren, allerdings von Fall zu Fall aus unterschiedlichen Gründen, wie nun dargestellt wird. Bei den Substantiv-Verb-Verbindungen könnte Flexion erwartet werden, bei selbstständigem Vorkommen müsste das Substantiv flektierbar sein, wenn auch nicht in allen Fällen flektiert. Mit ‚flektiert‘ meine ich hier ‚sichtbar flektiert‘, das heißt ob jeweils eine Flexionsendung angehängt werden kann oder nicht. Bei den Substantiv-Verb-Verbindungen ist dann die Beurteilung von wir fahren räder ein Kriterium (s. Abschnitte 2.1 und 2.2). Bei allen anderen Einheiten, die diskutiert werden, kann das in dem jeweiligen Kontext gar kein Kriterium sein: – Adjektive flektieren nur, wenn sie sich attributiv auf Substantive beziehen und pränominal vorkommen. Daraus folgt für die Untersuchungen: 1. Beim (syntaktischen) Bezug auf das Verb flektieren sie nicht er putzt den Boden blank – *er putzt den Boden blanke/ der blanke Boden, er streicht die Wand weiß/ *weiße (wie die weiße Wand). 2. Wenn sie sich auf ein anderes Adjektiv beziehen (erstaunlich gut), flektieren sie auch nicht. – Die Stadtadjektive flektieren nicht, das macht sie so bemerkenswert. Ein attributives Vorkommen (Berliner Luft) ist flexionsmorphologisch nicht von einem Kompositionserstglied zu unterscheiden (Schweizerkäse). – Das Adverb nicht ist als solches unflektierbar. – Die doppeldeutigen Fälle bei den Substantiv-Partizip-I-Verbindungen sind vom Typ biertrinkend, dem Substantiv ist Flexion nicht anzusehen. Es sind häufig Stoffsubstantive und die Position lässt keinen Genitiv erwarten. Dabei gibt es zwei Kriterien, die für eine jeweils eindeutige Lösung sprechen: zusätzliche Einheiten, insbesondere ein Artikel oder flektierte Adjektive zeigen Syntagmen (die ein kühles Bier trinkenden Fans, die die Entzündung hemmende Salbe), unparadigmische Fugenelemente hingegen zeigen den Wortcharakter (die entzündungshemmende Salbe). – Die Verb-Verb-Verbindungen sind folgenden Typs: Es gibt eine kleine Menge von Verben (Engel 2004: 258 bezeichnet sie als Infinitivverben), die einen einfachen Infinitiv regieren, aber keine Modalverben sind (lernen, lehren, lieben, hassen, gehen usw.). Bei diesen stellt sich zunächst die Frage, ob die ergänzenden Infinitive verbal oder substantivisch sind. In Fuhrhop (2003b) zeige ich, dass eine Teilmenge der genannten Infinitivverben sowohl einen verbalen als auch einen substantivischen Infinitiv zulässt (zum Beispiel lernen), andere lassen nur einen verbalen zu (gehen) und andere nur einen substantivischen (lieben). Die Flexion an sich zeigt diese Unterschiede allerdings nicht: Die (verbalen) Infinitive flektieren nicht, zumindest nicht nach Person und Numerus. Man kann Infinitive unterschiedlicher Tempora bilden und unterschiedlicher Genera verbi, aber diese werden analytisch gebildet; auch diese können substantivisch interpretiert werden: das Geliebtwerden. Als substantivische Infinitive könnten sie

10 nur nach Genitiv flektieren, einen Plural bilden diese Formen nicht. Der Kontext nach Infinitivverben ist aber kein genitivischer. Die Flexion kann hier nichts bezüglich der kategorialen Interpretation zeigen.

Genau genommen geht es aber nicht um die Beschreibung der Infinitivverben, sondern es geht um Einzelfälle wie kennenlernen und spazierengehen. Diejenigen Verb-Verb-Verbindungen, die auch als Wörter interpretiert werden können, haben als Zweitglieder Infinitivverben. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn ansonsten treten die Verben in einer anderen Form auf: als Verbstamm in eindeutigen Komposita wie mähdreschen oder mit einem zu wie in zu gewinnen versuchen. Die Erstglieder in den mehrdeutigen Fällen flektieren nicht sichtbar. Das Kriterium der Flexion hilft hier nicht weiter. Die vorliegenden Fälle sind gerade deshalb problematisch, weil die Einheiten nicht flektieren, an der Stelle aber auch nicht flektieren können bzw. entsprechende andere Einheiten an der Stelle auch nicht flektieren. Das heißt, ob die Einheiten ein Wort oder ob sie zwei Wörter sind, ist an der Flexion nicht zu erkennen, häufig ist ein Unterschied hier systematisch ausgeschlossen. Es mag sogar sein, dass sich die Möglichkeit zur Univerbierung (s. 1.5.2, 1.5.3) gerade durch die Unflektiertheit des Erstgliedes ergibt. Wie ist dieses Kriterium ansonsten zu bewerten? Bei einigen Fugenelementen würde man vielleicht zu einer Interpretation als ‚Flexion‘ kommen. Die unparadigmischen Fugenelemente wie Versicherungsvertreter zeigen unbestreitbar Erstglieder an, sie können gar keine interne Flexion sein, denn Versicherungs ist keine Wortform des Deutschen. Die paradigmischen Fugenelemente sind weniger deutlich: Bei Städtetag, Ärztepraxis, Schilderwald können die Erstglieder formal Wortformen des Deutschen sein, häufig tragen sie auch die ‚Flexionsbedeutung‘ – hier ist jeweils Plural gemeint (nach Fuhrhop 1998: 205). Es wäre dann entsprechend nachzuweisen, dass sie nicht nach Kasus flektieren. Im Plural führt aber allein der Dativ zu einer speziellen Markierung, eine Dativform ist präsubstantivisch als enge Apposition möglich, wenn Kasusgleichheit herrscht (sie hilft Präsident Köhler, sie hilft dem Präsidenten Köhler, gute Reden gelingen den Präsidenten Köhler und Rau). Die enge Apposition ist als Konstruktion sehr beschränkt, so ist im allgemeinen entweder ein Eigenname beteiligt oder eine Maßangabe (s. Eisenberg 2004b: 256). Aber gerade deswegen zeigt die Dativverwendung der oben genannten Beispiele, dass es sich um Wörter und nicht um Syntagmen handelt: wir treffen uns beim Städtetag/ bei den Städtetagen und nicht *Städten Tagen, in den Ärztepraxen/ *Ärzten Praxen, *in den Schildern Wald/ in den Schilderwäldern. Die Nichtflexion beim Dativ zeigt, dass es sich bei den ersten Bestandteilen um Kompositionserstglieder und nicht um selbstständige Wortformen handelt. Sie zeigt es aber deutlich nur in Dativposition. Das heißt, die entsprechende Verbindung kann ein Wort sein, es muss aber nicht immer ein Wort sein, s. auch 11.3. (ich verbringe in den Städten Tage, sie werden in den Städten tagen, Ärzte, Praxis und Rezepte gehören zusammen, hier kündigen die Schilder Wald an). Die Erstglieder mit paradigmischen Fugenelementen sind aber immer – im Singular wie im Plural – homonym mit einer Genitivform. Der Unterschied zwischen Plural und Singular ist hier, dass die Form im Singular häufig eindeutig homonym zu einer Genitivform ist, im Plural ist sie homonym zu mehreren Kasusformen. Der Genitiv kommt an und für sich präsubstantivisch vor, als Attribut des Gottes Dienst. Ob hier jeweils ein Fugenelement oder ein Flexionssuffix vorliegt, ist von Fall zu Fall zu entscheiden, es kann nicht grundsätzlich entschieden werden. Im genannten Beispiel zeigt der Artikel (des), dass es ein Syntagma ist (als Wort wäre es der Gottesdienst); in anderen Fällen wie in Lieblings-

11 getränk ≠ ‚Getränk des Lieblings‘ zeigt es die Bedeutung. Damit soll nicht behauptet werden, dass Fugenelemente interne Flexionssuffixe sind, Fugenelemente sind eine eigene morphologische Kategorie (Fuhrhop 1998: 187ff.). Die Erläuterungen gehen hier schon einen Schritt weiter, nämlich: woran erkennt man ein Fugenelement? Bei den Fugenelementen sind Unterschiede zu zeigen: das Auftreten einer Dativendung zeigt, dass es sich um ein Syntagma handelt, das Auftreten einer Genitivendung zeigt dies nicht unbedingt. Bei dieser Begründung wurde wiederum der Umweg über die syntaktische Funktion gemacht. Die Stadtadjektive sind an und für sich nicht flektierbar, das zeichnet sie unter den Adjektiven ja nahezu aus. Insofern kann ein Syntagma Prager Schinken nicht durch ein Flexionssuffix von einem Wort Pragerschinken unterschieden werden. Insgesamt lässt sich für das Kriterium der Flexion folgendes sagen: Fehlende Flexion kann auch anders begründet sein. Sie ist damit kein hinreichendes Kriterium für eine Einheit, ein Erstglied zu sein. Die Homonymie zu einer unflektierten Form ist aber auch kein notwendiges Kriterium: Bei Fällen des Typs Städtetag ist nachzuweisen, dass es sich um ein Fugenelement handelt. Fälle wie Langeweile (Wurzel 2000: 37) bleiben eine Ausnahme. Zur Ununterbrechbarkeit Die hier betrachteten Verb-Verbindungen sind grundsätzlich trennbar. Das spricht zunächst einmal gegen die Ununterbrechbarkeit. Nun kann man zwei Typen von ‚Unterbrechbarkeit‘ unterscheiden: die morphologische und die syntaktische. Morphologisch sind sie unterbrechbar: er versucht radzufahren, er ist radgefahren, der Arzt hat mich krankgeschrieben. Dies gilt auch für die Partikelverben: er versucht anzufangen, er hat angefangen. Auch syntaktisch sind sie zu trennen: er fängt mit dem Schreiben an, er schreibt ihn krank. Werden sie syntaktisch getrennt, werden die Bestandteile jedoch auch vertauscht: erst das Verb, dann die Partikel. Die syntaktische Trennbarkeit ist daher im Nebensatz festzustellen. In Nebensatzstellung, wenn also die ‚partikelähnliche‘ Einheit vor dem entsprechenden Verb steht, sind sie häufig syntaktisch nicht unterbrechbar: dass er mit dem Schreiben anfängt/ *dass er an mit dem Schreiben fängt, dass der Arzt ihn krankschreibt/ *dass der Arzt krank ihn schreibt. Das Kriterium der Ununterbrechbarkeit muss bei den trennbaren Verben spezifiziert werden, dann ist es auch bei den Verb-Verbindungen anwendbar. Die Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen sind hingegen auch als Syntagmen praktisch nicht zu trennen. Ein Syntagma wie erstaunlich gut kann praktisch nicht unterbrochen werden: *erstaunlich sehr gut. Insofern kann das Kriterium der ‚Ununterbrechbarkeit‘ bei den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen keinen Unterschied zwischen Wort und Syntagma zeigen. Bei Verbindungen mit nicht ist dies zum großen Teil auch schon von vorneherein ausgeschlossen. Dabei muss man drei mögliche Konstruktionen unterscheiden: a. das Wort ist nicht flektiert – b. das Wort ist nichtflektiert – c. das Wort ist nicht vollständig flektiert a’. sie singt nicht öffentlich – b’. sie singt nichtöffentlich – c’. sie singt nicht gerne öffentlich

In (a) kann der Skopus von nicht jeweils der gesamte Sachverhalt sein oder das Adjektiv. In (b) ist der Skopus von nicht jeweils das Adjektiv, in (c) jeweils der gesamte Sachverhalt. Es geht darum, die Syntagmen, in denen das Adjektiv im Skopus von nicht steht, zu unter-

12 scheiden von den Wörtern mit nicht- als Erstglied. Und diese Syntagmen sind gerade nicht unterbrechbar. Bei den Substantiv-Partizip-I-Verbindungen geht es ja um die Nachbarstellung von Substantiv und Partizip I. Nur bei direkter Nachbarschaft steht eine Unterscheidung zwischen Wort und Syntagma überhaupt an. Stehen andere sprachliche Einheiten zwischen Substantiv und Partizip, so handelt es sich um ein Syntagma: die das Bier besonders kalt trinkenden Fans, die Bücher besonders aufmerksam lesenden Studenten. Auch syntagmatisch werden die Stadtadjektive häufig nicht von den entsprechenden Substantiven getrennt. Das ist zunächst eine Beobachtung über das Deutsche. Sie besagt, dass Herkunftsadjektive in einer möglichen Adjektivreihung diejenigen sind, die dem Substantiv am nächsten stehen (neue italienische Mode – ??die italienische neue Mode, Zifonun u.a. 2070f.). Diese Trennung ist bei flektierbaren Adjektiven ungewöhnlich, aber nicht völlig ungrammatisch. Bei den Stadtadjektiven geht unter Umständen durch eine Trennung der Bezug verloren, s. Kapitel 7. An dieser Stelle soll das heißen, dass Untrennbarkeit zwar eine notwendige Bedingung für die Interpretation als ein Wort ist, aber bestimmt keine hinreichende. Beispiele wie die Frankfurter Jüdische Gemeinde sind doch recht selten. ‚Syntaktische Wörter‘ Wurzels Kriterium (C) beschreibt den syntaktischen Status von morphologischen Wörtern: Wenn weder die einheitliche Flexion noch die Ununterbrechbarkeit zutreffen, dann kann bei Wurzel das dritte Kriterium zur Bestimmung ‚morphologisches Semiwort‘ führen. Bei den ersten beiden Kriterien ist für die vorliegenden Fälle nicht das Problem, dass sie nicht zutreffen, sondern es ist durchaus das Problem, dass sie für entsprechende Syntagmen auch zutreffen, sie also nichts zu einer Unterscheidung von Wort und Syntagma beitragen. Den Begriff des ‚morphologischen Semiworts‘ führt Wurzel ein, um Fälle wie grüner Kloß nicht als Wort beschreiben zu müssen, eine Verbindung aus einem flektierten Adjektiv und einem Substantiv, die aber in einer bestimmten Lesart nicht unterbrechbar ist. Die Partikelverben und entsprechend die Substantiv-Verb-Verbindungen sind in ihrer unterbrochenen Variante für Wurzel morphologische Semi-Wörter, weil sie sich in ihrer unterbrochenen Variante syntaktisch wie die nichtunterbrochenen Varianten verhalten. Wurzel macht aber nicht wirklich deutlich, was er mit dem syntaktischen Wortstatus meint. Sie seien „Konstituenten auf der V0-Ebene“ (2000: 40), wie das erkannt werden soll, wird nicht erklärt. In den vorliegenden Fällen geht es stets darum zu überlegen, was ein Wort und was zwei (oder auch mehr) Wörter sind; es geht um die Unterscheidung von Wort und Syntagma. Wenn nicht klar ist, ob morphologisch etwas ein Wort ist, indem es ein spezielles morphologisches Verhalten zeigt, kann man ja weiterhin überlegen, ob etwas syntaktisch zwei Wörter sind, ob sie sich also syntaktisch jeweils wie selbstständige Einheiten verhalten. Daher werde ich im folgenden zeigen, was eine syntaktisch selbstständige Einheit ausmacht. Die Folge mag dann sein, dass syntaktisch unselbstständige Einheiten Bestandteile von Wörtern sind. Dies ist immerhin eine mögliche Lösung, wenn morphologisch nichts dagegen spricht.

13 Der Akzent als Kriterium Gerade im Zusammenhang mit trennbaren und untrennbaren Verben ist der Akzent ein häufig angeführtes Kriterium: Trennbare Verben sind auf dem Erstglied betont, untrennbare Verben auf dem Verbstamm. Zum Beispiel gibt es zwei unterschiedliche Verben umfahren, die sich phonologisch durch den Akzent unterscheiden: úmfahren – umfáhren. Die erste Variante ist die trennbare: ich fahre die Kiste um, die zweite die untrennbare: ich umfahre die Kiste. Es geht also um die Unterscheidung von Wörtern, die auf dem Erstglied betont sind und den entsprechenden Syntagmen, zum Beispiel umfahren – Bier trinken (bzw. radfahren – Bier trinken). Ich denke, man kann hier schon erkennen, wie schwierig dieses Kriterium ist. Denn ganz offenbar hängt die Akzentuierung (auch) von der kategorialen Einordnung der Glieder ab. Hinzu kommt, dass neuere Arbeiten (zum Beispiel Olsen 2000 und Eisenberg 2002a) die grundsätzliche Erstgliedbetonung von deutschen Komposita anzweifeln (zum Beispiel Nordóst). Ich werde dieses Kriterium zur Bestimmung von graphematischen Wörtern nicht verwenden. Bei den Verb-Verbindungen kann dieses Kriterium gar nicht angewandt werden: Es geht in dieser Arbeit nicht um die Unterscheidung von trennbaren und untrennbaren Verben, sondern es geht um die Unterscheidung von trennbaren Verben als potentiellen Wörtern und als potentiellen Syntagmen. Hier ist ein unterschiedlicher Akzent von vorneherein nicht anzunehmen. Für die anderen Verbindungen werde ich dieses Kriterium jedoch auch nicht anwenden, denn es geht in den Untersuchungen auch um Grammatikalitätsurteile. Unterschiedliche Akzentstrukturen abzufragen, hat sich in der Praxis als sehr schwierig erwiesen, in diesem Sinne auch Maas (1992: 185). Graphematisches Wort, Syntaktisches Wort, Morphologisches Wort Bei der Wortbestimmung spielen verschiedene Kriterien eine Rolle, und zwar zumindest phonologische, flexionsmorphologische und syntaktische. Die einzelnen Kriteriengruppen führen durchaus zu unterschiedlichen Wortbegriffen. In den letzten Jahren wurde insbesondere das phonologische Wort diskutiert (s. zum Beispiel Hall/ Kleinhenz 1999). Der syntaktische und der flexionsmorphologische Wortbegriff haben jeweils eine längere Tradition, sie werden weniger explizit diskutiert. Noch weniger explizit wird bisher der graphematische Wortbegriff diskutiert; in den Beschreibungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung spielt er aber eine große Rolle. Neben den genannten Wortbegriffen kann mit Jacobs (2005) außerdem ein derivationsmorphologischer Wortbegriff angenommen werden. Auch er kommt bisher eher implizit vor. Mein Ziel ist hier durchaus, das graphematische Wort zu beschreiben. Welche Kriterien sind dafür zugelassen? Das graphematische Wort soll hier grammatisch fundiert werden, insofern sind grundsätzlich alle Kriterien zugelassen. Das heißt nicht, dass alle Kriterien gleichermaßen zur Bestimmung des graphematischen Wortes beitragen, sondern das ist die Forschungsaufgabe: Welche Kriterien bestimmen das graphematische Wort? Daher folgt hier keine grundsätzliche Diskussion um den Wortbegriff. Vielmehr geht es darum, die Kriterien zu beschreiben und für den fraglichen Bereich zu diskutieren und anzuwenden. Welche Kriterien letztlich beim graphematischen Wort zum Zuge kommen, kann in der Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung gezeigt werden. (s. Abschnitt 11.3).

14 1.3.2 Syntagmen oder Nicht-Wörter Was können ‚Eigenschaften‘ von Syntagmen sein? ‚Syntagma‘ soll in diesem Zusammenhang quasi als ‚Nicht-Wort‘ verstanden werden. Ich spreche bewusst nicht von ‚Phrasen‘: ‚Phrase‘ beinhaltet eine deutliche Beziehung zwischen den beteiligten Einheiten Als solche können sie sogar lexikalisiert sein. Der Begriff ist an sich schon besetzt und meint nicht einfach einen entsprechend gegensätzlichen zu ‚Wort‘. Für die Beschreibung von Syntagmen nehme ich zunächst die folgenden Eigenschaften an: 1. Jede einzelne syntaktische Einheit bekommt eine Konstituentenkategorie zugewiesen und ist damit ein syntaktisches Wort. 2. Jede einzelne syntaktische Einheit steht in syntagmatischen Relationen zu anderen Einheiten im Satz. Diese können insbesondere syntaktische Relationen sein (Eisenberg 2004b: 39ff., 45ff.). 3. Verschiedene weitere Verhaltensweisen liefern Hinweise zur Selbstständigkeit oder NichtSelbstständigkeit der jeweiligen Einheit, zum Beispiel ‚Vorfeldfähigkeit‘ usw. 4. Hingegen können andere Kriterien eine besonders enge Zusammengehörigkeit zweier Einheiten zeigen, zum Beispiel Wortstellungsphänomene.

Die Kriterien sind nicht bis ins letzte zu trennen, sie hängen zum Teil eng zusammen. Die vier Punkte sind als eine grobe Gliederung zu verstehen. Sowohl die allgemeine Selbstständigkeit als auch die Zusammengehörigkeit wird in dieser Einleitung nicht erläutert, dies kommt jeweils in den einzelnen Kapiteln vor. Im folgenden möchte ich beispielhaft die Zuordnung von Konstituentenkategorien und die Zuordnung von syntaktischen Funktionen ansprechen. Die Zuordnung der Konstituentenkategorie Der erste Schritt von der Morphologie in die Syntax kann in der Zuweisung von Konstituentenkategorien gesehen werden. Dahinter steht ein Modell der Oberflächensyntax, wie sie von Eisenberg (2004b) vertreten wird, zu den einzelnen Konstituentenkategorien (ebd. 22f.). Hier sind einige grundsätzliche Probleme zu erläutern. Konstituentenkategorien entsprechen zum großen Teil den traditionellen Wortarten. Lediglich ‚Nomen‘ ist hier umfassender: zu den Nomen gehören alle Einheiten, die nach Kasus flektieren. Diese Auffassung von Eisenberg ist durchaus umstritten, so gibt es sehr gute Gründe, zum Beispiel eine Konstituentenkategorie ‚Adjektiv‘ (so Fuhrhop/ Thieroff 2006) anzunehmen. Insofern sind Konstituentenkategorie und Wortart vergleichbar, und so treten auch vergleichbare Probleme auf. Wenn man Wortarten sowohl lexikalisch als auch syntaktisch (bzw. funktional) fassen kann, so sind die Konstituentenkategorien gewissermaßen der syntaktische Teil. Sie werden funktional bestimmt. Ganz konkret lässt sich dies bei den Konstituentenkategorien ausdrücken in syntagmatischen und syntaktischen Relationen. Konstituentenkategorien lassen sich so zuweisen oder ablehnen. Zunächst ein konkretes Beispiel: Als erstes Beispiel möchte ich hier Wörter des Typs auffangen anführen. Viele der sogenannten Verbpartikeln sind lexikalisch gesehen Präpositionen.

15 Die Konstituentenkategorie Präposition umfaßt nichtflektierbare Einheiten, die zusammen mit einem Substantiv oder Pronomen auftreten. Präposition und Nominal bilden zusammen eine Präpositionalgruppe, in der die Präposition als syntaktischer Kopf das Nominal in Hinsicht auf Kasus regiert Eisenberg (2004b: 190)

In einem Satz wie ich fange die Bonbons auf ist auf in einer üblichen Interpretation keine Präposition: es ist nicht Bestandteil einer Präpositionalgruppe, es regiert kein Nominal, wie zum Beispiel ich fange die Bonbons auf dem Karnevalszug. Wenn man die Rektion zum definierenden Kriterium von Präposition macht, so kann auf in dem gegebenen Satz keine Präposition sein. Diese Interpretation beinhaltet schon eine syntaktische Definition von Präposition. Präpositionen sind sehr beschränkt in ihrem Vorkommen, sie kommen quasi nur in Präpositionalgruppen vor. Daher ist eine Interpretation von auf in auf-fangen als Präposition nicht möglich. Die ‚lexikalisch naheliegende‘ Konstituentenkategorie passt hier nicht; dies ist immerhin ein erster Hinweis darauf, dass es sich bei auf in auf-fangen nicht um eine syntaktisch selbstständige Einheit handelt. Um sie doch als selbstständig zu interpretieren, müsste man eine entsprechende Konstituentenkategorie finden. Die Konstituentenkategorie ‚Nomen‘ Bei den in dieser Arbeit relevanten Einheiten reicht die einfache Zuweisung von Konstituentenkategorien nicht aus. In vielen Fällen handelt es sich bei den entsprechenden ‚ersten‘ Einheiten potentiell um Nomen, also um substantivische und adjektivische Einheiten: radfahren, leer trinken, schwerverständlich und biertrinkend. Die Frage ist dann, ob diese ersten Einheiten syntaktisch (selbstständig) Nomen sind. Und dies ist nur in Zusammenhang mit den entsprechenden syntagmatischen und syntaktischen Relationen zu beantworten. Eisenberg bestimmt die Kategorie Nomen folgendermaßen: „Nomen: alle Substantive, Adjektive, Numeralia, Artikel und Pronomina. [...] Nomina sind im allgemeinen deklinierbar.“ (Eisenberg 2004b: 22). Eisenberg drückt sich hier sehr vorsichtig aus: Er behauptet keineswegs, dass Nomen immer dekliniert sind. Bereits bei der Bestimmung von ‚Wort‘ (s. 1.3.1) habe ich gezeigt, dass ein wesentliches Kriterium für die hier untersuchten Zweifelsfälle die Unflektiertheit im jeweiligen Kontext ist. Hier kommt die ‚Erwartbarkeit‘ der Flexion hinzu. Und die Erwartbarkeit hängt von der jeweiligen syntaktischen Funktion ab. Besonders deutlich wird dies an Adjektiven in bestimmten syntaktischen Funktionen. Verbindungen mit Adjektiven als erster Einheit kommen in der vorliegenden Arbeit sowohl als Syntagmen als auch als Wörter vor: Erstens in Verbindungen mit Verben (heiß trinken, leer kaufen, krankschreiben) als auch in Verbindung mit anderen Adjektiven (erstaunlich gut – süßsauer). Adjektive flektieren nur, wenn sie sich attributiv auf ein Substantiv beziehen und außerdem pränominal auftreten (ein gutes Buch). Ansonsten bleiben sie unflektiert, postsubstantivisch wie in Whisky pur, prädikativ wie in Leo ist groß, adverbial wie in Luise singt schön, Daniel trinkt den Kaffee kalt. ‚Lexikalisch‘ sind dies alles Adjektive und dennoch flektieren sie nur in bestimmten syntaktischen Funktionen. Dass die (ersten) Adjektive in Verbindungen wie krankschreiben, heiß trinken, erstaunlich gut, süßsauer nicht flektieren, sagt (s. 3.1 und 5.1) nichts darüber aus, ob das jeweils erste Adjektiv zur Kategorie Nomen gehört oder nicht. Flexion ist hier in keinem Fall zu erwarten.

16 Bei rad in radfahren und brust in brustschwimmen liegt der Fall anders. Substantive sind, wenn sie selbstständig auftreten, flektierbar. Es gibt gewisse Klassen von Substantiven, die in ihrer Flexion eingeschränkt sind, aber diese Einschränkung ist unabhängig von einer syntaktischen Funktion. Sie ist, wenn sie überhaupt so anzunehmen ist, semantisch bedingt, so sind sowohl Eigennamen als auch Stoffsubstantive in ihrer Pluralfähigkeit in einem gewissen Sinn eingeschränkt. In den genannten Fällen geht es um substantivische Einheiten im Zusammenhang mit jeweils speziellen Verben. Wenn das Verb das Substantiv regiert, dann ist zu erwarten, dass es einen bestimmten Kasus hat und in dieser Position nicht verschiedene Kasus annehmen kann, also hier nicht nach Kasus veränderbar ist. Allerdings sollte Numerusflexion möglich sein. Wir können hier drei Fälle unterscheiden: – Bei radfahren wäre zumindest eine Flexion nach Numerus zu erwarten, wenn rad eine selbstständige syntaktische Einheit sein sollte. Die Nicht-Flexion ist hier ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich nicht um eine selbstständige syntaktische Einheit handelt. Eine Möglichkeit wäre, rad als Bestandteil eines Wortes radfahren zu interpretieren. – Bei krankschreiben und heiß trinken wird das Adjektiv nicht flektiert, unabhängig davon, ob es sich um ein Syntagma oder um einen Wortbestandteil handelt. Flexion wird nicht erwartet. – Bei Berliner Bürgermeister (Kapitel 7) haben wir keine Flexion, obwohl sie von der syntaktischen Funktion her zu erwarten wäre. Das Besondere an Stadtadjektiven ist, dass sie nicht flektieren können. Allerdings ist zu zeigen, dass es sich um syntaktisch selbstständige Adjektive handelt (s. Fuhrhop 2003a).

Die Zuordnung der syntaktischen Funktion Die Fälle, die ich soeben beschrieben habe, sind mit den bisher gegebenen Mitteln unterscheidbar, aber nicht sehr deutlich. Daher komme ich nun zu dem Punkt, der bei den Substantiv-Verb-Verbindungen zu dem entscheidenden wird: Welche syntaktische Funktion könnten die Substantive haben? Naheliegend wäre hier ‚Objekt‘, doch rad in radfahren ist nicht einfach Objekt zu fahren. Noch deutlicher ist dies zum Beispiel bei brustschwimmen: brust ist nicht Objekt zu schwimmen. Sowohl bei den Partikelverben als auch bei entsprechenden Substantiv-Verb-Verbindungen scheitert eine syntaktische Analyse sehr schnell. Das kann einerseits den Grund haben, dass die syntaktischen Beschreibungsmittel nicht vollständig sind, andererseits kann der Grund auch sein, dass es sich bei der entsprechenden Einheit nicht um eine (selbstständige) syntaktische Einheit handelt, sondern um den Bestandteil eines (komplexen) Wortes.

1.4 Trennbare und untrennbare Verben In den ersten drei Untersuchungen werden Verb-Verbindungen betrachtet (radfahren, leer trinken/ krankschreiben, kennenlernen). Sie sind vergleichbar mit den trennbaren Verben, also mit Partikelverben; selbst bei diesen ist der Wortstatus umstritten. Daher beschäftige ich mich in diesem Unterabschnitt zunächst einmal mit den trennbaren Verben. In den

17 Untersuchungskapiteln selbst (Kapitel 2-4) vergleiche ich sie dann jeweils mit den Substantiv-Verb-Verbindungen, den Adjektiv-Verb-Verbindungen und den Verb-Verb-Verbindungen. Bei den untrennbaren Verben ist der Wortstatus sehr viel deutlicher: er maßregelt seinen Lehrer, er gewährleistet eine Garantie, er staubsaugt seine Wohnung. Wann untrennbare Verben und wann trennbare Verben gebildet werden, ist noch nicht endgültig geklärt (s. insbesondere Becker/ Peschel 2003). Die klassischen Präfixverben sind solche mit unbetonten Präfixen wie ver-, zer-, beusw. Daneben gibt es Präfixverben, deren Präfix gleichlautend einer Präposition ist und insbesondere zu denen es homonyme Verbpartikeln gibt. Diese werden von Altmann/ Kemmerling (2000: 77) Partikelpräfixverben genannt. Mit durch-, um-, über- usw. können sowohl trennbare als auch untrennbare Verben gebildet werden, also sowohl Partikelpräfixverben als auch Partikelverben: ich durchlaufe den Wald – ich laufe durch (‚ohne Unterbrechung‘)/ ich bin den Marathon durchgelaufen ich umfahre den Polizisten – ich fahre den Polizisten um

Die Partikelpräfixe und die Partikeln haben dabei unterschiedliche Akzentstrukturen. Bei den Partikelverben liegt der Akzent auf der Verbpartikel, bei den Partikelpräfixverben liegt der Akzent hingegen auf dem Verbstamm. Das heißt letztendlich haben die Partikelverben in den zusammengesetzten Formen Kompositionsakzent, die Partikelpräfixverben haben ‚Derivationsakzent‘: das Partikelpräfix bleibt unbetont; die Betonung liegt auf der Stammsilbe. Die untrennbaren Verben sind ohne Zweifel Wörter: Er hat ihn gebauchpinselt, er hat seine Wohnung gestaubsaugt, er hat seine Wohnung zu staubsaugen – sofern die Sätze grammatisch sind, handelt es sich bei den Substantiv-Verb-Verbindungen eindeutig jeweils um ein Wort. Bei den Partikelverben wird die Wortartigkeit generell angezweifelt und dies liegt wesentlich an dem Umstand, dass sie trennbar sind. Wenn sie dennoch als ein Wort betrachtet werden, so kann das an dem Umstand liegen, dass ein Bestandteil (wohl die Partikel) syntaktisch nicht selbstständig ist. Partikelverben In den Untersuchungen geht es konkret um Substantiv-Verb-Verbindungen (radfahren), um Adjektiv-Verb-Verbindungen (leer trinken/ krankschreiben) und um Verb-Verb-Verbindungen (kennenlernen). Wenn das überhaupt Wörter sind, so sind es trennbare Verben. Der Vergleich zu Partikelverben liegt nahe. Sie werden in den Untersuchungen jeweils mit prototypischen Partikelverben verglichen (anfangen, aufhängen, beistehen). Nun wird den Partikelverben selbst in der neueren Forschung häufig die ‚Wortartigkeit‘ abgesprochen, das heißt sie werden als Phrasen analysiert. Ein besonders deutliches Beispiel ist Lüdeling (2001). Ihrer umfangreichen Untersuchung zu Partikelverben stellt sie ihr Ergebnis voran, dass es im Deutschen keine Partikelverben gibt (2001: ix). Damit meint sie, dass es sie als Wort nicht gibt, sondern es sind „lexicalized phrasal constructions“ (2001: x). Ihre Begründung beruht im wesentlichen darauf, dass es keine Eigenschaft gibt, die ausschließlich Partikelverben haben, die also eine hinreichende Bedingung für die Bestim-

18 mung von Partikelverben ist. Ein wesentliches Argument für sie sind vergleichbare Bildungen wie zum Beispiel weichkochen/ weich kochen, die nach ihrer Analyse Syntagmen sind. Die vorliegende Arbeit argumentiert von der anderen Seite her: Weil weichkochen/ weich kochen Eigenschaften von Partikelverben hat, hat es auch Worteigenschaften. weich kochen ist nicht so zweifellos eine Phrase, wie Lüdeling annimmt. Der Zwitterstatus all dieser Einheiten bleibt damit unbestritten. Lüdeling hält durchaus fest, dass Sprecher eine Intuition über Partikelverben haben (Lüdeling 2001: ix) und um die Charakterisierung dieser Intuition geht es letztendlich. Ich gehe in dieser Arbeit davon aus, dass Partikelverben graphematische Wörter sind. In den Untersuchungen werden die Verb-Verbindungen mit den Partikelverben verglichen. Ein Partikelverb des Kernbereichs hat einige Eigenschaften, die Wortcharakter nahelegen. Nicht jede Eigenschaft muss von jedem Partikelverb getragen werden. Zum Beispiel sind die meisten Partikeln nicht vorfeldfähig: *An fängt Karl immer zu spät. Gegen dieses Kriterium wird häufig das folgende Beispiel angeführt: fest steht, dass.... Die Partikel fest ist hier offenbar vorfeldfähig (ob sie tatsächlich voll vorfeldfähig ist, wird in Kapitel 3, Abschnitt 3.4 noch zu untersuchen sein). Dass eine einzelne Verbpartikel vorfeldfähig ist, spricht in der Sicht der Prototypentheorie nicht gegen das Kriterium an und für sich. Dennoch ist natürlich zu testen, wie viele Verbpartikeln dieses Kriterium nicht erfüllen und entsprechend ist es auch zu bewerten. Wie gesagt kann die Frage nach dem Wortcharakter von Partikelverben auch von der anderen Seite her gestellt werden: Wenn Partikelverben keine Wörter sind, dann sind es Syntagmen. Wenn es Syntagmen sind, dann sind die Verbpartikeln selbstständige syntaktische Einheiten. Und diese wären dann zu bestimmen. In manchen Konstruktionen sind die Partikeln syntaktisch zu interpretieren wie in er dreht den Haken fest; in er fängt mit dem Schreiben an ist an nicht so ohne weiteres syntaktisch zu bestimmen. Partikelverben befinden sich zwischen Wort und Syntagma, daher muss auch gefragt werden, ob sie wirklich Eigenschaften von Syntagmen haben. Man kann die Partikelverben in drei große Gruppen unterteilen, je nach der Wortartzugehörigkeit der Entsprechungen. Die meisten Verbpartikeln sind homonym zu Präpositionen und nur wenige Verbpartikeln sind homonym zu Adjektiven wie fest, tot (feststehen, totlachen). Jedenfalls werden diese häufig als Partikeln angenommen. Die Homonymie zu den Adjektiven ist mitunter noch in der Bedeutung zu erkennen, wenn auch nicht immer: So beinhaltet totschlagen ‚tot‘, totlachen aber von der Bedeutung her gerade nicht, festschrauben beinhaltet ‚fest‘, feststehen zumindest nicht in gleichem Maße. Bei den Partikeln, die homonym zu Präpositionen sind, ist die Bedeutung in den meisten Fällen nicht mehr zu erkennen (anfangen), in anderen ist sie deutlicher (ankleben). Andererseits gibt es noch eine Reihe von Verbpartikeln, die homonym zu Adverbien sind wie runterfallen/ herunterfallen, drübergehen, hier ist Bedeutungsähnlichkeit deutlich. Diese Einteilung nach den ‚Wortarten‘ des ‚Erstgliedes‘ ist nicht ‚morphologisch‘, sondern ‚syntaktisch‘ notwendig: Sind die Verbpartikeln Bestandteile von Wörtern, so ist die ursprüngliche Wortart irrelevant. Sind sie jedoch selbstständige syntaktische Einheiten, so müssen sie interpretiert werden. Die Tatsache, dass es überhaupt zu jeder Verbpartikel homonyme freie Formen gibt, ist auffällig. Und diese Tatsache ist auch morphologisch interessant. Affixe sind gerade solche Einheiten, die nicht (auch) frei vorkommen. Weil es zu den Verbpartikeln homonyme Wörter gibt, können sie überhaupt in trennbaren Verben vorkommen, die Homonymität ist

19 also nicht irrelevant. Die (homonymen) freien Formen rücken die Verbpartikel-VerbVerbindungen in die Nähe der Komposition (im Unterschied zur Derivation). Als syntaktische Einheiten könnten sie in zweierlei Hinsicht interpretiert werden: als Verbpartikeln (wenn dies eine syntaktische Kategorie sein soll, wäre hier eine neue Konstituentenkategorie erforderlich) oder hinsichtlich ihrer homonymen Formen. Insbesondere die zweite Interpretation führt zu gewissen Anforderungen an die Einheiten. Wenn an in er fängt an eine Präposition sein sollte, dann sollte sie wie andere Präpositionen ein Nominal regieren. Offenbar regiert an hier aber kein Nominal, daher ist eine Interpretation als Präposition fraglich. Im Anschluss werden unterschiedliche Verhaltensweisen von Partikelverben aufgelistet, mit diesen werden die zur Rede stehenden Verbindungen dann verglichen, sie werden gewissermaßen an ihnen gemessen. Die Herkunft der jeweiligen Erstglieder kann zeigen, wie weit die ‚ursprünglichen‘ Eigenschaften noch vorhanden sind. Bei den ‚präpositionalen‘ Partikelverben wird zum Beispiel diskutiert, inwieweit sie noch präpositional sind, sie also beispielsweise noch ihre Rektion ausüben oder ausüben können. Eine solche Eigenschaft ist für Substantive nur bedingt anzunehmen. Selbstständige Substantive sind attribuierbar, sie referieren, flektieren nach Kasus und Numerus, sie haben ein Genus usw. Die substantivischen Einheiten in den Substantiv-Verb-Verbindungen werden an derartigen Kriterien gemessen. Ich gehe bei den Partikelverben davon aus, dass sie Eigenschaften von Wörtern haben und in einem bestimmten Sinn Wörter sind, wenn auch selbstredend keine prototypischen Wörter. Die vorliegenden Untersuchungen sollten auch sinnvoll sein für Betrachtungen, die Partikelverben nicht als Wörter betrachten.

1.5 Die Wortbildungsprozesse: Rückbildung, Univerbierung, Inkorporation In dieser Arbeit wird der Wortbetrachtung ein Kriterium hinzugefügt, das implizit in der Morphologie angenommen wird; explizit benannt worden ist es auch von Jacobs (2005:34) – ein morphologisches Prinzip (s. 11.3.2). Ein Kriterium für ein Wort kann auch sein, dass es durch einen Wortbildungsprozess entstanden ist. Da es in dieser Arbeit wesentlich um Stammverbindungen geht, wäre hier der naheliegende und sehr produktive Prozess der der Komposition. Die benannten Zweifelsfälle können zum Teil durch Komposition entstanden sein; sie sind es aber tatsächlich nur sehr bedingt, s. auch 11.3.4. Sehr häufig liegen hier andere Prozesse zugrunde, die deutlich weniger produktiv sind. Zur Rede stehen Rückbildung, Univerbierung und Inkorporation. Sie werden im folgenden erläutert. Alle drei Prozesse sind für das Deutsche untypische Wortbildungsprozesse. Sie stehen im Verdacht, einzelne neue Wörter zu produzieren, sie sind nicht produktiv in einem bestimmten Sinne (Fuhrhop 1998: 10ff.)2.

2

Nach Jacobs (2005: 107) sind Univerbierungen keine morphologischen Bildungen; es gibt keine Bildungsmuster und sie sind nicht reihenbildend. Ich nehme hier hingegen den Begriff ‚Wortbildung‘ wörtlich; durch Univerbierung entstehen Wörter, wenn auch nicht reihenbildend, sondern unsystematisch und unproduktiv.

20 Alle drei Prozesse stehen in einem Übergang von Morphologie und Syntax. Zunächst möchte ich die Prozesse beschreiben und die Benennung für diese Arbeit festlegen; sie geschieht in der Literatur nicht einheitlich. Als sehr vorsichtig hat hier Wurzel 1995/ 1998 zu gelten, er spricht grundsätzlich nur von ‚inkorporierenden Strukturen‘. Bei allen diesen Beschreibungen geht es um zweierlei. Einerseits können die entsprechenden Einheiten diachron hergeleitet werden. Ein idealisierter Prozess wird dabei vorgezeichnet. Andererseits ist dies keine diachrone Untersuchung und auch die meisten der zitierten Arbeiten meinen nicht tatsächlich die Diachronie dieser Einheiten. Es geht vielmehr um strukturelle Besonderheiten. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass man den Einheiten ihre Entstehung ansieht, weil sie sich besonders verhalten. Das besondere Verhalten kann dann logisch auf den Entstehensprozess zurückgeführt werden; eine Entstehung wird damit theoretisch nachgezeichnet. Andererseits werden alle Entstehensarten auch in der diachronen Literatur gezeigt. Die nächste Frage ist dann, ob wirklich alle der jeweils zugeordneten Einheiten so entstanden sind. Das muss aber nicht der Fall sein: Einzelne Einheiten können auch nach einem Vorbild gebildet sein, ohne dass alles historisch genauso wie bei anderen passiert sein muss. 1.5.1 Rückbildung Die Rückbildung wird im allgemeinen wie folgt verstanden: es gibt einen regulären Wortbildungsprozess, zum Beispiel fahr – Fahrer. Das entstehende Substantiv kann wie andere Substantive Komposita bilden: Radfahrer, Autofahrer, Bahnfahrer, Schnellfahrer, Lastwagenfahrer usw. Die Komposita können nun ‚rückgebildet‘ werden, das heißt das Suffix wird rückinterpretiert. Dabei entsteht ein komplexer Verbstamm des Typs radfahren. Dieser Prozess ist in vielerlei Hinsicht nicht voll produktiv. Die gebildeten Wörter (in diesem Fall Verben) werden häufig nicht vollwertige Mitglieder der entsprechenden Kategorie. Zum Teil bilden sie keine vollständigen Paradigmen. Bei den trennbaren Verben werden häufig die getrennten Formen nicht gebildet (in diesem Sinne auch Wurzel 1995/ 1998, Eschenlohr 1999: 146ff.): er fährt rad ist ohne Zweifel grammatisch3, er fährt bahn, er fährt zug, er fährt lastwagen mögen schon weniger eindeutig grammatisch sein, viele Sprecher haben hier bereits eine Tendenz mit dem/ mit der einzusetzen: er fährt mit der Bahn, er fährt mit dem Auto. Noch deutlicher wird dies aber in dem Beispiel er will bausparen – *er spart bau. Zusammenstehende Formen entstehen also (weil er bauspart), getrennte Formen jedoch nicht. Bei der Rückbildung bausparen ist kein Verb mit einem vollständigen Paradigma entstanden. Das ist sonst in der Wortbildung unüblich: Bei produktiven Wortbildungsprozessen entstehen normalerweise vollwertige Mitglieder einer Kategorie.4 Noch nicht einmal ‚Reihen‘ scheinen sich in gleicher Weise zu verhalten: ?bahnfahren, ?lastwagenfahren usw. verhalten sich nicht wie radfahren. Rückbildungen erscheinen eher zufällig. Sie können spontan gebildet werden, in den wenigsten Fällen werden sie etabliert. 3

4

Von der Klein-/Großschreibung bitte ich hier abzusehen. Es geht hier erstmal darum, ob die rückgebildeten Verben vollständige Paradigmen bilden. Es geht hier noch nicht darum, festzustellen, welcher Kategorie rad in radfahren zuzuordnen ist. Die Probleme mit dem Infinitiv und dem Partizip I führen ja zu besonderen Interpretationen der Wortbildungsprozesse, da keine vollwertigen Mitglieder der Zielkategorie entstehen.

21 Was sind die Voraussetzungen für eine Rückbildung bzw. wie ist erkennbar, dass ein Wort durch Rückbildung entstanden ist? 1. Es liegt eine Verbindung vor, die sich nicht wie ein Syntagma verhält. 2. Es gibt eine ‚andere‘ Wortbildung mit dieser Verbindung. 3. Diese andere Wortbildung hat ein komplexes Zweitglied oder zumindest eines, das abgeleitet sein kann, entweder durch ein Suffix, durch Konversion oder durch implizite Ableitung. Die Beziehung zwischen dem Zweitglied und der angenommenen Ableitungsbasis muss transparent sein. 4. Ein engerer semantischer Bezug kann aber muss nicht gegeben sein. So liegt bei fernsehen vermutlich eine Rückbildung aus einem Substantiv Fernseher, Fernsehen vor, weil ein Syntagma ich sehe fern in dem Sinn ‚ich gucke weit‘, wenn es denn überhaupt grammatisch ist, ganz anders zu interpretieren wäre.

Das erste Kriterium ist sozusagen der Grund, warum Rückbildungen angenommen werden. Es könnten auch Syntagmen aus Rückbildungen entstehen, wie zum Beispiel Bier trinken aus Biertrinker. Wenn man so argumentiert, wird der Begriff der Rückbildung beliebig. Rückbildungen zeichnen sich durch ‚merkwürdiges‘ Verhalten aus. Das zweite Kriterium beinhaltet die Gefahr einer ‚doppelten‘ Interpretation. Denn mitunter wird die Wortbildungsfähigkeit gerade für ein Wortkriterium genommen (z.B. Jacobs 2001: 19), also anhand einer Wortbildung wird gezeigt, dass die Verbindung bereits Wortstatus erreicht hat. In manchen Fällen führt die doppelte Interpretation zum gleichen Ziel, zum Beispiel wäre es in beiden Fällen ein Argument dafür, dass die Verbindung Wortcharakter hat. Eine mit der Verbindung vorhandene Wortbildung ist damit keine hinreichende Bedingung für ein synchrones Rückbildungsverhältnis, aber es ist eine notwendige Bedingung: Fehlt die Wortbildung, so kann keine Rückbildung vorliegen. ‚Rückbildung‘ ist immer eine Hypothese, die nur indirekt gezeigt werden kann. Aber auch andere Wortbildungen sind nicht wirklich belegbar, so geht man bei produktiven Wortbildungen davon aus, dass es sich um reihenbildende morphosemantische Funktionen handelt. Die ‚morphosemantische Funktion‘ geschieht bei Rückbildungen ‚rückwärts‘, die rückwärtige Richtung scheint an sich nicht reihenbildend zu sein. 1.5.2 Univerbierung – Inkorporation Bei den Prozessen Univerbierung und Inkorporation geht es deutlich um den Übergang zwischen Wort und Syntagma. In beiden Fällen wird aus zwei (oder mehr) Wörtern ein Wort. Mitunter werden die Prozesse betrachtet, um zu zeigen, wie syntaktisch sie sind und dass auch die Wortbildung syntaktisch sei. Damit wurden und werden morphologische Prozesse an und für sich infrage gestellt. In dieser Arbeit geht es darum, den Zwischenbereich zwischen Morphologie und Syntax darzustellen. Es ist durchaus zu erwarten, dass morphologische und syntaktische Prozesse ineinander greifen. Syntax und Morphologie müssen nicht von vornherein strikt getrennt werden, es ist bei der vorliegenden Thematik auch gar nicht zu erwarten. Die Begriffe ‚Univerbierung‘ und ‚Inkorporation‘ gehen in der Literatur durcheinander. Hier geht es nicht um den typologischen Begriff von ‚Inkorporation‘, sondern um einen Prozess im Deutschen, wie er in der Literatur mitunter angenommen wird.

22 Eisenberg meint, dass ‚Inkorporation‘ speziell für Univerbierungen mit einem verbalen zweiten Bestandteil genutzt wird: Bei Wörtern mit Verbstamm als zweitem Bestandteil hat sich in der neueren Literatur neben Univerbierung der spezielle Begriff Inkorporation durchgesetzt: Der Verbstamm inkorporiert einen anderen, hier einen substantivischen Stamm als morphologischen Bestandteil. Eisenberg (2004a: 234)

Warum sich, wie Eisenberg festhält, ein besonderer Begriff für Verben herausgebildet hat, ist zu überlegen. Auf der Hand liegt die Valenz, denn Inkorporation beinhaltet ja Valenz. Univerbierung wird im allgemeinen angenommen für die Entstehung komplexer Präpositionen wie aufgrund, anstelle usw. (s. zum Beispiel Eisenberg 2004a: 333). Hier wächst eine Präposition mit einem Substantiv zusammen und dieses Substantiv ist in der zugrundeliegenden Konstruktion von der Präposition regiert. Auch hier sind nicht einfach nur zwei Glieder zusammengewachsen, die häufig nebeneinander stehen, sondern zwischen beiden Gliedern besteht ein Rektionsverhältnis. Zunächst geht es um Wurzels Ansatz der ‚inkorporierenden Strukturen‘. Wurzels inkorporierende Strukturen Wurzels Aufsatz (1995/ 1998) über inkorporierende Strukturen im Deutschen gilt inzwischen geradezu als Klassiker für dieses Thema. Er untersucht im Prinzip alle Typen von Substantiv-Verb-Verbindungen, die im heutigen Deutschen zu finden sind. Dazu entwickelt er diachrone Klassen und synchrone Klassen. Die diachronen Klassen zeichnen die Entstehung nach, die synchronen ihren heutigen Status, also zum Beispiel ob es trennbare oder untrennbare Verben sind und ob sie ein vollständiges Paradigma entwickeln oder nicht. Für die hier vorliegende Fragestellung ist zunächst die diachrone Klasseneinteilung von Interesse. (1) a. (die) Gewähr leisten > [incorporation] > gewährleisten (Wurzel 1998: 334) b. taufen > Taufe > [incorporation] > Not-taufe > nottauf-en > [reanalysis] > not-taufen (Wurzel 1998: 335) c. sparen [...] > (das) Sparen > [incorporation] > (das) Bau-sparen > bau-sparen (Wurzel 1998: 337) d. fahren > Fahrer > [incorporation] > Test-fahrer > test-fahren (Wurzel 1998: 337) e. beheizen [...] > beheizt > [incorporation] > gas-beheizt > gas-beheizen (Wurzel 1998: 338)

Mit Ausnahme von a. lässt sich hier folgende Verallgemeinerung festhalten: die Inkorporation selbst findet nicht innerhalb des Verbs statt, sondern in den Beispielen im Substantiv (b., c., d.) oder in einem adjektivierten Partizip II (e.). Das heißt, es könnte sich in den Fällen b-e. um die Bildung von Rektionskomposita handeln, die rückgebildet werden. Nur der Fall a. wäre in der vorliegenden Begriffswahl Inkorporation. Wurzel (1998: 333) nennt dies ebenfalls „real incorporation“, behauptet, dass diese in allen Perioden des Deutschen vorkommt. Als Beispiele für das Neuhochdeutsche nennt er: gewährleisten, liebkosen, lobhudeln, standhalten, stattfinden, Karten spielen (Wurzel 1998: 333). „Originally only direct objects were incorporated in transitive verbs.“ (ebd.) Lediglich bei Karten spielen leuchtet das von einem synchronen Standpunkt unmittelbar ein. Ausgerechnet

23 dieses Beispiel schreibt Wurzel getrennt. Offenbar führt eine ‚Inkorporation‘ eines Objekts synchron nicht zu einem (graphematischen) Wort, hier findet dann morphologisch keine Inkorporation statt. Die Inkorporation, die Wurzel in den Beispielen b-e annimmt, sieht zunächst rein morphologisch aus. Die Komposition mit Partizipien wird in Kapitel 8 noch ausführlich am Beispiel des Partizip I beschrieben. Bei den inkorporierenden Strukturen in b-e sind deverbale Ableitungen beteiligt, in b-d deverbale Substantive. Bei den von Wurzel genannten Beispielen handelt es sich nicht wirklich um Rektionskomposita: Not ist keine Ergänzung von taufen. Man könnte sie aber als solche reanalysieren und daher kommen die ungewöhnlichen Strukturen und damit auch die unvollständigen Paradigmen. Letztendlich sind die Fälle in b-d Rückbildungen. In e. kann man von einem Rektionskompositum ausgehen, zu analogen Fällen mit dem Partizip I und ihrer Interpretation, s. Kapitel 8. Inkorporation bei untrennbaren Verben: streichen – überstreichen Die Partikelpräfixverben sind untrennbar. Damit ist ihr Wortstatus an sich unbestritten. Hier möchte ich sie kurz betrachten wegen ihres Verhältnisses zu den entsprechenden einfachen Verben. Hier wird ‚Inkorporation‘ diskutiert: sie streicht Farbe über den Riß – sie überstreicht den Riß mit Farbe (Beispiele nach Eisenberg 2004a: 257). Die entsprechende homonyme Präposition ist hier noch in der Bedeutung zu erkennen (im Gegensatz zu vielen lexikalisierten Partikelverben wie zum Beispiel anfangen; die Bedeutung von anfangen ist wohl kaum aus den Bedeutungen der Präposition an und dem Verb fangen zu rekonstruieren). Olsen hat sich in mehreren Aufsätzen mit diesen Verben beschäftigt und auch genau mit der Frage, ob der Prozess denn Inkorporation sei (der m.W. letzte Aufsatz zu diesem Thema heißt schließlich ‚Gegen Inkorporation‘, Olsen 1999). Ich möchte kurz ihre Argumente nennen, die für Inkorporation sprechen und die, die gegen Inkorporation sprechen. Letztendlich kann man eine Unterscheidung zwischen syntaktischer und morphologischer Inkorporation machen (s. unten). Olsen (1997) nennt diese Fälle Inkorporation, Olsen (1999) verwirft diese Argumentation wieder. Zunächst zu der Interpretation als Inkorporation und die dahinter stehende Argumentation: In [... a. Er klebt ein Pflaster über die Wunde. b. er überklebt die Wunde mit einem Pflaster.] ist Wunde Objekt der direktionalen Präposition über im Basissatz und wird zum direkten Objekt des Präfixverbs im abgeleiteten Satz, während das direkte Objekt des Verbs (Pflaster) seinen ursprünglichen Status verliert und durch eine oblique Präposition (mit) neu angeschlossen werden muß. Es besteht m.a.W. eine derivationelle Beziehung zwischen dem Simplex- und abgeleitetem Verb der Art, daß das abgeleitete Verb auf das Basisverb über den formalen Prozeß der PI [Präpositionsinkorporation] bezogen wird. Dieser Prozeß besteht darin, daß eine präpositionale Relation mittels funktionaler Komposition in die semantische Repräsentation des Basisverbs inkorporiert wird. Olsen (1997: 116)

Bei der Inkorporation geht es um die Sättigung von Valenzstellen. Olsen verbildlicht Inkorporation folgendermaßen:

24 Funktionale Komposition und Applikation sind kombinatorische Prozesse, die im Rahmen der kategorialen Grammatik entwickelt wurden. Sie sind – stark vereinfacht – wie in [a, b] konzipiert. [...] a. Funktionale Applikation X/Y + Y = X b. Funktionale Komposition X/Y + Y/Z = X/Z

Olsen (1997: 116)

In a. handelt es sich quasi um die Sättigung einer einstelligen Funktion. In b. wird eine einstellige Funktion wiederum mit einer einstelligen Funktion ‚gesättigt‘ – das Ergebnis ist eine neue, aber logisch herleitbare einstellige Funktion. Dies ist der Prozess, der bei klebt ein Pflaster über die Wunde und überklebt die Wunde angenommen wird. Dass in Fällen wie kleben – überkleben Inkorporation vorliegt, ist nicht unumstritten und wie gesagt, in dem Aufsatz ‚Gegen Inkorporation‘ plädiert Olsen (1999) selbst dafür, dass in diesen Fällen synchron keine Inkorporation vorliegt, sondern Wortbildung. Ihr wesentliches Argument ist die ‚Wirkung‘ eines zugefügten Adverbs, der Skopus des Adverbs unterscheidet sich jeweils. Daraus folgt, dass sich Partikelverben strukturell von einfachen Verb-Adverb-Konstruktionen unterscheiden (Olsen 1999: 81). Der unterschiedliche Skopus sei illustriert an einem Beispiel aus dem Englischen: (2) a. His footsteps sent air bubbles right up to the surface. […] b. His footsteps sent up air bubbles right to the surface.

nach Olsen (1999: 81)

Bei Olsen geht es gewissermaßen um eine syntaktische Inkorporation. Es wird erwartet, dass sich bei der Präpositionsinkorporation syntaktisch sonst nichts ändert. Daneben kann man den Begriff der morphologischen Inkorporation stellen. Diese wäre dann folgendermaßen zu denken: – Bei überkleben handelt es sich um ein Wort. – überkleben ist durch einen (produktiven) morphologischen Prozess entstanden. – Dieser morphologische Prozess übernimmt syntaktische Eigenschaften der Präposition, daher ist es eine morphologische Inkorporation. – Weil es aber ein morphologischer und kein syntaktischer Prozess ist, sind Lexikalisierungen üblich.

Deutlich wird hier zweierlei. Einerseits wird Inkorporation bezogen auf die Valenz der beteiligten Wortarten. Andererseits wird von Wurzel rein morphologisch, von Olsen zunächst syntaktisch argumentiert. Valenz und Wortbildung am Beispiel von Präpositionen Ähnlich unterschiedlich werden Rektionskomposita analysiert, hier als Beispiele Rivet (1999) und Eisenberg (2004a: 230f.). Beide nehmen als typische Rektionskomposita Substantivkomposita des Typs Wetterbeobachter und Drogenfahnder. Während Rivet versucht, diese rein syntaktisch zu fassen, geht Eisenberg davon aus, dass die Rektionskomposita eine Interpretation nahelegen, grammatisch sich aber nicht von Determinativkomposita unterscheiden. Grundsätzlich ist zu überlegen, wie sich ‚valente‘ Wortarten in

25 der Wortbildung verhalten, sowohl als Erstglieder als auch als Zweitglieder. Für die Erstglieder möchte ich zunächst Präpositionen betrachten, das heißt es geht um Wörter, in denen das Erstglied ‚präpositional‘ ist, zumindest gibt es jeweils eine homonyme (freie) Präposition im Deutschen. Die Präpositionen bieten sich meines Erachtens besonders gut an, weil man sie über die Valenz definieren kann: sie regieren ein Nominal. Als Präpositionen sind sie immer genau einstellig. Das unterscheidet sie gewissermaßen von den Adjektiven, Verben und Substantiven; bei allen diesen gibt es auch fakultative Valenz. Ich nehme an, dass Präpositionen obligatorisch einstellig sind, die Einstelligkeit ist dann kategorial. Lexikalisch kann die Valenz einen Akkusativ, einen Dativ oder einen Genitiv verlangen. Präpositionale ‚erste‘ Einheiten findet man in folgenden Wörtern: (3) a. überstreichen (als Erstglied in einem untrennbaren Verb) b. anstreichen, anhängen (als Erstglied in einem trennbaren Verb) c. Unterhose (als Erstglied in einem substantivischen Kompositum) d. unterdessen (als Bestandteil eines Adverbs) e. anstelle (an ist Erstglied einer komplexen Präposition)

Die Fälle sind alle Wörter, in denen eine präpositionale Einheit erster Bestandteil ist. Fälle wie in (a) diskutiert zum Beispiel Olsen. Oben wurde die Analyse der ‚funktionalen Komposition‘ gezeigt, die ja im Prinzip besagt, dass die Valenz der Präposition zumindest die Valenz des komplexen Verbs beeinflusst. Dabei könnte man insbesondere behaupten, dass der von der Präposition regierte Akkusativ als Akkusativ an das komplexe Verb weitergegeben wird (in diesem Sinn zu Überlegungen von Eisenberg 2004a: 257). Die Fälle sind hier insofern alles andere als trivial, weil es relativ schwierig ist herauszufinden, welchen Einfluss die einzelnen Glieder auf die Valenz einer Zusammensetzung haben, insbesondere da es sich um Verbindungen mit Verben handelt. Verben haben immer eine Valenz. Im zweiten Fall scheint die Valenz der Präposition nicht mehr vorhanden zu sein: Karl hängt das Bild an die Wand – Karl hängt das Bild an; hier wird nicht erwähnt, wo Karl das Bild anhängt. Der nächste Fall unterbindet noch deutlicher jede Valenz der Präposition: (c) nennt ein substantivisches Kompositum mit einer Präposition als Erstglied. Es handelt sich um ein Determinativkompositum: eine Unterhose ist eine spezielle Hose. Die Valenz der Präposition spielt hier keine Rolle. Das ist typisch für Erstglieder von Determinativkomposita. So entwickeln zum Beispiel auch Verben in dieser Position keinerlei Valenz (Backform, Badehose, Anziehpuppe). In (d) ist die Präposition ‚gesättigt‘; sie bildet mit dem Nominal ein Adverb – insgesamt ist das Wort nullstellig. Ganz anders der Fall (e): Hier könnte auch eine ‚Sättigung‘ stattfinden, sie findet aber nicht statt. Eine Präposition verbindet sich mit dem regierten Nominal, es inkorporiert das Nominal. Aber hier entsteht kein Adverb wie bei unterdessen, sondern es entsteht eine neue Präposition mit einer neuen Rektion. Der verlangte Kasus ändert sich hier im allgemeinen. Zunächst nehmen Präpositionen, die aus einer Verbindung einer Präposition und eines Substantivs entstanden sind, den Genitiv. Dieser Genitiv kann begründet werden: es ist der Kasus, den Substantive kategorial und fakultativ nehmen. Alle Substantive können Genitive (in der Funktion des Attributs) regieren, aber kein Substantiv braucht immer ein Genitivattribut. Potentiell ist der Genitiv vorhanden: an der Stelle des Professors versus anstelle des Professors. Wesentlich ist, dass Präpositionen ihre Grundeigenschaft, Nominale zu regieren, in diesen Fällen nicht aufgeben. Die Valenz der entstehenden Präposition ist dann so zu verstehen: es ist eine Präposition, deswegen regiert sie ein Nominal, quasi kategorial. Das Substantiv als

26 zweiter Bestandteil sorgt dann für den Genitiv. Was liegen hier für Prozesse vor? Es ist eine Inkorporation des regierten Substantivs mitsamt seinem Attribut. Dass die Substantive in diesen Positionen häufig tatsächlich einen Genitiv dabei haben, liegt auf der Hand: an wessen Stelle? Die Fälle sind sehr unterschiedlich. Man könnte fast meinen, dass hier einfach alle denkbaren Möglichkeiten im Umgang mit Valenz in der Wortbildung ausgeschöpft sind. Diese Beispiele zeigen den Einfluss (oder Nicht-Einfluss) der Valenz des Erstgliedes. Da Präpositionen ‚nach rechts‘ regieren (sonst wären es Postpositionen), ist es müßig, sich über präpositionale Zweitglieder und ihre Valenz Gedanken zu machen. Fälle wie landunter scheinen Einzelfälle zu sein. In zwei Fällen schlägt die Präposition als Erstglied gewissermaßen durch: Erstens bei den untrennbaren Verben; der Fall ist nicht geklärt, aber es gibt einige Hinweise und zweitens bei den komplexen Präpositionen (aufgrund, anstelle). Diese Möglichkeit haben wohl nur Präpositionen als Erstglieder im Deutschen. Bei kennenlernen könnte ein ähnliches Phänomen zu erkennen sein (*ich lerne ihn, ich kenne ihn, ich lerne ihn kennen). Ansonsten kommen Verben (als ebenfalls obligatorisch ‚valente‘ Wortart) wohl im wesentlichen als Erstglieder in Substantivkomposita vor, hier geben sie ihre Valenz auf (wie in den genannten Beispielen Backform, Badehose, Anziehpuppe). Auf die Valenz des Zweitgliedes referieren die sogenannten Rektionskomposita. (s. Abschnitte 1.6 und 10.2.1). 1.5.3 Univerbierung Univerbierung kann so verstanden werden, dass zwei häufig nebeneinanderstehende Wortformen zusammenwachsen. Dafür müssen noch weitere Bedingungen erfüllt werden. Als typische Fälle möchte ich zunächst die folgenden erläutern: (4) a. des Gottes Diener – Gottesdiener b. aufgrund c. infolgedessen e. schwerverständlich f. nichtöffentlich g. schwerbehindert h. bleifrei i. besitzergreifend j. Pragerschinken k. kennenlernen

Die Fälle in (e)-(k) werden in dieser Arbeit explizit behandelt. In (a) handelt es sich um einen historischen Prozess. Das vorangestellte Genitivattribut ist zu einem Kompositionserstglied geworden, so sind die Fugenelemente entstanden. Grimm bezeichnet diese als ‚uneigentliche‘ Komposition. Das Zusammenwachsen hängt insbesondere damit zusammen, dass das Genitivattribut im Neuhochdeutschen nachgestellt wird (s. Demske 1998). Bei dieser Univerbierung ist ein gewisser Anteil von Inkorporation zu finden: das Genitivattribut wird kategorial vom Substantiv regiert. Fälle wie (b) sind schon in 1.5.2 kommentiert. Hier handelt es sich auch um eine inkorporierende Struktur: die Präposition auf regiert ein Nominal grund. Allerdings stehen die beiden Glieder unmittelbar nebeneinander. Zudem kann auch diese Univerbierung durch

27 einen weiteren Sprachwandel gestützt werden, nämlich das Obligatorisch-Werden eines Artikels. Bei infolgedessen (c) sind zwei Inkorporationsprozesse auszumachen: erst rücken in und folge zusammen, dies ist der gleiche Prozess wie bei aufgrund, es entsteht eine Präposition, die den Genitiv regiert infolge der Marktwirtschaft. Diese Präposition wird dann durch ein Pronomen ‚gesättigt‘; es entsteht ein Adverb infolgedessen. Die Präpositionen in den Fällen infolgedessen usw. werden tatsächlich gesättigt, in den Fällen aufgrund wird der präpositionale Charakter durch das Nominal hindurch erhalten. Zunächst ändert sich ‚nur‘ der regierte Kasus, der Kasus kommt vom Zweitglied. Dass es ein Genitiv ist, wird vom Substantiv bestimmt, die Rektion an und für sich kommt von der Präposition, sie ist in dem Sinne nicht wirklich gesättigt. Wo hat nun Univerbierung und wo Inkorporation stattgefunden? In allen diesen Fällen stehen die entsprechenden Bestandteile typischerweise nebeneinander, Univerbierung ist damit ein möglicher Prozess. Unterschieden werden könnte in diesen Fällen dann Inkorporation, wenn eine Sättigung der Valenz stattgefunden hat: stattdessen wäre dann auch Inkorporation, anstelle gerade nicht. Bestimmte Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen und die Verbindungen von nicht mit Adjektiven legen eine Univerbierung nahe (d)-(f). Dies möchte ich hier anhand von nicht in Verbindung mit einem Adjektiv zeigen (s. Kapitel 6): (5) a. sie singt nicht öffentlich – b. sie singt nichtöffentlich c. ihr nicht öffentliches Singen – d. ihr nichtöffentliches Singen

In den ersten beiden Sätzen ist in einer naheliegenden Lesart der Skopus von nicht ein anderer: In (a) verneint nicht den gesamten Sachverhalt, in (b) hingegen bezieht sich nicht nur auf öffentlich, in (c) und (d) bezieht sich nicht jeweils auf öffentlich, auch wenn (c) und (d) sich in der Bedeutung unterscheiden. Hier könnte Univerbierung stattgefunden haben. Bei adjektivischen zweiten Bestandteilen finden sich außerdem Rektionskomposita (4g: preiswert, verkehrsarm, bleifrei). Als Rektionskomposita sind sie inkorporierend. Univerbierung liegt aber auch hier nahe, da die Ergänzung zum Adjektiv im attributiven Gebrauch dem Adjektiv direkt vorausgeht (das von Blei freie Benzin – das bleifreie Benzin, das seinen Preis werte Buch – das preiswerte Buch). Dazu mehr in Kapitel 5.2. Entsprechend sind die Substantiv-Partizip-I-Verbindungen zu interpretieren: der (von seiner Frau) Besitz ergreifende Paul – der besitzergreifende Paul. In allen diesen Fällen besteht eine syntaktische Beziehung zwischen den beiden Einheiten, die potentiell zu einem Wort zusammenwachsen. Insofern haben sie auch alle etwas von Inkorporation, wenn Inkorporation den Valenzgedanken beinhaltet. Damit wird deutlich, warum die Begriffe durcheinander gehen und warum sich für Verben scheinbar ein spezieller Begriff herausgebildet hat. Bei den Verben spielt hier aber noch etwas Besonderes eine Rolle. Ein Wort wie überstreichen kann nicht durch Inkorporation entstanden sein, denn *über streichen ist kein mögliches Syntagma, mit dieser Wortstellung kommt es nicht vor. In Fall (4k) findet gewissermaßen ein Zusammenwachsen von Infinitiven mit Infinitivverben statt, also zum Beispiel kennenlernen, spazierengehen, flötengehen. Bei diesen kann man ebenso Inkorporation und Univerbierung annehmen, zum einen nehmen sie eine regierte Stelle auf, Infinitivverben regieren einen Infinitiv, zum anderen stehen sie im Nebensatz häufig nebeneinander, weil er sie kennenlernte, dass er gerne spazierenging,

28 weil die Chance flötengegangen ist. Die Fälle sind aber nicht gleich zu behandeln; kennenlernen verhält sich auch grammatisch nicht so wie andere Kombinationen von lernen mit Infinitiven (s. Abschnitt 4.1), daher muss es geradezu ein Wort sein. Es ist als solches lexikalisiert. spazieren gehen könnte auch ein Syntagma sein, das Zusammenwachsen liegt wohl mehr an der eingeschränkten Interpretation von spazieren, bei flötengehen hat sich eine spezielle Bedeutung herausgebildet, grammatisch verhält sich flötengehen aber im Prinzip wie andere Kombinationen von gehen und Infinitiven. Als weitere mögliche Univerbierung erscheint bei der Betrachtung der Stadtadjektive ein Fall wie Pragerschinken (Kapitel 7). Allerdings wird hier etwas ‚benannt‘, es entsteht nicht durch Zusammenwachsen zweier häufig nebeneinander stehender Wörter, sondern vielmehr durch die Benennungsfunktion von Adjektiv-Substantiv-Komposita, s. auch Fuhrhop (1998: 9): (Rotwein – ??Rotpullover). Normalerweise unterscheiden sich AdjektivSubstantiv-Komposita von einer Kombination aus einem adjektivischen Attribut und einem Substantiv durch die Flexion des Adjektivs: als Attribut ist es (pränominal) flektiert, als Kompositionserstglied nicht (roter Pullover). Schon daher ist in diesen Fällen nicht einfach mit Univerbierung zu rechnen, es bedürfte eines formalen Prozesses, nämlich der Abspaltung der Flexion. Bei den Stadtadjektiven muss nun keine Flexion abgespalten werden, weil keine Flexion vorhanden ist. Insofern ist zu fragen, ob hier Univerbierung nicht doch mitspielt. Ansonsten könnte man auch von einer (normalen) Adjektiv-SubstantivKomposition sprechen. Sie ist dann insofern ungewöhnlich, als sie sich formal kaum von einem nebenher möglichen Syntagma unterscheidet, der einzige mögliche Unterschied wäre der Akzent. So wird Pragerschinken ja auch nicht durchgehend als Wort wahrgenommen, oft genug findet man hier auch Getrenntschreibung und die Betonung auf Schinken.

1.6 Rektionskomposita Im folgenden referiere ich insbesondere Rivets (1999) Aufsatz zu Rektionskomposita. Ihr Anliegen ist es, „morphologiespezifische Annahmen zu vermeiden“ (Rivet 1999: 309). Sie versucht, Rektionskomposita syntaktisch zu fassen. Als Gegenposition kann Eisenberg (2004a: 230) gelten, der die Rektionskomposita als Spezialfall der Determinativkomposita betrachtet. Die Diskussion ist aus verschiedenen Gründen interessant, daher referiere ich Rivet relativ ausführlich, auch wenn ich ihrer speziellen Analyse nicht folge und im Laufe dieser Arbeit auch nicht folgen kann. Verschiedene Aspekte sind aber meines Erachtens auf andere Fälle zu übertragen, nämlich auf bestimmte Substantiv-Adjektiv-Komposita (Abschnitt 5.1) und auf Substantiv-Partizip-Verbindungen (Kapitel 8). Hier werde ich daher dafür plädieren, die Diskussion um Rektionskomposita nicht anhand von Substantiven zu führen, sondern anhand von Adjektiven. Nun aber zu Rivets Analyse und der Kritik daran. Rektionskomposita des Typs Wetterbeobachter können auf den ersten Blick als inkorporierende Strukturen gelten: Das Erstglied ist gewissermaßen eine Ergänzung des ‚Zweitgliedes‘. Andererseits ist die Rektion nicht direkt. Grundsätzlich ist hier ein Zwischenschritt anzusetzen, denn das Zweitglied entspricht nicht der tatsächlich regierenden Einheit, sondern es ist eine Ableitung davon. In den meisten Fällen ist das Zweitglied ein deverbales

29 Substantiv. Die Ergänzungen sind nicht Ergänzungen des Substantivs, sondern Ergänzungen des zugrundeliegenden Verbs. Rivet argumentiert für eine Struktur [N[VWetterNbeobachtV] -erNaf] und gegen die Struktur [NwetterN[beobachtV -erNaf]] (Rivet 1999: 322), das heißt das Affix -er nimmt zur Basis den Komplex wetterbeobacht- und es wird nicht erst ein Substantiv Beobachter gebildet und anschließend ein Kompositum Wetterbeobachter. Ihre Argumente sind die folgenden: – Die Erstglieder sind beschränkt, im Prinzip können nur Akkusative ins Erstglied gelangen (Rivet 1999: 316ff.). Die Fälle, in denen andere ‚Ergänzungen‘ im Erstglied stehen, wie zum Beispiel Drogenfahnder sind beschränkt (??Verbrecherfahnder, ??Mörderfahnder), Rivet (1999: 318). – Die Beschränkung des Erstgliedes ist affixübergreifend, das heißt es gelten die gleichen Beschränkungen zum Beispiel für -er und für -ung. – Dass Wetterbeobachter mit Beobachter des Wetters paraphrasiert werden kann, gilt als „indirekte Evidenz für den phrasalen Status des Erstglieds von Rektionskomposita“ (Rivet 1999: 312). – Die thematische Rolle, die beim zugrundeliegenden Verb mit dem Akkusativ besetzt wird, wird durch das Erstglied gesättigt (Rivet 1999: 312): ein Wetterbeobachter (*der Sterne). Das Beispiel entnimmt Rivet Olsen (1986b).

Insbesondere das dritte Argument zeigt m.E., dass Rektion von Substantiv und Verb hier gerade nicht gleich behandelt werden kann. Während im Rektionskompositum auf die Rektion eines zugrundeliegenden Verbs verwiesen wird, wird bei der entsprechenden Konstruktion Beobachter des Wetters gerade die typische Rektion des Substantivs deutlich: Das Substantiv regiert ein Genitivattribut. Semantisch wird offenbar mit dem vorliegenden Genitivattribut und dem Rektionskompositum etwas sehr ähnliches erreicht. Bei dem zugrundeliegenden Verb ist aber keine einfache Ersetzung des Akkusativs durch den Genitiv möglich und eine solche Ersetzbarkeit wäre für Verben auch völlig ungewöhnlich. Gerade die Freiheit (Beobachter des Wetters/ von dem Wetter), die das Substantiv hier hat, spricht m.E. für die morphologische Bildung von Wetterbeobachter. Auch in dem folgenden Argument hat Rivet mit ihrer Beobachtung völlig recht, in der Schlussfolgerung kann ich ihr aber nicht folgen. Die thematische Rolle ist gesättigt, daher kann das spezielle Genitivattribut nicht folgen. Sehr wohl können aber Genitivattribute an und für sich folgen, zum Beispiel der Wetterbeobachter der FU. Insofern ist die Sättigung hier ausschließlich semantisch und das ist ja gerade das, was ‚Argumentvererbung‘ ausdrückt. Eine wesentliche Annahme von Rivet werde ich im Laufe dieser Arbeit grundsätzlich widerlegen: Rivet nimmt eine ‚Basis‘ wetterbeobacht- an; diese lässt das entsprechende Verb *wetterbeobachten erwarten, das es offenbar nicht gibt (Rivet 1999: 323). Rivet zeigt, dass derartige Substantiv-Verb-‚Stämme‘ als Erstglieder von Komposita zulässig sind: Porschefahrfan, Phrasendreschmaschine (ebd.). Diese Wörter sind jeweils auf dem Erstglied betont. Dies spricht dafür, dass es Komposita und keine Phrasen sind. Rivet überlegt, ob möglicherweise die Akzentstruktur die entsprechenden Verben verhindert. Ein substantivisches Kompositum hat im allgemeinen Erstgliedakzent, ein verbales Kompositum hingegen Zweitgliedakzent: umfáhren. Das untrennbare Verb hat Zweitgliedakzent. Die einzige Möglichkeit, ein Verb *porschefahren zu bilden, wäre nach Rivet ein trennbares Verb und dies könnte es wohl geben: er fährt ´Porsche, er ist ´Porsche gefahren (Rivet 1999: 339; FN 24). Sie kommentiert diese Feststellung nicht weiter. Es werden aber gerade aus Rektionskomposita keine komplexen Verben rückgebildet (s. Abschnitt 2.3.5).

