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German Pages 591 [592] Year 1999
Jochen Α. Bär Sprachreflexion der deutschen Frühromantik
1749
I
1999
W G DE
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Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann
50
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999
Jochen Α. Bär
Sprachreflexion der deutschen Frühromantik Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus Mit lexikographischem Anhang
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek —
CIP-Einheitsaufnahme
Bär, Jochen Α.: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik : Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus ; mit lexikographischem Anhang / Jochen A. Bär. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Studia linguistica Germanica ; 50) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-11-016372-1
© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Meinen Eltern · Meiner Frau
Inhalt Vorbemerkungen
1
Zum thematischen Bereich
2
Problematik des Beschreibungsansatzes
4
Untersuchungsinteressen und -ziele
10
Lektürehinweise: Technisches Dank
13 16
Zum Gegenstand der Untersuchung I: romantisch
18
Zur Problematik der Termini romantisch/Romantik
19
Zur Verwendung von romantisch!Romantik im Rahmen der Untersuchung Zusammenfassung
28 52
Zum Gegenstand der Untersuchung II: Sprachreflexion
58
Historiographietheoretische Prämissen . : Aspekte frühromantischer Sprachreflexion I: Autoren Aspekte frühromantischer Sprachreflexion II: Themen
59 63 84
Aspekte frühromantischer Sprachreflexion III: Diskurse
89
Zusammenfassung
98
Autoren I: A. W. Schlegel
100
Das Verhältnis von Sprache und Kunst
102
Die ursprüngliche Poetizität der Sprache
105
Die Entstehung der Prosa Die Restitution der Sprache durch die Poesie I: Theoretische Aspekte . . . . Die Restitution der Sprache durch die Poesie II: Praktische Aspekte Zusammenfassung
111 116 119 139
Vili
Inhalt
Autoren II: Schelling
143
Schellings Identitätsphilosophie
145
Schellings Kunstphilosophie
152
Schellings «Sprachphilosophie»
157
Zusammenfassung
167
Themen: Das Sprachursprungsproblem und die Frage nach Aufgaben und Leistungen der Sprache
170
Ursprünglich-poietisches Sprechen: Die Erkenntnisfunktion der Sprache Sprache als Kommunikation Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus: Die Wiedereinführung Gottes Zusammenfassung
195 219
Diskurse: Poetologische, historisch-empirische und philosophisch-spekulative Beschäftigung mit Sprache und Literatur im Umfeld des frühromantischen Konzepts einer «progressiven Universalphilologie»
224
Beiträge zur Begründung der deutschen Philologie Ansätze zur Herausbildung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft Zur „Ausbildung der lebenden Sprachen" I: Das Ideal des Dichter-Philologen
171 185
226 230 236
Exkurs: Nation und Individuum in der frühromantischen Sprachreflexion Zur „Ausbildung der lebenden Sprachen" II: Philologie und
239
Übersetzung Zur Synthese von Kunst und Wissenschaft Enzyklopädie und Hermeneutik Zusammenfassung
257 275 289 303
Ergebnisse
319
Anhang I: Zum frühromantischen Sprachgebrauch
343
Zum Verhältnis von Sprachreflexion und Sprachverwendung im frühromantischen Diskurs
343
Inhalt
Ansatz zu einer lexikographischen Beschreibung Zur Struktur der Wortartikel: Hinweise für die Benutzung Zusammenfassung Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
IX
350 354 364 365
Buchstabe
365
Dialekt/Mundart
372
heiter
379
Heiterkeit
388
Ironie
394
klassisch
399
Metapher
404
Nation
412
Organ
420
organisch
431
organisieren
439
Organismus/Organisation
442
Poesie
452
progressiv
480
romantisch
483
Volk
506
Anhang III: Zum Korpus
514
Autoren
516
Zum zeitlichen Rahmen Zum Textsortenspektrum Zur Datenerhebung Zusammenfassung
524 527 533 536
Anhang IV: Zitierte Literatur
537
Quellen
538
Wissenschaftliche Literatur
560
Anhang V: Index
573
Vorbemerkungen „Eine gute Vorrede muß zugleich die Wurzel und das Quadrat ihres Buchs sein." (F. SCHLEGEL: LYFR 1 7 9 7 , 148, N r . 8 )
Mit den Termini „Universalpoesie" (F. SCHLEGEL: Athfr 1798,204/182, Nr. 116) und „grammatischer Kosmopolitismus" (A. W. SCHLEGEL: VEW !1803-04, 337) sind zwei Hauptkonzepte frühromantischer Sprachreflexion1 umrissen: Einerseits die Überzeugung, daß jede sprachliche Äußerung poetisch sei bzw. sein solle, zum anderen die Idee eines intellektuellen Weltbürgertums durch Kenntnis fremder Sprachen (was für die Frühromantiker immer zugleich die Kenntnis fremder Denkarten oder «Weltansichten» meint). Zwischen diesen beiden Grundgedanken entfaltet sich einer der vielfältigsten und interessantesten sprachtheoretischen Diskurse der Neuzeit, ein Diskurs, der dennoch, und trotz aller Hochkonjunktur der Romantik-, ja gerade der Frühromantikforschung, bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist. Betrachtet man nämlich die deutsche Frühromantik als eine „philosophisch-literarische Doppelerscheinung" (Frank 1989, 360), so erfolgt dies traditionell meist unter den Aspekten transzendentalpoetischer Konzepte oder aber pansophischer Naturmystik. Zwar ist die Bedeutimg des Gegenstandes Sprache für die Romantik seit langem anerkannt: Er steht „im Zentrum der romantischen Gedanken" (Strich 1924, 188) und kann als das „zentrale geistige Urerlebnis des romantischen Denkens" (Kainz 1937, 116) bezeichnet werden. Trotz dieser Tatsache „wissen wir über die frühromantische Sprachtheorie noch zu wenig" (Behler 1991a, 38). Nur vereinzelte, zum Teil Jahrzehnte alte Untersuchungen liegen vor.2 Auf dem 1977 veranstalteten internationalen und interdisziplinären Symposium Romantik in Deutschland wird trotz ausdrücklicher Anregung der Veranstalter (vgl. Brinkmann 1978, VIII) nur ein einziger Beitrag zum Thema geliefert, der sich zudem nur mit
1 2
Zu meinem Gebrauch des Ausdrucks Sprachreflexion und verwandter Termini vgl. S. 58. Zur romantischen Sprachreflexion im ganzen beispielsweise Fiesel 1927, Kainz 1937 und 1938a, Gipper/Schmitter 1985, Gipper 1992, darüber hinaus etliche, die sich in anderem Gesamtkontext beiläufig zu diesem Thema äußern. Zu einzelnen Autoren etwa Jesinghaus 1913 und Inderthal 1969 (zu A. W. Schlegel), Kainz 1940/41, Nüsse 1962, Di Cesare 1990 und Behler 1994b (zu F. Schlegel), Fauteck 1939, Vietta 1970 und Di Cesare 1995 (zu Novalis), Coseriu 1977 und Hennigfeld 1984 (zu Schelling), Kainz 1938b, Schlieben-Lange/Weydt 1988, Gessinger 1990 und WildSchedlbauer 1990 (zu Bemhardi).