30 Insofern ist es kein Zufall wie Rivet (1999) annimmt, dass es das Verb wetterbeobachten oder porschefahren nicht gibt, sondern strukturell bedingt. Die Objekte werden gerade nicht inkorporiert.5 In Kapitel 5 werde ich ansprechen, inwieweit spezielle Annahmen für Rektionskomposita bei Adjektivkomposita sinnvoll sind. Hier zunächst soviel zu möglichen Unterschieden: – Bei den Substantiven handelt es sich nicht um die ‚primäre‘ Valenz, sondern um ererbte Valenz. – Bei den Substantiven ist das Vorbild der Determinativkomposita übermächtig. Für Adjektivkomposita muss das nicht unbedingt so sein.

Die Erläuterung der Rektionskomposita fand hier an einem Beispiel statt (den deverbalen Substantiven). Bemerkungen zu den Auswirkungen der Valenz der anderen Wortarten folgen dann jeweils in den Ergebnissen (Kapitel 10).

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Dass die ‚komplexen‘ Verben kompositionsfähig sind, ist m.E. ein Hinweis, aber kein Argument. Für die speziellen Fälle drängt sich die folgende Analyse auf: -fan und -maschine ersetzen hier gewissermaßen -er, es bleiben insgesamt Nomina agentis bzw. instrumentalis.

2. Substantiv-Verb-Verbindungen: radfahren und eislaufen

Sind Substantiv-Verb-Verbindungen wie radfahren und eislaufen Wörter oder Syntagmen? Man kann diese Frage in zweierlei Hinsicht bearbeiten, auf der einen Seite bezüglich der Verbindung, auf der anderen Seite bezogen auf die kategoriale Zugehörigkeit des Erstgliedes. In diesem Sinne kann die Beschreibung und Erläuterung auf die Frage zugespitzt werden: Was sind rad und eis in radfahren und eislaufen? Sind es selbstständige Substantive, substantivische Erstglieder, Verbpartikeln oder noch etwas anderes?1 Bisher werden die genannten Verbindungen häufig mit den folgenden Fragestellungen betrachtet: 1. Besonders relevant sind sie für Rechtschreibfragen in zwei Knackpunkten: a. Wird bei Kontaktstellung zusammengeschrieben (peter will radfahren/ rad fahren)?2 b. Wird bei Nicht-Kontaktstellung das ‚substantivische‘ Element klein oder groß geschrieben (peter fährt Rad/ rad)? 2. In der verbalen Wortbildung gibt es keine offensichtliche und eindeutige Komposition (Wunderlich 1987b). Die vorliegenden Substantiv-Verb-Verbindungen werden aber zum Teil als Verbkomposita gesehen. Sie sind zwar nicht durch Komposition entstanden, man könnte sie dennoch synchron als Komposita bezeichnen.3 Die vorliegenden Verbindungen sind für die Betrachtung der verbalen Wortbildung interessant; an ihnen kann beispielhaft untersucht werden, inwieweit es verbale Komposition gibt. 3. Diese Substantiv-Verb-Verbindungen sind trennbar. Das rückt sie in die Nähe der sogenannten Partikelverben (anfangen, aufräumen, festhalten). Diese sind gerade in letzter Zeit wieder ins Forschungsinteresse gerückt (z.B. Zeller 2001, Lüdeling 2001, Dehé u.a. (Hgg.) 2002). Das Interesse an ihnen hat wesentlich mit ihrer Trennbarkeit zu tun. Daraus ergeben sich so grundsätzliche Fragen wie die, ob sie ein Wort sind oder ein Syntagma. Dabei werden ihre Eigenschaften als Wörter und ihre Eigenschaften als Syntagmen beschrieben und interpretiert. In diesem Sinne können die Partikelverben mit den Substantiv-Verb-Verbindungen verglichen werden. 4. Die fraglichen Substantiv-Verb-Verbindungen sind weder durch Komposition noch durch Derivation entstanden, sondern im wesentlichen durch Rückbildung. Mitunter wird an ihnen auch ‚Inkorporation‘ diskutiert. Die Verbindungen sind deshalb interessant, weil sie Anhaltspunkte für diese ungewöhnlichen Wortbildungsprozesse sind, bzw. Anhaltspunkte dafür, ob die entsprechenden Wortbildungsprozesse überhaupt vorkommen, inwieweit sie regulär, aktiv oder produktiv sind usw.

Die Untersuchung wird zugespitzt auf die Frage, was die substantivische Einheit ist: ein selbstständiges Substantiv, ein substantivisches Erstglied oder eine Verbpartikel?

1

2 3

Ich werde in diesem Abschnitt alle objektsprachlichen Ausdrücke durchweg klein schreiben (es sei denn, es geht gerade explizit um Klein- oder Großschreibung), um keine Entscheidung vorwegzunehmen oder zu suggerieren. Ebenso werde ich alle in Rede stehenden Verbindungen zusammenschreiben (es sei denn, es geht gerade um Getrennt- oder Zusammenschreibung), also radfahren und eislaufen; damit hebe ich sie ab von Kontrollfällen wie bier trinken. Ich schreibe hier alle Beispiele klein, um keine Entscheidung vorwegzunehmen. In diesem Sinn beschreibt sie Eschenlohr 1999: 144: „daß Verben wie bauchlanden zwar der Form nach Komposita sind, aber nicht durch eine Kompositionsregel entstanden sind“.

32 Für die Groß- und Kleinschreibung (Frage 1b) ergibt sich je nach Antwort folgende Konsequenz: Ist es ein selbstständiges Substantiv, so müsste man es großschreiben; ist es eine Verbpartikel, so müsste man es bei Nicht-Kontaktstellung kleinschreiben. Lediglich die Lösung ‚substantivisches Erstglied‘ führt nicht zu einer offensichtlichen Entscheidung über Klein- oder Großschreibung, denn die Regel ‚Substantive werden im Deutschen großgeschrieben‘ bezieht sich wohl zunächst auf selbstständige Substantive und es wäre zu überlegen, ob sie auch für frei vorkommende substantivische Erstglieder gilt, ohne Zweifel eine Rarität. Auch die Getrennt- bzw. Zusammenschreibung (Frage 1a) hängt von der Interpretation des Erstgliedes ab: Sowohl die Interpretation als substantivisches Erstglied als auch die Interpretation als Verbpartikel würden zur Zusammenschreibung führen; eine Kombination aus einem selbstständigen Substantiv und einem Verb führte zur Getrenntschreibung. Die Einordnung als ‚substantivisches‘ Erstglied würde einen wesentlichen Beitrag zur Beschreibung von Verbkomposition liefern (Frage 2). Eine Interpretation als ‚Verbpartikel‘ würde zu einer Einordnung in die Partikelverben führen (Frage 3); mit deren unklarer Stellung zwischen Wort und Syntagma, aber auch mit deren ‚wortigen‘ und den ‚syntagmischen‘ Eigenschaften. Auch die untypischen Wortbildungsprozesse (Frage 4) können in Zusammenhang mit den drei Einordnungsmöglichkeiten gesehen werden. Zunächst sind Verbpartikeln produktiv und die Bildung von Partikelverben ist als Wortbildungsprozess zu beschreiben, mit den Besonderheiten wie in Abschnitt 1.4 beschrieben. Als substantivische Erstglieder würden die Einheiten viel über die verbale Komposition zeigen. Als selbstständige Substantive sollten überhaupt keine Wortbildungsprozesse im Spiel sein. Die Beschreibung des Wortbildungsprozesses und die kategoriale Einordnung der substantivischen Einheiten stehen im Zusammenhang. Um die substantivischen Einheiten in den Substantiv-Verb-Verbindungen kategorial einordnen zu können, muss ihr Verhalten betrachtet bzw. getestet werden. Es geht nicht um ein ‚lexikalisch-paradigmatisches‘ Konzept, wie Gallmann (1997: 220ff.) es für die Rechtschreibung vorsieht. ‚Lexikalisch-paradigmatisch‘ sind dies alles Substantive, das ist ja gerade die Bestimmung des Untersuchungsbereichs. Im folgenden geht es aber um das unterschiedliche Verhalten von eis in eislaufen und in Eis essen. Diese Herangehensweise ist ‚syntaktisch-funktional‘. Die Substantiv-Verb-Verbindungen werden in unterschiedlichen Konstruktionen überprüft. Hierzu werden dann Grammatikalitätsurteile abgegeben. Diese sollen mittelbar helfen, eine kategoriale Entscheidung zu treffen oder zu zeigen, ob eine kategoriale Entscheidung überhaupt sinnvoll ist. Die Untersuchung prüft Verwendungsmöglichkeiten ab; die Tests sind ein Hilfsmittel, sprachliches Wissen abzuprüfen. Zunächst werde ich einige Tests kurz vorstellen und sie anschließend für eine kleine, aber repräsentative Menge in einer Tabelle (Tabelle 2.1) von Substantiv-Verb-Verbindungen durchführen. Damit die Tabelle übersichtlich bleibt, werden in ihr nur ausgewählte Tests aufgeführt. Anschließend interpretiere ich alle Tests hinsichtlich der Ausgangsfrage; bei dieser Gelegenheit werde ich die Liste der Tests ergänzen.

33

2.1 Tests zum grammatischen Verhalten der substantivischen Einheiten Im folgenden werde ich die Tests vorstellen und durchführen (s. Tabelle 2.1), und zwar anhand folgender Beispiele: klavierspielen, radfahren, schlittschuhlaufen, eislaufen, brustschwimmen, kopfstehen. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Syntagmen deutlich zu machen, werden die Tests auch für bier trinken und anfangen durchgeführt. Bier trinken ist ein Syntagma, auch wenn es im substantivischen Infinitiv sehr wohl eine Zusammensetzung (ein Rektionskompositum) sein kann. Anfangen ist ein Partikelverb. Damit gibt es Kontrollfälle der Pole einer Interpretationsskala: Diese reicht von ‚selbstständiges Substantiv‘ über ‚substantivisches Erstglied‘ zu ‚Partikelverb‘. Die Tests in Tabelle 2.1 sind im wesentlichen danach ausgewählt, ob sie Unterschiede zu bier trinken und anfangen zeigen und ob sie Unterschiede untereinander zeigen. Außerdem sollen sie relativ deutlich sprachliches Wissen abfragen können. Die Ordnung und Auswahl sowohl der Tests als auch der Beispiele ist nur eine Möglichkeit von vielen; sie sollen hier im wesentlichen eine Methode zeigen. Von oben nach unten sind die Substantiv-Verb-Verbindungen tendenziell nach ihrer Einordnung zwischen den beiden Polen geordnet: klavierspielen verhält sich in mehr Tests wie bier trinken als brustschwimmen. Brustschwimmen hingegen verhält sich häufiger wie anfangen. Die Tests sind von links nach rechts geordnet: Links in der Tabelle sind die Tests, die ‚Substantivität‘ zeigen, rechts dagegen diejenigen, die ‚Partikelhaftigkeit‘ zeigen. Es gibt keinen eigenen Test für das Kriterium ‚Zusammengehörigkeit‘, allerdings kann zum Beispiel die Unterbrechbarkeit im Nebensatz so interpretiert werden. Die anschließende Interpretation und Vervollständigung der Tests beschreibt die Fälle dann systematischer. Test 1: ‚Andere Verben?‘ Funktioniert die angegebene Artikellosigkeit auch mit anderen Verben oder nicht? Ist zum Beispiel ich übe klavier grammatisch? Es geht um diese speziellen Substantiv-Verb-Verbindungen: Sind sie ‚einmalig‘ in dem Verhalten, artikellos aufzutreten? Dabei werden semantisch ‚nahe‘ Verben getestet. Test 2: ‚Artikelfähig?‘ Die Substantive treten in den Verbindungen alle ohne Artikel auf, obwohl die meisten lexikalisch gesehen Appellativa sind und so im Singular eigentlich einen Artikel brauchen. Als Artikel nehme ich hier sowohl den definiten als auch den indefiniten an; sie scheinen in manchen Fällen nicht gleichermaßen akzeptabel. Daher werden sie beide geprüft. Test 3: ‚Erweiterbarkeit‘ Können die Substantive durch ein adjektivisches Attribut erweitert werden oder nicht? Hier können auch zwei Stufen angesetzt werden, und zwar ohne und mit Artikel: ich fahre rad –

34 ?ich fahre altes rad – ich fahre ein altes rad wie ich trinke bier – ich trinke kühles bier – ich trinke ein kühles bier. Hier wird ausschließlich das adjektivische Attribut getestet mit der Annahme, dass andere Attribute zu ähnlichen Ergebnissen führen würden. Test 4: ‚Die Negationen kein und nicht‘ Diese Tests prüfen die Möglichkeiten der Negationen, in Test 4a kein, in Test 4b nicht. Primär geht es hier darum, welche Negationen überhaupt möglich sind. Wenn beide möglich sind, kann dann überlegt werden, eine der beiden Negationen als üblicher ist. (1) a. ?? ich trinke nicht bier (nur als Kontrast: sondern wein) –– ich trinke kein bier b. ich fahre nicht rad – ich fahr kein rad c. ich fange nicht an – *ich fange kein an

Test 5: ‚Direktes Objekt?‘ Hier werden insbesondere die einfachen Verben eingeordnet, das heißt die ‚zugrundeliegenden‘ Verben. Nehmen die Verben ohne die substantivische Einheit ein direktes Objekt im Akkusativ oder sind die beteiligten Verben intransitiv? Dabei wird ‚direktes Objekt‘ im Sinne von Eisenberg (2004b: 59) verstanden: Verben, die ein direktes Objekt nehmen und die ein reguläres werden-Passiv bilden. ‚Direktes Objekt‘ ist in dieser Terminologie nicht gleichzusetzen mit ‚akkusativische Ergänzung‘. Eisenberg unterscheidet hier im wesentlichen Maßergänzungen (der Sack wiegt fünfzig Kilo (Eisenberg 2004b: 62). Daneben gibt es noch freie Akkusative (wir schliefen den ganzen Tag, Eisenberg 2004b: 292). Um herauszufinden, ob ein Akkusativ ein direktes Objekt ist, wird ein reguläres werden-Passiv gebildet: *der ganze Tag wird von uns geschlafen. Test 5’: ‚Valenz?‘ Haben die Substantiv-Verb-Verbindungen insgesamt eine andere Valenz als die jeweiligen einfachen Verben? Eine Möglichkeit dabei ist, dass die substantivischen Einheiten selbst eine Valenzstelle besetzen. Man kann dies testen, indem man bei den Verben, deren einfache Form ein direktes Objekt im Akkusativ nehmen können, einen Akkusativ und die substantivische Einheit einfügt. (2) a. ich spiele – ich spiele klavier – ich spiele die sonate – ?ich spiele die sonate klavier b. ich fange den ball – *ich fange den ball an – ich fange mit dem schreiben an – *ich fange mit dem schreiben

Test 6: ‚Immer klammerbildend?‘ Bildet die substantivische Einheit gemeinsam mit dem Verb die Verbklammer oder nicht? Als Beispiel wähle ich ein Adverb: kann es auch nach der substantivischen Einheit stehen? Ich fahre gerne rad – ?ich fahre rad gerne. Da sowohl ich trinke gerne bier als auch ich

35 trinke bier gerne möglich ist, wird hier umgekehrt getestet. Der Klammerbildung entspricht die Stellung ich trinke gerne bier; diese scheint bei den hier betrachteten Substantiv-VerbVerbindungen immer möglich. Klammerbildend können sie also immer sein. Interessant ist hier viel eher, ob die Substantiv-Verb-Verbindungen klammerbildend sein müssen. Die Partikelverben sind immer klammerbildend: ich fange gerne (mit der staffel) an – *ich fange an gerne (mit der staffel). Aus diesem Grund wird gerade die nicht-klammerbildende Konstruktion getestet, mit dem Adverb nach der substantivischen Einheit.4 Test 7: ‚Unterbrechbarkeit im Nebensatz?‘ Klammerbildende Elemente sind im Nebensatz nicht unterbrechbar, dies ist ein gemeinhin angenommener Zusammenhang. Da es sich in den vorliegenden Fällen durchweg um ‚Grenzfälle‘ bzw. ‚Zwischenfälle‘ handelt, sind Grammatikalitätsurteile manchmal unsicher. Daher ist nicht auszuschließen, dass dieser Test und der vorherige im Einzelfall unterschiedliche Ergebnisse liefern. (3) a. dass ich am liebsten Bier trinke – dass ich Bier am liebsten trinke b. dass ich gerne rad fahre – ?dass ich rad gerne fahre c. dass ich gerne anfange – *dass ich an gerne fange

Test 8: ‚Vorfeldfähig?‘ Hier wird die Vorfeldfähigkeit getestet. Vorfeld meint die Stelle vor dem finiten Verb im Hauptsatz. Eigentlich sind es zwei Tests: 1. die Vorfeldstellung der substantivischen Einheit mit anschließendem finiten Vollverb (rad fahre ich am montag) und 2. die Vorfeldstellung der substantivischen Einheit mit anschließendem finiten Hilfsverb (rad will ich am montag fahren) und entsprechend infinitem Vollverb Ganz offenbar gibt es hier Akzeptanzunterschiede; mitunter wird die Vorfeldstellung in Kontakt mit dem finiten Verb eher akzeptiert als in Zusammenhang mit einem (anderen) infiniten Verb. Daher ist nur dieser Fall in der Tabelle aufgelistet.5

4

5

Nach Stiebels/ Wunderlich (1994) wäre hier außerdem ein Test zum rheinischen Infinitiv passend: er ist sein Zimmer am Aufräumen – *er ist am sein Zimmer aufräumen. Entsprechend dann *er ist rad am fahren, *er ist brust am schwimmen. In den Tests 6-8 geht es ausdrücklich nicht um Kontraste. Bei Kontrasten wäre mitunter auch eine Unterbrechung möglich, die sonst nicht geht: so wie auf- und zudrehen, be- und entladen möglich ist, so ist auch rad- und autofahren, brust- und rückenschwimmen möglich. Für den persönlichen Hinweis danke ich Ewald Lang.

*ich schw. die/ eine brust

*ich stehe den/ einen kopf

ich schwimme *ich gleite/ brust *liege br.

*ich liege/ *hebe kopf

ich trete an

ich stehe kopf

ich fange an –

*ich laufe das/ ein eis

*ich renne/ *gehe eis

ich laufe eis

ich laufe kein ich laufe schlittschuh nicht schlittschuh





ich fange nicht an

*ich stehe ich stehe kein ich stehe einen dicken kopf nicht kopf kopf

7. unterbrechbar im NS?

klavier will ich morgen spielen

bier will ich morgen tr.

8. vorfeldfähig infinit?

??ich stehe kopf gerne

??ich schw. brust gerne

??ich laufe eis gerne

??ich laufe schlittschuh gerne

*brust will ich morgen schwimmen

*dass ich an am liebsten fange

*an will ich morgen fangen

*kopf will *dass ich ich morgen kopf am liebsten stehe stehen

*dass ich brust am liebsten schwimme

*dass ich eis *eis will ich am liebsten l. morgen l.

?dass ich *schl. will schl. am ich morgen liebsten laufe laufen

?ich fahre rad ?dass ich rad *rad will ich gerne am liebsten morgen fahfahre ren

dass ich b. am liebsten tr. ?ich spiele ?dass ich klavier gerne klavier am liebsten sp.

ich trinke bier gerne

ich fange den ??ich fange an gerne ball

nein

nein

*ich schw. eine flache brust

*ich schw. ich schwimkeine / ?kein me nicht brust brust

nein

nein

Akk, Perfektbildung!

ja, semantisch?

ja

5. Nimmt das 6. Immer Verb ein klammerObj.? bildend?

*ich laufe ein ich laufe kein ich laufe glattes eis eis nicht eis

?ich laufe einen harten schlittschuh

*ich laufe den/einen/ ein schlittschuh

*ich renne/ gehe schlittschuh

ich laufe schlittschuh

ich fahre kein ich fahre rad nicht rad

ich spiele nicht klavier

ich spiele ein ich spiele altes klavier kein klavier

4b. nicht?

*ich trinke nicht bier

4a. kein?

ich trinke ein ich trinke kühles bier kein bier

3. erweiterbar?

ich fahre das/ ich fahre ein ?ein rad grünes rad

*ich trete *schiebe/ schlage r.

ich kaufe ich trinke das bier/ ich mag bier/ ein bier bier ich lerne / ich ich spiele das/ ?ein übe klavier klavier

2. artikelfähig?

ich fahre rad

ich spiele klavier

ich trinke bier

1. andere Verben

Tabelle 2.1: Grammatikalitätsurteile konkret

36

37

2.2 Interpretation der Testergebnisse In der Tabelle sind der Übersichtlichkeit wegen nur einige Tests durchgeführt. Weitere Tests werden weiter unten vorgestellt und auch interpretiert. Bei den Grammatikalitätsurteilen in der Tabelle handelt es sich um meine subjektiven Urteile zu einem bestimmten Zeitpunkt. Viele wurden spontan bestätigt von anderen Sprechern, es gab aber auch immer andere Urteile. Letztendlich kann es im einzelnen nicht auf die Grammatikalitätsurteile ankommen; vielmehr sind in diesem Bereich ja gerade unterschiedliche Urteile zu erwarten, der Bereich ist unsicher. Deswegen sind diese Fälle auch so schwer zu regeln, insbesondere, wenn man meint, dass nur jeweils eine Lösung erlaubt sein dürfe. Die Tabelle dient auch der Überprüfung, wie sinnvoll die ausgewählten Tests sind. Sinnvoll sind sie zum einen, wenn sie sich nicht alle in jedem Fall wie der Kontrollfall bier trinken verhalten; sie unterscheiden sich von einer ‚normalen‘ Verb-Objekt-Struktur. Sollten sich alle wie das Partikelverb verhalten, so wären sie schon sinnvoll, denn ‚Partikelverb‘ ist eine der drei zu prüfenden Interpretationen. Diese drei Möglichkeiten zu prüfen, ist ja der Zweck der Tests. Es soll beantwortet werden, ob ‚substantivische‘ Einheiten wie rad und eis in radfahren und eislaufen selbstständige Substantive sind, substantivische Erstglieder oder Verbpartikeln. Aber als Ergebnisse der Tests gibt es keine eindeutigen Kategorisierungen, sondern die Tabelle zeigt, wie sich die Beispiele entlang einer Interpretationsskala von ‚selbstständiges Substantiv‘ bis ‚Partikelverb‘ einordnen. An den Tests sehen wir deutlich, dass die beschriebenen Substantiv-Verb-Verbindungen sich keineswegs einheitlich verhalten, sondern einen Übergangsbereich bilden.6 Die Tests sind in einer Prototypentheorie zu interpretieren, vgl. Abschnitt 1.2: Prototypische Elemente einer Kategorie haben jeweils spezielle Eigenschaften. Hat eine der substantivischen Einheiten die jeweilige Eigenschaft, so rückt sie in die Nähe des Prototypen. Manche Verhaltensweisen sind bezüglich unserer Ausgangsfrage doppeldeutig, zwei besonders deutliche Beispiele: 1. Ein Test, der Substantivität zeigt, kann aber muss nicht sowohl für ‚selbstständiges Substantiv‘ als auch für ‚substantivisches Erstglied‘ sprechen. Es ist jeweils zu überlegen, ob die gegebene Eigenschaft tatsächlich auch für gebundene Substantive gilt oder ob hier nicht vielmehr ‚Substantiv‘ häufig mit ‚selbstständigem Substantiv‘ gleichgesetzt wird. 2. Manche Tests zeigen, dass die substantivischen Einheiten sehr eng mit dem Verb zusammengehören, ein solches Ergebnis spricht zunächst nur gegen selbstständiges Substantiv und kann entsprechend sowohl für substantivisches Erstglied als auch für Verbpartikel sprechen.

Interpretation von Test 1: ‚Andere Verben‘ Offenbar herrscht bei den genannten Beispielen keine freie Kombinierbarkeit, die Verbindungen sind weitgehend einmalig. Dabei geht es nicht allgemein um Reihenbildung, sondern ob die Erstglieder (die substantivischen Einheiten) reihenbildend sind. Die Verben können mitunter mehrere vergleichbare Verbindungen bilden, wie hier an laufen gezeigt. Die substantivischen Erstglieder verhalten sich in der konkreten Verbindung speziell und 6

Entsprechend wäre dies auch in der Getrennt- und Zusammenschreibung zu regeln, s. auch 11.3.4.

38 nicht wie sie sich sonst – ohne Verbindung mit dem speziellen Verb – verhalten würden. Das wird in diesem Test allgemein deutlich. Klavier kann nach den angegebenen Grammatikalitätsurteilen auch mit einigen anderen Verben kombinieren; die anderen Substantive erscheinen in der Form nur bei jeweils einem Verb. Was zeigt dies bezüglich der Ausgangsfrage? Für Komposita wird Reihenbildung häufig als Kriterium genannt. Das betrifft aber das Zweitglied. Für Erstglieder kann man das so wohl nicht annehmen. Bei Erdbeermarmelade, Erdbeerkuchen, Erdbeersahne, Erdbeereis und Erdbeermilch könnte man vielleicht noch eine semantische Reihe annehmen; bei Pfannkuchen, Pfannenstiel, Pfannendeckel, Pfannenkauf, Pfannenladen handelt es sich um unterschiedliche Verhältnisse zwischen dem Erst- und dem Zweitglied. Im allgemeinen sind Komposita im Deutschen ‚rechtskernig‘, das Letztglied ist „das semantische Zentrum des Wortes“ (Eisenberg 2004a: 226). Dass überhaupt mit jedem Erstglied mehrere Komposita möglich sind, liegt eher an der unglaublichen Produktivität von Substantiv-Substantiv-Komposita. Nimmt man zum Beispiel Substantiv-Adjektiv-Komposita, so verhält es sich schon ganz anders: bibelfest, aber ?bibelstark, ?bibelheilig, ?bibelschwach, ?bibellocker, scharlachrot, ?scharlachkrank, ?scharlachfleckig, giftgrün, ?giftrot usw. Erstglieder bilden hier gerade keine Reihe. Im Gegensatz zur Verbkomposition ist aber die Adjektivkomposition regulär und einigermaßen produktiv (s. aber Kapitel 5) und dennoch treten auch bei Adjektivkomposita die Erstglieder vereinzelt auf und nicht in Reihen. Dass bei den Substantiv-Verb-Verbindungen die Erstglieder nur mit jeweils einem bestimmten Verb auftreten, kann durchaus für Komposition sprechen. Was sagt das Verhalten für die anderen möglichen Interpretationen? Bei Partikelverben ist Reihenbildung zu erwarten. Sie sind reihenbildende Elemente und treten mit verschiedenen Verben auf und sind im allgemeinen produktiv. Die Beschränktheit der Verben bei den Substantiv-Verb-Verbindungen zeigt einen Unterschied zu den Partikelverben. Bei einem selbstständigen Substantiv erwartet man völlig freie Kombination. Die Beschränkung auf genau ein Verb spricht also für ‚substantivisches Kompositionserstglied‘ und sowohl gegen ‚Verbpartikel‘ als auch gegen ‚selbstständiges Substantiv‘. Es ist nun naheliegend, die Frage nach der Reihenbildung auf die Zweitglieder auszudehnen. Offenbar ist es für Komposita typisch, dass sie reihenbildend sind. Es ist typisch, aber keineswegs notwendig. Betrachten wir die Reihenbildung bei den Verben doch kurz. Schon in der Beispielreihe treten einige Verben mehrfach auf und man kann weitere hinzufügen: (4) a. klavierspielen, trompetespielen, flötespielen, geigespielen, kontrabassspielen b. radfahren, autofahren, bahnfahren, rollerfahren c. schlittschuhlaufen, eislaufen, rollschuhlaufen, schilaufen d. brustschwimmen, rückenschwimmen, delphinschwimmen, schmetterlingsschwimmen, ?seitenschwimmen, ??seiteschwimmen, ??kraulschwimmen (kraulen) e. kopfstehen, ??handstehen

Die Verben, die hier stehen können, scheinen ziemlich beschränkt, bis auf spielen sind es ‚Bewegungsverben‘. Es wäre zu überprüfen, ob diese bevorzugt rückgebildet werden und ob diese bevorzugt zu vollständigen Verbparadigmen führen. Spielen kann mit vielen anderen Substantiven kombiniert werden, die Musikinstrumente bezeichnen: trompetespielen, flötespielen, bassspielen; diese verhalten sich aber nicht unbedingt wie klavierspielen, obwohl die Analogie naheliegt. Für flötespielen wären die entsprechenden Rückbildungsbasen

39 das Flötenspiel, der Flötenspieler. Diese enthalten aber ein Fugenelement, eine Rückbildung sollte eine verbale Form *flötenspielen ergeben, die aber offenbar ungrammatisch ist. ich spiele flöten würde als Plural interpretiert werden. Möglicherweise sind hier auch Analogiebildungen im Spiel. Ein möglicher Weg wäre: zu Klavierspiel wird ein verbaler Infinitiv klavierspielen rückgebildet. Klavier löst sich zunehmend und wird als ‚Objekt‘ reanalysiert, analog können dann andere Instrumente eingesetzt werden. Doch ich greife vor: wir können hier festhalten, dass die Verben reihenbildend sind, die Erstglieder aber nicht. Doch auch die Reihenbildung bei den Zweitgliedern muss nicht unbedingt zu völlig gleichem Verhalten führen. So können sich selbst vermeintlich analoge Verbindungen unterschiedlich verhalten. In diesem Sinne möchte ich kurz radfahren und autofahren vergleichen: Ersteres durfte in der alten Rechtschreibung zusammengeschrieben werden, letzteres nicht. Möglicherweise ist dieser Unterschied vom Duden gemacht worden, es ist aber auch gut möglich, dass dieser Unterschied sich im Schreibverhalten gezeigt hat. Ein Unterschied kann m.E. durchaus begründet werden: So ist der Radfahrer immer als solcher sichtbar, der Autofahrer nicht. Rad und Fahrer bilden eine sichtbare Einheit. Zu: hast du den radfahrer nicht gesehen (bei Hinweisen auf die entsprechende Gefahr) muss das Äquivalent nicht unbedingt heißen hast du den autofahrer nicht gesehen, es heißt wohl eher hast du das auto nicht gesehen. (5) a. die stadt ist voll von radfahrern b. ?Die stadt ist voll von rädern c. die stadt ist voll von autos d. ?die stadt ist voll von autofahrern e. alle räder rechts abbiegen – alle autos rechts abbiegen f. alle radfahrer rechts abbiegen, ?alle autofahrer rechts abbiegen

Die Sätze a. und b. und entsprechend c. und d. haben meines Erachtens unterschiedliche primäre Lesarten. In a. meint man, dass viele Menschen mit Fahrrädern unterwegs sind. b. hingegen meint eher, dass überall Fahrräder stehen. c. meint primär die fahrenden Autos. In d. hat man eher die Assoziation, dass viele Menschen in der Stadt sind, die als ‚Autofahrer‘ unterwegs sind, zum Beispiel wegen einer Demonstration des ADAC. Was folgt nun daraus für die Interpretation von rad und auto? Auto wird meines Erachtens mehr als ‚Objekt‘ wahrgenommen (in diesem Sinne wären auch die jeweiligen Fragen unterschiedlich; was fährst du? Auto/ ?Rad, wie fährst du? Rad, ?Auto (s. auch Abschnitt 2.3.4)). Für die Verben bleibt festzuhalten, dass sie durchaus mit mehreren Substantiven kombinieren. Allerdings scheinen sie auch nicht wirklich reihenbildend zu sein. Die Kombinierbarkeit ist eingeschränkt und zwischen substantivischer Einheit und Verb besteht keineswegs immer das gleiche Verhältnis. Was sagt dies aus? Bei einer rein syntagmatischen Beziehung wären eine solche Beschränkung und die deutlichen Unterschiede der ansonsten vergleichbaren Verbindungen überraschend. Auch bei einer Interpretation als substantivisches Erstglied ist dies kein zu erwartendes Verhalten, solange man eine ‚normale‘ Komposition annimmt. Wenn der Wortbildungsprozess als solcher ‚irregulär‘ ist, dann ist auch hier ‚Irregularität‘ zu erwarten. Entsprechend könnte dies gegen die Interpretation als Verbpartikel sprechen, wenn die Bildung von Partikelverben ein Wortbildungsprozess ist. Die Argumentation dafür ist ziemlich komplex. Weil diese Analyse lediglich als Hinweis zu verstehen ist, werde ich hier

40 komprimiert argumentieren: Verbpartikeln sind Wortbildungsmittel, sie haben in dem Sinne keine lexikalische Bedeutung, sondern stehen eher für semantische Funktionen (s. Aronoff 1976: 50, Lieb 1983, Fuhrhop 1998: 12ff.). Als Funktionen haben sie eine gewisse Basismenge (oder einen Definitionsbereich), die bei produktiven Wortbildungselementen nicht durch Auflistung gebildet wird, sondern durch Merkmale. Ob nun ein konkretes Verb in mehrere Basismengen fällt oder nicht, sagt nichts über eine Reihenbildung. Es zeigt nur, dass das Verb offenbar die Merkmalanforderungen mehrerer Verbpartikeln gleichermaßen erfüllt. Allerdings erwartet man für einen Wortbildungsprozess ein jeweils analoges Verhältnis von komplexem Wort zur jeweiligen Basis. Interpretation von Test 2: ‚Artikelfähig?‘ In den zu untersuchenden Substantiv-Verb-Verbindungen nehmen die substantivischen Einheiten keinen Artikel, obwohl man sie auf gleichlautende Substantive beziehen könnte, die Appellativa sind und als solche im Singular in anderen Kontexten einen Artikel bräuchten. Dies trifft für alle der genannten Substantiv-Verb-Verbindungen zu mit Ausnahme von eislaufen, Eis kann als Stoffsubstantiv regelmäßig ohne Artikel im Deutschen auftreten. Dass sie keinen Artikel nehmen, zeigt, dass es sich nicht um ein selbstständiges Substantiv handelt. Es zeigt eine Zusammengehörigkeit. Somit spricht es sowohl für ‚Verbpartikel‘ als auch für ‚Kompositionserstglied‘. Die einzelnen Verbindungen unterscheiden sich darin, ob die substantivischen Einheiten einen Artikel nehmen können oder nicht. Und sie unterscheiden sich darin, ob sie gleichermaßen den indefiniten und den definiten Artikel nehmen können oder ob es zwischen den beiden Artikeln Akzeptabilitätsunterschiede gibt. Akzeptabilitätsunterschiede für den definiten Artikel und den indefiniten Artikel gibt es in den genannten Grammatikalitätsurteilen bei klavierspielen und radfahren. In beiden Fällen wird der definite Artikel eher akzeptiert als der indefinite. Dies erinnert unweigerlich an die Stoffsubstantive, diese nehmen ohne weiteres einen definiten Artikel (ich habe das mehl gekauft), den indefiniten nehmen sie nur mit einer Bedeutungsänderung; ich habe ein mehl gekauft ist ähnlich wie der Plural nur als ‚Sorte‘ zu verstehen. Hier stellt sich die weitführende Frage, was denn der indefinite Artikel überhaupt im Deutschen leistet, was den Unterschied ausmacht, ob ein Substantiv ohne Artikel steht oder mit dem indefiniten Artikel; dieser Unterschied besteht bekanntermaßen im Plural nicht. Sehr grob kann man den Stand der Forschung damit zusammenfassen, dass der indefinite Artikel auf ein tatsächlich vorhandenes Referenzobjekt verweist, dass mit ihm referiert werden kann, wenn dies nicht schon anders deutlich wird (z.B. Eigennamen usw.). Indeterminiertheit (Indefinitheit) einer DP wird durch Abwesenheit eines Determinans ausgedrückt. Vater (2000: 196)

Wenn nun in einigen Fällen der definite Artikel eher akzeptiert wird als der indefinite, so kann das folgendermaßen interpretiert werden: für die Konstruktion, die eigentlich ganz ohne Artikel funktioniert, ‚reicht‘ eine indefinite Referenz nicht aus. Dies ist eine Vermutung. Die Funktion des indefiniten Artikels ist wenig erforscht (so auch Thieroff 1999: 163). Die Artikelfähigkeit hat in den gegebenen Beispielen ganz offenbar auch etwas mit der Objektfähigkeit zu tun; dazu auch beim Test ‚Objekt‘. So werden die Artikel eher akzep-

41 tiert, wenn die Verben ein Objekt nehmen können, die substantivische Einheit mit dem Artikel also als Objekt interpretiert werden können. Interpretation von Test 3: ‚Erweiterbar?‘ Die Erweiterbarkeit liefert ein ähnliches Ergebnis wie die Artikelfähigkeit. Die definiten Artikel und die Erweiterbarkeit haben in der singulären Durchführung der Tests die gleichen Ergebnisse: ich fahre das rad, ?ich fahre ein rad, ich fahre ein grünes rad. Die Konstruktion mit dem indefiniten Artikel erscheint akzeptabler, wenn zusätzlich ein (adjektivisches) Attribut vorhanden ist. Durch das adjektivische Attribut werden die Nominalgruppen ‚definiter‘; die Menge der möglichen Objekte wird eingeschränkt und entsprechend größer ist der Bedeutungsunterschied zwischen ich fahre rad und ich fahre ein grünes rad. Damit wäre zu begründen, dass die Konstruktionen mit dem definiten Artikel und die mit indefinitem Artikel und adjektivischem Attribut die gleichen Grammatikalitätsurteile bekommen: Sowohl der definite Artikel als auch das adjektivische Attribut führen dazu, dass die substantivische Einheit bzw. die entstehende Nominalgruppe referiert. Dass das Adjektiv nicht allein auftreten kann (*ich fahre grünes rad), unterscheidet diese Formen sehr wohl von den Stoffsubstantiven: ich trinke grünen tee. Interpretation von Test 4a: die Negation mit kein Die Negation mit kein ist nur möglich, wenn ein Substantiv vorhanden ist. Dabei kann der Skopus von kein durchaus der gesamte Sachverhalt sein. Frieder will keine Mütze. [...] Gesagt wird, es treffe nicht zu, daß er eine Mütze will. Das heißt: Der entworfene Sachverhalt hat insgesamt als nicht bestehend zu gelten. Zifonun u.a. (1997: 849)

Die Möglichkeit der Negation mit kein zeigt die ‚Substantivität‘, bei den Partikelverben ist sie nicht möglich. Artikelfähigkeit, mögliche Negation mit kein und Erweiterbarkeit sollten eng zusammen gehören. Zunächst würde man erwarten, dass mit kein negiert werden kann, wenn die substantivische Einheit artikelfähig ist. Die Einschränkung auf ‚artikelfähig‘ möchte ich im folgenden erläutern, denn der Zusammenhang ist auch sonst weniger direkt, als man zunächst vermuten würde: Zum Beispiel können viele Stoffsubstantive nicht den indefiniten Artikel ohne Bedeutungsänderung nehmen (ich kaufe ein mehl kann nur als ‚eine Sorte Mehl‘ verstanden werden), die Negation eines Satzes ich kaufe mehl wäre aber durchaus ich kaufe kein mehl. Die Negation des Satzes ich kaufe das mehl wäre eher ich kaufe das mehl nicht. Kein ist die Negation, die zum indefiniten Artikel ‚gehört‘; Stoffsubstantive nehmen keinen indefiniten Artikel, aber kein; auch hier wäre es hilfreich, wenn man die Funktion des indefiniten Artikels kennen würde. Die gleiche Verteilung findet sich bei pluralischen Formen: ich kaufe bücher – ich kaufe keine bücher. Als Negation steht in folgenden Fällen kein, wenn bei einem nicht-verneinten Substantiv der Nullartikel steht, (1) im Plural, [...] (2) bei Stoffnamen im Singular, [...] (3) in einigen festen Verbindungen,[...] (4) in Listen Helbig/ Buscha (2001: 553f.)

42

Das Negationswort kein negiert als Pronomen ein Substantiv. Dabei ersetzt es als Negation immer den unbestimmten Artikel und tritt in der Regel zu Substantiven ohne Artikel Duden 4 (1998: 722)

Die Stoffsubstantive können den definiten Artikel nehmen, sie sind grundsätzlich ‚artikelfähig‘. Kein erweitert im System des Deutschen üblicherweise nicht die Artikelfähigkeit. Ganz anders bei den vorliegenden Fällen: Hier kann mit kein negiert werden, wenn auch der definite Artikel nicht geht (*ich laufe das eis – ich laufe kein eis). Das überrascht, hier verhält sich kein im Verhältnis zu den anderen Artikeln anders als sonst im System des Deutschen. Kein zeigt noch weiteres in diesem Zusammenhang: Häufig erscheint es unflektiert. Bei ich laufe kein eis ist nicht zu erkennen, ob es unflektiert ist, da die neutrale Flexionsform so endungslos ist wie die unflektierte Form. Bei den neutralen wären die unflektierten und flektierten Formen gleich, wenn wir davon ausgehen, dass rad in er fährt rad weder Genitiv noch Dativ ist. Eine Flexion von kein wäre nur an den ‚eigentlich femininen‘ und den ‚eigentlich maskulinen‘ zu sehen: ich laufe kein schlittschuh und nicht *ich laufe keinen schlittschuh. In den Beispielen haben wir die folgenden ‚maskulinen Substantive‘: schlittschuh, kopf. Als ‚feminines Substantiv‘ finden wir nur brust. Folgende Beobachtung halte ich hier fest: Bei den ‚maskulinen‘ kann mit kein negiert werden, aber nur unflektiert. Das feminine Beispiel nimmt ebenfalls die unflektierte Form von kein, wenn kein überhaupt möglich ist. ??er schwimmt kein brust, ?er ist kein brustgeschwommen sind fraglich in ihrer Akzeptabilität, aber sie sind besser als *er schwimmt keine brust, *er ist keine brustgeschwommen. Eine mögliche Interpretation dieses Sachverhalts ist die folgende: Dass kein überhaupt geht (bei den Neutra und Maskulina), spricht für die Substantivität der ‚substantivischen‘ Einheiten. Drei Fragen drängen sich auf: Ist kein unflektiert oder erscheint hier standardmäßig neutrales Genus? Warum ist das jeweils so: warum erscheint es unflektiert oder warum sollte standardmäßig neutrales Genus erscheinen? Warum geht es bei ‚maskulinen‘ Substantiven besser als bei ‚femininen‘? In dem Beispielsatz, der nicht in der Tabelle aufgeführt ist, ich spiele fußball, ich spiele kein fußball, ?ich spiele keinen fußball könnte man sich vorstellen, dass fußball eine verkürzte Form von fußballspiel ist und daher neutrales Genus zustande kommt. So wie zum Beispiel fern wohl nur so gedeutet werden kann, fern ist kein Substantiv, kann aber auch (für manche Sprecher) mit kein negiert werden: ich gucke kein fern, fern wäre dann zum Beispiel eine Verkürzung eines Substantivs fernsehen. Dies ist aber wohl als Einzelfall zu sehen. Ein erster Test für fußball wäre hier, ob es auch heißen kann ??ich spiele das fußball – ?ich spiele den fußball, des weiteren er spielt einen wunderschönen fußball – ??er spielt ein wunderschönes fußball. Offenbar hat auch fußball hier nicht neutrales Genus, bei Erweiterung wird das maskuline Genus sichtbar. Dieses Beispiel habe ich neu eingeführt, da die anderen mit einem ‚maskulinen‘ Erstglied (schlittschuhlaufen, kopfstehen) weder einen definiten Artikel noch ein adjektivisches Attribut nehmen und daher keine andere Möglichkeit bieten, Genus zu zeigen. Es handelt sich nicht um ‚verkürzte‘ Formen von ‚eigentlich neutralen‘ Substantiven. Damit ist kein nicht eine neutral flektierte Form, sondern eine unflektierte Form. Warum erscheint kein unflektiert? Meines Erachtens geschieht hier folgendes: Das Substantiv wird nicht mehr näher bestimmt, es bekommt kein Genus zugewiesen. Dass kein als

43 Negation vorkommt, zeigt, dass die Einheiten substantivisch sind; die substantivischen Einheiten haben aber kein Genus. Dies spricht für die Interpretation als substantivische Erstglieder. Unten werde ich erläutern, dass es durchaus einleuchtet, wenn substantivische Erstglieder kein Genus haben. Nun zur dritten Frage: Warum ist kein offenbar bei maskulinen Substantiven besser als bei femininen? Ich laufe kein Schlittschuh – ??ich schwimme kein Brust. Hier spielt etwas anderes mit: Die Akkusativendung -en wird beim maskulin flektierten ein und kein in der gesprochenen Sprache häufig weggelassen, der Unterschied ist nicht deutlich – hierin liegt meines Erachtens ein Ausgangspunkt; das Fehlen der Flexionsendung fällt gewissermaßen weniger auf. Andererseits erscheint eine Explizitlautung wie *ich laufe keinen schlittschuh gar nicht möglich. Mit den Genera ist auch deswegen Vorsicht geboten, weil es für die einzelnen Genera jeweils wenige Beispiele gibt. Zur Verdeutlichung möchte ich hier vorweggreifen: Ich werde später die Frage stellen (Abschnitt 2.4), ob mit den Tests Fälle wie radfahren und brustschwimmen von solchen wie partei ergreifen (so das Beispiel von Jacobs 2001: 11) unterschieden werden können. Sprecher bestätigten mir, dass ich bin kein brustgeschwommen für sie akzeptabel ist (ich bitte hier explizit, von der Schreibweise abzusehen). Hingegen ist wohl *ich habe kein partei ergriffen ungrammatisch, es heißt vielmehr ich habe keine partei ergriffen. Schlittschuh in schlittschuhlaufen und brust in brustschwimmen werden nicht wie selbstständige Substantive behandelt. Das unterschiedliche Verhalten der ‚Feminina‘ und ‚Maskulina‘ kann man nicht nur phonologisch deuten, das wäre meines Erachtens nur möglich, wenn die vollständige maskuline Flexion auch grammatisch wäre (*ich laufe keinen schlittschuh). Die Deutung, die hier angemessen wäre, ist eher, dass es bei den Feminina den Sprechern und Hörern einfach viel deutlicher ist und es daher zu ungewöhnlich erscheint. Im übrigen ist dies ja nun bei weitem nicht der einzige Fall, in dem sich die ‚Nicht-Feminina‘ einheitlich verhalten und den Feminina gegenübertreten. Die Möglichkeit von kein zeigt, dass die substantivischen Einheiten tatsächlich substantivisch wahrgenommen werden. Die Unflektiertheit spricht für substantivisches Erstglied. Die Tatsache, dass es bei Feminina schlechter geht als bei Maskulina, zeigt nur, wie außergewöhnlich diese Art von Einheit ist – frei vorkommende substantivische Erstglieder. Interpretation von Test 4b: Die Negation mit nicht Ob die genannten Beispiele grammatisch sind oder nicht, hängt bei diesem Test systematisch an zwei Faktoren: Erstens hängt die Grammatikalität davon ab, ob nicht überhaupt möglich ist. Zweitens ist die Wortstellung von großem Belang: (6) a. *ich trinke nicht bier – ?ich trinke bier nicht – ich trinke das bier nicht b. ich fahre nicht rad – *ich fahre rad nicht c. ich kaufe den computer nicht (unmarkiert) – ich kaufe nicht den computer (markiert) d. *ich kaufe einen computer nicht – ich kaufe nicht einen computer (ein als Zahlwort) e. ich fange nicht an – *ich fange an nicht

Stoffsubstantive können auch im Singular artikellos auftreten, den indefiniten Artikel nehmen sie nicht ohne Bedeutungsänderung. Insofern kann man bier mit einen computer vergleichen. Bezüglich nicht verhalten sie sich im Prinzip gleich: Sind sie Objekt, wird typischerweise mit kein negiert und nicht mit nicht. Sachverhalte mit definiten Nominalphrasen

44 (c.) werden mit nicht negiert, die Wortstellung ist dann jedoch eine andere: nicht kann zum Bestandteil der Verbklammer werden (so Helbig/ Buscha, s. unten). In (d.) ist die markierte Wortstellung folgendermaßen zu interpretieren: Gleichermaßen wird mit beiden Wortstellungen der gesamte Sachverhalt negiert; in der markierten Wortstellung liegt der Negationsfokus auf den computer; womit Alternativen zu einem bestimmten Computer angenommen werden können. Die Substantiv-Verb-Verbindungen hingegen verhalten sich bezüglich nicht anders: sie können mit nicht negiert werden, und sie bilden selbst eine Klammer um nicht. Nicht kann nicht nach der substantivischen Einheit stehen (*ich fahre rad nicht) wie es die unmarkierte Stellung bei einer definiten Nominalphrase (c.) wäre. Ich nehme die obige Liste als Grundlage für die weitere Interpretation. Die vorliegenden Fälle kommen häufig als Besonderheiten oder Ausnahmen in den Negationsregeln der Grammatiken vor; so zum Beispiel Helbig/ Buscha: in einigen festen Verbindungen von Verb und Akkusativ ohne Objektscharakter, die nicht durch ein Verb ersetzt werden können Helbig/ Buscha (2001: 554)

Die Beispiele sind dann: er kann nicht Auto fahren,.... sie schreibt nicht Maschine, .... der Freund hält nicht Wort, ebenso: Ski laufen, Schritt fahren, Gefahr laufen u.a. Helbig/Buscha (2001: 554)

Ähnlich bei Engel 1996 (auch Engel 2004: 447): Artikellose Nominalphrasen werden allerdings in vielen festen Wendungen durch nicht verneint:....Sie hatte damals nicht Klavier gespielt. Engel (1996: 787)

Die Besonderheit von Substantiv-Verb-Verbindungen, mit nicht negiert zu werden, wird bemerkt. Beide Beschreibungen reichen so jedoch nicht aus, um die Besonderheit zu verstehen: So ist Artikellosigkeit vielleicht ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium. Schon die Rede von ‚Akkusativ‘ ist problematisch, woher kann ich wissen, dass eis in eislaufen Akkusativ ist? Dass sie nicht Objekt sind, ist sicherlich richtig. Aber für das Auftreten von nicht ist es keine notwendige Bedingung, wie wir unten sehen werden: In Konstruktionen wie partei ergreifen ist partei Objekt zu ergreifen. Dennoch können Sätze mit partei ergreifen mit nicht negiert werden: er ergreift nicht partei (für ihn), usw. Die Ersetzung durch ein Verb scheint auch unzureichend. So kann zwar sie schreibt maschine durch ‚sie tippt‘ umschrieben werden, ein sogenanntes Funktionsverbgefüge wie kritik üben entsprechend mit ‚kritisieren‘. Kann aber zum Beispiel autofahren einfach ersetzt werden? Solche Beschreibungen sind grundsätzlich problematisch. Und die Beschreibung von Engel als ‚feste Wendungen‘ ist wohl auch als Hinweis zu verstehen. Die beiden Grammatiken sollen als Hinweise reichen: Die Besonderheit von nicht wird bemerkt, aber nicht wirklich erklärt. Was sagt die Möglichkeit von nicht aber für die vorliegende Fragestellung? Engel geht in seiner Beschreibung der Negation davon aus, dass in den meisten Fällen Sätze mit nicht negiert werden. Sätze, die mit kein negiert werden, bedürfen einer besonderen Beschreibung; er postuliert dies bereits in seiner „erste(n) Verneinungsregel“: Jedes satzartige Konstrukt, das kein indefinites Element enthält, wird mit nicht verneint. Engel (1996: 786), ähnlich Engel (2004: 447) Indefinite Elemente sind Nominalphrasen mit indefinitem Artikel oder Nullartikel (mit Ausnahme der Eigennamen) oder

45 mit indefinitem Determinativ, Indefinitpronomina Unbestimmte Adverbien wie irgendwann, irgendwo usw.....

Engel (1996: 786)

Entsprechend formuliert Engel seine „zweite Verneinungsregel“: Jedes satzartige Konstrukt, das mindestens ein indefinites Element enthält, wird verneint, indem anstelle des ersten indefiniten Elementes die entsprechende negative Form eingesetzt wird. Engel (1996: 787), ähnlich Engel (2004: 447)

Das Auftreten von kein hatte ich damit interpretiert, dass es den substantivischen Charakter der ‚substantivischen‘ Einheiten zeigt. Das Auftreten von nicht zeigt dann den ‚unsubstantivischen‘ Charakter der ‚substantivischen‘ Einheiten. Mit Engel zeigt es, dass es keine ‚Nominalphrasen mit....Nullartikel‘ sind (denn diese werden ja mit kein negiert). Definite Nominalphrasen sind es auch nicht; die naheliegende Interpretation ist dann, dass es überhaupt keine Nominalphrasen sind. Damit ist gemeint, dass die substantivischen Einheiten keine selbstständigen Substantive sind. Negiert wird gewissermaßen nicht das Substantiv, sondern das (komplexe) Verb. Das Schwanken zwischen der Negation mit kein oder der Negation mit nicht zeigt das Zwitterwesen der Substantiv-Verb-Verbindungen. Verbindungen wie Partei ergreifen (können auch mit nicht negiert werden: der vorsitzende ergreift hier nicht partei/ keine partei. Wie gesagt ist einerseits das Auftreten von nicht interessant und andererseits die Stellung von nicht. Im allgemeinen gilt nicht selbst als klammerbildend: Das Negationswort nicht als Satznegation strebt nach dem Ende des Satzes und bildet zusammen mit dem finiten Verb eine Negationsklammer. Darin drückt sich die enge Zusammengehörigkeit des nicht mit dem verneinten Prädikatsverb aus, denn im deutschen Satz mit dem finiten Verb an zweiter Stelle verhalten sich äußere und innere Verbnähe umgekehrt proportional Helbig/ Buscha (2001: 549)

Die Substantiv-Verb-Verbindungen sind alle mit nicht zu negieren und unterscheiden sich damit deutlich von dem Kontrollfall bier trinken. Sie ähneln aber den Partikelverben und damit dem Kontrollverb anfangen. Die Stellung von nicht ist hier besonders zu beachten: nicht zeigt, dass die Substantiv-Verb-Verbindungen klammerbildend sind: (7) a. ich spiele nicht klavier, ich fahre nicht rad, ich laufe nicht eis, ich schwimme nicht brust b. ??ich spiele klavier nicht, ??ich fahre rad nicht, *ich laufe eis nicht, *ich schwimme brust nicht

In dieser Beziehung verhalten sich die Substantiv-Verb-Verbindungen wie die Partikelverben: ich höre nicht auf – *ich höre auf nicht, ich fange nicht an – *ich fange an nicht usw. Was zeigt dieses Verhalten? Die Wortstellung zeigt, dass Substantiv-Verb-Verbindungen klammerbildend sind, das zeigt ja auch der Test mit anderen Adverbien: ich fahre gerne rad – ?ich fahre rad gerne. Enthält der Satz jedoch eine infinite Verbform [...] oder einen trennbaren ersten Verbteil, haben diese Formen Anspruch auf den Endplatz im Satz (weil ihre Klammer mit dem Verb enger ist als die mit der Negation). Die Satznegation nicht muss in diesen Fällen unmittelbar vor die infiniten Verbformen oder den trennbaren Verbteil treten: Er wird morgen nicht abreisen. Er ist gestern nicht abgereist. Er reist heute nicht ab. Helbig/Buscha (2001: 549)

46 Dass die Wortstellung von nicht auch bei den hier zu untersuchenden ‚Substantiv-VerbVerbindungen eine Rolle spielt, stellen auch Helbig/Buscha fest. Sie interpretieren es als ‚enge semantische Einheit‘: Die Satznegation nicht steht obligatorisch vor dem Akkusativ, wenn dieser nicht die Funktion des passivfähigen Objekts ausübt, sondern (meist in adverbialer Bedeutung) mit dem (bedeutungsarmen) Verb eine enge semantische Einheit darstellt [...]: Er spielt nicht Klavier (= auf dem Klavier) *Er spielt Klavier nicht Er fährt nicht Auto (= mit dem Auto) *Er fährt Auto nicht Er nahm nicht Abschied (= verabschiedete sich) *Er nahm Abschied nicht Aber: Er nahm das Geld nicht Helbig/ Buscha (2001: 550)

Die Stellung von nicht zeigt mit Helbig/Buscha, dass die substantivische Einheit und das Verb die Verbalklammer bilden und der Zusammenhalt zwischen substantivischer Einheit und Verb ähnlich stark ist wie der zwischen Verbpartikel und Verb oder wie der zwischen den Bestandteilen analytischer Verbformen. Das ist im wesentlichen eine Aussage aufgrund der Stellung von nicht. Nicht zeigt ‚nicht-substantivisch‘ oder ‚nicht selbstständiges Substantiv‘, wenn wir von den vorliegenden drei Möglichkeiten ausgehen – es bleibt immer noch die Möglichkeit, dass die ‚substantivischen‘ Einheiten ganz anders interpretiert werden müssen. Nicht spricht gegen die Interpretation als selbstständiges Substantiv, aber spricht es für oder gegen substantivisches Erstglied? Das Verhalten von kein, so habe ich behauptet, spricht für substantivisches Erstglied. Die Nichtflektiertheit von kein spricht für ‚substantivisches Erstglied‘. Wenn nun aber nicht auftritt, kann das auch bei einem substantivischen Erstglied passieren? Die meisten Grammatiken meinen, dass kein ein Artikel sei, einen Artikel erwartet man aber kaum bei Erstgliedern. Insofern kann das Auftreten von nicht m.E. nicht gegen ‚substantivisches Erstglied‘ ausgelegt werden. Daher zeigt es nur Zusammengehörigkeit und passt mit den beiden Lösungen ‚substantivisches Erstglied‘ und ‚Verbpartikel‘ gleichermaßen zusammen. Die Wortstellung von nicht zeigt aber die enge Zusammengehörigkeit von ‚substantivischer‘ Einheit und Verb. Nicht zeigt die klammerbildende Kraft dieser beiden Elemente. Insofern sprechen Auftreten und Verhalten von nicht für die enge Zusammengehörigkeit von ‚substantivischer‘ Einheit und Verb und damit ebenso gegen ‚selbstständiges Substantiv‘ und für Verbpartikel oder substantivisches Erstglied. Interpretation von Test 5: ‚Nimmt das zugrundeliegende Verb ein direktes Objekt?‘ Die substantivische Einheit sollte, sofern sie im Satz selbstständig vorkommt, eine syntaktische Funktion haben. Das ist schon insofern problematisch, als sie ja keine vollständige Nominalgruppe ist. Dieses Problem ist schon unter ‚Artikel‘ abgehandelt und wird hier nicht weiter ausgeführt. Schließlich kommen Stoffsubstantive auch ohne Artikel vor. Welche syntaktische Funktion könnte die substantivische Einheit haben? Die naheliegende Funktion wäre ‚direktes Objekt‘. Hier sind nun mehrere Stufen auszumachen. Ob ein ‚Nominal‘ direktes Objekt sein kann, hängt wesentlich davon ab, ob das Verb ein tran-

47 sitives ist, das heißt ob es ein direktes Objekt nimmt. Bei Bier trinken ist Bier direktes Objekt zu trinken. Das heißt hier wird für jedes Verb einzeln überprüft, ob sie ein direktes Objekt nehmen können, unabhängig von der konkreten substantivischen Ergänzung. Zunächst müssen die einzelnen Verben betrachtet werden: Spielen ist ein transitives Verb: ich spiele die Sonate, ich spiele das neueste Spiel, ich spiele (den) Faust. Spielen nimmt fakultativ ein direktes Objekt. Die thematische Rolle des Objektes ist aber eher der Patiens als das Instrument; wie es zum Beispiel klavier in ich spiele klavier oder ?ich spiele ein klavier wäre. Sprecher äußern dann auch häufig, dass es ‚ich spiele auf dem Klavier‘ heißen müsse. Der Akzeptabilitätsunterschied zwischen ?ich spiele ein Klavier und ich spiele das Klavier kann mit der thematischen Rolle nicht offensichtlich geklärt werden. Allerdings zeigt sich beim Passiv die gleiche Diskrepanz zwischen dem bestimmten und dem unbestimmten Artikel wie beim Aktiv: Das Klavier wird von Hans gespielt erscheint besser als ?ein Klavier wird von Hans gespielt. Spielen nimmt ein direktes Objekt, insofern ist Klavier formal so zu interpretieren, die thematische Rolle stimmt allerdings nicht. Von fahren gibt es zwei Varianten: eine transitive und eine intransitive. Dass es zwei Varianten sind und nicht ein Verb eine fakultative Ergänzung hat, erkennt man besonders gut in der Perfektbildung: (8)

ich habe ihn gefahren – ich bin gefahren

So auch: (9)

ich habe das rad (nachhause) gefahren – ich bin radgefahren7

Der Satz ich fahre das rad (nachhause) ist nach meinen spontanen Sprecherbefragungen nicht für alle gleichermaßen grammatisch. Rad hat hier nicht die für dieses Verb objekttypische thematische Rolle; man erwartet nicht das Gerät, mit dem gefahren wird; aus diesem Grunde ist ich fahre ihn nachhause ohne Frage grammatisch, ich fahre das rad nachhause ist nicht eindeutig grammatisch. Hierin ähnelt der Fall dem von klavierspielen: das Verb nimmt einen Akkusativ, der Akkusativ ist aber in der Bedeutung anders besetzt. Der Fall radfahren unterscheidet in einer anderen Eigenschaft deutlich von klavierspielen: das transitive fahren (es bildet auch ein reguläres Passiv: er wurde nachhause gefahren) ist ein anderes fahren ist als das in radfahren. Bei laufen und schwimmen sieht dies anders aus: Typischerweise kommen hier freie Akkusative vor: Ulrike schwimmt einen Kilometer, George läuft Marathon. Diese Sätze sind nicht passivierbar: *Der ganze Weg wird von Ulrike geschwommen. *Marathon wird von George gelaufen.8 Die Akkusative besetzen keine Valenzstelle des Verbs, sondern sind genau die typischen freien Akkusative. Dementsprechend sind auch die substantivischen Einheiten hier keine direkten Objekte und auch nicht als solche reanalysierbar, weil die dazugehörigen Verben keine transitiven sind. Von den Beispielverben ist spielen das einzige, das ein direktes Objekt nimmt. Fahren kann in einer Variante ein direktes Objekt nehmen, aber nicht in der vorliegenden. Für unsere Untersuchung heißt das, dass die substantivischen Einheiten (bis auf klavier) gar nicht direktes Objekt sein können, weil die entsprechenden Verben nicht transitiv sind. Ein

7 8

Für den persönlichen Hinweis danke ich Elke Hentschel. Diese Sätze können möglicherweise als unpersönliches Passiv gelesen werden: es wird Marathon gelaufen. Marathon ist nicht Subjekt zu wird gelaufen.

48 weiterer Hinweis, inwieweit die substantivischen Einheiten Objektcharakter haben, kann auch eine entsprechende Nachfrage sein: (10) a. Was hat Karl gespielt? Klavier b. Karl fährt rad. ?Was fährt er? Wie fährt er? c. Karl läuft eis. *Was läuft er? Wie läuft er? d. Karl läuft schlittschuh. *Was läuft er? Wie läuft er? e. Karl fängt an. *Was fängt er? *Wie fängt er?

Was können die substantivischen Einheiten sonst sein? Freie Angaben oder gebundene Erstglieder; sei es als Kompositionserstglied oder als Verbpartikel. Gegen freie Angaben spricht sicherlich die offensichtlich enge Bindung an das Verb und die Unselbstständigkeit der Einheiten. Die Tatsache, dass die beteiligten Verben nicht transitiv sind, spricht gegen die Interpretation der substantivischen Einheiten als direkte Objekte. Typischerweise sind die beteiligten Verben einstellige Verben, die substantivischen Einheiten haben auch keine anderen verbregierten Funktionen. Ihr sonstiges Verhalten spricht dagegen, sie unabhängig vom Verb zu sehen. Insofern spricht diese Analyse für ‚Nichtselbstständigkeit‘, sei es als Verbpartikel oder als substantivisches Erstglied. In den Fällen, in denen die substantivische Einheit Objekt sein könnte, wäre ein zweiter Test möglich: Ist sie Objekt, so dürfte keine andere Einheit in dieser syntaktischen Funktion gleichzeitig vorkommen. (11) a. ??ich spiele die Sonate Klavier b. ??ich spiele die Fuge Orgel

Diese Sätze sind folgendermaßen zu lesen: die Sonate ist Objekt zu klavierspielen. Nach Pittner (1998: 109) sind diese Sätze ungrammatisch. Pittner geht hier noch einen Schritt weiter und behauptet, dass die Verhinderung derartiger Sätze nicht allein damit zu begründen ist, dass Klavier oder Orgel Objekte seien. Sie meint, dass in einem Satz *sie schreibt den Brief Maschine „das Substantiv [Maschine, N.F.] gar nicht die Funktion des Objekts hätte“ (Pittner 1998: 109). Sie können auch andere Ergänzungen nicht nehmen, zum Beispiel Direktionale (??sie fährt nach Hamburg Autobahn, Beispiel nach Pittner 1998: 109). Für radfahren wählt Pittner folgenden ungrammatischen Satz: *sie fährt ihren Hund durch den Englischen Garten Rad. Dieser Satz ist sicherlich ungrammatisch, aber ginge nicht der folgende? Sie fährt durch den englischen garten rad. Die Grammatikalitätsurteile sind hier nicht so deutlich. Was aber würden sie uns sagen und was sagt uns die Unsicherheit? Pittner möchte mit der Verhinderung der Direktionale im wesentlichen zeigen, dass hier Verben entstehen mit einer anderen Valenz; aus ursprünglich transitiven Verben werden durch die ‚Inkorporation‘ (diesen Prozess nimmt Pittner an) intransitive. Hier scheint es unwahrscheinlich, daß das Substantiv in diesen Verbindungen das Auftreten einer direktionalen Präpositionalphrase syntaktisch blockiert. Weder Objekte noch Direktionalangaben können auftreten: die Verbindungen aus Substantiv und Verb sind intransitiv [...], sie bezeichnen nicht-zielgerichtete Aktivitäten. Pittner (1998: 109)

Und intransitive Verben zeichnen sich durch ‚Atelizität‘ (Nicht-Zielgerichtetheit) aus. So ist auch genau die Perfektbildung mit sein zu begründen. Ich möchte hier ein bisschen spitzfindiger sein, weil es gerade darum geht, zu untersuchen, inwieweit die Verbindungen Eigenschaften haben, die für die Interpretation als ein Wort sprechen. Bei den Direktionalen gibt Pittner an, dass die Sätze fragwürdig, aber nicht unbedingt ungrammatisch sind.

49 Insofern verhalten sich die Sätze, in denen ein (zusätzliches) Objekt auftritt, und die Sätze, in denen Direktionale auftreten, nicht völlig gleich. In sie schreibt maschine kann maschine als Objekt reanalysiert werden. Schreiben nimmt eine Akkusativergänzung, wenn auch maschine in der Bedeutung nicht richtig passt. Insofern kann man die Ungrammatikalität von *sie schreibt den brief maschine sehr wohl damit begründen, dass ein potentielles Objekt zu viel ist. Dann sind zwei Analysen möglich: 1. maschineschreiben ist ein komplexes intransitives Verb, 2. maschine wird in sie schreibt maschine als Objekt zu schreiben interpretiert, ein weiteres Objekt ist dann nicht möglich. Andererseits sind die zugrundeliegenden Verben in der Tabelle ja zum großen Teil gar nicht transitiv. Die Interpretation der substantivischen Einheiten als Objekt ist dann nicht ohne weiteres möglich. Die These, die sich aus den Grammatikalitätsurteilen herleiten lässt, ist die folgende: Wenn es möglich ist, die substantivische Einheit als direktes Objekt zu interpretieren, so ist eine Analyse als Syntagma viel eher möglich. Daher ist klavierspielen das ‚syntaktischste‘ von den in der Tabelle genannte, dann wäre die Schreibweise Klavier spielen. Eine Möglichkeit von ??sie spielt die sonate klavier würde hingegen zu einer Interpretation als Wort sprechen. Interessant ist hier auch die Wortstellung. So erscheint *ich spiele klavier die sonate als völlig ungrammatisch, wenn überhaupt ein zusätzliches Objekt möglich ist, dann ‚innerhalb der Verbklammer‘: ich spiele die sonate klavier. Da es sich bei den intransitiven Verben um Bewegungsverben handelt, ist sicherlich – wie Pittner – annimmt eine Direktionalangabe häufig. In einer ersten Annäherung sind dies freie Angaben und keine Verbergänzungen. Dennoch werfe ich hier einen Blick darauf: Nach meinem Grammatikalitätsurteil ist ?ich fahre nach potsdam rad fragwürdig, aber nicht ungrammatisch. Der Unterschied in der Grammatikalität ist nicht sehr deutlich, daher meine ich, dass man dieses Beispiel nicht noch weiter interpretieren kann. Interpretation von Test 6: Immer klammerbildend? Hier geht es im wesentlichen darum, zu überprüfen, ob die substantivische Einheit den rechten Rand der Verbalklammer bilden muss. Dabei werden die zur Rede stehenden Substantiv-Verb-Verbindungen insbesondere mit der Objektkonstruktion bier trinken und dem eindeutigen Partikelverb anfangen verglichen. Diese beiden Fälle unterscheiden sich deutlich bezüglich ihrer Stellungsmöglichkeiten. Die Substantiv-Verb-Verbindungen müssen nach meinen Grammatikalitätsurteilen nicht unbedingt die Verbalklammer bilden. Die Fälle, in denen sie keine Klammer bilden, sind fragwürdig, aber nicht ungrammatisch. Innerhalb der Fälle gibt es noch Abstufungen. Da die Grammatikalitätsurteile hier besonders unsicher sind, lohnt es sich letztlich nicht, das bis ins letzte zu kommentieren. Wenn sie eindeutig eine Klammer bilden müssten, so würden sie sich genauso wie die Partikelverben verhalten. Aber würde dies auch für ‚ein Wort‘ sprechen? Der Begriff der Verbalklammer ist insbesondere übernommen von den analytischen Verbformen: Ich will das Buch am Wochenende lesen (Beispiel nach Helbig/ Buscha 2001: 475). Für die Analyse von analytischen Verbformen gibt es unterschiedliche Vorschläge; Teuber (2002) plädiert zum Beispiel jüngst dafür, sie im wesentlichen kompositionell zu betrachten. Überspitzt man die vorliegende Betrachtung darauf, ob radfahren zusammengeschrieben wird oder nicht, dann hilft die analytische Verbform nicht weiter, denn zusammengeschrieben werden die analytischen Verbformen nicht. Helbig/ Buscha (2001) führen weitere Konstruktionen an, die eine

50 Verbalklammer bilden, so zum Beispiel Kopulakonstruktionen: Er wird wegen eines Herzfehlers nicht Soldat. Sie ist wahrscheinlich schon seit einiger Zeit nicht ganz gesund. (Beispiele nach Helbig/ Buscha 2001: 476). Eine hinreichende Bedingung für die Interpretation als ein Wort ist die Verbalklammer jedenfalls nicht. Möglicherweise ist sie eine notwendige. Hier haben wir als einzelne Evidenz die Partikelverben; die Substantiv-Verb-Verbindungen verhalten sich hier nicht durchgängig wie die Partikelverben. Diese Beobachtung ist ein Hinweis auf die Nicht-Wortartigkeit der Substantiv-Verb-Verbindungen. Interpretation von Test 7: Unterbrechbar im Nebensatz? Bei der Verbalklammer im vorigen Test tritt sozusagen das Grundproblem vieler komplexer Verben hervor: die Einheiten, die möglicherweise Teile eines Wortes sind, treten an unterschiedlichen Stellen im Satz auf. Dies ist die Problematik schlechthin bei den trennbaren Verben. In der Nebensatzstellung hingegen stehen die trennbaren Verben zusammen, das heißt bei Partikelverben zum Beispiel steht die Partikel direkt vor dem entsprechenden Vollverb. Partikel und (Basis-)Verb sind nur morphologisch trennbar, das heißt durch geoder zu. Meine Grammatikalitätsurteile sind hier sehr viel deutlicher; viele der Substantiv-VerbVerbindungen sind nicht unterbrechbar. Auch dies kann zumindest als notwendige Bedingung für die Interpretation als ein Wort gesehen werden. Interpretation von Test 8: Sind die substantivischen Einheiten vorfeldfähig? Partikeln gelten im allgemeinen als nicht-vorfeldfähig: *An fängt er am montag. *An will er am montag fangen. Damit wird gezeigt, dass sie keine selbstständigen Einheiten im Satz sind und damit Bestandteile von Wörtern. In den meisten Fällen sind die Partikeln nicht vorfeldfähig, zu Ausnahmen wie fest steht, dass..., s. unten. Die meisten der hier genannten Fälle von Substantiv-Verb-Verbindungen sind gewissermaßen ‚halb‘ vorfeldfähig. Viele gehen, wenn das Vollverb in finiter Form unmittelbar folgt, wenn aber eine finite Form eines Hilfsverbs steht, sind einige weniger akzeptabel: ?rad fahre ich am montag wird häufig eher akzeptiert als *rad will ich am montag fahren. Bei einem herkömmlichen Verständnis von Vorfeldfähigkeit sollten die beiden Konstruktionen sich in ihrer Grammatikalität entsprechen. Dies ist aber offenbar nicht so. In der Tabelle habe ich den ‚strengeren‘ Test gewählt, in dem die substantivische Einheit und das entsprechende Verb nicht nebeneinander stehen. Was folgt aus der Vorfeldfähigkeit bzw. Nichtvorfeldfähigkeit der Einheiten? Wenn sie nicht vorfeldfähig sind, so heißt das in erster Linie, dass die ‚substantivische‘ Einheit unselbstständig ist. Sie hat keine syntaktische Funktion. Allerdings geht hier Vorfeldstellung wohl im allgemeinen leichter als bei den Verbpartikeln. Einige Partikelverben sind offenbar auch bedingt vorfeldfähig. So wird dieses Kriterium für Partikelfähigkeit sogar häufig an sich angezweifelt, weil offenbar fest steht, dass... grammatisch ist. Dies geht nur in sehr wenigen Fällen und im übrigen unterscheiden sich auch hier häufig die Grammatikalitätsurteile für die Vorfeldfähigkeit mit direkt folgendem Vollverb und für die Vorfeldfähigkeit mit folgendem (finiten) Hilfs- oder Modalverben: ??fest wird stehen, dass.... ??fest wird am montag stehen, dass... Außerdem ist fest nun

51 gerade die Verbpartikel, die formgleich zu einem Adjektiv ist. Die meisten anderen Verbpartikeln sind formgleich zu Präpositionen (dazu auch in Abschnitt 6.2). Insofern scheint die Nicht-Vorfeldfähigkeit für ‚präpositionale Partikeln‘ zu gelten. Als Präpositionen würden sie ein Nominal regieren, was sie als Verbpartikeln nicht tun. Die Unselbstständigkeit scheint bei ihnen noch deutlicher. So könnte man die ‚übergehende‘ Nicht-Vorfeldfähigkeit interpretieren: Die substantivischen Einheiten sind unselbstständig, aber die Unselbstständigkeit ist grammatisch nicht so überdeutlich wie bei den ‚präpositionalen Partikeln‘. Bei analytischen Verbformen ist die Vorfeldstellung weniger akzeptabel, auch dies spricht für die Zusammengehörigkeit von substantivischer Einheit und Verb. Die zwei Stufen der Vorfeldfähigkeit erinnern an die Bildung solcher Verben überhaupt. Während radfahren ein vollständiges Paradigma bildet, so ist das für brustschwimmen schon fraglich. Nicht alle Sprecher beurteilen ich schwimme brust als grammatisch. In Kontaktstellung gehen auch die häufig besser: wir wollen brustschwimmen, weil er brustschwimmt (in diesem Sinne besonders ausführlich bei Wurzel 1995/ 1998). Das heißt, die syntaktische Trennung wird seltener gemacht. Dies war die Interpretation der Tests aus der Tabelle. Im folgenden werden weitere Tests erläutert. Interpretation eines Tests: Gemeinsame Vorfeldstellung? Diesen Test habe ich nicht geprüft in Tabelle 2.1. Meines Erachtens bringt er keine Unterschiede zwischen den Verbindungen hervor. Gemeinhin wird angenommen, dass das Deutsche Verbzweitstellung hat, das heißt das finite Verb steht in einem Hauptsatz an ‚zweiter Stelle‘. Dabei möchte ich mich gar nicht dazu äußern, ob nun der Haupt- oder der Nebensatz (also mit Verbletztstellung) die ‚unmarkierte‘ Wortstellung hat. Ich möchte hier zunächst den Test durchführen, um zu zeigen, was er bringen kann, und anschließend erst überlegen, wie der Test zu interpretieren ist. (12) a. biertrinken tut karl am liebsten b. klavierspielen möchte peter den ganzen tag/klavierspielen soll peter lernen c. radfahren will er nach potsdam/ radfahren soll leo lernen d. schlittschuhlaufen mag franz/schlittschuhlaufen möchte franz lernen e. eislaufen soll peter immer/ eislaufen soll peter lernen f. brustschwimmen muss er diesen wettkampf/ brustschwimmen muss er noch richtig lernen g. anfangen will er mit dem schreiben endlich

Was sagt dieser Test? Viele der genannten Formen könnten (komplexe) Substantive sein, deren Zweitglied ein substantivischer Infinitiv ist. Als Kompositum wäre das Substantiv ein Wort und damit eine Konstituente. Zunächst einmal sind Umgebungen zu suchen, in denen der Infinitiv nicht substantivisch sein kann; er wäre dann unzweifelhaft verbal. Eine mögliche Umgebung wären dafür die ‚nicht-transitiven‘ Modalverben sollen und müssen. Die Ergänzungen zu diesen Modalverben müssen verbal sein. In einer Wortstellung wie er soll radfahren heißt dies nichts, weil radfahren dann auch zwei Wörter sein könnten. In Vorfeldstellung sollte dies jedoch eine Konstituente sein: radfahren soll er. Wenn dieser Test etwas aussagen soll, dann müsste bier trinken soll er immerzu deutlich weniger akzeptabel sein als radfahren soll er immerzu. Das ist zumindest nicht eindeutig der Fall. Und das liegt daran, dass das Vorfeld

52 durchaus flexibel ist. „Das Vorfeld kann auch mit mehreren Satzgliedern besetzt sein“ (Eisenberg 2004b: 399) Wesentlich scheint dabei zu sein, dass die Reihenfolge der unmarkierten Wortstellung beibehalten wird, also zum Beispiel Objekt vor dem infiniten Bestandteil: Den Stern gezeigt hat Irene ihm, ihm den Stern hat Irene gezeigt, *den Stern ihm hat Irene gezeigt. (Beispiele nach Eisenberg 2004b: 399) Bei der Suche nach eindeutig verbalen Infinitiven kommt man auch zu den zu-Infinitiven. In der Vorfeldposition scheint der zu-Infinitiv der komplexen Verbindungen wenig akzeptabel. (13) a. bier zu trinken liebt karl b. ?schlittschuhzulaufen versucht karl schon ganz lange – karl versucht schon lange schlittschuhzulaufen c. ?radzufahren versucht karl schon lange – karl versucht schon lange radzufahren d. ?eiszulaufen versucht karl schon seit jahren – karl versucht schon seit jahren eiszulaufen e. ??brustzuschwimmen versucht karl – ?karl versucht brustzuschwimmen

Offenbar ist die Voranstellung des zu-Infinitivs bei allen diesen Beispielen weniger akzeptabel. Warum das so ist, kann die unterschiedlichsten Gründe haben. Ich möchte hier nicht weiter verharren, weil der Unterschied zwischen eislaufen und bier trinken nicht wirklich deutlich ist. Mit dem eindeutig verbalen Infinitiv (dem zu-Infinitiv) kann man womöglich doch mehr zeigen. Offenbar bringt der Test wenig. Ich habe diesen Test hier aus dem folgenden Grund besprochen: Befragte Sprecher und Sprecherinnen nennen überaus häufig selber diese Form. Wenn man fragt: Ist rad will ich am montag fahren grammatisch, so ist häufig die Antwort, dass radfahren will ich am montag besser sei. Weiterer Test: Sind Rückbildungen anzunehmen? Bei den genannten Beispielen könnte man als Entstehensprozess Rückbildung annehmen. Das heißt, es gibt ein (substantivisches) Kompositum, das rückgebildet werden kann. Besonders anfällig für Rückbildungen sind Komposita mit einem deverbalen Zweitglied (wie zum Beispiel Fahrer) bzw. mit einem Zweitglied, das formgleich zu einem Verbstamm ist (wie zum Beispiel Lauf). Der klassische Fall geht folgendermaßen: aus einem Verb fahr(en) wird per Derivation Fahrer, dieses wird komponiert zu Radfahrer und per Rückbildung entsteht ein Verb radfahren. Der erste Schritt, um festzustellen, ob hier möglicherweise Rückbildungen vorliegen, ist zu überprüfen, ob denn mögliche Rückbildungsbasen vorliegen. Welche Voraussetzungen für Rückbildungen zu erfüllen sind, ist noch weitgehend ungeklärt. Ungeklärt ist auch, ob alle Typen von Komposita aus einem Substantiv und einem deverbalen Substantiv gleichermaßen Basis sein können für Rückbildungen, dazu einige Gedanken in den Abschnitten 1.5.1 und 10.3. Für die genannten Beispiele bestehen Rückbildungsbasen: Klavierspieler, Radfahrer, Schlittschuhläufer, Eislauf, Brustschwimmer, Kopfstand. Dabei ist das Besondere, dass die Rückbildungsbasen, also die (substantivischen) Komposita keine Rektionskomposita sind, bei denen würde ja gewissermaßen nichts ‚Neues‘ entstehen: karl isst kuchen – karl ist kuchenesser – karl isst kuchen, karl trinkt bier – karl ist biertrinker – karl trinkt bier. Diese These ist zu beweisen. Denn lediglich in sehr speziellen Fällen würde eine Rückbildung aus einem Rektionskompositum zu einer vollständigen syntaktischen Phrase führen: Im allge-

53 meinen sollten die Erstglieder in der entsprechenden Verbalkonstruktion Akkusativobjekte sein (das sieht Rivet 1999 für Rektionskomposita sowieso vor), zumindest sollten es keine Präpositionalobjekte sein, weil die Präpositionen nicht übernommen werden können. Zum anderen gilt das nur für den Fall, dass ‚nur‘ ein Substantiv Objekt ist. Nominalgruppen erscheinen so nicht im Erstglied. Das ist an dieser Stelle nicht so trivial wie es aussieht, denn auf diese Weise könnte bei den Appellativa der Artikel verschwinden: (14) a. Peter kauft ein Buch – Peter ist ein Buchkäufer – *Peter kauft Buch b. Peter fällt einen Baum – Peter ist ein Baumfäller – *Peter fällt Baum

Das scheint aber gerade nicht zu passieren. Andererseits sind die Substantiv-Verb-Verbindungen ja auch nicht alle von Rektionskomposita gleichermaßen weit entfernt. Schließlich ist klavierspielen auf auf dem klavier ‚zurückzuführen‘, möglicherweise ist klavier sogar als Akkusativobjekt zu interpretieren (s. in den Abschnitten 2.1 und 2.2 den Test ‚Objekt?‘). Radfahren ist auf mit dem rad fahren zu beziehen, eislaufen ‚auf dem eis laufen‘, schlittschuhlaufen ‚mit Schlittschuhen laufen‘, brustschwimmen ‚auf der Brust schwimmen‘ (als Gegensatz zu rückenschwimmen). Bei einigen könnte gewissermaßen eine Reanalyse stattfinden, das Erstglied des Kompositums wird als Objekt reanalysiert. Das hatte ich in den Abschnitten 2.1. und 2.2 bereits angedeutet. Eine erste These wäre dann, dass diese Reanalyse eher geschieht, wenn das entsprechende Verb (fakultativ) transitiv ist. Die genannten Bildungen haben Rückbildungsbasen. Rückbildung ist durchaus ein ungewöhnlicher Wortbildungsprozess. Die wenigsten Rückbildungen werden usualisiert. Daher ist interessant zu überlegen, ob es Komposita gibt, die eher Basis einer Rückbildung werden als andere. So nimmt Günther (1997: 6) zum Beispiel an, dass ein Kompositum mit einem substantivischen Infinitiv als Zweitglied eine typische Basis für Rückbildungen sei. Dies bezweifle ich jedoch. Für spontane Rückbildungen mag dies noch angehen, aber für die getesteten ‚etablierteren‘ Bildungen finden sich stets andere usuelle Bildungen. Meine Zweifel haben insbesondere mit dem Status des substantivischen Infinitivs zu tun. Er ist, wie in Abschnitt 8.1 angesprochen, kein ‚vollwertiges‘ Substantiv. Ebenso ist der adjektivische Infinitiv keine gute Basis für Rückbildungen. In der Kompositumsbildung sind sie sehr produktiv, allerdings entstehen in den meisten Fällen Rektionskomposita, die keine Basis für Rückbildung sind. Was wäre hier der Unterschied? Substantivische und adjektivische Infinitive werden ‚syntaktisch umkategorisiert‘, sie werden nicht durch einen normalen Wortbildungsprozess gebildet. Werden sie rückgebildet, ist dies ebenfalls eine syntaktische Umkategorisierung, wieder kein ‚normaler‘ Wortbildungsprozess. Insofern wäre eine solche Rückbildung ein ‚besonderer‘ Prozess. Das schließt ihn in keiner Weise aus; man kann nur nicht einerseits die Umkategorisierung des Infinitivs besonders herausstellen und andererseits die entsprechende Rückbildung wie andere Rückbildungen behandeln. Das andere Argument gegen Komposita mit substantivischen oder adjektivischen Infinitiven als Rückbildungsbasen entspringt im wesentlichen der Beobachtung, dass die entsprechend ‚usualisierten‘ Rückbildungen relativ selten sind. Das kann aber muss nicht unbedingt etwas bedeuten für die umkategorisierten Infinitive. Bis hierher ist folgendes festzuhalten: alle besprochenen Beispiele können durch Rückbildung entstanden sein. Die Basen sind keine Rektionskomposita, jedenfalls nicht in einem üblichen Sinne, wenn man wie zum Beispiel Rivet (1999) annimmt, dass Rektionskomposita produktiv nur mit einem Akkusativ gebildet werden. Die Tatsache, dass die untersuchten Substantiv-Verb-Verbindungen Rückbildungen sind, ist für die vorliegende Fragestellung bedeutsam: Damit sind sie primär Wörter und werden

54 erst sekundär zu Syntagmen. Dies ist auch daran zu erkennen, dass viele vergleichbare Verbindungen gar nicht ein vollständiges Paradigma ausbilden. So finden viele zum Beispiel ich schwimme brust bereits ungrammatisch (*ich spare bau, *er landet not usw.). Wurzel (1995/1998) hat verschiedene Klassen benannt, je nachdem welche Formen ausgebildet werden. Die zu bildenden Formen sind folgende: der einfache verbale Infinitiv (bausparen), der zu-Infinitiv, das Partizip II, 1. und 3. Person Plural in Verbletztstellung, andere finite Formen in Verbletztstellung und schließlich alle finiten Formen. Wurzel unterscheidet hier einzelne Klassen, je nachdem welche Formen fehlen. Eschenlohr (1999: 146ff.) kommentiert diese Klasseneinteilung und kommt zu dem Schluss, dass hier eine gröbere Klasseneinteilung angemessen ist. So oder so scheint der letzte Schritt die Ausbildung der getrennten Formen zu sein: weil er bauspart ist eher akzeptabel als *er spart bau. Diese Analyse zeigt besonders deutlich, dass wir hier von einem Wort möglicherweise zu einem Syntagma kommen. Bausparen kann gar nicht als Syntagma analysiert werden, klavierspielen möglicherweise schon. Test: Wie verhalten sich die Substantiv-Verb-Verbindungen selbst in der Wortbildung? Ein weiteres, mitunter angeführtes Argument für ‚Wortartigkeit‘ ist das Verhalten in der Wortbildung. Hier sind grundsätzlich zwei Fragen zu behandeln: 1. Ist die entsprechende Verbindung der Wortbildung zugänglich? 2. Ist die entsprechende Verbindung der Komposition zugänglich?

Die erste Frage passt grundsätzlich nicht zu der These, dass die Verbindungen durch Rückbildung entstanden sind. Wenn radfahren aus radfahrer entstanden ist, dann kann ich jetzt ja nicht behaupten, dass so etwas wie radfahrer von einer Basis radfahren gebildet wird. Damit kann hier nur die Kompositionsfähigkeit getestet werden: (15) a. Klavierspielabend, Radfahrweg, ??Schlittschuhlaufbahn (Schlittschuhbahn), Eislaufbahn (auch der Eislauf), Kopfstehübung b. Biertrinkabend, Anfangsgehalt

Biertrinkabend ist ein mögliches Kompositum, das macht den Test zweifelhaft. Wenn aus diesem Test ein Kriterium für die Bewertung der Substantiv-Verb-Verbindungen gezogen werden soll, dann dürfte Biertrinkabend nicht von einer verbalen Verbindung Bier trinken abgeleitet sein, sondern es müsste ein Komposition aus Bier und Trinkabend sein. Dann wäre biertrink- in einem Kompositum Biertrinkabend keine Konstituente. Das erscheint immerhin plausibel. Bei den tatsächlich auftretenden Komposita mit den Substantiv-Verb-Verbindungen handelt es sich nicht unbedingt um die verbale Variante: Klavierspielabend könnte ja auch eine Zusammensetzung aus Klavierspiel und Abend sein. Dass Schlittschuhlaufbahn nicht möglich ist, zeigt ebenfalls für den Status von schlittschuhlaufen wenig, denn die Bildung ist vermutlich einfach durch Schlittschuhbahn blockiert. Radfahrweg hingegen ist ein gutes Beispiel für den entsprechenden Status für radfahren. Dieses Kriterium ist konkret schwierig anzuwenden. Es gibt Komposita, die nach ‚syntagmatischen‘ Grundlagen aussehen (Biertrinkabend, Buchschreibgesellschaft, Kuchenessgelage, Teetrinkvereinigung) und andererseits ist auch nicht nachzuweisen, dass Klavierspielabend als Erstglied einen komplexen verbalen Stamm hat. Im übrigen verhalten sich

55 auch hier die Partikelverben unterschiedlich, viele scheinen in Komposita nicht vorzukommen. Das muss aber nicht heißen, dass sie nicht kompositionsfähig sind. Letztendlich entsprechen solche Regeln auch nicht der Natur der Komposition. Sie ist ziemlich frei. Kommen wir zurück zur Wortbildung. Die Argumentation war die folgende: Wenn ich von Rückbildungen ausgehe, ist nicht festzustellen, ob entsprechend vorhandene Wortbildungen gerade jene Rückbildungsbasis sind oder ob umgekehrt von einem rückgebildeten komplexen Verb eine Wortbildung abgeleitet wird. Man kann nicht feststellen, was aktuell Basis und was Ableitung ist. Andererseits kann das Vorhandensein eines entsprechenden Substantivs unter diesen Voraussetzungen als notwendige Bedingung für die Analyse als ein Wort betrachtet werden, völlig unabhängig davon, wie die Ableitungsrichtung ist: Radfahren ist ein Wort, weil es eine Rückbildung aus dem Wort Radfahrer ist Weil radfahren ein Wort ist, sollte es eine Ableitung Radfahrer bilden.

Damit ist das Vorhandensein eines entsprechenden Substantivs so oder so notwendige Bedingung für ein Wort. Hinreichend ist sie nicht. In Fällen wie Kritik üben, Partei ergreifen (diese werden in diesem Kapitel auch den Tests unterzogen, Tabelle 2.2) sind derartige Wortbildungen nicht ausgeschlossen: ?Kritikübung, ?Parteiergreifung, Parteiergreifer, ???Flaggezeiger, Gefahrlaufer – Gefahrläufer. Diese können Komposita sein, aus Partei und Ergreifung (wie Machtergreifung).

2.3 Zur Kategorisierung der substantivischen Einheiten In diesem Abschnitt stelle ich zusammen, was die einzelnen Tests zu der Ausgangsfrage sagen, ob rad in radfahren ein selbstständiges Substantiv, ein substantivisches Erstglied, eine Verbpartikel ist. Um die substantivischen Einheiten einordnen zu können, müssten auch diese drei Lösungen näher beschrieben werden. Es geht ja darum, die zur Rede stehenden Einheiten mit prototypischen Vertretern der Kategorien vergleichen zu können. Im folgenden werde ich für die Kategorien ausgewählte Eigenschaften nennen, ohne eine grundsätzliche Diskussion von Wortarten an und für sich zu führen. Vielmehr soll die Ausgangsfrage und die gewählte Methode im Mittelpunkt stehen. Im Prinzip könnte man es so fassen: Wie würden sich prototypische Vertreter der einzelnen Kategorien in den Tests verhalten? Dabei stehen formale und nicht semantische Kriterien im Vordergrund. Für die Charakteristik von Substantiven geben traditionellen Grammatiken viele Hinweise, für die Charakteristik von Verbpartikeln gibt es zahlreiche aktuelle Forschungsliteratur. Substantivische Erstglieder hingegen sind in ihren Besonderheiten wenig beschrieben. 2.3.1 Vergleich mit Substantiven Für Substantive finden sich in den Grammatiken folgende Charakteristiken: – Substantive referieren. – Substantive haben Genus.

56 – Substantive flektieren nach Kasus. – Substantive flektieren nach Numerus. – Substantive können definit sein. Die vorgestellten substantivischen Einheiten referieren in der zur Diskussion gestellten Form nicht. Manche können referieren, indem sie einen definiten Artikel oder ein Attribut nehmen. Aber in der angesprochenen Substantiv-Verb-Verbindung referieren sie gerade nicht. Die, die keinen Artikel nehmen können, referieren wohl auch nicht. Definitheit ist hier zunächst semantisch gemeint, sie zeigt sich syntaktisch in der Möglichkeit des definiten Artikels, der in den gegebenen Fällen ausgeschlossen ist. In dem Test mit kein habe ich nachgewiesen, dass die substantivischen Einheiten kein Genus haben; eine Eigenschaft, die sonst nur bei den Pluraliatantum zu finden ist. Sie flektieren nicht nach Numerus, denn es heißt nicht wir fahren räder, wir schwimmen brüste, obwohl sicherlich mehrere Räder gemeint sind, wenn mehrere Leute radfahren. Ob sie nach Kasus flektieren, kann man nicht sicher verneinen, es gibt aber viele Hinweise, dass sie es nicht tun. Man kann es nicht verneinen, weil es ja um die Verbindung der Einheit mit einem bestimmten Verb geht. Wenn sie eine syntaktische Funktion ausfüllen würde als Ergänzung zu dem entsprechenden Verb, wäre diese syntaktische Funktion ja gerade gleichbleibend. Die zur Rede stehende syntaktische Funktion war Akkusativergänzung bzw. direktes Objekt. Nun unterscheiden sich akkusativische Formen von nominativischen Formen bzw. von einem Stamm im Deutschen nur bei den schwachen Maskulina. Ein schwaches Maskulinum war aber nicht bei den Fällen dabei, selbst Wurzels Liste mit 395 mehr oder weniger spontanen Bildungen enthält kein diesbezüglich aussagekräftiges Beispiel. Eine endgültige Aussage zum Kasus ist hier nicht möglich, aber nach den Beobachtungen ist eine Flexion nach Kasus nicht zu erwarten. Damit haben die substantivischen Einheiten keine der typischen Eigenschaften von Substantiven. 2.3.2 Vergleich mit anderen substantivischen Erstgliedern Substantivische Erstglieder sind in ihrem Verhalten wenig beschrieben. Sie werden im allgemeinen im Zusammenhang mit den Komposita betrachtet. Hier wird seltener die Frage gestellt, wie sie sich verhalten, sondern es wird eher untersucht, was sie zur Gesamtheit des Wortes beitragen, insbesondere auf semantischer Ebene. Es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass sie kaum unter ihrem Verhaltensaspekt betrachtet werden, denn sie haben zum Beispiel in Substantiv-Substantiv-Komposita kein offensichtliches selbstständiges Verhalten. Die Substantiv-Verb-Verbindungen stehen wie gesagt im Verdacht, Komposita zu sein. Als solche wären sie trennbare Komposita, etwas durchaus Unübliches für das System des Deutschen. Aus diesem Grunde können wir sozusagen gar nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen, wegen der fehlenden Vergleichbarkeit. Man kann aber Thesen über das Verhalten ableiten. Ich gehe hier direkter vor: Bei jeder auftretenden Eigenschaft der substantivischen Einheiten ist zu überlegen, ob diese jeweilige Eigenschaft zu einem (frei vorkommenden) substantivischen Erstglied passen würde. Zunächst zu substantivischen Erstgliedern in nicht-verbalen Komposita: (16) a. Tischbein, Haustür, b. Versicherungsvertreter c. himmelblau

57 Die genannten Beispiele sind sogenannte Determinativkomposita. Für typische Determinativkomposita gilt, dass sie die Begriffsextension einschränken, das heißt eine Haustür ist eine Teilmenge der Türen (Eisenberg 2004a: 226). Für die genannten Beispiele kann man das so annehmen. In a. handelt es sich um typische Substantiv-Substantiv-Komposita. b. hat zwei Besonderheiten, erstens hat es ein Fugenelement und zweitens ist es ein Rektionskompositum. Bei den Substantiv-Substantiv-Komposita können Rektionskomposita als Teilmenge der Determinativkomposita gesehen werden: Die Menge der Versicherungsvertreter ist eine Teilmenge der Menge der Vertreter. In c. handelt es sich um ein SubstantivAdjektiv-Kompositum, hier ist eine Definition über die Menge nicht angebracht. Dennoch bestimmt das Erstglied das Zweitglied näher (das Kleid ist blau, und zwar himmelblau). Die Erstglieder referieren nicht, sie determinieren. Sie verweisen nicht auf etwas in der Welt, sondern sie bestimmen das Zweitglied näher, in welcher Weise auch immer. Dies kann durchaus auf die Substantiv-Verb-Verbindungen übertragen werden. Radfahren ist eine spezielle Art des Fahrens. Noch deutlicher wird es bei Brustschwimmen als spezielle Art des Schwimmens. Damit hängt auch zusammen, dass prototypische substantivische Erstglieder keinen Artikel nehmen können. Für das gesamte Wort ist nur ein Artikel möglich, sofern es sich insgesamt um ein Substantiv handelt. Dieser Artikel wird in der Form vom Letztglied regiert. Substantivische Erstglieder sind im allgemeinen nicht erweiterungsfähig, vereinzelte Beispiele wie gelbe Erbsensuppe sind allerdings zu finden. An anderen Beispielen ist zu erkennen, dass sich das Attribut möglicherweise in der Bedeutung auf das Erstglied bezieht, aber nicht in der Flexion: verregnete Feriengefahr, erhöhtes Spannungsverhältnis (Beispiele nach Eisenberg 2004a: 359f.). Bei dem Beispiel erhöhtes Spannungsverhältnis wird eindeutig nach dem Zweitglied flektiert. Die Attributbeziehung zum Erstglied besteht in der Bedeutung, aber nicht in der Form. Substantivische Erstglieder flektieren im allgemeinen nicht. Die Diskussion über die Fugenelemente kennen wir. Auch hier müssen nur die produktiven Fugenelemente betrachtet werden: -s ist keine Genitivendung in Lieblingsgetränk und Versicherungsvertreter. Bei den schwachen Maskulina werden die Kompositionsstammformen mit -en gebildet, aber auch diese zeigen keinen Kasus. Beim Plural gibt es wohl immerhin die Möglichkeit, einige bilden eine Pluralform, wenn Plural auch gemeint ist. Häufig kommt dies vor bei sogenannten Zusammenrückungen wie Händewaschen, Zähneputzen (aber Zahnbürste), typischerweise ein substantivischer Infinitiv oder ein (anderes) deverbales Zweitglied. Die meisten substantivischen Erstglieder treten nicht in der Pluralform auf. Substantivische Erstglieder sind typischerweise nicht flektierbar, die Erstglieder mit Fugenelement sind Kompositionsstammformen (ausführlich zu den Fugenelementen Fuhrhop 1998: 187ff.). Haben substantivische Erstglieder Genus? Diese Frage hat die Sprachwissenschaft bisher wohl nicht interessiert. Man hat ja auch keinerlei Evidenz: Das Genus der Substantive wird an ihren Begleitern sichtbar, substantivische Erstglieder haben keine Begleiter, folglich sieht man nicht, ob sie Genus haben oder nicht. Anders ist das in unserem Fall, die Nichtflektiertheit von kein kann ja genau so interpretiert werden: kein ist unflektiert, weil es sich um ein substantivisches Erstglied eines trennbaren Verbs handelt. In dem obengenannten Beispiel erhöhtes Spannungsverhältnis finden wir diesbezüglich einen deutlichen Hinweis. Obwohl sich das Attribut in der Bedeutung auf das Erstglied bezieht, flektiert es nach dem Zweitglied, dies wird deutlich am Genus. Damit hat das Erstglied zumindest kein Genus, das in irgendeiner Weise sichtbar werden würde.

58 Die Eigenschaften für Substantive, die ich aus Grammatiken zusammengesucht habe, treffen für substantivische Erstglieder nicht zu. Sie gelten offenbar ausschließlich für selbstständige Substantive. Vorfeldfähig sind im allgemeinen nur Satzglieder, bei getrennt auftretenden substantivischen Erstgliedern ist Vorfeldfähigkeit eher unwahrscheinlich. Dass mit nicht negiert werden kann, ist auch zu erwarten, das verbale Kompositum wird damit negiert. Die Bildung der Verbalklammer ist bei Verbalkomposita zu erwarten. Die einzige Eigenschaft, die konkret gegen die Interpretation als Kompositum spricht, ist die fehlende Kombinierbarkeit. Das heißt dann, dass die Substantiv-Verb-Komposition offenbar nicht produktiv ist. Ich stimme hier Eschenlohrs (oder Wunderlichs 1987b) Analyse zu, die diese Verbindungen als ‚Komposita ohne Komposition‘ bezeichnen. 2.3.3 Vergleich mit Verbpartikeln Wie sich prototypische Verbpartikeln verhalten, ist in Abschnitt 6.2 beschrieben. Sie wurden als ‚wortartiger Pol‘ in der Tabelle angegeben. Das Verhalten der Verbpartikeln bezüglich der Tests ist dort klar abzulesen: Die Negation geschieht mit nicht, sie haben Einfluss auf die Valenz, sie sind klammerbildend, nicht unterbrechbar im Nebensatz und nicht vorfeldfähig. Die Verbpartikeln sind weniger selbstständig als die substantivischen Einheiten. Ansonsten sind durchaus einige (tendenzielle) Unterschiede zu den substantivischen Einheiten zu erkennen. Somit ist rad in radfahren wohl keine Verbpartikel. 2.3.4 Substantiv-Verb-Komposita Vieles spricht dafür, die substantivischen Einheiten als substantivische Kompositionserstglieder zu betrachten. Wenn sie dennoch einige Eigenheiten haben, die sie auch in dieser Gruppe auffällig machen, so ist das ihrer Trennbarkeit geschuldet. So können sie mit kein negiert werden; dies gilt nicht allgemein für substantivische Erstglieder. Beispielsweise kann himmel in himmelblau nicht mit kein negiert werden. Durch ihr getrenntes Vorkommen entwickeln sie auch Eigenschaften von selbstständigen Substantiven. Entsprechend ist ihre (eingeschränkte) Vorfeldfähigkeit zu bewerten. Die anderen Eigenschaften machen sie aber relativ eindeutig zu substantivischen Erstgliedern. Insofern ist es schon verwunderlich, dass hier nicht mehr Bildungen möglich sind und der Wortbildungstyp nicht zumindest eine gewisse Produktivität entwickelt. Wurzel hat eine Liste von 395 Belegen gesammelt. Dies sind spontane Äußerungen. Die meisten kommen in nicht-getrennter Position vor oder nur morphologisch getrennt: er hat die Elektronen schockgefroren (Info-Radio, 13. 10. 1998). Viele bleiben untrennbar: der Bundeskanzler wortprasselte (ND, 21.7.1993); einige kommen aber auch getrennt vor: Männer wählen Protest (ND, 10.9.1998).9 Offenbar spielen hier nicht unbedingt prosodische Gründe die Hauptrolle, zum Beispiel die Beschränkung auf Einsilbigkeit. Schon zu den von mir gewählten Beispielen gehören

9

Asdahl-Holmberg (1976) ist die erste umfangreiche Untersuchung zu dem Themenkomplex. Sie untersucht wesentlich die untrennbaren Verbindungen: bildhauern, schriftstellern usw.

59 einige zweisilbige (klavier, schlittschuh). Nach der Analyse der substantivischen Einheiten als Erstglieder möchte ich hier eine andere Vermutung formulieren: Weil die substantivischen Einheiten getrennt stehen, müssen sie als Erstglieder natürlich analysierbar und erkennbar sein. Dies geschieht durch ihren Bedeutungszusammenhalt mit dem Verb. Es ist wohl kein Zufall, dass hier so viele Bewegungsverben vorkommen: ich laufe – wie läufst du? ich laufe schlittschuh, eis, rollschuh usw. ich fahre – wie fährst du? – ich fahre rad, auto, bus bahn, schiff usw. Es ist typisch für einen Bus, das man damit fährt, der Zusammenhalt ist aufgrund der Bedeutung leicht zu erkennen. Bei ich rechne bruch gehört hier schon eine ganze Menge mehr an Wissen dazu. Der Bedeutungszusammenhalt ist ein Indiz. Ein anderes Indiz ist, dass die Verben die Analyse als Objekt praktisch nicht zulassen. Männer wählen Protest ist diesbezüglich schnell doppeldeutig. Die Verben in den usualisierten Verbindungen sind typischerweise einstellige (Bewegungs-)Verben, in diesem Sinne auch Wunderlich (1987b: 98): „bei ihnen kann ein freies N nicht als direktes Objekt mißverstanden werden.“ 2.3.5 Entstehensprozess und die Interpretation als ein Wort Als Wörter sind viele der untersuchten Substantiv-Verb-Verbindungen grammatisch und als syntaktische Phrase gerade nicht! Insofern sind sie vom Prozess her das Gegenteil der Univerbierung: bei dieser wächst zusammen, was häufig zusammensteht. Bei der Rückbildung ist das Besondere die Trennung. Es kann entsprechend auch als Gegenprozess zur Inkorporation gesehen werden: ein Bestandteil eines Wortes wächst heraus und kann zum Teil Objektcharakter annehmen. Es ist vorher gerade kein Objekt. Zum Abschluss der Untersuchung zu Substantiv-Verb-Verbindungen werden diese mit den sogenannten Funktionsverbgefügen verglichen.

2.4 Die ‚Funktionsverbgefüge‘ des Typs Partei ergreifen Die Substantiv-Verb-Verbindungen des Typs radfahren, eislaufen zeigen viele Merkmale von Komposita. Es spricht viel dafür, sie jeweils als Wörter zu beschreiben. Sind sie aber durch die Tests hinreichend zu erkennen? Unterscheiden die Tests die verbalen Komposita von den Syntagmen des Typs Partei ergreifen? Auch Jacobs (2001: 11) und Pittner (1998: 105) stellen explizit diese Frage. Formal vergleichbar sind sie, weil es sich erstens auch um Substantiv-Verb-Verbindungen handelt, zweitens das Substantiv artikellos erscheint und drittens es sich um Substantive handelt, die nicht immer artikellos erscheinen können (wie zum Beispiel Stoffsubstantive oder Eigennamen), sondern insbesondere artikellos vorkommen in Verbindung mit bestimmten Verben. Ich erfasse sie zunächst mit den Tests.

ich ergreife die gelegenheit

?ich baue nicht mist

ich baue ein haus

??ich baue mist am liebsten

ich bekenne farbe am liebsten

?ich erkenne ?ich laufe die/ ich laufe ich laufe gefahr eine gefahr große gefahr keine gefahr

ich laufe gefahr

ich nehme nicht rücksicht

ich laufe nicht gefahr

ich leiste ich leiste keinen ersatz nicht ersatz

ich leiste den/ ich leiste einen ersatz genauen ersatz

?ich zahle ersatz

ich nehme keine rücksicht

ich leiste ersatz

ich nehme große rücksicht

?ich nehme die/ eine rücksicht

ich verlange rücksicht

farbe will er in der Sitzung bekennen

kritik soll er an ihr üben

ich leiste meinen sold

??ich laufe gefahr am stärksten

??ich leiste ersatz am liebsten

*dass ich ge- gefahr werde fahr am st. ich wohl laufe wieder laufen

*dass ich ersatz werde ersatz immer ich bald leiste leisten

rücksicht soll ich nehme die ??ich nehme *dass ich rücksicht am rücksicht am er endlich schokolade liebsten liebsten übe nehmen

?dass ich kritik am liebsten übe

?dass ich mist mist will er am liebsten nicht mehr baue bauen

?dass ich farbe am l. bekenne

partei wird er für ihn ergreifen

dass ich flagge will er flagge am deutlich liebsten zeige zeigen

??ich ergreife ?dass ich partei am partei am l. liebsten ergreife

ich zeige das ??ich zeige tuch flagge am liebsten

5. Verb tran- 6. immer 7: unterbrech- 8. vorfeldsitiv? Klammer? bar im Ns.? fähig infinit?

?ich bekenne ich bekenne nicht farbe meine lüge

ich ergreife nicht partei

?ich zeige nicht flagge

4b. nicht?

ich übe hefti- ich übe keine ich übe nicht ich übe gram- ??ich übe ge kritik kritik kritik matik kritik am liebsten

ich nehme rücksicht

ich übe kritik ich verlange/ ich übe die/ schätze kritik eine kritik

ich baue keinen mist

?ich bekenne ??ich beken- ich bekenne eine/die farbe ne die jetzige keine farbe farbe

ich baue den/ ich baue ich baue mist ich häufe mist, ich sehe einen mist großen mist mist

ich bekenne farbe

ich ergreife die/ seine partei

?ich nehme partei

ich ergreife partei

??ich ergreife ich ergreife die größere keine partei partei

ich zeige die/ ich zeige eine ich zeige eine flagge weiße flagge keine flagge (andere Bed.) (andere Bed.)

*ich hebe flagge

4a. kein?

ich zeige flagge

3. erweiterbar?

2. artikelfähig?

1. andere Verben?

Tabelle 2.2: Grammatikalitätsurteile für andere Substantiv-Verb-Verbindungen

60

61 Interpretation von Tabelle 2.2 Die genannten Beispiele sind in gewisser Weise gemischt. Zum einen handelt es sich um Kombinationen von Substantiven und sogenannten Funktionsverben wie Kritik/ Verrat/ Zurückhaltung üben (Pittner 1998: 105); man kann diese als Funktionsverbgefüge bezeichnen, diese Konstruktionen werden nicht von allen Autoren einheitlich so genannt. Manche beschränken den Begriff des Funktionsverbgefüges auf Konstruktionen mit einer Präposition: zur Diskussion stellen, zur Anwendung bringen usw. Unabhängig von der Benennung liegt folgendes vor: Einige Substantive, die ‚eigentlich‘ einen Artikel nehmen, die also weder Stoffsubstantive noch Eigennamen sind, werden ohne Artikel verwendet und offenbar werden auch sie in Kombination mit bestimmten Verben ohne Artikel verwendet. Auch hier handelt es sich um bestimmte Eigenschaften von speziellen Substantiv-Verb-Kombinationen. Eine zweite Gruppe sind ‚idiomatisierte Verbindungen‘ (so Pittner 1998: 105) wie Flagge zeigen, Farbe bekennen, Mist bauen, Gefahr laufen. Zum Teil enthalten sie Stoffsubstantive (zum Beispiel Mist), die Artikellosigkeit ist nicht weiter verwunderlich. Auswertung Test 1: Andere Verben: Bei den ‚idiomatisierten Wendungen‘ ist keine freie Kombinatorik zu erwarten, bei den ‚Funktionsverbgefügen‘ grundsätzlich schon; allerdings sind die Funktionsverben an sich stark beschränkt: er nimmt rücksicht, er fordert rücksicht, er verlangt rücksicht. Auswertung Test 2: Artikel? Fast alle der genannten Beispiele können Artikel nehmen; hier unterscheiden sie sich deutlich von unseren Fällen, wo nur sehr wenige den Artikel nehmen können. Auswertung Test 3: Erweiterbar? Die Erweiterbarkeit ist auch hier stark eingeschränkt, insbesondere bei den ‚idiomatisierten‘ Wendungen. Diese Einschränkung ist von der Bedeutung her zu erklären. Auswertung Test 4a: Kein? Alle können mit kein negiert werden. Dies entspricht der Artikelfähigkeit. Der wesentliche Unterschied zu den Substantiv-Verb-Komposita ist die Flexion von kein. Auswertung Test 4b: Nicht? In den meisten Fällen geht auch nicht; das zeigt die Zusammengehörigkeit von Verb und

62 Substantiv. Nicht geht aber nicht in allen Fällen: nach meinen Grammatikalitätsurteilen geht zum Beispiel *ich zeige nicht flagge nicht, aber auch *ich zeige flagge nicht ist ungrammatisch. Allein die Wortstellung kann es also nicht sein. *Ich baue nicht mist. Mist ist ein Stoffsubstantiv und verhält sich hier ‚normal‘. Betrachten wir es anders herum: bei welchen kann die Negation mit nicht gebildet werden? These: die mit Funktionsverben können ihre Negation mit nicht bilden. (17)

a. ich nehme nicht notiz, ich nehme nicht rücksicht, b. ich übe nicht kritik, ?ich übe nicht zurückhaltung c. ich trage dem nicht rechnung,.....

Auch Funktionsverbgefüge verhalten sich nicht einheitlich. Besonders deutlich wird dies in der Auflistung von Helbig/ Buscha (2001: 70ff.). Nicht alle Funktionsverbgefüge können gleichermaßen mit nicht negiert werden. Es kann damit geradezu ein Kriterium sein, die Funktionsverbgefüge intern zu ordnen. Dennoch macht die Zusammenschau meines Erachtens deutlich: die Möglichkeit von nicht zeigt die Zusammenrückung von Verb und Substantiv. Je enger die beiden zusammengehören, desto eher geht nicht. Auswertung Test 5: Nimmt das Verb ein direktes Objekt? Hier ist wohl der deutlichste Unterschied zu den Substantiv-Verb-Komposita zu sehen. Die zugrundeliegenden Verben nehmen bei diesen Substantiv-Verb-Verbindungen ein direktes Objekt (mit Ausnahme von laufen). Damit ist die Interpretation der Substantive als Verbergänzung möglich. In Gefahr laufen wird das Verb in einer übertragenen Bedeutung verwendet. In den Tests verhält es sich grundsätzlich anders als zum Beispiel in schlittschuhlaufen. Wie oben (Abschnitte 2.1 und 2.2) diskutiert, kann man hier auch überprüfen, ob die Valenzstelle ‚zusätzlich‘ noch einmal besetzt werden kann, wie zum Beispiel *ich bekenne mich farbe, *ich übe die vorlesung kritik. Dass dies nicht geht, zeigt, dass die entsprechenden Substantive die von den Verben geforderte Ergänzung sind. Auswertung Test 6 und 7: Verbalklammer und Unterbrechbarkeit im Nebensatz Im Hauptsatz bilden sie alle die Verbalklammer und im Nebensatz lassen sie sich schlecht unterbrechen. Auch hier wird die enge Zusammengehörigkeit von Verb und Substantiv deutlich. Auswertung Test 8: Vorfeldfähigkeit Nach den gegebenen Grammatikalitätsurteilen sind die Substantive in diesen Beispielen uneingeschränkt vorfeldfähig. Gefahr laufen verhält sich in zweierlei Hinsicht anders als die anderen Beispiele: es kann nicht Objekt sein und es ist nicht artikelfähig, insofern ist die Interpretation als Phrase hier nicht ganz so deutlich, der substantivischen Einheit kann nicht ohne weiteres eine syntaktische Funktion zugewiesen werden. In dieser Beziehung verhalten sie sich wie die hier dis-

63 kutierten Fälle; in anderer Hinsicht sind aber deutliche Unterschiede zu erkennen: es nimmt nur flektiertes kein (*ich laufe kein gefahr) und es ist uneingeschränkt vorfeldfähig. Die Tests zeigen deutlich, dass es sich bei den Substantiven in den diskutierten „Funktionsverbgefügen“ um selbstständige Substantive handelt im Gegensatz zu den Beispielen um radfahren. Der springende Punkt ist hier meines Erachtens für die meisten, dass sie Objekte sind, im Satz also eine syntaktische Funktion ausfüllen. Sie unterscheiden sich in noch einem wesentlichen Punkt von den Verbindungen des Typs radfahren: In der Reihe des ersten Typs sind die Erstglieder Konkreta (rad, klavier, brust, eis, kopf), beim zweiten Typ sind sie Abstrakta (partei, gefahr, rücksicht,...) oder sie werden abstrakt genutzt wie flagge in flagge zeigen oder farbe in farbe bekennen. Das Grundmerkmal der Konstruktionen ist in beiden Fällen in der Artikellosigkeit zu sehen: Die Einheiten fordern in anderen Umgebungen einen Artikel. Nur in Umgebung mit einem bestimmten Verb tauchen sie artikellos auf, zum Teil sind sie noch nicht einmal artikelfähig. Dass die Artikellosigkeit umgebungsabhängig ist, unterscheidet sie von Stoffsubstantiven und anderen Substantiven, die systematisch ohne Artikel auftreten. Offenbar können Abstrakta eher artikellos als Konkreta auftreten. Die Regeln dafür sind meines Wissens noch nicht systematisch beschrieben. Dennoch ist es so, dass Abstrakta eher artikellos erscheinen als Konkreta (dazu zum Beispiel Vater 2000).

2.5 Schluss Die Substantiv-Verb-Verbindungen des Typs radfahren, eislaufen sind verbale Komposita. Die überwiegende Zahl der Tests spricht dafür, die substantivischen Einheiten als substantivische Erstglieder zu betrachten. Es sind trennbare Komposita, was untypisch für Komposita im Deutschen ist, aber typisch für verbale Verbindungen, so für die Partikelverben. Die Substantiv-Verb-Komposition im Deutschen ist nicht systematisch produktiv. Einzelne (spontane) Neubildungen sind möglich. Ein typischer Weg zur Bildung dieser Komposita ist die Rückbildung. Damit behaupte ich auch, dass Rückbildung zwar systematisch erfasst werden kann, aber gerade nicht systematisch produktiv wird. Formal (scheinbar) sehr ähnliche Konstruktionen wie Kritik üben und Partei ergreifen unterscheiden sich von den vorliegenden dadurch, dass hier die Substantive eine syntaktische Funktion haben können. Konstruktionen wie radfahren können erst als Syntagma analysiert werden, wenn die substantivischen Einheiten eine syntaktische Funktion bekommen, sie also zum Beispiel als Objekt (re-) analysiert werden können.

3. Adjektiv-Verb-Verbindungen: weich kochen und krankschreiben

Sind Adjektiv-Verb-Verbindungen wie weich kochen und krankschreiben1 Wörter oder Syntagmen? Für beide Interpretationen gibt es Argumente, wie in diesem Kapitel dargelegt wird. Die untersuchten Adjektiv-Verb-Verbindungen entsprechen nur teilweise den üblichen syntaktischen Beziehungen zwischen einem Verb und einem unflektierten Adjektiv. Als übliche Beziehungen können die folgenden gelten: – Ein Adjektiv ist Adverbial zu einem Verb. Das Adjektiv ist in den meisten Fällen fakultativ: sie singt schön, er läuft schnell. – Ein Adjektiv ist Ergänzung zum Verb; es ist vom Verb regiert. Das ist typisch für Kopulaverben wie in er ist sauer, aber selten bei Vollverben wie in sie sieht gut aus.

In den hier betrachteten Fällen gehen Adjektive zum Teil engere Verbindungen mit Verben ein; sie sind aber nicht regiert im eigentlichen Sinne. Als Ausgangspunkt können Adverbiale gelten des Typs sie kocht die Kartoffeln weich – syntaktisch ist weich Adverbial. Das Besondere an Fällen wie diesen ist, dass das Objekt die Eigenschaft ‚weich‘ als Resultat der Verbalhandlung erhält (resultative Objektsprädikative2). Syntaktisch handelt es sich um eine freie Angabe, doch von der Bedeutung her erscheint die Beziehung zwischen Verb und Adjektiv enger. Eine Parallele zu Partikelverben zeigt sich hier schon in der Wortstellung, denn *sie kocht weich die Kartoffeln ist keine mögliche Wortstellung (*sie fängt an mit dem Schreiben). Die Wortstellung mag hier damit zusammenhängen, dass zunächst das Objekt genannt werden muss, dem die Eigenschaft zukommen soll. Bei anderen Konstruktionen zeigen sich weitere Besonderheiten, so ist zum Beispiel bei vielen Objektprädikativkonstruktionen die Valenz verändert: *der Dozent redet die Studenten – der Dozent redet die Studenten müde. In diesen Fällen ist das Adjektiv nicht einfach Adverbial zum Verb, denn Verb und Adjektiv entwickeln die Valenz gemeinsam. Dieses Verhalten zeigt einen engen Zusammenhang zwischen Verb und Adjektiv und kann als eine ‚Wort‘-Eigenschaft gedeutet werden. Aus dieser Konstruktion ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, einzelne Wörter oder Wortreihen zu bilden. So ergeben sich reihenbildende erste Bestandteile (fest, leer, tot und voll) und reihenbildende zweite Bestandteile (stellen und machen). Häufig entwickeln diese dann eine spezielle Bedeutung, sie sind in dem Sinne nicht mehr resultativ wie zum Beispiel vollquatschen, das vom Objekt Bezeichnete ist hinterher nicht im eigentlichen Sinn ‚voll‘. 1

2

Zur Schreibweise: Bei den Substantiv-Verb-Verbindungen habe ich grundsätzlich Kleinschreibung gewählt; wie substantivisch eine Einheit ist, wurde dabei offengelassen. Bei der Zusammen- und Getrenntschreibung ist eine solche ‚Einheitslösung‘ nicht möglich. Bei den Substantiv-VerbVerbindungen habe ich mich daher dafür entschieden, immer zusammenzuschreiben (bis auf ‚Funktionsverbgefüge‘ des Typs Partei ergreifen, Gefahr laufen). Bei den vorliegenden Fällen erscheint mir eine Entscheidung schwieriger. Ich werde hier also implizit schon meine ‚Lösung‘ einführen: Adverbial getrennt, Ergänzung getrennt, durchsichtige Resultativkonstruktionen getrennt, alle anderen zusammen. Dies sind bevorzugte Schreibungen aber nicht die einzig möglichen, s. auch Kapitel 11. Zu begrifflichen Problemen, s. Helbig (1984) und Pütz (1982). Beide stellen die Konstruktion in Zusammenhang mit vielen anderen und grenzen sie hierbei begrifflich ein.

65 Daneben gibt es auch einzelne Verbindungen wie krankschreiben, schönreden. Diese sind in sich nicht einheitlich und bei ihnen spricht sicher viel dafür, sie als Wörter und nicht als Syntagmen zu betrachten. Kurzum sei folgende These vorangestellt: Nur die, die der genannten Resultativkonstruktion entsprechen, sind als Syntagmen anzunehmen, die anderen als Wörter. Auch hier geht es wie bei den anderen Untersuchungen in dieser Arbeit zunächst um die Ermittlung von Worteigenschaften und Syntagmaeigenschaften. Zum Teil habe ich die Eigenschaften schon bewertet, im Laufe der Untersuchung wird dies noch deutlicher werden. Die Resultativkonstruktionen werden in der Generativen Grammatik häufig unter dem Stichwort ‚Small clause‘ behandelt (s. zum Beispiel Neeleman/ Weermann 1993). Damit ist folgendes gemeint: Objekt und Adjektiv bilden zusammen ein ‚Prädikat‘ (Kartoffeln weich), über Transformationen wird dies in den entsprechenden Satz eingefügt (Karl kocht die Kartoffeln weich).3 Wenn man so argumentiert, bilden Verb und Adjektiv gerade keine Einheit. Grobe Einteilung der Adjektiv-Verb-Verbindungen Folgende Gruppen werden untersucht: a. Objektsprädikative, die Adverbiale sind: blank putzen, flach drücken, gelb färben, grün streichen, klein schneiden, weich kochen b. Objektsprädikative, in denen die grammatische Valenz vom Verb bestimmt wird, das Adjektiv aber Einfluss auf die konkrete Besetzung hat von der Bedeutung her: leer kaufen – ich kaufe den Laden ≠ ich kaufe den Laden leer, leer essen – ?ich esse den Teller – ich esse den Teller leer c. Objektsprädikative, in denen Verb und Adjektiv syntaktisch gemeinsam die Valenz bestimmen: kalt pusten: ???ich puste den Happen – ich puste den Happen kalt d. Reflexive ‚Objektsprädikative‘: sich gesund essen, sich heiser singen, sich schief lachen, sich satt essen, sich warm laufen: er singt heiser – er singt sich heiser e. Reihenbildende Verben in den Adjektiv-Verb-Verbindungen: stellen und machen – zufrieden stellen, kaputt machen f. Reihenbildende Adjektive in den Adjektiv-Verb-Verbindungen: leer, voll, tot, fest g. Vergleichbare Fälle (aber keine durchsichtigen Resultativkonstruktionen), zu denen sich Wortbildungen finden: freischwimmen, krankschreiben, gutschreiben, freisprechen – hochrechnen, guthaben h. Fälle, die Rückbildungen sein können, intransitiv: schwarzarbeiten, fernsehen i. Transitive Restfälle: genaunehmen, lahmlegen, wahrnehmen, schwernehmen j. Intransitive Restfälle mit Dativergänzung: schwerfallen, fernliegen, gutgehen

In (a)-(c) handelt es sich um Objektsprädikative: die Konstruktionen nehmen ein Akkusativobjekt und das Adjektiv ist mit abgeschlossener Verbalhandlung eine Eigenschaft des Objekts (er putzt den Boden blank, er isst den Teller leer, er pustet das Essen kalt). In (d) handelt es sich um Reflexivkonstruktionen, auch hier steht das Reflexivpronomen im Ak3

Mit der Small-Clause-Analyse wird der Transitivierungseffekt der Konstruktionen beschrieben, so zum Beispiel Lüdeling (2001: 130) für Partikelverben: „A small clause analysis for these constructions seems attractive since it could explain the transitivization effects that many particles have: the small clause predicate – the particle – introduces its own subject.”

66 kusativ und das Adjektiv bezieht sich auf die Person (er schläft sich gesund), sie sind den Konstruktionen in (a)-(c) durchaus vergleichbar. (e) nennt die beiden reihenbildenden Verben, die Gruppen an sich sind nicht homogen, zum Teil entsprechen sie der Resultativkonstruktion, zum Teil nicht (er stellt seine Frau zufrieden, er macht die Vase kaputt), s. Abschnitt 3.5. In (f) stehen Verbindungen mit Adjektiven, die derartigen Konstruktionen häufig vorkommen. Auch diese Gruppe ist keineswegs homogen, zum Teil sind sie Resultativkonstruktionen, zum Teil verhalten sie sich präfixartig und zum Teil beinhalten sie einzelne lexikalisierte Bildungen (festschrauben – feststellen), s. Abschnitt 3.4. In (g) stehen schließlich solche Bildungen, die in keine der vorangegangenen Gruppen passen, zu denen es aber Wortbildungen gibt: Freischwimmer, Krankschreibung, Freispruch und formal verändert Gutschrift. Einige der in (g) genannten Fälle beziehen sich allerdings auf ein Substantiv auf -en, eine Form, bei der man jeweils überlegen kann, inwieweit es substantivierte Infinitive sind: Hochrechnen, Guthaben. Zu den vorher genannten Gruppen gibt es im allgemeinen keine ‚passenden‘ Wortbildungen wie *Blankputzer, *Blankputzung, *Weichkocher, *Warmläufer. Dieser Umstand ist zu interpretieren. Die Fälle in (h) können Rückbildungen sein (von Schwarzarbeit, Fernseher), im Gegensatz zu den Bildungen in (g) sind sie aber intransitiv. Wenn sie durch Rückbildung entstanden sind, bringen sie ihre ‚Wortartigkeit‘ durch ihre Entstehung mit, entsprechend den Substantiv-Verb-Verbindungen in Kapitel 2. Die transitiven Restfälle in (i) sind alle solche mit dem Verb nehmen – hier sind weniger Bildungen vorhanden, ansonsten könnte es in Zusammenhang mit stellen und machen behandelt werden. In (j) handelt es sich um die Restklasse, die hier nicht weiter behandelt wird. Einordnung in die Adverbialkonstruktion Ausgangspunkt für die Untersuchung sind Konstruktionen wie Karl kocht die Kartoffeln weich, Fritz putzt den Boden blank. Die Adjektive in diesen Konstruktionen sind Adverbiale, sie zeichnen sich durch eine besondere Interpretation aus, es sind sogenannte Objektsprädikative. Durch die im Verb beschriebene Handlung wird dem Objekt die durch das Adjektiv bezeichnete Eigenschaft zugefügt. Syntaktisch analoge Konstruktionen ohne diese spezielle Interpretation sind zum Beispiel Karl trinkt den Kaffee heiß (s.unten). Semantisch analoge Interpretationen sind zum Beispiel Pavarotti singt das Publikum aus dem Saal. (Zifonun u.a. 1997: 1117) , s. Abschnitte 3.2 und 3.3. Im folgenden möchte ich zunächst den Bezug des Adjektivs auf das Objekt verdeutlichen. Die Adjektive stehen hier in der Funktion des Adverbials. Grundsätzlich stehen im Nachbereich von Adverbialen Verben oder Sätze (Eisenberg 2004b: 49). Bei den Adverbialen, die sich syntaktisch auf das Verb beziehen, sind inhaltlich verschiedene Bezugsmöglichkeiten gegeben: (1) a. Karl trinkt den Kaffee schnell b. Karl trinkt den Kaffee heiß c. Karl trinkt den Kaffee müde

In (1a) ist der Vorgang schnell, schnell bezieht sich inhaltlich auf das Verb, in (1b) ist der Kaffee heiß, in (1c) ist wahrscheinlich Karl müde (Beispiele nach Teuber 2001: 201, ähnliche Beispiele auch in Vogel 1997: 410f.). Die Interpretationen geschehen aufgrund des Weltwissens. Die für uns interessanten Fälle sind von der Struktur her eine Teilmenge von

67 adverbialen Adjektiven, die sich auf das Objekt beziehen, also eine Teilmenge von (1b). In dem konkreten Beispiel in (1b) besteht allerdings keine inhaltliche Verbindung von Verb und Adjektiv: heiß ist ausschließlich eine Eigenschaft des Objekts, sie hat inhaltlich mit dem Verb nichts zu tun. In den Fällen blank putzen und weich kochen stehen die jeweiligen Eigenschaften in enger Verbindung mit den Vorgängen, die durch die Verben bezeichnet werden: In er putzt den Boden blank wird der Boden durch das Putzen blank. Dem Objekt die Eigenschaft zuzufügen, ist sogar das Ziel der Handlung, daher auch der Begriff ‚Resultativ‘ (zum Beispiel Bausewein 1990: 236). Zusammenfassend: Die Adjektive beziehen sich auf das Objekt, das Objekt ist durch die Handlung affiziert und die Zufügung der Eigenschaft ist das Ziel der Handlung. Zu dieser Gruppe von Adverbialkonstruktionen hat sich analog eine Konstruktion herausgebildet, die nicht adverbial interpretiert werden kann: *er brüllt den Gefreiten – er brüllt den Gefreiten wach (Beispiele nach Zifonun u.a. 1997: 1114). Wach ist in diesem Beispiel keine freie Angabe, es entwickelt mit dem Verb eine gemeinsame Valenz. Schon hier könnte man Worteigenschaften vermuten. Daher kann die Untersuchungsfrage auch hier auf die syntaktischen Eigenschaften der beteiligten Einheiten zugespitzt werden: Wie selbständig verhalten sich die Adjektive? Wie eng gehören Adjektiv und Verb jeweils zusammen? Vergleich mit den Substantiv-Verb-Verbindungen Im folgenden nenne ich grundsätzliche Unterschiede zu den Substantiv-Verb-Verbindungen aus dem vorherigen Kapitel: Die Adjektiv-Verb-Verbindungen können zum Teil als Adverbialkonstruktion interpretiert werden, sie sind syntaktisch völlig durchsichtig. Wie es zur Entstehung der Konstruktion in der zweiten Gruppe gekommen ist, ist nicht geklärt, allerdings ist eine ‚syntaktische Analogie‘ naheliegend. Es sind keine Rückbildungen. Damit ist die ‚Wortartigkeit‘ das Besondere und nicht die ‚Syntagmenartigkeit‘. Bei den ‚syntagmatischen‘ Fällen treten die frei vorkommenden Adjektive in der Funktion als Adverbiale auf. Das heißt sie sind freie Angaben und damit unabhängig von der Valenz des Verbs. Dies ist ganz anders als bei den Substantiv-Verb-Verbindungen. Ein Hauptargument für die Interpretation als Wort von radfahren, eislaufen usw. ist die syntaktische Uninterpretierbarkeit von rad und eis. Allerdings sind die Adjektive nicht immer ohne weiteres als Adverbiale zu interpretieren, weil sie zum Teil gemeinsam mit dem Verb eine Valenz entwickeln. Es ist weniger die Uninterpretierbarkeit der Einheiten wie bei den Substantiven, sondern vielmehr der deutliche Einfluss, der hier zur Interpretation als komplexe Wörter führt. In der Adverbialfunktion stehen die Adjektive grundsätzlich unflektiert. Das heißt, dass die Flexion als Kriterium hier nichts beiträgt. Bei den Adjektiven spricht formal grundsätzlich häufig nichts gegen syntaktische Selbstständigkeit; sie sind syntaktisch interpretierbar und sie stehen in der ‚richtigen‘ Form.

gesundschreiben krankgeschrieben



krankschreiben

festgelegt

darlegen

?

festlegen

?

sich krank lachen, sich gesund lachen

sich tot ärgern, arbeiten

sich tot lachen

blank werde ich ?Blankputzer/ den Boden put- *Blankputzung zen

verändert (semantisch)

verändert

*ich schreibe ihn kränker

*ich lege den Termin fester

?Wachbrüller/ *Wachbrüllung

*ich lege den ?fest will ich Festlegung Termin sehr fest den Termin l *krank will der Krank*ich schreibe ihn sehr krank Arzt ihn schrei- schreibung ben

?Totlacher

heiser werde ich *Heiserredner mich reden

wach wird er den Gefreiten brüllen

Reflexivierung *ich lache mich *ich lache mich ?tot habe ich toter sehr tot mich gelacht

ich rede mich sehr heiser

Reflexivierung ?ich rede mich heiserer

sich müde reden, heiser sich warm reden

sich heiser singen, brüllen

sich heiser reden

?ich putze den Boden sehr blank

ich koche die ich koche die weich werde ich ?Weichkocher, Kartoffeln wei- Kartoffeln sehr die Kartoffeln *Weichkochung cher weich kochen

?ich putze den Boden blanker

?er brüllt den Gefreiten sehr wach

munter brüllen

wach schreien, wach klingeln

wach brüllen

ich trinke den heiß will ich den ?Heißtrinker/ Kaffee sehr heiß Kaffee trinken *Heißtrinkung

7. Vorfeldfähig 8. Wortinfinit? bildungen?

?ich streiche den ?ich streiche den grün will ich den ?Grünstreicher/ Zaun grüner Zaun sehr grün Zaun streichen *Grünstreichung

?ich trinke den Kaffee heißer

5. Komparativ? 6. Sehr?

er brüllt den Gefreiten wacher

gleichbleibend

gar kochen, weich al dente kochen

weich klopfen

weich kochen

semantisch verändert

gleichbleibend

?blank wienern, ?rein putzen, blank blank bohnern, ?sauber putzen, blank wischen ?glänzend p.

blank putzen

wach

gleichbleibend

grün

gelb, blau, rot streichen

grün färben

gleichbleibend

4. Valenz?

grün streichen



3. Zustand hinterher?

heiß essen (heiß kalt trinken waschen, heiß bügeln)

2. Andere Adjektive?

heiß trinken

1. Andere Verben?

Tabelle 3.1: Adjektiv-Verb-Verbindungen, konkrete Grammatikalitätsurteile

68

69 Kriterien zur Beschreibung der Adjektiv-Verb-Verbindungen Zum einen haben wir Konstruktionen wie weil er den Boden blank putzt, in denen das Adjektiv Adverbial zum Verb ist. Diese sind bereits in der Wortstellung nicht so frei wie andere Adverbiale. Daneben finden wir aber eine ziemlich parallele Konstruktion (weil er den Gefreiten wach brüllt), in der das Adjektiv nicht einfach Adverbial ist. Diese Konstruktion scheint aber produktiv zu sein. Weiterhin finden sich vergleichbare Reflexivkonstruktionen (weil er sich schief lacht/ müde redet/ heiser singt). Diese beiden Muster erscheinen in sich regelmäßig und auch produktiv. Daneben gibt es noch einzelne weitgehend lexikalisierte Fälle wie heiligsprechen, krankschreiben, lahmlegen. Alle diese Fälle haben Worteigenschaften, aber sie haben auch Eigenschaften von Syntagmen. Hiermit ist schon ein Kontinuum angegeben. Im folgenden werde ich untersuchen, wie sie sich bezüglich einzelner Eigenschaften verhalten. Es geht darum, Kriterien zu finden, die die einzelnen Fälle charakterisieren. Tabelle 3.1 listet einzelne Fälle auf, an denen unterschiedliche Kriterien geprüft werden.4 Dabei handelt es sich um ausgewählte Kriterien. Innerhalb der untersuchten Verbindungen ist grün streichen das syntaktischste Beispiel, krankschreiben wird am anderen Ende einer Skala als Wort angenommen. Da grün streichen trotz seines syntagmatischen Charakters schon bestimmte Worteigenschaften als Resultativkonstruktion entwickelt, fungiert heiß trinken als weiterer Kontrollfall für Syntagmen. In einem Satz Karl trinkt den Kaffee heiß bezieht sich in einer naheliegenden Lesart zwar das Adjektiv heiß auf das Objekt den Kaffee, aber die Eigenschaft wird dem Objekt in dieser naheliegenden Lesart nicht durch die Verbalhandlung zugefügt. Die Fälle in der Tabelle können als Skala verstanden werden: von grün streichen über blank putzen/ weich kochen als ‚Adverbialkonstruktionen‘, über wach brüllen und die reflexiven Konstruktionen sich heiser reden/ sich tot lachen hin zu festlegen und krankschreiben.

3.1 Tests zur Beschreibung der Adjektiv-Verb-Verbindungen Ich werde nun die einzelnen Tests beschreiben und auswerten. Dabei werde ich auch andere Verbindungen anführen als die in der Tabelle genannten. Die Tabelle enthält der Übersichtlichkeit halber nur einzelne Fälle, die als Vertreter bestimmter Klassen gesehen werden können. Die Klassen sind dabei mehr oder weniger einheitlich. Andere Verben? (2) a. grün streichen, grün malen, grün färben, grün ärgern b. blank putzen, ?blank schrubben, ?blank wienern, *blank machen 4

Bei den Grammatikalitätsurteilen handelt es sich um Urteile eines Sprechers zu einem Zeitpunkt, nämlich um meine vor der Untersuchung. Auch hier sind es wie in Kapitel 2 einzelne Urteile, die sicherlich nicht immer von allen gleichermaßen akzeptiert werden.

70 c. weich kochen, weich klopfen, weich kneten, weich bügeln, weich waschen d. wach brüllen, wach schreien, wach klingeln, wach rütteln e. sich heiser reden, sich heiser singen/ brüllen...... f. volllabern, vollquatschen, voll laufen, vollessen, voll machen, voll laden,..... g. tot schießen, tot schlagen h. feststehen, feststellen, festlegen, festdrehen (jeweils mit einer anderen Bedeutung von fest) i. fest kleben, fest ziehen, fest drehen, fest drücken (jeweils mit der resultativen Bedeutung) j. schwarz arbeiten, schwarz reparieren, schwarz streichen, schwarz putzen k. krankschreiben, gesundschreiben l. heiligsprechen

Dieser Test ist als erste Annäherung an die Verbindungen zu verstehen. Es wird jeweils untersucht, ob die jeweiligen Adjektive auch mit anderen Verben kombinieren. Die Ergebnisse dieses Tests können unterschiedlich gewertet werden: Einerseits geht es darum, herauszufinden, wie singulär Verbindungen sind. Andererseits können reihenbildende oder quasi reihenbildende Adjektive benannt werden. Bei den syntagmatischen Fällen ist eine relativ freie Kombinierbarkeit zu erwarten. Dass es die zum Beispiel bei blank nicht gibt, kann semantische Gründe haben: Dass etwas blank wird, ist typischerweise ein Ergebnis von ‚putzen‘, es ist kein typisches Ergebnis von ‚streichen‘, ‚kaufen‘ oder ‚singen‘. Diese Beschränkung geht von der Bedeutung aus. Bei den reihenbildenden Adjektiven ist dieser Test derjenige, der die entsprechenden Adjektive als reihenbildend herausstellt. Allerdings kann hier eine Lexikalisierung bei einzelnen Fällen festgestellt werden: Wenn ‚fest‘ gemeint ist, dann kombiniert es mit vielen Verben. In feststellen ist die Bedeutung synchron nicht durchsichtig; das Verb ist nicht austauschbar. Andere Adjektive? Wie der vorige Test, so ist auch dieser Test eine erste Annäherung. Diesmal wird untersucht, ob die Verben auch mit anderen Adjektiven kombinieren. Auch hier ist bei den syntagmatischen Fällen zunächst einmal freie Kombinierbarkeit zu erwarten. Wenn die Kombinierbarkeit nicht besonders frei ist, so kann das wiederum Gründe haben, die in der Bedeutung liegen, wie zum Beispiel bei blank putzen, weich kochen. blank putzen ist an dieser Stelle ‚fester‘ als grün streichen. Außerdem zeigen sich bei diesem Test die schon oben erwähnten reihenbildenden Verben stellen und machen. Wie schon angedeutet, sind Bildungen mit machen durchaus ‚resultativ‘ zu verstehen: sauber machen, fest machen, fertig machen, usw. Bei stellen ist diese Interpretation nicht unbedingt gegeben. Mit diesem Test können Thesen über die Wortartigkeit einer Verbindung aufgestellt werden: Je weniger frei das Verb mit anderen Adjektiven kombiniert, desto eher ist die untersuchte Adjektiv-VerbVerbindung ein Wort. Zustand hinterher? (3) a. er trinkt den Kaffee heiß b. er putzt den Boden blank c. er trinkt das Glas leer

71 d. er legt den Termin fest e. er quatscht den Studenten voll f. er lacht sich tot g. er schreibt den Patienten krank

Dieser Test erfasst zum Teil die Bedeutung. Er betrachtet den Zustand eines Objektes nach der Handlung. In a. bezieht sich heiß zwar auf den Kaffee, aber das Trinken verursacht in keiner Weise diesen Zustand, wie es zum Beispiel in er macht den Kaffee heiß der Fall wäre. Nach vollendeter Handlung ist der Kaffee getrunken, aber nicht heiß. In b. handelt es sich um ein echtes Resultativum: Er putzt, damit der Boden hinterher blank ist (dies ist zumindest die naheliegende Lesart). In c. liegt das Resultativum schon ein bisschen anders. Der Zustand ‚leer‘ entsteht durch das Trinken, aber der Zustand des Glases war nicht die primäre Intention (es wird tendenziell getrunken um des Trinkens willen, nicht um das Glas zu leeren). Wenn jemand einen Termin festlegt (d), dann ist der Termin auf einer sehr abstrakten Ebene ‚fest‘, im wesentlichen ist er aber ‚festgelegt‘. Wenn man Studenten vollquatscht (e), sind sie hinterher nicht ‚voll‘, sondern ‚vollgequatscht‘. Und wenn sich jemand totlacht, dann ist er im allgemeinen hinterher nicht tot (f). In (g) hingegen handelt es sich in der naheliegenden Lesart gerade nicht um ein Resultativum: Der Patient wird nicht krank durch das Schreiben. Der Zustand hinterher ist nicht krank (das war er schon vorher), sondern ‚krankgeschrieben‘ (so Eisenberg, mündliche Mitteilung). So haben manche dieser Adjektive unterschiedliche Interpretationen in Zusammenhang mit bestimmten Verben. Ich möchte das nur an jeweils zwei Beispielen andeuten: (4) leer: Leo trinkt das Glas leer – Anne kauft den Laden leer (5) tot: tot schlagen – tot lachen: er schlägt den Hasen tot – er schlägt die Zeit tot, er lacht sich tot (6) fest: fest kleben – feststellen: er klebt das Bild fest – er stellt den Verlust fest

Das Glas ist hinterher leer, der Laden ist hinterher nicht leer (4). Leer kaufen meint üblicherweise ‚besonders viel kaufen‘. Hinter dieser Interpretation steht aber keine Sinnentleerung von leer, das Bild dieser Konstruktion beinhaltet schon ‚leer‘. Bei tot und fest gibt es in einigen Fällen die resultative Lesart, in vielen aber auch nicht. Wenn sich jemand totlacht, ist derjenige hinterher meistens nicht tot. Etymologisch ist dies auch anders zu begründen, nichtsdestotrotz ist die Analogie synchron vorhanden. Man meint damit ein besonders heftiges Lachen. Es ist ähnlich wie bei leer eine ‚bildhafte‘ Sprache. Als solche sind diese Adjektive in den entsprechenden Adjektiv-Verb-Verbindungen durchaus produktiv und es sind im weiteren Sinn Resultativkonstruktionen. Bei fest ist dies so nicht möglich: hier gibt es deutlich lexikalisierte Bildungen wie festlegen, feststellen. Der Verlust (6) ist nicht fest, sondern festgestellt. Valenz: Veränderung Einige Adjektiv-Verb-Verbindungen entwickeln eine andere Valenz als die einfachen Verben. Zum Teil ist dabei die Besetzung der grammatisch geforderten Ergänzungen eine andere, der Einfluss des Adjektivs auf die Valenz ist inhaltlich: Ich kaufe den Laden leer/ ich kaufe den Laden/ ich kaufe den Pullover. Zum Teil ist es eine ganz neue Valenz: *ich puste das Essen / ich puste das Essen kalt. Schon die unterschiedliche Besetzung von gramma-

72 tisch gleichen Valenzstellen (Typ leer kaufen) ist mit Eisenberg (2004a: 337f.) ein Argument für die mögliche Interpretation als ein Wort. (7) a. Karl putzt den Boden – Karl putzt den Boden blank b. Karl streicht das Fahrrad – Karl streicht das Fahrrad grün c. Karl kocht die Kartoffeln – Karl kocht die Kartoffeln weich d. *der Offizier brüllt den Gefreiten – der Offizier brüllt den Gefreiten wach e. *Karl redet sich – Karl redet sich heiser f. Karl hält das Handtuch – Karl hält das Handtuch fest

Klammerbildung und Wortstellung Dieser Test wird in der Tabelle nicht ausgeführt: Für alle der genannten Fälle hat sich ergeben, dass sie klammerbildend sein müssen: *ich trinke heiß den Kaffee – *ich schreibe krank den Patienten (so auch Bausewein 1990, Pittner 1998, Eisenberg 2004a). Die Resultativkonstruktionen an und für sich zeigen in der Wortstellung Eigenschaften, die typisch für trennbare Verben sind. Insofern gibt die Wortstellung hier keinen Unterschied zwischen den einzelnen Verbindungen her. Sogar heiß trinken hebt sich nicht von den anderen ab. Dass es nicht an der Funktion des Adverbials liegt, ist an schnell trinken und müde trinken zu erkennen. Diese sind verschiebbar. (8) a. *dass er heiß den Kaffee trinkt b. dass er müde den Kaffee trinkt c. dass er schnell den Kaffee trinkt (9) a. *er trinkt heiß seinen Kaffee 5 b. er trinkt müde seinen Kaffee c. er trinkt schnell seinen Kaffee

Typisch für diese Art von Wortstellungsphänomenen sind zwei Tests: Ist die Verbindung im Nebensatz unterbrechbar? Bilden Adjektiv und Verb im Hauptsatz eine Verbalklammer? Ich habe mich hier auf den Klammertest beschränkt; für jede einzelne Verbindung liefern die Tests im allgemeinen die gleichen Ergebnisse. Die Objektsprädikative scheinen immer den rechten Klammerrand einer Verbalklammer darzustellen. Sie sind in ihrer Wortstellung nicht so frei wie andere Adverbiale. Dies gilt schon für die Objektsprädikative, die nicht in einer wortartigen Verbindung zum Verb stehen wie grün streichen. Man kann die Klammerbildung an dieser Stelle zum Teil verstehen: Weil das Adjektiv sich auf das vom Objekt Bezeichnete bezieht, ist es sinnvoll, dass das Objekt vorher genannt ist bzw. dass es innerhalb der Klammer steht. Daraus folgt aber nicht, dass alle anderen Satzglieder auch von dem Adjektiv eingeschlossen werden (*ich streiche die Tür grün heute). Der Einschluss des Objekts ist höchstens die halbe Begründung für die Klammerbildung. Der eigentliche Grund liegt wohl an der engen Zusammengehörigkeit des Verbs und des Adjektivs: durch die Handlung bekommt der Gegenstand die Eigenschaft. Damit ist die Verbalklammer ein Hinweis auf Wortartigkeit.

5

Der Satz ist zumindest ungrammatisch, wenn sich heiß auf den Kaffee beziehen soll.

73 Komparativ / Modifizierbar mit sehr? Die genannten Adjektive bilden im Prinzip alle einen Komparativ, ein Zweifelsfall diesbezüglich ist tot. Es gibt zwar die Wendung toter als tot; ansonsten ist tot aber nicht skalierbar. Die anderen Adjektive sind an und für sich komparationsfähig: fester, blanker, besser, kränker. In den gegebenen Kontexten kann von ihnen mitunter kein Komparativ gebildet werden. Insbesondere bei fest wird der Unterschied deutlich: ich schraube den Haken fester – *ich lege den Termin fester. Die Adjektive, die in den gegebenen Kontexten nicht kompariert werden können, können auch nicht mit sehr modifiziert werden. Dies kann zu zwei Interpretationen führen: Erstens die Graduierbarkeit (sowohl Komparation als auch die Modifikation mit sehr) ist von der Bedeutung her verhindert oder zweitens sie ist von der Morphologie her verhindert – als Kompositionserstglied sind Adjektive auch nicht graduierbar. Es kann auch ein Hinweis auf die Wortartigkeit der Verbindungen sein. Vorfeldfähig? Für die Vorfeldfähigkeit sind, wie in Abschnitt 2.1 gezeigt, zwei Tests angemessen: In einem ersten Test folgt das entsprechende Vollverb dem Adjektiv unmittelbar (weich kocht Paul die Kartoffeln). Im zweiten Test wird die Vorfeldfähigkeit mit einer analytischen Verbform gebildet, dem Adjektiv folgt ein Hilfsverb (weich wird Paul die Kartoffeln kochen). In Kapitel 2 habe ich bereits gezeigt, dass die Konstruktion mit einer analytischen Verbform deutlichere Ergebnisse bringt. Ein häufig genanntes Beispiel ist hier: fest steht, dass .... Sind aber *fest hat gestanden, dass.... *fest sollte stehen, dass... grammatisch? Auch hier scheint die Vorfeldfähigkeit abhängig zu sein von der übrigen Wortstellung. Wenn die Einheiten wirklich syntaktisch frei wären, sollte es keinen Unterschied geben. Dieser Test gibt mit den angegebenen Grammatikalitätsurteilen bei den Adjektiv-VerbVerbindungen deutliche Ergebnisse: In den völlig durchsichtigen Resultativkonstruktionen ist die Vorfeldstellung möglich, ansonsten nicht. Wortbildung Der letzte Test fragt nur, ob es analoge Wortbildungen gibt oder nicht. Wenn es eine Wortbildung gibt, dann spricht das für die ‚Wortartigkeit‘ der zugrundeliegenden Verbindungen. Die Begründung, warum es für die Wortartigkeit spricht, kann allerdings von zwei Seiten kommen: entweder die Adjektiv-Verb-Verbindung ist eine Rückbildung oder das (komplexe) Verb (die Adjektiv-Verb-Verbindung) ist Basis für eine Wortbildung. Die erAbleitungen sind stets mit einem Fragezeichen versehen. Konkret meint das hier, dass die entsprechenden Bildungen ad hoc möglich sind. Jemand, der immer heiße Sachen trinkt, kann ein Heißtrinker sein. Dies sind aber Bildungen, die nicht usualisiert werden. Un- als ungeeigneter Test Um zu überprüfen, inwieweit das Adjektiv selbständig ist, habe ich die Modifizierbarkeit mit sehr als Test eingeführt und die Möglichkeit der Komparation. Ein weiterer typischer

74 Adjektivmodifikator ist un-: häufig geht un- schon nicht bei dem Adjektiv alleine (*unheiß, ?ungrün, ?unblank). Das ist der erste Grund, warum un- wenig für die konkreten Fälle aussagen kann. Zweitens bedeutet die un-Lesung häufig nicht das Gegenteil: er isst sich gesund – *er isst sich ungesund – er isst sich krank, er spricht ihn schuldig – *er spricht ihn unschuldig – er spricht ihn frei. Das andere ist die ‚Resultatlesung‘: so ist das Ergebnis von sauber machen, dass etwas sauber wird und nicht, dass etwas unsauber wird. Die Modifizierbarkeit mit un- wird hier nicht getestet. Im Zusammenhang mit machen ist der Test hingegen sehr hilfreich (er macht seine Frau glücklich – er macht seine Frau unglücklich). Komplexität Ein weiterer Test würde die Komplexität der beteiligten Einheiten prüfen. Immerhin wäre es zu begründen, wenn sich der erste Eindruck bestätigen würde, dass die beteiligten Einheiten einfach sind. So sind komplexe Verben häufig nicht möglich: *sie begießt die Blumen schimmelig (‚sie begießt die Blumen so lange, bis sie schimmelig sind‘), *er beatmet ihn lebendig (‚er beatmet ihn, bis er lebendig ist‘), ?die Stadt verbeamtet sich arm, ?der Handwerker verputzt die Fassade glatt. Hier könnte man einen Zusammenhang zu dem wortartigen Charakter der Verbindungen sehen: die Stelle vor dem Verb kann nur einmal besetzt werden – durch ein Präfix oder durch ein Adjektiv. Allerdings wäre dies eine Besonderheit der verbalen Komposition. In der substantivischen Wortbildung gibt es für derartige Beschränkungen keine Evidenz (Starauftritt, Branchenvertreter usw.). Auch die Adjektive sind häufig einfach, aber er streicht die Wand spinatgrün und er schlägt ihn krankenhausreif sind möglich, insofern ist dies keine grundsätzliche Beschränkung für Resultativkonstruktionen; es könnte aber eine Beschränkung für die wortartigeren Konstruktionen sein. Zwischenergebnis Damit sind die Kriterien aus Tabelle 3.1 beschrieben und grob eingeordnet. Die Adjektive und Verben gehören mehr oder weniger eng zusammen. In der Wortstellung verhalten sich die Verbindungen weitgehend wie Partikelverben. In der Vorfeldstellung hingegen unterscheiden sie sich untereinander stark, dementsprechend verhalten sich für dieses Kriterium nur einige wie Partikelverben, andere jedoch nicht. Die Gruppen, wie sie in zu Beginn des Kapitels benannt sind, sind nun genauer zu betrachten, zunächst die Resultativkonstruktionen. Die wesentliche Frage, ob Konstruktionen wie wach brüllen Wörter oder Syntagmen sind, ist noch nicht argumentativ beantwortet. Ein Hauptargument für die Interpretation als Wort ist die Valenzänderung bzw. die fehlende syntaktische Interpretierbarkeit der Adjektive in diesen Konstruktionen.

75

3.2 Die transitiven und reflexiven Adjektiv-Verb-Verbindungen Die spezielle Ausformung der Valenz ist sicherlich ein Hauptargument dafür, die betrachteten Verbindungen als ein Wort zu interpretieren. Es ist typisch für die Ableitung von Verben aus Verben, dass die (entstehenden) komplexen Verben eine andere Valenz haben als die (zugrundeliegenden) einfachen Verben. Dies gilt sowohl für Verben mit Präfixen (laufen – verlaufen: er läuft – er verläuft sich) als auch für Verben mit Partikeln (hängen – aufhängen: er hängt an seiner Mutter – er hängt das Bild auf). Weder haben die zugrundeliegenden Verben in den Adjektiv-Verb-Verbindungen eine einheitliche Valenz noch ist die Änderung der Valenz einheitlich. Einheitlich ist aber die Valenz der Verbindungen: In der durchsichtigen Verbindung ergeben sich entweder transitive oder reflexive Verbindungen, das heißt es ergeben sich Verbindungen, die einen Akkusativ regieren. Das ist durchaus vergleichbar zu den Präfixpartikelverben wie sie in Abschnitt 1.4 beschrieben wurden (er läuft durch den Wald – er durchläuft den Wald), das heißt in dieser Eigenschaft könnte man einen Zug von Wortbildung erkennen. Hinterfragen wir das näher: Die meisten der zugrundeliegenden Verben sind transitiv oder potentiell transitiv, das heißt sie nehmen fakultativ ein direktes Objekt (der Offizier brüllt (den Befehl)). Die Adjektiv-Verb-Verbindungen sind hingegen obligatorisch transitiv (oder reflexiv, s. unten) (*der Offizier brüllt wach/ der Offizier brüllt den Gefreiten wach). Nur selten finden sich Fälle, in denen das beteiligte Verb keinen Akkusativ nehmen kann (zum Beispiel pusten – das Essen kalt pusten). Syntaktisch wird hier häufig ein fakultatives Objekt obligatorisch (brüllen – wach brüllen). In wenigen sehr parallelen Konstruktionen wird das Objekt erst eingeführt (pusten – kalt pusten). In vielen Fällen ist die Valenzstelle inhaltlich anders zu besetzen (kaufen – leer kaufen). Dabei geht es auch nicht um semantische Rollen, in den meisten Fällen dürfte das direkte Objekt Patiens sein, sowohl bei den Adjektiv-Verb-Verbindungen als auch bei den einfachen Verben. Es geht in den meisten Fällen also um eine Ebene ‚unterhalb‘ der semantischen Rollen. Dass aber – wenn auch wenige – Verben, die an sich kein direktes Objekt regieren, völlig parallele Konstruktionen bilden können, führt hier zu der Annahme der ‚Valenzänderung‘ in einem umfassenden Sinn. 3.2.1 Wortbildung, Komposition oder Syntagma? Durch die Verbindung eines Verbs mit einem Adjektiv kann die Valenz verändert werden. Aus nicht-transitiven Verben können transitive werden, aus nicht-reflexiven Verben können reflexive werden. Die Verbindungen haben potentiell eine andere Valenz. Ist diese Valenzänderung nun ‚syntaktisch‘ zu erklären oder ist die Valenzänderung durch eine Wortbildung bedingt? Die Adjektive selbst sind in dieser Konstruktion objektbezogen, sie benennen eine Eigenschaft des Objekts und diese Eigenschaft steht in enger Verbindung mit dem Verb. Daraus ergibt sich, dass diese Konstruktion ein Objekt braucht und als solches ist das Akkusativobjekt sicherlich das Naheliegendste. ?ich streiche das Laken, ich streiche das Laken glatt, ??ich mache das Segel – ich mache das Segel fest. Die Notwendigkeit eines Akkusativobjektes ergibt sich damit aus der Konstruktion.