2
Vorbemerkungen
einem einzigen Autor - Schleiermacher - beschäftigt (Frank 1978). Beim 1986 durchgeführten Kolloquium zur Aktualität der Frühromantik (Behler/Hörisch 1987) liegt zwar ein Schwerpunkt des Interesses auf Interpretationstheorie und Hermeneutik, hingegen wird die Vorwegnahme anderer Aspekte moderner Sprachtheorie durchfrühromantischeAutoren (vgl. ζ. B. Vietta 1970, 13: „die Sprachreflexion in der modernen Lyrik ist auf die Romantik zurückzuführen") nicht thematisiert. Das vor wenigen Jahren erschienene Romantik-Handbuch (Schanze 1994) vernachlässigt an geeigneter Stelle (Teil III: Künste und Wissenschaften) das romantische Sprachdenken sogar völlig; der Beitrag über romantische Rhetorik kann diese Lücke ebensowenig schließen wie gelegentliche Hinweise auf die „Leistungen der romantischen Gründerväter der deutschen Philologie" in den Einzelbeiträgen (Schanze 1994, 13).3
Zum thematischen Bereich Die genannten Desiderate liegen zum Teil in der Ausrichtung der Fragestellung beg r i t a ^ sind jedoch zum Teil auch auf Methodisches zurückzufuhren. Für die Romantik ist es nicht möglich, die Sprachreflexion unabhängig von aller sonstigen Theorie zu behandeln; wesentliche Zusammenhänge bestehen mit transzendentalphilosophischen, religionsphilosophischen, natur-, geschichts- und kunsttheoretischen Problemen, um nur einige der wichtigeren Aspekte zu nennen (vgl. Romaschko 1991). Daher ist es, um das Ineinandergreifen der Reflexionsbereiche darstellen zu können, unerläßlich, der Untersuchung neben spezifisch sprachtheoretischen Texten auch solche zugrunde zu legen, die in erster Linie Aufschluß über Kunsttheorie, Transzendentalphilosophie etc. geben. Der bloße Rückgriff auf Darstellungen der Sekundärliteratur genügt hier insofern nicht, als es - und dies ist nur
3
Freilich wurde hier nicht ein wesentliches Thema einfach nur übersehen. Als Grund dafür, der romantischen Literatur- und Sprachwissenschaft keinen eigenen Abschnitt zu widmen, wird das fachhistorisch gesehen problematische Verhältnis von Germanistik und Romantik genannt: „Eine eigene Rubrik hätte die Dimensionen in einer Weise verschoben, die der älteren Ideologisierung der Romantikforschung als ,deutscher Wissenschaft' erneut Vorschub geleistet hätte" (Schanze 1994, 13). Damit ist auf die «Identität» von deutscher Literaturwissenschaft und Romantikforschung angespielt, die Mitte der 20er Jahre gegenwärtigen Jahrhunderts Julius Petersen behauptet hatte (ebd. 1). - Gerade in Zusammenhängen wie diesem wird aber exemplarisch deutlich, daß Behlers Einschätzung zutrifft. Selbst wenn man es - aus welchen Gründen auch immer - fur angemessen hält, den Gegenstand «Frühgeschichte der Germanistik» aus der Romantikforschung auszuklammern, müßte dies noch immer nicht bedeuten, auch die romantische Sprachtheorie unberücksichtigt zu lassen: Die Geschichte der Sprachreflexion ist im Zeitalter der Romantik mit der Geschichte der Germanistik zwar aufs engste verknüpft, aber sie ist nicht mit ihr identisch und kann nicht auf sie reduziert werden, wie die vorliegende Untersuchung zeigen soll.
Zum thematischen Bereich
3
scheinbar eine Trivialität-jede historische Geisteswissenschaft nicht in erster Linie mit «Problemen», «Fragestellungen» usw. zu tun hat, sondern mit den Texten, in denen diese Probleme und Fragestellungen behandelt werden, und aus denen man sie zum Zweck übergreifender Darstellungen zu abstrahieren pflegt. Das bedeutet im vorliegenden Fall, daß die in Rede stehenden Verknüpfungen verschiedener Bereiche nicht auf einer «sachlichen», sondern auf einer sprachlichen Ebene begegnen, d. h. sich beispielsweise an kontextspezifischen Prädikationen und Kollokationen ablesen lassen. Diese werden in ihrer Tragweite im einzelnen nur gesehen, wenn dem Interpretierenden die Zusammenhänge (Ko- und Kontexte) bekannt sind, in denen sie stehen. Konkret gesagt kann also auf eine zumindest exemplarische Kenntnis der Primärquellen auchfilrdiejenigen Bereiche romantischer Theorie nicht verzichtet werden, die nicht unmittelbar Gegenstand der Untersuchung sind; im Sinne der von der Theorie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung geforderten Methodenwahl bedeutet dies die Entscheidung fllr eine - gemäßigt - «extemalistische» Historiographie (vgl. S. 59 f.). Eines der größten Probleme, die sich jeder Arbeit zur romantischen Sprachreflexion stellen, ist somit schlicht die Fülle des zu behandelnden Materials. Sind zudem noch die Ergebnisse im Vorfeld durch sparsame Reflexion über wissenschaftliche Vorgehensweisen, Zufälle der Quellenauswahl4 usw. geprägt, so müssen sie mehr oder weniger behebig bleiben. - In der vorliegenden Arbeit wird daher aus pragmatischen Gründen der Versuch unternommen, ein kleineres Spektrum (Sprachtheorien der FrüAromantik) mit einem einige wenige, jedoch besonders wichtige Autoren umfassenden Textkorpus5 so abzudecken, daß die ganze Bandbreite der theoretischen Beschäftigung mit Sprache und die spezifische Verflechtung mit anderen Reflexionsgegenständen exemplarisch deutlich werden kann. Auf einen Aspekt ist dabei besonderes Gewicht zu legen: Die deutsche Frühromantik ist die große Zeit der Kunstphilosophie, und zwar vorzüglich - aufgrund der
In diesem Zusammenhang spielt vor allem für die älteren Arbeiten auch die Tatsache eine Rolle, daß die Editionslage trotz aller zeitweiligen Hochkonjunktur der Romantikforschung lange Zeit unbefriedigend war und für einige Autoren, beispielsweise Tieck, immer noch ist. Verdienstvolle Großprojekte wie die seit 1958 erscheinende und noch immer nicht abgeschlossene Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA) oder die historisch-kritische Ausgabe der Schriften Novalis' (NS) machen zwar mittlerweile das Werk einiger der wichtigsten Autoren in angemessener Weise zugänglich; andere, ζ. B. Schelling und August Wilhelm Schlegel, müssen dagegen bis heute nach unzulänglichen Editionen zitiert werden, die teilweise aus dem letzten Jahrhundert stammen. (Eine seit 1975 im Erscheinen begriffene historisch-kritische Schelling-Ausgabe ist bislang rudimentär geblieben, ebenso eine auf sechs Bände berechnete kritische Ausgabe der Schlegelschen Vorlesungen, die seit 1989 mit bisher einem Band vorliegt.) Zentrale Texte zur Sprachreflexion - zu denken ist etwa an A W. Schlegels Vorlesungen zur Enzyklopädie der Wissenschaften - sind bis heute überhaupt nicht oder nur in Auszügen und an entlegener Stelle im Druck erschienen. Zur Koipuszusammenstellung und anderen methodischen Fragen vgl. die beiden folgenden Kapitel und vor allem Anhang III (S. 514 ff).
4
Vorbemerkungen
besonderen Affinität von Philosophie und Dichtung als der sprachlichsten der Künste - der Philosophie der redenden Kunst, der Dichtung; die per se nicht notwendige Konvergenz von Kunst- und Sprachphilosophie stellt sich in dem Augenblick ein, da Philosoph und Dichter (Novalis) oder Philosoph und Philologe bzw. Kritiker (Brüder Schlegel) dieselbe Person sind, weil der philosophische Dichter oder poetische Philosoph ebenso wie der philosophische Philologe sowohl in der Kunst- wie in der Sprachphilosophie zu Hause sein kann. Ich werde daher im folgenden den Versuch unternehmen, die Kunsttheorie bzw. -philosophie der Frühromantik als eine Philosophie der Sprache bzw. des Sprechens (im denkbar weitesten Sinne von «sprechen»), und demgegenüber die frühromantische Sprachtheorie als Kunsttheorie, als eine Theorie des poetischen Sprechens (im denkbar weitesten Sinne von «poetisch») zu deuten.
Problematik des Beschreibungsansatzes Im Zusammenhang der Verknüpfung von Kunsttheorie und Sprachtheorie tritt allerdings ein methodisches Problem auf. Es stellt sich heraus, daß für die Beschreibung einer romantischen Kunsttheorie durchaus Kategorien heutiger Kunstreflexion herangezogen werden können6, daß aber andererseits die Möglichkeit einer Anwendung von Kategorien modemer Linguistik bei der Beschreibung einer romantischen Sprachtheorie zumindest fraglich ist. Für einen Autor wie ζ. B. Schelling ergeben sich diesbezüglich noch nicht einmal so große Schwierigkeiten - besser gesagt, sie ergeben sich in ganz anderer Weise. Bevor man seine «Sprachtheorie» mit Kategorien moderner Linguistik beschreiben kann, muß man sie erst einmal aus dem Kontext seiner Gesamtphilosophie herauspräparieren. Ausgearbeitete Konzeptionen wie die A. W. Schlegels oder Bemhardis könnten zu einem Vergleich mit heutigen Erkenntnissen der Sprachwissenschaft hingegen um so mehr reizen - nicht zuletzt dadurch, daß sie in vielem geradezu sensationell «modern» wirken. Ein Spezifikum dieser Sprachtheorien scheint aber zu sein, daß sie weniger Sprachwissenschaft als vielmehr philosophische Sprachbetrachtung sind. Der Unterschied, der hier zwischen Philosophie und Wissenschaft gesetzt werden soll, ist - aus der Sicht der Philosophie und jeder philosophisch orientierten Wissenschaft -
Dies ist auch nicht weiter bemerkenswert, da nach gängiger Forschungsmeinung die romantische Kunstauffassung die Theorien des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat (vgl. z. B. Behler/Hörisch 1987 und Bohrer 1989).