76 Das wesentliche Argument für eine syntaktische Interpretation ist jedoch, dass es analoge Konstruktionen mit Präpositionalgruppen gibt. Zifonun u.a. (1997: 1114) erläutern dies am Beispiel Pavarotti singt das Publikum aus dem Saal. So nimmt singen sehr wohl einen Akkusativ als Ergänzung, aber im allgemeinen nicht das Publikum. Mit der Präpositionalgruppe aus dem Saal wird das Publikum eine mögliche Ergänzung. (10) a. Pavarotti treibt das Publikum aus dem Saal b. Pavarotti singt das Publikum aus dem Saal – *Pavarotti singt das Publikum – Pavarotti singt eine Arie c. Der Offizier trifft den Gefreiten wach d. Der Offizier brüllt den Gefreiten wach – *Der Offizier brüllt den Gefreiten – Der Offizier brüllt einen Befehl Beispiele nach Zifonun u.a. (1997: 1114)

Bei Konstruktionen, in denen von einem Verb gemeinsam mit einer Präpositionalgruppe die Valenz ausgeht, ist die Ein-Wort-Lösung nicht möglich.6 Präpositionalgruppen sind keine möglichen Erstglieder. Diese Konstruktionen müssen syntagmatisch analysiert werden; die Parallelität zu den Adjektiv-Verb-Verbindungen ist unverkennbar. Kann die gezeigte Valenzänderung auch als Argument für eine Wortbildung herangezogen werden? Die Adjektive wären dann Erstglieder komplexer Verben. Dies geht auch einher mit der sonstigen verbalen Wortbildung: Präfixe und Verbpartikel haben die Eigenschaft, die Valenz des Verbs zu verändern. Inwieweit sind die Verbindungen sonst mit Präfigierungen zu vergleichen? Bei den Adjektiv-Verb-Verbindungen, wie sie bisher besprochen wurden, sind weder das Erstglied noch das Zweitglied wirklich reihenbildend. Verschiedene Adjektive kombinieren mit verschiedenen Verben und sie behalten auch ihre lexikalische Bedeutung (mit der Ausnahme von tot). Nur stellen gibt als Verb in dieser Konstruktion häufig seine lexikalische Bedeutung auf und ist reihenbildend. stellen wird unten (Abschnitt 3.5) genauer betrachtet, ich werde es als Funktionsverb diskutieren, auch das ein explizites Argument gegen Wortbildung. Einige der Adjektive kommen recht häufig vor: tot, voll, fest, leer. Sie sind zum Teil reihenbildend, wobei es auch einige lexikalisierte Bildungen gibt. Außerdem sind die meisten der Resultativkonstruktionen bezüglich ihrer Elemente relativ frei. Derivation ist es nicht, weil die Wortbildungselemente fehlen. Dann könnte es Komposition sein. Würde man bei Komposition mit Verben immer die gleiche Valenz vermuten? Dann gäbe es hier ein (bzw. zwei) Kompositionsmuster und ansonsten bliebe die Verbkomposition weiterhin nicht produktiv. Man würde hier eine spezielle Kompositionsregel annehmen. Richter (2004) diskutiert hier eine abstrakte Regel und zeigt damit, dass nicht für jedes Verb, das Teil einer Resultativkonstruktion sein kann, ein weiterer Lexikoneintrag nötig ist. Für sie können im Lexikon folgende Einträge formuliert werden, wobei BECOME ein Prädikat ist, das Resultativität ausdrückt und mit dem jedes intransitive Verb ausgestattet ist, sofern es bestimmte Eigenschaften hat [Verben, die Handlungen und Vorgänge ausdrücken, so in der Fußnote auf S. 57, N.F.]. Dem abstrakten Prädikat BECOME entspricht [...] keine syntaktische Kategorie

6

Pütz (1982: 350) nennt als wesentliches Argument gegen die ‚Ein-Wort-Analyse‘ die Aufblähung des Lexikons. Die Konstruktion sei produktiv. Grundsätzlich könnte dieses Argument gegen jede produktive Wortbildung angebracht werden.

77 semantische Beschreibung laufen:

RUN(x) {& BECOME (P)}

Richter (2004: 62)

Gegen die Wortbildung und die Komposition spricht aber das folgende Argument: Vergleichbare Konstruktionen sind auch mit Präpositionalgruppen möglich, wie in dem Beispiel von Zifonun u.a. (1997: 1117): Pavarotti singt das Publikum aus dem Saal. Wenn man die Adjektiv-Verb-Konstruktionen morphologisch beschriebe, würde das Problem in der Syntax eben erst bei diesen Fällen anfangen. Hier müsste man begründen, warum das Verb gemeinsam mit der Präpositionalgruppe eine Valenz entwickelt. Es scheint durchaus angemessen, das Kriterium der gemeinsamen Valenz als eine wortartige Eigenschaft an sich anzunehmen, aber weder ist sie notwendig (sie gilt nicht für alle komplexen Wörter), noch ist sie hinreichend (sie gilt auch für die genannten Präpositionalgruppen). Man könnte festhalten, dass Verbindungen wie blank putzen syntaktisch vollständig zu analysieren sind, Verbindungen wie kalt pusten haben die eine Worteigenschaft, dass sie gemeinsam Valenz entwickeln. Es macht sie ‚wortartiger‘, aber noch nicht unbedingt zum Wort. Andererseits haben sie zum Teil ‚Wortcharakter‘ entwickelt; es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass einige von diesen Verbindungen mitunter zusammengeschrieben werden, wie in Abschnitt 11.3.4 ausgeführt. Dieser Wortcharakter ist aus verschiedenen Gründen naheliegend: Es gibt eine produktive syntaktische ‚Resultativkonstruktion‘, die Einfluss auf die Valenz hat, denn auch die Präpositionalgruppen beinhalten eine Valenzänderung: *Pavarotti singt das Publikum/ aus dem Saal. Dennoch sind die Adjektiv-Verb-Verbindungen ein ‚Randfall‘, der leicht zum Übergangsfall oder Zwischenfall werden kann. Transitivierungskonstruktionen mit prädikativen Adjektiven wiederum bilden die Quelle für Verbkomposita und kompositaähnlich verfestigte Verbindungen Zifonun u.a. (1997: 1115)

Dies ist zum Beispiel an der intransitiven Verwendung von weichkochen zu sehen: da sie sonst nicht weichkochen (Beleg von der Erbsentüte). Zu einer transitiven Variante gibt es eine intransitive. Bei der intransitiven Variante von weichkochen spricht noch mehr für die Interpretation als ein Wort, die produktiven Resultativkonstruktion ist transitiv. Auch weitere ‚unregelmäßige‘ Verbindungen, die später erläutert werden (Abschnitt 3.6) sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Hier liegt eine konstruktionsgrammatische Interpretation nahe. Müller (2006) diskutiert eine solche Analyse unter anderem für Resultativkonstruktionen, kommt aber zu dem Ergebnis, dass ein lexikonbasierter Ansatz die Fälle besser erfassen kann. Nichtsdestotrotz ist die Konstruktionsgrammatik hier attraktiv: Die Fälle können mit ihrer Transitivierung als Konstruktion behandelt werden. Was die weitere Entwicklung dieses Ansatzes bringt, ist noch offen. 3.2.2 Reflexivierungen Die hier zu beschreibenden Reflexivierungen sind den Transitivierungen zum Teil vergleichbar, zum Teil aber auch nicht. Hier handelt es sich weniger um semantische Valenz-

78 änderungen als vielmehr um syntaktische. Der Prozess kann bei vielen einstelligen Verben passieren wie zum Beispiel lachen und arbeiten: er lacht sich krank, er arbeitet sich glücklich. Die Eigenschaft, die das Adjektiv beschreibt, ist selten eine beabsichtigte Zustandsänderung. Das betrifft die Reflexivierung allgemein, sie ist gewissermaßen ein Mittel, den Subjekten die Agentivität zu nehmen (wie zum Beispiel bei der sogenannten Mittelkonstruktion das Buch liest sich gut, Eisenberg 2004b: 131). Dieses Muster scheint durchaus übertragbar, zum Beispiel sich kaputt arbeiten, sich krank lachen, ?sich glücklich arbeiten, ?sich froh essen, sich tot essen, ?sich dick essen. Auch hier gibt es wohl weitgehend parallele Adverbialkonstruktionen: der Hund kratzt sich – der Hund kratzt sich wund/ blutig. Die Valenzänderung ist zum einen häufig ‚deutlicher‘ als bei den Transitivierungen, sie ist aber auch ‚einseitiger‘.

3.3 Zwischenzusammenfassung: Produktive Adjektiv-Verb-Verbindungen Zu Beginn habe ich die Datenmenge sortiert. Dabei haben sich folgende vier Klassen als systematisch erwiesen: 1. die offene Adverbialkonstruktion blank putzen 2. die Konstruktion, in der zwar die syntaktische Valenz vom Verb ausgeht, die inhaltliche Besetzung aber vom Adjektiv beeinflusst wird, leer kaufen 3. die Transitivierungskonstruktion kalt pusten 4. die Reflexivierungskonstruktion sich gesund schlafen

Die anderen Gruppen werden im Anschluss untersucht und kommentiert. Zusammenfassend kann für die genannten vier Gruppen festgehalten werden: sie sind alle systematisch und sie sind produktiv. Die drei Gruppen, in denen das Adjektiv syntaktisch nicht Adverbial sein kann, sind in ihrer syntaktischen Struktur noch nicht geklärt. Die Lösung, dass sie ein Wort sind, habe ich verworfen wegen der parallelen Struktur Pavarotti singt das Publikum aus dem Saal. Man würde das Problem nur verschieben. Die vier genannten Konstruktionen entwickeln alle die ‚gleiche‘ Valenz; bei der Verbpräfigierung bewirkt jedes Präfix eine eigene Valenz oder Valenzänderung. Die entwickelte Valenz ist naheliegend: weil das Adjektiv eine Eigenschaft des Objekts sein soll, bedarf die Konstruktion eines Objektes. Im übrigen ist ein zweistelliges Akkusativverb das Valenzmuster schlechthin im Deutschen. Damit erscheint es möglich, diese Konstruktion syntaktisch zu beschreiben, auch wenn dies hier noch nicht geschehen ist. Nichtsdestotrotz haben die Verbindungen einige Eigenschaften, die in Richtung Wort deuten, ohne dass sie ausschließlich für die Interpretation als Wort sprechen. So bilden sie typischerweise mit dem Verb eine Verbalklammer und sind in Kontaktstellung nicht ohne weiteres unterbrechbar. Im folgenden geht es um vermeintlich reihenbildende Elemente.

79

3.4 Die Adjektive fest, tot und voll Bei der Frage, wie wortartig sich solche Fälle verhalten, ergibt sich zwangsläufig auch die Frage nach reihenbildenden Elementen. Diese können dann daraufhin untersucht werden, inwieweit sie sich wie Wortbildungselemente verhalten. In der Tabelle 3.1 war ein Kriterium die freie Kombinierbarkeit. Dabei kann die Tatsache, dass zum Beispiel ein Adjektiv mit verschiedenen Verben kombiniert, zunächst in zweierlei Hinsicht interpretiert werden. Zum einen kann dies für freie Kombinierbarkeit im Sinne einer syntaktischen Konstruktion sprechen. Zum anderen kann es aber auch für ein mehr oder weniger reihenbildendes Wortbildungselement sprechen. Der Unterschied besteht zum Beispiel in der Bedeutung: Entsprechen die jeweiligen Kombinationen den produktiven syntaktischen Konstruktionen oder nicht? Bei den vorliegenden drei Elementen gibt es sowohl deutlich transparente syntaktische Fälle, als auch weniger transparente Fälle. leer habe ich hier nicht als Erstglied aufgenommen, weil es ausschließlich transparente Fälle zu bilden scheint. Bei dem Kriterium ‚Zustand hinterher‘ habe ich bereits Unterschiede zwischen den genannten Adjektiven beschrieben. Die deutlichsten Lexikalisierungen finden sich bei fest in einigen Fällen. Tot: Auf der einen Seite finden sich völlig durchsichtige Resultativkonstruktionen: er schlägt den Hasen tot, er schießt den Hasen tot. Dies sind Adverbialkonstruktionen, als solche bilden sie Syntagmen. Im Sinne von Reihenbildung kann aber die Reflexivkonstruktion interpretiert werden: sich tot lachen, sich tot arbeiten, sich tot putzen. Diese Konstruktion unterscheidet sich von den anderen Reflexivkonstruktionen: meistens ist nicht wirklich ‚tot‘ gemeint. Das heißt hier wird bildlich gesprochen. Letztendlich ist dies aber häufig der Fall bei den Reflexivkonstruktionen, auch bei schief lachen ist der Zustand hinterher nicht unbedingt ‚schief‘, krank arbeiten ist auch schon dann eine richtige Beschreibung, wenn jemand haarscharf an der Krankheit vorbei kommt usw. Voll: vollquatschen, volljammern, volldröhnen, volllabern. Durch voll werden einstellige Verben zu transitiven Verben: die Dozentin quatscht – die Dozentin quatscht die Studenten voll, der Student jammert – der Student jammert die Dozentin voll, die Musik dröhnt – die Musik dröhnt die Clubbesucher voll. Dabei ist voll bei den genannten Verben bildlich gemeint. Die Studenten sind hinterher nicht voll, sondern bestenfalls vollgequatscht. Insofern hat dieses voll durchaus Partikelcharakter. Vollaufen hingegen funktioniert anders, es ist nicht transitiv, der Zustand hinterher kann, aber muss nicht voll sein: der Eimer läuft voll (mit Wasser)7. In sich voll fressen wäre eine wörtliche Interpretation von voll möglich. Danben gibt es mit voll- auch untrennbare Verben: vollenden, vollführen, vollstrecken, vollziehen. (11) a. er vollendet sein Buch, er vollführt einen Salto, er vollzieht die Scheidung b. *er endet das Buch voll, *er führt einen Salto voll, *er zieht die Scheidung voll

Dieses voll- gibt dem Verb die Bedeutung der ‚Abgeschlossenheit‘. Es unterscheidet sich in seiner Bedeutung deutlich von dem trennbaren Bestandteil voll.

7

Reflexiv scheint dieses Verb nur mit lassen zu gehen, in der Konstruktion: er lässt sich vollaufen, also nur im Infinitiv.

80 Fest: feststellen, festlegen, festsetzen sind lexikalisiert, fest in fest drehen hingegen entspricht einer regelmäßigen (morphosemantischen, produktiven) Funktion. (12)

fest: ich drehe den Haken fest – ich drehe den Haken, ich stelle den Verlust fest – *ich stelle den Verlust

Genau hier haben wir das Objektsprädikativ: ich drehe die Schraube fest – ich drehe die Schraube (solange), bis sie fest ist. Eine solche Interpretation ist in festlegen, feststellen nicht gegeben. Ein Unterschied wird auch bei den gegebenen grammatischen Tests deutlich: ich drehe die Schraube fester – *ich lege den Termin fester – *ich stelle das Versäumnis fester. Was passiert hier? Wir haben neben einer produktiven Reihe mit dem Resultat fest einige lexikalisierte Bildungen. Zu den ‚lexikalisierten‘ gibt es (zum Teil) entsprechende Substantive: Festlegung, Feststellung; es gibt aber keine Substantive *Festdrehung, Festbindung, Festhauung usw. Wie der Zusammenhang zwischen den Substantiven und den Adjektiv-Verb-Verbindungen ist, bleibt wie gesagt unklar. Die Tatsache, dass es gerade zu den lexikalisierten Adjektiv-Verb-Verbindungen entsprechende Substantive gibt, sieht jedoch nicht wie ein Zufall aus. Bleibt als Zweifelsfall nur festhalten: Hier sind zwei unterschiedliche Bedeutungen zu unterscheiden: das Kind hält seinen Teddy fest, hier bezieht sich fest auf das Verb, es ist auch komparierbar: das Kind hält seinen Teddy noch fester. Auf der anderen Seite haben wir ein völlig lexikalisiertes festhalten: ich halte fest, dass .... Bei tot und fest haben wir die übertragene Bedeutung und die resultative Bedeutung. Bei fest ist die resultative Variante produktiv, bei tot können aus beiden Varianten neue Bildungen entstehen, es sind richtiggehend zwei ‚produktive‘ Varianten. Beide entsprechen den produktiven syntaktischen Konstruktionen mit der besonderen Bedingung, dass tot in der reflexiven Konstruktion nicht wörtlich gemeint ist (Ausnahme: er stellt sich tot). Insofern ist voll das Adjektiv mit der deutlichsten Partikelhaftigkeit. In der Gruppe der fest-Verb-Verbindungen gibt es einige lexikalisierte Bildungen, die als Wörter zu interpretieren sind. tot entwickelt in der reflexiven Konstruktion eine gewisse Partikelhaftigkeit, weil es zum Teil sinnentleert ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass totlachen wohl eher zusammengeschrieben wird als grün streichen.

3.5 Die Verben machen und stellen In diesem Abschnitt werde ich die Tests noch einmal wiederholen für ausgesuchte Adjektiv-Verb-Verbindungen mit machen und stellen. Dies sind zwei Verben, die sehr häufig in Adjektiv-Verb-Verbindungen vorkommen. Möglicherweise auch wegen ihrer Häufigkeit gibt es viele Verbindungen, die mehr oder weniger lexikalisiert sind. In den entsprechenden Tabellen mit den Grammatikalitätstests habe ich im Vergleich zur allgemeineren Tabelle 3.1 zwei Kriterien weggelassen, nämlich die Fragen nach anderen Verben und nach anderen Adjektiven. Die Valenz wird nicht als ‚Änderung‘ dargestellt, sondern als Valenz der gesamten Verbindung; die Verben bleiben ja gleich.

festgemacht

fertig

fertiggemacht

groß (gemacht)

irre? irregemacht

kaltgemacht -nicht transitiv kalt

kaputt (gemacht)

sauber

schlechtgemacht

schön (gemacht)

festmachen

fertig machen

fertigmachen

groß machen

irre machen

kaltmachen

kaputt machen

sauber machen

schlechtmachen

schön machen

??

?kälter machen

?irrer machen

größer machen





Schleife vs. ?Termin

transitiv

transitiv

Vorfeldfähig infinit?

sich schöner machen

sich sehr schön machen

?Großmacher/ *Großmachung

?Fertigmacher/ *Fertigmachung

?Festmachung

Bekanntmachung

?Glücklichmacher

Wortbildung?

?sauber wird er die Küche m.

kaputt wird er die Vase machen

?kalt will er ihn machen

Schön will sie sich ?Schönmacher/ machen *Schönmachung

?Schlechtmacher/ *-machung

?Saubermacher/ *-machung

?Kaputtmacher/ *Kaputtmachung

?Kaltmacher/ *Kaltmachung

??irre wird ihn das ?Irremacher/ Rauschen m. *Irremachung

groß hat ihn die WM gemacht

?fertig wird sie ihn machen

fertig werde ich die Arbeit m.

?fest wird der Termin gem.

schlechter machen sie macht ihn sehr ?schlecht wird er als schlecht den Kollegen m.

sehr sauber machen

??

?? sehr kalt machen

?sehr irre machen

sehr groß machen

sehr fertigmachen

?die Arbeit sehr fertig machen

Schleife vs. ?Termin

bekannt hat ihn die WM gem.

sie macht ihn sehr glücklich macht glücklich sie ihn

Sehr?

bekannter machen die WM hat ihn sehr bekannt g.

glücklicher machen als

Komparativ?

transitiv fakultativ ?sauberer machen

transitiv

transitiv

transitiv

transitiv

transitiv

transitiv, dassSatz

bekannt (gemacht) transitiv, dassSatz

bekannt machen

transitiv

glücklich

glücklich machen

Zustand hinterher? Valenz

Tabelle 3.2: Grammatikalitätstests für Adjektiv-machen-Verbindungen

81

82 3.5.1 Adjektiv-Verb-Verbindungen mit machen Die Adjektiv-machen-Verbindungen können alle transitiv sein. Bis auf saubermachen sind sie wohl auch obligatorisch transitiv. Im allgemeinen können sie alternativ reflexiv sein: (13)

a. sie macht ihn glücklich – sie macht sich glücklich, sie macht die Vase kaputt – sie macht sich kaputt b. sie macht ihren Garten schön – sie macht sich schön usw.

Machen ist ein Basisverb, das ein Akkusativobjekt nehmen kann. Zum Teil können die Verbindungen adverbial interpretiert werden: er macht die Arbeit – er macht die Arbeit fertig. Bei er macht die Vase – er macht die Vase kaputt scheint es zumindest von der Bedeutung her keine freie Angabe zu sein. Bis hierher verhalten sich die Adjektiv-machenVerbindungen wie die anderen Adjektiv-Verb-Verbindungen. Machen ist in seiner Bedeutung sehr unspezifisch; dies mag der Grund für die vielen Möglichkeiten sein. Besonders auffallend sind hier viele ‚Ansätze‘ zur Lexikalisierung: Bedeutungsübertragungen, die bereits das Adjektiv alleine betreffen können, erscheinen hier gewissermaßen manifestiert, wie in kaltmachen, fertig machen, groß machen, schlechtmachen. Die Bedeutung von fertig in sie macht ihn fertig ist auch eine mögliche Bedeutung von fertig in ich bin fertig. Abgrenzungen erscheinen hier besonders schwierig. Eine übertragene Bedeutung führt häufig zu einer Interpretation als ein Wort. Eine Annäherung kann dabei immer der Test ‚Zustand hinterher?‘ sein. Dabei ist ihr zum Teil ‚unregelmäßiges‘ Verhalten nicht auf Rückbildung zurückzuführen. Weil machen so unspezifisch ist, ist mitunter der Objektbezug nicht so deutlich: er macht seine Arbeit schlecht ist doppeldeutig (schlecht kann sich auf die Arbeit oder auf machen beziehen); er macht ihre Arbeit schlecht ist objektbezogen. Auch großmachen gibt es noch in einer sehr lexikalisierten Bedeutung, sowohl groß als auch machen wird hier sehr speziell interpretiert. Das liegt an einer speziellen Bedeutung von machen (sie macht sich in die Hose, sie macht ins Klo); die Verbindung ist weder transitiv noch reflexiv. Machen ist ein häufiges Verb in den Objektsprädikativ-Verbindungen. Es hat eine unspezifische Bedeutung. Auffallend sind die häufigen Lexikalisierungen. Komplexe Adjektive Es ist durchaus eine Besonderheit von machen, dass es offenbar uneingeschränkt mit derivationell komplexen Adjektiven kombiniert: (14) a. Daniel macht den Text lesbar, sie macht das Essen genießbar b. sie macht das Ergebnis lächerlich, das Tor macht den Sieg wahrscheinlich c. das karierte Hemd macht ihn kumpelhaft d. sie macht den Text unleserlich/ unlesbar, er macht das Essen ungenießbar e. ich mache den Vorfall ungeschehen f. ich mache mich beliebt/ unbeliebt, er macht sich unverzichtbar

In den Beispielen sind Ableitungen mit -bar (a), mit -lich (b), mit -haft (c) und mit un- (d) genannt. In (e) steht ein vereinzeltes Partizip II, (f) nennt Beispiele für reflexive Konstruktionen.

fertig/ fertiggestellt

zufrieden/ zufriedengestellt

sichergestellt

bereitgestellt/ bereit

bloßgestellt

geradegestellt

klargestellt

freigestellt

fertig stellen

zufrieden stellen

sicherstellen

bereitstellen

bloßstellen

geradestellen

klarstellen

freistellen



der Senat stellt die privaten Schulen schlechter

er stellt das Essen wärmer

Komparativ?

transitiv

transitiv, dassSatz als Objekt

transitiv

transitiv

transitiv

transitiv, dassSatz als Objekt



?er stellt es klarer



?er stellt ihn bloßer



*er stellt das Auto sicherer

transitiv, dass- *er stellt sie Satz als Subjekt zufriedener

transitiv

schlecht gestellt transitiv

schlecht stellen

transitiv

bleibt warm

Valenz

warm stellen

Zustand hinterher?

vorfeldfähig infinit?

?Warmsteller/ *Warmstellung

Wortbildung?

Zufriedenstellung

Fertigstellung

?Bereit wird er den Computer für ihn stellen

Bereitstellung

?Sicher wird die Polizei Sicherstellung das Auto stellen

??Zufrieden will er seine Braut stellen

Fertig wird er die Arbeit bald stellen



?er stellt die Fakten sehr klar

*er stellt die Behauptung sehr gerade

Klarstellung

Geradestellung

??Frei wird er ihn dafür Freistellung stellen

??Klar will er die Fakten stellen

??Gerade will er seine Behauptung stellen

er stellt ihn sehr (völlig) ?Bloß hat er ihn mit der Bloßstellung bloß Enthüllung gestellt



*er stellt das Auto sehr sicher

er stellt seine Braut sehr zufrieden



der Senat stellt die priv. Schlecht will der Senat ?Schlechtsteller/ Schulen sehr schlecht die priv. Schulen stellen *Schlechtstellung

?er stellt das Essen sehr Warm hat er das Essen warm gestellt

Sehr?

Tabelle 3.3: Grammatikalitätstests für Adjektiv-Verb-Verbindungen mit stellen

83

84 Auch dieses zeigt deutlich, dass sich machen hier aus den Konstruktionen hervorhebt. Die Verbindungen mit den komplexen Adjektiven sind völlig transparent. Die genannten haben keine Tendenz, zu Wörtern zu werden, auch wenn so etwas wie ‚Usualisierung‘ möglich ist, besonders deutlich bei ungeschehen machen. 3.5.2 Adjektiv-Verb-Verbindungen mit stellen Die Verbindungen stellen keine einheitliche Reihe dar. Die einzelnen Beispiele haben in Tabelle 3.3 unterschiedliche Grammatikalitätsurteile bekommen. Dennoch kann man weitgehende Gemeinsamkeiten feststellen. Die Verbindungen von Adjektiven und dem Verb stellen sind transitiv oder reflexiv. Hier verhalten sie sich wie die anderen Adjektiv-Verb-Verbindungen, aber die transitive und die reflexive Variante sind unterschiedlich zu interpretieren: (15)

a. er stellt sich tot/ taub/ stumm/ doof b. die Polizei stellt das Fahrrad sicher c. er stellt das Essen warm/ kalt

Die Bildungen in (a) sind gerade nicht resultativ, hier wird ein Zustand vorgetäuscht, der nicht zutrifft. Stellen ist nicht ohne weiteres ein transitives Verb. Als Vollverb, in dem es neben dem Subjekt nur eine Akkusativergänzung nimmt, gibt Wahrig (1990) das Beispiel du sollst die Flasche stellen, nicht legen. Hier handelt es sich um einen Kontrast, ein Kontext, in dem bekanntermaßen mehr Valenzmuster möglich sind als sonst. Die Konstruktion ist ohne Kontrast hingegen nicht ohne weiteres möglich: ?er stellt die Flasche; es bedarf einer zusätzlichen Ortsangabe wie in er stellt die Flasche auf den Tisch, zum Beispiel in Form einer Präpositionalgruppe. Ansonsten haben wir zwei Partikelverbvarianten mit Partikeln, die durchaus beschränkt sind: hinstellen, darstellen. Fälle wie in (c) entsprechen der produktiven Konstruktion. Interessant für stellen ist hier die große Menge derjenigen Verbindungen, die nicht der produktiven, voll durchsichtigen Konstruktion entsprechen. Als ‚transitives‘ Verb taucht stellen ansonsten als Funktionsverb (so Wahrig) auf: eine Forderung stellen, einen Antrag stellen, eine Bedingung stellen, eine Frage stellen. Der typische Kontext für Funktionsverben wird im allgemeinen in Funktionsverbgefügen mit Präpositionalgruppe gesehen, als solches nennt es Eisenberg (2004b: 309): unter Beweis stellen, zur Diskussion stellen, zur Wahl stellen. Adjektive sind keine möglichen Ergänzungen von Funktionsverben. In den Konstruktionen mit nominalen ‚Funktionsverbergänzungen‘, also eine Frage stellen, eine Bedingung stellen, einen Antrag stellen ist wohl kein Adjektiv als ‚Objektsprädikativ‘ möglich: er stellt die Frage deutlich (deutlich bezieht sich hier auf stellen), *er stellt den Antrag dringend. Als Vollverb ist es gerade nicht transitiv, nur als Funktionsverb. In diesem Sinne möchte ich stellen unten diskutieren. Die herausgehobenen Verbindungen mit stellen (also sicherstellen, klarstellen usw.) verhalten sich in zweierlei Hinsicht ganz anders als die produktiven Adjektiv-Verb-Verbindungen, die als Objektsprädikative interpretiert werden können: 1. Es gibt zu vielen eine analoge Wortbildung: Bloßstellung, Feststellung, Freistellung, Richtigstellung, Sicherstellung, Klarstellung, Fertigstellung, Zufriedenstellung. Diese Wortbildungen können wie gesagt in zweierlei Hinsicht interpretiert werden: Zum einen könnten die Substantive Basis für Rückbildungen sein. Dies erscheint hier nicht sehr wahr-

85 scheinlich. Typisch für Rückbildungen sind substantivische Komposita, aber ist wirklich anzunehmen, dass Freistellung, Sicherstellung usw. zusammengesetzt sind aus frei bzw. sicher und Stellung? Die andere Interpretation ist, dass die Adjektiv-stellen-Verbindungen Wörter sind und aus diesen Ableitungen gebildet werden. Basis für eine Ableitung zu sein, ist ein gängiges Kriterium für Wortartigkeit, s. auch Abschnitt 1.3. Die Wortbildungen sprechen durchaus für die ‚Wortartigkeit‘ der Adjektiv-stellen-Verbindungen. 2. Das direkte Objekt ist nicht auf eine Akkusativrealisierung beschränkt, häufig kann es zum Beispiel durch einen dass-Satz realisiert werden: ich stelle fest, dass..., ich stelle sicher/klar/richtig, dass....Hiernach könnten sie untereinander unterteilt werden in solche, die nur einen Akkusativ nehmen können und in solche, die alternativ einen dass-Satz nehmen. Die Alternative des dass-Satzes spiegelt im Prinzip wieder, dass die entsprechende Verbindung nicht im üblichen Sinne ein Objektsprädikativ ist. 3. Gegen eine generelle Analyse als ein Wort spricht, dass Komparation bei schlecht stellen zum Beispiel möglich ist: schlechter stellen, besser stellen, möglicherweise auch klarer stellen, richtiger stellen. 3.5.3 Sind stellen und machen Vollverben? Machen hat als Tätigkeitsverb eine relativ unspezifische Bedeutung. Stellen ist in dem genannten Kontext nahezu bedeutungsleer. In er stellt seine Braut zufrieden wird nicht konkret gesagt, was er denn tut, damit seine Braut zufrieden ist. Die Betonung liegt darauf, dass die Braut hinterher zufrieden ist, hier wird der Zustand benannt – entweder als Zustandsänderung oder als Zustandsbeibehaltung. Dies gilt sonst als Funktion von Kopulaverben (z.B. Eisenberg 2004b: 85ff.). (16)

a. Sie wird zufrieden/ sie ist zufrieden – er stellt sie zufrieden/ er macht sie zufrieden b. Sie wird/ sie ist unzufrieden – *er stellt sie unzufrieden/ er macht sie unzufrieden c. Die Hochzeit stellt sie zufrieden – die Hochzeit macht sie zufrieden

In er stellt sie zufrieden und er macht sie zufrieden kann jeweils eine Zustandsänderung beinhaltet sein. Damit ist es am ehesten mit werden („Prädikation tritt ein“, Eisenberg 2004b: 85) zu vergleichen. In dem Beispiel (16a) könnten stellen und machen als transitive Varianten von werden gesehen werden. Dabei scheint machen wesentlich offener zu sein, es nimmt auch unzufrieden (16b). Es gibt jemanden oder etwas, der oder das den Zustand verursacht. Dass werden und machen/ stellen typischerweise nicht mit den gleichen Adjektiven kombinieren, hängt wohl damit zusammen, dass manche Zustände eher von alleine passieren und manche durch etwas oder jemanden ausgelöst werden (sie wird rot – *er stellt sie rot – *er macht sie rot, die Lösung wird richtig – er stellt die Lösung richtig – er macht die Lösung richtig, die Arbeit wird fertig – er stellt die Arbeit fertig – er macht die Lösung richtig). Wie oben angedeutet, möchte ich hier nun kurz überlegen, inwieweit ein Funktionsverb stellen mit dem vorliegenden stellen vergleichbar ist. In den Konstruktionen zufriedenstellen, sicherstellen usw. hat stellen keine Vollverbbedeutung. Es erscheint im Gegenteil relativ bedeutungsleer. Wenn es nun in den Verbindungen nicht das Vollverb stellen ist, ergibt sich immerhin die Möglichkeit, dass es auch in Verbindung mit Adjektiven ein Funktionsverb ist. Das ist eine weitgehende These und würde den Begriff ‚Funktionsverb‘ erweitern. Die Überlegung hat insbesondere folgenden Hintergrund: Viele Argumente spre-

86 chen dafür, Verbindungen wie sicherstellen usw. als Wörter zu betrachten. Bei den Adjektiv-Verb-Verbindungen, die bisher als Wörter betrachtet wurden, ging es immer um einzelne Bildungen, die lexikalisiert sind. Die mutmaßlichen reihenbildenden Elemente haben sich in ihrer produktiven Kraft als syntagmatisch erwiesen (sich tot lachen/ arbeiten/ laufen, fest drehen/ schrauben/ ziehen, kaputt/ kaputt/ glücklich/ gesund machen). Möglicherweise sind die vorliegenden Verbindungen mit stellen auch lexikalisiert; es sind aber nicht einzelne Bildungen. ‚Funktionsverb‘ oder ‚Funktionsverbartigkeit‘ könnte eine Möglichkeit sein, sie etwas systematischer zu fassen, also über die Annahme einer Lexikalisierung hinauszukommen. Nach allen bisherigen Kriterien wären die Verbindungen mit stellen Wörter, es entspricht aber nicht so ohne weiteres der Intuition. Alle Verben haben eine lokale bzw. direktionale Grundbedeutung, sind hier aber offenbar in einer abgeleiteten Bedeutung verwendet. Weil die abgeleitete mit einem charakteristischen syntaktischen Verhalten zusammengeht, faßt man die Verben unter einer besonderen Bezeichnung zusammen und nennt sie Funktionsverben (Polenz 1963). Eisenberg (2004b: 309)

Hier wäre zu diskutieren, ob (manche) Funktionsverben auch adjektivische Ergänzungen nehmen können, so wie es Kopulaverben können. Die Eigenschaften, die Funktionsverben sonst unterstellt werden, treffen für stellen zu: ‚abgeleitete Bedeutung‘, ‚direktionale oder lokale Grundbedeutung‘ (s. obiges Eisenberg-Zitat), „Verb mit verblaßter Bedeutung“ (Engel 1996: 869), „Verb, das eine sinntragende Nominalphrase in seiner Umgebung verlangt“ (Engel 2004: 480). Für machen kann dies so nicht festgestellt werden. Es verhält sich in den Konstruktionen weitgehend wie die anderen Vollverben. Teilmenge der Verben, die in bestimmten Kontexten ihre lexikalische Bedeutung als Vollverb fast ganz verloren haben [...]. Als Funktionsverben erfüllen diese Verben vorwiegend grammatische Funktionen. Bußmann (2002: 231)

Häufig wird ein Koordinationstest angeführt (so z.B. von Polenz 1987: 172, Zifonun u.a. 1997: 53): ?er brachte das Stück zum Produzenten und zur Aufführung (Beispiel nach Zifonun u.a. 1997: 53) *er stellt die Braut hin und zufrieden. Dieser ist bei den vorliegenden Konstruktionen schon deswegen schwierig, weil das einfache stellen in seiner transitiven Verwendung äußerst beschränkt ist du sollst die Flasche stellen, nicht legen (Beispiel nach Wahrig 1990) - ?er stellt die Flasche. Warum ist stellen hier ein Funktionsverb und nicht wie werden ein Kopulaverb? Erstens ist keines der anderen Kopulaverben transitiv. Zweitens ist stellen bereits sonst als Funktionsverb angesehen, insbesondere mit Präpositionalgruppen (zur Diskussion stellen, in Abrede stellen) oder mit (nach Kasus flektierten) Nominalen (eine Bedingung stellen, einen Antrag stellen). Hier wäre zu diskutieren, ob Funktionsverben als Ergänzung auch Adjektive nehmen können. Drittens kann stellen nicht wie die anderen Kopulaverben ein Nominal im Nominativ regieren. Die Funktionsverben können nach Auffassung mehrerer Grammatiken (zum Beispiel Eisenberg 2004b; Grundzüge 1981, Duden 4, 1998, Zifonun u.a. 1997 usw.) als Verbklasse neben den Modalverben, Hilfsverben und Kopulaverben stehen. Dies sind gewissermaßen ‚grammatikalisierte‘ Verbklassen – sie haben wenig Eigenbedeutung im Gegensatz zu den Vollverben. Ähnlichkeiten zu den jeweils anderen Klassen sind natürlich nicht ausgeschlossen. Man könnte dann zum Beispiel die Funktionsverben als ‚zwischen den Vollverben und

87 den Kopulaverben stehend‘ betrachten. Leiss betrachtet (1992: 258f.) auch sein (zum Beispiel in Gefahr sein) und haben (zum Beispiel Angst haben) als potentielle Funktionsverben. Die Analyse von stellen als Funktionsverb führt dazu, dass die Adjektiv-stellen-Verbindungen keine Wörter sind, sondern Syntagmen. Sie gehören dann ähnlich eng zusammen wie Funktionsverbgefüge oder wie Kopulaverben und ihre Prädikatsnomen. Eisenberg (2004b: 315) hält fest, dass sich die Funktionsverbgefüge von Präpositionalobjekt-Verb-Verbindungen durch ihre Wortstellung unterscheiden können. So ist weil Helga an ihren Vater jetzt schreibt grammatisch, *weil Josef in Verlegenheit jetzt kommt ist nicht grammatisch. Funktionsverbgefüge sind im Nebensatz nicht unterbrechbar, Präpositionalobjekt-Verb-Verbindungen hingegen schon. Die Verbindungen von Adjektiven mit stellen sind auch nicht unterbrechbar nach den obigen Grammatikalitätsurteilen (Tabelle 3.3). Die Interpretation von stellen als Funktionsverb oder ‚funktionsverbartig‘ ist eine Möglichkeit. Ob es überhaupt Funktionsverbgefüge gibt, ist umstritten (s. van Pottelberge 2001 und eine Reaktion darauf Eisenberg 2006). Die Verbindungen von Adjektiven mit stellen sind nicht sehr produktiv. Einige können als lexikalisiert gelten, dies ist in dem Kriterium ‚Zustand hinterher‘ erfasst. Bisher ist der Vergleich zu den Funktionsverben nicht mehr als eine Idee. Sie kann helfen, die Verbindungen syntaktisch zu beschreiben; die Zusammengehörigkeit der beteiligten Elemente ist vergleichbar. Die Alternative wäre, die transitiven Adjektiv-Verb-Verbindungen mit stellen als Wörter zu betrachten, die reflexiven hingegen als Syntagmen. Stellen wäre dann ein reihenbildendes verbales Zweitglied, ein singulärer Fall. Nun habe ich gewissermaßen zwei mögliche Analysen vorgelegt, die beide darin begründet sind, dass stellen sich in vielen Verbindungen mit Adjektiven nicht wie die anderen Verben verhält: Viele Verbindungen entsprechen nicht der produktiven Resultativkonstruktion. Andererseits weisen sie auch viele Ähnlichkeiten auf, indem sie ein direktes Objekt nehmen. Dieses kann bei stellen häufig als dass-Satz realisiert werden. Hinzu kommt, dass es ein Funktionsverb stellen gibt, das Funktionsverbgefüge bildet. Ich habe hier versucht, den Begriff des Funktionsverb ein wenig auszudehnen und überlegt, ob er auch in Zusammenhang mit Adjektiven einen Sinn haben könnte. Dies wäre eine spezielle syntaktische Analyse. Auch sie würde die enge Zusammengehörigkeit zwischen stellen und den entsprechenden Adjektiven deutlich machen.

3.6 Weitere Adjektiv-Verb-Verbindungen Wie bereits angedeutet, möchte ich hier weitere Fälle untersuchen, die vergleichbar scheinen, aber nicht den beschriebenen produktiven Mustern entsprechen. Eine große Anzahl bilden einigermaßen homogene Gruppen bilden, daneben gibt es aber auch lexikalisierte Einzelfälle. Grundsätzlich erscheint es so, als könnte man Gruppen anhand ‚morphologischer Kriterien‘ herausarbeiten. Zum einen sind es solche, die durch Rückbildung entstanden sind und denen diese Entstehung noch anzusehen ist. Daneben gibt es sowohl Adjektive als auch Verben, die häufig vorkommen. Diese Adjektive und Verben sind in sich nicht (vollständig) reihenbildend. Es erscheint als geradezu typisch, dass es Fälle gibt, die

88 vollständig den produktiven Gruppen entsprechen und solche, die als lexikalisiert zu gelten haben (zum Beispiel fest schrauben – feststellen bzw. noch extremer fest stellen – feststellen). Hier wird jeweils herausgearbeitet, wie der Kernbereich des jeweiligen Elements aussieht. Wenn diese Gruppen bearbeitet sind, ergeben sich immer noch Restfälle, sie werden in Abschnitt 3.6.3 genannt und zum Teil kurz kommentiert. 3.6.1 Rückbildungen Einige der Adjektiv-Verb-Verbindungen können durch Rückbildung entstanden sein. Bei diesen ist der Wortcharakter an und für sich viel eher gegeben, sie sind quasi durch ihre Herkunft Wörter und müssen erst einmal vollständig trennbar werden. (17) a. hochrechnen von Hochrechnung b. freisprechen von Freispruch c. gutschreiben von Gutschrift, guthaben von Guthaben d. fernsehen von Fernseher e. wahrsagen von Wahrsager f. schwarzarbeiten von Schwarzarbeit g. kleinschreiben, großschreiben (von Kleinschreibung /Großschreibung)

In (17a) handelt es sich um eine transitive Verbindung, auch hier geht die Valenz nicht alleine vom Verb aus: *er rechnet die Wahl – er rechnet die Wahl hoch. In (17b) sind wie in (17a) transitive Verbindungen genannt, freisprechen ist hier in einer besonderen Bedeutung gebraucht. Folgende analoge Bildung ist möglich: schuldigsprechen – schuldig sprechen. Hier ist der Wortstatus möglicherweise aus einem anderem Grund nicht möglich: Gemeinhin wird angenommen, dass komplexe Adjektive nicht Erstglieder in Komposita sein können. Das substantivische Kompositum heißt entsprechend Schuldspruch (und nicht *Schuldigspruch). Warum wird hier nicht ein Verb *schuldsprechen rückgebildet? Dies könnte in der Durchsichtigkeit der Konstruktion begründet sein; syntaktisch ist eine Konstruktion schuldig sprechen ohne weiteres möglich, aber die Bedeutung wäre eine andere. Schuldig sprechen in der juristischen Lesart wäre dann eine ‚Resyntaktisierung‘. Die Verbindungen in (17c) können mit einem Akkusativ realisiert werden, die Bedeutung von gut in diesen Verbindungen ist speziell. Fernsehen (17d) ist eine Rückbildung von einem Substantiv Fernsehen oder Fernseher, hierbei handelt es sich um einen vereinzelten Fall. Die These der desubstantivischen Herkunft erhält noch Rückendeckung durch die Konstruktion ich sehe kein fern8, fern selbst wird hier offenbar zum Teil substantivisch interpretiert (s. auch Abschnitt 2.2). Bei wahrsagen (17e) gibt es eine trennbare und eine untrennbare Variante (er sagt wahr – er wahrsagt etwas), dabei scheint die trennbare Variante fakultativ transitiv zu sein, die untrennbare Variante ist obligatorisch transitiv. Dieser Unterschied entspricht dem in Abschnitt 1.4 genannten Unterschied zwischen trennbaren und untrennbaren Partikelverben. Besonders interessant für den Prozess der Rückbildung ist schwarzarbeiten (f), zumindest wenn die folgende Analyse stimmt. Zunächst könnte man von einem Kompositum Schwarzarbeit ausgehen. Daraus wird ein Verb schwarzarbeiten rückgebildet, schwarz in

8

Unter Kindern scheint was gibt es im fern? möglich, jedenfalls sagt mein Sohn das und behauptet, die anderen Kinder würden das auch sagen – ein weiterer Schritt in Richtung Substantiv.

89 dieser Bedeutung löst sich dann heraus und man bildet schwarz reparieren (er repariert das Auto schwarz), schwarz putzen (sie putzt schwarz), schwarz abrechnen (er rechnet schwarz ab), schwarz bezahlen (er bezahlt ihn schwarz). Diese Konstruktionen sind weder transitiv, noch bezieht sich schwarz auf ein Objekt (wenn mit schwarz keine Farbe gemeint ist). Die Valenz geht allein vom Verb aus. schwarz ist Adverbial zum Verb. Allerdings scheint schwarz sehr häufig den Akzent auf sich zu ziehen. In (17g) sind schließlich für diese Arbeit pikante Fälle aufgelistet (kleinschreiben, großschreiben). Diese als Rückbildung zu interpretieren ist immerhin eine Möglichkeit. Das Besondere ist ihre spezielle Bedeutung. Es sind spezielle Verwendungen, die lexikalisiert sind. Die meisten der genannten Verbindungen sind transitiv: hochrechnen, freisprechen, gutschreiben, guthaben, kleinschreiben, großschreiben, fakultativ transitiv ist wahrsagen (in der trennbaren Variante). wahrsagen kann auch alternativ einen dass-Satz als Objekt nehmen. Die Adjektive sind bei einigen durchaus als Eigenschaft auf das Objekt zu beziehen. Wenn jemand freigesprochen wird, ist er frei. klein- und großschreiben ist durchaus so zu interpretieren: er schreibt das Wort klein/ groß. Hochrechnen hingegen ist nicht objektbezogen zu interpretieren, in ich rechne die Wahl hoch ist nicht gemeint, dass die Wahl hoch ist. Die Verbindungen in dieser Klasse sind zwar in dem Sinne keine resultativen Objektsprädikativkonstruktionen, aber einige weisen durchaus typische Eigenschaften dieser Konstruktionen auf. 3.6.2 Adjektiv-Verb-Verbindungen und Wortbildungen In der ersten Auflistung habe ich eine Gruppe benannt, zu denen es Wortbildungen gibt. Dies gilt auch für die Rückbildungen, diese sind ein Spezialfall der Verbindungen, zu denen es Wortbildungen gibt. Die Basis für Rückbildungen sind substantivische Komposita, s. auch Abschnitt 2.3.5. Dass Krankschreibung ein solches Kompositum ist, erscheint unwahrscheinlich: krank und Schreibung. Die andere Interpretation wäre, dass krankschreiben ein komplexes Verb ist, von dem eine Ableitung (in diesem Fall mit -ung) gebildet wird. Beides sind mögliche Interpretationen, beide sind an den Einzelfällen wohl kaum zu klären. Das Problem taucht noch mal bei stellen (Abschnitt 3.5.2) auf. Eine Verbindung wie krankschreiben entspricht zwar der Syntax der anderen Konstruktionen und auch die formale Zusammensetzung ist hier gegeben (Adjektiv und Verb), es entspricht aber nicht der Bedeutung der produktiven Regel, denn der Patient wird nicht krank durch das Schreiben des Arztes.9 Zu krankschreiben kann dann analog gesundschreiben gebildet werden. Auch bei Freischwimmer erscheint eine Komposition aus frei und Schwimmer unwahrscheinlich, aber immerhin gibt es das Substantiv Schwimmer. Das Verb freischwimmen ist, wenn es denn überhaupt gebraucht wird, ein reflexives: er schwimmt sich frei – er macht seinen Freischwimmer. Von daher passt es in die Struktur und erinnert an Konstruktionen wie er redet sich frei, er macht sich frei. Allerdings hat freischwimmen in der vorliegenden

9

Dies ist eine Bedeutung von krankschreiben, nach einer produktiven Regel kann diese Verbindung auch hergestellt werden: an ihrer Habilitation schreibt sie sich langsam krank. sich krank schreiben ist in diesem Fall ein Syntagma.

90 Lesart eine andere Bedeutung, Freischwimmer ist nahezu eine Benennung und daher wohl kaum morphologisch zu analysieren. Auch heiligsprechen/ heilig sprechen10 kann in Zusammenhang mit Heiligsprechung gesehen werden, auch dies ist weniger ein Kompositum im üblichen Sinne, sondern vielmehr eine Benennung eines bestimmten, ritualisierten Vorgangs. 3.6.3 Restklasse Einige Adjektiv-Verb-Verbindungen sollen hier noch angesprochen werden. Die Auflistung ist nicht vollständig. (18) a. bekannt werden b. genaunehmen, schwernehmen c. fernliegen, gutgehen, schwerfallen d. nahebringen, naheliegen

Bekannt werden sieht aus wie eine Kopulakonstruktion. In (18b) werden wiederum transitive Verben produziert: Ich nehme mir das buch – *ich nehme es mir genau – ich nehme etwas genau, ich nehme es schwer. Die dreistelligen Verben nehmen und geben werden mit den entsprechenden Adjektiven zu transitiven Verben. Von daher entsprechen auch diese Verben der produktiven Konstruktion. Sie sind aber nicht resultativ zu verstehen. In (18c) sind einige Konstruktionen genannt, die einen Dativ regieren. Dabei entstehen zum Teil typische Dativkonstruktionen mit nichtagentivischem Subjekt (Eisenberg 2004b: 80). In (18d) schließlich handelt es sich um Adverb-Verb-Verbindungen. Bei den Adjektiv-Verb-Verbindungen, die nicht der ‚Transitivierungskonstruktion‘ oder der ‚Reflexivierungskonstruktion‘ entsprechen, könnte man annehmen, dass sie Wörter sind. Bei denen, die durch Rückbildung entstanden sind oder entstanden sein können, finden wir sogar einen Wortbildungsprozess. Die anderen sind nicht so leicht zu durchschauen. Es sind einzelne lexikalisierte Bildungen. 3.6.4 Überlegungen zu Entstehensprozessen In der Einleitung zu diesem Teil habe ich mögliche Entstehensprozesse angesprochen. Es geht darum, sich zu überlegen, inwieweit für das Deutsche so etwas wie ‚Verbkomposition‘ angenommen werden kann. Hier finden sich untypische und auch nicht wirklich produktive Wortbildungsprozesse. Bei den Adjektiv-Verb-Verbindungen komme ich ja nun zu dem Schluss, dass die meisten Syntagmen sind und nur wenige Wörter. Zum Teil sind diese Adjektiv-Verb-Verbindungen durch Rückbildungen entstanden. Hier verhalten sie sich so wie die Substantiv-Verb-Verbindungen im vorigen Kapitel. Mitunter finden sich entsprechende Substantive, aber es ist nicht klar, wie es zu diesen Substantiven kommt:

10

Hier habe ich zwei Schreibweisen angegeben. Die syntaktisch-semantische Analyse ergibt, dass es ein Wort ist. Die Konstruktion wird hier überlagert durch das Prinzip der morphologisch einfachen adjektivischen Erstglieder, zumindest scheint es eine Intuition zu geben, die Verbindung getrennt zu schreiben (s. auch Kapitel 11). Allerdings ist -ig in heilig ja nicht wirklich ein Adjektivsuffix.

91 Krankschreibung ist vermutlich nicht durch reguläre Substantivkomposition entstanden usw. Das sind Einzelfälle. Vielmehr ist nun konkret zu überlegen, inwieweit die zunächst regulären Adjektiv-VerbVerbindungen sich zu Wörtern verbinden können. Anzunehmen wäre hier ein Univerbierungsprozess. Ein derartiger Wortbildungsprozess könnte bei dem intransitiven weichkochen stattgefunden haben: da sie sonst nicht weichkochen (Beleg von Erbsentüte). weich kochen in der transitiven Variante ist ein Syntagma mit den entsprechenden ‚wortartigen‘ Eigenschaften, die für diese Konstruktionen gelten. weich kann als typisches Ergebnis eines Kochvorgangs gelten. Nun ist auch kochen so zu verwenden: die Erbsen kochen – hier findet eine analoge Übertragung statt. Soweit ich das überblicke, ist dies ein Einzelfall. Bisher völlig ausgelassen habe ich den Akzent. Betonung des Adjektivs könnte als Worteigenschaft gewertet werden. Damit könnte die überwiegende Mehrzahl der Konstruktionen jeweils ein Wort sein. Entsprechend könnte der Prozess Univerbierung sein. Zumindest verzögert wird dieser Prozess aber dadurch, dass Adjektiv und Verb längst nicht immer direkt aufeinanderfolgen. Inkorporation ist insofern zu überdenken, als das Adjektiv in den vorliegenden Fällen gerade keine Ergänzung des Verbs ist.

3.7 Schluss In der vorliegenden Analyse sind sicherlich nicht alle möglichen Adjektiv-Verb-Verbindungen genannt. Ich habe einige systematische Gruppen herausgearbeitet. Diese sind ohne weiteres durchsichtig und produktiv und syntaktisch analysierbar. Allerdings haben alle diese Verbindungen auch typische Worteigenschaften, zumindest erfüllen sie notwendige Bedingungen für die Analyse als Wörter, insbesondere Stellungseigenschaften. In diesem Sinne können einzelne Verbindungen lexikalisiert werden und so mehr Worteigenschaften entwickeln. Analoge Bildungen können auf unterschiedlichem Wege gebildet werden, zum Beispiel durch Rückbildung. Eine typische Eigenschaft der genannten syntagmatischen Fälle ist die uneingeschränkte Vorfeldfähigkeit des Adjektivs. In der Bedeutung kann man sich jeweils wesentlich überlegen, inwieweit ein Objekt die Eigenschaft nach Vollendung hat, also das Kriterium ‚Zustand hinterher‘.

4. Verb-Verb-Verbindungen: kennenlernen, spazierengehen und sitzenbleiben

Als potentielle Komposita aus zwei Verben werden immer wieder die gleichen Fälle genannt: kennenlernen, spazierengehen, sitzenbleiben. Diese sind in vielerlei Hinsicht besonders und es ist durchaus angemessen, sie als lexikalisierte Einzelfälle zu betrachten. Als solche kommen noch einige hinzu wie spazierenfahren und liegenbleiben, aber die Liste ist nicht beliebig erweiterbar . Verbale Erstglieder in Komposita sind im allgemeinen Verbstämme. Für VerbSubstantiv-Komposita sind hier zu nennen Backform, Schreibtisch und Laufkleidung, für Verb-Adjektiv-Komposita backfertig, abfahrbereit und wischfest. Analog zu diesen Bildungen finden sich auch Verb-Verb-Komposita wie mähdreschen und drehschleifen. Ob diese morphologisch trennbar sind, sei dahingestellt (?er versucht mähzudreschen, ?er hat mähgedrescht – er versucht zu mähdreschen, er hat gemähdrescht). Die Verbstamm-VerbKomposita sind aber syntaktisch nicht trennbar: *er drescht mäh. Die vermeintlichen Substantivkomposita wie kennenlernen sind trennbar (er lernt ihn kennen). Das könnte auch ‚erklären‘, warum sie als Infinitive auftreten; im allgemeinen können Verbstämme nicht syntaktisch selbstständig sein. Es sind sehr bestimmte Kontexte, in denen Formen wie bibber, trief, schlotter vorkommen (s. Teuber 1998). Auch hier ist aber zunächst die Frage wie bei den Untersuchungen zu Substantiv-VerbVerbindungen und Adjektiv-Verb-Verbindungen: Inwieweit verhalten sich diese Verbindungen wie ein Wort und inwieweit verhalten sie sich wie ein Syntagma? Auf der einen Seite sind verbale Infinitive im allgemeinen keine möglichen Kompositionserstglieder, damit sind sie von der Form her nicht eindeutig Wörter. Einfache Infinitive sind systematische Ergänzungen von Modalverben (er soll ihn kennen), lernen ist aber nach allen anderen Kriterien kein Modalverb. Hingegen hat das Deutsche viele Verben, die einen zu-Infinitiv als Ergänzung nehmen (er glaubt ihn zu kennen), für kennenlernen ist dies ungrammatisch: *er lernt ihn zu kennen. Die Verbindung von kennen und lernen ist sowohl als Wort ungewöhnlich als auch als Syntagma. Als untrennbares Verb wäre *kennlernen zu erwarten; dies kommt als Kompositionserstglied durchaus vor wie in Kennlernangebot. Als Syntagma wäre *kennen zu lernen zu erwarten, was ungrammatisch ist. Lernen ist ein Verb, das Infinitive als Ergänzung nimmt. Es ist damit ein besonderes Verb, aber es verhält sich an und für sich reihenbildend. So sind er lernt tanzen/ singen/ malen/ schwimmen ebenso möglich wie er lernt essen/ trinken/ atmen usw. Beschränkungen, die von der Bedeutung ausgehen, sind dabei zu erwarten (*er lernt gelingen). Innerhalb dieser Reihe verhält sich kennenlernen explizit anders als die anderen Verbindungen mit lernen. In Fuhrhop (2003b) habe ich die Verben untersucht, die einen einfachen Infinitiv regieren, die aber nicht zu den Modalverben gehören. In Anlehnung an Engel (2004: 258) heißen sie ‚Infinitivverben‘, namentlich sind dies (1)

a. beibringen, bleiben, fahren, gehen, hassen, heißen, helfen, kommen, lehren, lernen, lieben, sich trauen, trainieren, üben, verabscheuen b. ich bringe ihm tanzen bei, ich lerne tanzen, ich liebe tanzen, ich traue mich springen, ich übe tanzen

93 Zugespitzt habe ich in Fuhrhop (2003b) die Frage, inwieweit der Infinitiv verbal oder substantivisch ist. Damit können die Verben vorab in drei Gruppen geteilt werden: (2)

a. beibringen, hassen, lehren, lernen (außer kennenlernen), lieben, sich trauen, trainieren, üben, verabscheuen b. (bleiben), fahren, gehen, kommen c. heißen, helfen

In a. sind die Verben genannt, bei denen es sich sowohl um einen substantivischen als auch um einen verbalen Infinitiv handeln kann, das heißt sowohl zu als auch ein Artikel können vorkommen (er lernt zu tanzen, er lernt das Tanzen). Die Akzeptabilität ist mitunter größer, wenn die regierten Gruppen länger sind: er lernt Flamenco zu tanzen, er lernt das Flamencotanzen. In b. geht weder zu noch ein Artikel: er geht schwimmen – *er geht zu schwimmen, *er geht das Schwimmen (sehr wohl aber er geht zum Schwimmen). Bleiben steht hier in Klammern, weil es zwei mögliche Konstruktionen mit Infinitiven zulässt, die aber komplementär verteilt sind: er bleibt liegen, wohnen usw. im Gegensatz zu es bleibt zu hoffen, es bleibt abzuwarten usw. Es sind unterschiedliche Konstruktionen. In c. geht auch ein zuInfinitiv (Egon hilft Karl umziehen, er hilft ihm umzuziehen, Egon heißt Karl sich setzen/ sich zu setzen). Insbesondere in b. muss die Verbalität des Infinitivs wegen der fehlenden alternativen Konstruktion mit zu gezeigt werden, was zum Beispiel aufgrund der Form der Ergänzungen und aufgrund der kohärenten Konstruktion gezeigt werden kann, dazu (Fuhrhop 2003b). Die kritischen Verb-Verb-Verbindungen ergeben sich aus den Gruppen a. und b. Dabei sind nicht alle Konstruktionen gleichermaßen wortartig, sondern nur einige von ihnen. Bei den Untersuchungen zu den Substantiv-Verb-Verbindungen und zu den Adjektiv-VerbVerbindungen ist die Unterbrechbarkeit bzw. die Nicht-Unterbrechbarkeit im Nebensatz ein Kriterium für die Einordnung zwischen Wort und Syntagma. Die Konstruktionen mit dem einfachen Infinitiv konstruieren immer kohärent. Das gilt sowohl für die Verbindungen von Infinitivverben mit einem einfachen verbalen Infinitiv (dass sie nicht tanzen lernt, dass sie nicht schwimmen geht) als auch für Modalverben mit Infinitivergänzung (dass sie nicht tanzen kann). Bei den Infinitivverben, bei denen der Infinitiv auch substantivisch interpretierbar ist, kann die Gruppe unterbrochen werden (zum Beispiel durch nicht: dass sie tanzen nicht lernt, dass sie das Tanzen nicht lernt) – der Infinitiv ist dann nach allen Kriterien substantivisch (s. Fuhrhop 2003b). Also sowohl die Infinitivverben mit verbalen Infinitiven als auch die Modalverben mit Infinitiven haben hier eine Eigenschaft, die in anderen Kontexten als ein Wortkriterium aufgefasst wird. Hier ist es offenbar kein Wortkriterium, sondern es ist eine Besonderheit von einfachen Infinitivergänzungen. Nichtsdestotrotz ist dies aber auch der Grund, warum Modalverbkonstruktionen häufig anders behandelt werden als andere Verben und ihre Ergänzungen, so führt zum Beispiel Eisenberg (2004 b) allein für die Modalverbkonstruktion die Konstituentenkategorie ‚Verbalgruppe‘ ein. Die Fälle kennenlernen, spazierengehen usw. verhalten sich wie gesagt nicht so wie die anderen in den jeweiligen Gruppen. Diese Fälle müssen in der Beschreibung abgegrenzt werden zu den schon ausgezeichneten Reihen. Was unterscheidet kennenlernen von tanzen lernen und was spazierengehen von schwimmen gehen? Im folgenden werde ich die Fälle näher beschreiben.

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4.1 Die Verb-Verb-Verbindung kennenlernen Die Verbindung kennenlernen verlangt einen obligatorischen Akkusativ: *ich lerne kennen – ich lerne ihn kennen. Der Akkusativ unterscheidet sich auch von dem bei den AcI-Verben. Bei den AcI-Verben ist der Akkusativ das semantische Subjekt des Infinitivs: in der mann sieht die kinder spielen spielen die Kinder und nicht der Mann. Bei kennenlernen hingegen ist der Akkusativ als semantisches Objekt des Infinitivs zu lesen, das semantische Subjekt von kennen ist das gleiche wie von lernen: In ich lerne ihn kennen steckt der Sachverhalt ‚ich kenne ihn‘ drin und nicht ‚er kennt‘. kennenlernen unterscheidet sich nicht nur im Kontrollverhalten von den Infinitivverben. Die AcI-Verben sind im allgemeinen transitive Verben. Sie können den Akkusativ nehmen, auch ohne den entsprechenden Infinitiv: der mann sieht die Kinder spielen – der mann sieht die kinder. Bei lernen ist dies im Prinzip auch so: ich lerne flamenco tanzen – ich lerne flamenco; ich lerne englisch sprechen – ich lerne englisch. Die Sätze sind möglicherweise pragmatisch markiert, aber sie sind nicht ungrammatisch. Was passiert hier? In ich lerne flamenco tanzen, ich lerne englisch sprechen können flamenco und englisch jeweils Objekt zu den Infinitiven sein. In den entsprechenden Sätzen ohne Infinitiv sind sie dann Objekt zu lernen. In ich lerne ihn kennen ist ihn Objekt zu kennen, strukturell könnte dies das Gleiche sein. Das Besondere an lernen scheint hier zu sein, dass im Akkusativobjekt nichts Belebtes stehen kann: *ich lerne den mann, *ich lerne den hund. Dies geht von der Bedeutung her nicht. Die Einschränkung gilt nicht nur für Belebtes. Sondern vielmehr geht als Ergänzung von lernen nur, was man lernen kann, also ‚Tätigkeiten‘. kennenlernen erweitert diese Möglichkeiten: *ich lerne das land – ich lerne das land kennen. kennenlernen verhält sich hier besonders. All dies sind Gründe, weiterhin kennenlernen zusammenzuschreiben. Es ist kein Syntagma, sondern hat ganz klar Worteigenschaften, da zum Beispiel die Ergänzungsfähigkeit von beiden gemeinsam entwickelt wird und die Art der Ergänzungen so nur für kennenlernen gelten; sie gelten nicht für andere Kombinationen.

4.2 Die Verb-Verb-Verbindungen spazierengehen und spazierenfahren Bei spazierengehen, spazierenfahren liegt der Fall anders. gehen und fahren nehmen nur den einfachen Infinitiv als Ergänzung, in dieser Beziehung verhalten sich spazierengehen und spazierenfahren wie die anderen Verbindungen mit gehen und fahren. Hier liegt die Besonderheit an spazieren: ?ich spaziere – ich spaziere durch den wald, am fluss entlang – ich gehe spazieren, ich spaziere durch den wald – ich gehe durch den wald spazieren. Inhaltlich ist das Verhältnis von spazieren und gehen in spazierengehen das eines Determinativkompositums: das Erstglied bestimmt das Zweitglied näher. spazierengehen unterscheidet sich jedenfalls von den anderen Kombinationen mit gehen (und entsprechend mit fahren): ich gehe schwimmen kann paraphrasiert werden mit ‚ich gehe zum schwimmen‘, spazierengehen meint jedoch nicht ‚ich gehe zum spazieren‘. Es sind lexikalisierte Einzelfälle. Sie bilden gemeinsam einen Begriff, was durchaus ein Argument für die Wortartigkeit dieser Verbindungen ist.

95

4.3 Die Verb-Verb-Verbindungen sitzenbleiben/ liegenbleiben Nur wenige Infinitive können mit bleiben kombinieren, namentlich nur: bestehen, hängen, kleben, liegen, sitzen, stecken, stehen, wohnen.1 bleiben und Infinitive kombinieren nicht frei: (3)

??er bleibt arbeiten, ???er bleibt malen, *er bleibt fahren, *er bleibt schreiben

Acht Vollverben kombinieren im einfachen Infinitiv mit bleiben. Die Kombinatorik ist sehr beschränkt. Hinzu kommt, dass die Kombinationen häufig zwei Bedeutungen herausbilden, besonders deutlich ist dies bei sitzenbleiben. Die Bedeutung ‚in der Schule sitzenbleiben‘ ergibt sich nicht aus der Kombinatorik von ‚sitzen‘ und ‚bleiben‘, sondern sie ist lexikalisiert. Auch die anderen genannten Kombinationen können unterschiedlich gebraucht werden. (4) a. ich bin gestern abend in der Kneipe hängengeblieben – das Bild ist auch während der Bauarbeiten hängen geblieben b. die Arbeit ist seit Wochen liegengeblieben – der Junge ist einfach liegen geblieben

Dennoch scheint bei diesen die Bedeutung der Verbindungen durchaus rekonstruierbar. Das eine ist die Bedeutung, was in der alten Rechtschreibregelung das Entscheidende war. Dabei muss man allerdings bedenken, dass der Bedeutungsunterschied bei sitzenbleiben besonders deutlich ist, bei liegenbleiben schon weniger und bei wohnenbleiben ist die Bedeutung aus den einzelnen Teilen ableitbar. Aber und hier komme ich zu einem formalen Argument: es sind sehr wenig Verben, die als Infinitiv Ergänzung von bleiben sein können. Es scheint von daher schon eine lexikalisierte Konstruktion zu sein. Wie gesagt treten verbale Erstglieder im allgemeinen als Stammform in Komposita auf. Wenn allerdings der Infinitiv das Erstglied eines Verbkompositums ist, entspricht die Verbindung aber stets auch einem Syntagma, abgesehen vom Akzent bzw. abgesehen von der Getrennt- oder Zusammenschreibung. Bis auf die Bedeutung können hier auch Tests wie aus den anderen Kapiteln (2 und 3) herangezogen werden; die Tests greifen hier allerdings nur zum Teil. Infinitiv und Verb sind in den vorliegenden Fällen nicht unterbrechbar. Das spricht aber hier nicht für die Wortartigkeit der Fälle (dagegen spricht es selbstredend auch nicht), denn es ist bekannt, dass im Deutschen Verbkonstruktionen mit einem einfachen Infinitiv kohärent konstruieren. Das gilt auch für die Modalverben, für die syntagmatische Konstruktion, die am häufigsten mit dem einfachen Infinitiv operiert. Sie bleiben damit aber eindeutig syntagmatische Konstruktionen. Allerdings kann die Vorfeldfähigkeit getestet werden, insbesondere die Vorfeldfähigkeit in Konstruktionen, in denen dem Infinitiv ein flektiertes Hilfsverb oder Modalverb folgt: (5) a. ???Kennen will er sie lernen – Tanzen will er lernen b. ???Spazieren will Max gehen – Schwimmen will Max am Montag gehen c. Sitzen will er bleiben – ???Sitzen wird er in der Schule bleiben

1

Für die Aufzählung, insbesondere das letzte Beispiel, danke ich Oliver Teuber.

96 Die jeweils ersten Sätze in a. und b. sind grammatisch fragwürdig, die jeweils zweiten sind grammatisch. Ein Unterschied zwischen den Bildungen ist auch hier zu finden. In c. liegt der Fall insofern anders, als es ja in jedem Fall ein Syntagma sitzen bleiben gibt. Die Frage besteht darin, ob es auch ein Wort sitzenbleiben gibt. So erscheint der zweite Satz in c. mit der entsprechenden Bedeutung zumindest ungewöhnlich.

4.4 Schluss Im heutigen Deutsch sind einige Verb-Verb-Komposita anzunehmen, die nicht durch Komposition entstanden sind. Dieser Prozess ist für Verb-Verb-Verbindungen nicht produktiv. Die Fälle sind vereinzelt. Die jeweiligen zweiten Verben bilden dabei Reihen, allerdings Reihen sehr unterschiedlicher Art: Lernen kann eine einfache Infinitivergänzung nehmen, und zwar reihenbildend. Insgesamt verhält sich kennenlernen aber in dieser Reihe grammatisch außergewöhnlich (zum Beispiel er lernt tanzen, er lernt zu tanzen/ *er lernt ihn zu kennen). Auch gehen und fahren bilden Reihen mit Infinitiven; in Verbindung mit spazieren verhalten sie sich besonders, zum Beispiel in er geht tanzen/ zum Tanzen/ *zum Spazieren. Infinitive bilden mit bleiben eine Reihe, allerdings nur sieben oder acht Infinitive kombinieren mit bleiben. Von daher sind sie ausgezeichnet. Einige Verben regieren also einen einfachen Infinitiv. Das Regieren des einfachen Infinitivs ist im System aber markiert. Bei diesen an und für sich schon markierten Konstruktionen kommt nun außerdem hinzu, dass es einzelne ‚Ausreißer‘ gibt, die man aufzählen kann. Sie verhalten sich grammatisch außergewöhnlich, was durchaus in ihrer ‚Wortartigkeit‘ steckt. Die Kombination mit dem einfachen Infinitiv prädestiniert die Infinitivverben geradezu, Zusammensetzungen (oder Zusammenrückungen) zu bilden. Weil sie syntaktisch auf der einen Seite ungewöhnlich sind, auf der anderen Seite aber eben gerade die Ungewöhnlichkeit in der Einfachheit des Infinitivs steckt. Die syntagmatische Konstruktion kann ohne zusätzlichen Verlust eines Elements – wie es zum Beispiel bei einem regierten zu-Infinitiv zu erwarten wäre – zu einem Wort werden. Die Kohärenz kann als erster Schritt zur Bildung einer Einheit gesehen werden. Dies zeigt sich auch in der besonderen Behandlung der Modalverbkonstruktion. Auf der anderen Seite allerdings reicht die Konstruktion allein nicht aus, um Wörter zu bilden. Die Konstruktion an und für sich ist vollständig syntaktisch zu analysieren. Verstehen kann man die vorhandenen Komposita von der anderen Seite: es gibt einige vereinzelte (trennbare) VerbVerb-Komposita. Die jeweiligen Zweitglieder gehören zu der Klasse der Infinitivverben. Dies ist die erste formale Voraussetzung für die Entstehung eines entsprechenden komplexen Wortes. Die komplexen Wörter, die entstehen, sind im allgemeinen vereinzelte Fälle. Auf der morphologischen Ebene bildet diese Konstruktion keine Reihen, sie sind syntaktisch zu analysieren. Einzelne Lexikalisierungen als Wörter sind aber möglich.

5. Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen

Dieses Kapitel stellt den Auftakt zu den Adjektiv-Verbindungen dar. Rein systematisch könnte man neben den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen nach Substantiv-Adjektiv-Verbindungen und Verb-Adjektiv-Verbindungen fragen. Ausgenommen die Partizipien sind aber die Substantiv-Adjektiv-Verbindungen weitgehend eindeutig Wörter (zum Beispiel himmelblau). Sie werden durch Komposition gebildet. Die Verb-Adjektiv-Verbindungen sind schon an der Form als solche zu erkennen, weil Verben sich mit Adjektiven in der Stammform verbinden und nicht im Infinitiv (backfertig, ausgehfein, putzwütig). Daher wird bei den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen eine andere Systematik verfolgt. Dem Kapitel zu den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen folgt ein spezielles Kapitel zu nicht als Worterstglied. Man findet Paare wie nicht öffentlich und nichtöffentlich; die Systematik ist auffallend analog zu den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen; allerdings ist nicht das einzige Adverb, das sich so verhält. Anschließend folgt ein kurzes Kapitel zu Fällen wie Schweizer als Erstglied (Schweizerkäse – Schweizer Käse): Das Adjektiv ist hier zwar Attribut zum Substantiv, aber es bleibt unflektiert, so dass der Fall Ähnlichkeiten mit den unflektierten Adjektiven vor Adjektiven bekommt, die in dem vorliegenden Kapitel untersucht werden. Anschließend folgen zwei Abschnitte über Partizipien, die sich sowohl in der Syntagmenbildung als auch in der Komposition anders verhalten als andere Adjektive, weswegen sie in besonderen Untersuchungen abgehandelt werden.

5.1

Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen: Allgemeine Überlegungen

5.1.1 Kombinatorik Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen können Wörter sein: Auf der einen Seite gibt es die sogenannten Kopulativkomposita wie zum Beispiel süßsauer und auf der anderen Seite Fälle wie halbstark, superblöd. Folgen von zwei Adjektiven können aber auch Syntagmen sein wie extrem fleißig, schön blöd. Man kann beide Gruppen auch nicht lexikalisch trennen, indem man feststellt, dass halb, super usw. Kompositionserstglieder oder auch schon Halbpräfixe sind, denn mitunter können die gleichen Kombinationen als Wörter und als Syntagmen auftreten: schwerverständlich – schwer verständlich, schwerbehindert – schwer behindert. Bei den untersuchten Wörtern bzw. Syntagmen ist folgende erste Beobachtung auffällig: Beide Positionen sind stark beschränkt. Sowohl als Kompositionserstglied (halbstark – *ganzstark) als auch als (syntaktischer) Adjektivmodifikator (schön schwierig – *hässlich schwierig) kommen wenig Adjektive vor. Wenn das Zweitglied ein Partizip ist (Partizip I oder II) sind mehr Adjektive möglich; die Partizipien sind in der konkreten Kombinatorik sehr viel freier.

98 5.1.2 Unterschiede zu den Verb-Verbindungen Die beiden Konstruktionen als Wort oder Syntagma bestehen im heutigen Deutsch weitgehend unabhängig voneinander; sie haben unterschiedliche Bedeutungen und entwickeln voneinander unabhängige Regelmäßigkeiten. Schwer behindert und schwerbehindert sind nicht ohne weiteres gegeneinander austauschbar: durch den Rucksack ist er beim Klettern schwer behindert/ *schwerbehindert. Schwerbehindert ist ‚definiert‘ (so Eisenberg 2004a: 334). Im Gegensatz dazu unterscheiden sich die Bedeutungen eines Wortes radfahren und eines Syntagmas Rad/rad fahren nicht. Bei den Substantiv-Verb-Verbindungen ging es wesentlich um den Status der substantivischen Einheiten, denn diese verhalten sich nicht wie selbstständige syntaktische Einheiten. Daher haben sie Wortteilcharakter; und damit bekommt die gesamte Verbindung von substantivischer Einheit und Verb Wortcharakter. Die Trennbarkeit hebt die VerbVerbindungen zusätzlich hervor. Bei den vorliegenden Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen sind viele Fälle eindeutig, sie hängen nicht zwischen Wort und Syntagma. So ist zum Beispiel höchstwahrscheinlich ein Wort, höchst ärgerlich ein Syntagma, mit der entsprechenden Betonung könnte auch höchst wahrscheinlich ein Syntagma sein; es sind zwei unterschiedliche Konstruktionen. Noch deutlicher wird dies bei den Beispielen bitterböse und erstaunlich gut. Beide Konstruktionen sind an und für sich voll funktionsfähig – im Gegensatz zu manchen SubstantivVerb-Verbindungen, bei denen einzelne Formen im Paradigma fehlen (?er drückt arm von Armdrücken, ?er schwimmt delphin). Die Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen unterscheiden sich auch hinsichtlich ihres Stellungsverhaltens von den Verbindungen mit Verben. Bei Flexion werden die AdjektivAdjektiv-Verbindungen nicht getrennt: das schwer verständliche/ schwerverständliche Buch, des schwer verständlichen/ schwerverständlichen Buches. Sowohl in dem Wort als auch im Syntagma flektiert schwer nicht. Wort und Syntagma unterscheiden sich formal wenig. Allerdings werden Wort und Syntagma unterschiedlich akzentuiert, aber die Akzentuierung ist ein unsicheres Kriterium (dazu Abschnitt 1.3.1). Die Wörter sind nicht unterbrechbar, die Syntagmen aus bestimmten Gründen aber auch nicht ohne weiteres (*erstaunlich sehr gut s. Abschnitt 5.3). 5.1.3 Mehrdeutigkeit der Syntagmen Ich möchte hier betonen, dass zwei oder sogar drei unterschiedliche Syntagmen möglich sind: a. ein schweres, verständliches Buch; ein grünes, verständliches Buch b. die gute französische Küche c. ein schwer verständliches Buch; ein extrem gut verständliches Buch

In a. handelt es sich um Aufzählungen von Attributen, die sich alle auf das Kernsubstantiv beziehen. Daher flektieren sie auch. In b. bezieht sich gute auf die Nominalgruppe französische Küche. Auch hier flektieren beide Adjektive. Die Fälle a. und b. werden in der Schreibung durch unterschiedliche Kommasetzung unterschieden. In c. modifiziert das unflektierte Adjektiv das (flektierte) Adjektiv. In ein schwerverständliches Buch, also mit einem entsprechenden Adjektivkompositum, modifiziert schwer auch verständlich. Letztendlich

99 geht es in diesem Kapitel um den Unterschied zwischen schwerverständlich und schwer verständlich.

5.2 Komposition mit Adjektiven Zunächst gelten Adjektive wie Substantive als kompositionsfähig, im Gegensatz zum Beispiel zu Verben, wo es zwar einige Komposita gibt, diese sind aber nicht durch Komposition entstanden (Abschnitt 2.3.5). ‚Kompositionsfähigkeit‘ bezieht sich hier zunächst auf die Zweitglieder. So können unterschiedliche Erstglieder mit Adjektiven kombinieren: In 1a. Substantive, in 1b. Adjektive und in 1c. Verben. (1) a. himmelblau, haushoch b. schwerverständlich, süßsauer c. backfertig, lesefreudig

Adjektive können auch Erstglieder sein; als solche unterliegen sie aber offenbar verschiedenen Beschränkungen: (2) a. Rotwein, Glatteis b. krankschreiben, feststellen

Bei der Adjektiv-Substantiv-Komposition ist insbesondere auffällig, dass ausschließlich morphologisch einfache Erstglieder vorkommen (s. zum Beispiel Eisenberg 2004a: 227). Komplexe Adjektive sind keine möglichen Kompositionserstglieder: *Trinkbarwasser, *Zeitlichvertrag – eine deutliche Beschränkung für die Kompositionsfähigkeit. Von Kombination von Adjektiv und Verb handelt Kapitel 3. Dass hier wenige Verbindungen möglich sind, hat zumindest auf den ersten Blick nichts mit dem Adjektiv an und für sich zu tun, sondern ist dadurch begründet, dass Verben keine Komposita bilden. Die Adjektiv-Adjektiv-Komposition scheint wider Erwarten sehr beschränkt zu sein. Wie bei den Adjektiv-Substantiv-Komposita gilt hier die Einschränkung auf morphologisch einfache Adjektive: Unter den möglichen Erstgliedern ist kein komplexes. Allerdings geht die Einschränkung hier wesentlich weiter, insbesondere bei den Determinativkomposita. Kopulativkomposita gibt es hingegen recht viele. Die genannte Einschränkung gilt nicht für partizipiale Zweitglieder (s. Kapitel 9). Bei den Adjektiv-Adjektiv-Komposita beinhaltet die Bezeichnung ‚Kompositum‘ wie den Verb-Komposita nicht unbedingt den Prozess ‚Komposition‘ (so auch der Begriff ‚Pseudokomposita‘ von Asdahl-Holmberg (1976)). Wie die Komposita gebildet werden, ist an dieser Stelle eine offene Frage, sie wird am Schluss in Abschnitt 5.5 diskutiert. In (3) sind Adjektivkomposita aufgelistet, die in Herberg/ Baudusch (1989: 184f.) genannt werden. Allein die Tatsache, dass diese Adjektivkomposita aufgelistet werden, deutet schon auf ihre Beschränktheit hin. (3)

a. altklug, bitterböse, bitterernst, kleinwinzig, nassfest, nassforsch, neureich, tiefernst, wildfremd b. bereitwillig, blondlockig, buntscheckig, eigengesetzlich, eigenmächtig, feinkörnig, fernmündlich, fernöstlich, gemein-gefährlich, gemeinverständlich, grobfaserig, grobkörnig,

100 gutnachbarlich, heißhungrig, mehrfarbig, offenkundig, offensichtlich, rechtzeitig, scharfkantig, scharfzackig, spitzfindig, strenggläubig, verschiedenfarbig c. gleichgeschlechtlich, gleichgesinnt, gleichgültig, gleichwinklig, gleichzeitig d. leichtfertig, leichtflüssig, leichtgläubig e. minderbedeutend, minderbegabt, minderbemittelt, minderwertig f. ganzleinen, ganzseiden g. reinleinen, reinseiden, reinwollen h. extrafein, extraordinär i. halbblank, halbdunkel, halbfett, halbjährlich, halblaut, halbleinen j. hochbegabt, hochbetagt, hochempfindlich, hochfein k. oberfaul, oberbegabt l. schwerkrank, schwerreich, schwerbehindert, schwerverständlich m. vollautomatisch, vollgenossenschaftlich, vollgültig, vollschlank

Die Liste ist grob geordnet. In a) stehen dabei solche Fälle, die als echte Komposita erscheinen. Diese Einordnung ist nur zu verstehen im Zusammenhang mit den nachfolgenden Beispielreihen und den entsprechenden Kommentaren. Zur ersten Orientierung: die Erstglieder in a) sind nicht reihenbildend und die Zweitglieder sind nicht komplex. In der Beispielreihe sind einige eher ungebräuchliche Adjektive, die Menge ist insgesamt ziemlich klein. Die Fälle in b) haben ein komplexes Zweitglied, insbesondere solche mit -ig, manche auch mit -lich. Adjektivkomposita mit komplexem Zweitglied sind zum Teil ausgezeichnet. Die Komposition, nach der ich hier suche, ist die zwischen Adjektiv und Adjektiv. Bei der Betrachtung der genannten Fälle zeigen sich jedoch auch andere Bildungsweisen für die Struktur ‚einfaches Adjektiv + komplexes Adjektiv‘: 1. Es handelt sich um die Ableitung von einem Substantiv, das bereits ein Kompositum ist: dickköpfig ist eine Ableitung aus Dickkopf und nicht eine Komposition aus dick und ?köpfig. Für diese Bildungsweise ist die Existenz des entsprechenden substantivischen Kompositums notwendige Bedingung. 2. Es handelt sich um eine sogenannte Ableitung aus ‚Wortgruppen‘ (so zum Beispiel Fleischer 1982: 259, Fleischer/ Barz 1992: 251, Duden 4, 1998: 546 u.a.): schmallippig, hochhackig, kurzbeinig, spitzwinklig. Dies ist eine Art von Wortbildung, für die sich das adjektivische Suffix -ig besonders auszeichnet: hochhackig ist kein Kompositum aus hoch und ?hackig, kurzbeinig keines aus kurz und ??beinig. Auch die entsprechenden komplexen Substantive fehlen (*Hochhacken, *Kurzbein), die Bildungsweise ist offenbar auch nicht die in 1. beschriebene. Fleischer (1982: 259) beschreibt sie als ‚Ableitungen aus Wortgruppen‘. Dies kann aber nicht im syntaktischen Sinn gemeint sein; von der Form her werden sie zusammengesetzt wie Komposita, denn das jeweils erste Adjektiv bleibt unflektiert. Ein erster Hinweis für eine solche Zusammenbildung ist, dass das entsprechende suffigierte Adjektiv, also gewissermaßen das Zweitglied, nicht alleine vorkommt. Das ist nur ein Hinweis, es ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung.

Beide Bildungsweisen führen systematisch zu Wörtern, die aus zwei Adjektiven bestehen; sie entstehen aber nicht durch die Komposition zweier Adjektive. Besonders auffällig ist, dass beide Bildungsweisen zu komplexen Letztgliedern führen. Die meisten der in b) genannten Bildungen sind auf eine dieser beiden Entstehensweisen zurückzuführen. Es ist im einzelnen natürlich nicht zu beweisen. Wenn die Adjektiv-Adjektiv-Komposition voll produktiv wäre, könnten zumindest einige von ihnen durch ‚normale‘ Komposition entstanden sein. Die Untersuchung wird aber deutlich zeigen, dass die Adjektiv-Adjektiv-Komposition stark beschränkt ist. Daher betrachte ich im folgenden nicht die Adjektiv-Adjektiv-Verbin-

101 dungen, die auch anders entstanden sein können. Wenn das ‚Letztglied‘ nicht alleine vorkommt, so ist dies hinreichend für die These, dass es sich im aktuellen Fall nicht um ein Kompositum aus zwei Adjektiven handeln kann. In c) bis m) sind jeweils einzelne Erstglieder aufgelistet. Diese haben potentiell einen reihenbildenden Charakter. Dabei sind es zum Teil auch Ableitungen von Wortgruppen, aber die Erstglieder leicht und gleich sind reihenbildend. Wie in b) enden die ‚Zweit‘glieder auf -ig, -lich neben dem Partizip gleichgesinnt. In e) sind Wörter mit minder als erstem Bestandteil aufgelistet: minderwertig könnte eine Ableitung von Minderwert sein, kaum aber ein Kompositum aus minder und ?wertig. Die anderen Bildungen mit minder- könnten der Form nach Partizipien sein. Bei den genannten Fällen sind die Zweitglieder stets morphologisch komplex, eine Bedingung für die obengenannten besonderen Entstehensweisen wäre erfüllt. Ich möchte an dieser Stelle diese Beobachtung nicht überstrapazieren. Fest steht aber, dass gleich groß ein Syntagma1 ist, das heißt gleich kann auch Attribut (s. Abschnitt 5.3.2, Fuhrhop/ Thieroff 2006) zu einem Adjektiv sein und nicht ausschließlich Kompositionserstglied. In f) und g) sind die Zweitglieder sehr beschränkt, es sind ‚Materialadjektive‘ (Motsch 1999: 240) auf -en; die Erstglieder sind rein- und ganz-. Sie haben hier eine spezielle Bedeutung: Es geht darum, dass etwas kein Mischgewebe ist. Zum Teil kommen sie auch als Substantive vor: Ganzleinen. Beide Adjektive stehen sonst in Syntagmen: rein logisch, ganz fertig; die Möglichkeit, Erstglieder zu sein, haben sie einerseits bei den Materialadjektiven und andererseits bei Wortbildungen auf der Grundlage von Wortgruppen: ganzjährig, ganztägig. Die Verbindungen mit ‚Materialadjektiven‘ haben geradezu etwas Benennendes und damit etwas Lexikalisiertes: Der Pullover ist reinseiden. In h) bis m) stehen dann schließlich die Erstglieder, die reihenbildend sind: extra, halb, hoch, schwer, voll, ober. Es sind sehr wenige, sie sind alle ‚graduierend‘ und bis auf halb graduieren sie alle in eine ‚Richtung‘, in eine ‚hohe‘ Dimension. So kommt schwer hier vor, aber nicht leicht, ebenso geht hoch, aber nicht tief usw. Bei allgemeinen Gedanken über Adjektivkomposition fällt weiterhin auf, dass alle diese potentiellen Erstglieder auch potentielle Erstglieder von Substantivkomposita sind: Extrablatt, Halbmarathon, Hochhaus, Schwergewicht, Vollgas, Oberassistent. Es ist kein Adjektiv dabei, das ausschließlich Erstglied eines adjektivischen Kompositums ist. Das heißt die Menge der adjektivischen Erstglieder für adjektivische Komposita ist eine echte Teilmenge der adjektivischen Erstglieder für substantivische Komposita. Die adjektivischen Komposita könnten damit Analogiebildungen von substantivischen Komposita sein. Während also die substantivische Komposition abstrakten Regeln folgt, braucht die adjektivische Komposition konkrete Vorbilder. Bei den Substantiven sind sehr viel mehr adjektivische Erstglieder zugelassen (Rotwein, Schöngeist, Faulpelz, Glatteis, Flachbau, Langlauf, Dickkopf). Die Tatsache, dass einige, sehr wenige der adjektivischen Erstglieder reihenbildend zu sein scheinen, legt eine Interpretation als Halbpräfixe nahe. Eine Gruppe von Fällen fehlt hier noch, die Farbbezeichnungen. Hier findet produktive Komposition im eigentlichen Sinn statt: Sie bilden sowohl Determinativkomposita als auch Kopulativkomposita. Verbindungen mit den gleichen Bestandteilen haben dabei (potentiell)

1

Ein Blick in Wörterbücher für entsprechende Beispiele hilft hier nicht unbedingt weiter aus einem einfachen Grund: In Wörterbüchern stehen Wörter und keine Syntagmen. Wenn Zweifelsfälle verzeichnet werden, dann als solche. ‚Eindeutige‘ Syntagmen werden gerade nicht genannt.

102 ein unterschiedliches Akzentmuster: blaugrün – blaugrün. Im ersten Fall handelt es sich um ein Kopulativkompositum, etwas ist gleichzeitig blau und grün, im zweiten Fall um ein Determinativkompositum, es handelt sich um eine spezielle Art des Grüns. Bei einer Auflistung der möglichen adjektivischen Erstglieder kommen damit Farbbezeichnungen dazu. Mögliche Beschränkungen sind allein in der Bedeutung begründet, so sind gelbgrün und blaugrün eher als Determinativkomposita zu denken als zum Beispiel rotgrün. Die Komposition von Farbbezeichnungen ist ein Sonderfall, den ich hier nicht weiter behandle.

5.3 Syntagmen aus zwei Adjektiven Neben den Komposita aus zwei Adjektiven gibt es Syntagmen aus zwei Adjektiven. Es geht dabei um die Syntagmen, bei denen das erste Adjektiv unflektiert bleibt. Das erste Adjektiv modifiziert das zweite (erstaunlich gut, extrem schwierig). Die Position ist in vielen Fällen sehr beschränkt. Neben Adjektiven sind in dieser Position auch Adverbien möglich (sehr gut, besonders gut). Zifonun u.a. (1997) beschreiben diese Adjektive und Adverbien parallel zu „Intensitätspartikeln“: Eine Verwendung, die der Intensitätspartikel-Funktion entspricht, zeigen einige Adjektive (absolut, extrem, ganz, höchst, total, völlig, weit, ziemlich...) Zifonun u.a. (1997: 56)

Dies könnte als semantische Beschreibung interpretiert werden. Eisenberg (2002b: 61f.) diskutiert die ‚Stelle‘ vor dem Adjektiv bzw. die Stelle eines Adjektivmodifikators in Zusammenhang mit Adverbien: eine größere Klasse von Wörtern, die primär als Modifikatoren von Adjektiven, daneben auch mit bestimmten Verbklassen auftreten, z.B. ganz, sehr, höchst, besonders, kaum, gern, ziemlich. Sie werden etwa von der IDS-Grammatik (Zifonun u.a. 1997: 56; 1200) teils als graduierende Adverbien und teils als Intensitätspartikeln klassifiziert, wobei die Klassen allerdings überlappen. Eisenberg (2002: 61f.)

Eisenberg charakterisiert eine solche Menge von Wörtern syntaktisch-semantisch, sie treten als Modifikatoren von Adjektiven auf. Zifonun u.a. liefern eine semantische Beschreibung, indem sie ‚Intensität‘ annehmen bzw. ‚graduierend‘. Eine solche Beschreibung könnte freie Kombinierbarkeit im kleinen Bereich zeigen. 5.3.1 Beschränkungen bei adjektivmodifizierenden Adjektiven In der Literatur wird diese Position als sehr beschränkt dargestellt. So nennt Bhatt (1990: 80) die folgenden: schön, extrem, übermäßig, wahnsinnig, total, echt, völlig, riesig

Außerdem können dort noch zumindest schwer, leicht, hoch, höchst, wenig, erschreckend, erstaunlich stehen. Als Modifikatoren zu Adjektiven sind sie sicherlich alle graduierend: Mit schön fleißig meint man ja nicht ‚schön‘ im eigentlichen Sinne, sondern so etwas wie ‚sehr fleißig‘, ebenso hat wahnsinnig in wahnsinnig fleißig wenig mit Wahnsinn zu tun.

103 Manche der Adjektive entwickeln in dieser Position eine besondere Bedeutung. Andere Adjektive können hier nicht stehen: *schlecht fleißig, *grün fleißig oder *lang fleißig. Als Adverbien kommen an dieser Stelle besonders, sehr, ganz, kaum usw. vor, auch diese sind graduierend. Damit erinnern sie an die genannten reihenbildenden Erstglieder wie hoch-, voll- und schwer-, auch diese können als ‚graduierend‘ beschrieben werden, dennoch scheint es hier klare Unterschiede zu geben, die noch benannt werden müssen. Adjektive können offenbar nur einmal modifiziert werden: das sehr verständliche Buch, das schwer verständliche Buch, das sehr schwer verständliche Buch, sehr kann sich in dem letzten Beispiel nicht auf verständlich beziehen, sondern nur auf schwer (oder auf schwerverständlich). Das wäre ein erster Unterschied zwischen der Graduierung im Wort und der im Syntagma; die Wortgraduierung ermöglicht eine weitere (syntaktische) Graduierung. Die Position wird bevorzugt von Adjektiven und Adverbien besetzt, die graduierend sind. Es sind zwar relativ wenige Adjektive und Adverbien, die graduierend sind, die Klasse ist aber an sich nicht geschlossen, es können dort neue Wörter hineinkommen, wenn sie die entsprechende Bedeutung entwickeln. Die Position erscheint geradezu als typisch für modesprachliche Erscheinungen, so sind in den letzten Jahren zum Beispiel krass und voll hinzugekommen: das krass gute Buch, das krass schlechte Buch, das voll gute Buch, das voll traurige Drama. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit, denn sehr wohl finden sich solche Gruppen wie qualitativ hochwertig, pädogogisch wertvoll. Betrachtet man außerdem die Partizipien, ist der Bereich wenig eingeschränkt: schnell gemalt, leicht geschrieben usw. Die Frage, welche Adjektive andere Adjektive modifizieren können, bleibt hier ungeklärt. Was auf jeden Fall deutlich wird ist, dass eine (vollständige) Auflistung hier keine mögliche Lösung ist. 5.3.2 Exkurs: Attribute zu Adjektiven In Fuhrhop/ Thieroff (2006) diskutieren wir unter anderem, in welchem syntaktischen Verhältnis Adjektive zueinander stehen in Verbindungen wie erstaunlich gut. Wir kommen zu dem Schluss, dass hier eine Attributrelation besteht. Um dies in einem Ansatz wie dem von Eisenberg (2004b) beschreiben zu können, ist zunächst folgende Ausweitung nötig: Adjektive können im Nachbereich der Attributrelation stehen. Da wir außerdem annehmen, dass in sehr gut die gleiche syntaktische Relation anzunehmen ist wie in erstaunlich gut, sind außerdem folgende Erweiterungen nötig: Im Vorbereich der Attributrelation können unflektierte Adjektive und Adverbien stehen. Treten zwei selbstständige Adjektive auf und das eine Adjektiv modifiziert das andere, so besteht zwischen beiden eine Attributrelation. Die Attributrelation wird typischerweise als ‚modifizierend‘ beschrieben, das ist allerdings auch die Relation, die zwischen den Teilen eines Determinativkompositums besteht. Der Unterschied bei entsprechenden Verbindungen mit dem Substantiv wird formal verdeutlicht: der grüne Fink – der Grünfink, das Zimmer der Lehrer – das Lehrerzimmer, die Tür des Hauses (von dem Haus) – die Haustür. Bei den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen fehlt die formale Unterscheidung, abgesehen vom Akzent oder der Getrennt- und Zusammenschreibung. Die syntaktische Relation hilft, das Syntagma näher zu beschreiben. Die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von Wort und Syntagma bei den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen scheinen analog beim Verhältnis von Determinativkompositum und Attributrelation bei den Substan-

104 tiven zu bestehen. Bei den Substantiven wird sie allerdings sowohl morphologisch als auch syntaktisch gekennzeichnet, bei den Adjektiven nicht.

5.4 Wort – Syntagma: schwerverständlich – schwer verständlich Zwei Adjektive, die zusammen vorkommen und aufeinander bezogen sind, können Komposita oder Syntagmen sein. In vielen Fällen ist es aufgrund der Einheiten (insbesondere des ‚Erstgliedes‘) eindeutig, ob es sich um ein Wort oder um zwei Wörter handelt: halbstark ist ein Wort und extrem stark ist ein Syntagma. Nur sehr wenige Verbindungen können Wörter sein. Der ‚doppeldeutige‘ Bereich ist zwar relativ klein, allerdings treten gerade die potentiellen Erstglieder auch selbstständig auf: er ist vollschlank – er ist voll schlank, er (der Film) ist hochempfindlich – er ist hoch empfindlich. Den deutlichsten Präfixcharakter entwickelt ober wie in oberschlau, möglicherweise ist dies nur als Präfix denkbar. Halb ist zumindest in den meisten Fällen ein Erstglied. Obwohl hier deutlich andere Voraussetzungen herrschen, können einige Methoden der vorherigen Kapitel übernommen werden. Die wesentliche andere Voraussetzung ist: Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen sind entweder Wörter oder Syntagmen. Manche sind eindeutig das eine oder das andere aufgrund der jeweiligen konkreten Wörter. Manche Verbindungen können sowohl das eine als auch das andere sein, je nach Kontext ist die Interpretation im allgemeinen aber eindeutig. Sie stehen nicht, wie zum Beispiel die besprochenen Substantiv-Verb-Verbindungen, dazwischen. Andererseits muss man bei jeder konkreten Verbindung entscheiden, was sie denn ist. So ist herauszufinden, wann schwerverständlich als Wort vorkommt, und wann schwer verständlich ein Syntagma ist. Auch hier möchte ich überlegen, ob Tests helfen können. Die Tests lasse ich vor der Anwendung weitgehend unkommentiert. Als neue Rubrik habe ich ‚Gegenteile‘ eingefügt, es geht um die jeweilige Alternative zu un-. Die Formen in der Tabelle sind spontan gebildet. Hier wird nicht wie sonst nach der Grammatikalität der entsprechenden Konstruktion gefragt, sondern nach einer möglichen Konstruktion für das Gegenteil. Ob und wie das weiterhilft, wird im Anschluss diskutiert. Die Beispiele werden gewissermaßen vorher kategorisiert, je nachdem welche Konstruktion sie darstellen. Der einzige Unterschied, der im Vorfeld klar ist, ist, dass das Adjektiv als Wortbestandteil nicht selbstständig ist, als Teil eines Syntagmas schon. Was aber ein ‚freies‘ und ein ‚nicht-freies‘ Adjektiv in diesen Konstruktionen voneinander unterscheidet, ist völlig unklar. Um das herauszufinden, werden die unterschiedlichsten Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen in Tabelle 5.1 getestet.

*ältestklug *süßestsauer gleichstgültig/ *am gleichesten gültig ?höchsthackig/ hochhackigst

?oberstschlau vollstautomatisch/ *am vollsten automatisch

*älterklug / altklüger

*süßersauer/ ?süßsaurer

*gleichergültig/ gleichgültiger

??höherhackig/ hochhackiger

??halbstärker

oberschlauer

*voller automatisch/ vollautomatischer

altklug (Adjektivkomp.)

süßsauer (Kopulativkomp.)

gleichgültig (von Wortgruppe)

hochhackig (von Wortgruppe)

halbstark (Det-Komp.)

oberschlau (Det-Komp., Präfig.?)

vollautomatisch (lexikalisiert)



Superlativ?

Komparativ

Tabelle 5.1: Tests für Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen

?unvoll





?unhoch

ungleich





un- überhaupt

*unvollautomatisch

nicht vollautom./ *leerautomatisch

??/ *unterschlau

??flachhackig/ flach, nicht hochhackig

??unhochhackig



nicht gleichgültig/ verschiedengültig

*ungleichgültig

??/ *ganzstark

nicht süßsauer / *bittersalzig





*jungklug / *jungdumm

Gegenteile?



un- in der Konstruktion

??sehr vollautomatisch

sehr oberschau



sehr hochhackig

sehr gleichgültig

?sehr süßsauer

sehr altklug

sehr?

105

schwerstverständlich / am schwersten verständlich höchstempfindlich/ *am höchsten empfindlich erstaunlichst gut

schwerer verständlich / schwerverständlicher

*höher empfindlich

*erstaunlicher gut

*gleicher blöd

schwerverständlich (doppeldeutig)

hochempfindlich (doppeldeutig)

erstaunlich gut (Syntagma)

gleich blöd (Syntagma) –

?leichtstverdaulich/ am leichtesten verdaulich

leichter verdaulich/ leichtverdaulicher

leichtverdaulich (naheliegende Lesart: DetKomp.)

total doof (Syntagma)

*echtestgold/ *am echtesten gold

*echter gold / ?echtgoldener

echtgold (Bedeutung DetKomp.)





Superlativ?

Komparativ

Tabelle 5.1: Tests für Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen

?unerstaunlich gut ?ungleich blöd

unerstaunlich

ungleich



*unhoch empfindlich

?unhoch

*untotal

*unschwer verständlich

*unleicht verdaulich

?unleicht

unschwer

*unechtgold

un- in der Konstruktion

unecht

un- überhaupt

nicht total doof (Negation, nicht Gt)

nicht gleich blöd

??erwartbar gut

unempfindlich/ wenig empfinlich/ *tiefempfindlich

leicht verständlich / gut verständlich

schwerverdaulich

nicht echtgold/ *falschgold

Gegenteile?

*sehr total doof



?sehr erstaunlich gut

??sehr hochempfindlich

sehr schwer verständlich

sehr leichtverdaulich

*sehr echtgold

sehr?

106

107 Bei der Unterscheidung von Wort und Syntagma in Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen könnten die Adjektivitätstests greifen, die bei den Adjektiv-Verb-Verbindungen eingeführt wurden. Denn auch bei diesen waren die meisten der zur Rede stehenden Einheiten Adjektive, aber die Frage war, inwieweit sie sich wie freie Adjektive verhalten und inwieweit wie gebundene. Wie auch in Kapitel 3, so hilft hier die Flexion nicht weiter. Sowohl in ‚gebundener Funktion‘ als auch in ‚freier Funktion‘ flektieren die ‚ersten‘ Adjektive nicht: ein erstaunlich gutes Buch – ein halbstarker Junge. Ansonsten ist zu überprüfen, inwieweit das erste Adjektiv modifiziert werden kann. Dabei wären ‚syntaktische‘ Modifikationen zu untersuchen zum Beispiel die Modifikation mit sehr. Morphologische Modifikationen geschehen zum Beispiel mit un- oder es werden Komparativ- oder Superlativformen gebildet. Alle diese Modifizierbarkeiten sind in sich problematisch, der Bezug von sehr ist in vielen Fällen (systematisch) uneindeutig. Die anderen Modifizierungen sind nicht für alle Adjektive gültig, so gibt es zwar unschwer, aber nicht *unhalb, es gibt schwerer, schwerst, höchst usw., aber nicht *halber (als Komparativ), *halbst usw. Auch die Wortstellung ist bei den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen anders zu bewerten als bei den Adjektiv-Verb-Verbindungen. Komposita vom Typ Adjektiv-Adjektiv sollten untrennbar sein. Allerdings sind auch die Syntagmen, in denen ein Adjektiv ein anderes modifiziert, kaum unterbrechbar: das erstaunlich gute Buch – *das erstaunlich sehr gute Buch – das sehr erstaunlich gute Buch. Aus dieser Beispielreihe ist zweierlei zu schließen: Das modifizierende Adjektiv (oder Adverb) bezieht sich nur auf das direkt benachbarte Adjektiv. Dies erinnert an das Genitivattribut im Deutschen (der Versuch einer Einschüchterung des Großteils der Bevölkerung Hannovers, Eisenberg 2004b: 247). Der Bezug wird durch die direkte Nachbarschaft hergestellt, daher kann die Folge aus zwei Adjektiven, bei denen das erste das zweite modifiziert, nicht unterbrechbar sein. Hier unterscheidet sich das adjektivmodifizierende Adjektiv klar von dem substantivmodifizierenden: Letzteres macht bei Voranstellung seinen Bezug durch die Flexion deutlich. Daher kann es bei Substantiven zu einer Anhäufung von adjektivischen Attributen kommen und so auch zu einer Unterbrechung. Bei adjektivmodifizierenden Adjektiven ist diese Unterbrechung nicht möglich. Was könnte eine Modifikation mit sehr zeigen? das sehr schwer verständliche Buch – das sehr schwerverständliche Buch, das sehr altkluge Kind – *das sehr total gute Buch. Es ergeben sich zwei grundsätzliche Probleme: das erste betrifft den Bezug. Egal auf welches Adjektiv sich sehr in diesen Fällen bezieht, es bezieht sich auf ein einfaches oder auf ein komplexes Adjektiv. Letztendlich wäre ein Grammatikalitätsunterschied zwischen sehr schwer verständlich und sehr schwerverständlich nur über Getrennt- und Zusammenschreibung oder in der gesprochenen Sprache über den Akzent zu finden. Wie gesagt sind dies beides sehr schwierige Kriterien, wenn es um die Beurteilung von Grammatikalität geht. Andererseits ergibt sich für die Syntagmen noch ein zusätzliches Problem: Die Adjektive (und Adverbien), die andere Adjektive modifizieren können, sind sehr häufig graduierend (s. Abschnitt 5.3.1). Sehr gehört selbst semantisch dazu. Dass *das sehr total gute Buch nicht geht, liegt an der Bedeutung. Dass ein graduierendes Adjektiv selbst nicht graduierbar ist, leuchtet grundsätzlich ein. Wenn sehr möglich ist, könnte das dann heißen, dass es sich bei der Adjektiv-Adjektiv-Verbindung um ein komplexes Adjektiv (ein Kompositum) handelt, das erste Adjektiv also unselbstständig ist. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen das erste Adjektiv graduierend ist. In den Fällen, in denen es sich nicht um ein graduierendes erstes Adjektiv handelt, scheint sehr auch nicht möglich: *sehr pädagogisch wertvoll, *sehr qualitativ minderwer-

108 tig. Auch diese Beobachtung könnte dafür sprechen, dass sehr nur möglich ist, wenn es sich um ein komplexes Adjektiv handelt. Die Komparierbarkeit des (graduierenden) ersten Adjektivs ist problematisch. In extrem schwierig, total gut, schön blöd usw. ist nicht zu erwarten, dass das erste Adjektiv selbst komparierbar ist: *extremer schwierig, *totaler gut, *schöner blöd. Das liegt aber nicht daran, dass sie nicht syntaktisch selbstständig wären, sondern dass sie hier in einer bestimmten syntaktischen Funktion auftreten, die für graduierende Adjektive und Adverbien ausgezeichnet ist. Aus dem gleichen Grund können sie wohl auch nicht mit un- präfigiert werden: *unextrem schwierig, *unschön blöd, *unerstaunlich gut, *unecht gut. Der Komparativ ist in den Beispielen nur bei leicht verdaulich und bei schwerverständlich möglich; für beide ist sowohl eine Interpretation als Wort als auch als Syntagma möglich. Die Komparativbildung spricht dann im konkreten Fall für Syntagma, dies könnte man als hinreichende Bedingung für die Annahme eines Syntagma formulieren. Wenn Komparation möglich ist, dann kann es sich um ein Syntagma handeln. Wenn Komparation nicht möglich ist, sagt das noch nichts zur Entscheidung ‚Wort oder Syntagma‘. Ebenso begrenzt ist die Aussagekraft des Tests mit un-: häufig gibt es zu den Modifikatoren eine un-Form, aber diese bedeutet nicht die Negation der gemeinten Bedeutung: (4) gleich – ungleich, sie sind gleich rot – ??sie sind ungleich rot, sie sind gleich groß – ?sie sind ungleich groß, sie sind gleich blöd – ???sie sind ungleich blöd das Buch ist schwer verständlich – *das Buch ist unschwer verständlich, er ist schwer krank – *er ist unschwer krank

Insofern ist eigentlich zu erwarten, dass un- nicht geht, sowohl im Wort nicht als auch im Syntagma. Wenn es aber geht, muss das auch nichts heißen: gleich ist ein Adjektiv, gleichgültig ist auch ein Adjektiv. un- müsste sowohl gleich als auch gleichgültig als Ganzes als Basis nehmen können. Der Test mit sehr ist der damit beste der ‚Modifizierertests‘: Das Buch ist sehr erstaunlich – *das Buch ist sehr erstaunlich gut, die Farben sind sehr gleich – *die Farben sind sehr gleich dunkel, die Jungen sind sehr gleichgültig. Sehr bezieht sich in diesen Fällen auf das gesamte Adjektiv, also auf ein zusammengesetztes. Wenn eine Konstruktion mit sehr möglich ist, handelt es sich wahrscheinlich um ein Wort. Dies gilt insbesondere für die Adjektive, die selbst in der Konstruktion nicht gesteigert werden können. Für schwer verständlich habe ich durchaus schwerer verständlich angenommen, hier ist dann entsprechend auch sehr schwer verständlich möglich. Die Superlativformen Das Auftreten von Superlativformen und insbesondere von unflektierten Superlativformen wird widersprüchlich behandelt. Daher greife ich diesen Punkt hier etwas ausführlicher auf. Die Form höchst wird häufig gesondert behandelt. Wenn ich davon ausgehe, dass höchst ärgerlich ein Syntagma sein kann, muss ich begründen, warum schwerstverdaulich unter gar keinen Umständen ein Syntagma sein kann (s. Gallmann/ Sitta 1996: 127). Eisenberg (2004b: 208) und Eisenberg (2002b) behandeln zum Beispiel höchst explizit unter den Adverbien und damit unter den Unflektierbaren.

109 Adverbien sind nichtflektierbare Einheiten [...]. Die Kategorie Adverb [...] ist eine Konstituentenkategorie, die im Deutschen einige hundert Einheiten umfaßt wie oben, hinten, hier, dort, links (lokal), bald, eben, immer, jetzt, nie (temporal), gern, kaum, vielleicht, leider, gewiß (modal) und sehr, ganz, weitaus, höchst (graduierend). Eisenberg (2004b: 208)

Die meisten der von Eisenberg genannten Einheiten sind grundsätzlich unflektierbar, einige können immerhin als Einheit flektiert werden. Man könnte nun zwei Wörter höchst annehmen, ein Adverb und ein Adjektiv. Ein Grund für diese Unterscheidung wäre der unterschiedliche Kontext. Nicht immer wenn höchst geht, geht auch hoch: höchst ärgerlich – ?hoch ärgerlich, höchst umstritten – ?hoch umstritten, höchst kompliziert – hoch kompliziert. Möglicherweise ist es eine neuere Entwicklung, aber man hört durchaus auch so etwas wie schwerst erträglich in der Sprache von jüngeren Leuten. Eine solche Entwicklung würde zeigen, dass höchst als Analogiebasis dienen kann. Diese Arbeit ist höchst verdienstvoll, die Professur ist längst verdient, er hat es längst verdient, Professor zu werden, ebenso größtmöglich, größt denkbar, das größt denkbare Entgegenkommen. Offenbar sind Superlativformen auch als Attribute zu Adjektiven möglich, als Attribute zu Substantiven sind sie dies unbestritten (das höchste Haus, das größte Auto).2 Allerdings sind sie als Attribute zu Adjektiven durchaus (noch) beschränkt: ?breitest möglich, ?den breitest möglichen Ansatz, ?das kleinst mögliche Gummibärchen. Eine Beschränkung auf sehr wenig Formen passt hier zu der adjektivmodifizierenden Position ganz allgemein. In dieser Position sind in den meisten Fällen grundsätzlich wenig Adjektive (und Adverbien) möglich, daher ist es nicht verwunderlich, dass auch nur wenige Superlativformen möglich sind. Es ist wohl auch kein Zufall, dass bei einer graduierenden Bedeutung ausgerechnet höchst, längst und größt vorkommen. Die Beschränkung der Superlativformen steht in Einklang mit der auch sonst hier herrschenden Einschränkung. Nach dieser Betrachtung kann man festhalten, dass Adjektiv-Verbindungen mit Superlativformen Syntagmen sein können, sie können aber auch Wörter sein. Ich nehme an, dass es ein Wort höchstwahrscheinlich gibt und ein Syntagma höchst ärgerlich, möglicherweise findet man daneben ein Syntagma höchst wahrscheinlich. Wort und Syntagma unterscheiden sich im Geschriebenen durch Zusammen- bzw. Getrenntschreibung, im Gesprochenen durch unterschiedliche Akzentmuster. Gibt es noch weitere Kriterien, wie sie sich unterscheiden? Oder: Warum kann höchstwahrscheinlich ein Wort sein, höchst ärgerlich aber nicht? ‚Höchstwahrscheinlich‘ lässt nur einen kleinen Rest von ‚Unwahrscheinlichkeit‘ zu, es macht eine Sache nahezu sicher. In dem Sinne ist höchst in Zusammenhang mit wahrscheinlich nicht nur eine Graduierung, die es im Zusammenhang mit ärgerlich ist. Es kann sogar selbst Attribut zu Adjektiven sein: das ist höchstwahrscheinlich richtig.

2

Die Superlativformen kämen dann eben nur attributiv vor. Das würde ihre besondere Behandlung innerhalb der Grammatik und hier insbesondere in der Rechtschreibdebatte plausibel machen: Im selteneren und weniger beachteten Attribut zu Adjektiven kommen sie unflektiert vor. Bisher hat man als unflektierte Vorkommensweisen von Adjektiven die adverbiale, die prädikative und die nachgestellte attributive Funktion (Whisky pur) gesehen. In diesen Funktionen kommt die einfache Superlativform nicht vor.

110

5.5 Zugrundeliegende Bildungsprozesse Prototypische Adjektiv-Adjektiv-Komposition scheint es nicht zu geben. Wörter aus zwei Adjektiven entstehen auf unterschiedliche Weisen, aber nicht durch Determinativkomposition wie bei den Substantiven. Der deutlichste Hinweis, der zu dieser These geführt hat, ist insbesondere die Anzahl solcher Komposita. Von (produktiver) Komposition erwartet man doch auch eine freie Kombinierbarkeit. (5) a. Karl ist schwer behindert – Karl ist schwerbehindert b. die Eintrittskarte ist voll gültig – die Eintrittskarte ist vollgültig c. der Text ist schwer verständlich – der Text ist schwerverständlich d. der Film ist hoch empfindlich – der Film ist hochempfindlich

Die Komposita haben stets etwas ‚Definiertes‘, ‚Abgegrenztes‘:3 in der Film ist hoch empfindlich wird die Empfindlichkeit modifiziert, bei der Film ist hochempfindlich fragt man nach der ASA-Zahl. In Karl ist schwer behindert handelt es sich wohl um einen momentanen Zustand, in Karl ist schwerbehindert entspricht dem eine definierte Eigenschaft, die man sogar in Prozentzahlen ausdrücken kann. Dies erinnert durchaus an Unterschiede von großer Stadt – Großstadt.4 Hier wäre der Prozess der Univerbierung denkbar: die Einheiten stehen unflektiert immer nebeneinander. Dass eine Univerbierung stattgefunden hat, ist dann am Akzent und an der Zusammenschreibung zu erkennen. Besser erkennt man es aber an anderen ‚wortartigen‘ Eigenschaften, an einer gemeinsamen Modifizierbarkeit, an der gemeinsamen Komparation.5 Wenn Verbindungen die gleichen formalen Eigenschaften aufweisen wie die Syntagmen, ist eine Univerbierung nur an der Bedeutung zu erkennen. Auf der anderen Seite haben wir für Wörter, die scheinbar aus zwei Adjektiven bestehen, einen ungewöhnlichen Wortbildungsprozess, nämlich die Wortbildung auf der Basis von Wortgruppen (hochhackig). Diese wurden hier nicht genauer betrachtet. Auch sie tragen aber deutlich zu dem Bild bei, dass Wörter aus zwei Adjektiven häufig nicht durch eine Komposition entstehen, die sich genauso verhält wie die Substantiv-Substantiv-Komposition. Derartige Bildungen sind insbesondere typisch für das Suffix -ig.

3 4

5

Die Anmerkungen sind durchaus zu vergleichen mit den nicht-Verbindungen, s. Kapitel 6. Großstadt, Großveranstaltung; eine Großstadt kann zwar eine große Stadt sein, aber nicht zwangsläufig, denn ‚Großstadt‘ ist definiert aufgrund einer bestimmten Einwohnerzahl. Ob etwas eine große Stadt ist, kann man m.E. in dem Sinne gar nicht definieren. Eine Stadt besteht nicht nur aus einer Menge von Einwohnern oder einer bestimmten Fläche. Auch eine ‚Großveranstaltung‘ kann definiert sein, ob etwas eine große Veranstaltung ist, ist immer noch relativ. So beschreibt Lang (mündliche Mitteilung) den Wechsel folgendermaßen: Dimensionsadjektive, die eigentlich relational sind, werden in Komposita zu absoluten Größen. In dieser Beschreibung wird deutlich, dass die semantische Relation zwischen dem jeweiligen Adjektiv und dem jeweiligen Substantiv unterschiedlich ist, je nachdem ob es sich um ein Kompositum oder um eine Attributbeziehung handelt. Bei den Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen wird noch insbesondere die Verwendbarkeit hinzukommen. So sind Partizipien I im allgemeinen nicht prädikativ verwendbar; viele der Komposita sind es aber: *sie ist erziehend – sie ist alleinerziehend.

111 Zu Beginn habe ich bei der Betrachtung der typischen adjektivischen Erstglieder bemerkt, dass sie sich geradezu wie Präfixe verhalten. Für ober wird das mitunter so gesehen: es kann in dieser Form nicht syntagmatisch adjektivmodifizierend sein. Die möglichen Erstglieder bei Adjektiv-Adjektiv-Komposita scheinen ‚auflistbar‘ zu sein, dies erinnert durchaus an Präfixe. Die Kombinatorik ist ziemlich beschränkt, die möglichen Erstglieder erscheinen ‚zufällig‘, sie bilden keine offensichtliche grammatische und oder semantische Klasse. Gegen Affigierung spricht selbstredend das zusätzliche freie Vorkommen der Einheiten. Gegen Komposition, vergleichbar der typischen Substantivkomposition, aber spricht die Beschränktheit. Das führt zu der Einordnung als ‚Halbpräfixe‘. Inwiefern verhalten sie sich als solche? Bei Suffixen geht man weithin davon aus, dass sie eine Basis haben (Unitary Base Hypothesis, nach Aronoff 1976: 47f., bestritten als ‚Affixgeneralisierung‘ von Plank 1981: 43, beide Ansätze verbunden in Fuhrhop 1998: 42f.). Präfixe sind typisch für die verbale Wortbildung und von daher häufig schon auf bestimmte Wortarten eingeschränkt, zumindest bei deverbalen Verben. Das adjektivische Präfix unkommt auch bei Substantiven vor, in Unmengen, Untiefe usw., es ist hier aber nicht produktiv (so zum Beispiel Eisenberg 2004a: 247). Die vorliegenden Einheiten sind nun gerade nicht auf Adjektive beschränkt, sie kombinieren typischerweise mit Zweitgliedern anderer Wortarten. Bei den anderen Wortarten sind sie aber gerade keine Präfixe, sondern verhalten sich wie andere Glieder auch. Eine derartige Einordnung soll hier nicht weiter strapaziert werden. Wir finden durchaus vergleichbare Präfixoide, zum Beispiel erz-: Erzkatholik – erzkatholisch. Nun wäre denkbar, dass sich dieses erz wieder herauslöst: er ist erzkonservativ, er ist erz konservativ, er ist erz altmodisch; ein Vorschlag zum Sprachwandel, der natürlich nicht ernst gemeint ist. Ein solcher Prozess würde die Analogie stärken und einmal mehr deutlich machen, warum eine Auflistung möglicher Wörter zwar machbar ist, aber nicht zu dem Ergebnis führt, dass man einen angemessenen Wortbegriff etabliert.

5.6 Schluss Ich habe gezeigt, dass die Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen mitunter Wörter, mitunter Syntagmen sind. Dabei wurde deutlich, dass die Komposition zweier Adjektive, abgesehen von den Kopulaadjektiven (süßsauer) stark eingeschränkt ist. Sie entstehen im allgemeinen nicht durch klassische Komposition, sondern durch Wortbildung aufgrund von Wortgruppen oder durch Univerbierung. Dabei sind die Adjektive, die univerbierbar sind, stark eingeschränkt. Allerdings können bei einmal stattgefundener Univerbierung durchaus analoge Bildungen folgen, die entsprechenden Erstglieder können dann reihenbildend werden. Im produktiven Bereich ist die Frage, ob ein Wort oder ein Syntagma vorliegt, vollkommen kontextabhängig. Damit erübrigt sich eine lexikonartige Auflistung potentieller Wörter.

6. Das Kompositionserstglied nicht

Neben einer syntagmatischen Konstruktion wie nicht öffentlich gibt es auch ein Wort nichtöffentlich. Als Wort ist nicht zunächst ein Adverb und verhält sich in Verbindung mit Adjektiven syntaktisch ähnlich wie sehr wie zum Beispiel in das sehr schöne Kleid. Morphologisch ist nicht aber ausgezeichnet, es kann erster Bestandteil eines Wortes sein, wie in nichtöffentlich, sehr kann nicht Worterstglied sein *sehrschön. Wegen der beiden Möglichkeiten nicht öffentlich und nichtöffentlich bekommt nicht in dieser Arbeit ein extra Kapitel; unter den Adverbien nimmt es eine Sonderstellung ein. Nicht ist unflektierbar, als Erstglied und als syntaktisch selbstständiges Wort unterscheidet es sich nicht in der Substanz; die Unterschiede zwischen Wort und Syntagma liegen – wie auch bei anderen behandelten Fällen – im Akzent bzw. in der Getrennt- oder Zusammenschreibung. Nicht verbindet sich im Wort nicht nur mit Adjektiven, sondern auch mit Substantiven (Nichtmitglied).

6.1 Nicht öffentlich – nichtöffentlich Nicht kann als Wort und als Wortbestandteil auftreten. In Zusammenhang mit Adjektiven, Partizipien und Substantiven entwickelt nicht einen präfixartigen Charakter: nichtöffentlich, nichtflektiert, Nichtraucher, Nichterwerbstätige.1 Zunächst betrachte ich nicht im Zusammenhang mit den Adjektiven, auch wenn man nach der Behandlung vermuten kann, dass es über die Partizipien und insbesondere über das Partizip II in die adjektivische Wortbildung gelangt ist. Nicht nimmt bei den Adjektiven eine Position ein, die ansonsten zum Beispiel von anderen Adjektiven besetzt werden kann, sowohl als Kompositum als auch als Syntagma. In beiden Fällen modifiziert das erste Adjektiv das zweite: die hellblauen Socken (hell modifiziert blau), ein erstaunlich gutes Buch (erstaunlich bezieht sich eindeutig auf gut, sonst würde erstaunlich flektieren). Dies findet man im Prinzip auch bei nicht: sowohl in ihr nicht öffentliches Singen als auch ihr nichtöffentliches Singen modifiziert nicht das Adjektiv. Der Unterschied scheint durchaus speziell. Ich möchte zunächst versuchen, ihn wie gehabt mit Tests besser zu greifen. Als Tests eignen sich einige, die Jacobs (1991) benennt. Da der Unterschied häufig im attributiven Gebrauch noch schwieriger zu erfassen ist, werden auch prädikative und adverbiale Verwendungen getestet. Möglicherweise handelt man sich damit aber noch weitere Interpretationen ein, das wird sich zeigen. Zunächst noch etwas zur Wortstellung: Die unmarkierte Negation eines Satzes wie sie singt schön ist sie singt nicht schön (nicht sie singt schön, schön singt sie nicht sind jeweils in ihrer Wortstellung markiert, Helbig/ Buscha 2001: 552).

1

Vor Substantiven ist nicht wohl in den meisten Fällen ein Präfix bzw. ein Kompositionserstglied: *die nicht Raucher, *er sieht nicht Raucher/ er sieht keine Raucher. In Sätzen wie er ist nicht Erwerbstätiger besteht eine vergleichbare Opposition wie bei den Adjektiven.

113 In diesem Fall ist schön Adverbial zum Verb und nicht Adverbial zum Satz (das ist zumindest eine mögliche Analyse). Das Satzadverb steht dabei zwischen Verb und Adjektiv, also unmittelbar vor dem Adjektiv. Genau hier müsste es auch stehen, wenn es Modifikator des Adjektivs wäre. Ganz analog ergibt sich eine potentielle Doppeldeutigkeit im prädikativen Gebrauch: die Silbe ist nicht akzentuiert/ nichtakzentuiert, ihre Erziehung war nicht christlich/ nichtchristlich, ihr Auftritt war nicht öffentlich/ nichtöffentlich.2 Im attributiven Gebrauch hingegen ist der Bezug an und für sich eindeutig, nicht kann sich nur auf das Adjektiv beziehen: die nicht akzentuierte/ nichtakzentuierte Silbe, das nicht öffentliche/ nichtöffentliche Auftreten, die nicht christliche/ nicht christliche Erziehung. Auf der morphologischen Seite konkurriert nicht- mit un-. Un- ist als Negationspräfix von Adjektiven sicherlich das häufigere; Minimalpaare wie nichtselbstständig und unselbstständig sind nicht immer möglich (nichtamtlich – ?unamtlich, unfreundlich – ?nichtfreundlich, ungesund – ??nichtgesund, unehrlich – ??nichtehrlich). Auch wenn es hier nicht primär um die Abgrenzung von un-Bildungen und nicht-Bildungen geht, hilft es dennoch, die verschiedenen Möglichkeiten im Blick zu behalten. Ich werde im folgenden selbstständiges nicht und unselbstständiges nicht- unterscheiden. Damit greife ich womöglich vor, denn so wird suggeriert, als würde durch die Schreibung genau dieser Unterschied aufgegriffen. In der Tendenz mag das sogar so sein, aber weder möchte ich vorweg behaupten, dass es so sein sollte, noch, dass es immer so gehandhabt würde. Für diesen Abschnitt vereinfacht die unterschiedliche Schreibung die Darstellung. Ausgespart wird dabei auch eine weitere Möglichkeit, nämlich die Schreibung mit Bindestrich (nicht-öffentlich); diese wird behandelt wie die zusammengeschriebene Variante (nichtöffentlich). Folgende Tests möchte ich mit Jacobs durchführen und sie auf die nicht-Konstruktionen übertragen. Test 1: Anschluss mit sondern? Ist der Anschluss einer Alternative mit sondern angemessen? Jacobs nennt hier das Beispiel nicht ICH habe dich verpfiffen, sondern Rudi (1991: 585), hingegen ist ?nicht ICH habe dich verpfiffen, aber Rudi laut Jacobs (1991: 586) fraglich. Übertragen auf die Beispiele freundlich, nicht freundlich, unfreundlich wäre dies: er ist nicht freundlich, sondern frech – *er ist unfreundlich, sondern frech. Bei der Durchführung der Tests wird dies auf Paare wie nicht amtlich – nichtamtlich übertragen. Test 2: Negation insgesamt möglich? Jacobs (1991: 584) vergleicht die Sätze (1)

2

er ist freundlich er ist unfreundlich er ist nicht freundlich er ist nicht unfreundlich

In diesen Fällen bekommen wir auch vermeintliche Doppeldeutigkeiten bei Substantiven: er ist nicht Mitglied, er ist Nichtmitglied. Die Fälle sind aber auch sonst analog zu den Adjektiven und werden daher nicht gesondert betrachtet.

114 Alle diese Sätze haben unterschiedliche Bedeutungen; während allerdings der erste und der zweite Satz inkompatibel sind, können der dritte und vierte gleichzeitig zutreffen u.ä. Zunächst aber wird geprüft, ob eine weitere Negation möglich ist (*nicht nicht amtlich – nicht nichtamtlich). Test 3: Existenz? Bei der Negation geht es auch um die Präsupposition der Existenz: (2)

*Der König von Frankreich ist unfreundlich, denn Frankreich hat schon lange keinen König mehr Der König von Frankreich ist nicht freundlich, denn Frankreich hat schon lange keinen König mehr Jacobs (1991: 582)

Bei den adverbialen Verwendungen muss diese Aussage dann über den gesamten Sachverhalt getroffen werden. Test 4: Semantische Implikationen? (3)

Der König von Frankreich ist unfreundlich Der König von Frankreich ist nicht freundlich

Jacobs (1991: 582) 3

Aus dem ersten Satz folgt intuitiv der zweite, aber nicht umgekehrt.

Ein Unfreundlicher ist nicht freundlich, aber nicht jeder, der nicht freundlich ist, muß unfreundlich sein. Jacobs (1991: 582)

In Tabelle 6.1 werden die Tests auf vier Paare angewandt (nicht öffentlich – nichtöffentlich). Auch hier handelt es sich um Grammatikalitätsurteile von einer Person zu einem Zeitpunkt; ihnen liegt weder eine empirische Untersuchung zugrunde, aber noch viel weniger erhebt sie normativen Anspruch. Mit den Tests und den entsprechende Urteilen kreise ich auch hier das Problem ein. Die Tests dienen dazu, den Unterschied zwischen nicht öffentlich und nichtöffentlich zu verdeutlichen.

3

Bei Jacobs (1991: 582) sind hier die Zahlen vertauscht.

*sie arbeitet nicht nicht selbstständig sie arbeitet (gar) nicht nicht- sie arbeitet selbstständig, sie hat ein Gewerbe angemeldet ?dieses Schreiben ist nicht nicht amtlich dieses Schreiben ist (gar) nicht nichtamtlich, es sieht nur nicht so aus sie erzieht ihre Kinder (gar) nicht nicht christlich

sie arbeitet nicht selbstständig, sondern ist angestellt

sie arbeitet nichtselbstständig, ?sondern/ aber angestellt

dieses Schreiben ist nicht amtlich, sondern privat

dieses Schreiben ist nichtamtlich, ?sondern/ aber privat

sie erzieht ihre Kinder nicht christlich, sondern atheistisch

sie erzieht ihre Kinder nicht- sie erzieht ihre Kinder (gar) sie erzieht ihre Kinder christlich, ?sondern/ aber nicht nichtchristlich, sie liest atheistisch/ streng ihnen Bibelgeschichten vor

nicht selbstständig

nichtselbstständig

nicht amtlich

nichtamtlich

nicht christlich

nichtchristlich

sie erzieht ihre Kinder

es gibt ein Schreiben

es gibt ein Schreiben

könnte auch nicht arbeiten

sie singt niemals nichtöffent- sie singt lich, dafür ist sie zu berühmt

sie singt nichtöffentlich, ?sondern/ aber privat

ist nicht klar, ob sie singt

nichtöffentlich

?sie singt nicht/ nie nicht öffentlich

3. Präsupposition

sie singt nicht öffentlich, sondern privat

2. Negation insgesamt möglich?

nicht öffentlich

1. sondern?

Tabelle 6.1: Grammatikalitätsurteile zu nicht und nicht-

sie erzieht ihre Kinder nichtchristlich ⇒ sie erzieht ihre Kinder nicht christlich

dieses Schreiben ist nichtamtlich ⇒ dieses Schreiben ist nicht amtlich

sie arbeitet nichtselbstständig ⇒ sie arbeitet nicht selbstständig

sie singt nichtöffentlich ⇒ sie singt nicht öffentlich

4. Semantische Implikation?

115

116 Interpretation von Test 1: Anschluss mit sondern? Jacobs (1991) unterscheidet die replazive und die nicht-replazive Negation: Replaziv ist eine Negation genau dann, wenn sie notwendig mit der Ersetzung mindestens eines Teils des negierten Inhalts verknüpft ist. Jacobs (1991: 586)

Ein Symptom dafür ist der Anschluss mit sondern; der Kontrast ist einklagbar (Nicht ICH habe dich verpfiffen, sondern Rudi, s. oben). Bei der nicht-replaziven Negation ist eher ein Anschluss mit aber möglich. Nach den Grammatikalitätsurteilen in der Tabelle ist beim selbstständigen nicht der Anschluss mit sondern möglich, beim unselbstständigen nicht ist der Anschluss mit aber besser. Jacobs selbst beschreibt den Test als symptomatisch. So wird er auch hier bewertet. Er zeigt aber tendenziell den Unterschied: Selbstständiges nicht ist replaziv zu interpretieren, es eröffnet einen Kontrast, unselbstständiges nicht- hingegen legt keinen Kontrast nahe. Interpretation von Test 2: Doppelte Negation? Wann ist ein weiteres Negationselement möglich? In den Grammatikalitätsurteilen ist eine weitere Negation bei nichtselbstständigem nicht möglich, bei selbstständigem ist es nicht möglich. Beim Wortbestandteil nicht- wird eine Begriffsnegation vorgenommen (Jacobs 1991:583), daher kann der Sachverhalt insgesamt negiert werden. Interpretation von Test 3: Präsupposition In Test 3 wird gefragt, welche Präsuppositionen angenommen werden können. Der klassische Fall hierfür ist der König von Frankreich und es wird dann gefragt, ob bei der jeweiligen Negation etwas über die Existenz eines Königs von Frankreich ausgesagt wird. Bei den adverbialen Verwendungen der entsprechenden Adjektive geht es darum, ob der Sachverhalt zutrifft. In sie singt nicht öffentlich kann es sein, dass sie singt, aber es kann auch sein, dass sie nicht singt. Das heißt man kann sich Äußerungen vorstellen wie sie singt nicht öffentlich, weil sie überhaupt nie singt; aber nicht *sie singt nichtöffentlich, weil sie überhaupt nie singt. Bei den Beispielen dieses Schreiben ist nicht amtlich/ nichtamtlich und sie erzieht ihre Kinder nicht christlich/ nichtchristlich sind die Präsuppositionen nicht so deutlich: Bei einer Formulierung dieses Schreiben geht man davon aus, dass es das Schreiben gibt und wenn jemand Kinder hat, dann erzieht er sie auch auf irgendeine Weise. Wählen wir andere Beispiele: sie argumentiert nicht christlich – sie argumentiert nichtchristlich. Im ersten Fall muss sie gar nicht argumentieren. Die Angestellte bestätigt die Unterhaltsforderungen des Antragsstellers nicht amtlich – die Angestellte bestätigt die Unterhaltsforderungen des Antragsstellers nichtamtlich; im zweiten Fall werden die Unterhaltsforderungen bestätigt.

117 Interpretation von Test 4: Semantische Implikation Nach den gegebenen Implikationsverhältnissen impliziert die Variante mit unselbstständigem nicht- die mit selbstständigem nicht. In diesem Sinne ist die unselbstständige nichtNegation stärker (so auch Jacobs 1991: 582f.). Zusätzlicher Test: Graduierbarkeit Auch hier sind weitere Tests denkbar, zum Beispiel die Graduierbarkeit: (4)

a. ?sie singt nicht sehr öffentlich – ?sie singt sehr nichtöffentlich b. sie arbeitet nicht sehr selbstständig – ??sie arbeitet sehr nichtselbstständig c. das Schreiben sieht nicht sehr amtlich aus – ??das Schreiben sieht sehr nichtamtlich aus d. sie erzieht ihre Kinder nicht sehr christlich – ??sie erzieht ihre Kinder sehr nichtchristlich

Das deutlichste Beispiel ist hier (4b), insbesondere wenn man es mit sie arbeitet sehr unselbstständig vergleicht. Die Wortbildungen mit nicht- sind tendenziell nicht graduierbar: Man unterteilt das Arbeiten in das selbstständige und das nichtselbstständige usw. Zusätzlicher Test: Vergleichbarkeit mit unBei sämtlichen Verbindungen ist auch zu fragen, ob gleichermaßen un- und nicht- möglich sind oder gerade nicht. (5) a. öffentlich – ?unöffentlich – nichtöffentlich b. selbstständig – unselbstständig – nichtselbstständig c. amtlich – ?unamtlich – nichtamtlich d. christlich – unchristlich – nichtchristlich

Die Unterschiede zwischen un- und nicht- sind schon beschrieben. Hier wird getestet, ob überhaupt beide Bildungen möglich sind. Wenn man dies ausweitet, dann kann man unter Umständen feststellen, dass bei vielen Adjektiven eine Bildung mit un- eine Bildung mit nicht- ausschließt (ehrlich – unehrlich – ??nichtehrlich). Einen ähnlichen Effekt gibt es bei Adjektiven, die bereits vorhandene Dimensionsgegenpole morphologisch einfach ausdrücken (gesund – krank – ungesund – *nichtkrank). Zusätzlicher Test: Ist eine Einschränkung möglich? Hier wird eine Einschränkung durch nur geprüft; häufig gibt es auch die gleichen Grammatikalitätsurteile ohne nur; es kann aber zur Verdeutlichung dienen: (6) a. Die Erlaubnis gilt nur für nichtöffentliche Auftritte/ Versammlungen – *Die Erlaubnis gilt nur für nicht öffentliche Auftritte b. Die Abgaben sind nur abzuführen für nichtselbstständiges Arbeiten – *Die Abgaben sind nur abzuführen für nicht selbstständiges Arbeiten c. Diese Vorschrift gilt nur für nichtamtliche Schreiben – *Diese Vorschrift gilt nur für nicht amtliche Schreiben

118 Das Wort nur kann hier als Adverbial zum Satz verstanden werden; von der Bedeutung steht es für eine Einschränkung des Geltungsbereichs. Die Kombination von nur und dem unselbstständigen nicht- zeigt wiederum die semantische Funktion von nicht-: Es unterteilt kontradiktorische Gegenteile und schafft damit binäre Eigenschaften. Dass in den Beispielen die Adjektive als Attribute vorkommen, ist nicht zwingend notwendig. Adverbial ergibt sich ein vergleichbares Bild: sie dürfen sich nur nichtöffentlich versammeln – sie dürfen sich nur nicht öffentlich versammeln (‚sie dürfen alles, außer sich öffentlich versammeln‘). Mit Hilfe der Tests kann man unterscheiden, wann nicht selbstständig ist und wann es unselbstständig ist. Testergebnisse Selbstständiges und unselbstständiges nicht eröffnen unterschiedliche Möglichkeiten. Jacobs (1991: 582ff.) unterscheidet eine Sachverhalts- und eine Begriffsnegation. Nicht- als Wortbestandteil schafft tendenziell kontradiktorische Begriffe. Man wird mindestens zwei Gruppen von Operatoren unterscheiden müssen: Solche, die komplementäre oder (kontradiktorische) und solche, die antonyme (oder konträre) Begriffe bilden. Zur ersteren Gruppe gehört NICHT, die Repräsentation von nicht-. Für NICHT gilt einfach, daß für alle P vom Typ in jeder möglichen Welt genau die Menge der Individuen charakterisiert, auf die P nicht zutrifft, aber zutreffen könnte (in dem Sinn, daß sie zu der Sorte von Entitäten gehören, auf die P anwendbar ist). Jacobs (1991: 584)

Die kategorial unterschiedlichen Formen von nicht ordnen sich in ein System von Begriffsund Sachverhaltsnegation ein: kein, un- usw. nicht kann sowohl das eine als auch das andere. Die Deutsche Wortbildung (1978) benennt diesen Unterschied beispielsweise folgendermaßen: Als Wortnegation wird nicht hingegen mehr dazu verwendet, eine allgemeine oder andauernde, d.h. von der Einzelsituation abstrahierte Qualität zu benennen. Das Morphem dient dann zu einer k a t e g o r i a l e n Differenzierung, z.B. von organisierten und nichtorganisierten Gruppen. Deutsche Wortbildung (1978: 178)

6.2 Die Partizipien, der adjektivische zu-Infinitiv und nicht Hier werden die Partizipien von den (anderen) Adjektiven getrennt betrachtet: Die Partizipien I zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht mit un- kombiniert werden können. Die Partizipien II hingegen bilden ganze Reihen von Paaren wie unflektiert – nichtflektiert, unakzentuiert – nichtakzentuiert aus. Im folgenden geht es also um Fälle wie: (7)

a. das nichtrostende Besteck – das nicht rostende Besteck, das Besteck ist nichtrostend b. die nichtakzentuierte Silbe – die nicht akzentuierte Silbe c. die nicht zu bewertende Klausur

In (a) handelt es sich um eine Verbindung von nicht und einem Partizip I. Dabei kann diese spezielle Verbindung sowohl als Wort als auch als Syntagma auftreten. Prädikativ muss es

119 ein Wort sein, denn *das Besteck ist (nicht) rostend ist ungrammatisch. Beispiel (b) nennt ein analoges Beispiel mit dem Partizip II. Beispiel (c) zeigt den adjektivischen zu-Infinitiv; hier ist ausschließlich das Syntagma möglich, s. auch Abschnitt 8.6. Bei den Partizipien sind Wörter mit nicht- möglich. Bei allen dreien oben sagt die Möglichkeit bzw. die Unmöglichkeit auch etwas über den Charakter der jeweiligen Einheiten aus, das heißt über den Grad der ‚Adjektivität‘. 6.2.1 Das Partizip I und nicht Nicht- verbindet sich sowohl mit dem Partizip I als auch mit dem substantivischen Infinitiv, was insofern bemerkenswert ist, wie Lenz (1995: 133) hervorhebt, als diese beiden Einheiten sich gerade nicht mit un- verbinden können. (8)

a. das Nichtbestehen – *das Unbestehen b. das Nichterscheinen – *das Unerscheinen c. nichtrostendes Besteck – *unrostendes Besteck d. nichtarbeitende Bevölkerung – *unarbeitende Bevölkerung e. nichtleitendes Metall – *unleitendes Metall f. nichtkriegführendes Land – *unkriegführendes Land g. nichtschlagende Verbindung – *unschlagende Verbindung nach Lenz (1995: 133f.)

Dass das Partizip I sich nicht mit un-, sondern nur mit nicht- verbindet, ist in Fuhrhop/ Teuber 2000 ein Argument für die Interpretation des Partizip I als adjektivischer Infinitiv und gerade nicht als ‚adjektivierter Infinitiv‘. Die ‚normale‘ adjektivische morphologische Negation mit un- ist nicht möglich. Was kann das Auftreten von nicht- hier zeigen? Offenbar ist dies morphologisch ja auch ein nominales Kompositionserstglied und keineswegs ein verbales, dazu unten mehr. Nicht- als Wortbestandteil ist allerdings bei den Partizipien I durchaus selten. So kommen sie weder bei den ‚verbalen‘ vor (*nichtsingend, *nichtlachend, *nichthemmend) noch bei den lexikalisierten (*nichtleidend, *nichtwütend). Als Syntagma sind sie hingegen möglich, (9a) für die ‚verbalen‘ Partizipien, (9b) für die adjektivischen: (9) a. die nicht singenden Kinder, der nicht lachende Mitarbeiter, der ihn nicht hemmende Unterricht b. die nicht leidenden Studenten, die nicht wütenden Dozenten

Lenz beschreibt die deutliche Einschränkung des Partizip I als Basis für ein Kompositionserstglied nicht folgendermaßen: Die Verbindung von nicht- mit Partizipia I beschränkt sich allerdings auf Fachterminologien und ist daher typischerweise auf generische bzw. habituelle Eigenschaften beschränkt, die aktuelle Lesart der Partizipia I ist ausgeschlossen: vgl. das (*gerade mal) nichtrostende Besteck. Lenz (1995: 134)

Nicht- als Wortbestandteil beschreibt „eine allgemeine oder andauernde, d.h. von der Einzelsituation abstrahierte Qualität“ (Deutsche Wortbildung: Das Adjektiv 1978: 178), in diesem Sinne passt es von der Bedeutung nicht mit dem Partizip I zusammen, was im allgemeinen als ‚momentan‘ zu interpretieren ist. Wortbildungen von Partizip I und nicht- sind möglich, aber selten. Zwischen dem adjektivischen zu-Infinitiv und nicht sind sie unmöglich, s. Abschnitt 8.6.

120 Zunächst scheinen die Verwendungsmöglichkeiten der genannten nicht-Partizip-I-Bildungen beschränkt, in den Beispielen von Lenz kommen sie attributiv vor, aber sind sie auch prädikativ und adverbial möglich? (10)

a. ?die Bevölkerung ist zum Teil nichtarbeitend – ?nichtarbeitend macht sie sich ein schönes Leben (als Satzadverbial) b. das Besteck ist nichtrostend – ??nichtrostend läuft die Maschine weiter c. das Metall ist nichtleitend d. ?das Land ist nichtkriegführend e. die Verbindung ist nichtschlagend – nichtschlagend verbringen sie den Abend

Hier wird schon deutlich, dass die Verbindung von nicht- und Partizip I eine besondere ist. Mit einer Nominalgruppe die nichtarbeitende Bevölkerung wird ein Teil der Bevölkerung charakterisiert und in Gegensatz gestellt zu die arbeitende Bevölkerung. Dass diese Bildungen insbesondere attributiv gewählt werden, ist sicherlich kein Zufall. Prädikativ sind sie zum Teil möglich, aber adverbial sind sie nicht ohne Weiteres zu verwenden. Das behindert auch die weitere parallele Betrachtung zu den anderen nicht-Adjektiven: (11) a. die nichtarbeitende, aber/ sondern alte Bevölkerung b. die nichtschlagende, aber/ sondern friedliche Verbindung c. das nichtleitende, aber/ sondern stabile Metall d. das nichtrostende, aber/ sondern beständige Besteck (12)

a. die nicht nichtarbeitende Bevölkerung – *die nicht nicht arbeitende Bevölkerung b. die nicht nichtschlagende Verbindung – * die nicht nicht schlagende Verbindung c. das nicht nichtleitende Metall – *das nicht nicht leitende Metall d. das nicht nichtrostende Besteck – *das nicht nicht rostende Besteck

(13)

a. die nichtarbeitende Bevölkerung ⇒ diese Bevölkerung arbeitet nicht b. die nichtschlagende Verbindung ⇒ diese Verbindung schlägt nicht c. das nichtleitende Metall ⇒ dieses Metall leitet nicht d. das nichtrostende Besteck ⇒ dieses Besteck rostet nicht

(14)

a. *die sehr nichtarbeitende Bevölkerung – *die nicht sehr arbeitende Bevölkerung b. *die sehr nichtschlagende Verbindung – *die nicht sehr schlagende Verbindung c. *das sehr nichtleitende Metall – *das nicht sehr leitende Metall d. *das sehr nichtrostende Besteck – *das nicht sehr rostende Metall

In (11) wird der Kontrast getestet. Im Prinzip scheinen beide Kontraste grundsätzlich zu gehen. In (12) wird getestet, ob die Verbindung insgesamt negiert werden kann. Im Prinzip geht es (diese Verbindung ist doch gar nicht nichtschlagend); dies spricht deutlich für den Wortcharakter der Verbindungen. In (13) werden die semantischen Implikationen benannt. Sie sind etwas kompliziert geraten aus folgendem Grund: Die Intuition ist, dass man mit nichtleitend die Metalle aufteilt in solche, die leiten und solche, die nicht leiten. Damit wird ein Teil der Metalle charakterisiert. Hier wird auch die enge Beziehung zwischen dem Partizip I und dem entsprechenden Verb deutlich, s. ausführlich Kapitel 8. In (14) wird die Modifizierbarkeit getestet, für alle ergibt das ungrammatische Bildungen, und zwar sowohl in der ungetrennten als auch in der getrennten Variante. Als komplexes Wort können sie nicht modifiziert werden aufgrund ihrer kontradiktorischen Bedeutung, als Syntagma hingegen sind sie ungrammatisch.

121 6.2.2 Das Partizip II und nicht Im Verhältnis zum Partizip I kombiniert das Partizip II häufiger mit nicht-: nichtakzentuiert, nichtflektiert, nichtbetont, nichtorganisiert. Die Partizipien II können aber ebenfalls im Gegensatz zum Partizip I auch mit un- präfigiert werden: unbetont, ungestrichen, unflektiert, unorganisiert. Hier findet sich ein analoger Unterschied wie bei den anderen Adjektiv-Verbindungen mit un- und nicht-: Die Verbindung mit nicht- ist definierter, die Abwesenheit einer Eigenschaft wird betont. Die Verbindungen mit nicht sind wohl kaum graduierbar: die nichtakzentuierte Silbe – ?die sehr nichtakzentuierte Silbe. Das könnte der Unterschied zwischen nicht- und un- sein: Wörter mit nicht sind dann grundsätzlich nicht graduierbar. Hier geht es aber nicht um die Unterscheidung von nicht- und un-, sondern um die Unterscheidung von nichtbetont und nicht betont. (15)

a. die Silbe klingt/ ist nichtbetont, ??sondern/ aber leise die Silbe klingt/ ist nicht betont, sondern leise b. die Wortart kommt nichtflektiert vor, ??sondern/ aber klitisiert die Wortart kommt nicht flektiert vor, sondern klitisiert c. die Germanisten arbeiten nichtorganisiert, ??sondern/ aber jeder für sich die Germanisten arbeiten nicht organisiert, sondern jeder für sich

(16)

a. die Silbe klingt nicht nichtbetont – *die Silbe klingt nicht nicht betont b. die Wortart kommt nicht nichtflektiert vor – *die W. kommt nicht nicht flektiert vor c. die Germanisten arbeiten nicht nichtorganisiert – *die G. arbeiten nicht nicht organisiert

(17)

a. *die Silbe klingt sehr nichtbetont – die Silbe klingt nicht sehr betont b. *die Wortart kommt sehr nichtflektiert vor – ?die Wortart kommt nicht sehr flektiert vor c. *die Germanisten arbeiten sehr nichtorganisiert – die G. arbeiten nicht sehr organisiert

(18)

a. die Silbe klingt nichtbetont ⇒ die Silbe klingt nicht betont b. die Wortart kommt nichtflektiert vor ⇒ die Wortart kommt (auch) nicht flektiert vor c. die Germanisten arbeiten nichtorganisiert ⇒ die G. arbeiten nicht organisiert

(19)

a. diese Regel gilt nur für die nichtbetonten Silben – *diese Regel gilt nur für die nicht betonten Silben b. diese Regel gilt nur für die nichtflektierten Wortarten – *diese Regel gilt nur für die nicht flektierten Wortarten c. diese Einschränkung gilt nur für die nichtorganisierten Germanisten – *diese Einschränkung gilt für die nicht organisierten Germanisten

Auch bei den Partizipien können die Tests angewandt werden. Sie liefern vergleichbare Ergebnisse wie Tabelle 6.1. In (15) ist getestet, ob jeweils ebenfalls replazive bzw. nichtreplazive Negation vorliegt. Auch hier führt das selbstständige nicht zu einer replaziven Negation; die Möglichkeit für einen Kontrast wird eröffnet. Das unselbstständige nichthingegen führt zu einer nicht-replaziven Negation, der Kontrast ist nicht direkt gefragt. In (16) wird die Möglichkeit einer weiteren Negation geprüft. Auch hier wieder mit nicht; in dem Moment, in dem andere Negationselemente eingeführt werden (nie, niemals, gar nicht) kommen neue Bedeutungsnuancen hinzu und mögliche Grammatikalität oder Ungrammatikalität können anders bedingt sein. Eine weitere Negation ist bei den Sätzen mit unselbstständigem nicht- möglich, bei denen mit selbstständigem nicht nicht. In (17) wird getestet, inwieweit eine Graduierung möglich ist. Bei unselbstständigem nicht- ist keine Graduierung möglich, bei selbstständigem schon, sofern kein anderes Bedeutungselement dies verhindert So ist flektiert nicht ohne Weiteres graduierbar. Bei diesen Beispielen

122 kommt hinzu, dass sehr zwischen nicht und das Partizip tritt; dies spricht besonders deutlich gegen den Wortartcharakter. In Beispiel (18) werden die semantischen Implikationen getestet, sie gelten in umgekehrter Richtung nicht: Wenn eine Silbe nichtbetont ist, dann ist sie auch nicht betont, aber nicht umgekehrt. Grundsätzlich scheint hier aber schnell eine unterschiedliche Bedeutung durchzuschlagen, weil das unselbstständige nicht- prinzipiell zu einem ‚definierteren‘ Ausdruck führt: nichtorganisiert meint hier zum Beispiel ‚nicht in einer Interessensgemeinschaft organisiert‘, während nicht organisiert viel weiter interpretiert werden kann, eben zum Beispiel als ‚chaotisch‘. In (19) wird wiederum das kontradiktorische Verhältnis deutlich; bei unselbstständigem nicht kann die Geltung des Sachverhalts insgesamt eingeschränkt werden. Die Präsuppositionsbestimmung fehlt hier, das letzte Beispiel eignet sich für diesen Test: die Germanisten arbeiten nichtorganisiert beinhaltet, dass die Germanisten arbeiten; die G. arbeiten nicht organisiert kann auch heißen, dass die Germanisten nicht arbeiten. Insgesamt zeigen sich Analogien zwischen nicht-Adjektiven und nicht-Partizipien II. Beschränkungen beim Partizip I sind bereits beschrieben. Beschränkungen in der Kombinatorik von Partizip II und nicht- scheinen aber noch anders motiviert zu sein: (20)

a. organisiert – unorganisiert – nichtorganisiert b. geschrieben – ungeschrieben, *nichtgeschrieben c. gemalt – ungemalt, *nichtgemalt d. gebacken – ungebacken, ?nichtgebacken e. gestrichen – ungestrichen, ?nichtgestrichen f. repariert - ?unrepariert, ?nichtrepariert g. entschuldigt – unentschuldigt, ?nichtentschuldigt h. gehemmt – ungehemmt, ?nichtgehemmt

Legt man die gegebenen Grammatikalitätsurteile zugrunde, so ergibt sich tendenziell folgendes Bild: Bei den Partizipien II können adjektivierte und verbale Formen unterschieden werden (s. z.B. Lenz 1991). Die adjektivierten zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie mit un- abgeleitet werden können (im Gegensatz zum Partizip I, s. Lenz 1991). Die Kombination mit nicht- wird offenbar dann gewählt, wenn es sich um eine graduelle Eigenschaft handelt, die im konkreten Zusammenhang zu einer binären wird oder anders: Zu einem konträren Gegenteil wird ein kontradiktorisches gebildet. Von ihrem deverbalen Ursprung bringen die Partizipien II aber die Negation mit nicht mit: er hat die Bilder nicht gemalt – die von ihm nicht gemalten Bilder, er hat das Auto nicht repariert – dort steht noch immer das nicht reparierte Auto. Und hier ist auch der Übergang zu vermuten: zunächst passierten Univerbierungen, durch Reanalyse ist dann ein Wortbestandteil nichtentstanden. 6.2.3 Der adjektivische zu-Infinitiv und nicht Auch der adjektivische zu-Infinitiv, der in der Form ausschließlich attributiv vorkommt (s. auch 8.6), kann mit nicht kombinieren. Offenbar ist hier Zusammenschreibung für viele Schreiber des Deutschen nicht möglich (*das nichtzulösende Problem wie das ernstzunehmende Problem), aber ist damit gesagt, dass stets das selbstständige nicht gemeint ist? In (21) sind zunächst einige Fälle mit dem adjektivischen zu-Infinitiv (zur Terminologie s. Fuhrhop/ Teuber 2000 und Abschnitt 8.6) genannt.