Problematik des Beschreibungsansatzes
5
weitgehend künstlich. Er wird jedoch seitens der Linguistik immer wieder betont, und zwar sowohl von Strukturalisten wie von Vertretern einer im Sinne des Handbuchs Sprachgeschichte „kulturhistorisch orientierten Sprachforschung" (Besch/ Reichmann/Sonderegger 1984, V). Zwar unterscheiden sich diese beiden Wissenschaftsauffassungen dahingehend, daß sich der Strukturalismus, die «/ö«gwe-Lmguistik», üblicherweise ausschließlich als linguistique interne im Sinne Saussures versteht, wohingegen die kulturhistorisch orientierte Sprachforschung ihr Arbeitsfeld in beiden Bereichen, der «inneren» ebenso wie der «äußeren Sprachwissenschaft» sieht. Davon unberührt bleibt aber die im gegenwärtigen Zusammenhang hervorzuhebende Gemeinsamkeit: Die eine wie die andere Richtung will «Tatsachenwissenschaft» sein und positive Ergebnisse hervorbringen. Die Kritik der «Kulturhistoriker» am Strukturalismus bezieht sich lediglich darauf, daß dieser sich einseitig (wenngleich in oft geradezu klassisch positivistisch-empirischer Weise) nur mit einer ganz bestimmten Alt von Fakten beschäftigt, die er vom historischen Umfeld isoliert untersucht. - Beide Richtungen legen also Wert auf methodisch abgesicherte Realienforschung und lehnen eine bloß spekulative «philosophisch-metaphysische» Betrachtungsweise gleichermaßen ab. Fragen nach dem «Wesen» der zu beschreibenden Phänomene sind verpönt (vgl. Gardt 1994,1, Anm. 1 ), wohingegen die Frage nach ihrer Funktion spätestens seit Karl Bühler zentral ist. Zwar ist nicht zu leugnen, daß, zumindest in Deutschland, wesentliche Errungenschaften der Philologie im engeren Sinne (gemeint sind natürlich die Anfänge der historischen Grammatik) gerade in die Epoche fallen, die wir als «Romantik» zu bezeichnen gewohnt sind, so daß die Kennzeichnung romantischer Beschäftigung mit Sprache als «Philosophie», nicht als «Wissenschaft», fraglich scheinen könnte. Zum einen ist aber die Begründung der historischen Grammatik ohnehin später zu datieren als der hier in Rede stehende Zeitraum, der ungefähr die beiden Jahrzehnte von 1790 bis 1810 umfaßt (vgl. S. 31), zum anderen handelt es sich bei allen diesen Ansätzen lediglich um mehr oder weniger weitgehende Versuche, der theoretischen Reflexion empirische Forschungen an die Seite zu stellen, so daß die obige Charakterisierung auch bei einer anders gewählten Zeitspanne, die weiter ins 19. Jahrhundert hineinreichte, nicht unzutreffend wäre. Die Tatsache, daß einige der deutschen Romantiker als Anreger und Mitbegründer der modernen Sprachwissenschaft gelten können, sagt noch nichts über ihr im Vergleich zum heutigen grundlegend anderes Wissenschaftsverständnis aus. Die Unterscheidung von Metaphysik und Wissenschaft war für die Praxis damaliger Sprachreflexion weitgehend irrelevant. August Wilhelm Schlegel, der „eigentliche Sprachphilosoph der Frühromantik" (Behler 1991a, 38), war ab 1818 immerhin
6
Vorbemerkungen
hauptberuflich Wissenschaftler.7 Die Bedeutung Wilhelm von Humboldts nicht nur als Sprachphilosoph, sondern auch als Linguist hat beispielsweise Mueller-Vollmer (1991) hervorgehoben.8 - Andererseits ist ein im heutigen Sinne nüchtern wissenschaftliches Vorgehen den Autoren fremd. Friedrich Schlegels historisch-vergleichende Studien beispielsweise sind nichts als der Ausgangspunkt und teilweise die Basis fürfreieSpekulationen. Mit großer philosophischer Phantasie, mit jener „ w senschaftlichen Erfmdsamkeif, die er Witz nennt (F. SCHLEGEL: EPh/1 Ί 8 0 4 - 0 5 , 404), verfolgt er sein Anliegen der Sinnstiftung, und eben dies ist es, was seine Sprachwissenschaft bei aller Unhaltbarkeit ihrer Methoden und Ergebnisse faszinierend macht. Auch Jacob Grimm, der sicher als Prototyp eines Empirikers gelten kann, versteigt sich nicht selten zu allgemeinen Äußerungen über Sprache, die mit Philologie im engeren Sinne wenig zu tun haben und genaugenommen nur als Ansätze metaphysischen Denkens gesehen werden können, und selbst bei Franz Bopp, der angeblich nicht über das Wesen der Sprache nachdenkt, sondern sie „auf ihre historische Faktizität reduziert" (Wyss 1979, 125), fehlen solche Ansätze nicht. «Philosophische» Theoretiker sind zugleich «wissenschaftliche» Empiriker und umgekehrt; praktiziert wird eine „Einheit von Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie" (Dascal u. a. 1992, VI). Damit scheinen die Resultate frühromantischer Sprachreflexion weitgehend ungeeignet, um auf Erkenntnisse heutiger linguistischer Forschung projiziert oder mit deren Hilfe verstanden zu werden. Gefragt werden muß vielmehr nach ihrer Einbindung in philosophisch-metaphysische Theoriezusammenhänge der Zeit um 1800, in denen allein ihre volle Bedeutung entfaltet werden kann. Die unterschiedliche Ausrichtung romantischen Sprachforschens und heutiger Linguistik hat historische Ursachen. In der Geschichte der abendländischen Beschäftigung mit Sprache lassen sich zwei große Linien feststellen. Ich nenne sie in einer ersten Annäherung analytisch-mechanische und symbolisch-poetische Tradition. Als analytisch-mechanisch bezeichne ich die in der Geschichte der Sprachreflexion immer wieder auftretende Neigung, Sprache vorrangig oder ausschließlich als ein Mittel {μηχανή) zum Zweck zu verstehen, wobei der Zweck selbst in einer verstandesmäßigen Unterteilung und Gliederung (άνάΛνσις) der Welt besteht, d. h.
7
8
Nominell bekleidete er eine Professur für Literatur und Kunstgeschichte, de facto beschäftigte er sich mit Sprachen, vor allem mit Sanskrit. - Von einer Unterscheidung zwischen Theorie und Empirie ist gerade Schlegel weit entfernt Es dürfte sich im Gegenteil zeigen lassen, daß es ihm vielmehr auf eine Verschmelzung von Wissenschaft und Philosophie ankam, im Sinne der obigen Unterscheidung also selbst wiederum auf Philosophie. Vgl. auch Gipper 1992, 228: „Für Humboldt ist [...] kennzeichnend, daß er keine philosophische Spekulation duldet, die nicht durch empirische Sprachuntersuchung gestützt werden kann."