123 (21)

a. die nicht zu bewertende Klausur b. das nicht zu lesende Buch c. die nicht zu verkaufenden Andenken d. das nicht zu lösende Problem

Lediglich attributiv erscheint der zu-Infinitiv in einer Form mit -d (dazu auch Bech 1955); ansonsten bildet das Deutsche eine parallele Verbform aus: die Klausur ist nicht zu bewerten, das Buch ist nicht zu lesen, die Andenken sind nicht zu verkaufen, das Problem ist nicht zu lösen. Das Verhältnis zwischen den jeweiligen Formen kann und soll hier nicht geklärt werden. Hier ist die Frage, um welches nicht es sich handelt. Dazu wird versucht, die genannten Tests anzuwenden. (22) a. die nicht zu bewertende, aber zu feiernde Klausur – die nicht zu bewertende, sondern zu zerreißende Klausur die Klausur ist nicht zu bewerten, sondern zu zerreißen/ aber zu feiern b. das nicht zu lesende, aber zu kaufende Buch das nicht zu lesende, sondern wegzuwerfende Buch das Buch ist nicht zu lesen, sondern wegzuwerfen/ aber zu kaufen c. die nicht zu verkaufenden, aber zu hortenden Andenken die nicht zu verkaufenden, sondern zu verschenkenden Andenken die Andenken sind nicht zu verkaufen, sondern zu verschenken/ aber zu horten d. das nicht zu lösende, aber einzukreisende Problem das nicht zu lösende, sondern einzuschränkende Problem das Problem ist (hier) nicht zu lösen, sondern zu spezifizieren/ einzuschränken (23)

a. die nicht nicht zu bewertende Klausur – die Klausur ist nicht nicht zu bewerten b. das nicht nicht zu lesende Buch – das Buch ist nicht nicht zu lesen c. die nicht nicht zu verkaufenden Andenken – die Andenken sind nicht nicht zu verkaufen d. das nicht nicht zu lösende Problem – das Problem ist nicht nicht zu lösen

(24)

a. *die nicht sehr zu bewertende Klausur – ??die sehr nicht zu bewertende Klausur b. *die sehr zu bewertende Klausur – *die Klausur ist sehr zu bewerten c. ?das sehr zu lesende Buch, *die sehr zu verkaufenden Andenken, ?das sehr zu lösende P.

(25)

a. die neue Chance gilt nur für die nicht zu bewertende Klausuren b. die neue Chance gilt nur für die nicht zu lesenden Texte c. die Reduktion gilt nur für die nicht zu verkaufenden Andenken d. die neuen Methoden werden nur auf die nicht zu lösenden Probleme angewandt

Die Grammatikalität erscheint hier sehr unsicher. Ich möchte die Urteile dennoch auswerten und insbesondere überlegen, was sie bedeuten können. In (22) wird jeweils getestet, wie der Anschluss aussehen könnte, ob ein Kontrast nahegelegt wird (sondern) oder nicht (aber). Nach den gegebenen Grammatikalitätsurteilen geht hier beides, das heißt die Negation kann sowohl replaziv, als auch nicht-replaziv sein. In (23) wird doppelte Negation zugelassen, das würde für unselbstständiges nicht sprechen. Nach den Grammatikalitätsurteilen in (24) ist eine Graduierung mit sehr nicht möglich. Auch das war bei den anderen Testreihen eher ein Merkmal für unselbstständiges nicht. Die gleiche Tendenz zeigt auch die Einfügung von nur in (25). Die Tests zeigen das überraschende Ergebnis, dass es sich bei dem nicht in Verbindung mit dem adjektivischen zu-Infinitiv eher um das nicht handelt, das ansonsten unselbstständig ist. Es ist insofern überraschend als Getrenntschreibung hier bevorzugt wird. Diese Frage muss in Zusammenhang mit der Schreibung behandelt wer-

124 den. Ein möglicher Grund hierfür mag in der generellen Getrenntschreibung von zu und Infinitiv liegen.4 Wie gesagt erscheinen aber die Grammatikalitätsurteile unsicher und die gegebenen Beispiele erscheinen konstruiert und wenig natürlich. Die Beurteilung wird außerdem erschwert durch die Modalität der Konstruktion. In Abschnitt 8.6 wird der adjektivische zu-Infinitiv auch behandelt. Insgesamt kann man festhalten, dass er zwar attributiv verwendet werden kann, ansonsten ist er weniger adjektivisch als das einfache Partizip I. So kann er zum Beispiel nicht adverbial verwendet werden (singend ging er um die Ecke – *zu singend klang das Lied wunderbar). In der prädikativen Funktion wechselt er wie gesagt mit einer verbalen Form: die Klausur ist nicht zu bewerten. Der adjektivische zu-Infinitiv steht in engem Verhältnis zu den Partizipien, er kann als verbale Form interpretiert werden, die adjektivisch genutzt wird. Das zeigt sich eben auch daran, dass er zum Beispiel nicht kompariert werden kann (*das zu singendere Lied) und dass er nicht mit un- und -heit abgeleitet werden kann, s. Abschnitt 8.6.

6.3 Ist nicht- ein Präfix oder ein Kompositionserstglied? An dieser Stelle passt ein Kommentar zur Benennung von nicht-. Im Text ist durchgängig von ‚unselbstständigem nicht-‘ die Rede im Gegensatz zum ‚selbstständigem nicht‘. In der Überschrift wird nicht- als Kompositionserstglied bezeichnet. Das hat den Grund, dass nicht- eben gleichlautend zu einem vorhandenen Wort ist. Nichtsdestotrotz erscheint es nicht als wirklich freies Kompositionserstglied, sondern es erscheint sehr beschränkt. Damit erscheint es präfixartig oder halbpräfixartig. Wo ist die Beschränkung zu finden? Genau genommen sind mehrere Stufen zu unterscheiden: beim adjektivischen zu-Infinitiv verhält es sich analog zu dem unselbstständigem nicht; inwieweit es wortartige Züge entwickelt, kann hier nicht weiter geklärt werden. Beim Partizip I kann man feststellen, dass manche, sehr ausgewählte Partizipien mit nicht- kombinieren und damit auch prädikativ verwendbar werden: *das Besteck ist rostend – das Besteck ist nichtrostend, s. auch Kapitel 8. Daneben gab es nichtarbeitend, nichtschlagend, nichtkriegführend und nichtleitend. Nicht für alle diese gilt das gleiche: ??sie ist nichtarbeitend, die Verbindung ist schlagend – nichtschlagend. Beim Partizip II ergibt sich folgendes Bild: Die adjektivierten Partizipien II können sich mit nicht- verbinden, wenn zwischen der nicht- und der un-Verbindung ein Bedeutungsunterschied besteht. Dieser Bedeutungsunterschied wird auch bei den Adjektiven gewählt. Das heißt, das Wortbildungselement nicht- bringt eine klare semantische Funktion mit sich, auch das ist eher typisch für Präfixe als für Kompositionserstglieder. Kann man auch beschränkte Basen annehmen, so wie dies für Präfixe aber kaum für Kompositionserstglieder angenommen wird? Das Wortbildungselement nicht- verbindet sich nicht mit Verben an und für sich, sondern nur mit ‚adjektivischen‘ Formen. Es verbindet sich mit Adjektiven und mit Substantiven. Beschränkungen sind auszumachen, aber die Beschränkungen sind insbesondere der Bedeutung geschuldet. Zum Teil erinnern sie an ‚Blockierungen‘, insbesondere in Konkurrenz zu un-, aber auch hier entscheidet letztendlich die Be4

Ausgenommen sind hier nur die zu-Infinitive von Partikelverben wie anzufangen, wegzudenken und entsprechend eiszulaufen, kennenzulernen usw. Diese Formen werden häufig herangezogen, wenn es um die Analogie zwischen zu und ge- bei Verben geht oder wenn überhaupt versucht wird, das zu beim Infinitiv einzuordnen.

125 deutung. Damit ist die Rede von ‚Kompositionserstgliedern‘ durchaus angemessen. Die einzige Besonderheit ist damit die konkrete semantische Funktion, die nicht- mitbringt. Der Grund hierfür liegt in der Unterscheidung zum Syntagma.

6.4 Adjektive, Partizipien und nicht: Schluss Eine Verbalitätsreihe der adjektivisch verwendeten Verbformen könnte folgendermaßen angenommen werden: am verbalsten ist der adjektivische zu-Infinitiv, dann folgt das Partizip I und am adjektivischsten ist das Partizip II, s. auch Kapitel 8 und 9. Dahinter steckt auch, dass einige der Partizipien I viele adjektivische Eigenschaften ausbilden können (wütend, leidend) und das Partizip II zum Teil völlig adjektiviert ist. Mit einer solchen Einordnung passen auch die gefundenen Negationsmöglichkeiten zusammen: der adjektivische zuInfinitiv und das Partizip I können ausschließlich mit nicht und nicht mit un- negiert werden, das Partizip II bildet zum Teil beide Formen heraus. Bei beiden Partizipien gibt es deutlich den Unterschied zwischen nicht und nicht-, also zwischen einer syntagmatischen und einer Wortnegation im Sinne dieser Arbeit. Die syntagmatische Möglichkeit hängt mit dem deverbalen Charakter der Partizipien zusammen, sie scheinen diese Möglichkeit mitzubringen wie sie auch andere Adjunkte und Komplemente vom Verb mitbringen können, s. Abschnitt 8.1: die das Lied (besonders schön) singenden Kinder – die das Lied nicht singenden Kinder, das von den Kindern gesungene Lied – das von den Kindern nicht gesungene Lied. Als Wortbestandteil ist nicht unmöglich für Verben, nur die adjektivischen Element können mit nichtselbstständigem nicht- kombinieren. Dennoch sind die meisten Wörter, in denen nicht als Erstglied vorkommt, Verbindungen mit dem Partizip II. Die Verbindung von nicht, wie die Partizipien II sie eingehen, ist weder typisch für Verben noch für Adjektive. Dies könnte geradezu als eine Wortbildung für den Zwischenbereich gelten. Die Einheit nicht kommt sowohl syntagmatisch als Negation für Adjektive als auch für Verben vor. Adjektive haben (bedingt) die Möglichkeit zur Komposition, sie ermöglichen diese Bildung des Wortes grundsätzlich, ein Bedeutungsunterschied zwischen Wort und Syntagma bildet sich heraus. Man kann den Übergang von Wort zu Wortbestandteil auch genau hier vermuten: möglicherweise ist nicht über die Partizipien in diese Funktion geraten, als Univerbierung.

7. Schweizerkäse – Schweizer Käse: Schweizer als Kompositionserstglied?

Das Besondere an den sogenannten Stadtadjektiven ist, dass sie zwar vorangestelltes Attribut zu Substantiven sein können, aber nicht flektiert werden. Da sie unflektiert sind und den Substantiven vorangestellt werden, kann auch hier ein Syntagma mit einem Wort konkurrieren, wie eben in Schweizer Käse und Schweizerkäse. Die Fälle in Abschnitt 5.3 sind damit vergleichbar. Hier stehen ebenfalls Wörter und Syntagmen nebeneinander, die nicht durch Flexion zu unterscheiden sind (schwer verständlich – schwerverständlich). Bei diesen Fällen handelte es sich um Attribute zu Adjektiven, die immer unflektiert sind. Die Unflektiertheit bei den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen ist durch die syntaktische Funktion bedingt. Die Stadtadjektive sind hingegen als Gruppe unflektierbar, das zeichnet sie gerade aus. Eine genauere Untersuchung der Stadtadjektive findet sich in Fuhrhop (2003a). Hier wird auch gezeigt, dass es sich bei den Stadtadjektiven um Adjektive handelt. Die ‚eindeutigen‘ Wörter scheinen unter den Verbindungen mit Stadtadjektiven selten. Daher möchte ich hier schon ein wenig vorgreifen und die Fälle betrachten, die häufig zusammengeschrieben werden, bei denen die Intuition der Schreiber und Schreiberinnen durchschlägt. Diese kann man in zwei Gruppen unterteilen: (1)

a. Pragerschinken, Schweizerkäse b. Berlinerstraße, Pragerplatz, Wienerstraße

Schweizer kann einerseits Attribut zum Substantiv sein (Schweizer Käse) und andererseits Kompositionserstglied (Schweizerkäse). Andere Adjektive können auch beide Positionen einnehmen, doch normalerweise zeigt die Flexion hier die jeweilige aktuelle Funktion: roter Wein – Rotwein, grüner Kern – Grünkern, blaues Licht – Blaulicht, alte Last – Altlast, raue Faser – Raufaser, kleine Stadt – Kleinstadt. Der formale Unterschied zwischen Schweizerkäse und Schweizer Käse ist lediglich der Akzent bzw. die Zusammenschreibung. Der Bedeutungsunterschied zwischen dem Syntagma und dem Wort kann aber dennoch in beiden Fällen analog gesehen werden: Rotwein unterscheidet sich von roter Wein im Sinne einer Begriffsbildung. Um ein Kompositum Rotwein zu bilden, bedarf es eines besonderen Grundes, nämlich zum Beispiel, dass Weine nicht alle Farben haben können, sondern nur eine beschränkte Auswahl. Ähnliches gilt für Komposita mit Stadtadjektiven als erstem Glied. Pragerschinken und Schweizerkäse bilden Begriffe und bezeichnen nicht einfach die Herkunft, sondern einen bestimmten Typ von Käse oder Schinken. So kann es Allgäuer Schweizerkäse geben; dies ist ein Schweizerkäse (mit großen Löchern), der aus dem Allgäu kommt.1 Dagegen sind Berliner Bürgermeister, Hamburger Bürgermeister usw. Syntagmen, sie sind sowohl syntaktisch als auch semantisch vollständig durchsichtig. Tests wie wir sie bei den Verben angewendet haben, sind hier nicht anzuwenden. Das hat verschiedene Gründe. Erstens werden adjektivische Attribute im allgemeinen dem Substantiv vorangestellt. Sie sind im Satz nicht so frei beweglich. Beweglichkeit von Attributen kann sich in der Distanzstellung zeigen (Salat kauft er nur frischen, Eisenberg 2004b: 237). Diese scheint bei den Stadtadjektiven stark eingeschränkt: Würstchen esse ich 1

Die Angaben sind als rein sprachliche Möglichkeiten verstanden. Dagegen gibt es juristische Festlegungen, nach denen bestimmte Produkte nur mit Regionen bezeichnet werden dürfen, wenn sie auch von dort herkommen.

127 nur Wiener, ??Luft atme ich nur Berliner, ??Läufer sehe ich nur Berliner, und zwar wohl auch wegen der fehlenden Flexion. Das erste Beispiel ist zwar grammatisch, das scheint aber daran zu liegen, dass Wiener als Substantiv auch ‚Wiener Würstchen‘ bedeuten kann (ich esse Wiener). Damit ist es keine echte Distanzstellung. Das leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass der Bezug in der Distanzstellung durch die Flexion gezeigt wird. Zweitens können sich mehrere adjektivische Attribute auf ein Substantiv beziehen. Dabei hat sich eine unmarkierte Reihenfolge herausgebildet, die besagt, dass Herkunftsadjektive im allgemeinen am nächsten zum Substantiv stehen, s. Zifonun u.a. 1997 eine schöne, elegante, stolze, italienische Frau. „Herkunftsadjektive stehen in unmarkierter Stellung nach allen anderen” (Zifonun u. a. 1997: 2070f.)2. Bei den Stadtadjektiven wird die Bedingung unter 2. gewissermaßen verschärft wegen der fehlenden Flexion. Bei der (markierten) Adjektivreihung eine schöne, elegante, italienische, stolze Frau zeigt die Flexion den Bezug von italienische auf Frau. In ??eine schöne, elegante, Düsseldorfer, stolze Frau zeigt die Form Düsseldorfer nicht den Bezug. Das Adjektiv könnte selbst attribuiert werden: die total Berliner Situation, der deutlich Schweizer Dialekt. Diese Beispiele wären Hinweise für ein Syntagma. Ein flektiertes attribuierendes Adjektiv wie in der deutliche Schweizer Dialekt hilft hier aber auch nicht weiter, denn so oder so wird die Art der Flexion von dem Kernsubstantiv bestimmt: der frische Schweizer Käse – der frische Schweizerkäse. Die Wortstellung ist auch beim Syntagma relativ fest. Damit ist die Ununterbrechbarkeit von Stadtadjektiv und Bezugssubstantiv kein Wortkriterium. Die Attribuierbarkeit des Adjektivs zeigt, dass es sich um ein Syntagma handelt; ein formales Kriterium, dass es sich um ein Wort handeln könnte, haben wir damit auch nicht. Die Festigkeit der Wortstellung kann unterwandert werden, wenn eine Begriffsbildung mit einem anderen Adjektiv passiert: die Frankfurter Jüdische Gemeinde (Tiger-Korpus), der Berliner Regierende Bürgermeister. Auch das ist lediglich ein Beweis dafür, dass es sich bei der Verbindung häufig um ein Syntagma und nicht um ein Wort handelt. Die Wortartigkeit zeigt sich dann wesentlich in der entsprechenden Akzentuierung bzw. in der Zusammenschreibung. Damit einher geht eine Begriffsbildung. Ein anderes grammatisches Kriterium haben wir an dieser Stelle nicht. Dabei fällt auf, dass wir relativ wenig Beispiele finden, bei denen es sich um ein vermeintliches Wort handelt. Warum gibt es relativ wenig Beispiele für Wörter? Und damit verbunden: Sind die genannten Kriterien eigentlich notwendig, hinreichend oder nichts von alledem? Ein wesentliches Kriterium war die ‚Begriffsbildung‘. Hier habe ich Schweizerkäse mit Rotwein verglichen. Die zusätzlichen formalen Kriterien, die Rotwein bietet, hat Schweizerkäse wie gesagt nicht. Allerdings finden wir auch andere Begriffsbildungen wie Schwarzes Brett. Hier wird im Zuge der Rechtschreibreform über die Groß- und Kleinschreibung debattiert. Es wird aber nicht debattiert, ob Schwarzes Brett /schwarzes Brett zusammengeschrieben werden soll und damit als ein Wort ausgegeben wird. Das wäre auch absurd, wegen der Flexion kann diese Verbindung kein Wort sein. Daran ist zu erkennen, dass Begriffsbildung keine hinreichende Bedingung sein kann. Analoges finden wir bei den Straßennamen: Französische Straße ist kein Wort, auch wenn es eine reine Benennung ist. Das Verhalten der Stadtadjektive hängt mit ihrer Unflektierbarkeit zusammen:

2

Für diesen Hinweis danke ich George Smith.

128 Rotwein ist im Gegensatz zu roter Wein eine Komposition. In der zugrundeliegenden Kompositionsregel steckt ‚Begriffsbildung‘ drin, denn es wird nicht gleichermaßen *Rotpullover gebildet, wenn es sich um einen normalen roten Pullover handelt. In Schwarzes Brett handelt es sich wahrscheinlich um eine sekundäre Begriffszuschreibung, syntaktisch ist diese Konstruktion vollkommen analysierbar. Damit ist Begriffsbildung für diese Fälle eher eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Die Bildungen mit den Stadtadjektiven können auf beide Weisen analysiert werden: als ein Wort, weil sie nicht explizit flektiert sind, wenn sie denn Begriffe bilden oder als Syntagma, denn auch Schweizer Käse ist syntaktisch analysierbar. So kann Schweizer Käse auch als Begriff ein Syntagma sein, ebenso wie Weimarer Republik. Warum aber gibt es doch relativ wenig von diesen begriffsbildenden Verbindungen, wenn man von den Straßennamen absieht? Im allgemeinen stehen komplexe Adjektive nicht im Kompositionserstglied (*Trinkbarwasser, *Salzigwasser). Dabei geht es zwar um derivierte Adjektive. -er ist gerade kein Adjektivsuffix, als Adjektiv ist es gewissermaßen nicht komplex. Dennoch kann man feststellen, dass es Komposita wie Berlinwahl, Berlinverwaltung, Berlinreise, Pragreise3 gibt, die durchaus mit ‚Berliner Wahl‘, ‚Berliner Verwaltung‘ und ‚Prager Reise‘ paraphrasiert werden können. Es kann offenbar kein Unterschied gemacht werden zwischen einer Kompositionsstammform von Berliner und Berlin, das entspricht der Nichtunterscheidung von Kompositionsstammformen von Wörtern wie salzig und Salz und wie künstlich und Kunst.4 Die Frage, welche Form der Kompositionsstammform zugrunde liegt, ist nur in Einzelfällen zu beantworten; in Kunstleder und Kunsthonig kann aufgrund der Bedeutung rückgeschlossen werden. Ansonsten ist die Frage müßig. Andererseits wird als eine gute Voraussetzung von Kompositabildung häufig Reihenbildung genannt. Reihenbildung für die Stadtadjektive geschieht wesentlich bei Straßennamen. Die Möglichkeit des Zweitgliedes ist relativ beschränkt: Straße, Allee, Weg, Platz, Promenade usw. Und so ist die Zusammenschreibung von derartigen Straßennamen durchaus häufig. Gallmann zitiert Schaffhauserstraße, Altstetterplatz, Wipkingerbrücke (Gallmann 1990: 312) von Zürcher Straßenschildern. Dass derartige Straßennamen und überhaupt Verbindungen mit Stadtadjektiven nicht zusammengeschrieben werden sollen, wird explizit in der Rechtschreibung geregelt. Diese Sonderregelung zeigt ja aber geradezu, dass es eine Tendenz zur Zusammenschreibung gibt, dazu weiter in Abschnitt 11.3. Das System lässt beide Möglichkeiten offen. Man kann hier folgendes Fazit ziehen: Wenn Komposita gebildet werden, dann als ‚begriffsbildende‘ Komposita. Folgen der Komposition sind der Akzent auf dem Erstglied und Zusammenschreibung. Die Begriffsbildung ist notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Es gibt auch feststehende Begriffe, die Syntagmen sind (wie zum Beispiel Schwarzes Brett).

3 4

Für den Hinweis danke ich Ewald Lang. Der Begriff ‚Kompositionsstammform‘ wird in Fuhrhop (1998: 22ff.) eingeführt. Der Begriff macht unter anderem deutlich, dass das Fugenelement vom Erstglied bestimmt wird.

8. Substantiv-Partizip-I-Verbindungen

Ein Großteil der Adjektivkomposition geschieht mit einem Partizip als zweitem Bestandteil. Insbesondere beim Partizip I ist der Unterschied zwischen einem Syntagma und einem Wort häufig ausschließlich am Akzent bzw. an der Getrennt- oder Zusammenschreibung zu erkennen. Dies liegt m.E. wesentlich daran, dass das Partizip I als solches zwischen Adjektiv und Verbform steht. So kann es als Adjektiv Komposita und Syntagmen bilden, als Verbform bildet es Syntagmen. Syntagmen sind damit an sich kategorial doppeldeutig. Viele der in den Syntagmen und auch in den Komposita vorkommenden Elemente können aber auf die Rektion des zugrundeliegenden Verbs bezogen werden. Damit kann sowohl innerhalb der Syntagmen als auch innerhalb der Komposita häufig eine Rektionsbeziehung angenommen werden. Um dem jeweiligen Unterschied möglichst nahe zu kommen, werde ich zunächst das Partizip I (in Anlehnung an Fuhrhop/ Teuber 2000) einordnen. Anschließend werde ich die Substantiv-Partizip-I-Verbindungen untersuchen.

8.1 Das Partizip I zwischen Adjektiv und Verbform Das Partizip I flektiert zwar wie ein Adjektiv, hat aber auch viele Eigenschaften, die als untypisch für Adjektive gelten können, aber als typisch für Verben. Es steht zwischen Adjektiv und Verbform. Als Adjektiv wäre es ein lexikalisches Wort mit einem dazugehörigen Flexionsparadigma. Als Verbform wäre es selbst eine Form eines (verbalen Flexions-) Paradigmas. Inwieweit infinite Verbformen in ein Verbparadigma gehören, kann hier nicht geklärt werden. Diese Einordnung ist durchaus problematisch, soll uns hier aber nicht weiter beschäftigen. Insbesondere würde eine Lösung dieses Problems für die hier behandelte Frage wenig bringen; in dieser Untersuchung geht es wesentlich um die Beschreibung des besonderen Verhaltens und um die Vergleichbarkeit zu anderen infiniten Formen. Im folgenden werde ich Argumente nennen für und gegen die Interpretation als Adjektiv oder als Verbform. Eine ausführlichere Darstellung findet sich in Fuhrhop/ Teuber (2000). 8.1.1 Adjektivische Eigenschaften des Partizip I Das Partizip I tritt im heutigen Deutsch attributiv (die singenden Kinder) und adverbial auf (singend kam er um die Ecke). Dies sind zwei Funktionen, in denen keine Verbformen wohl aber Adjektive erwartet werden. Dies spricht für eine Interpretation von singend als Adjektiv. Hinzu kommt, dass die Partizipien I in attributiver Funktion eindeutig wie Adjektive flektieren. Partizipien I kommen allerdings nicht prädikativ vor (*er ist singend, *er wird singend, *er bleibt singend). Außerdem kommen Adjektive in der sogenannten Distanzstellung vor: ??das Kind ist ein singendes. Diese Stellung ist für viele Adjektive markiert.

130 Sie wird daher nicht weiter betrachtet. Das Partizip I würde in Distanzstellung jedenfalls adjektivisch flektieren, wenn es denn überhaupt möglich ist. Wie könnte das Nichtauftreten in der prädikativen Funktion zu bewerten sein? Adjektive treten mit sein, bleiben und werden prädikativ auf, sie sind dann Prädikatsnomen (er ist dick, er bleibt dick, er wird dick). Infinite Verbformen treten mit sein, werden und haben auf; diese sind dann Hilfsverben und die gesamten Konstruktionen damit analytische Verbformen. So kombiniert das Partizip II mit sein und werden und es ist ja gerade umstritten, ob das Partizip II zum Beispiel in die Wand ist gestrichen Adjektiv oder Teil einer analytischen Verbform ist. Das Vorkommen nach sein und werden an sich hilft nicht bei der kategorialen Einordnung; lediglich Vorkommen nach haben (Hilfsverb) oder bleiben (Kopulaverb) wären hier eindeutig. Interessant ist nun aber, dass das Partizip I weder mit Kopulaverben noch mit Hilfsverben kombiniert. Es kommt in keinerlei ‚doppeldeutiger‘ Position vor, sondern nur in den ‚eindeutig adjektivischen‘. Es ist niemals Bestandteil einer analytischen Verbform: *er ist singend ist ungrammatisch, obwohl es ohne weiteres interpretierbar wäre, auch *er wird singend ist ungrammatisch, obwohl die entsprechende Form im Mittelhochdeutschen eine Verbform war, nämlich eine Futurform (s. z.B. Paul/ Wiehl/ Grosse 1989: 298f.). Das Partizip I ist im heutigen Deutsch auf den eindeutig adjektivischen Gebrauch beschränkt, eine Konstruktion mit dem Partizip I kann nicht verbal interpretiert werden. Daher spricht die fehlende prädikative Funktion auch nicht gegen die Interpretation als Adjektiv, sie würde die Möglichkeit einer verbalen Interpretation liefern. Im übrigen kommen auch andere Adjektive nicht prädikativ vor, wie zum Beispiel: *die Theorie ist semantisch (Eisenberg 2004b: 244). Neben der großen Menge der ‚regulären‘ Partizipien I gibt es einige, die als Adjektive weitgehend lexikalisiert sind und zum Teil gar nicht mehr in Bezug auf das Verb interpretiert werden, allen voran wütend. wütend ist auch prädikativ möglich: ich bin wütend/ ich werde wütend/ ich bleibe wütend. Das adverbiale und das attributive Auftreten und insbesondere die adjektivische Flexion sprechen für die Interpretation als Adjektiv, die fehlende prädikative Position aus den genannten Gründen nicht dagegen. Das Partizip I verhält sich aber in vielerlei Hinsicht gerade nicht wie ein typisches Adjektiv. So bilden die Partizipien I keine Komparative: *die singenderen Kinder, *die helfendere Salbe. Auch andere Adjektive komparieren nicht; die Gründe liegen aber in der Bedeutung. Häufig werden hier tot und schwanger genannt. Eine solche Begründung ist wohl für die Partizipien I nicht anzunehmen: diese Salbe hilft mehr/ die Salbe hilft besser – ?die mehr helfende Salbe/ die besser helfende Salbe – *die helfendere Salbe. Nach Eisenberg (1991: 51) könnte der fehlende Komparativ morpho-phonologisch begründet werden: drei aufeinanderfolgende unbetonbare Silben werden verhindert. Bei genauerer Analyse stellt sich aber heraus, dass der Komparativ nicht grundsätzlich verhindert ist, sondern nur in einer bestimmten Interpretation. So ist die typische Interpretation des Partizip I eine ‚verbale‘, es bezieht sich auf Vorgänge oder Tätigkeiten. Bezeichnet das Partizip I eine Eigenschaft, so verhält es sich anders: der Dialekt ist singend – sein Dialekt ist noch singender als meiner – der singendere Dialekt.1 Die Partizipien I sind außerdem unzugänglich für ‚deadjektivische‘ Wortbildung. Typische deadjektivische Affixe sind das Präfix un- und das Suffix -heit/-keit. Beide können die Partizipien I nicht als Basis nehmen. Diese Unfähigkeit zur Wortbildung lässt mehrere 1

Für den Hinweis danke ich André Meinunger.

131 Interpretationen zu. Zuerst müssten die Affixe daraufhin geprüft werden, ob die Partizipien I überhaupt mögliche Basen sind. Gewöhnlich nehmen Wortbildungsaffixe ja nicht ganze Wortarten zur Basis, sondern nur Teilmengen dieser. Diese Prüfung muss für jedes Affix einzeln geschehen. Zunächst zu un-: *die unhelfende Salbe ist ungrammatisch. An der Gesamtbedeutung liegt es nicht, *unhelfend erscheint ohne weiteres interpretierbar. Lenz (1993: 45ff.) führt die Präfigierung mit un- sogar als Test für die Adjektivität an. Partizipien I können mit nicht verneint werden: die nicht helfende Salbe. nicht kann zwar auch Adjektive verneinen, aber offenbar nur sehr beschränkt: die nicht öffentliche Sitzung, ?nicht fröhlich kam er um die Ecke, ?nicht grün kam er um die Ecke.2 In Verbindung mit Adjektiven ist es eher ungewöhnlich und wird vielleicht auch darum zu einem Präfix oder Kompositionserstglied (s. Kapitel 6): die nichtöffentliche Sitzung. Die These ist also: Verben werden mit nicht verneint; eine Übertragung auf Adjektive ist möglich, aber mit bestimmten Einschränkungen. Damit kann die Verneinung mit nicht durchaus ein Hinweis auf die Verbalität des Partizip I sein, die unmögliche Verneinung mit un- tatsächlich – mit Lenz – ein Argument gegen die Adjektivität. Auch die ‚adjektivischen‘ Partizipien I wie wütend, leidend, kränkelnd, reizend kombinieren nicht mit dem Präfix un-. In Wahrig (2002) finden sich: unbedeutend, unbefriedigend, ungenügend, unpassend, unzureichend, unzusammenhängend, in einer älteren Auflage (Wahrig 1990) auch unaufregend, ungebührend, ungeziemend, unspannend, unvermögend. Gemessen an der Gesamtzahl von Partizip-I-Formen im Deutschen ist diese Menge gering. Die Partizipien I können auch nicht mit -heit/-keit abgeleitet werden: *die Lesendheit, *die Lachendheit; möglich sind laut Theissen u.a. (1992) lediglich Unvermögendheit, Allumfassendheit, Unbedeutendheit. Diese deadjektivische Ableitung ist ansonsten weitgehend ausnahmslos von Adjektiven möglich. Die Partizipien I bilden hier eine explizite Ausnahme (Fuhrhop 1998: 16). Selbst von den eigentlich ‚adjektivischen‘ wütend, leidend, kränkelnd sind sie nicht möglich (*die Wütendheit, *die Leidendheit, *die Kränkelndheit). Was könnte ihre Bedeutung sein? Sie stünde vermutlich in Konkurrenz zum substantivischen Infinitiv: das Leiden (als Vorgang), das Kränkeln, das Helfen, das Lachen.3 Beide potentiellen Affixe können das Partizip I nicht zur Basis nehmen. Für -heit/-keit ist das Partizip I wahrscheinlich auch keine mögliche Basis, für un- könnte es schon eine sein. Die Konkurrenz zu nicht ist vorhanden, aber ansonsten blockieren sie sich nicht gegenseitig, auch als Präfixe nicht. So haben wir unflektiert und nichtflektiert nebeneinander. Die Ableitungen mit un- fehlen also, das Fehlen ist nicht aus den üblichen Gründen zu erklären. Die einzige formale Erklärung, die sich hier anbietet, ist der Zwitterstatus des Partizip I: Weil es kein (eindeutiges) Adjektiv ist, kombiniert es nicht mit un-. Der Schluss, dass das Partizip I grundsätzlich nicht an Wortbildungen teilnimmt, ist durchaus riskant. Es gibt ja überhaupt nur ein Präfix, dass Wortbildungen mit dem Partizip I zulassen würde. Die Partizip-I-Bildungen unterliegen dem normalen Substantivierungsprozess bei den ‚adjektivischen‘ Personenbezeichnungen: die Zögernde, der Leidende, Schreibende, Studierende. Auch hier findet sich eine Beschränkung, die andere Adjektive nicht haben. Andere 2

3

Bei er kam nicht fröhlich um die Ecke kann sich nicht auf den ganzen Sachverhalt beziehen, daher wird hier das Adjektiv vorangestellt, um zu sehen, ob nicht wirklich das Adjektiv verneint., s. Kapitel 6. In Fuhrhop/ Teuber 2000 argumentieren wir für die komplementäre Verteilung des Partizip I, des einfachen Infinitivs und des zu-Infinitivs. Das würde hierzu passen.

132 Adjektive können maskulin und feminin Personen bezeichnen, es gibt aber auch eine neutrale Form (das Wahre, Gute, Schöne – *das Liebende, *das Zögernde, *das Schreibende).4 Hier bleibt zunächst folgendes festzuhalten: die maskulinen und femininen Formen sind möglich. Die adjektivische Flexion bleibt erhalten. Sie verhalten sich hier weitgehend wie andere Adjektive. Die Bedeutung der femininen und maskulinen substantivischen Adjektive sind jeweils Personenbezeichnungen und sie beziehen sich auf die vom zugrundeliegenden Verb bezeichnete Tätigkeit: der Zögernde bezeichnet ‚jemanden, der zögert‘ usw. Dass die Partizipien I nicht die neutrale Form bilden, liegt an ihrer Bedeutung; das Partizip I ist das ‚aktive Partizip‘. Ganz unzugänglich scheinen die Partizipien I auch für die Wortbildung mit Affixen nicht zu sein. Denn sie können mit dem Adverbsuffix -erweise abgeleitet werden: singenderweise, lesenderweise. Die Adverbien werden adverbial gebraucht und stehen damit in Konkurrenz zu den adverbial gebrauchten Partizipien. Motsch sieht hier folgenden Unterschied: Im Unterschied zu den Basiswörtern sind Bildungen dieses Musters als umständlich konnotiert. Motsch (1999: 191)

Dabei vergleicht Motsch: er geht lesenderweise durch den Park, er fährt telefonierenderweise Auto, er steigt schnaufenderweise die Treppe hinauf mit den analogen Sätzen mit einfachem Partizip I wie er geht lesend durch den Park, und kommt zu dem Schluss: Die Suffixe -weise und -maßen bieten die Möglichkeit, Adjektive in satzmodifizierende Wörter umzuwandeln. Motsch (1999: 190)

Aber auch für die hier verwendeten Eigenschaften finden sich Unterschiede: Erstens können die Partizipien I der echt-reflexiven Verben dieses Suffix nicht nehmen (*schämenderweise, *sich schämenderweise, *freuenderweise, *verliebenderweise, s. unten). Zweitens kann das Partizip I Ergänzungen nehmen (das Buch lesend ging er durch den Park), das erweise-Adverb kann das nicht (*das Buch lesenderweise ging er durch den Park). Beide Beschränkungen zeigen im Prinzip das Gleiche: Um Basis für -erweise sein zu können, müssen die Partizipien I ihre ‚verbalste‘ Eigenschaft aufgeben, nämlich Valenz zu haben. Die Partizipien mit der obligatorischen Valenz, die von reflexiven Verben, können nicht Basis sein, die anderen verlieren ihre ‚Ergänzbarkeit‘. Was sagt die Möglichkeit von erweise über die Wortbildungsfähigkeit der Partizipien I? Die Herkunft des Suffixes ist noch heute unverkennbar, Motsch (1999: 191): in schnaufender Weise, in schreibender Weise, ?in sich schämender Weise, in beschämender Weise. In den ‚ursprünglichen Syntagmen‘ treten die Partizipien I als Attribute auf, insofern ist diese Wortbildung für die vorliegende Fragestellung ein wenig anders zu interpretieren; die Bildungen können gewissermaßen auch über das Syntagma gebildet werden und müssen nicht unbedingt direkt mit Hilfe eines Suffixes -erweise gebildet sein. Diese Bildungen können als ‚Wortbildungen‘ im eigentlichen Sinne interpretiert werden, aber sie müssen es nicht. Damit bleibt offen, ob die Partizipien I Basen sein können oder nicht.

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Auch hier liegt komplementäre Verteilung vor, wie in Fuhrhop/ Teuber 2000 beschrieben: das zu Schreibende.

133 8.1.2 Verbale Eigenschaften des Partizip I Welche Eigenschaften des Partizip I sprechen für und welche gegen die Einordnung als Verbform? Durchaus häufig wird das Partizip I im Verbparadigma beschrieben, ohne weiteren Kommentar (so zum Beispiel Darski 1999, Lieb 1992). Andere Grammatiken wie zum Beispiel Eisenberg (2004b) beschreiben es schlichtweg als Adjektiv. Das Hauptargument gegen die einfache Einordnung in das Verbparadigma ist, dass das Partizip I nicht in analytischen Verbformen auftreten kann: *die Salbe ist helfend ist ungrammatisch. Andererseits nimmt es Ergänzungen in attributivem und in adverbialem Gebrauch, die das zugrundeliegende Verb auch nimmt. So ist das Reflexivpronomen sogar obligatorisch: *die freuenden Kinder/ die sich freuenden Kinder, *freuend ging er die Straße lang/ sich freuend ging er die Straße lang. Das Reflexivpronomen ist obligatorisch; jedoch ist das nur ein Hinweis auf ‚Verbalität‘, denn das Deutsche kennt auch Adjektive, die das Reflexivpronomen regieren: er ist sich bewusst, er ist sich sicher.5 Das Partizip I verlangt immer genau dann ein Reflexivpronomen, wenn das zugrundeliegende Verb eines verlangt. Eine mögliche Interpretation dessen ist: Der Ableitungsprozess von Verb zu Adjektiv geschieht hier nicht vollständig. Dass das Partizip I das Reflexivpronomen verlangt, erinnert an den substantivischen Infinitiv, dieser zeigt bezüglich des Reflexivpronomens das gleiche Verhalten: *das Schämen – das Sich-Schämen, *das Freuen – das Sich-Freuen usw. Das Reflexivpronomen ist obligatorisch. Das Partizip I kann aber – ganz im Sinne einer infiniten Verbform – alle Ergänzungen als solche des zugrundeliegenden Verbs mitbringen außer dem Subjekt: die singenden Kinder, die das neue Lied singenden Kinder, die schenkenden Kinder, die dem Vater den Kuchen schenkenden Kinder. Das semantische Subjekt ist typischerweise das Bezugssubstantiv. Das Partizip I kann praktisch zu jedem Verb gebildet werden, so auch zu neuen Verben: die mailende Jugend, die simsenden Studenten. Diese Beobachtung ist ein Hinweis auf die enge Beziehung zum Verb. Diese könnte eine Flexionsbeziehung sein. Für Derivation ist es ungewöhnlich, aber nicht unmöglich, eine Basismenge zu haben, die eine ganze Wortart abdeckt. Die verbalen Eigenschaften des Partizip I sind die folgenden: Sie übernehmen Valenz. Dabei übernehmen sie das Reflexivpronomen obligatorisch, die anderen Ergänzungen fakultativ. Sie sind im Prinzip von allen Verben bildbar. Die Verwandtschaft zu den anderen infiniten Verbformen ist unverkennbar. 8.1.3 Zur Einheitlichkeit der einfachen Partizipien I Die bisher genannten Punkte, insbesondere verbale Interpretierbarkeit der Partizipien I, gelten für die große Menge der Partizipien, aber nicht für alle. Tabelle 8.1 fasst die Eigenschaften zusammen. Einzelne lexikalisierte Partizipien I (wütend, bedeutend, leidend usw.) verhalten sich tendenziell adjektivischer als die übrigen. Andererseits verhalten sich die Partizipien I von ‚echt‘-reflexiven Verben ‚verbaler‘ als die übrigen Partizipien I: sie brauchen immer ihr Reflexivpronomen. Während die anderen Partizipien I Ergänzungen nehmen können, aber nicht müssen, ist das Reflexivpronomen für die echt-reflexiven Verben obligatorisch. Dies sind gewissermaßen ‚systematische‘ Ausreißer in die andere Richtung. 5

Dies sind Beispiele aus einem Vortrag von Marga Reis am ZAS Berlin, Januar 2000.

134 Entsprechend der genannten Eigenschaften zeigt sich ein Kontinuum, von freuend bis wütend: freuend als Vertreter der Partizipien I von echt-reflexiven Verben, wütend als Vertreter der ‚adjektivierten Partizipien I‘. singend kann in der Tabelle als der Vertreter der großen Menge der Partizipien I angesehen werden. Tabelle 8.1: Die ‚Ausreißer‘ im Zusammenhang mit der großen Menge von Partizipien I

freuend singend leidend bedeutend wütend

reflexiv

attributiv

adverbial

+ – – – –

+ + + + +

? + + ? +

prädikativ Komparativ – – + + +

– – + + +

un– – – + –

-heit/ -erwei-keit se – –? – + – + ? + – +

Die ersten beiden (freuend und singend) können als Vertreter von Gruppen gesehen werden; leidend, bedeutend und wütend sind hingegen vereinzelt auf einem Kontinuum zwischen den typischen Partizipien I und prototypischen Adjektiven. Mit den Begriffen der Wortbildung sind dies einzelne lexikalisierte Bildungen. freuend und singend können entsprechend als Vertreter der produktiven Klassen verstanden werden. So weit zum Verhalten der Partizipien I zwischen Adjektiv und Verbform. In Fuhrhop/ Teuber (2000) bezeichnen wir das Partizip I als ‚adjektivischen Infinitiv‘. Dies hat seine Grundlage in der Einordnung der Partizipien I in das System der infinitivischen Formen. 8.1.4 Partizip-I-Verbindungen zwischen Wort und Syntagma Das Partizip I bringt seine verbalen Ergänzungen mit. Mit diesen Ergänzungen bildet es Syntagmen (die das Lied besonders schön singenden Kinder). Das Partizip I als Adjektiv kann aber auch ‚Komposita‘ bilden (entzündungshemmend). Im allgemeinen unterscheiden sich Syntagmen und Komposita deutlich in der Form. Strukturell doppeldeutig sind die Fälle, in denen einfache Substantive Ergänzungen sein können, zum Beispiel Stoffsubstantive: die biertrinkenden Fans/ die Bier trinkenden Fans. Derartige Verbindungen können ein Wort oder ein Syntagma sein. In diesem Abschnitt geht es nur um die Ergänzungen, in denen ein Substantiv enthalten ist, also um einfache Substantive, Nominalgruppen oder größere Ergänzungen mit diesen Bestandteilen. Von begleitenden Adjektiven handelt Kapitel 9. Partizipien I können mit Ergänzungen in Syntagmen vorkommen, sie können aber auch Bestandteil eines Kompositums sein. Im einzelnen und konkreten Fall besteht häufig nur eine Interpretationsmöglichkeit, im allgemeinen ist eine Substantiv-Partizip-I-Verbindung entweder ein Syntagma oder ein Kompositum. Folgende Aspekte werden hinsichtlich der Ausgangsfrage näher untersucht: – Ist die Kompositumsbildung frei oder ist sie beschränkt? Ein erster Blick auf die Partizip-IKomposita zeigt, dass es im wesentlichen Rektionskomposita sind, das heißt Komposita, in denen „das erste Glied als Argument des zweiten verstanden wird“ (Günther in Glück (Hg.) 2000). Gibt dies Hinweise auf die kategoriale Interpretation des Partizip I oder sind ist Überwiegen der Rektionskomposita im wesentlichen semantisch zu begründen? Hierzu werde ich den Aufsatz von Rivet (1999) diskutieren.

135 – Die formale Beschreibung der Komposita hilft hier weiter, insbesondere die Verteilung der Fugenelemente. Fugenelemente können helfen, ‚syntaktische Verbindungen‘ von ‚echten Komposita‘ zu unterscheiden. So ist zum Beispiel interessant, dass sowohl richtungweisend als auch richtungsweisend mögliche Wörter im Deutschen sind. Hingegen ist *Versicherungvertreter kein mögliches Wort des Deutschen. In den genannten Beispielen kann die partizipiale Zusammensetzung das Fugenelement nehmen, braucht es aber nicht unbedingt. Die substantivische Zusammensetzung ist nur mit Fugenelement möglich. Zunächst ist zu untersuchen, ob das Fugenelement immer optional ist, im Anschluss sind hier vermeintliche Unterschiede zur Substantiv-Substantiv-Komposition zu interpretieren. – Wie verhalten sich die Komposita in Bezug auf die ‚adjektivischen‘ und ‚verbalen‘ Kriterien, die für das einfache Partizip I eingeführt wurden?

8.2 Die Substantiv-Partizip-I-Komposita Aus einem Korpus6 wurde mir eine Liste mit ca. 500 Partizip-I-Komposita zur Verfügung gestellt, sowohl mit substantivischem als auch mit adjektivischem Erstglied.7 Eindeutig die meisten Erstglieder würden bei verbalem Gebrauch des Infinitivs als Akkusative realisiert werden: (1)

a. die arbeitssuchenden Schüler – ‚Die Schüler suchen Arbeit‘ b. die allergieauslösende Substanz – ‚Die Substanz löst eine Allergie/ Allergien aus‘ c. die abfallerzeugende Industrie – ‚Die Industrie erzeugt Abfall‘

Daneben gab es noch eine größere Menge mit adjektivischem Erstglied: alleinverdienend, blankliegend, festkochend, dazu in Kapitel 9. 8.2.1 ‚Akkusativische‘ Komposita Die ‚akkusativischen‘ Komposita sind die, die typischerweise als Rektionskomposita gesehen werden (abfallerzeugend, ölproduzierend, fleischfressend, teetrinkend). Rektionskomposita werden, wie in Abschnitt 1.6 gezeigt, recht unterschiedlich beschrieben und sehr kontrovers diskutiert. Insbesondere Rivet (1999) nimmt sie als Beispiel für eine ‚Syntax der Morphologie‘. Für ihre Analyse ist es wesentlich, dass die Funktionsweisen affixübergreifend wirken; daher sollen die Thesen hier an den Partizipien I überprüft werden. Die möglichen Strukturen sind ausführlicher in Abschnitt 1.6 dargestellt. Insbesondere eine mögliche Struktur [A[VabfallNerzeugv]-end?] passt nicht in die sonstige Argumentation in dieser Arbeit, da ein Verbstamm abfallerzeug(en) angenommen wird, den es so nicht gibt. Eher ist die Struktur [AabfallN [Aerzeugv end]?] anzunehmen, eine Komposition aus abfall und erzeugend. Hier möchte ich zunächst Substantiv-Partizip-I-Verbindungen systematischer erfassen und sie in Zusammenhang mit Substantiv-Adjektiv-Verbindungen stellen.

6 7

FR-Korpus von der European Corpus Initiative. Dieses Korpus umfasst die Jahrgänge 1992/ 1993 der Frankfurter Rundschau und hat 40 Millionen Wortformen und Satzzeichen. Herzlichen Dank an Arne Fitschen und Anke Lüdeling.

136 Nach Rivet sind nur diejenigen Rektionskomposita produktiv, bei denen das Erstglied der vom zugrundeliegenden Verb regierte Akkusativ ist. Daher werde ich die SubstantivPartizip-I-Verbindungen als erstes daraufhin untersuchen, in welcher Form das Erstglied in einem entsprechenden verbalen Syntagma erscheinen würde. Innerhalb der ‚akkusativischen‘ Verbindungen sind zunächst die Unterscheidungen zu machen nach der potentiellen Artikellosigkeit. Auf der einen Seite haben wir abfallerzeugend – ‚jemand erzeugt Abfall‘, wo das Substantiv ein Stoffsubstantiv ist und keinen Artikel braucht und auf der anderen Seite absatzfördernd – ‚etwas fördert *Absatz/ den Absatz‘. Beide tauchen in großer Zahl auf. Letztendlich ist bei denen, die keinen Artikel brauchen wie abfallerzeugend stets auch die Interpretation als Syntagma möglich, das ‚Fehlen‘ des Artikels bei absatzfördernd hingegen macht die Verbindungen eindeutig zu Wörtern. Inwieweit dieser Unterschied für eine ‚syntaktische‘ Interpretation von Rektionskomposita relevant ist, ist an dieser Stelle offen, dazu Abschnitt 10.2.1. 8.2.2 ‚Nicht-akkusativische‘ Komposita Substantiv-Partizip-I-Verbindungen, die nicht auf ein Verb-Akkusativ-Verhältnis zurückgeführt werden können, sind die folgenden: (2) a. almosenbettelnd, augenzwinkernd, bandscheibenzehrend, blutüberströmend, bodenbrütend, effekthaschend, freiheitsdürstend, freiheitsverbürgend, fußstampfend, hitzeflimmernd, hufklappernd, kieslaichend, krautlaichend, kriegsleidend, kälteklirrend, laubraschelnd, lärmschützend, muskelprotzend, paillettenglitzernd, quarzstaubbelastend, reizüberflutend, schmutzstarrend, schweißglänzend b. kraftstrotzend, machtstrotzend, männlichkeitsstrotzend, muskelstrotzend, samenstrotzend, stärkestrotzend, waffenstrotzend c. artentsprechend, atemberaubend, gewaltvorbeugend, sinnentleerend, spitzenraschelnd d. gefühlsstreichelnd, gemütstriefend, hoheitsdemonstrierend, rachedröhnend e. chromblitzende, chromglänzende, kupferglänzend, metallglänzend f. bauchtanzend, bettnässend, gastgebend, heimkehrend, heimsuchend, kopfstehend, kraftfahrend, lichthupend, marktführend, motorsägend, nottuend, osterspazierender, potenzprotzend, querschnittlähmend, radfahrend, regenschützend, sonnenbadend, steuerberatend, trainingslagernd, trommelwirbelnd, wegbegleitend, weltreisend

Dies sind sämtliche Bildungen aus dem genannten Korpus, bei denen das Zweitglied ein Partizip I ist, das Erstglied ein Substantiv und das Substantiv nicht als Akkusativ einer dazugehörigen verbalen Konstruktion gelesen kann, bzw. es sollte nicht so gelesen werden: lärmschützend meint ja nicht, dass etwas den Lärm schützt, sondern dass etwas vor Lärm schützt. Die Bildungen in (2) sind grob geordnet. Einige der Fälle sind nicht eindeutig, sie können mehreren Gruppen zugeordnet werden. Dennoch habe ich jede Bildung nur einmal zugeordnet. In (a) sind diejenigen, in denen das Erstglied in der entsprechenden verbalen Konstruktion als Bestandteil einer Präpositionalgruppe interpretiert werden kann: almosenbettelnd – ‚um Almosen betteln‘, augenzwinkernd – ‚mit den Augen zwinkern‘. In (b) sind Bildungen mit dem Zweitglied strotzend aufgelistet. Auch hier können die Komposita entsprechend einer Präpositionalgruppe interpretiert werden: muskelstrotzend – ‚jemand strotzt vor Muskeln‘. Sie sind hier gesondert aufgelistet, weil das Zweitglied strotzend auffallend häufig vorkommt, vom Zweitglied her sind sie nahezu reihenbildend. (c) listet die Kompo-

137 sita auf, in denen das Erstglied als Nominal oder Bestandteil eines Nominals (einer Nominalgruppe) einer entsprechenden verbalen Konstruktion gelesen werden kann, das Nominal steht aber nicht im Akkusativ, sondern in einem anderen Kasus: artentsprechend ‚der Art entsprechen‘ (Dativ), atemberaubend ‚des Atems berauben‘ (Genitiv), gewaltvorbeugend ‚der Gewalt vorbeugen‘ (Genitiv) usw. In (d) handelt es sich Reste; sie sind nicht in gleicher Weise wie die anderen Gruppen zu interpretieren. In (e) sind Bildungen des ‚Vergleichs‘; chromglänzend ‚wie Chrom glänzen‘, kupferglänzend ‚wie Kupfer glänzen‘ usw. Diese sind den Substantiv-Adjektiv-Komposita wie himmelblau, aalglatt und bärenstark vergleichbar (‚blau wie der Himmel‘, ‚glatt wie ein Aal‘). In (f) sind schließlich diejenigen Partizip-I-Verbindungen aufgelistet, die als Rückbildungen interpretiert werden: bettnässend von Bettnässer, gastgebend von Gastgeber usw. Die vorliegenden Rückbildungen sind hier zu kommentieren. Bett in Bettnässer könnte durchaus auch als Akkusativ in der entsprechenden verbalen Form interpretiert werden: ‚das Bett nässen‘, allerdings erscheint eine solche Konstruktion als absolut unüblich. radfahrend kann sich auf radfahren beziehen (Kapitel 2); es wäre der entsprechende adjektivische Infinitiv zu dem verbalen Infinitiv. Die Fälle, die hier herausstechen, sind solche wie gastgebend, kraftfahrend, motorsägend. Dazu fehlen die verbalen Infinitive. Entscheidend ist nicht unbedingt, ob gerade bei diesen die verbalen Infinitive fehlen, sondern zu kommentieren ist, dass es adjektivische Infinitive zu geben scheint, die typische Merkmale der Rückbildung aufweisen, zu denen aber der verbale Infinitiv fehlt. Man kann davon ausgehen, dass die Analogiebasen vorhanden sind und zumindest aktiv sind. Dass hier mehr oder andere Rückbildungen als bei den verbalen Infinitiven vorhanden sind, hängt an der grundsätzlichen Kompositionsfähigkeit der Partizipien I. Dieser Sicht liegt die Auffassung zugrunde, dass bei vorhandenen Analogiebasen einzelne entsprechende Bildungen immer möglich sind, und zwar umso eher möglich, je stärker und zahlreicher die Analogiebasen sind, ganz im Sinne von Paul (1880), Becker (1990). Das heißt nicht, dass solche Prozesse ‚vollproduktiv‘ sind, sondern einzelne Bildungen entstehen, die sich dann wie im vorliegenden Fall zu einer beachtlichen Zahl summieren. Diese beachtliche Anzahl der Rückbildungen macht allerdings deutlich, dass die Substantiv-Partizip-I-Verbindungen gerade nicht ausschließlich Rektionskomposita sind. Die Fälle (a)-(c) können als Rektionskomposita interpretiert werden, auch wenn sie nicht ‚akkusativisch‘ sind: Die Zweitglieder ziehen eine vom zugrundeliegenden Verb regierte Ergänzung in ihr Erstglied. Dies widerspricht Rivet (1999), die für Rektionskomposita nur akkusativische Erstglieder annimmt. Ich habe hier allerdings noch nichts über die Produktivität dieser Konstruktion gesagt. Wilss (1983) bezweifelt die Produktivität, er hält die ‚nicht-akkusativischen‘ Fälle für lexikalisiert. Bei den Rückbildungsfällen ist wohl kaum zu erwarten, dass sie hochproduktiv sind oder werden; Rückbildung geschieht in einzelnen Fällen. Soweit zu den ‚Nicht-Akkusativ-Verbindungen‘. Was liefern nun diese Fälle von Partizip-I-Komposita für die kategoriale Einordnung des Partizip I? Offenbar sind alle Fälle entweder als Rektionskomposita im weiteren Sinne oder als Rückbildungen zu interpretieren, bis auf die Fälle in (d), die kaum zu interpretieren sind und die in (c) chromglänzend, kupferglänzend. Letztere sehen aus wie Determinativkomposita im üblichen Sinne, sind aber auf das Zweitglied glänzend beschränkt, ein Partizip I, das durchaus als adjektivisch interpretiert werden kann, es ist ‚adjektivischer‘ als die anderen Partizipien I, indem es zum Beispiel einen Komparativ bilden kann (glänzender). Im Gesamtbild verweisen die Partizip-I-Komposita deutlich auf den deverbalen Charakter des Partizip I, indem sie eine Rektionslesart nahelegen. Ob hier Argumente für die kategoriale Interpretation des Partizip I herausgezogen werden können, hängt von der Interpre-

138 tation der Rektionskomposita im allgemeinen ab. Rivets Beispiel ist Wetterbeobachter, niemand zweifelt daran, dass dieses Wort an und für sich ein Substantiv ist und auch Beobachter alleine (zum Beispiel in Beobachter des Wetters) ist ein Substantiv. Und so werde ich auch später zeigen (Abschnitt 8.7), dass sich im allgemeinen die Partizip-I-Komposita adjektivischer verhalten als die einfachen Partizipien I. Mehr noch: Die Partizip-IKomposita sind insgesamt Adjektive. Man könnte hier höchstens zur Diskussion stellen, dass es keine Komposita und damit keine Wörter sind. Eine abgemilderte Form dieser These wäre, dass sie zwischen Komposita und Syntagmen stehen. Rektionskomposita wären damit selbst eine Zwischenkategorie.

8.3 Substantiv-Adjektiv-Komposita In Abschnitt 5.2.1 habe ich gezeigt, dass die Adjektiv-Adjektiv-Komposition stark eingeschränkt ist. Die Substantiv-Adjektiv-Komposition wurde dort nicht thematisiert. Der erste Blick zeigt, dass es durchaus eine umfangreiche Anzahl von Bildungen gibt. Typische Bildungen sind unter anderem: (3) a. apfelgrün, aalglatt, haushoch, bärenstark, steinhart b. wirklichkeitsnah, bildungsfeindlich, unterstützungsbedürftig (Beispiele nach Fleischer 1982: 238) c. bleifrei, verkehrsarm, rücksichtsvoll, fälschungssicher (Beispiele nach Olsen 1986a)

Die Bildungen in a. können paraphrasiert werden als: ‚X ist b wie a‘ (bei einem Kompositum ab): ein steinharter Brocken – ‚der Brocken ist hart wie ein Stein‘. In b. und c. haben wir Rektionskomposita im weiteren Sinne: unterstützungsbedürftig ‚bedarf der Unterstützung‘, bleifrei ‚ist frei von Blei‘ usw. Olsen (1986a) plädiert dafür, gewisse reihenbildende Elemente wie frei, arm, voll, sicher u.a. nicht als Suffixoide zu sehen, sondern diese als vollwertige Kompositionsglieder zu betrachten. Das Besondere an ihnen ist gerade, dass sie Rektionskomposita bilden. Mit Olsen ist es typisch für Adjektive, Rektionskomposita zu bilden. Diese Rektionskomposita entstehen bei (primären) Adjektiven selten auf der Basis von ‚Akkusativen‘ (wie Rivet 1999 es annimmt), sondern durchaus auch auf anderen Basen: das Buch ist seinen Preis wert – das Buch ist preiswert, die Stadt ist arm an Verkehr – die Stadt ist verkehrsarm. An dieser Stelle möchte ich eine Beobachtung aus Fuhrhop (1998) erwähnen, die nun eingeordnet werden kann: wert und würdig nehmen als Erstglied einen Infinitiv, vermutlich einen substantivischen Infinitiv, mit Fugenelement: (4) a. anerkennenswert, bemitleidenswert, beneidenswert, lebenswert, lobenswert, sehenswert b. begehrenswürdig, liebenswürdig, lobenswürdig, verabscheuenswürdig, vertrauenswürdig Beispiele nach Fuhrhop (1998: 199)

In Fuhrhop (1998) war unklar, warum substantivische Infinitive bei den genannten Zweitgliedern eine s-Fuge nehmen, obwohl substantivische Infinitive in anderen (produktiven) Fällen häufig kein Fugenelement nehmen. Die Fälle in (4) sind Rektionskomposita eines bestimmten Typs, nämlich adjektivische Komposita. Im übrigen ist dies ja einer der wenigen Fälle, in denen die s-Fuge paradigmisch ist: es sind Genitivformen und das Verhältnis

139 ist auch das eines Genitivs: lobenswürdig meint ‚des Lobens würdig‘ usw. Durchaus regelmäßig gibt es mehrere Kompositionsstammformen des Erstgliedes; hier hat das Zweitglied einen Einfluss auf die Form. In diesen Fällen kommt dann die Adjektivität des Zweitgliedes zum Zuge. Die Komposition funktioniert anders, auch ‚Zusammenrückungen‘ oder ‚Univerbierungen haben hier einen anderen Status. Bei anderen Erstgliedern nimmt das Adjektiv würdig die übliche Kompositionsstammform: diskussionswürdig, menschenwürdig, kreditwürdig. Für wert verzeichnet Theissen u.a. (1992) als einziges weiteres komplexes Adjektiv preiswert; eine eindeutige Kompositionsstammform ist hier nicht zu erkennen. Fest steht an dieser Stelle, dass die Adjektivkomposition wesentlich anders funktioniert als die Substantivkomposition. Im wesentlichen wird deutlich, dass Adjektive Rektionskomposita mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten bilden. Die meisten der Substantiv-Partizip-I-Komposita können auch als Rektionskomposita interpretiert werden. Adjektive und Valenz Adjektive können Rektionskomposita bilden; Rektionskomposita können sogar als typisch für Adjektivkomposita gelten. Die meisten Adjektive sind nullstellig, aber es gibt durchaus auch viele Adjektive, die eine Valenz haben (Nörgeln ist ihm fremd, sie ist es wert). Sie bilden entsprechende Rektionskomposita, unabhängig von der Form der Ergänzungen. Man kann nun das Verhalten und die Valenz der Adjektive mit dem Verhalten und der Valenz von Verben und Substantiven vergleichen. Verben haben alle eine Valenz. Sie bilden keine Rektionskomposita, sondern lassen ihre gesamten Ergänzungen ‚syntaktisch‘ erscheinen. Substantive haben kategoriale fakultative Valenz, den Genitiv. Ansonsten ist die meiste Valenz der Substantive ‚geerbt‘, im allgemeinen von Verben. Wie ist nun der Zusammenhang zwischen Valenz und Rektionskomposita? Verben haben eine ausgeprägte Valenz und bilden keinerlei Rektionskomposita. Substantive haben eine stark eingeschränkte, zum großen Teil ‚sekundäre‘ Valenz; die jeweils regierte Einheit kann (als Kompositionsstammform) in Rektionskomposita erscheinen. Adjektive stehen mit ihrer Valenz zwischen Verben und Substantiven, sie können ihre Valenz syntagmatisch realisieren, realisieren sie aber auch häufig in Rektionskomposita. Die Valenz der Adjektive ist sehr häufig nicht ererbt, sie ist primär bei Adjektiven da: seinen Preis wert, arm an Verkehr, frei von Benzin, dem Kind fremd, des Lobens würdig usw. Bei den Partizipien I ist die Valenz allerdings ererbt. Die Valenz von Adjektiven ist keineswegs gleichzusetzen mit der von Verben. Diese Überlegungen sollen hier dazu dienen, die Substantiv-Partizip-I-Komposita zu beschreiben (ausführlicher zu Adjektiven und ihrer Valenz in Fuhrhop/ Thieroff 2006). Eisenberg (2004a: 230ff.) beschreibt die substantivischen Rektionskomposita als Teilklasse der Determinativkomposita. Für adjektivische Rektionskomposita kann aber eine ganz andere Einordnung gelten; die Determinativkomposita sind hier eher selten, s. Abschnitt 5.1.

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8.4 Die Bildung von Partizip-I-Komposita Sehr viele der Substantiv-Partizip-I-Komposita können als Rektionskomposita interpretiert werden. Rektionskomposita sind bei Adjektiven keineswegs immer auf eine deverbale Herkunft zurückzuführen. Auch einfache Adjektive können eine Valenz haben und auch diese bilden Rektionskomposita. Das heißt nicht, dass alle Komposita mit nicht-nullstelligen Adjektiven als Zweitglieder auch Rektionskomposita sind. Olsen (1986a) nennt viele Gegenbeispiele. Aber bei genauerem Hinsehen ergeben sich grundsätzliche Unterschiede zwischen substantivischen und adjektivischen Rektionskomposita, die auch hier eine Rolle spielen. Dazu folgen einige Überlegungen. Zunächst: Wie ist das Verhältnis von Syntagmen und Wort? (5) a. Die Stadt ist arm an Verkehr – die an Verkehr arme Stadt b. Das Benzin ist frei von Blei – das von Blei freie Benzin c. Der Ausweis ist vor Fälschung sicher – der vor Fälschung sichere Ausweis

Im prädikativen Gebrauch ist das Syntagma unauffällig, im attributiven Gebrauch erscheint es als ein ziemliches Konstrukt. Das ist eine rein stilistische Bemerkung, die möglicherweise durch Korpusuntersuchungen (statistisch) untermauert werden könnte. Allerdings scheint es typisch für den attributiven Gebrauch solcher Konstrukte zu sein, dass die Ergänzungen vor dem (regierenden) Adjektiv stehen: *die arme an Verkehr Stadt, *das freie von Blei Benzin, *der sichere vor Fälschung Ausweis. Sie haben die den Komposita entsprechende Wortstellung, eine der Grundvoraussetzungen für eine Univerbierung. Eine mögliche Univerbierung geht in vielen Fällen mit formalen Änderungen einher; diese formalen Änderungen können im Zuge einer ‚Inkorporation‘ passieren. Formale Änderungen in den genannten Beispielen sind das Wegfallen der Präposition und zum Teil das Hinzufügen eines Fugenelementes (fälschungssicher, verkehrsarm). Inkorporation beschreibt die Einverleibung einer regierten Einheit. Bei den Partizipien I kann in dem Vergleich ausschließlich der attributive Gebrauch herangezogen werden, da das entsprechende Syntagma gar nicht grammatisch wäre, weil das Partizip I nicht prädikativ auftritt. (6) *Die Salbe ist die Entzündung hemmend – die die Entzündung hemmende Salbe

Bei Substantiven, die ohne weitere Ergänzung erscheinen können, wäre hier eine Univerbierung möglich: die Verfassung gebende Versammlung – die verfassung(s)gebende Versammlung. Diese Univerbierung beinhaltet dann nahezu automatisch eine Inkorporation, weil die entsprechenden vorangehenden ‚syntagmatischen‘ Ergänzungen bei den Partizipien I wohl in den meisten Fällen regiert sind. In einem System der infinitivischen Konstruktionen kann man zeigen, dass der attributive adjektivische Infinitiv der Infinitiv ist, der sein Subjekt (als Bezugssubstantiv) ‚mitbringt‘: die singenden Kinder ist in Beziehung zu setzen mit die Kinder singen. Die Nominalgruppe wie die entzündungshemmende Salbe steht nun in Beziehung zu dem Satz die Salbe hemmt die Entzündung – eine extreme Verdichtung. Eine solche Konstruktion vollendet gewissermaßen die Tendenz, ‚satzwertige Nominalgruppen‘ zu erzeugen (s. zum Beispiel Zimmermann 1988). Entsprechend wäre die auch mit dem Partizip II möglich die abgasgeplagten Anwohner – die Anwohner sind vom Abgas geplagt – das Abgas plagt die Anwohner, sozusagen die entsprechende passivische Konstruktion.

141

8.5 Die Fugenelemente in den Substantiv-Partizip-I-Komposita Wie zu Beginn dieses Kapitels angedeutet, können die Fugenelemente in den Verbindungen Aufschluss geben über den Status der Verbindungen. So sind hier zweierlei Regelmäßigkeiten zu untersuchen: Erstens ob die Verbindungen Fugenelemente nehmen und zweitens ob sie alle nehmen, die vorgesehen sind. Fuhrhop (2000) bearbeitet allgemein die Frage, ob die Fugenelemente die Morphologisierung von Komposita zeigen. Das ist genau die Frage, die man hier stellen kann: Sind die Substantiv-Partizip-I-Verbindungen morphologisiert? Inwieweit zeigt ihr Auftreten typische morphologische Prinzipien? Besonders auffallend bei den Partizip-I-Komposita ist, dass zwei mögliche Kompositionsstammformen des Erstgliedes realisiert werden können beim gleichen Zweitglied, wie in richtungweisend und richtungsweisend. Die erste Bildung ist mit Fuhrhop (2000) syntaktischer als die erste: bei anderen fehlt das erwartete Fugenelement wie in achtunggebietend, richtungweisend (– richtungsweisend). Insbesondere bei Fällen wie dem letzten Beispiel ist die Tendenz zu entdecken, daß sie bei zunehmender Lexikalisierung mit dem ‚normalen‘ Fugenelement auftreten. Damit zeigt das Fugenelement am einzelnen Beispiel, ob es mehr oder weniger ‚morphologisch‘ ist. Fuhrhop (2000: 211f.)

Die meisten Komposita in der Korpusliste nehmen die üblichen Fugenelemente, als Beispiele wähle ich hier die s-Fuge und die n-Fuge nach Substantiven auf Schwa, in denen Schwa selbst nicht Derivationssuffix ist (s. Fuhrhop 1996/ Fuhrhop 1998: 207). Die besondere Form in arbeitgebend findet sich auch in Arbeitgeber, sie ist damit noch nicht geklärt, aber sie ist keine besondere Form für das Partizip I. Einige Komposita nehmen die üblichen Fugenelemente (entzündungshemmend, arbeitsfördernd), andere nicht (aufschwunghemmend) und bei einigen scheint die Fuge fakultativ (richtungweisend – richtungsweisend). Am auffälligsten verhält sich geigespielend. In dem Kompositum Geigenspiel finden wir die zu erwartende Fuge (*Geigespiel – ?geigenspielend). Der entsprechende substantivische Infinitiv wäre wohl ebenfalls das Geigespielen und nicht *das Geigenspielen. Dieser Fall könnte zeigen, dass es sich nicht um herkömmliche Komposition handelt, sondern um Univerbierung oder Inkorporation (s. Abschnitt 1.5). Bei den Partizipien könnte es sich auch um ein Syntagma handeln (der Geige spielende Mann), bei dem substantivischen Infinitiv ist dies keine mögliche Interpretation (*das Geige Spielen, das Spielen der Geige). Während bei den Partizipien einerseits immerhin die Interpretation als Syntagma möglich ist und damit auch eine Univerbierung denkbar wäre, ist dies bei den entsprechenden substantivischen Infinitiven nicht möglich: das Geigespielen kann nicht durch Univerbierung gebildet sein, da die ‚freie‘ Wortstellung hier eine andere wäre.8 Letztendlich ist dies ein einzelner Fall, auch wenn spielen reihenbildend ist: das Trompetespielen, das Klarinettespielen, das Flötespielen – das Trompetenspiel, das Klarinettenspiel, das Flötenspiel; Überlegungen zu analogen Substantiv-Verb-Verbindungen (klavierspielen) in Kapitel 2. Allgemein ist folgendes festzuhalten: Die Substantiv-Partizip-I-Komposita nehmen zum großen Teil die regulären Fugenelemente, dies spricht eindeutig für die Inter8

Beim substantivischen Infinitiv finden sich ‚Umkategorisierungen’ von größeren Gruppen, so zum Beispiel sein ewiges Nach-dem-Mund-Reden. Beim substantivischen Infinitiv muss dies wie ein (syntaktisches) Wort behandelt werden, beim Partizip I entsprechen vergleichbare Konstruktionen regulär gebildeten Syntagmen.

142 pretation als Wort. Zum Teil nehmen sie nicht die regulären Fugenelemente, sie entsprechen dann der ‚syntaktischen‘ Konstruktion und können als Syntagmen interpretiert werden. Die Fugenelemente verhalten sich bei den Verbindungen mit substantivischen Infinitiven und mit adjektivischen Infinitiven häufig gleich. Dies mag ein Hinweis auf eine analoge Bildung der Komposita sein. Andererseits sind folgende grundsätzliche Unterschiede zu bemerken: – Bei den Partizipien I sind entsprechende Syntagmen möglich, bei den substantivischen Infinitiven nicht, das heißt eine Konstruktion wie der Geige spielende Junge ist interpretierbar, eine Verbindung wie *das Geige Spielen ist nicht möglich, es muss ein Kompositum sein. – Substantive verhalten sich in der Komposition anders als Adjektive, nicht unbedingt den Grundsätzen nach, wohl aber in einer (statistischen) Ausprägung. – Die Wortstellung des Syntagmas entspricht der Wortstellung des attributiv gebrauchten komplexen Partizip I; eine Univerbierung wäre denkbar: der Geige spielende Junge → der geigespielende Junge.

Aus diesen Unterschieden könnte sich folgendes ergeben: Das Substantiv Geigespielen ist durch Komposition (oder syntaktische Umkategorisierung) gebildet, das Adjektiv geigespielend ist durch Univerbierung gebildet. Univerbierung ist hier möglich, weil eine relativ feste Wortstellung vorgegeben ist. Außerdem wird diese Univerbierung durch die parallele Komposition gestützt und dadurch, dass sie in den meisten Fällen inkorporierend ist. Dies sind mögliche und in der Betrachtung des Gesamtsystems plausible Annahmen; wir wissen allerdings immer noch nicht, warum es das Geigespielen und nicht *das Geigenspielen heißt.

8.6 Bildet der adjektivische zu-Infinitiv vergleichbare Verbindungen? Betrachten wir nun die adjektivischen zu-Infinitive: Grundsätzlich sind hier sehr viel weniger Komposita zu finden als bei den einfachen adjektivischen Infinitiven, also den Partizipien I. Warum ist dies so? Der adjektivische zu-Infinitiv kann paraphrasiert werden mit dem modalen Passiv: das zu lesende Buch – das Buch ist zu lesen. Im Vergleich zu dem entsprechenden Partizip I das Bücher lesende Kind – (*)das Kind ist Bücher lesend/ bücherlesend ‚fehlt‘ beim zu-Infinitiv die entsprechende Entität, die im Erstglied bezeichnet sein könnte. Die Passivkonstruktionen haben typischerweise keinen Akkusativ, der Erstglied in einem Rektionskompositum sein könnte. Durch das Passiv ‚fehlt‘ systematisch eine thematische Rolle. Damit sind viele Bildungen hier nicht zu erwarten. Allerdings könnte man weiter fragen: Sind wenige möglich oder gar keine? In Abschnitt 8.4 habe ich die abgasgeplagten Anwohner angeführt (‚die von Abgas geplagten Anwohner‘). Hier spricht die Form für Komposition, das ist offenbar für die adjektivischen zu-Infinitive nicht möglich (die mit Abgas zu plagenden Anwohner). Wie sieht es mit vom Substantiv regierten zu-Infinitiven aus? (7)

dies ist ein Grund, die Arbeit zu verweigern - ?ein Arbeit zu verweigernder Grund

143 Dies ist ein konstruiertes Beispiel und nicht zu erwarten. In der Liste von Arne Fitschen ist kein Fall zu finden, die adjektivischen zu-Infinitive tauchen dort nur mit adjektivischen Erstgliedern als Komposita auf: aufrechtzuerhaltende, ernstzunehmende, neuzubauende. Bei den Substantiv-Partizip-I-Verbindungen sind viele dabei, in denen das Substantiv nicht als Akkusativ einer entsprechenden verbalen Konstruktion interpretiert werden kann. Dass es solche nicht beim adjektivischen zu-Infinitiv gibt, zeigt einmal mehr, dass sich der adjektivische zu-Infinitiv verbaler verhält als das Partizip I.

8.7 Die Substantiv-Partizip-I-Komposita in ihrem Verhalten Im folgenden werden die Kriterien, die zu Beginn dieses Kapitels für die Einordnung des Partizip I genannt wurden, auf die Partizip-I-Komposita übertragen. Dabei ging es um Kriterien, die die Einordnung von Partizipien I zwischen Adjektiv und Verbform zeigen sollten. Die Komposita können sowohl attributiv als auch adverbial auftreten: die entzündungshemmende Salbe, die Salbe wirkt entzündungshemmend.9 Einige der Partizip-I-Komposita sind sogar prädikativ zu verwenden: Karl ist arbeitssuchend, die Arbeit ist richtungsweisend, die Haltung ist bandscheibenschonend, die Weiterbildung ist arbeitsbegleitend, Karl ist besitzergreifend, aber nicht alle: *Karl ist alkoholtrinkend, *das Publikum ist beifallklatschend. Einige können einen Komparativ bilden: richtungsweisender, bandscheibenschonender, (weitreichender), erfolgversprechender, andere nicht *alkoholtrinkender, *beifallklatschender. Mit un- und -heit/-keit können auch die Komposita nicht abgeleitet werden: *unerfolgsversprechend, *unrichtungsweisend, *unalkoholtrinkend – *Chromglänzendheit, *Besitzergreifendheit, *Allergieauslösendkeit. Tabelle 8.2: Partizip-I-Komposita hinsichtlich ihrer adjektivischen Eigenschaften

angstauslösend alkoholtrinkend asylsuchend allergieauslösend aktivitätssteigernd besitzergreifend entzündungshemmend chromglänzend

9

attributiv + + + + + + + +

adverbial + + + + + + + +

prädikativ – – – ? + + + +

Komparativ – – – ? + + + ?

un– – – – – – – –

-heit – – – – – – – –

Auch die entsprechenden Syntagmen können attributiv (a) und adverbial (b) vorkommen. a. die die Entzündung hemmende Salbe, b. lustige Lieder singend ging Karl die Straße entlang. Allerdings scheint die adverbiale Stellung durchaus beschränkt: *die Salbe wirkt die Entzündung hemmend. Prädikativ können sie allerdings nicht vorkommen, so wie die einfachen Partizipien I dies im allgemeinen auch nicht können: *die Salbe ist die Entzündung hemmend.