Problematik des Beschreibungsansatzes
7
in der Unterscheidung von Wörtern und Wortbedeutungen. Hervorzuheben ist, daß diese Gliederung der Welt in der analytisch-mechanischen Tradition meist nicht als kognitive Leistung der Sprache verstanden wird. Deren Aufgabe sieht man in der nachträglichen Fassung (Darstellung, Abbildung) und Mitteilung der vorsprachlichen Erkenntnis. Die geforderte «korrekte» Handhabung der Sprache soll vorrangig der Vermeidung von Denkfehlem und Mißverständnissen in der Kommunikation dienen. - Es ist einzuräumen, daß die Charakterisierung mechanisch im Zusammenhang mit Sprache als negativ wertend verstanden werden könnte; Assoziationen wie >totmaschinenartiggeistlos< usw. liegen nahe. Hier sind jedoch zwei Perspektiven zu unterscheiden: eine des «Gegenstandes» und eine des Verfassers. Aus der Sicht der frühromantischen Sprachtheoretiker sind negative Konnotationen nicht unangemessen. Ihre Vorliebe gilt eindeutig der symbolisch-poetischen Sprachauffassung. Ich selbst dagegen impliziere bei der Verwendung des Wortes mechanisch im vorliegenden Kontext nichts anderes als die erwähnte (per se wertfrei zu sehende, von den Frühromantikern allerdings als Utilitarismus kritisierte) Ausrichtung auf Zwecke. Eine abschätzige Behandlung der analytisch-mechanischen Sprachauffassung ist hier nicht beabsichtigt. «Symbolisch» meint hier im wörtlichen Sinne ( συμβάλλει ν >zusammenwerfen das Affirmierende in dritter Potenz< oder bei Friedrich Schlegels Selbsteinschätzung als kritischer Lessing2 »Lessing hoch zwei, in Potenz wären, selbst wenn unter anderen Aspekten diese Bezeichnung kaum zuträfe. - Sie wäre dann allerdings mehr oder weniger beliebig gewählt, und es milßte gefragt werden, ob nicht überhaupt sich eine angemessenere finden ließe. In der Forschung ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß der Terminus Romantik, der „primär immer ein ästhetischer" war, dort, wo er in die wissenschaftlichen Fachhistorien Eingang fand, „lediglich Verwirrung gestiftet" hat (G. Schulz 1983, 75): „Denn wenn man Romantik als einen Dachbegriff für die verschiedensten Zweige und Bereiche des intellektuellen Lebens einer ganzen Zeit benutzte, gab man dem Begriff eine Statik und Allgemeinheit, die er weder besaß noch verkraften konnte" (ebd.). Damit ist nunfreilichnicht gesagt, daß es nicht doch sinnvoll sein könnte, einen Terminus aus der Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte in die Geschichtsschreibung der Sprachtheorie zu übernehmen: dann nämlich, wenn damit zugleich Verbindungen und Interferenzen suggeriert werden sollen, anders gesagt, wenn die verschiedenen «Romantiken» zumindest teilweise aufeinander projizierbar sind. Vor allem werden Bezüge zu den der Sprachtheorie besonders affinen Bereichen Literatur und Philosophie herzustellen sein, so daß bei der Frage, was unter «romantischer Sprachreflexion» verstanden werden soll, vor allem an die Arbeiten solcher Autoren zu denken ist, die in der Literatur- bzw. Philosophiegeschichte üblicherweise als Romantiker gelten. Allerdings liegt hier eine prinzipielle Schwierigkeit. Die Wörter romantisch und Romantik sind hochgradig polysem, ihre einzelnen Verwendungsweisen überlagern sich vielfältig. Ohne zuvor zu bestimmen, was mit ihnen gemeint sein soll, sind daher keine sicheren Kriterien für die Einordnung eines Autors als «Romantiker» anzugeben.
Zur Problematik der Termini
romantisch/Romantik
Was romantisch ist, weiß jeder so ungefähr. Die üblichen Konnotationen sind «Nacht, Mystik, Schwärmerei, Mond, Wald, Sehnsucht, blaue Blume», bei stärker historisch ausgerichtetem Interesse auch wohl «Krankheit, Katholizismus, Nationalismus, Irrationalismus» und so weiter. Wenn wir nicht geradezu an puren Kitsch denken, dann zumindest an elaborierte Gemütszustände, oder auch an Werke, die derartige Stimmungen beschwören, ζ. B. Mondscheingedichte und Hymnen an die
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Zum Gegenstand der Untersuchung I: romantisch
Nacht: Eine Befragung, die ich über sieben Semester hinweg bei Studierenden der Fächer Germanistik, Anglistik, Romanistik, Geschichte, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Philosophie durchgeführt habe, ergab - neben gleichfalls bekundeten literatur-, musik- und kunsthistorischen Kenntnissen - im wesentlichen dieses Assoziationsspektrum. Romantisch ist „das Wiesental (in der Natur sowie auf dem Ölbild im Kaufhaus), die Felsenlandschaft (,wildromantisch' = dämonisch), die Stimmung bei Kerzenschein (= gefühlsbetont, irrational, antiintellektuell), der .romantische Typ' (ein gefühlsbetonter Mensch), eine Interpretation (.subjektiv1, in Wirklichkeit ausufernd willkürlich)" (Rummenhöller 1989,7). Selbst wenn man nicht so weit gehen will, derlei Vorstellungen als „die ganz groben Mißverständnisse" (ebd.) abzutun, weil sie in irgendeiner Form letztlich doch historisch begründet sind, liegt die Einseitigkeit des Bildes auf der Hand. Die tatsächliche Extension des Romantikbegriffes wird demgegenüber erkennbar, wenn - willkürlich ausgewählt - einige Namen fallen: August Wilhelm Schlegel (1767— 1845), Friedrich Schlegel (1772-1829), Ludwig Tieck (1773-1853), Clemens Brentano (1778-1842), Ε. T. A. Hoffinann (1776-1822), Joseph von Eichendorff (1788-1857), William Wordsworth (1770-1850), Percy Bysshe Shelley (17721822), George Gordon Lord Byron (1788-1824), François Auguste de Chateaubriand (1768-1848), Germaine de Staël (1766-1817), Victor Hugo (1802-1885), José de Espronceda (1808-1842), Giacomo Leopardi (1798-1837), Nicolai Fredenk Grundtvig (1783-1872), Erik Johan Stagnelius (1793-1823), Adam Mickiewicz (1798-1855), Mihály Vôrôsmârty (1800-1855), Aleksandr S. Puäkin (17991837), Carl Maria von Weber (1786-1826), Franz Schubert (1797-1828), Robert Schumann (1810-1856), Richard Wagner (1813-1883), Caspar David Friedrich (1774-1840), Philipp Otto Runge (1777-1810), Adam Müller (1770-1829), Franz von Baader (1766-1841), Henrik Steffens (1773-1845), Johann Wilhelm Ritter (1776-1810). Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Dreierlei wird deutlich: 1) Man hat es mit einem Phänomen von europäischen Ausmaßen zu tun. 2) Der Terminus Romantik bezieht sich auf Literatur, Musik und bildende Künste, auf Philosophie, Politik und Naturwissenschaften. 3) Die Namen stehen für so unterschiedliche Werke, man begegnet so unterschiedlichen Charakteren und auch Lebensdaten, daß es kaum möglich scheint, sie auf einen Nenner zu bringen. Wenn alle die genannten Personen Romantiker sind, dann dauert Romantik von den 1780ern an gut hundert Jahre, und man kann getrost auch noch Hamann und Herder, Mozart und Beethoven, Mahler und Strauss, Schiller und Goethe, Heine und Hegel dazurechnen. Die Grenzen sind dann so weiträumig gezogen, daß der Terminus nichts Bestimmbares mehr zu bezeichnen scheint.
Zur Problematik der Termini
romantisch!Romantik
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Bereits der zeitgenössische Gebrauch des Wortes romantisch ist vielschichtig, wie die oben zitierte Behauptung Friedrich Schlegels erkennen läßt, seine Erklärung des Wortes sei 125 Bogen lang - d. h. genau 2000 Druckseiten. Freilich ist hier ironische Fiktion im Spiel; in Wirklichkeit hat Schlegel eine derartige Erklärung weder geschrieben noch offenbar emsthaft geplant. Gleichwohl „zeigt die Bemerkung [...], was es heißt, die Summe der Bedeutungen, die in dem Begriff enthalten sind, erfassen zu wollen" (Pikulik 1992, 78). - Die folgenden Aussagen zur Wortverwendung beziehen sich auf eine lexikalische Untersuchung, die auf den deutschen Sprachraum beschränkt bleibt und der das Korpus dieser Arbeit zugrundeliegt. Die frühesten Belege stammen von 1786 bzw. 1789, die spätesten (mit Ausnahme eines Einzelbeleges von 1822) von 1813. (Vgl. auch die ausführliche Darstellung s. v. romantisch im Anhang II sowie zum Gebrauch von romantisch im gesamteuropäischen Kontext für die Zeit von 1650 bis ins 20. Jahrhundert die fundierten und informativen Darstellungen bei Eichner 1972a). Das Wort geht zurück auf ein altfranzösisch-mittelfranzösisches Substantiv romani, roman(t), das soviel bedeutet wie >galloromanische Volkssprache Nordfrankreichs, Altfranzösisch (im Unterschied zum Latein der Gelehrten)modern< als Charakterisierung eines Zeitraums vom Mittelalter bis zur unmittelbaren Gegenwart, besonders in bezug auf Literatur und Kunst (vgl. Bedeutung 2) und meist im Gegensatz zu klassisch (>griechisch-römisch-antikmittelalterlich, zum (christlich-katholischen) Mittelalter gehörige dann ggf. als Hyponym zu modern oder neu und tendenziell offen zu 8. 2. inhaltlich an 1 anschließbarer kunst- bzw. literaturtheoretischer Ausdruck mit besonderer Verwendungshäufigkeit, der zum Gebrauch als Terminus tendiert; von 3 bisweilen nicht klar zu trennen; offen zu 5 und 9. - Das Wort wird angewendet erstens auf die in den romanischen Sprachen verfaßte hochmittelalterliche Dichtung, Lyrik wie Prosa, (Ritter)romane insbesondere; die Bedeutung ist dann zu 4 und tendenziell zu 8 offen. Eine zweite, weiter gefaßte Gebrauchsmöglichkeit entreckt sich auf in anderen Sprachen (z. B. Englisch) verfaßte Texte anderer Gattungszugehörigkeit (z. B. Dramen) und aus späterer Zeit (gemeint sein kann die ganze als "modern» verstandene Epoche im Sinne von 1), sofern sie romantische Qualitäten oder Züge im Sinne von 5, 7, 9 oder 10 aufweisen. - Als romantisch können bezeichnet werden • eine bestimmte, für romantische Gattungen, insbesondere den Roman (vgl. 3) spezifische Schreibart; • bestimmte metrische Formen; • bestimmte literarische Gattungen oder Textsorten; • das Gesamtwerk eines Autors oder Teile desselben, auch bestimmte einzelne Werke;
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Zum Gegenstand der Untersuchung I: romantisch • •
die Gesamtheit aller als romantisch bezeichneten Gattungen bzw. Einzeltexte; im übertragenen Sinne bestimmte Autoren als Verfasser romantischer oder romantische Züge aufweisender Texte.
3. »romanspezifisch, auf den Roman bezüglich«; eine spezielle Verwendung von 2, die auf Ausfüllung einer terminologischen Leerstelle der Literaturreflexion abzielt und in der romantisch in analoger Weise als Adjektiv zu Roman dient, wie lyrisch, episch und dramatisch in bezug auf die Gattungstrias Lyrik, Epos und Drama (vgl. Eichner 1972b, 102 f.); offen zu 5 und 7. 4. >romanischästhetisch autonom, (scheinbar) willkürlich«, auch im Gegensatz zur klassizistischen Regelpoetik; inhaltliche Bestimmung zu 2; offen zu 3, ebenso zu 5 und 6. 8. > idealisch; ätherisch« als Bezeichnung für Gegenstände, Handlungen oder Empfindungen, die sich über das Platt-Alltägliche bzw. die krude Lebenswirklichkeit erheben; auch in aktivischer Verwendung: idealisierend, überhöhend, mit Sinn für immaterielle Werte und innere Zusammenhänge«; unter dem Aspekt einer Ausrichtung auf das Transzendente offen zu 10; inhaltliche Bestimmung zu 1/2; Gegensatz zu 6, der in der unter 10 beschriebenen romantischen Operation aufgehoben wird. 9. »gemischt, zusammengefügt, aus unterschiedlichen Teilen bestehend«; bei besonderer Betonung der Gegensätzlichkeit dieser Teile auch »kontrastiv, paradox, widersprüchlich, spannungsvoll«, bei besonderer Betonung der Homogenität des Ganzen hingegen »einheitlich, harmonisch, organisch«; offen zu 5; häufig als inhaltliche Bestimmung für 2. 10. im Rahmen der frühromantischen Theoriebildung typische besondere Verwendungsweise von 9, durch die eine Gegenläufigkeit, ein Spannungs- und Wechselverhältnis von Transzendenz und Immanenz, d. h. einer Richtung auf das - sei es religiös oder metaphysisch gefaBte - Unendliche einerseits und - ggf. sinnenfroher - Weltliebe (vgl. hierzu 5) andererseits bezeichnet wird; die unter 8 und 6 beschriebenen Sphären werden im Romantischen miteinander in Beziehung gesetzt (vgl. auch Poesie1¿). Bei besonderer Betonung des Bewußtseins dieser Tatsache besteht Tendenz zu Bedeutungen wie »(selbst)bewußt, reflektiert; narzistisch« (vgl. auch 7). Bezüge zu Schillers Konzeption des Sentimentalischen sind erkennbar, auch in der eingeschränkten, ausschließlicher die Richtung auf das Grenzenlose, Unendliche, Transzendente, Übersinnliche hervorhebenden Bedeutung »unscharf, undeutlich, verworren, nebelhaft, dunkel, geheimnisvoll, ahnungsvoll, wunderbar, unerklärlich« (offen zu 5 und 8, bisweilen als inhaltliche Bestimmung für 2): Das Romantische erhält durch diese Vereinseitigung einen
Zur Problematik der Termini
romantisch/Romantik
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sehnsuchtsvoll-mystischen Beigeschmack, der seinerseits wiederum in reflektierter Weise, als literarisches oder künstlerisches Gestaltungsmittel eingesetzt werden kann. 11. »gebrochen, vermittelt, indirekt wirksam oder zugänglich^ auch in aktivischer Verwendung: »vermittelnd, Gebrochenheit bewirkende Als metaphorische Verwendung von 2 und/oder 6 deutbar, bei der Schillers Konzeption der sentimentalischen Dichtung im Gegensatz zur naiven anklingt: Der reine Dichter (der klassisch-antike) ist deijenige, der objektiv, einen Gegenstand als solchen darstellt; demgegenüber heißt romantisch der moderne Dichter, der den Brechungsfaktor seiner eigenen Individualität und Subjektivität in die Darstellung einbezieht. 12. »unabgeschlossen, unendlich perfektibel; umfassend, universal, allseitigabgehoben, schwammig, wissenschaftlich nicht überprüfbar^ sondern wird wertfrei in der alten, noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts üblichen Weise verwendet: >nicht sinnlich/empirisch, sondern nur gedanklich erfahrbar, d. h. nicht auf das Wesentliche ausgerichteter Phantasietätigkeit.
Zu beachten ist hier die Annäherung an den Begriff des «natürlichen Zeichens»: Zu einem solchen wird die Metapher aufgrund eines kunstgemäßen, nach dem Verständnis der klassischeâ Ästhetik, der Schlegel weitgehend verpflichtet ist, also eines durch das Werkganze unabdingbar geforderten Gebrauchs.
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Damit ist auch die „zwangsläufige Bildlichkeit und Uneigentlichkeit der Sprache" für Schlegel (und ebenso für die übrigen Frühromantiker) „nicht wie für die rationalistische Sprachkritik ein Mangel, eher ein Vorzug" (Kainz 1937, 119). Metaphern ausgiebig und dabei essentiell bzw. «wesensoffenbarend» zu gebrauchen, ist ein Mittel zur Repoetisierung der Sprache. Unter diesem Aspekt kann eine Metapher niemals übertrieben sein: „Alle Dinge stehn in Beziehungen auf einander, alles bedeutet daher alles, jeder Theil des Universums spiegelt daher das Ganze: dieses sind eben so wohl philosophische als poetische Wahrheiten. Nach da' einen großen Metapher, welche schon in der ursprünglichen Bildung der Sprache liegt, da nämlich das Sinnliche das zu bezeichnende Geistige vertreten muß, wodurch die Gleichheit dieser beyden entgegengesetzten Welten erklärt wird, kann eigentlich der Dichter nichts kühneres mehr wagen" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02,411).