144 Die Tabelle listet einige Komposita mit ihren Eigenschaften auf. Bis auf chromglänzend können alle als Rektionskomposita interpretiert werden. Interessant ist insbesondere das gemeinsame Auftreten zweier Eigenschaften: die Möglichkeit der Komparativbildung geht einher mit dem möglichen prädikativen Auftreten. Dies lässt sich wie folgt begründen: Die primäre Funktion von Komparativen ist die Bildung eines Vergleiches bezüglich einer Eigenschaft. Karl ist größer als Paul. Dieser Vergleich wird prädikativ oder adverbial gebildet: Karl läuft schneller als Paul. Er wird primär sicherlich nicht attributiv gebildet. Attributiv fällt häufig die Vergleichsgröße weg (der schnellere Paul, der größere Bleistift). Das begründet natürlich noch wenig. Andere Komparative können auch attributiv verwendet werden, aber sie sind es nicht primär. Die Ausführung sollte hier zunächst dazu dienen, dass ein Zusammenhang zwischen prädikativer Verwendung und der Möglichkeit, Komparative zu bilden, zumindest einleuchtet, der gleiche Zusammenhang ist bei den einfachen Partizipien I zu finden (s. Abschnitt 8.1). Des weiteren ist eine verbale Interpretation eines Partizip-Kompositums nicht möglich: besitzergreifend in seine Freundin ist besitzergreifend kann nicht verbal interpretiert werden, wie es zum Beispiel für *Karl ist singend möglich wäre. So hatte ich in Abschnitt 8.1.1 unter anderem die Verhinderung des prädikativen Gebrauchs vom einfachen Partizip I erklärt. In Abschnitt 8.1.1 habe ich überlegt, ob die Verhinderung des Komparativs bei den einfachen Partizipien I phonologisch begründet sein könnte. Im attributiven Gebrauch würde die Komparativform von Partizipien I regelmäßig zur Aufeinanderfolge dreier unbetonbarer Silben führen: die Partizip-I-Endung -end, das Komparativsuffix -er und die entsprechende Flexionsendung; dies wird laut Eisenberg (1991: 51) im allgemeinen im Deutschen verhindert (munter-er-es kann zu muntreres synkopiert werden). Im prädikativen Gebrauch besteht dieses Problem nicht, weil Adjektive prädikativ nicht flektieren. Das passt gut zusammen. Nun ist aber nicht auszuschließen, dass die Komparativformen, wenn sie nun gebildet sind, auch attributiv verwendet werden: ?die erfolgversprechendere Maßnahme, ?die bandscheibenschonendere Haltung usw. Die Form ist nur ein zusätzlicher Faktor, sie ist offenbar nicht die Ursache für die Verhinderung des Komparativs beim Partizip I. Eine ganze Reihe von Partizip-I-Komposita verhält sich adjektivischer als die einfachen Partizipien I. Für die weitere Wortbildung zugänglich sind sie allerdings auch nicht (*Besitzergreifendheit, *unbesitzergreifend, ??besitzergreifenderweise). Die Komposita verhalten sich als Gruppe weniger einheitlich als die einfachen Partizipien I, wo es nur einzelne Ausreißer gibt, s. vorn, Abschnitt 8.1). Folgendes ist aber festzuhalten: entweder die Partizip-Verbindungen verhalten sich genauso zwitterhaft wie die einfachen Partizipien I oder sie sind in der einen oder anderen Weise ‚adjektivischer‘. Keines der Komposita verhält sich verbaler. Betrachten wir nun die Partizipien I, die sich schon in der einfachen Form adjektivisch verhalten, wie zum Beispiel wütend, reizend, leidend, bedeutend, entzückend. Bilden die ‚adjektivischen Partizipien I‘ auch Komposita? Folgende listen Theissen u.a. (1992) auf: (8) a. blindwütend, stinkwütend b. liebreizend, (aufreizend) c. rheumaleidend, bruchleidend, magenleidend, lungenleidend, nervenleidend, fußleidend, gichtleidend, notleidend, herzleidend d. gleichbedeutend, vielbedeutend, minderbedeutend

Die meisten Bildungen sind für leidend zu verzeichnen und diese sind wohl im weiteren Sinne als Rektionskomposita zu bezeichnen (außer notleidend). Bei den anderen sind die

145 Erstglieder jeweils Adjektive bzw. ein Verbstamm (stink). In weniger adjektivischen Varianten sind hier aber Rektionskomposita zu konstruieren: die frauenentzückende Boutique, der männerentzückende Schokoladenkuchen, die augenreizende Salbe. Wie ist es zu interpretieren, dass gerade die ‚adjektivischen Partizipien I‘ eher keine Komposition mit Substantiven aufweisen? Sie haben als Adjektive gerade keine Rektion: bedeutend ist eher absolut zu sehen, wütend ist eindeutig absolut. Dies passt zu der These, dass Rektionskomposition geradezu typisch für Adjektive ist: Die Partizipien I ohne Rektion bilden keine Komposita. Andererseits bilden die ‚adjektivischen‘ Partizipien I eher Syntagmen als Komposita: das sie entzückende Kleid, die nicht viel bedeutende Aussage, ?die nichts bedeutende Aussage, der an einer Lungenentzündung leidende Mann, der unter den Verhältnissen leidende Mann. Es sind offenbar die am wenigsten lexikalisierten Partizipien I, die Syntagmen bilden, die also von den genannten am nächsten zum Verb stehen. Das entsprechende Partizip I kann immer neu gebildet werden, dass es eine Variante ‚nah am Verb‘ gibt, ist damit nicht so überraschend. Der Unterschied von einem ‚normalen‘ Partizip I zu einem ‚adjektivischen‘ Partizip I ist dann der folgende: ‚relative‘ Partizipien I werden zu ‚absoluten‘ Adjektiven.

8.8 Schluss Viele der Partizip-I-Verbindungen sind eindeutig Wörter. Im allgemeinen kann man dies schon der Form entnehmen. Die entsprechenden Komposita sind sehr häufig Rektionskomposita, allerdings ist das Verhältnis in den Rektionskomposita keineswegs immer ‚akkusativisch‘. Die Betrachtung der Partizip-I-Komposita im Zusammenhang mit Komposita aus einem Substantiv und einem einfachen Adjektiv lässt vermuten, dass die Grundstruktur von Rektionskomposita bei den Adjektiven einen ganz anderen Stellenwert hat. Das liegt schon daran, dass viele einfache Adjektive eine primäre Valenz haben. Die Form der Rektionskomposita lässt zum Teil die Interpretation zu, dass sie einen ‚Zwischenstatus‘ haben. Im allgemeinen verhalten sie sich bezüglich der Fugenelemente so wie andere Komposita auch. Wenn es jedoch ‚Ausreißer‘ bei den Fugenelementen gibt, so sind dies nahezu typischerweise Rektionskomposita des beschriebenen Typs. Dies ist durch ihre Nähe zu Syntagmen zu verstehen: die vorliegenden Verbindungen und auch die entsprechenden Verbindungen mit Adjektiven lassen einen gewissen Anteil von Univerbierung in ihrer Entstehung vermuten. Für den Status des Partizip I konnte man hier insbesondere erkennen, dass die Art, wie die Partizipien I ihre Komposita bilden analog zu der Kompositabildung von einfachen Adjektiven zu sehen ist: entzündungshemmend wie preiswert, chromglänzend wie himmelblau. Die Substantiv-Partizip-I-Komposita verhalten sich zum großen Teil adjektivischer als die entsprechenden einfachen Partizipien I. Allerdings verhalten sie sich keineswegs einheitlich, vielmehr decken sie ein Spektrum in ihrem Verhalten ab, das von dem des ‚normalen‘ Partizip I bis zum Verhalten eines prototypischen Adjektivs reicht.

9. Adjektiv-Partizip-Verbindungen

Die Adjektiv-Partizip-Verbindungen stelle ich heraus, weil sie eine besondere Gruppe unter den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen darstellen. Sie verhalten sich bezüglich der genannten Kriterien häufig speziell. Und dieses spezielle Verhalten kann zum großen Teil systematisch gedeutet werden wegen der engen Verbindung zu den Verben. Sowohl bei den Syntagmen, in denen ein Adjektiv ein anderes modifiziert, als auch bei den Adjektiv-Adjektiv-Komposita sind die Erstglieder relativ beschränkt. Bei den Partizipien ist diese Beschränkung nicht zu finden. Sie lassen viel mehr adjektivische ‚Erstglieder‘ zu, sowohl im Syntagma als auch im Kompositum. Diese freiere Kombinierbarkeit ist auch damit in Verbindung zu bringen, dass sie sowieso viele Ergänzungen haben können. Im Prinzip können hier alle Adjektive und Adverbien auftreten, die adverbial auf das Verb bezogen werden können: (1) a. die besonders schön singenden Kinder, der den Kaffee heiß trinkende Mann, der den Kaffee müde trinkende Mann, der den Kaffee schnell trinkende Mann b. die gut aussehende Frau c. die schnell gerauchte Zigarette, die müde gerauchte Zigarette, der schlecht geschriebene Roman

In (a) sind Partizipien I aufgelistet mit solchen modifizierenden Adjektiven, die in einer entsprechenden verbalen Konstruktion Adverbiale wären, das heißt dies wären SupplementAttribute (Fuhrhop/ Thieroff 2006). In (b) handelt es sich um ein Partizip I mit einem Adjektiv, das ein Komplement ist (die Frau sieht gut aus – *die Frau sieht aus). (c) nennt Partizipien II mit Supplement-Attributen. Die Beschränkungen, die bei den Adjektiv-Adjektiv-Syntagmen vorkommen, wirken bei den Partizipien nicht. Auch bei den Komposita sind die Partizipien sehr viel kombinationsfreudiger: (2) a. hellklingend, schnelltrocknend, alleinerziehend b. dichtbehaart, frischgebacken, weißgestrichen, glattpoliert1

In Kapitel 8 werden die Verbindungen von Partizipien I mit Substantiven bzw. Nominalgruppen beschrieben, sowohl Syntagmen als auch Komposita. In diesem Kapitel betrachte ich Adjektiv-Partizip-I-Komposita und verweise auf die Adjektiv-Partizip-II-Komposita. Bei der Untersuchung der Partizip-I-Komposita wird die gleiche Liste zugrundegelegt wie bei den Substantiv-Partizip-I-Komposita, Abschnitt 8.2. In der Liste sind insgesamt Partizip-I-Verbindungen genannt, unabhängig vom Erstglied. Dabei haben die weitaus meisten Bildungen ein substantivisches Erstglied. In ungefähr 80 Verbindungen ist das Erstglied ein Adjektiv oder ein Adverb. Komposita mit dem adjektivischen zu-Infinitiv fanden sich in dem zugrundegelegten Korpus nur acht mit fünf verschiedenen Erstgliedern.

1

Die Zusammenschreibungen fanden sich jeweils in dem genannten Korpus.

147

9.1 Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen In dem Korpus wurde grundsätzlich nach flektierten Formen gesucht, s. Abschnitt 8.2. In dem üblichen Verfahren bewerte ich zunächst die ersten zwanzig Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen, jeweils nur eines pro ‚Erstglied‘. Tabelle 9.1: Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen hinsichtlich ihrer adjektivischen Eigenschaften

alleinentscheidend anderlautend besserverdienend bestaussehend blankliegend buschigwachsend direkteinspritzend echtlaufend erstversorgend feuchtduftend flachwurzelnd freifliegend fremdklingend frohmachend frühblühend gelbblühend getrenntlebend gleichlautend gutgehend hochansteckend

attributiv + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +

adverbial + + + ? ? ? + ? ? + ? + ? ?

+ + ? +

prädikativ +? –? + + – + +? ? – ? + ? ? – + + + + +? +

Komparativ – – – ? ? ? ? ? – + – – + + – – – +? +?? –

un– – – – – – – – – – – – – – – – – ? – –

-heit – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die meisten der genannten Verbindungen sind auch als Syntagmen denkbar. anderlautend ist nicht als Syntagma möglich, es erscheint aber auch als Wort ungewöhnlich; eine durchaus übliche Form ist anderslautend, hier wäre eine ‚syntagmatische‘ Interpretation denkbar: die Frage lautete anders – die anders lautende Frage. Weitere Ausnahmen sind bestaussehend, erstversorgend und hochansteckend. Bei hochansteckend haben wir eine typische Adjektivmodifizierung: die hochansteckende Krankheit meint ja nicht ‚die Krankheit steckt hoch an‘. In diesem Sinne ist ansteckend an sich schon sehr adjektivisch, es ist prädikativ verwendbar (die Krankheit ist ansteckend). Die anderen genannten Verbindungen sind als Syntagmen denkbar, wenn auch mit einer anderen Bedeutung. So kann besserverdienend auf eine Konstruktion besser verdienen bezogen werden, der Unterschied wäre hier wieder eine gewisse ‚Definiertheit‘ – besserverdienend vergleicht nicht zwei konkrete Gehälter miteinander, sondern es dient der Klassenbildung. Auch an frühblühend kann der Unterschied gut gezeigt werden: die frühblühenden Pflanzen (im Sinne von Frühblüher) – die diesen Sommer besonders früh blühenden Rosen, unabhängig vom Typ an sich wird auf eine konkrete Situation verwiesen. Zunächst einmal möchte ich die ‚Adjektivität‘ der einzelnen Verbindungen bewerten. Die Kriterien folgen hier weitgehend Fuhrhop/ Teuber (2000) und den Kriterien in Ab-

148 schnitt 8.2. Attributiv zum Substantiv sind alle zu verwenden, da aber im Korpus nach flektierten Formen gesucht wurde, ist dies trivial. In anderen Funktionen treten sie zum Teil auf, zum Teil nicht. Die Grammatikalitätsurteile sind alles andere als eindeutig. Auch hier zeigt sich tendenziell, was sich bei den Substantiv-Partizip-I-Verbindungen in Kapitel 8 gezeigt hat: Bei prädikativer Verwendbarkeit steht eher das komplexe Wort als das Syntagma. Das hat den Hintergrund, dass viele der Partizipien I nicht alleine prädikativ zu verwenden sind. Sie werden durch die Komposition gewissermaßen adjektivischer. Der Komparativ ist zum Teil möglich, zum Teil nicht. Möglicherweise liegt das daran, dass viele Eigenschaften klassenbildend sind. So ist fremdklingend komparierbar (eine Sitar ist fremdklingender als eine Tabla), besserverdienend und frühblühend hingegen nicht (*Männer sind häufig besserverdienender als Frauen, Männer verdienen häufig besser als Frauen, Schneeglöckchen sind frühblühend, *Schneeglöckchen sind frühblühender als Maiglöckchen). Die Verbindungen werden zum Teil nicht insgesamt kompariert, sondern nur das Erstglied, wenn es nicht schon selbst eine Komparationsform ist wie besser. Wird nur das ‚Erstglied‘ flektiert, dann handelt es sich nicht mehr um ein Kompositum: Schneeglöckchen blühen früher als Maiglöckchen. Die Nichtkomparierbarkeit hat aber auch inhaltliche Gründe. Wenn frühblühend als klassenbildende Eigenschaft interpretiert wird, so ist Komparierbarkeit nicht zu erwarten. In der Auflistung ist buschigwachsend zu kommentieren wegen des komplexen Erstgliedes. Komplexe Adjektive treten in der Komposition nicht als Erstglieder auf, s. z.B. Fleischer 1982: 84). Das heißt, dieses Wort ist höchstwahrscheinlich nicht durch Komposition, sondern durch Univerbierung gebildet (wie auch bei den Substantiv-Partizip-IKomposita). Hier wurden nun diejenigen Fälle betrachtet, die in Zusammenschreibung auftraten. Nicht jedes der in der Tabelle genannten Beispiele muss dabei zusammengeschrieben werden. Es sind einzelne Nennungen. Als Syntagmen ergeben sich strukturell wenigstens drei Möglichkeiten: – Das Adjektiv ist in einer zugrundeliegenden Konstruktion Adverbial zum Verb (schön singen, besser verdienen, buschig wachsen). – Das Adjektiv ist in einer zugrundeliegenden Konstruktion Ergänzung zum Verb (gut aussehen). – Das Adjektiv tritt als Modifizierer des adjektivischen Partizip I auf (hoch ansteckend (sehr ansteckend), leicht stockend, extrem wankend).

Alle drei Konstruktionen können Syntagmen bilden (die schön singenden Kinder, die gut aussehende Frau, sein leicht stockender Vortrag); sie können aber auch Komposita bilden (besserverdienend, gutaussehend, hochansteckend). In den ersten beiden Konstruktionen handelt es sich um ‚Inkorporationen‘ oder um Rektionskomposita im weiteren Sinne (s. auch Abschnitt 10.2.1), in der letzten Konstruktion wohl um eine Univerbierungen wie sie in Kapitel 5 für Adjektiv-Adjektiv-Komposita angenommen werden. Ein möglicher Test für die Kompositionshaftigkeit ist einerseits der Komparativ, dies ist eine hinreichende und keine notwendige Bedingung: fremdklingender. Als notwendige Bedingung könnte man den prädikativen Gebrauch anführen: Schneeglöckchen sind frühblühend, Wissenschaftler sind besserverdienend, meine Freundin ist alleinerziehend. Daraus würde folgen, dass aus der obigen Tabelle blankliegend und frohmachend keine Wörter, sondern Syntagmen sind.

149

9.2 Adjektiv-Partizip-II-Verbindungen Für die Verbindungen mit Partizip I halten wir fest: Wenn die Verbindungen prädikativ zu verwenden sind, dann sind es Wörter mit der Begründung, dass die meisten Partizipien I alleine nicht prädikativ vorkommen können. Eine ähnliche Argumentation kann für die Partizipien II nicht gelten. Sie können auch alleine prädikativ – das heißt in Verbindung mit dem Verb sein – vorkommen. Tabelle 9.2: Adjektiv-Partizip-II-Verbindungen hinsichtlich ihrer adjektivischen Eigenschaften attributiv altbewährt

2

3

+

adverbial Kombinierbar Komparativ mit sein? + + ?

besserentwickelt

+

+

+

bestausgebaut

+

?

?

– –

blankgeputzt

+

?

+

?

blaugedeckt

+

+

+

?

bleichgeschminkt

+

+

+

?

blindgeworden

+

?

+

?

blondgefärbt

+



+

?

breitangelegt

+

+

+

?

buntbebildert

+

?

+

?

dichtbebaut

+

+

+

?

dickbesohlt

+

+

+

?

direktgewählt

+

+

+

?

doppeltverglast

+



+

?

drittbestbesetzt

+

+

+

?

dunkelgefärbt

+

+

+

?

eigengenutzt

+

+

+

+

engbebaut

+

+

+

?

feinabgestuft

+

+

+

?

fertigproduziert

+

+

+



un-

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Verhältnis? komp adv komp synt objpräd/ komp synt kop2 objpräd/ kom adv adv/kom adv/kom kom adv adv/kom ?? inkorp3 adv komp adv/kom adv adv

Er wird blind ist eine Kopulakonstruktion, als solche fällt sie heraus. Allerdings steht blindgeworden in einem gewissen lexikalisierten Zusammenhang: die Scheiben sind blindgeworden – sind die Scheiben dann auch blind oder sind sie nur blindgeworden? Hier könnte es sich gewissermaßen auch um ein substantivisches Erstglied handeln, nämlich um ein substantivisch gebrauchtes Adjektiv: die Rolle ist mit der Drittbesten besetzt – die Rolle ist drittbestbesetzt. Damit hätten wir dann eine Inkorporation. Dies fällt dann eher unter SubstantivPartizip-II-Verbindungen, die in dieser Arbeit nicht betrachtet werden, die aber gewisse Parallelitäten zu Substantiv-Partizip-I-Verbindungen (Kapitel 8) aufweisen.

150 Die Liste mit den Partizipien-II-Verbindungen ist aus dem gleichen Korpus wie die Partizip-I-Verbindungen. Insgesamt ist die Partizip-II-Liste ziemlich genau doppelt so lang wie die Partizip-I-Liste, es sind rund 1000 Belege. Hier habe ich wiederum zwanzig Beispiele genannt, es sind jeweils die ersten Nennungen eines Erstgliedes in alphabetischer Reihenfolge. Dabei möchte ich betonen, dass es sich zum Teil um einzelne Schreibungen in einem Korpus handelt. In wenigstens einem konkreten Fall wurde die entsprechende Bildung zusammengeschrieben und daher vermutlich als Wort aufgefasst. Dies ist tendenziell möglich. Dennoch kann eine Untersuchung dieser Fälle natürlich unterschiedliche Grade von ‚Wortartigkeit‘ feststellen, es kann sein, dass einzelne Bildungen in den meisten Fällen gerade keine Wörter sind. Es sind auffallende Unterschiede zwischen Partizip I und Partizip II, die eine unterschiedliche Behandlung in der Wortproblematik (und damit auch in der Graphematik und in der Rechtschreibung) rechtfertigen: Zunächst wird allgemein angenommen, dass das Partizip II durch einen Wortbildungsprozess adjektiviert wird. Nicht alle Partizipien II können ohne weiteres adjektivisch gebraucht werden (*die gefahrene Studentengruppe, nur die nach Paris gefahrene Studentengruppe, Eisenberg 2004b: 110), die adjektivierten verhalten sich aber adjektivischer als zum Beispiel die Partizipien I (die gestrichene Wand – die ungestrichene Wand). Andererseits sind Partizipien II regulär Bestandteile von analytischen Verbformen. Wesentliche Unterschiede zwischen Partizip I und Partizip II, die sich in der Tabelle zeigen, sind die folgenden: – Die Verwendung mit sein zeigt nicht direkt die ‚Kompositionshaftigkeit‘. – Die Verwendung mit heit fehlt, diese wird unten begründet. – Zusätzlich habe ich nach dem ‚Verhältnis‘ von Adjektiv und Partizip II gefragt. – Komparative sind bei den Adjektiv-Partizip-II-Verbindungen schlechter möglich.

Ich habe hier nicht den ‚prädikativen‘ Gebrauch abgefragt, sondern eine Verwendung mit sein. Eine Verwendung mit sein kann man häufig gleichsetzen mit der prädikativen Verwendung, je nachdem wie man das sogenannte Zustandspassiv interpretiert. Immerhin sind verbale Formen von Partizip II und sein möglich, zumindest beim Perfekt. Außerdem ist das Partizip II grundsätzlich ein möglicher Bestandteil von Verbformen. Im Gegensatz zum Partizip I wird hier deutlich, dass eine Verwendung mit sein immer möglich ist. Aber folgt daraus, dass es sich immer um Adjektiv-Komposita handelt? Eine solche analoge Behandlung wäre völlig unangemessen. Die einfachen Partizipien II kombinieren mit sein, die einfachen Partizipien I tun dies im allgemeinen nicht. Für die Partizipien I wird bei dem Test deutlich, ob sie durch Verbindung mit einem anderen Element adjektivischer werden, für die Partizipien II nicht. Das Wortbildungssuffix -heit habe ich in der Tabelle nicht aufgeführt. Mit -heit können die komplexen Partizipien II meines Erachtens alle spontane Neubildungen bilden: die Dickbesohltheit der neuen Schuhe, die Altbewährtheit dieser Methode, die Besserentwickeltheit der Frankfurter Region usw. Keines dieser Substantive ist jedoch usualisiert. In der Tabelle 9.2 verhalten sich die komplexen Partizipien II nahezu gleich. Wesentliche Unterschiede ergeben sich, wenn man die syntaktischen Beziehungen zwischen den Bestandteilen des Wortes oder des Syntagmas betrachtet. Dies benennt die letzte Spalte. Einige sind dabei nicht eindeutig. So kann bei einigen eine ‚zugrundeliegende‘ verbale Konstruktion angenommen werden: besserentwickelt auf eine Konstruktion wie jmd. hat etwas besser entwickelt. Hingegen meint altbewährt gerade nicht er hat sich alt bewährt,

151 sondern vielmehr so etwas wie ‚lange‘ bewährt, hier wäre ein Kompositum anzunehmen mit einer lexikalisierten Bedeutung. Die These, die sich aus einer solchen Einordnung ergibt, ist: wenn keine ‚syntaktische‘ Interpretation möglich ist, dann handelt es sich um ein Wort (zum Beispiel altbewährt). Alle anderen sind wohl kontextabhängig. Sie können Wörter sein, aber auch Syntagmen: 1. Das Partizip II ist ein Adjektiv und bildet als solches ein Kompositum. 2. Das Partizip II nimmt verbal Ergänzungen, es ist dann kein Kompositum. Der fehlende Komparativ ist folgendermaßen zu sehen: In vielen Fällen kann ein Komparativ gebildet werden, aber er kann nicht gebildet werden von der gesamten Verbindung, sondern vom ersten Bestandteil: bleicher geschminkt – *bleichgeschminkter (als Komparativform), dicker besohlt, dichter bebaut, dunkler gefärbt, enger bebaut, feiner abgestuft. Diese Bildung eines Komparativs zeigt gerade, dass sie eher Syntagmen sind als Wörter; die Verbindungen werden nicht insgesamt kompariert. Dies könnte geradezu eine hinreichende Bedingung für die Interpretation als ein Wort sein: ?enggeschnürter, ?dichtbesiedelter: ?Tokio ist jetzt noch dichtbesiedelter als Manhattan. Das Partizip II wird durch Verbindungen nicht ‚adjektivischer‘ wie das Partizip I, daher ist hier eine größere Kontextabhängigkeit zu sehen. Inwieweit die einzelnen Bildungen mehr oder weniger wortartig sind, lasse ich an dieser Stelle offen. Man kann Vermutungen anstellen, dass Sprecher oder Schreiber manche eher als zusammengehörig empfinden, wenn zum Beispiel das Adjektiv ‚substantivbezogen‘ (im Sinne von Vogel 1997: 410) ist als wenn es ‚verbbezogen‘ ist (dichtbebaut, blondgefärbt – fein abgestuft, direkt gewählt).

9.3 Schluss Adjektiv-Partizip-II-Verbindungen entwickeln weniger deutliche Worteigenschaften als die Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen. Der wesentliche Hinweis auf die Interpretation der Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen als Wort ist in dem möglichen prädikativen Gebrauch zu sehen. Bei den Partizipien sind sehr viel mehr Kombinationen möglich als bei den Adjektiv-Verbindungen. Viele der ‚Erstglieder‘ von Partizip-Verbindungen sind valenzgebunden und insbesondere stehen bei vielen Verbindungen mit dem Partizip II potentiell Wörter und Syntagmen nebeneinander.

10. Zusammenfassung: Wortartigkeit

Zu folgenden zentralen und bereits in der Einleitung genannten Punkten nehme ich nun Stellung und lege dar, welches Bild sich aufgrund der Untersuchungen ergibt: Zunächst geht es um Eigenschaften von Wörtern und Eigenschaften von Syntagmen. Anschließend folgen Ausführungen zu dem Zusammenhang von Valenz und Wortbildung. Einerseits geht es hier um die Rektionskomposita, andererseits um Verbkomposita. Zuletzt folgen einige Anmerkungen zu den Bildungsprozessen. Wesentliche Ergebnisse der Arbeit sind schon in den jeweiligen Untersuchungskapiteln zusammengefasst. Im übrigen können auch die Vorschläge im folgenden Kapitel Zusammenschreiben (Kapitel 11) als Ergebnisse der Untersuchungen verstanden werden.

10.1 Eigenschaften von Wörtern – Eigenschaften von Syntagmen Untersucht werden sowohl die Eigenschaften potentiell einfacher Wörter, also der Einzelbestandteile der Verbindungen, als auch der potentiell komplexen Wörter, also die Gesamtverbindungen. Die Besonderheiten, die sich für die typischen Worteigenschaften in den speziellen Fällen ergeben, sind schon zum großen Teil in der Einleitung Abschnitt 1.3 genannt. So sind häufig die ‚ersten‘ Bestandteile der Verbindungen aus strukturellen Gründen nicht flektierbar. Potentiell komplexe Wörter und Syntagmen unterscheiden sich daher auf einer segmentalen Ebene nicht; sie unterscheiden sich in der gesprochenen Sprache durch den Akzent, in der geschriebenen durch Getrennt- bzw. Zusammenschreibung. Die Flexion des zweiten Bestandteils einer Verbindung sagt über den Wortstatus nichts aus, sowohl in einem komplexen Wort als auch in einem Syntagma ist dies zu erwarten (weil der Arzt den Patienten krankschreibt, weil er den Kaffee heiß trinkt). Flexion des ersten Teils einer vermeintlichen Verbindung würde positiv zeigen, dass auch der erste Bestandteil ein selbstständiges morphologisches Wort ist. Die hier untersuchten Fällen zeichnen sich aber geradezu dadurch aus, dass die ersten Teile nicht flektieren. Insofern ist niemals vorhandene Flexion das Kriterium, das hier hilft, Wort und Syntagma voneinander abzugrenzen. Nur in einem Fall zeigt die Abwesenheit von Flexion etwas: Bei den Substantiv-Verb-Verbindungen wäre Flexion bei Selbstständigkeit zu erwarten, wie bei *wir schwimmen brüste. Dass sie fehlt, ist ein Hinweis darauf, dass brust in dieser Verbindung kein morphologisches Wort ist, sondern Bestandteil eines (komplexen) Wortes. In den anderen Fällen ist die Flexion des ersten Bestandteils der jeweiligen Verbindungen aus (unterschiedlichen) Gründen nicht zu erwarten. Ähnlich verhält es sich mit der Unterbrechbarkeit. Die Verbindungen mit Verben sind ununterbrechbar, und zwar sowohl morphologisch als auch syntaktisch. Sie gilt aber gleichermaßen für die Partikelverben. Die Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen hingegen sind auch als Syntagma nicht zu unterbrechen, vermutlich wegen der fehlenden Flexion: in ein schrecklich teures Kleid bezieht sich schrecklich auf teuer, der Bezug wird deutlich durch

153 die direkte Nachbarschaft; in ein schreckliches, teures Kleid wird der Bezug auf das Substantiv durch die Flexion deutlich. Das entscheidende Kriterium ist häufig die syntaktische Interpretierbarkeit. Kann einer Einheit keine Konstituentenkategorie oder keine syntaktische Funktion zugeordnet werden, so ist dies ein erster Hinweis auf die Unselbstständigkeit. Das Kriterium einer anderen vorhandenen Wortbildung (so in den Abschnitten 2.2 und 3.6.2) ist sehr unterschiedlich zu interpretieren, insbesondere da in den vorliegenden Fällen immer wenigstens zwei Stämme beteiligt sind: So kann Radfahrer als Basis für eine Rückbildung radfahren gesehen werden, Wetterbeobachter führt aber gerade nicht zu einem Verb *wetterbeobachten (s. Abschnitt 1.6). Eine solche Rückbildung wird nach der hier vorliegenden Analyse durch die syntaktische Analyse verhindert. Wetter wird als Objektbestandteil zu beobachten analysiert.

10.2 Valenz und Wortbildung 10.2.1 Rektionskomposita Der Einfluss der Valenz auf die Wortbildung ist vielfältig. Besonders eindrücklich hat er sich bei den Adjektiv- und den Partizipkomposita gezeigt. Hier scheinen Rektionskomposita durchaus üblich. Insbesondere liefern die Determinativkomposita kein so übermächtiges Vorbild wie bei den Substantivkomposita. Sicherlich ist noch zu zeigen, inwieweit sich die Rektionskomposita anders verhalten als mögliche Determinativkomposita. Erste Überlegungen zur Wirkung von Valenz in der Wortbildung habe ich anhand der Präpositionen in Abschnitt 1.5.2 angedeutet. Dabei waren die Präpositionen jeweils die Erstglieder. In den folgenden Beispielen geht es um Zweitglieder von potentiellen Rektionskomposita. Dabei werden die Wortarten Substantiv, Verb und Adjektiv eingeordnet. Es geht um ‚valente‘ Wortarten und um die Frage, ob ein Zweitglied ein Erstglied regieren kann. In einem ersten Gesamteindruck ergibt sich folgendes: Substantive haben eine kategoriale fakultative Valenz, das Genitivattribut. Das vorangestellte Genitivattribut ist historisch univerbiert worden (des Gottes Diener > der Gottesdiener), das nachgestellte Genitivattribut ist voll syntagmatisch (der Diener Gottes). Zur Univerbierung gibt es hier keinerlei Tendenzen (mit der Ausnahme die Muttergottes). Deverbale Substantive erben gewissermaßen offene thematische Rollen, die dann substantivtypisch besetzt werden können (im Kompositumserstglied, als Genitivattribut, als Präpositionalattribut usw.), hier wird aber keine grammatische Valenz vererbt (der Wetterbeobachter, der Beobachter des Wetters, der Beobachter von dem Wetter), was insbesondere an der Form zu erkennen ist: Während das Verb hier einen Akkusativ regiert, regiert das Substantiv zum Beispiel einen Genitiv. Verben haben immer Valenz; sie regieren im wesentlichen Nominale in den vier Kasus, Komplementsätze und Präpositionalgruppen. Die Komplementsätze können schon aus formalen Gründen keine Wortbestandteile werden. Nominale aller vier Kasus werden gerade nicht inkorporiert. Die Verbindung mit den Präpositionen ist umstritten, aber sind Prä-

154 positionalobjekte mögliche Kandidaten für die ‚Inkorporation‘? Paul denkt an das Mittagessen - *Paul andenkt das Mittagessen, Paul wartet auf bessere Zeiten – *Paul aufwartet bessere Zeiten. Hier wird wenn überhaupt die Präposition inkorporiert und nicht die Präpositionalgruppe, s. Abschnitt 1.5.2. Adjektive stehen in ihrer Valenz quasi zwischen Verben und Substantiven. Im Gegensatz zu Verben haben viele Adjektive keine Valenz, im Gegensatz zu Substantiven haben einige Adjektive obligatorische Valenz. Sie regieren wie Verben lexikalisch Nominale in verschiedenen Kasus (den Dativ, den Akkusativ oder den Genitiv) und nicht wie Substantive kategorial genau einen (den Genitiv). Und diese Nominale scheinen sie zum Teil zu inkorporieren (preiswert, liebenswürdig). Hier liegen tatsächliche ‚Rektionskomposita‘ vor. 10.2.2 Verbkomposita – Trennbare Verben In Kapitel 2 (speziell 2.3.2) habe ich gezeigt, dass sich die substantivischen Einheiten wie Kompositionserstglieder verhalten. Die Besonderheiten dieser substantivischen Erstglieder können verstanden werden, wenn man annimmt, dass es sich bei der substantivischen Einheit um ein substantivisches Erstglied handelt – die Nichtflektierbarkeit, die Genuslosigkeit, die Verneinung mit nicht usw. Das Besondere an diesen substantivischen Erstgliedern ist, dass sie in trennbaren Verben vorkommen, also in einem konkreten Satz nicht in direkter Nachbarschaft zum Verb stehen. Nun ist zu überlegen, ob auch Partikelverben als Komposita zu sehen sind. Dann wären die (untrennbaren) Partikelpräfixverben Derivationen, die (trennbaren) Partikelverben hingegen Komposita. In Abschnitt 1.5 sind Beispiele für das Verhalten von Präpositionen genannt, insbesondere in Bezug auf ihre Valenz. So verlieren Präpositionen als Erstglieder in Substantivkomposita ihre Valenz: Unterhose, Nebensache, Mitglied usw. In ‚uneigentlichen‘ Komposita hingegen hat ihre Valenz Einfluss, in unterdessen wird die Valenz ‚gesättigt‘ durch das Zweitglied, in aufgrund wird eine kategoriale Valenz quasi weitergegeben (lexikalisch ist die genaue Bestimmung der Valenz; dass überhaupt ein Nominal regiert wird, kann als kategoriale Valenz von Präpositionen gelten). Nun haben wir in überstreichen möglicherweise eine vergleichbare Weitergabe von Valenz (s. Abschnitt 1.5.2) sie klebt ein Pflaster über die Wunde – sie überklebt die Wunde mit einem Pflaster), in anhängen wird die Valenzstelle nach Eisenberg (2004a: 265) gesättigt. (1) a. Sie klebt den Zettel an die Wand. b. Sie klebt den Zettel an.

(Beispiele nach Eisenberg 2004a: 264)

Im Übergang zum Partikelverb findet keine Argumentvererbung, sondern lediglich die Ersetzung eines expliziten durch ein implizites Argument statt. Die Partikel hat deshalb nicht die Funktion eines Kopfes, sondern sie modifiziert den Stamm des Basisverbs. Diese Sicht verträgt sich gut mit vielen anderen Eigenschaften der Partikeln, beispielsweise ihrer Betontheit. Verbpartikeln bilden Reihen mit dem jeweiligen Stamm ganz so, wie wir es vom ersten Bestandteil der Determinativkomposita kennen. Eisenberg (2004a: 265)

Der Vergleich mit Determinativkomposita kann auch zu einer anderen Interpretation führen: die Präposition wird nicht gesättigt, sondern als Kompositionserstglied verliert sie ihre Valenz, wie in Unterhose, Mitglied oder Nebensache, dies meint ja nicht ‚neben der Sache‘, sondern es determiniert einer Sache im Unterschied zum Beispiel zur Hauptsache. Auch für

155 Verberstglieder kann in der Substantivkomposition die Aufgabe der Valenz als typisch gelten: Backform, Badehose, Anziehpuppe. Bei den substantivischen Erstgliedern der Verbkomposita habe ich gezeigt, dass sie ihre syntaktische Eigenschaften als Kompositionsglieder aufgeben, analog könnten die Partikelverben interpretiert werden. Präpositionen können ihre Valenz möglicherweise bei den untrennbaren Verben weitergeben oder anders (‚morphologischer‘) ausgedrückt: sie bestimmen die Valenz der entstehenden Verben. Für Wortbildungen ist dies geradezu typisch. So werden mit be- transitive Verben gebildet, egal mit welcher Basis.

10.3 Die Prozesse: Univerbierung, Inkorporation, Rückbildung In Abschnitt 1.5.2 habe ich zum einen exemplarisch das Zusammenspiel von Inkorporation und Univerbierung gezeigt. Zum anderen habe ich gefragt, ob es (regelmäßig) im Deutschen Inkorporation gibt, ob also neue Einheiten durch Inkorporation entstehen. Die Substantiv-Verb-Verbindungen sind zum großen Teil durch Rückbildung entstanden. Hier handelt es sich gerade nicht um Inkorporation, die Substantive sind nicht (direktes) Objekt zum Verb. Die Adjektiv-Verb-Verbindungen sind zum großen Teil Syntagmen, die durch einen regulären Prozess entstehen. Sie entwickeln aus strukturellen Gründen manche ‚wortartige‘ Eigenschaften, zum Beispiel ihr Stellungsverhalten oder die gemeinsame Valenz. Weil dies vorhanden ist, können möglicherweise aus den Verbindungen vereinzelt Wörter entstehen. Dies könnte als Univerbierung gesehen werden: weil Karl die Erbsen kocht /weich kocht, weil die Erbsen kochen/ weichkochen (s. Abschnitt 3.6). Daneben gibt es auch AdjektivVerb-Verbindungen, die durch Rückbildung entstanden sind, diese sind Wörter. Bei den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen des Typs schwerverständlich könnte man auf den ersten Blick meinen, dass es sich um ganz normale Komposition handelt: das Erstglied bestimmt das Zweitglied näher. Damit können sie als ‚Determinativkomposita‘ interpretiert werden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass die potentiellen Erstglieder auf eine wohl aufzählbare Menge von Adjektiven beschränkt sind und sie Vorbilder bei den Substantivkomposita haben. Hier handelt es sich möglicherweise um Komposition nach substantivischen Vorbildern. Das heißt insbesondere für eine allgemeine Betrachtung von Adjektiv-Adjektiv-Komposita, dass so etwas wie ‚Determinativkompositum‘ nicht das normale Kompositum sein muss, zumindest nicht für Adjektive, wohl aber für Substantive. Betrachtet man zusätzlich nicht, so zeigt sich der Prozess deutlich. Man kann sich vorstellen, dass ein Wortbestandteil nicht aus dem frei vorkommenden nicht entstanden ist durch Univerbierung. Auch die meisten Adjektiverstglieder in den genannten Komposita können syntagmatisch Adjektive modifizieren. Die Bildungen des Typs schwerverständlich können dann als Univerbierungen verstanden werden; eine Interpretation wäre dann, dass der Univerbierungsprozess durch die substantivischen Vorbilder unterstützt wurden. Die Substantiv-Partizip-I-Verbindungen sind Rektionskomposita. Typischerweise stehen aber die entsprechenden regierten Einheiten in Syntagmen unmittelbar vor dem regierenden Partizip I. Daher haben sie auch einen Anteil von Univerbierung in ihrer Bildungsweise,

156 dies gilt auch für (andere) Substantiv-Adjektiv-Komposita: das von Blei freie Benzin – das bleifreie Benzin. Diese Auslegung von Rektionskompositum ist eine weitgehend morphologische. Die ursprüngliche Form der regierten Einheiten spielt hier keine Rolle. So kann es sich ursprünglich um Nominale in unterschiedlichen Kasus handeln oder auch um Präpositionalgruppen. Bei einer Usualisierung übernehmen sie auch die normalen Fugenelemente (richtungweisend – richtungsweisend). Die vorliegenden Untersuchungen haben gezeigt, dass Inkorporation und Univerbierung zwar als Prozesse zu trennen sind, im allgemeinen aber auf die unterschiedlichste Weise zusammenwirken. Bestandteile von komplexen Wörtern, die durch Univerbierung entstanden sind, sind in einem entsprechenden Syntagma im allgemeinen durch direkte syntaktische Beziehungen miteinander verknüpft. Andererseits entstehen inkorporierende Strukturen eher bei systematischer syntaktischer Nachbarschaft der zugrundeliegenden syntaktischen Einheiten.

11. Zusammenschreiben

Dieses Kapitel bedarf einiger Erläuterungen außerlinguistischer Natur. Während ich die Habilitationsschrift geschrieben habe, schien die Rechtschreibreform beschlossene Sache. Kurz vor Fertigstellung (im Frühjahr 2004) kam wieder Wind in die Angelegenheit und ausgerechnet (und berechtigterweise) wurde die Getrennt- und Zusammenschreibung als erstes neu geregelt. Die Habilitationsschrift wurde dabei von beteiligten Personen zu Rate gezogen. Manches ist inzwischen in der Sache angemessener geregelt. Der jeweilige Stand der aktuellen Rechtschreibdebatte ist nachzulesen unter www.rechtschreibrat.com. Ein zweiter Punkt ist erwähnenswert: Parallel zum Entstehen meiner Habilitationsschrift arbeitete Joachim Jacobs ebenfalls an dem Thema. Er stellte mir freundlicherweise ein erstes Manuskript zur Verfügung (Jacobs 2001), wovon ich sehr profitiert habe. Inzwischen ist sein Buch erschienen (Jacobs 2005) und in sehr vielen Punkten kommen wir zu vergleichbaren Ergebnissen. Man möchte als Wissenschaftler gern der erste sein, der zu einer Erkenntnis gelangt, das befriedigt den wissenschaftlichen Ehrgeiz. Aber nun freue ich mich, dass wir unabhängig voneinander und auf teilweise recht unterschiedlichen Wegen zu in vieler Hinsicht ähnlichen Ergebnissen kommen. Ich werde an den entsprechenden Stellen vermerken, wo wir mitunter gleichzeitig zu denselben Schlüssen kamen.

11.1 Einleitung Die Getrennt- und Zusammenschreibung ist offenbar der schwierigste Bereich in der deutschen Rechtschreibung. Während er in der alten Regelung weitgehend nicht behandelt wurde, wurde die Neuregelung in diesem Punkt am heftigsten kritisiert und schließlich überarbeitet. Die Fälle, die in dieser Arbeit untersucht wurden, können als typische Problemfälle der Rechtschreibung gelten: Substantiv-Verb-Verbindungen, Adjektiv-Verb-Verbindungen, vereinzelte Verb-Verb-Verbindungen, Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen, nicht-Adjektivund nicht-Partizip-Verbindungen, schließlich die Substantiv-Partizip-I-Verbindungen und Verbindungen mit Stadtadjektiven, insbesondere bei Straßennamen. Diese Untersuchungen sind Grundlage dieses Kapitels. 11.1.1 Problemfälle der Grammatik oder der Schreibung? Dass die Getrennt- und Zusammenschreibung eines der schwierigsten Gebiete der deutschen Rechtschreibung ist, liegt daran, dass nicht immer deutlich ist, was ein Wort und was ein Syntagma ist. Betrachtet man zum Beispiel die Wortbildung: Hier können als typische Prozesse Komposition und Affigierung (und Konversion) angenommen werden, als untypi-

158 sche Prozesse Univerbierung, Inkorporation und Rückbildung.1 Diese untypischen Prozesse sind häufig diejenigen, die zu Unsicherheiten bei der Getrennt- und Zusammenschreibung führen. Bei allen Prozessen und Anwendungen der Prozesse muss die Frage gestellt werden: Ist hier überhaupt ein Wort entstanden? Damit wird schon deutlich, dass die Unsicherheiten häufig nicht allein in der Schreibung liegen, sondern in der Grammatik, denn die zu klärende Frage lautet: Liegen Wörter oder Syntagmen vor? Und häufig finden sich bei den entsprechenden Verbindungen neben (typischen) Worteigenschaften auch typische Syntagmaeigenschaften. Anders als in der Grammatik wird aber in der Schreibung bei jedem konkreten Fall eine konkrete Entscheidung darüber getroffen, ob es ‚mehr‘ ein Wort ist oder ‚mehr‘ ein Syntagma, denn in einem konkreten Fall kann ein konkreter Schreiber nur getrennt oder zusammen schreiben. Man kann nicht halb getrennt oder halb zusammenschreiben. Diese konkrete Entscheidung kann zum Teil gelenkt werden, ob sie vorgeschrieben werden darf, ist in Einzelfällen zu klären: die Intuition der Schreiber darf nicht zerstört werden. Der Zusammenschreibung liegt das Prinzip zugrunde: Was ein Wort ist, wird zusammengeschrieben.2 Die Frage ist dann: Was ist ein Wort? Und das ist eine grammatische Frage. Diese Frage war Gegenstand einzelner Untersuchungen in dieser Arbeit. Die meisten der problematischen Fälle sind solche, die eigentlich selbstständige Einheiten sind, die aber in einem ganz bestimmten Kontext mit einer anderen Einheit enger zusammen gehören als vergleichbare syntaktische Fälle, in den meisten Fällen liegt eine Wortbildung im weiteren Sinne vor. Die Zusammenschreibung ist häufig auch eine Frage des Kontextes. Ein Verbstamm ess in Esstisch ist klar gebunden, hier entstehen keine Probleme bei der Zusammenschreibung, weil der Verbstamm ess alleine wohl kaum in der geschriebenen Sprache vorkommt (für die gesprochene Sprache s. Teuber 1998). Bei eventuellen Fugenelementen kann man zumindest bei den unparadigmischen ähnlich argumentieren: Versicherungs kann nur eine Kompositionsstammform sein, als Wortform kommt dies nicht vor. Daher führen zumindest die unparadigmischen Fugenelemente zu der Interpretation als ein Wort. Rot in Rotwein ist auch gebunden, weil rot als vorangestelltes Attribut zu einem Substantiv flektieren sollte (roter Wein – *rot Wein). Die Nichtflexion ist hier ein formales Kriterium für die Zusammengehörigkeit, die enger als eine entsprechende syntaktische Konstruktion ist. Bis hierher sind die Fälle relativ klar. Problematisch wird es schon in den folgenden Beispielen: Adjektive, die nicht flektieren, sind nicht so leicht zu interpretieren und häufig sind sowohl die Interpretation als ein Wort als auch als Phrase möglich (extra Blatt – Extrablatt, Prager Bürgermeister – Pragerschinken, s. Kapitel 7); die unflektierten Adjektive sind mit Ausnahme der Stadtadjektive im Deutschen sehr beschränkt, es sind wenige Fälle. Von Stadtadjektiven hat das Deutsche relativ viele, sie bilden aber im Normalfall Phrasen und nur in Ausnahmefällen können die Konstruktionen als Komposita analysiert werden. Besonders problematisch sind andere Fälle, in denen die Form gleich bleibt und die in manchen Kontexten selbstständig sind, in anderen nicht. Zum Beispiel ist fest in feststellen gebunden, in anderen Kontexten ist es frei. Es verhält sich in Zusammenhang mit speziellen Verben besonders. Die Beispiele bezogen sich hier jeweils auf das ‚Erstglied‘ von zusammengesetzten Wörtern. Das Zweitglied kann auch auf seine Weise ‚unselbstständig‘ sein. Formal ist hier im Deutschen aber weniger zu sehen, da das ‚Zweitglied‘ im allgemeinen 1 2

Jacobs (2005: 107) nimmt Univerbierung nicht mehr als morphologische Bildung an. In der Neuregelung wird zum Beispiel der Unterschied zwischen ‚Wortgruppe’ und ‚Zusammensetzung’ betont. (Zitiert nach Gallmann/ Sitta 1996: 116)

159 (grammatisch) der Kopf ist, das heißt, das Zweit- oder Letztglied bestimmt das grammatische Verhalten der gesamten Verbindung; ‚alleine‘ verhält es sich aber weitgehend genauso. Wenn ein potentielles Erstglied nicht flektiert, obwohl Flexion zu erwarten wäre, so ist dies schon ein Hinweis, dass es unselbstständig ist. Ein potentielles Zweitglied hingegen flektiert, egal ob es ein Zweitglied ist oder selbstständig. Das gilt für die meisten Fälle im Deutschen. Die komplexen Präpositionen aufgrund, anhand usw. (Abschnitt 1.5.2) sind nicht rechtsköpfig, dies sind aber Ausnahmen. Damit sind einige formale Kriterien genannt, die der Erkennung von zusammengesetzten Wörtern dienen. Das ‚syntaktische‘ Kriterium ist: Einheiten, die keine syntaktische Funktion haben, sind Bestandteile von Wörtern. 11.1.2 Graphematik – Orthografie Ich vertrete hier die Ansicht, dass die Graphematik zum großen Teil ein ‚natürliches‘ System ist. Sie hat sich als System entwickelt und funktioniert auch als System. Dieses System hat seine Prinzipien herausgebildet, zum Beispiel, dass Substantive im Deutschen groß geschrieben werden oder dass Wörter (auch komplexe) zusammengeschrieben werden. Die Prinzipien können explizit gemacht werden, wie wir es auch sonst in der Grammatik tun. Die Rechtschreibung oder Orthografie kann als ‚Normierung‘ gesehen werden. Im idealen Fall sollte die Normierung folgendermaßen geschehen: Die Prinzipien, die vorherrschen, werden zu expliziten Regeln gemacht. Grundsätzlich bestehen dabei für die Rechtschreibung folgende Probleme: Werden die Prinzipien überhaupt erkannt? Und können sie in explizite, ‚einfache‘ Regeln gefasst werden? Diese Fragen sollten Gegenstand der Debatte über eine Rechtschreibung sein. Die Schreibung sollte intuitiv beherrschbar sein, so wie es die gesprochene Sprache auch ist. Die Schreibung ist in der Tat weitgehend intuitiv beherrschbar. Man muss sich klar machen, dass die Rechtschreibung weitgehend Prinzipien der Graphematik ‚übernimmt‘. Die explizit genannten Fälle (neben den Regeln) sind im allgemeinen solche, die grammatisch dazwischen stehen, hier zum Beispiel bei Fällen, die sowohl Wort- als auch Syntagmaeigenschaften haben. Man muss diese ‚Zwischenfälle‘ als solche erkennen und bezeichnen. Es handelt sich dabei aber gerade nicht um den Kernbereich der Getrennt- und Zusammenschreibung, vielmehr ist es der Kernbereich der notorischen Zweifelsfälle. Diese Auffassung beinhaltet die Ansicht, dass das Schreiben oder die Rechtschreibung überhaupt nicht funktionieren würde, wenn sie nur über explizite Regeln geregelt wäre. Es gibt nur deshalb Menschen, die die deutsche Rechtschreibung beherrschen, weil sie (zum großen Teil) intuitiv beherrschbar ist. Demnach vertrete ich einen entsprechenden Einfachheitsbegriff: Eine Rechtschreibung ist nicht einfach, wenn sie in wenige oder leicht zu formulierende Regeln zu fassen ist. Eine Rechtschreibung ist ‚einfach‘, wenn sie intuitiv erfasst werden kann. Diese grundsätzliche Auffassung von Orthografie und Rechtschreibung vertritt insbesondere Eisenberg (1996) und jüngst zum Beispiel Neef (2005). Die Intuition der Schreiber zu zerstören bleibt nicht ohne Folgen. So wurde nach der Rechtschreibreform sehr viel mehr getrennt geschrieben als je beabsichtigt war. In diesem Bereich hatte die Rechtschreibreform über das Ziel hinausgeschossen. Außerdem ist die Rechtschreibung offenbar nicht ‚einfacher‘ geworden. Mit Seelig (2005), die das Potsdamer Grammatische Telefon mitbetreut hat, ist die Zahl der Fehler und Unsicherheiten bezüglich der Getrennt- und Zusammenschreibung nach der Reform stark angestiegen.

160 Fragen zur ‚Getrennt- und Zusammenschreibung‘ folgen innerhalb der Kategorie an zweiter Stelle, sie weisen im Jahr 2000 die höchsten Werte innerhalb der orthographischen Anfragen auf und steigen von Beginn der Dokumentierung bis 2000 (von 1997 zu 1998 auf mehr als das Doppelte). Seelig (2002: 5)

Die Zahl des Fehleranstiegs ist zum großen Teil sicherlich damit zu begründen, dass die alte Rechtschreibung diesbezüglich schlichtweg toleranter war. Sie ließ häufiger zwei Varianten zu, wo mit der Neuregelung zunächst nur noch eine zugelassen war. Andererseits zeigt dieser Anstieg deutlich, dass die Rechtschreibreform hier zu großer Verunsicherung geführt hat. Die Toleranz für zwei Schreibungen, wie sie vor der Rechtschreibreform in vielen Fällen praktiziert wurde, war offenbar viel größer, als allgemein angenommen. Das Schreiben an und für sich ist wie gesagt ein intuitiver Prozess, die ‚richtige‘ Schreibung ist es zum großen Teil auch. In vielen oder auch den meisten Fällen ist die Schreibung klar. Unsicherheiten entstehen typischerweise bei Zweifelsfällen, die hier behandelten können bezüglich Getrennt- und Zusammenschreibung als die häufigsten gelten. Nun habe ich ausführlich gezeigt, dass die entsprechenden Einheiten sich auch sonst grammatisch nicht eindeutig verhalten. Sie stehen häufig morphologisch, syntaktisch und/oder phonologisch zwischen Wort und Syntagma. Wenn hier Unsicherheit besteht, dann ist die Unsicherheit genau am richtigen Platz.

11.2 Zur Beschreibung der Getrennt- und Zusammenschreibung Die Beschreibung der Schreibung und der Rechtschreibung findet in drei sehr unterschiedlichen Textsorten statt. Am prägnantesten sind die Regelwerke formuliert. Daneben gibt es einige Ratgeberliteratur, die dem Schreiber die Regeln vermitteln soll. Auf der anderen Seite gibt es die wissenschaftliche Literatur, welche zunächst erforscht, wie geschrieben wird und die dann – im idealen Fall nach einer graphematischen Methode – die Prinzipien herausarbeitet. Regelwerke und wissenschaftliche Erforschung sollten nicht unabhängig voneinander bestehen. Der ideale Weg ist der folgende: Auf der Grundlage der wissenschaftlichen Erforschung wird ein Regelwerk erstellt. Die Ratgeberliteratur erklärt das Regelwerk dann wiederum mit den Prinzipien, die die Erforschung ergeben haben, auch auf einem populärwissenschaftlichen Niveau. Die Jahreszahlen der wissenschaftlichen Literatur, die konkret das Thema der Getrennt- und Zusammenschreibung behandeln, sind dabei augenöffnend; die Reihenfolge war zum großen Teil eine andere. Konkret zur Getrenntund Zusammenschreibung hat Herberg (1981 und 1983) in den 80er Jahren gearbeitet. Eisenberg (1981) behandelt nicht im Titel die Getrennt- und Zusammenschreibung, sondern die Groß- und Kleinschreibung. Da dieser Aufsatz wesentlich Fälle wie radfahren usw. behandelt, ist er aber de facto eine Erforschung eines notorischen Zweifelsfalles der Getrennt- und Zusammenschreibung. Maas (1992) ist ebenfalls vor der Neuregelung entstanden. Die meisten Arbeiten sind aber nach der Neuregelung (1996) erschienen und auch entstanden, so Gallmann (1997), Günther (1997), Eisenberg (1998/2004a), Jacobs (2001); (2002); (2005). Andererseits sind die notorischen Zweifelsfälle unter grammatischen Gesichtspunkten durchaus auch früher behandelt worden. Im folgenden möchte ich lediglich die wissenschaftliche Literatur wiedergeben. Die Regelwerke sind zur Genüge kritisiert

161 worden, sowohl die alte als auch die neue (1996) Regelung. Es gibt nun eine vom Rechtschreibrat neu vorgelegte Regelung von 2005, die von der Kultusministerkonferenz im März 2006 beschlossen wurde. Sie ist in vieler Hinsicht zu begrüßen. Keines der Regelwerke versteht sich als ‚Erklärung‘, vielmehr beschäftigen sie sich mit Zweifelsfällen. Die wissenschaftliche Literatur zur Getrennt- und Zusammenschreibung ist weitgehend nach der Rechtschreibreform entstanden. Allein von der Jahreszahl sind Herberg (1981), Maas (1992) und Eisenberg (1981) vorher entstanden. Günther (1997), Gallmann (1999) beschäftigen sich mit der Getrennt- und Zusammenschreibung von Substantiv-Verb-Verbindungen. In diesem Zusammenhang ist auch Gallmann (1997) zu nennen, der ‚Konzepte der Nominalität‘ (so der Titel des Aufsatzes) vorstellt. Eisenberg (1998/ 2004a) stellt in einem Kapitel seiner Grammatik einige notorische Problemfälle der Getrennt- und Zusammenschreibung vor und zeigt insbesondere, dass diese Problemfälle ihre Ursache in der Grammatik haben. Jacobs (2001; 2005) stellt die Systeme der alten und der neuen Regelung gegenüber und formuliert die Grundprinzipien in Constraints. Im folgenden erläutere ich Herberg (1981), Günther (1997), Gallmann (1999), Eisenberg (1981) und (1998/ 2004a) und Jacobs (2001; 2002; 2005). Ich möchte jeweils kurz die Darstellensweisen erläutern und kommentieren; auf einzelne Punkte beziehe ich mich an den jeweiligen passenden Stellen in dieser Arbeit. Herberg (1981) gibt einen Gesamtüberblick über die Getrennt- und Zusammenschreibung. Deren Probleme seien aus „der Konkurrenz zweier orthographischer Prinzipien zu erklären: des syntaktischen und des lexikalischen“ (Herberg 1981: 112). Dabei meint Herberg, dass das lexikalische Prinzip an Bedeutung gewinnt: Wenn eine Wortgruppe „einen relativ abgegrenzten, einheitlichen Sachverhalt (Eigenschaft, Vorgang oder Beziehung) der Realität benennt“ (Herberg 1981: 112). Er erkennt außerdem, dass substantivische Komposita problemlos sind, die Probleme ergeben sich im nichtsubstantivischem Bereich, insbesondere im verbalen. Herberg zeigt sehr viele der typischen Problemfälle der Getrennt- und Zusammenschreibung, versucht die meisten inhaltlich zu beschreiben, ganz im Sinne der alten Regelung. Günther (1997) beschreibt ausschließlich die Substantiv-Verb-Verbindungen. Die Systematisierungen und Kriterien von Eisenberg (1981) und Wurzel (1994) dienen Günther (1997) als Grundlage. Er untersucht eine Liste mit 400 Zusammensetzungen aus Substantiv und Verb. Explizit untersucht er nur „solche Bildungen, die in Konstruktionen wie er ist gerade/ mal wieder beim X-en, er kann/ will X-en verwendet werden können“ (1997: 5).3 Wenn der erste Bestandteil nicht valenzgebunden ist, kann er syntaktisch nicht interpretiert werden. Dann handelt es sich um ein Kompositum.

3

Diese Kontexte stehen gerade nicht eindeutig für verbale Infinitive: er ist beim X-en sowieso nicht, aber auch die genannten Modalverbkontexte sind für Substantive zugänglich, es sind objektfähige Modalverben: er kann Englisch, er will Himbeereis. Günther macht hier auch bewusst keinen Unterschied zwischen substantivischen und verbalen Infinitiven, weil er ihn für „nicht praktikabel“ hält. Allerdings überschreibt er seine Liste im Anhang mit ‚Verben vom Typ ‚Substantiv + Verb’’ (Hervorhebung von mir, N.F.), die Beispiele sind dann aber alle großgeschrieben. Das ist für die Schreibung insofern in Ordnung, als auch spontane Bildungen (und spontane Rückbildungen) eine mögliche Schreibung haben sollen. Wenn man jedoch verstehen will, wie es zu Rückbildungen kommt und wie sie weithin akzeptierte vollständige Paradigmen bilden können, ist der Übergang von Substantiv zum Verb ein wesentlicher Schritt.

162 Die bisherige Regelung war nach Günther: wenig Regeln und große Toleranz (1997:7). Günther selbst formuliert folgende Regeln: R1: Innerhalb von Wörtern gibt es keine Leerzeichen. (1997: 10) R 2.1: Partikelverben werden in Kontaktstellung zusammengeschrieben, weil die Partikel kein syntaktisches Wort bildet. R 2.2: Trennbare Verben mit einem Substantiv als Erstglied werden zusammengeschrieben, weil das nominale Glied kein syntaktisches Wort bildet. (ebd.)

Die erste Regel deckt nach Günther den Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung ab, bis auf die trennbaren Verben. Dafür gibt es dann die Regel 2.1. und 2.2. Wenn einem substantivartigen Element in einem Satz keine syntaktische Funktion zukommt, schreiben wir es mit dem Verb zusammen. Günther (1997: 10)

Dabei ist Günther wichtig, dass manche Verbindungen zusammen- oder getrennt geschrieben werden (1997: 13). Die Neuregelung kritisiert er, weil „ihr [...] keine sprachliche Realität zugrundeliegt“ (1997: 13, FN 15), zum Beispiel wegen der ‚syntaktisch uninterpretierbaren Substantive‘ (1997: 12). Günther gibt der Neuregelung in diesem Bereich zwei Möglichkeiten: Meine Prognose ist, daß sich die Neuregelung jedenfalls nicht auf der ganzen Linie durchsetzen, eher die Unsicherheit verstärken wird. Günther (1997: 13) Alternativ zur am Ende dieses Beitrags formulierten Prognose könnte es sein, daß die radikale Getrenntschreibung tatsächlich auch die Zusammenschreibung der Nominalkomposita im Deutschen zu einem Problemfall werden läßt – also dann Aal stechen? Günther (1997: 13, FN 16)

Gallmann (1997) verteidigt die Neuregelung und entwirft dazu verschiedene ‚Konzepte von Nominalität‘. Hier wird grundsätzlich überlegt, was insbesondere ein Substantiv ausmacht, dazu mehr im Abschnitt 2.3 in dieser Arbeit. Über Gallmann (1999) hat sich ein öffentlicher Streit entwickelt (Bredel/Günther 2000 und Gallmann 2000). Der Streit zeigt einiges auf an wesentlichen Argumenten, auch an Argumenten für und gegen die Neuregelung. Gallmann ist erklärter Befürworter der Rechtschreibreform, Günther (1997) zeigt sich wie gesagt als Kritiker. Nach Bredel/Günther (2000) argumentiert Gallmann unstimmig; an diesem Punkt überzeugt die Neuregelung nicht. Gallmann (1999) stellt zunächst die verschiedenen Wortbegriffe dar, die typischerweise benutzt werden: das Wort als syntaktische Einheit, als phonologische Einheit, als lexikalisch-pragmatische Einheit, als graphematische Einheit. Der Angriff von Bredel/ Günther zielt insbesondere auf die Interpretation von Gallmann des ‚Kopfadjunkts‘. Dass die Konstituenten, die von einem syntaktischen Wort besetzt werden, zu Phrasen projizieren, ist der Normalfall – aber nicht der einzige Fall. Ein syntaktisches Wort kann auch eine nichtprojizierende Konstituente des Typs X0 besetzen. Eine solche Konstituente ist gewöhnlich an einen anderen Kopf Y0 adjungiert, das heißt, X0 ist ein Kopfadjunkt (von Y0). Gallmann (1999: 272)

Im folgenden nennt Gallmann einige Beispiele, wie die Farbe Blau, heute Abend usw. Eine phonologische Wortdefinition ist laut Gallmann sehr schwierig, weil Siebenmeilenstiefel und sieben Meilen weit „praktisch gleich intoniert“ werden (Gallmann 1999: 275). Die

163 lexikalisch-paradigmatische Einheit meint insbesondere das Flexionsverhalten. Unterspezifizierte Formen können laut Gallmann aber sehr wohl als ‚Wörter‘ auftreten, wie in die Farbe Blau, heute Abend und er schwört Stein und Bein (Gallmann 1999: 278). Graphematische Wörter sind „vereinfacht [...] von Wortzwischenräumen begrenzt“ (1999: 279). Im allgemeinen entsprechen sich graphematische und syntaktische Wörter (1999: 279). Im nächsten Teil überlegt Gallmann, wie ‚Nomen-Verb-Verbindungen‘ zu erfassen sind. Dann geht es um verschiedene Prozesse, die jeweils typologisch erläutert werden: Komposition, Inkorporation und Noun-Stripping. Beim Noun-Stripping bildet „der dependente Bestandteil der Fügung ein eigenes syntaktisches Wort“ (Gallmann 1999: 283) wie in wir leisten dafür Gewähr (ebd.) oder Andrea liest Zeitung (Gallmann 1999: 287). Verbindungen des Typs radfahren erläutert er jedoch gerade nicht, obwohl er es im Vorfeld ankündigt. Er hält fest, dass „Rückbildung als Gegenteil von Univerbierung“ (Gallmann 1999: 295) gesehen werden kann, seine Beispiele sind der folgenden Art: (3)

a. Wir stehen in der Schlange b. das Stehen in der Schlange (Nominalisierung) c. das Schlangestehen (Komposition) d. Wir stehen Schlange (Rückbildung)

.

Zu einer Rückbildung, bei der das Verb die erste oder zweite Stelle im Satz einnehmen kann, kann es nur kommen, wenn das Resultat einem der im Deutschen vorhandenen Muster für Verbindungen des Typs nominales Kopfadjunkt + Verb zugeordnet werden kann. [...das sind] im Deutschen vor allem zwei Fügungen mit Noun-Stripping. Beim einen Typ entspricht das Nomen dem direkten Objekt, beim anderen einem PP-Komplement. Gallmann (1999: 297)

Hier liegt meines Erachtens der entscheidende Punkt: in brustschwimmen ist brust weder direktes Objekt zu schwimmen, noch ist es Präpositionalobjekt. Damit bleiben derartige Substantiv-Verb-Verbindungen ungeklärt. Eisenberg (1981) beschreibt Fälle wie radfahren. In diesem Aufsatz wird ein Prinzip vorgestellt, das auch für die vorliegende Arbeit wesentlich ist: Substantive (zum Beispiel) werden nicht ‚lexikalisch‘, sondern ‚funktional‘ bestimmt. Entscheidend ist das grammatische Verhalten in den gegebenen Verbindungen. Eisenberg (1998/2004a) benennt zunächst einige historische Prozesse von Univerbierung. Dann zeigt er verschiedene Fälle, wie sie auch in der vorliegenden Arbeit dargestellt werden. Häufig sind sie strukturell doppeldeutig (wie fleischfressend, Eisenberg 2004a: 335). Anschließend beschreibt er die verbalen Verbindungen, vergleicht sie zum Teil mit entsprechenden Syntagmen und mit den Partikelverben. Er zeigt insbesondere, dass die Abgrenzung häufig nicht trivial ist. Jacobs (2001; 2002; 2005) geht am weitesten. Er bringt sowohl die neue Rechtschreibung als auch die alte Rechtschreibung jeweils in ein System. Dabei geht er auf die meisten problematischen Fälle ein. Er beschreibt beide Systeme innerhalb der Optimalitätstheorie. Damit beschreibt er einerseits Kriterien (in der Optimalitätstheorie sind das die ‚Constraints‘), nach denen die Getrennt- und Zusammenschreibung im Deutschen geregelt ist, andererseits bringt er diese Kriterien im Rahmen der Optimalitätstheorie in eine Hierarchie. Jacobs (2001) war das Manuskript, das Fuhrhop (2004) zugrunde lag. Jacobs (2002) kann als (veröffentlichte) Kurzfassung von Jacobs (2001) gelten. Jacobs (2005) ist eine starke Überarbeitung von Jacobs (2001).

164 Folgende Constraints nimmt Jacobs (2002) an: – Getrenntschreibung von Nicht-Schwestern (Jacobs 2002: 377): Dieser Constraint bezieht sich auf die syntaktische Struktur. Ich fasse ihn wie folgt zusammen: Wenn zwei Einheiten nicht unmittelbar zu der gleichen syntaktischen Konstituente gehören, dann werden sie auseinandergeschrieben. Ein Beispiel von Jacobs 2002 ist: , , . – Zusammenschreibung der Resultate wortbildender Prozesse (Zus-Wortbild) (Jacobs 2002: 375). Dabei nimmt er sowohl ‚Vorwärtsbildungen‘ (zum Beispiel explizite Derivation, Komposition, Konversion) an als auch ‚Rückwärtsbildungen‘4 (zum Beispiel in maschineschreiben, Jacobs 2002: 375f.). In Jacobs (2005: 34f.) erweitert Jacobs die morphologischen Bildungen um die synthetische Flexion, s. unten. – Getrenntschreibung von Teilausdrücken (Jacobs 2002: 379): Dies meint, dass Zusammenschreibung der markierte Fall ist.

Im folgenden zeigt Jacobs (2002), dass die Reihenfolge der Constraints für die ‚KernGetrennt- und Zusammenschreibung‘, die in der alten und neuen Regelung keine unterschiedlichen Schreibungen hervorbringen, die folgende sein muss: (O1) GETR-NS >> ZUS-WBILD >> GETR-AUSDR

Jacobs (2002: 379)

Im Gegensatz dazu geht Jacobs (2005) von nur zwei Grundannahmen aus, nämlich erstens der Zusammenschreibung von morphologischen Bildungen und zweitens der Getrenntschreibung von Teilausdrücken. Das gilt für die ‚Kern-GZS‘, also gleichermaßen für die alte Regelung als auch für die neue. Für die alte Regelung kommt noch eine Bedingung hinzu, nämlich die ‚Zusammenschreibung für Semi-Partikelverben‘ (Jacobs 2005: 110f.). Diese Bedingung wird in der Neuregelung nicht einfach abgeschafft, sondern es kommen weitere Bedingungen hinzu (s. Jacobs 2005: 180ff.). Damit zeigt Jacobs eindeutig, dass die Neuregelung von 1996 nicht einfacher ist. Durch die Reform der Reform (Sommer 2005, Beschluss der KMK März 2006) wurde das eingesehen und geändert, daher werde ich hier nicht im einzelnen erläutern, wie Jacobs das zeigt. Weitere Details zu Jacobs folgen im weiteren Text.

11.3 Das System der Getrennt- und Zusammenschreibung Im folgenden Abschnitt werde ich zunächst darstellen, ob die Getrennt- oder die Zusammenschreibung oder gegebenenfalls beides zu regeln ist. Anschließend werde ich eine allgemeine Regel für das Gesamtsystem formulieren. Sie kann dann genauer gefasst werden in zwei Prinzipien. Mit diesen zwei Prinzipien werde ich die Getrennt- und Zusammenschreibung durchgehen, zunächst die Fälle, die offenbar bisher wenig Probleme gemacht

4

Jacobs (2005: 40) wählt den Begriff der ‚Rückwärtsbildung’ für das, was sonst in der Literatur ‚Rückbildung’ heißt, damit möchte er explizit komplexe nominalisierte Infinitivgruppen einschließen.

165 haben und anschließend die problematischen Fälle. Als systematische Grundlage der problematischen Fälle können die Untersuchungen dieser Arbeit gelten. 11.3.1 Regelung der Getrennt- oder Zusammenschreibung? Im allgemeinen wird die Zusammenschreibung als das zu Regelnde gesehen, die Getrenntschreibung ist der Normalfall, dies auch in Jacobs (2002: 378f.), nicht aber in Jacobs (2005: 97). Ich meine, dass man die Frage nicht unbedingt beantworten muss und dass eine Aussage wie ‚im Zweifel getrennt‘ zu Fehlern führt, weil die Schreiber zum Zweifeln aufgefordert werden, wo sie intuitiv möglicherweise gar nicht zweifeln. Ein wesentlicher sprachlicher Fall, wo dies nicht angemessen erscheint, sind genau die durch Rückbildungen entstandenen komplexen Verben. Bei allen Verbindungen, die durch Rückbildung entstanden sind, ist zunächst Zusammenschreibung anzunehmen. Die meisten durch Rückbildung entstandenen Verbindungen sind Substantiv-Verb-Verbindungen des Typs eislaufen und radfahren; daher möchte ich die Regelung der Getrenntschreibung an diesem Beispiel erläutern. Der klassische Rückbildungsfall ist der folgende: Wir haben einen Verbstamm, der durch ein Wortbildungssuffix zu einem Substantiv wird: fahr(en) – Fahrer. Dieses neu gebildete Substantiv bildet ein Kompositum, zum Beispiel Radfahrer. Aus diesem Kompositum wird ein Verb radfahren ‚rückgebildet‘. Wie weit diese Rückbildung geht, unterscheidet sich von Verb zu Verb. Manche sind gar nicht trennbar, weder morphologisch noch syntaktisch: wir wollen armdrücken – ?er versucht armzudrücken – *wir drücken arm. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie überhaupt nicht trennbar sind. Das heißt nicht, dass es untrennbare Verben sind, sondern dass die Paradigmen unvollständig sind. Bei diesen ist nicht die Zusammenschreibung das Besondere. Vielmehr muss sich die Getrenntschreibung erst herausbilden; Voraussetzung für die Getrenntschreibung ist hier, dass überhaupt trennbare Verben (mit vollständigen Paradigmen) entstehen. Der Infinitiv, der wohl von allen Formen als erstes rückgebildet wird, wird zunächst zusammengeschrieben. Er ist jeweils (zunächst) ein Wort und zunächst weniger trennbar als Partikelverben wie anfangen. Andere kommen nur in den infiniten oder zumindest in den ungetrennten Formen vor (s. Wurzel 1994), sind also syntaktisch nicht trennbar aber morphologisch: er versucht bauzusparen, er ist notgelandet, weil er notlandet, ??er landet not, ??er spart bau. Die Unbildbarkeit der Formen hängt gerade damit zusammen, dass die substantivischen Einheiten keine syntaktischen Einheiten sind. Sie sind eindeutig Bestandteile des Wortes und werden als solche zusammengeschrieben. Bei anderen Verben wie radfahren haben wir vollständige Paradigmen und sie sind morphologisch und syntaktisch trennbar. Nur bei diesen besteht überhaupt die Möglichkeit der Getrenntschreibung. Für die rückgebildeten Substantiv-Verb-Verbindungen ist die Zusammenschreibung das Normale, die Getrenntschreibung der Sonderfall. 11.3.2 Zugrundeliegende Prinzipien In der Neuregelung (und ähnlich auch vorher) wird zwischen Wortgruppen und Zusammensetzungen unterschieden. Grundsätzlich steckt hier die Unterscheidung von Wort und

166 ‚Nicht-Wort‘ bzw. Syntagma drin, es wird nur sehr verklausuliert dargestellt. Daher nehme ich folgendes grundlegendes Prinzip an, das im folgenden gezeigt und diskutiert wird. Was ein Wort ist, wird zusammengeschrieben. Mehrere Wörter (Syntagmen) werden getrennt geschrieben. Jacobs formuliert es folgendermaßen: Grundgesetz der Spatiensetzung Spatien markieren die Grenze zwischen im Text benachbarten Wortvorkommen. Jacobs (2002: 372)

Das System selbst werde ich an zwei ‚untergeordneten‘ Prinzip entwickeln, die von zwei Richtungen aus ermitteln, was ein ‚Wort‘ sei, von der morphologischen Seite her und von der syntaktischen. In der wissenschaftlichen Literatur kommen analoge Formulierungen durchaus vor. So formuliert Maas die Grundregel für die Getrennt- und Zusammenschreibung folgendermaßen: Wo keine syntaktische „Sollbruchstelle“ vorliegt, wird zusammengeschrieben. Maas (1992: 177)

Jacobs’ Constraints sind im Prinzip ähnlich zu verstehen. Der morphologische Constraint ist direkt vergleichbar, wie auch in Abschnitt 11.3.2 gezeigt wird. Der syntaktische Constraint unterscheidet sich hingegen. Der wesentliche Unterschied scheint mir hier zu sein, dass auch die syntaktische Bedingung in der vorliegenden Arbeit positiv bestimmt wird. Jacobs (2005) geht in der morphologischen Bestimmung einen Schritt weiter als Jacobs (2002) und auch als Fuhrhop (2004). So beschränkt er es nicht mehr auf die Wortbildung, sondern schließt die synthetische Flexion mit ein. Zusammenschreibung in Morphologischen Bildungen (Zus-Morph) Wenn X und Y Teilausdrücke eines morphologisch gebildeten Zeichens sind, gibt es zwischen und kein Spatium. Jacobs (2005: 34)

Dazu gehören „mindestens die traditionell der Morphologie zugeordneten Bildungsweisen der Komposition, der expliziten Derivation, der Konversion und der synthetischen Flexion“ (Jacobs 2005: 35). Damit wird positiv die Zusammenschreibung geregelt: Die Resultate von morphologischen Prozessen werden zusammen geschrieben. Die ‚syntaktische‘ Wortbestimmung, wie sie von Eisenberg (1981), Maas (1992), Günther (1997) u.a. angenommen wird, kann folgendermaßen beschrieben werden: Ein Wort ist das, was in einem Satz in syntaktischer (oder in syntagmatischer) Relation zu anderen Einheiten steht. Das heißt: Einheiten können getrennt voneinander geschrieben werden, wenn jede einzelne in (mindestens) einer syntaktischen Relation zu (mindestens einer) anderen Einheit im Satz steht. Diese beiden Aussagen werden im folgenden aufgegriffen, um allgemeine Prinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung zu entwickeln. Ich werde hier weiterhin mit ‚Prinzipien‘ und nicht mit ‚Constraints‘ oder ‚Interface-Beschränkungen‘ der Optimalitätstheorie arbeiten, auch wenn Jacobs’ (2005) Ansatz sehr interessante Ergebnisse bringt. Der wesentliche Grund gegen die Optimalitätstheorie in dieser Arbeit liegt in den Constraints sel-

167 ber. Das wird im Laufe der Argumentation deutlich werden. So meine ich zum Beispiel, dass die Wirkungsweise des morphologischen Prinzips in seiner Stärke variieren kann. Außerdem meine ich, dass immer beide Prinzipien wirken, und zwar nicht hierarchisch geordnet (s. Abschnitt 11.4 ). Ich stelle zwei grundlegende Prinzipien auf, mit deren beider Hilfe ich die Getrennt– und Zusammenschreibung betrachte. Die beiden Prinzipien spezifizieren den zugrundeliegenden Wortbegriff, sie stecken damit im Grundprinzip. Das Verhältnis der beiden Prinzipien zueinander und das Wechselspiel ihrer Anwendbarkeit wird unten ausgeführt (Abschnitt 11.4); hier seien nun die beiden Prinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung vorgestellt: Das morphologische Prinzip: ‚Verbindungen‘ aus zwei oder mehr Stämmen werden zusammengeschrieben, wenn sie aufgrund einer Wortbildung miteinander verbunden sind. Das syntaktische Prinzip: Einheiten, die syntaktisch analysierbar sind, das heißt insbesondere Einheiten, die in syntaktischer Relation zu anderen Einheiten in einem Satz stehen, sind syntaktisch selbstständige Wörter. Dies führt zur Getrenntschreibung. Ich werde nun zunächst den Kernbereich der Getrennt- und Zusammenschreibung anhand dieser Prinzipien durchgehen und überprüfen, ob und wie sie wirken und ob sie möglicherweise weiter zu modifizieren sind. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob etwas Produkt eines morphologisches Prozesses ist bzw. ob eine Einheit in syntaktischer Relation zu einer anderen steht, sondern es geht auch darum, ob und woran das zu erkennen ist. Dieser Ansatz geht davon aus, dass beides ‚positiv‘ geregelt ist. Damit ist auch deutlich, dass es keines Default-Falles bedarf. Unklarheit ergibt sich dann daraus, wenn beide Regeln sich nicht klar verhalten in dem speziellen Fall, doch dazu in Abschnitt 11.4. Zunächst werde ich das Wirken der Prinzipien in den unproblematischen Fällen zeigen. 11.3.3 Die unproblematischen Fälle Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung sind Verbindungen von Interesse, die mehr umfassen als einen Stamm. Ich werde jetzt einen Schnitt durch die Morphologie des Deutschen machen und zeigen, wie sie Prinzipien wirken. Wortbildungen mit Affixen (4)

a. Sportler, Lehrer, Lehrerin, Wissenschaft, Wissenschaftler, Wissenschaftlerin, freundlich, Freundlichkeit b. verlaufen, begradigen, entlaufen, erlaufen, zerlaufen

Die Wörter in (a) und (b) sind durch Wortbildungsprozesse gebildet, damit sind sie nach dem morphologischem Prinzip graphematische Wörter und werden zusammengeschrieben. Die Affixe sind jeweils unselbstständig, sie können nicht syntaktisch analysiert werden, damit sind sie nach dem syntaktischen Prinzip Bestandteil von graphematischen Wörtern, sie werden mit den entsprechenden Stämmen zusammengeschrieben. Mit beiden Prinzipien kommt man zum gleichen Ergebnis.