Als Idealbeispiel für eine derartige Metaphernverwendung, durch welche der poetische Text zur Repräsentation des Universums wird, nennt Schlegel den Spanier Calderón de la Barca ( 1600-1681 ), dessen Werke ihm durch eigene Übersetzungstätigkeit wohlvertraut sind: „Wenn er das Entferntefte, das Größte und Kleinfte, Sterne und Blumen zufammenftellt, fo ift der Sinn aller feiner Metaphern der gegenfeitige Zug der erfchaffnen Dinge zu einander wegen ihres gemeinfchaftlichen Urfprungs, und diefe entzückende Harmonie und Eintracht des Weltalls ift ihm wieder nur ein Widerfchein der ewigen Alles umfaffenden Liebe" (DKL/2 R1808; 1809-1U 397). Ein anderer Punkt, den Schlegel im Zusammenhang der Repoetisierung zur Sprache bringt, ist die Verwendung unüblicher Wörter. Vor allem drei Arten sind gemeint: „ehedem im Gebrauch gewesene, veraltete, oder bloß in Einer Provinz bekannte [...], oder endlich zum Behuf der Poesie eigends abgeleitete und zusammengesetzte" (VLK/1 ! 1801-02, 406; vgl auch VEW ! 1803-04,303). Die Diskussion, ob Archaismen, Provinzialismen und Neologismen in die Schrift- oder Dichtersprache aufzunehmen seien, hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückgeht. Im 17. und 18. Jahrhundert ist sie im Zusammenhang zweier großer Themenkreise der Sprachreflexion zu sehen, die oftmals in Verbindung stehen, ebensogut aber auch unabhängig voneinander begegnen. Gemeint sind die Bemühungen um «Reinheit» oder «Reinigkeit» der Sprache einerseits und «Bereicherung» derselben andererseits. Schon bei Andreas Tscherning (UB 1659, 42) begegnet die Lehrmeinung, man solle sich „folcher wôrter ganz enthalten / welche alt und verlegen sind". Dagegen ist es dem Dichter erlaubt, neue Wörter zu erfinden, sofern sie nach den Kompositions- und Derivationsregeln gebildet sind: Dies „macht [...] den getichten / wann es mäßig gefchiehet / eine fonderliche anmuhtigkeit" (ebd. 63 f.). Grimmelshausen (SPG 1673, 51) spottet über die „ungereimbte Quackeley"
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mancher Sprachpuristen, die „das alt Teutsch mit Verwechflung der Buchftaben reformaren: Nagelneue von ihnen felbst erfundene / oder die alte verlegene vor 1000. Jahren abgangene Wörter mit Gewalt wider einführen" wollen, so daß „an ftatt zierlicher Wörter eytel Mißgeburten" entstehen. Gottsched (AR 51759, 301) empfiehlt einem Redner, „wenn er verstanden werden will", Provinzialismen, Archaismen, Fremdwörter, Neologismen und Fachtermini zu vermeiden; dem Dichter will er sie zwar nicht völlig verbieten, spricht sich aber in Anlehnung an Aristoteles für einen sehr beschränkten Gebrauch derselben aus (GOTTSCHED: CD/1 3 1742, 283 ff.)95 Rein ist für die Gottsched-Schule eine Übersetzung, die „keine veraltete, ungewöhnliche, neugemachte, Provinzialwórter" enthält (VENTZKY: BGU 1734, 111). F. Nicolai will in Anlehnung an die Académie Française nur diejenigen Wörter in ein allgemeinsprachliches Wörterbuch aufgenommen wissen, die „in artigen Gefelschaften, in öffentlichen Reden, in der Dichtkunst, in der Gefchichte, und kurz in allen den Schriften gebraucht werden können, die iedermann lefen und verftehen kan" (NICOLAI: BZW 1755, 102 f.); neben den meisten veralteten, neugebildeten und provinziellen Wörtern sollen wenig bekannte Fachwörter, Schimpfwörter und unanständige oder „pöbelhafte" Wörter davon ausgeschlossen werden. Adelung (ÜDS/1 1785,84) verwirft Archaismen, Provinzialismen, Neologismen sowie Fremdwörter als sprachliche Unreinheit („Barbarismen"); wenn er dennoch einige in sein Grammatisch-kritisches Wörterbuch aufnimmt, so mit dem Hintergedanken, „den unkundigen oder auslândifchen Lefer zu warnen" (GKW/1 1774, XIII)96. Der von den Frühromantikem geschmähte Christian Garve97 erkennt die Tatsache an, daß veraltete oder provinzielle Wörter gelegentlich Eingang in die Standardsprache finden, hält aber eine systematische Sprachbereicherung aus diesen Quellen für nicht praktikabel (GARVE: SEA 1802, 329 ff.).
Demgegenüber findet spätestens seit Leibniz (UG r * ca. 1697; 17171) der Vorschlag, einem etwaigen Wortmangel durch Archaismen, Neologismen und Provinzialismen abzuhelfen, breitere Anerkennung. F. Gedike, Direktor des Berliner Friedrichswerderschen Gymnasiums, in dem A. F. Bernhardt unterrichtet und Tieck und Wackenroder zur Schule gehen, nennt als Mittel zur Sprachbereicherung neben 93
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Allerdings wird Gottsched bereits von Zeitgenossen vorgeworfen, er flicke seinerseits „dergleichen [...] passim ein" und sei daher „die Regien die [...] er [...] gutgeheiffen und für die Richtichnur erkannt hat, felbst in Praxi zu beobachten der Mann nicht" (DORNBLÜTH: OGA 1755,138). In der zweiten Auflage des Wörterbuchs verfährt Adelung im ganzen etwas weniger streng, erhält aber seinen normativen Anspruch, für den er später von J. H. Voß in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung kritisiert wird (Voß: GGK 1804,308 f.), gleichwohl aufrecht (ADELUNG: GKW/1 2 1793, III f.). Vgl. z. B. F. Schlegels abfällige Bemerkungen über Garve bzw. die „Garvianer": Athfr 1798,265/ 219, Nr. 317; ÜdU 1800,339/364; Phlg/1 *1797, 39, Nr. 55; ebd. 45, Nr. 123; PhL/3 »1797-1801, 139, Nr. 207.
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Autoren I: A. W. Schlegel
der behutsamen Einfilhrung bestimmter Fremdwörter die „Prägung [...] neuer Wörter", die „Hervorfuchung alter Kernausdrucke, die unverdienter Weife abgesezte Münze geworden", und die „Borgung guter und der Schriftstellersprache fehlender Wörter aus den Dialekten" (GEDKE: GPS 1779,407). Ebenso macht sich J. F. A. Kinderling für Wörter stark, die „schon lange im Gebrauch sind, die ihre Kraft und Würde durch keine Nebenbegriffe verloren, vielmehr eben durch ihr Alter eine bestimmte Deutlichkeit und Verständlichkeit haben" (RDS 1795,20 f.); ihre Verwendung ist zulässig und wünschenswert und dient neben der Erfindung guter neuer Wörter der Sprachreinigung (ebd. Vorrede). Den „Zuwachs der Schriftsprache aus den Provincialismen" hält Kinderling dagegen für eher gering (ebd. 40). - Zu den Befürwortern einer Sprachbereicherung vor allem durch Rückgriff auf historische und regionale Varietäten zählen ferner Lichtenberg (SB/E * 1775-76, 374, Nr. 28), der Adelung-Kritiker J. G. Richter (KA 1784, 87 f.) und K. Ph. Moritz (VSt 179394,661). Der knappe, exemplarische Überblick macht deutlich, daß im 17. und 18. Jahrhundert eine einheitliche Meinung «pro» oder «contra» nicht festzustellen ist. Gleichwohl lassen sich durchgehende Linien ausmachen: Als stereotypes Argument gegen den Gebrauch unüblicher Wörter dient die Behauptung, die allgemeine Verständlichkeit leide darunter; auf der Gegenseite finden sich ebenso stereotyp Zurückweisungen dieser Behauptung bzw. Vorschläge, wie gleichwohl die allgemeine Verständlichkeit gewahrt bleiben könne. Allerdings steht hier in keinem Fall, wie in der heutigen Sprachtheorie, der handlungsfunktionale Aspekt im Vordergrund, sondern der darstellungsfunktionale (vgl. Reichmann 1993a, 294 f. und 298 f.): Was man «klar» oder sogar «deutlich» sagen kann, ist nach Ansicht der Zeit gleichsam per se auch allgemein verständlich, und umgekehrt kommt die «Geläufigkeit» (allgemeine Gebräuchlichkeit) sprachlicher Äußerungen in erster Linie einer möglichst eindeutigen Fassung von Sachverhalten zugute. Die Betonung dieser spezifischen Verbindung von sprachlicher Darstellungsund Kommunikationsftmktion, die das Sprachdenken insbesondere des 18. Jahrhunderts prägt, ist mehr oder weniger allen Lagern gemeinsam. Unverständlichkeit wollen auch die Befürworter alter, neugebildeter und regionalspezifischer Wörter nach Möglichkeit vermeiden. Empfohlen wird eine Art goldener Mittelweg, bei dem das aristotelische klar aber nicht platf8 erkennbar ist, und wie bei Aristoteles kommt Vorrang in jedem Fall der Klarheit zu: Es herrscht Konsens, daß an Archaismen nur
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ARISTOTELES: Poetikr* ca. 335 v. Chr.1, Kap. 22: ,,Λέξεος ôè άρετή σαφή και μή ταπεινήν είναι". «Platt» oder «banal» ( ταπει vrf) wird die Rede, wenn sie aus lauter üblichen Wörtern besteht (ebd.).