168 Die Substantivkomposita (4) c. Haustür, Haustürschlüssel, Buchladen d. Versicherungsvertreter, Schwanensee e. Städtetag, Gottesdiener, Lieblingsgetränk

Die Komposita in (c)-(e) sind Ergebnisse von Wortbildungsprozessen, sie sind reguläre Kompositionen, damit sind sie nach dem morphologischem Prinzip graphematische Wörter und werden zusammengeschrieben. Das syntaktische Prinzip muss hier im einzelnen erläutert werden, da Bestandteile von Komposita grundsätzlich selbstständig vorkommen. Die einfache Substantiv-Substantiv-Komposition (c) scheint dabei deutlich: Eine syntaktische Konstruktion, die eine vergleichbare Form haben könnte, ist die enge Apposition (Geheimrat Goethe). Diese ist aber lexikalisch insoweit restringiert, als sie entweder einen Eigennamen enthält oder eine Maßangabe (ein Liter Bier) (Eisenberg 2004b: 256). Es kann sich also bei einfachen Substantiv-Substantiv-Komposita nicht um enge Appositionen handeln. Enge Apposition wäre eine mögliche Analyse, wenn die beiden syntaktisch verschwestert wären, das heißt zum Beispiel zu einer Nominalgruppe gehören. Zwei Substantive können auch benachbart sein, wenn sie syntaktisch nicht verschwestert sind, das heißt zum Beispiel in einer Konstruktion wie der Tischler liefert an jedes Haus Türen bilden Haus und Türen natürlich kein Wort, in der Tischler liefert Haustüren bilden sie eines. Was heißt das? Das morphologische Prinzip zeigt, dass Haustüren ein mögliches Wort ist, ob es in der konkreten Verwendung auch als ein Wort verwendet wird, überprüft das syntaktische Prinzip. Bei Komposita mit Fugenelementen sind die Möglichkeiten zu differenzieren: Die unparadigmischen Fugenelemente (d) sind eindeutig Erstglieder von Komposita, schon die Form lässt eine syntaktische Selbstständigkeit der ‚ersten‘ Einheiten nicht zu. Die Komposita werden zusammengeschrieben. Bei den paradigmischen Fugenelementen (e) ist eine solche Interpretation nicht eindeutig. Hier gibt es unter bestimmten Voraussetzungen beide Varianten. Da Erstglieder mit paradigmischen Fugenelementen homonym zu Genitivformen sind, im Singular oder im Plural (s. Fuhrhop 1998: 191), sind hier potentiell Syntagmen mit vorangestelltem Genitivattribut möglich: der Städtetag – der Städte Tag, der Gottesdiener – des Gottes Diener, Gottes Diener5, das (mein, sein) Lieblingsgetränk – des Lieblings Getränk6. Häufig wird die Konstruktion durch die vorhandenen Artikel eindeutig (der Gottesdiener, des Gottes Diener), aber nicht immer (der Städtetag/ der Städte Tag – der Tag der Städte). Beide Analysen sind dann möglich. (4) f. Esstisch, Anziehpuppe g. Badehose, Wartesaal, Reibekuchen

Die Verb-Substantiv-Komposition (f) ist formal eindeutig, da hier nur der Verbstamm auftritt. Das freie Vorkommen von Verbstämmen (knitter, bumm, würg) unterliegt starken pragmatischen Restriktionen (s. Teuber 1998). Hier ist wesentlich, dass der Verbstamm nicht vor Substantiven frei vorkommt. In der Position ist er in jedem Fall syntaktisch nicht interpretierbar; somit wird auch nach dem syntaktischen Prinzip zusammengeschrieben. 5 6

Hier wird Gott grammatisch als Eigenname gebraucht, ohne Artikel ist im Singular wohl nur die Syntagmaanalyse angemessen, ansonsten zum Beispiel der Gottesdiener. Kompositum und Syntagma haben hier eine ganz unterschiedliche Interpretation.

169 Dies gilt allerdings nicht für die Imperativform von schwachen Verben (trink Wasser – Trinkwasser), verwechselbare Kontexte erscheinen aber doch sehr konstruiert. Auch bei den Verbstämmen mit Fugenelementen (g) sind Doppeldeutigkeiten denkbar, aber unwahrscheinlich. Bade, warte und reibe könnten zum Beispiel als {1. Ps, Sg, Ind, Akt, Präs} interpretiert werden, man hat dann ich reibe Kuchen neben Leo mag Reibekuchen. Das morphologische Prinzip eröffnet die Möglichkeit, Reibekuchen als ein Wort zu interpretieren, syntaktisch ist es in Leo mag Reibekuchen ein Wort, in ich reibe Kuchen sind es zwei. (4)

h. Rotwein, Glatteis

Die Adjektiv-Substantiv-Komposita (h) sind auch im allgemeinen als solche in der Form zu erkennen, wenn es sich um ein flektierbares Adjektiv handelt (roter Wein, glattes Eis). Bei unflektierbaren Adjektiven wird dies schon schwieriger (?extra Portion – Extraportion, rosa Auto), hier kann eine Wortbildung vorliegen (Extrablatt), aber auch eine syntaktische Relation, nämlich die Attributrelation (wie in rosa Auto). Diese Fälle sind unterschiedlich akzentuiert, aber dies kann als Folge der unterschiedlichen Analysen gesehen werden.7 Letztendlich spielen hier die Restriktionen hinein, die für die gesamte Adjektiv-SubstantivKomposition gelten: Mit einer Bildung Rotwein wird etwas Bestimmtes benannt, die Farben für Wein sind stark beschränkt, s. auch Fuhrhop (1998: 9). So gesehen gibt es für ein Wort *Rosaauto keinen Grund, wenn es nur meint, dass ein Auto rosa ist. Man kann es als Wissen der Sprecher ansehen, dass Komposita diesen Typs restringiert gebildet werden. Allerdings sind die Unterscheidungen bei extra unter Umständen schwieriger, im Zweifelsfall sind hier Getrennt- und Zusammenschreibung möglich. Die Menge der unflektierbaren Adjektive ist relativ klein, es sind zum großen Teil Farbbezeichnungen (rosa, pink, lila, türkis, orange8). Daneben gibt es die doch große Menge von Stadtadjektiven. Potentiell gibt es hier die Möglichkeiten der Wortbildung und zugleich des Syntagmas: Pragerschinken – Berliner Luft. Besonders prekär ist dies bei Straßennamen. Straßennamen werden als Namen im allgemeinen zusammengeschrieben. Sie bilden „als Ganzes einen Eigennamen“ (so zum Beispiel in der Neuregelung §37 (4), zitiert nach Gallmann/ Sitta 1996: 129f.). Bei den gegebenen Beispielen ist das auch kein Problem (Bahnhofstraße, Drosselgasse, Neugraben, ebd.). Man schreibt aber nur zusammen, wenn es ‚möglich‘ ist, so wird zum Beispiel Französische Straße nicht zusammengeschrieben. Ein strukturelles Problem ergibt sich bei den ‚Stadtadjektiven‘, die sehr häufig zur Benennung von Straßennamen gewählt werden. Als Benennung würden sie nach dem morphologischem Prinzip zusammengeschrieben werden (Komposition); die Flexion verhindert dies nicht wie in Französische Straße, weil die Stadtadjektive auf -er nicht flektieren. Aus dem syntaktischen Prinzip folgt hingegen Getrenntschreibung, Berliner in Berliner Straße kann syntaktisch analysiert werden wie in Berliner Luft, als adjektivisches Attribut. Beide

7

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Den Akzent nehme ich grundsätzlich nicht als Kriterium an, aus dem gleichen Grund wie Maas: „Zwar gibt es Betonungsdifferenzen, die einer systematischen Beobachtung zugänglich sind – aber in der kritischen Situation einer Schreibunsicherheit helfen sie nicht weiter, weil nahezu jede Aussprache möglich ist.“ (Maas 1992: 185) Es geht hier nicht darum, ob diese Farbbezeichnungen für alle gleich unflektierbar sind, denn es ist bekannt, dass viele eine oder mehrere der folgenden Beispiele grammatisch finden: ein pinkes/ türkises/ oranges Auto; ein rosanes, lilanes, orangenes. Es geht vielmehr darum, ob sie auch als Attribut erkannt werden, wenn sie unflektiert sind.

170 Möglichkeiten sind vorgesehen und beide kommen ja auch vor. Eine Regelung kann eine dann ausschließen, wie es ja sowohl in der alten als auch in der neuen Regelung explizit gemacht wurde.9 Zur Vervollständigung der Substantiv-Komposita seien hier zumindest noch die Fälle mit Präpositionen genannt: Unterhose, Mitglied, Nebensache. Es sind mögliche Wortbildungen, aber auch hier sind syntaktische Kontexte zu konstruieren, in denen es Syntagmen sind: sie packt Unterhosen ein – unter Hosen trägt sie nie Strumpfhosen, die Mitglieder der DGfS – *die mit Glieder der DGfS, aber es ist eine Kette mit Gliedern; neben Sachen nimmt sie auch Geld mit auf ihre Reise. In größeren Zusammenhängen sind hier wohl kaum Doppeldeutigkeiten zu erwarten. So weit zu den Fällen, die als Substantiv-Komposita gelten können. Die Adjektiv-Komposita (4)

i. himmelblau, kerngesund j. bedeutungsarm, bleifrei, preiswert k. liebenswürdig, liebenswert

In (i-k) handelt es sich um Substantiv-Adjektiv-Komposita. Sie können alle durch einen Wortbildungsprozess entstanden sein, wobei j. und k. (zu den Kompositionsstrukturen auch in den Abschnitten 5.2 und 8.2) strukturell auf Univerbierungsprozesse zurückgeführt werden können. Für alle sind ohne weiteres Kontexte zu konstruieren, in denen die beiden Bestandteile syntagmatisch nebeneinander stehen. Die Frage ist nur, wie erkennt man, ob jeweils Univerbierung vorliegt oder ein Syntagma? Innerhalb von Kontexten ist es wohl eindeutig: zu i. Leo malt den Himmel blau – die himmelblauen Blumen, er malt (die Blumen) himmelblau zu j. das von Blei freie Benzin, das Benzin ist von Blei frei – das bleifreie Benzin, das Benzin ist bleifrei das Fahrrad ist seinen Preis wert – das Fahrrad ist preiswert zu k. das des Liebens würdige Kind, das Kind ist des Liebens würdig, das Kind ist liebenswürdig

Wenn die Substantiv-Adjektiv-Verbindungen durch den Kontext als Komposita einzuordnen sind, werden sie zusammengeschrieben. Die Adjektiv-Adjektiv-Komposition gehört strukturell zu den Zwischenfällen. Formal können es im allgemeinen Komposita oder Syntagmen sein, weil es möglich ist, ein Adjektiv durch ein anderes (unflektiertes) Adjektiv zu modifizieren: extrem schön, schön blöd, voll bescheuert.

9

Hier hat sich in der Rechtschreibreform ein ‚Fehler’ eingeschlichen. §38 heißt: „Ableitungen auf -er von geographischen Eigennamen, die sich auf die geographische Lage beziehen, schreibt man von dem folgenden Substantiv getrennt. Beispiele: Allgäuer Alpen, Brandenburger Tor, Naumburger Dom, Potsdamer Abkommen, Thüringer Wald, Wiener Straße“ (zitiert nach Gallmann/ Sitta 1996: 131). Nun beziehen sich bei Straßenbenennungen die Stadtadjektive im allgemeinen nicht auf die ‚geograpische Lage’, sonst hießen ja alle Straßen in Wien Wiener Straße oder alle Straßen, die Wiener Straße heißen, müssten nach Wien führen. Das ist vielleicht historisch so, heutzutage sind es reine Namen.

171 (4)

l. süßsauer, rotgelb m. hochhackig, volljährig, schöngeistig n. vollschlank, leichtverdaulich

Die Beispiele in (l) und (m) sind Ergebnisse von Wortbildungsprozessen. Eine syntaktische Analyse ist insbesondere möglich bei ‚graduierenden‘ Adjektiven, dazu in Abschnitt 5.1.1, sie folgen in den ‚problematischen‘ Fällen (Abschnitt 11.3.3). (4)

o. backfertig, waschecht, streichfest, krümelfrei

Die Verb-Adjektiv-Komposition ist wiederum eindeutig, weil dies keine Position ist, in der freie Verbstämme vorkommen (s. oben). Die Verb-Komposita Nun zu den Verbindungen mit Verben als zweitem Bestandteil: (4)

p. übersetzen, durchlaufen q. maßhalten, haushalten

Bei untrennbaren Verben (p, q) nehmen wir Zusammenschreibung an. Hier kann man Wortbildungen annehmen, aber letztendlich nicht ohne weiteres und die angenommenen Wortbildungsprozesse sind auch nicht unumstritten. So hat Olsen (1986a) zum Beispiel für die Partikelpräfixe ‚Präpositionsinkorporation‘ angenommen. Wie die Bildungen in (q) entstanden sind, ist gar nicht so eindeutig. Haushalten kann eine Konversion von Haushalt sein, aber maßhalten? Entscheidend ist hier die Untrennbarkeit; syntaktisch sind sie ohne Zweifel Wörter, weil eine syntaktische Interpretation des ersten Gliedes nicht möglich ist. Soweit können wir einen Kernbereich bestimmen. Die weiteren Verbindungen mit Verben sind trennbar und daher notorische Zweifelsfälle. Sie werden im nächsten Abschnitt mit den gleichen Mitteln behandelt. Synthetische Flexion Wie oben angeführt, hat Jacobs (2005) die synthetische Flexion mit aufgenommen. Die synthetische Flexion geschieht durch Ablaut, Umlaut; hier besteht gar nicht die Möglichkeit einer Getrenntschreibung. Weiterhin geschieht sie durch Präfixe und Suffixe. Allein der Form nach sind sie Wortbestandteile: -st, -t, -e, -er, -es, -en, -em, -s usw. Hier besteht genauso wenig wie bei den Derivationssuffixen die Möglichkeit einer syntaktischen Analyse. Fazit für die unproblematischen Fälle Zunächst eine Zwischenbilanz zur Bewertung der beiden unterschiedlichen Beschränkungen: Häufig ist formal nur eine Möglichkeit gegeben. Viele Komposita können formal nur Komposita sein. Bei einigen sind zwei Interpretationen möglich und dies wird von den beiden Beschränkungen jeweils gezeigt: Eine Interpretation Gottes Diener ist möglich, weil

172 Gottes in einer syntaktischen Relation (zu Diener) steht. Gottesdiener ist möglich, weil dies einer gängigen Komposition entspricht. Dies gilt natürlich nur für entsprechende Kontexte, in denen es tatsächlich beide Möglichkeiten gibt. Von den Beschränkungen wird dann jeweils eine Lösung ‚ausgewählt‘. Das morphologische Prinzip führt zur Zusammenschreibung, weil es eine mögliche morphologische Bildung ist; das syntaktische Prinzip führt zur Getrenntschreibung, weil eine syntaktische Analyse möglich ist. Letztendlich ist es aber angemessen, für die jeweiligen Kontexte beide Schreibungen zuzulassen. Dies ist zunächst einmal der Zwischenstand nach der Beschreibung einer ‚Kernwortbildung‘. Andererseits ist auch bei enger Zusammengehörigkeit die Interpretation als Wort häufig wegen der Form ausgeschlossen; hier führen beide Beschränkungen zur Getrenntschreibung. (4)

r. in Beziehung setzen, in Angriff nehmen, zur Diskussion stellen s. ins Auge gehen, übers Ohr hauen t. grüner Kloß

11.3.4 Die problematischen Fälle In vielen der bisher genannten Fälle kann die ‚Wortartigkeit‘ bereits in der Form gesehen werden. Bei den nachfolgenden Fällen ist das im allgemeinen nicht möglich. Das liegt zum großen Teil daran, dass die ‚ersten‘ Bestandteile systematisch nicht flektieren (s. auch Abschnitt 1.3.1). Außerdem sind in der Form entsprechende andere Fälle häufig syntaktisch zu analysieren, viele Fälle sind also strukturell doppeldeutig. So werden mitunter zwei mögliche Schreibungen strukturell hergeleitet; häufig sind auch beide angemessen. In manchen Fällen entsprechen jedoch nicht beide Schreibungen den Konventionen und auch nicht der Intuition der Schreiber. Wie ich zeigen werde, ist dies auch systematisch aus den Prinzipien herzuleiten (Stärke der Prinzipien). Viele der ‚Problemfälle‘ sind schon benannt. Bei den Komposita sind der Form nach die Adjektiv-Adjektiv-Komposita problematisch, die Komposition mit nicht und Verbindungen mit Stadtadjektiven. Verbindungen mit Verben sind ebenfalls zu nennen. Dabei sind insbesondere die trennbaren Verben problematisch. In diesem Abschnitt wird die Schreibung von Verb-Verbindungen mit ‚Präpositionen‘, mit Substantiven und mit Adjektiven erfasst. Verb-VerbVerbindungen des Typs kennenlernen sind Einzelfälle. Sie sind als solche syntaktisch eindeutig zu erkennen. Mögliche Kompositionen der Hauptwortarten untereinander sind damit vollständig. Es fehlen die Adverb-Verb-Verbindungen des Typs herunterfallen. Dieses Gebiet wurde in dieser Arbeit nicht behandelt.10 Die Partizipien werden hier extra behandelt, sie könnten auch Teil der Adjektivkomposition sein. Sie sind in der Komposition aber sehr viel produktiver als die Adjektive.

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Die in der Neuregelung aufgelisteten ‚adverbialen’ Erstglieder scheinen sehr beschränkt. Typischerweise sind es komplexe Adverbien, die eine Präposition enthalten (unter in her-unter, durch in hin-durch usw.). Die Zahl der Verben, mit denen sie jeweils in enge Verbindungen treten, scheint durchaus beschränkt. Hier wäre zu erwarten, dass das morphologische Prinzip greift. Wie die Wortbildung hier im einzelnen geregelt ist, müsste zunächst geklärt werden, bevor es zu einer Regel führen kann.

173 Diese Fälle können alle mit den beiden Prinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung behandelt werden. Dies werde ich im folgenden zeigen. Es gibt aber noch weitere Fälle, in denen zusammengeschrieben wird. Ein relativ deutlicher Bereich sind die Univerbierungen von Präpositionen. Wie dieser sich zu den Prinzipien verhält, beschreibe ich ebenfalls im folgenden Abschnitt. Trennbare Verben – Verbkomposita Zunächst zum ersten oben genannten Fall, den trennbaren (Verb-)Verbindungen. Hier sind drei große Gruppen zu beschreiben: die ‚klassischen‘ Partikelverben, die Substantiv-VerbVerbindungen des Typs radfahren, eislaufen, und die Adjektiv-Verb-Verbindungen des Typs weich kochen und des Typs krankschreiben. Partikelverben, in denen das Erstglied homonym zu einer Präposition ist, stellen hier den Kernbereich dar. Als morphologische Bildungen sind sie in der jüngeren Forschungsliteratur umstritten. (so zum Beispiel Lüdeling 2001). Hier hilft die Frage nach einer syntaktischen Interpretierbarkeit im Sinne des syntaktischen Prinzips. Als Präpositionen erfüllen sie nicht die vorgesehenen Funktionen für Präpositionen, sie erscheinen nicht innerhalb von Präpositionalgruppen, sie regieren kein Nominal. Damit ist Getrenntschreibung nach dem syntaktischen Prinzip nicht möglich, sie werden als graphematische Wörter gedeutet. Bei den durch Rückbildung entstandenen Verbindungen wirkt hingegen auch das morphologische Prinzip. Rückbildung ist ein spezieller morphologischer Prozess. Allerdings könnte man nun, was zum Beispiel Günther (1997) annimmt, überlegen, ob Holzhacken nicht rückgebildet wird, und entsprechend sind Rückbildungen aus Biertrinker, Parkettabschleifer und aus dem vielzitierten Wetterbeobachter denkbar. Das würde dann zur Zusammenschreibung der verbalen Infinitive führen (*biertrinken, *parkettabschleifen, *wetterbeobachten). Meines Erachtens gibt es gute Gründe, solche Schreibungen in einer Regelung zu verhindern. Den Hauptgrund möchte ich sehr informell formulieren: es entspricht nicht der Intuition der meisten Schreiber des Deutschen. Sehr wohl verstehen sie die besondere Stellung von Bildungen wie brustschwimmen. Der Unterschied kann über die syntaktische Funktion gefasst werden: Wetter ist Bestandteil eines möglichen direkten Objekt zu beobachten, brust ist kein mögliches direktes Objekt zu schwimmen (s. Abschnitt 2.2). Eine solche Analyse ist auch deswegen attraktiv, weil sie wesentlich von der Valenz des Verbs abhängt und sich damit über die Sprachgemeinschaft relativ (!) einheitlich erstrecken dürfte. Die Tests, die in den Abschnitten 2.1 und 2.2 vorgeführt wurden, dienen dann der Annäherung: wenn zum Beispiel die Erweiterbarkeit mit Artikel nicht möglich ist, so ist das schon ein erster Hinweis, dass das Substantiv in der speziellen Lesart kein Objekt ist usw. Entsprechend ist dann auch Partei ergreifen zu erfassen: ergreifen kann ein direktes Objekt regieren (s. auch Abschnitt 2.4). Entsprechend wird verhindert, dass ein Wort wie Machtergreifung aufgrund einer Rückbildung zu dem verbalen Infinitiv *machtergreifen führt. In den genannten Beispielen liegen syntaktische Relationen vor. Mit dem syntaktischen Prinzip wird getrennt geschrieben, nach dem morphologischem Prinzip wäre Zusammenschreibung möglich. Um Zusammenschreibung zu verhindern, muss das syntaktische Prinzip hier stärker sein als das morphologische Prinzip, an diesem Beispiel werde ich die ‚Stärke‘ der Prinzipien zeigen (Abschnitt 11.4). Bei den Adjektiv-Verb-Verbindungen habe ich eine spezielle syntaktische Konstruktion benannt: Karl kocht die Kartoffeln weich – Karl isst den Teller leer.

174 Hier handelt es sich um eine spezielle syntaktische Konstruktion: ein Verb wird transitiviert (wenn es noch nicht transitiv ist) und das Adjektiv bezeichnet eine Eigenschaft, die dem Objekt durch die Verbalhandlung zugeführt wird: er brüllt den Gefreiten wach – *er brüllt den Gefreiten (Zifonun u.a. 1997: 1114). Hier ist die syntaktische Beziehung zwischen Verb und Adjektiv nicht geklärt (s. Abschnitt 3.2.1); die Analyse macht aber deutlich, dass es sich zwischen Adjektiv und Verb um eine syntaktische und nicht um eine morphologische Beziehung handelt. Ein wesentliches Argument ist, dass Präpositionalgruppen hier die gleiche Wirkung haben können wie Adjektive und dass die ‚Wort‘-Lösung für Präpositionalgruppen nicht möglich ist (sie trinkt ihren Vater unter den Tisch – *sie trinkt ihren Vater). Parallel zu der transitiven Konstruktion gibt es eine reflexive: Karl arbeitet sich tot – Karl lacht sich tot. Auch hier scheinen parallele Konstruktionen mit Präpositionalgruppen möglich: er denkt sich in den Himmel – *er denkt sich. Bei beiden Konstruktionen handelt es sich nicht um Wortbildungen. Sie sind syntaktisch zu analysieren, damit ergibt sich für diese produktiven Resultativkonstruktionen Getrenntschreibung. Nun werden einige vergleichbare Verbindungen zusammengeschrieben: krankschreiben, feststellen, bekanntmachen usw. Diese entsprechen nicht der produktiven syntaktischen Konstruktion. Allerdings können sie transitiv sein. Nach dem morphologischem Prinzip sind sie zusammenzuschreiben, sie können Rückbildungen sein (Krankschreibung, Feststellung, Bekanntmachung). Wie wirkt hier das syntaktische Prinzip? Der erste Anhaltspunkt ist, dass feststellen und bekanntmachen nicht nur den Akkusativ regieren, sondern alternativ zum Beispiel dass-Sätze: sie stellt fest, dass sie ihren Schlüssel verloren hat; er macht bekannt, dass er bald heiratet. Damit geht es über den reinen Transitivierungseffekt hinaus, sie entsprechen nicht den oben genannten Formen. Sie sind damit lexikalisiert und werden eher zusammengeschrieben. Krankschreiben ist inhaltlich keine Resultativkonstruktion: In der Arzt schreibt den Patienten krank wird der Patient nicht krank durch das Schreiben. Krankschreiben entspricht nicht der produktiven syntaktischen Konstruktion, so dass es letztendlich syntaktisch nicht zu analysieren ist. Das morphologische Prinzip ist hier hilfreicher: es ist naheliegend, krankschreiben als Rückbildung von Krankschreibung zu analysieren. Das sind Einzelfälle, doch auch bei den durchsichtigen Konstruktionen gibt es für einige offenbar die Tendenz, sie zusammenzuschreiben, zum Beispiel solche mit dem Erstglied tot. Es wäre immerhin denkbar, hier Univerbierungen als Wortbildungsprozess anzunehmen. Schließlich haben die Adjektiv-Verb-Verbindungen einige Eigenschaften, die als typisch für Wörter gelten, bestimmte Stellungseigenschaften und auch die gemeinsame Valenz. Einzelne Lexikalisierungen und damit Univerbierungen sind hier zu erwarten. Jacobs (2005) nimmt als Kriterium für Wortbildung Reihenbildung an, dies führt er für tot aus. Das ist sicherlich angemessen, in den wenigsten Fällen meint tot ‚tot‘ im Sinne von ‚nicht lebend‘. Hier wird tot weitgehend bedeutungsentleert, es ist präfixartig. Wie ist dann totschlagen/ tot schlagen zu schreiben? Dies entspricht sehr häufig nicht dem reihenbildenden tot, denn in der Jäger schlägt den Hasen tot meint tot ‚tot‘ und es entspricht den Resultativkonstruktionen des Typs weich kochen. Hier könnte man zwei Schreibweisen zulassen. Möglicherweise ist die Zusammenschreibung auch in den anderen Verbindungen mit tot zu hinterfragen. Bei Verbindungen mit fest sieht es mit ‚Reihenbildung‘ anders aus: fest schrauben – feststellen. In den beiden Fällen ist fest nicht gleich zu analysieren: fest schrauben kann als

175 Resultativkonstruktion gelesen werden, festlegen hingegen nicht. Auch grammatisch verhalten sie sich anders, so können festlegen und feststellen Sätze als Objekte regieren: Karl stellt fest, dass er seinen Schlüssel verloren hat. Königin Beatrix legt fest, wann die Niederländische Botschaft eröffnet wird. Hingegen ist festsitzen intransitiv er sitzt auf dem Bahnhof fest usw. Einige Bildungen mit fest sind lexikalisiert, sie können nur als Wörter analysiert werden, die Resultativlesart ist nicht möglich. Nun wird festschrauben offenbar analog auch als Wort analysiert, zumindest findet man hier Zusammenschreibung. Das kann wie gesagt nicht über Reihenbildung begründet werden. Es ist einerseits eine Analogiebildung zu den anderen Bildungen mit fest-. Andererseits haben die Resultativkonstruktionen viele Worteigenschaften (s. Abschnitt 3.3). Dass festschrauben als ein Wort interpretiert wird, ist durch den ‚Druck von beiden Seiten‘ zu verstehen. Meines Erachtens führen aber sowohl das morphologische Prinzip als auch das syntaktische Prinzip nicht zur Zusammenschreibung. Analog gilt dies für tot, zumindest in Konstruktionen wie tot schlagen. Adjektiv-Verb-Verbindungen mit machen und stellen sind sehr häufig lexikalisiert, s. Abschnitt 3.5. Hier kann ein syntaktischer Unterschied zwischen solchen gemacht werden, die nur einen Akkusativ regieren können und solchen, die alternativ andere Ergänzungen nehmen können: er stellt das Fahrrad sicher – er stellt sicher, dass er den Antrag rechtzeitig abgegeben hat. Das würde hier zu einer Schreibung sicherstellen führen. Der Wortbildungsprozess könnte ‚Univerbierung‘ sein. Ich hatte in Abschnitt 3.5.3 überlegt, das Verb stellen besonders zu klassifizieren, als eine Art Funktionsverb, das Adjektive als Ergänzung nimmt. Dann wäre sicher stellen syntaktisch zu analysieren und entsprechend getrennt zu schreiben.11 Lexikalisierungen einzelner Verbindungen sind dabei immer möglich, aber nicht grundsätzlich mit den beiden Prinzipien zu erfassen. Adjektivkomposita Bei den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen sind von der Struktur her zunächst beide Analysen möglich: Neben Wörtern wie vollschlank stehen Syntagmen wie voll schlank (‚sehr schlank‘).12 In diesem Beispiel sind die Bedeutungen sehr verschieden, daher scheint es auch unabhängig von der Schreibung essentiell, die beiden unterscheiden zu können. Beide sind durch die Prinzipien gedeckt: In vollschlank handelt es sich um eine Wortbildung, in voll schlank ist voll Attribut zu schlank (nach Fuhrhop/Thieroff 2006). Wie kann jedoch der Unterschied erfasst werden? In Abschnitt 5.3.1 habe ich festgestellt, dass beide der ‚ersten‘ Positionen stark beschränkt sind, allerdings sind die Wortbildungen noch beschränkter. Sie sind quasi aufzählbar und bekommen daher den Status von ‚Halbpräfixen‘: eine Liste von Elementen mit entsprechenden Interpretationen. Diese bilden potentiell Komposita, im einzelnen Fall ist das jeweils zu prüfen. Wenn es Komposita sind, dann werden sie nach dem morphologischem Prinzip zusammengeschrieben.

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In dem Beispiel ist der dass-Satz von sicher regiert. Auch das legt eine syntaktische Analyse nahe und damit Getrenntschreibung. Die unterschiedliche Akzentuierung ist auch eine Folge der Unterscheidung von Wort und Syntagma und keinesfalls die Ursache.

176 Nicht Nicht wird als Wortbildungselement klassifiziert. Es kann sich mit Adjektiven, Partizipien und Substantiven verbinden. Auf der anderen Seite ist es weiterhin syntaktisch zu analysieren. Mit Verben kann es keine Wortbildungen eingehen, hier ist nicht im allgemeinen Adverbial. Auf Substantive kann es häufig nicht syntaktisch bezogen werden: Nichtmetall, Nichtmitglied, Nichtraucher (die Nichtmetalle sind eine chemische Klasse. *die nicht Metalle sind eine chemische Klasse). Hier handelt es sich eindeutig um Wortbildungen. In Verbindung mit Adjektiven ist beides möglich: die nicht (so) schönen Häuser – die nichtquadratischen Räume. Die syntaktische Interpretation entspricht der bei voll schlank (s. oben), auch Adverbien können diese Position einnehmen: die sehr schönen Kinder. Die Prinzipien lassen beide Schreibungen grundsätzlich zu. Allerdings macht es einen inhaltlichen Unterschied, ob eine Wortbildung vorliegt oder nicht, s. Kapitel 6. Substantiv-Partizip-I-Verbindungen Bei den Substantiv-Partizip-I-Verbindungen ermöglicht die Form in den meisten Fällen nur eine Interpretation: die freudestrahlenden Kinder – die vor Freude strahlenden Kinder. Der doppeldeutige Bereich entsteht insbesondere bei ‚alleinstehenden‘ Substantiven: bei pluralischen Formen, bei Stoffsubstantiven oder bei Eigennamen. Wenn diese dann auch noch direkte Objekte der zugrundeliegenden Verben sind, handelt es sich strukturell um einen doppeldeutigen Bereich: die bücherlesenden Kinder/ die Bücher lesenden Kinder, die biertrinkenden Fans/ die Bier trinkenden Fans, der brahmssingende Chor13/ der Brahms singende Chor. Hier sind beide Schreibungen zugelassen: Bei den Wörtern handelt es sich um reguläre Komposita, bei den Syntagmen um Partizipien mit ihren Ergänzungen. In bestimmten Kontexten kann diese Variation eingeschränkt sein. Wenn zum Beispiel das Partizip ergreifend prädikativ nicht möglich ist, sehr wohl aber besitzergreifend, so ist hier nur Zusammenschreibung angemessen: sie ist besitzergreifend, s. Abschnitt 8.2. Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen Auch bei Verbindungen von Adjektiven mit Partizipien I ist strukturell beides möglich: der hell leuchtende Stern – der hellleuchtende Stern, die hoch klingende Stimme – die hochtrabende Ankündigung. Tendenziell sind hier jedoch Unterschiede zu finden, so sollte wohl *schönsingend ausgeschlossen sein. Die Verbindungen habe ich in dieser Arbeit nicht weiter untersucht. Daher eine kurze Überlegung, ob und wie mögliche Komposita beschränkt sein können. Mit Vogel (1997: 410) können statische und dynamische Adjektive unterschieden werden: Statische Adjektive sind typischerweise ‚nominale‘ Adjektive, das heißt sie beziehen sich auf Substantive (weiß, sauer, hell), dynamische sind typischerweise ‚verbale‘ Adjektive, das heißt sie beziehen sich auf Vorgänge (schnell, leise, schrill). Die erste These lautet dann: ‚Nominale‘ Adjektive verbinden sich eher mit Partizipien I und bilden

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Diese Zusammenschreibung ist zu hinterfragen, Eigennamen sind sicherlich nicht ohne weiteres kompositionsfähig, das wäre eine Frage an die Wortbildung.

177 ein (komplexes) Adjektiv, ‚verbale‘ Adjektive bilden mit dem Partizip I eher ein Syntagma und erhalten damit den verbaleren Charakter des Partizip I (die schnell laufenden Kinder). Eine solche Analyse passt auf den ersten Blick zu dem Status des Partizip I im heutigen Deutsch, s. Abschnitt 8.1. Damit werden eher ‚nominale‘ Adjektive zu Kompositionserstgliedern, diese werden dann mit den entsprechenden Partizipien I zusammengeschrieben. Im prädikativen Kontext sind hier allerdings deutliche syntaktische Unterschiede zu machen. Wenn das Partizip I alleine nicht nach sein stehen kann, so ist ein entsprechendes Syntagma nicht analysierbar: *sie ist erziehend – *sie ist allein erziehend – sie ist alleinerziehend (vs. sie ist auch allein bedeutend/ *alleinbedeutend14). Beide Prinzipien greifen bei den Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen und geben häufig die Möglichkeit zu beiden Schreibungen, was dem System auch angemessen ist. Wie die Wortbildung von Adjektiv und Partizip I im einzelnen funktioniert, ist hier noch nicht geklärt, aber das erscheint als lösbares Problem. Partizip-II-Verbindungen Diese habe ich nicht explizit untersucht. Für substantivische Erstglieder gilt im wesentlichen, dass der Übergangsbereich nur klein ist: in den meisten Fällen ist die ‚erste‘ Einheit von der Form her eindeutig ein Wortbestandteil oder sie ist eindeutig syntaktisch selbstständig: Hertha ist abstiegsgefährdet, Hertha ist vom Abstieg bedroht – die abstiegsgefährdete Hertha, die vom Abstieg bedrohte Hertha. Hier ist kaum ein Übergangsbereich zu erwarten, weil bei dem Partizip II keine regierten Akkusative zu erwarten sind, sondern im allgemeinen Präpositionalgruppen: die goldbemalte Vase – die mit Gold bemalte Vase, die biergefüllten Gläser – die mit Bier gefüllten Gläser. Wenn die Präposition erscheint, handelt es sich um ein Syntagma, wenn sie nicht erscheint, dann handelt es sich um ein Wort. Das ist eine These, die das System nahelegt. Eine oberflächliche Sicht der Korpusliste aus Kapitel 8 bestätigt aber diese Ansicht. Bei den Adjektiv-Partizip-II-Verbindungen ist der Fall sehr viel komplizierter, das liegt daran, dass nur manche adjektivisch verwendet werden können, andere aber nicht (die gestrichene Wand – *die gefahrenen Studenten). Außerdem ist die Verwendung mit sein (und die mit werden) ganz anders zu bewerten; sie können auch Teile von analytischen Verbformen sein im Gegensatz zu den Partizipien I. Die adjektivisch verwendeten können Komposita und Syntagmen bilden, die verbalen nur Syntagmen. Insbesondere für die Verwendung nach sein ergeben sich hier ganz unterschiedliche Zuordnungen: das Kind ist gelaufen (verbal) – die Haare sind gefärbt (auch adjektivisch15). Dementsprechend ist schnell gelaufen nur syntaktisch möglich, bei blond gefärbt – blondgefärbt gibt es beide Möglichkeiten. Also zumindest die Verben, die ihr Perfekt mit sein bilden, sind hier ausgeschlossen; sie können keine prädikativen Strukturen mit sein bilden. Ansonsten bestehen beide Möglichkeiten: sowohl die Komposition (blondgefärbt, buntbebildert16) als auch eine syntaktische Modifikation des Adjektivs (blond gefärbt, bunt

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Für das Beispiel danke ich Ewald Lang. Auf die Diskussion um das Zustandspassiv lasse ich mich an dieser Stelle nicht ein. Beide Belege sind aus dem besagten Korpus.

178 bebildert). Kompositionen aus Adjektiven und Partizipien II führen mit dem morphologischen Prinzip zur Zusammenschreibung. Die Möglichkeit der syntaktischen Analyse führt mit dem syntaktischen Prinzip zur Getrenntschreibung. Das heißt nicht, dass sie gleichbedeutend sind; insofern sind diese Fälle vergleichbar mit den Adjektiv-Partizip-I-Verbindungen und den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen. Im Gegensatz zu den Adjektiv-AdjektivVerbindungen sind bei den Partizipien II sehr viel mehr Adjektive als Erstglieder zugelassen. Diesen Bereich kann man wirklich nur tendenziell regeln, wie gesagt geben die Prinzipien ja auch beide Schreibungen her. Die bei den Partizipien I beschriebene Tendenz kann auch hier gelten: je ‚verbaler‘ das modifizierende Adjektiv, desto weniger wird zusammengeschrieben. Strukturell zugelassen sind beide Schreibungen. Komplexe und ‚gesättigte‘ Präpositionen Die komplexen und gesättigten Präpositionen sind in dieser Arbeit selbst nicht untersucht worden. Sie wurden allerdings zur Erläuterung bestimmter Prozesse in der Einleitung herangezogen (s. Abschnitt 1.5.2). So sind sie typische Kandidaten für den Prozess der Univerbierung.17 Auf der einen Seite ergeben sich die komplexen Präpositionen wie anhand, anstelle, aufgrund, infolge, auf der anderen Seite Adverbien wie zustande, infolgedessen, imstande. Bei allen – bis auf imstande – könnte man anführen, dass die Artikel ‚fehlen‘, sie bilden keine (vollständige) Präpositionalgruppe und sind damit nicht ohne weiteres syntaktisch zu analysieren. Weiterhin haben die entstehenden Präpositionen obligatorische Rektion; bei einer syntaktischen Analyse müsste auch an Stelle möglich sein, also ohne weiteren Genitiv: Als Substantiv regiert Stelle den Genitiv fakultativ und nicht obligatorisch. Analysiert man anstelle insgesamt als Wort, so kann man es insgesamt als Präposition interpretieren, eine obligatorische Kasusrektion ist dann kategorial gegeben. Neben dem Wortbildungsprozess der Univerbierung ist hier auch die syntaktische Interpretation als komplexe Präposition gegeben, also lässt sich die Zusammenschreibung herleiten. Bei den Adverbien ist eine solche Analyse nicht gegeben. Hier kann bei einigen Fällen (hier zustande) der fehlende Artikel zumindest zu einer eingeschränkten syntaktischen Analysierbarkeit führen. Nun ist besonders interessant, dass auch imstande mitunter zusammengeschrieben wird. Die Verschmelzung im führt ja zumindest dazu, dass kein weiterer Artikel hier steht, unabhängig davon, ob man die Verschmelzung selbst als ‚artikelhaltig‘ interpretiert (*im einen Stande/ *in einem Stande). Im Stande ist syntaktisch zu analysieren. Warum die Interpretation als ein Wort möglich ist, müsste die Wortbildung zeigen. Bei der Analyse der ‚Stärke der Prinzipien‘ (s. Abschnitt 11.4) werde ich noch einmal darauf eingehen, auch warum zurzeit so häufig zusammengeschrieben wird. Dass imstande lexikalisiert ist, wird auch an dem obsoleten Dativ-e deutlich.

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Allerdings ist die entstehende Wortart nicht vorauszusehen: aufgrund, anstelle, anhand sind Präpositionen, zustande, imstande, infolgedessen sind Adverbien. So könnte man die Entstehung der Präpositionen als Univerbierung, die der Adverbien als Inkorporation sehen. Die Präpositionen inkorporieren das regierte Substantiv, sind dann ‚gesättigt’ und somit keine Präpositionen mehr, sondern Adverbien.

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11.4 Das morphologische Prinzip ↔ Das syntaktische Prinzip Die Prinzipien der Zusammenschreibung wirken beide gleichzeitig. Im allgemeinen liefern sie auch die gleichen Ergebnisse. Wenn sie zu unterschiedlichen Schreibungen führen, so ist das im allgemeinen angemessen. Beide Schreibungen müssen im System möglich sein. Wenn ausschließlich das morphologische Prinzip wirken würde, ergeben sich folgende Probleme: – Es wäre denkbar, eine Liste der möglichen Wortbildungen zu erstellen. Dass dies nicht sinnvoll ist, zeige ich an einem trivialen (5a) und einem komplexen Fall (5b): (5) a. himmelblau – Leo malt den Himmel blau b. schwer behindert – schwerbehindert: er ist durch den Rucksack schwer behindert/ *schwerbehindert – er ist schwerbehindert

Je nach Kontext handelt es sich um unterschiedliche Konstruktionen. Nun könnte himmelblau als Wortbildung ‚aufgelistet‘ sein – in dem Satz Leo malt den Himmel blau ist dies völlig unangemessen, zum Beispiel weil Himmel ein Substantiv ist und hier auch ein Substantiv zu erwarten ist, ein Wort himmelblau aber primär ein Adjektiv ist. Das heißt, das morphologische Prinzip gibt die grundsätzliche Möglichkeit, himmelblau als ein Wort zu interpretieren. Auf der anderen Seite sind sowohl Himmel als auch blau jeweils Wörter, sowohl morphologisch als auch syntaktisch. Im konkreten Fall (Leo malt den Himmel blau) erlaubt das syntaktische Prinzip nicht die Interpretation von Himmel und blau als ein Wort. Grundsätzlich wirken die Prinzipien auch beide im Beispiel (5b), aus bestimmten Gründen ist hier der Unterschied zwischen Wort und Syntagma geringer, sowohl formal als auch semantisch. Und sehr häufig sind formal beide Möglichkeiten gegeben und der Unterschied liegt allein in der Bedeutung. Hinzu kommt, dass Wortbildungen mitunter schwer zu erkennen sind. Das zeigt Jacobs (2005) ausführlich und auch in meinen Analysen ist das ein wichtiger Punkt. Dabei sind Wortbildungen mit Affixen unproblematisch, doch schon bei der Komposition sind viele Fälle nicht klar, man muss es schon auf eine ‚eigentliche‘ Komposition beschränken, um hier relative Klarheit zu haben. Univerbierungen und Rückbildungen zu erkennen, ist noch schwieriger. Das syntaktische Prinzip ist dafür eine wichtige Hilfe. Außerdem müssen gewisse Univerbierungen und Rückbildungen ausgeschlossen werden, bzw. sie führen gerade nicht zur Zusammenschreibung (*biertrinken). Jacobs (2005: 44) diskutiert den Fall das Auf-ihn-Einreden. Er nimmt hier an, dass als letzter Schritt ein morphologischer wirkt. Nun ist in einer gängigen Interpretation, die auch an anderer Stelle in dieser Arbeit vertreten wird (Abschnitt 8.1), der einfache substantivische Infinitiv nicht Produkt einer Wortbildung, sondern einer syntaktische Umkategorisierung. Außerdem ist nach meiner Beschreibung des Kernbereichs der Getrennt- und Zusammenschreibung ein Erstglied Auf-ihn- sehr misslich. Alle Fälle, von denen ich meine, dass man bereits an der Form erkennen kann, ob es sich um ein Erstglied handeln kann oder nicht, müssen dann anders begründet werden. Mit dem syntaktischen Prinzip hingegen ist

180 es kein Problem: Eine Präpositionalgruppe kann in dem genannten Kontext keine syntaktische Funktion haben, hier führt das eindeutig zur Zusammenschreibung.18, 19 Das syntaktische Prinzip alleine regelt aber auch nicht die Getrennt- und Zusammenschreibung. So haben wir formal viele doppeldeutige Fälle, besonders deutlich sind die Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen oder die Verbindungen von Adjektiven mit nicht. Sie sind grundsätzlich syntaktisch zu analysieren, dennoch sind sie manchmal Wörter. Mit dem morphologischen Prinzip sind sie jedoch zu erfassen. So wirken die beiden Prinzipien ineinander und man kann große Teile der Getrennt- und Zusammenschreibung damit erfassen. 11.4.1 Stärke der Prinzipien Ich habe bei den einzelnen Fällen beide Prinzipien angewandt. Zu Beginn habe ich die ‚Stärke‘ der Prinzipien angesprochen. In der Grundidee meint das folgendes: Im morphologischen Prinzip sind verschiedene Wortbildungen zusammengefasst: Affigierung, Komposition, Univerbierung und Rückbildung. Nun können Affigierung und Komposition als typische Wortbildungen für das Deutsche gelten, Univerbierung und Rückbildung als weniger typische oder untypische Wortbildungen. Als Beispiele erläutere ich *biertrinken: *Biertrinken wäre eine denkbare Rückbildung, zum Beispiel von Biertrinker, sie geschieht aber nicht, weil die Wortbildungsart unterschiedlich stark ist. Eine Komposition ist unumstößlich ein Wort, dagegen wird eine Rückbildung oder Univerbierung nur als solche analysiert, wenn das syntaktische Prinzip nicht greift. Daher wird *biertrinken nicht zu einem Wort rückgebildet, brustschwimmen hingegen schon. Die stärksten Relationen, die sich in der Grammatik finden, sind die vom Verb zum Objekt und zum Subjekt. Das sind die Grundkonfigurationen der Syntax schlechthin. Andere Relationen sind ‚schwächer‘. Dazu als Beispiel die Univerbierung von Präpositionalgruppen zu Adverbien: In Abschnitt 11.3.4 habe ich überlegt, warum auch imstande und zurzeit mitunter zusammengeschrieben werden, obwohl sie syntaktisch vollständig sind und auch zu analysieren. In einer syntaktischen Analyse wird zur Zeit als Präpositionalgruppe analysiert, die in den meisten Fällen ein Adverbial sein dürfte. Ein Wort zurzeit wird als Adverb analysiert – hier unterscheiden sich die Konstruktionen deutlich. Das Adverb dürfte aber auch in den meisten Fällen ein Adverbial sein. Die internen Strukturen sind unterschiedlich, für den gesamten Satz ist dieser Unterschied aber geringfügig. Wenn hingegen ein Objekt nicht als Objekt analysiert wird, so ist das in einer verbbezogenen Grammatik eine Katastrophe. Die unterschiedlichen Relationen sind unterschiedlich stark.

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Maas (1992: 188ff.) entwickelt seine Systematik der Getrennt- und Zusammenschreibung größtenteils nicht an ‚Wörtern’ im derivationsmorphologischen Sinne, sondern an derartigen syntaktischen ‚Wörtern’: Ab heute ist Schluß mit dem Dicke-Zigarren-Rauchen (Maas 1992: 191). Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Bindestrichschreibung kommentieren. Im allgemeinen wird in den Regeln davon ausgegangen, dass der Bindestrich mehr oder weniger eine stilistische Variation oder eine Variante für besondere Fälle der Zusammenschreibung ist. Hier dient es aber für Zwischenkategorien: Syntaktisch sind die Verbindungen ein Wort, (derivations-)morphologisch können sie es aber aus formalen Gründen nicht sein. Von der morphologischen Seite her sind dies Phrasen.

181 Bei beiden Prinzipien habe ich Beispiele dafür genannt, wo ‚Stärke‘ sichtbar wird. Das kann dazu führen, dass manchmal das eine Prinzip und manchmal das andere Prinzip die Oberhand gewinnt. Es hängt davon ab, wie stark die beiden Prinzipien ausgeprägt sind, und das kann genau gezeigt werden. Mit dem Zusammenwirken des morphologischen Prinzips und des syntaktischen Prinzips kann man große Teile der Getrennt- und Zusammenschreibung erfassen und hat eine gute Grundlage dafür zu sagen, was ein Wort ist und was ein Syntagma. 11.4.2 Keine Hierarchie der Prinzipien Das morphologische und das syntaktische Prinzip stehen in keiner Hierarchie zueinander. Sie wirken immer beide. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied zu Jacobs’ Beschreibung der Getrennt- und Zusammenschreibung. Er ordnet die Constraints im Rahmen der Optimalitätstheorie, sie müssen die immer gleiche Ordnung aufweisen. Oben habe ich das schon an dem Beispiel himmelblau – Himmel blau beschrieben. Bei allen in dieser Arbeit behandelten Fällen handelt es sich um Verbindungen von zwei oder mehr Stämmen. Damit können sie sowohl syntaktisch als auch morphologisch selbstständige Wörter sein. So sind sowohl Haus, Tür als auch Haustür morphologisch und syntaktisch Wörter. Nehmen wir wiederum die folgenden Fällen zur Veranschaulichung: der Tischler liefert Haustüren und der Tischler liefert an jedes Haus Türen. Von der Morphologie her sind jeweils beide Möglichkeiten gegeben, weil sie eben Wörter sind; zwei der drei Wörter sind einfache Wörter, eins ist komplex. Syntaktisch können sie prinzipiell alle selbstständig sein. Nichtsdestotrotz ist weder *der Tischler liefert Haus Türen noch *der Tischler liefert an jedes Haustüren grammatisch. Dies kann nicht erfasst werden durch das morphologische Prinzip, sehr wohl aber durch das syntaktische, die ungrammatischen Sätze sind syntaktisch nicht zu analysieren. Eine Ordnung der Prinzipien wäre hier überflüssig und der Sache nicht angemessen. Das morphologische Prinzip stellt die Möglichkeiten bereit, mit dem syntaktischen Prinzip wird zwischen den Möglichkeiten ausgewählt.

11.5 Vorschlag für eine Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung Für eine Arbeit wie die vorliegende stellt sich auch die Frage, ob die Ergebnisse umsetzbar sind. Daher werde ich im folgenden eine mögliche Regelung vorstellen. Dabei geht es nicht um ein Besserwissen; die Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung vom Juni 2005 verträgt sich durchaus mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit. Hier geht es vielmehr darum, eine ‚vollständige‘ Regelung darzulegen, also nicht wesentlich die Zweifelsfälle zu behandeln, sondern auch den Kernbereich. Immer wieder stellt man fest, dass Regelungen so gelesen werden, als müsste man sie verstehen können. Das ist sicher nicht der Anspruch der genannten Regelungen. Grundlegendes Prinzip: Was ein Wort ist, wird zusammengeschrieben. Mehrere Wörter (Syntagmen) werden getrennt geschrieben.

182 Kommentar: Was zusammengeschrieben wird und was nicht zusammengeschrieben wird, ist grammatisch zu entscheiden. Wenn klar ist, was ein Wort ist, dann ist auch die entsprechende Schreibung klar. Bei einfachen Wörtern ist dies völlig unproblematisch, bei komplexen ist es in den allermeisten Fällen auch klar. Die Bestimmung, was ein Wort ist, erfolgt von zwei Seiten, einmal von der Wortebene und einmal von der Satzebene. Hierzu die folgenden Prinzipien: (1) Das morphologische Prinzip: ‚Verbindungen‘ aus zwei oder mehr Stämmen werden zusammengeschrieben, wenn sie aufgrund einer Wortbildung miteinander verbunden sind. (2) Das syntaktische Prinzip: Einheiten, die syntaktisch analysierbar sind, sind selbstständig. Sie werden getrennt geschrieben.

In den meisten Fällen führen beide Prinzipien zu der gleichen Schreibung. Für die gesamte Wortbildung mit unselbstständigen Einheiten ist die Zusammenschreibung sofort einsichtig: Wissenschaftlerin, wissenschaftlich, verlaufen. Sie sind durch Wortbildung entstanden und die (unselbstständigen) Affixe sind syntaktisch nicht analysierbar. Die meisten Komposita sind eindeutig als solche zu erkennen: Haustür, Haustürschlüssel, Fußballweltmeisterschaftsqualifikationsspiel, Rotwein, Backform, Unterhose. Auch viele komplexe Adjektive sind unproblematisch: himmelblau, meilenweit, süßsauer usw. Das morphologische Prinzip erfasst die Fälle, die durch Wortbildung entstanden sind. Das syntaktische Prinzip kann hier auch zur Zusammenschreibung führen, wenn sie als ein syntaktisches Wort auftreten: sie trinkt Rotwein – sie trinkt (obwohl schon) blau Wein, sie kauft neue Backformen – back Formen (wie back Kuchen). Wir wenden also im unproblematischen Bereich stets beide Prinzipien an; das morphologische Prinzip eröffnet bestimmte Möglichkeiten vor, mit dem syntaktischen wird die konkrete Verwendung analysiert. Bei den Verben ergibt sich folgendes Problem: Im Deutschen gibt es trennbare Verben; in Kontaktstellung werden sie zusammengeschrieben: Wir wollen jetzt anfangen, wir fangen jetzt an. Anfangen ist ein Wort: dies ist intuitiv kein Problem. Sie sind durch Wortbildung entstanden und an ist syntaktisch in diesen Fällen nicht zu analysieren. Daneben gibt es Verbindungen, die sich zum Teil analog verhalten, s. Substantiv-Verb-Verbindungen und Adjektiv-Verb-Verbindungen. Diese bedürfen einer Erläuterung (s. unten). Der ‚problematische‘ Bereich kann folgendermaßen beschrieben werden: Zwei Stämme, die selbstständig auftreten können, entwickeln gemeinsam Worteigenschaften. Die regelmäßige produktive Komposition wirft keinerlei Probleme auf. Fragliche Fälle entstehen durch wenig produktive, kompositionsähnliche Wortbildungsprozesse (allen voran die Univerbierung und die Rückbildung). Diese sind zum großen Teil mit dem syntaktischen Prinzip eindeutig zu regeln. Eine Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung wird nicht auskommen ohne Einzelauflistungen; allerdings erscheint es sinnvoll, derartige Einzelnennungen vor dem Hintergrund von größeren Gruppen zu betrachten. Im folgenden werden Verbindungen mit Verben erläutert, jeweils geordnet nach dem entsprechenden Erstglied. Anschließend werden Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen erläutert. Zwischen Verben und Adjektiven stehen grammatisch die Partizipien; sie folgen in der systematischen Betrachtung. Übergreifend für die Adjektive und Partizipien hat die Wortbildung mit nicht zu gelten. Den Schluss bilden einige Bemerkungen zu den komplexen Präpositionen. Dies sind die Fälle, bei denen es systematisch zu Doppeldeutigkeiten und mitunter zu Unklarheiten in der Schreibung kommt. Diese werden hier systematisch er-

183 läutert. Ansonsten ist festzuhalten, dass auch eine Bestandsaufnahme der ‚üblichen‘ Getrennt- und Zusammenschreibung nicht völlig ohne Einzelfestlegungen auskommt. Diese sollten jedoch so gering wie möglich ausfallen. Kriterien wie Modifizierbarkeit usw. dienen nur zur Erkennung. Sie sind damit Hilfsmittel und nicht Teile der Regeln. 11.5.1 Trennbare Verbindungen mit Verben Präposition-Verb-Verbindungen Verbpartikeln sind Wortbildungselemente. Mit ihnen werden Wörter gebildet. Verbpartikeln haben keine eigenständige syntaktische Funktion. Sie werden mit dem Verb zusammengeschrieben. Wie erkennt man aber, ob etwas eine Verbpartikel ist? Präpositionen sind dadurch definiert, dass sie ein Nominal regieren. So ist das Hauptkriterium, sie als Verbpartikel zu erkennen, dass sie im konkreten Fall kein Nominal regieren: Maria hängt das Bild an die Wand – Maria will das Bild an die Wand hängen Maria hängt das Bild an – Maria will das Bild anhängen

So auch: ab, auf, gegen, mit, nach, um, ..... Adverb-Verb-Verbindungen Hier müsste eine Regel zu Schreibungen wie herunterfallen usw. folgen. Wie gesagt steht hier die notwendige grammatische Untersuchung noch an. Viele der vermeintlichen Adverbien kommen aber ausschließlich mit bestimmten Verben vor, damit rücken sie in die Nähe von reinen Wortbildungselementen. Hinzu kommt, dass viele dieser Einheiten eine spezielle Strukturen haben: hin-/her-/dar- + Präposition (hindurch, herunter, hinüber usw.). Substantiv-Verb-Verbindungen In gewissen Substantiv-Verb-Verbindungen haben die Substantive keine syntaktische Funktion. Wenn die Substantive keine syntaktische Funktion haben, so sind sie Wortbestandteile (zum Beispiele eislaufen, brustschwimmen usw.). Wie ist zu erkennen, ob ein Substantiv in der konkreten Verbindung eine syntaktische Funktion hat? Eine naheliegende syntaktische Funktion ist häufig die des direkten Objekts. Wenn die substantivische Einheit im Singular steht ohne weitere Ergänzungen, das heißt ohne Artikel und ohne Attribute und diese auch nicht ohne weiteres ergänzt werden können, dann ist das Substantiv nicht syntaktisch selbstständig und kann keine syntaktische Funktion haben. Hilfsbedingungen: – Das entsprechende Verb regiert auch sonst kein direktes Objekt: ich schwimme brust – *ich schwimme einen Kuchen (wie in ich erschwimme einen Kuchen). – Das Substantiv ist kein Stoffsubstantiv und kein Abstraktum.

184 – Wenn gar nicht alle Formen möglich sind, wie zum Beispiel wir wollen bausparen, aber *wir sparen bau. – Getrenntschreibung ist grundsätzlich nur möglich, wenn alle Formen bildbar sind.

Die Regelung vom März 2006 unterscheidet hier mit Hilfe der ersten Hilfsbedingung, und zwar nach der Natur des Verbs. Kann dieses kein direktes Objekt regieren, wird zusammengeschrieben. Daher ist nach dieser Regelung Rad fahren zu schreiben, aber brustschwimmen. Adjektiv-Verb-Verbindungen Mitunter entwickeln Adjektiv-Verb-Verbindungen ‚wortartige‘ Eigenschaften. Folgende typische Verbindungen hat das Deutsche für Adjektive und Verben: 1. Adjektive sind freie Angaben zu Verben: er läuft schnell – schnell laufen 2. Adjektive sind Ergänzungen zu Verben: er sieht gut aus 3. Spezialfall der sogenannten Resultativkonstruktion (s. Kapitel 3)

Verbindungen, die nicht den drei genannten entsprechen, sind syntaktisch nicht analysierbar, sie sind durch Wortbildungsprozesse entstanden und werden zusammengeschrieben. Die Resultativkonstruktion entwickelt von den genannten die meisten wortartigen Eigenschaften, daher sind die zur Rede stehenden Komposita insbesondere von diesen abzugrenzen. Die Resultativkonstruktionen sind folgendermaßen zu charakterisieren: – Adjektive sind hier freie Angaben, sie beziehen sich auf das Objekt und sind als Resultat der Verbhandlung zu verstehen: Karl putzt den Boden blank, Karl will den Boden blank putzen. Diese Konstruktion hat insbesondere schon Worteigenschaften, weil sie in der Wortstellung nicht völlig frei sind (*Karl putzt blank den Boden – Karl putzt müde/ schnell den Boden) – Diese Konstruktionen entwickeln gemeinsam die Valenz: *Luise isst den Teller, Luise isst den Teller leer, *der Dozent redet seine Studenten – der Dozent redet seine Studenten müde. – Wenn es sich um diese durchsichtige Konstruktion handelt, so wird getrennt geschrieben. Alle Abweichungen von der Konstruktion (und den in 1. und 2. genannten) können zur Zusammenschreibung führen.

Mögliche Abweichungen sind: – Die Konstruktion ist insgesamt weder reflexiv noch transitiv. – Die Konstruktion wird nicht grundsätzlich transitiv gebraucht, dennoch hat die Adjektiv-VerbVerbindung eine andere Valenz als das Verb alleine: genaunehmen, feststellen, ... – Die Konstruktion ist intransitiv (fernsehen, schwarzarbeiten) oder kann intransitiv verwendet werden (die Erbsen sollen weichkochen, nicht: Karl soll die Erbsen weich kochen). – Das Adjektiv ist keine Eigenschaft des Objekts nach der Handlung: Er lacht sich tot – wahrscheinlich ist derjenige hinterher nicht tot – in den meisten Fällen wird ‚tot‘ hier in einer übertragenen Bedeutung verwendet. Der Arzt schreibt den Patienten krank – der Patient wird nicht durch das Schreiben des Arztes krank.

185 Er stellt den Verlust fest – der Verlust wird nicht fest durch das Stellen. – Verbindungen von Adjektiven mit dem Verb sein werden grundsätzlich getrennt geschrieben; es handelt sich hierbei um einen speziellen Typ von Verb, um ein Kopulaverb, das Adjektive als Ergänzung nimmt (die Kekse sind süß/ teuer/ hart/ alt)

Kommentar: Weil die Adjektiv-Verb-Verbindungen insgesamt eine Valenz entwickeln (häufig hat das Verb alleine eine andere Valenz), ist grundsätzlich Zusammenschreibung erlaubt. Ein bestimmtes Muster von ‚Valenzänderung‘ ist aber im heutigen Deutschen voll produktiv: die transitive Resultativkonstruktion. Für Verbindungen nach diesem Muster ist Getrenntschreibung angemessen. Für alle ‚unregelmäßigen‘ Bildungen hingegen wird Zusammenschreibung empfohlen. Die Regelung vom Juni 2005, beschlossen im März 2006, ist hier toleranter und erlaubt bei den Resultativkonstruktionen sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung. Verb-Verb-Verbindungen Einige Verb-Verb-Verbindungen sind syntaktisch nicht vollständig analysierbar; sie sind Einzelfälle und sollten auch als Einzelfälle aufgelistet werden. – Kennenlernen: lernen kann einfache Infinitive regieren, im allgemeinen besteht alternativ die Möglichkeit des zu-Infinitivs: ich lerne tanzen – ich lerne zu tanzen, ich lerne lesen – ich lerne zu lesen usw., aber: *ich lerne zu kennen. – Spazierengehen/ spazierenfahren: gehen und fahren können sich ebenfalls mit einfachen Infinitiven verbinden: ich gehe schwimmen, ich fahre schwimmen, dies ist zu paraphrasieren: ‚ich gehe zum Schwimmen – ich gehe, um zu schwimmen‘. Bei spazierengehen ist eine solche Paraphrasierung nicht möglich – Sitzenbleiben, hängenbleiben, stehenbleiben usw. bleiben kombiniert nur mit wenigen einfachen Infinitiven: sitzen, hängen, stehen, liegen, wohnen, s. Abschnitt 4.3. Besondere Bedeutungen bilden sich hier heraus, am deutlichsten für sitzenbleiben.

11.5.2 Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen Bei vielen Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen ist das Zweitglied alleine nicht möglich: hochhackig – *hackig, dickköpfig – *köpfig. Diese sind durch Wortbildungsprozesse entstanden und damit zusammenzuschreiben. Bei den Adjektiven gibt es eine beschränkte ‚Determinativkomposition‘: altklug, bitterböse, neureich. Dies sind Wortbildungen und sie werden zusammengeschrieben. Man erkennt sie zum großen Teil daran, dass sich die Bedeutung nicht aus den Bestandteilen herleiten lässt; die Bedeutung ist gelernt. Regulärer sind ‚Kopulativkomposita‘: süßsauer, blaurot usw. Erst- und Zweitglied sind austauschbar ohne Bedeutungsänderung (blaurot gestreift – rotblau gestreift). Man erkennt sie insbesondere daran, dass es sich um Verbindungen zweier Adjektive aus gleichen ‚Bedeutungsklassen‘ handelt (süß und sauer sind Geschmacksbeschreibungen, blau und rot Farben).

186 Der problematische Bereich ist der, in dem Adjektive andere Adjektive ‚modifizieren‘. Dies passiert entweder per Wortbildung oder per syntaktischer Modifikation: Häufig ist die Modifikation in einem Wort lexikalisiert (also als Kompositionserstglied): sie ist vollschlank (‚füllig‘, nach Wahrig 2002) – sie ist voll schlank (‚sie ist sehr schlank‘). In den syntaktischen Konstruktionen sind nur Adjektive möglich, die graduierend sind: er ist schön blöd (≈ ‚er ist sehr blöd‘, hier ist nicht schön in seiner eigentlichen Bedeutung gemeint). Als Kompositionserstglieder sind nur sehr wenige möglich: extra, halb, hoch, leicht, minder, ober, schwer, voll. Mit ‚Materialadjektiven‘ finden sich auch rein und ganz (reinseiden, ganzseiden). Daneben sind Superlativformen möglich: höchst, größt, best. Insbesondere höchst kann sowohl als Kompositionserstglied (höchstwahrscheinlich) oder als Attribut (höchst ärgerlich) gebraucht werden. Größt- und best- sind im heutigen Deutsch wohl ausschließlich Kompositionserstglieder. 11.5.3 Partizip-Verbindungen Substantiv-Partizip-I-Verbindungen Das Partizip I ist ein adjektivischer Infinitiv, er befindet sich damit zwischen einem Adjektiv und einem Verb. Als Verb kann es Ergänzungen nehmen, als Adjektiv kann es Komposita bilden. Bei Verbindungen mit Substantiven ergibt sich damit folgendes: Tritt das Substantiv nicht alleine auf, also zum Beispiel mit einem Artikel oder einem Attribut, so liegt ein Syntagma vor und die Verbindung wird nicht zusammengeschrieben: die das Lied singenden Kinder, die das kühle Bier trinkenden Fans

Zur Debatte stehen nur Substantive, die alleine auftreten und vom zugrundeliegenden Verb als Akkusativ regiert werden. Substantive, die im Singular stehen, keine Stoffsubstantive sind und keine Eigennamen, können im Deutschen nicht alleine auftreten. Einige Abstrakta können ebenfalls artikellos auftreten. Treten solche Substantive ohne weitere Begleiter (zum Beispiel einen Artikel auf), so wird zusammengeschrieben: die allergieauslösende Substanz – *die Allergie auslösende Substanz (*die Substanz löst Allergie aus/ die Substanz löst eine/die/keine Allergie aus/ die Substanz löst Allergien aus)

Fugenelemente zeigen immer Worthaftigkeit an, hier ist nur Zusammenschreibung möglich: entzündungshemmende Salbe, richtungsweisende Arbeit

Doppeldeutige Fälle gibt es bei – Stoffsubstantiven: die biertrinkenden Fans/ die Bier trinkenden Fans, die fleischfressenden/ Fleisch fressenden Pflanzen – Pluralformen: die bücherlesenden Kinder/ die Bücher lesenden Kinder – Abstrakta: die besitzergreifende Ehefrau/ die Besitz ergreifende Ehefrau – Eigennamen: der brahmssingende Chor/ der Brahms singende Chor

187 Bei Verbindungen mit Eigennamen (der Brahms singende Chor) erscheint Getrenntschreibung im allgemeinen angemessener. Strukturell verbieten kann man die Zusammenschreibung aber nicht. Verbindungen im prädikativen Gebrauch müssen zusammengeschrieben werden. die Ehefrau ist besitzergreifend, die Industrie ist abfallerzeugend, diese Pflanzen sind fleischfressend

Das Partizip I kann hier nicht alleine stehen, deswegen handelt es sich eindeutig um Komposita: *die Ehefrau ist ergreifend (nur möglich mit einer anderen Bedeutung), *die Industrie ist erzeugend, *diese Pflanzen sind fressend. Dies entspricht der Regelung von Juni 2005/ März 2006. Adjektiv- Partizip-I-Verbindungen Grundsätzlich ist hier sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich. Wenn das Adjektiv jedoch sehr ‚verbal‘ ist (Vogel 1997: 410) wie schnell, leise, schrill, dann ist eher Getrenntschreibung angebracht: die schnell laufenden Kinder. Hilfsbedingungen für Verbindungen mit dem Partizip I: Kann eine Verbindung mit dem Partizip I gesteigert werden und/ oder prädikativ verwendet werden, so wird sie zusammengeschrieben: Paul ist besitzergreifend, Maria ist alleinerziehend, das Ereignis ist aufsehenerregend Paul ist besitzergreifender als sein Vorgänger, dieses Ereignis ist aufsehenerregender als andere

Substantiv-Partizip-II-Verbindungen Partizip I und Partizip II unterscheiden sich grundsätzlich. So kann das Partizip II in Verbformen auftreten im Gegensatz zum Partizip I: *Peter ist laufend – Peter ist gelaufen. Andererseits kann es auch adjektivisch verwendet werden und ist hier zum Beispiel auch komparationsfähig: das gelungene Buch – die gelungenere Fassung. Das führt zu einer ganz anderen Bewertung des Partizip II, insbesondere für den Gebrauch mit den Verben sein und werden. Im attributiven Gebrauch wird es wie ein Adjektiv behandelt. In (nahezu) allen Fällen ist die ‚erste‘ Einheit von der Form her eindeutig ein Wortbestandteil oder sie ist eindeutig syntaktisch selbstständig: die glasbehängte Fassade – die mit Glas behängte Fassade. Dies gilt auch für den Gebrauch mit sein: die Fassade ist glasbehängt – die Fassade ist mit Glas behängt. Adjektiv-Partizip-II-Verbindungen Hier sind viele Fälle doppeldeutig. Ausgeschlossen ist die Zusammenschreibung bei Partizipien II von Verben, die ihr Perfekt mit sein bilden: das Kind ist gelaufen – das Kind ist schnell gelaufen (nicht: *schnellgelaufen). Ansonsten handelt es sich um Bedeutungsunterschiede, zum Beispiel: die Stadt ist dicht besiedelt – die Stadt ist dichtbesiedelt (‚definierter‘ ).

188 Nicht als Wortbestandteil Nicht kann sowohl Wortbestandteil sein, als auch selbstständiges Wort. Es ist insbesondere ein inhaltlicher Unterschied: Handelt es sich bei der Negation um eine replazive oder nichtreplazive (folgt eher ein Anschluss mit aber oder einer mit sondern)? Ist eine weitere Negation mit nicht möglich? Wie sind die Implikationen? 11.5.4 Komplexe Präpositionen Einige Präposition-Substantiv-Verbindungen sind im Laufe der Sprachgeschichte zusammengewachsen, entsprechend werden sie zusammengeschrieben: anhand, anstelle usw. Dass sie zusammengewachsen sind, erkennt man daran, dass sie insgesamt Präpositionen sind, als solche müssen sie ein Nominal regieren: er erklärt ihr die Regel anhand vieler Beispiele – *er erklärt ihr die Regel anhand/ *an Hand

In den meisten Fällen erkennt man die Univerbierung an dem ‚fehlenden‘ Artikel: er erklärt ihr die Regel anstelle des Dozenten – *er erklärt ihr die Regel an Stelle des Dozenten, er erklärt ihr die Regeln an seiner Stelle

Mitunter wachsen so auch Adverbien zusammen: imstande, zuzeiten, zurzeit. Diese sind zum Teil an inzwischen ‚unüblichen‘ Formen zu erkennen (Stande in zustande, imstande usw.). Bei anderen erkennt man das Zusammenwachsen im wesentlichen daran, dass das Zweitglied nicht ohne weiteres erweiterbar ist. Hier ist stets auch Getrenntschreibung zugelassen, zurzeit – zur Zeit.

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Register

AcI-Verben 94 Adverbial 64, 66f., 69, 73, 113, 118, 120, 129f. Affixübergreifend? 29, 135 Akzent 13, 17, 29, 102, 129 Attribut 9, 25f., 28, 29, 33f., 41, 57, 98, 103, 109, 126, 153, 169 Derivationsaffix 18, 29, 111, 131, 167, 179 Derivationspräfix 17, 75, 97, 104, 111, 124, 131 Derivationssuffix 20f., 100, 111, 132, 138, 150 Determinativkompositum 25, 28ff., 57, 94, 102, 103, 139, 153f. Farbbezeichnung 101f., 169 flektierbar 9, 16, 109, 126ff., 152, 169 Flexion 3, 9ff., 15f., 28, 42f., 98, 133, 152, 166 Flexion von Adjektiven 28, 98, 126ff., 129 Flexion von Substantiven 16, 56 Flexionspräfix 171 Flexionssuffix 2, 10f., 144, 171 Fugenelement 11, 26, 57, 135, 138, 141f., 186 Fugenelement, paradigmisch 10, 168 Fugenelement, unparadigmisch 10, 158, 168 Funktionsverben 62, 85ff. Funktionsverbgefüge 44, 60ff., 85, 88 Graphematik 159ff. Halbpräfix 97, 101, 111, 175 Herkunftsadjektive 12, 127 Infinitiv 9, 35, 94, 140, 165, 173 Infinitiv, adjektivisch 53, 134, 137, 140, 186 Infinitiv, einfach 5, 9, 92ff., 185 Infinitiv, substantivisch 9, 51, 53, 131, 138, 141f. Infinitiv, verbal 52, 92, 137, 173 Infinitiv, zu-Infinitiv 52, 92 Infinitiv, zu-Infinitiv, adjektivisch 118, 122ff., 142f. Infinitivverben 9f., 27f., 92ff. Inkorporation 19, 21ff., 140, 155f. Kohärenz (kohärent – inkohärent) 93ff. Komplexe Adjektive 84, 88, 99f., 107, 182

Komposition 4, 19, 23f., 54, 57, 77, 99, 110, 128 Kompositionserstglied 10, 26, 73, 92, 97, 112, 119, 124f., 126ff. Kompositum, adjektivisch 38, 99ff., 110f., 136ff., 138ff., 140ff., 146, 151, 170f., 175ff. Kompositum, substantivisch 28, 38, 55, 101, 168ff. Kompositum, verbal 10, 31f., 58f., 60ff., 92ff., 154, 171f., 173ff. Konstruktionsgrammatik 7, 77 Kopulativkompositum 97, 101f., 185 Kopulaverben 5, 65, 86f. Lexikalisierung 24, 70, 82 Lexikon 5f., 76f. Materialadjektiv 101, 186 Modalverben 51, 92ff. Negation 34, 41ff., 108, 112ff., 125 Negation, replaziv 116, 121, 123 Negation, nicht-replaziv 116, 121, 123 Objekt 16, 23, 30, 34, 39, 46ff., 53, 66f., 75, 94, 180 Objektsprädikativ 65ff., 72 Orthografie 159ff. Partikelverb 2, 8, 16ff., 50, 154, 173 Partizip I 119f., 129ff., 135ff., 140ff., 146ff., 176f., 186f. Partizip II 121f., 149ff., 177f., 187 Prädikat 65, 76 Prädikatsnomen 5, 87, 130 Präfixpartikelverben 75 Präposition 14f., 19, 23ff., 170ff., 178, 188 Prototypentheorie 3, 6f. Rechtschreibreform 127, 157, 159ff. Reflexivierung 77f. Reihenbildung 38ff., 128, 174 Rektionskompositum 4, 28ff., 53, 135ff., 138ff., 153f. Resultativkonstruktion 7, 65f., 69ff., 76f., 174f., 184f. Rückbildung 19ff., 38f., 52f., 63, 88, 137, 155, 165, 173

198 Sättigung 23ff. Subjekt 78, 94, 133, 180 Substantivische Einheiten 16, 31, 33ff., 183 Substantivische Erstglieder 32, 37, 46, 154 Syntaktische Funktion 16, 46f., 56, 159, 183

Valenz 24ff., 30, 34, 65, 71f., 75ff., 139, 153, 185 Verbalgruppe 93 Verbpartikel 17ff., 32, 51 Vorfeldfähigkeit 18, 35, 50f., 62f., 73, 95

Thematische Rolle 29, 47, 153 Transitivierung 65, 77f.

Wort, graphematisch 13, 163 Wort, morphologisch 7f., 13 Wort, phonologisch 7, 13 Wortarten 4ff., 14 Wortgruppe, Ableitung 100f., 105, 110f.

Univerbierung 19, 21f., 26ff., 91, 110, 140ff., 155ff., 178 Usualisierung 84, 156

Zusammensetzung – Zusammenrückung 8, 54, 57, 96