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solche in die Schrift- oder Dichtersprache aufgenommen werden sollen, die noch nicht völlig ungebräuchlich geworden sind (vgl. TSCHERNING: UB 1659,44; FULDA: VIS 1788, Vorrede; KINDERLING: RDS 1795, 20 f.), an Provinzialismen nur solche, die nicht ausschließlich in den „engen Grenzen einer Landschaft" gelten 3 (GOTTSCHED: CD/1 1742, 368), und an Neologismen nur solche, die analogisch gebildet sind: Man muß die „Gesetze [der Sprache] kennen, und dieselben in der Bildung neuer Wörter [...] befolgen" (KINDERLING: RDS 1795,18; vgl. auchLoN3 GOLIUS: ETS 1715, 108; GOTTSCHED: CD/1 1742, 368; KLOPSTOCK: GR 1774, 121).
A. W. Schlegels Gedanken zu dem in Rede stehenden Themenkomplex, dies ist hervorzuheben, gehen über beiläufige Anmerkungen nicht hinaus. Am ausführlichsten äußert er sich noch zu den Neologismen, was im Zusammenhang seiner PoiesisTheorie nur konsequent ist. Sprechen heißt kreativ tätig sein, und da eine Sprache, „um wahrhaft zu leisten was sie soll, [...] immer ursprünglich und schöpferisch bleiben" muß (VEW '1803-04, 323), ist jeder Sprecher nach Schlegels Ansicht befugt, „zu der Ausbildung seiner Sprache absichtlich durch Erweiterung über die bisherigen Gränzen hinaus mitzuwirken" (ebd. 322). Umso mehr ist dies die Aufgabe und das Recht der „genialischen Sprachschöpfer, welche einer prosaisch gewordnen Sprache mehr poetischen Schwung und Energie wiederzugeben suchen" (VLK/1 1 1801-02, 417). Der Dichter als idealer Sprecher darf „mit der größten Kühnheit ganz neue Wörter und Wendungen" prägen (VphK '1798-99,96). Weitaus weniger in den Kontext Schlegelscher Theorie eingebunden sind demgegenüber die Archaismen. Der Autor macht sich lediglich eine Ansicht G. A. Bürgers zu eigen99, wenn er sie besonders für das Epos passend findet: „Veraltete Wörter und Wendungen schicken sich zu der Einfalt des Tons" (VLK/1,472). In der Frage der Regionalismen wendet Schlegel sich gegen die Priorität einer bestimmten Mundart, etwa des Obersächsischen, und betont demgegenüber die plurizentrische Struktur der deutschen Kultur- und Sprachlandschaft: „Es ift nicht dem deutfchen Sinne gemäß, im Reden und Schreiben, fo wie überhaupt für die Sitte des Tages, von einer Hauptftadt die Vorfchrift zu empfangen. Ueberdieß haben wir keine" (DM 1808, 162). Das Deutsche sei eine „National-Angelegenheit", über die „wie in einem freien Gemeinwefen, durch Stellvertreter aller Theile des Ganzen verhandelt werden follte" (ebd.). Dies jedoch nicht nach dem Prinzip der Gleichberechtigung, sondern die einzelnen Regionalvarietäten werden nach bestimmten qualitativen Kriterien eingestuft. Das Niederdeutsche lehnt Schlegel ab: es sei „eine
Dieser empfiehlt antiquierte Wörter für eine Homer-Übersetzung, um den „Ton des Alterthums" wiederzugeben (BÜRGER: DÜH *'1769,72/597; GBH 1771,7/614).
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durch Ausfchließung von der Schriftfprache verwahrlofete und durch Einmifchung des Hochdeutfchen ausgeartete [...] Mundart" (ebd. 163). Das Mitteldeutsche bewertet er schon höher (ebd.), am höchsten jedoch das Oberdeutsche; es hat „weit mehr Bestimmtheit, Charakter und grammatische Construction" als das Niederdeutsche (VEW Ί803-04, 330) und ist „dem Sprachforfcher als Quelle und dem Dichterfilr fein Bedürfniß der Bereicherung befonders wichtig" (DM 1808,163). Dieses Prestigegefälle von Süd nach Nord spiegelt keine zeitübliche Bewertung landschaftlicher Varietäten des Deutschen, sondern entspricht bekanntlich einer für das Mittelalter spezifischen Sichtweise, und in der Tat wird beispielsweise die Schweizer Mundart gerade wegen ihrer lautlichen und in einigen Fällen auch lexikalischen Nähe zum Mittelhochdeutschen gelobt: „In den hohen Bergländern [...] glaubt man oft die Minnefinger reden zu hören" (ebd.). Die Bereicherungsmöglichkeiten der Dichtersprache aus den Dialekten sind allerdings eingeschränkt, und zwar desto mehr, je stärker zu der rein räumlich-geographischen eine soziopragmatische Komponente hinzutritt. Der oben angesetzte Unterschied zwischen Volkspoesie und Kunstpoesie gilt in gleicher Weise für die Sprache. Schlegel führt den Terminus Volkssprache ein, woraus die Parallele deutlich werden kann. - Da keine Sprache jemals gänzlich «depoetisiert» wird, findet sich auch in der Volkssprache, selbst in der „Sprechart des gemeinen Lebens", d. h. im prosaischsten Sprachgebrauch, der „bloß dem Bedürfhisse dient und der künstlichen Pflege entbehrt", eine „gewisse Natürlichkeit der Zeichen" (VLK/1 ! 1801 -02, 404). Aber anders sowohl als in der Ur- oder Natursprache wie in der Sprache der Kunstpoesie ist in der Volkssprache das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit im Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem keine harmonische oder organische Einheit. Der Gegensatz besteht wie oben darin, daß in der letztgenannten die natürlichen Zeichen weniger die „Würde einer freyen Darstellung" aufweisen, als vielmehr „rohe Nachahmung" sind (ebd.; Kursivierungen von mir, J. B.). Die Beispiele, die Schlegel anführt, sind: „kindische Onomatopöien; Ausdrücke, die so viel individuelle Nebenbestimmungen in sich enthalten, daß sie nur auf eine locale Sphäre passen; bizarre und grelle Vergleichungen; Streben nach übertriebener Energie" (ebd.). Die Volkssprache weist damit immer noch weit mehr poetische Elemente auf als die Fach- und Wissenschaftssprache (vgl. S. 114 f.). Gleichwohl ist sie Prosa, und Schlegel wendet sich entschieden gegen den Gedanken, man könne die poetische Sprache durch Wörter oder Redewendungen aus der Volkssprache bereichern: In den Gedichten Bürgers etwa, der dies getan habe, finde sich „vieles Unedle" (VphK ! 1798-99, 10). Für die Poesie sei es vielmehr „äußerst wichtig und vortheilhaft", wenn sie sprachliche Mittel finde, „ihren Ausdruck so viel [als] möglich von dem
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des gewöhnlichen Lebens zu unterscheiden" (VLK/1 ! 1801-02,405). Ebenso wie das Silbenmaß dazu dienen soll, die dichterische Rede als selbstzweckhafte Rede auszuweisen, kommt auch einer von der Alltagssprache abgehobenen poetischen Diktion Symptomqualität zu: Die Poesie „kündigt damit sogleich an, daß sie sich über die gemeine Wirklichkeit erheben will, und der Hörer erfährt, daß er sich unter der Botmäßigkeit einer andern Seelenkraft befindet, als der, welche gewöhnlich die Rede beherrscht" (ebd.).100 Festzuhalten bleibt, daß es Schlegel bei der Aufnahme von Dialektalismen nicht darum zu tun ist, die Dichtersprache der Volkssprache anzugleichen, sondern vielmehr darum, sie durch möglichst großen Umfang zu einem geeigneten Werkzeug möglichst universaler Darstellung zu machen (VEW ! 1803-04,303). Er will, könnte man sagen, der Poesie die Möglichkeit verschaffen, wo nötig volkstümlich zu wirken, ohne es dabei doch sein zu müssen. Bei der Befürwortung von Archaismen, Provinzialismen und Neologismen hat er also zweierlei im Auge: Zum einen geht es ihm, wie der gesamten Tradition, um Sprachbereicherung (VEW ! 1803-04,303; DM 1808,162), zum anderen und vor allem aber um die Arbeit an einer spezifischen, von der Alltagssprache möglichst deutlich sich unterscheidenden Dichtersprache. Erneut wird der Primat der Kunst in der frühromantischen Sprachreflexion erkennbar. Dabei versteht es sich fiir Schlegel von selbst, daß die Poesie „ihren eignen Zweck vernichten [würde], wenn sie so weit von aller Analogie des Sprachgebrauchs abwiche, daß sie völlig unverständlich werden müßte" (VLK/1 ! 1801-02, 406) - die aufklärerische Grundkonstante der Diskussion ist also auch hier noch zu spüren. Allerdings fast nur ex negativo: Schle-
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Dabei handelt es sich per se natürlich noch nicht um ein frühromantisches Programm. Es ist - nur exemplarisch sei dies erwähnt - auch bei Aufklärern wie Gottsched (CD/1 5 1762, 287) greifbar und hängt mit dem bis auf Pseudolongin zurückzuführenden Gedanken zusammen, der Zweck und die Rechtfertigung des «hohen Stils» (sublimi s oder grandis dìcendi generis) sei die Erhebung der Seele (,,ύπό τάληΰοΰς ύψους έπαΰρεται [...] ή ψυχή"; PS.-LONGIN: Erh 1. Η. 1. Jh!, 7, 2). Der Dichter muß folglich über sprachliche Mittel verfügen, den Leser zu bewegen und zu rühren, und die Exklusivität der poetischen Diktion ist zweckmäßig: „Sollten diefe Mittel auch in dem fonst unpoetifchen Vortrag gewòhnlich werden, so wurde der Dichter fich bey manchen Gelegenheiten gar nicht mehr über den gemeinen Vortrag erheben können" (SULZER: ATK/3 j 1793, 741). Schlegel freilich verbindet mit diesem Gesichtspunkt noch das auf Baumgarten zurückgehende Theorem vom Erkenntniswert des Kunsterlebnisses. Der Gedanke, daß die Kunst den Rezipienten über die „gemeine Wirklichkeit" erheben und ihm neue Aspekte eröffnen solle, ist typisch für romantische Theorien (vgl. Anhang II s. v. Poesiemva und romantisch^). Eben das meint Novalis mit seinem vielzitierten Wort vom Romantisiren: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es" (NOVALIS: VFS *1798, 545, Nr. 105). - Vergleichbares auch in ganz anderem romantischem Kontext, mehr als 20 Jahre später und in England: „Poetry lifts the veil from the hidden beauty of the world, and makes familiar objects be as if they were not familiar" (SHELLEY: DP '* 1821; 18401,117).
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gel bezieht eine dezidiert eigene Position, die mit seiner auch sonst kritischen Haltung gegenüber der Aufklärung genau übereinstimmt. Für ihn steht die poetische Qualität der Sprache im Vordergrund; ihre Kommunikationsiunktion interessiert ihn nur sekundär. Daher gehen die poetischen Lizenzen sehr weit: Lediglich „absolute Dunkelheit und Verworrenheit welche durch kein Nachdenken sich ins klare setzen läßt" ist „fehlerhaft", und selbst sie ist es nicht, wenn sie „partienweise in einem Gedicht angebracht" ist, um „dem Eindrucke des Ganzen zu dienen" (ebd.).101 Jede darüber hinausgehende Unverständlichkeitskritik wird mit elitärer, dem horazischen odi profanum volgus et arceo verwandter Geste zurückgewiesen: Der Dichter „braucht nicht für alle zu schreiben" (ebd.). Äußerungen wie diese zeigen, daß Schlegel im Bannkreis der Weimarer Klassiker der Ansicht seines Lehrers Bürger, Dichtung müsse volkstümlich sein, zum Schaden seiner eigenen Theorie fernsteht: Im Gegensatz zu jener Periode der Frühzeit, in der sie kraft ursprünglicher Poetizität der Sprache Allgemeingut war, ist die Poesie im Zustand ihrer kunstmäßigen Ausbildung die „seltene Gabe weniger ausgezeichneter Menschen" (A. W. S C H L E G E L : VphK ! 1798-99, 1 3 ) . Das Programm einer Restitution der ursprünglichen Poetizität der Sprache ist aber in letzter Konsequenz ein demokratisches Programm: «Poesie für alle». Dazu passender als die Forderung nach einer abgehobenen und exklusiven poetischen Diktion wäre der Gedanke einer der Alltagssprache möglichst nahe verwandten Dichtersprache, wie ihn in England etwa zeitgleich William Wordsworth propagiert. Die Diskrepanz, die damit zwischen Anspruch und Vorschlägen zur Verwirklichung desselben besteht, scheint Schlegel nicht gekümmert zu haben.102
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Die Frühromantiker stehen einer potentiellen Unverständlichkeit nicht nur nicht ablehnend gegenüber, sondern schätzen diese, wie Wolfgang Frühwald hervorgehoben hat, im Kontext ihrer Rationalismuskritik sogar als Darstellungs- und Ausdrucksmittel: Sie impliziert „eine in tieferem Sinne universale Verständlichkeit, weil romantische .Unverständlichkeit' die Welt der Phantasie und der Ideen aus den Erklärungsversuchen der Realität nicht ausschließt, sondern die verlorene Totalität der geistigen und der sinnlichen Welt wiederherzustellen versucht" (Frühwald 1983,142 f.). An Punkten wie diesem wird die herzliche (und auf genauer Gegenseitigkeit beruhende) Abneigung intellektueller Aristokraten gegen die so empfundene «Mediokrität» greifbar: Schlegel will nicht die Poesie populär machen, sondern allenfalls den «Pöbel» poetisieren - wobei aber seine Abneigung gegen den letzteren so ausgeprägt ist, daß er auch nicht ansatzweise bereit ist, in die intellektuellen «Niederungen» herabzusteigen. Man hat es hier mit einer prinzipiellen Schwäche der Frühromantiker hinsichtlich der praktischen Umsetzung ihrer avantgardistischen Theorien zu tun, die sie verhinderte, eine der Aulklärung vergleichbare geistige Massenbewegung ins Leben zu rufen: Wer partout allein mit denen symphilosophieren will, die „à la hauteur" sind (F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 249/210, Nr. 264), wird zwangsläufig nur im engsten Kreis wirken. - Freilich muß betont werden, daß diese prinzipielle Schwäche prinzipiell nicht auf Desinteresse am Leser oder Unfähigkeit zur Breitenwirkung beruht, sondern im Rahmen der frühromantischen «Antihermeneutik» konzeptionell eingebunden und begründet ist (vgl. Anm. 101 und S. 293 ff.). Es ist der fast tragische Zug ihrer geistigen Existenz, daß die Leidenschaft der Frühromantiker für das Unbedingte selbst vor der eigenen Sache nicht haltmacht.
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Ein dritter Aspekt, der für die Rückführung der Sprache zur Poesie wichtig wird, ist die Beachtung der Regeln des Wohlklangs, und zwar sowohl unter dem Aspekt der Euphonie wie der Eurhythmie. Abgesehen von einigen sehr speziellen, hier nicht weiter interessierenden Anweisungen hebt Schlegel insbesondere auf die Verwendung des Reims einerseits, des Versmaßes andererseits ab. Der Reim ebenso wie das Wortspiel, das im selben Kontext behandelt wird ( VphK ! 1798-99,44, Anm.; VLK/1 1801-02,439; VEW Ί803-04, 318; DKL/2 ^ 1808; 1809-11\ 193 f.), dient der Wiedergewinnung der sprachlichen Eigenschaft, „die bezeichneten Gegenftände durch den Laut finnlich dar[zu]ftellen" (DKL/2, 194) und - dadurch, daß „Verwandtes und Ähnliches durch ähnliche Laute bezeichnet" wird - „das Äußere und Innere mit. einander in Übereinstimmung" zu setzen (VEW, 318). Bei beiden «Figuren» handelt sich um zufälligen Gleichklang, dessen sich die Phantasie bedient, um „in einem einzelnen Falle" - gleichsam stellvertretend oder ersatzweise - „die verlorne Aehnlichkeit zwifchen Wort und Sache wieder hervorzurufen" (DKL/2, 194). Der Reim wird auf diese Weise in die Nähe der Onomatopöie und des natürlichen Zeichens gerückt und gewinnt semantische Qualität; er ist „eine von den Redefiguren [...], die aus Klang und Bedeutung der Wörter gemischt sind" (VEW, 318), da durch ihn völlig Verschiedenbedeutendes aufgrund des Gleichlautes miteinander in Beziehung gesetzt wird: „Wirkung des Reimes überhaupt: Verknüpfung, Paarung, Vergleichung. [...] Allgemeines Verschmelzen, hinüber und herüber ziehen, Aussichten ins Unendliche" (VLK/1 '1801-02, 438 f.). Ihm kommt folglich ebenso wie der auf den semantischen Bereich beschränkt bleibenden Metapher eine Synthesis- oder Vermittlerfunktion zu, die übrigens auch noch darin gesehen werden kann, daß er einzelne Verse zu Strophen verbindet (VLK/3 ! 1803-04, 161 f.; VEW'1803-04, 317). Analog dazu nimmt der Reim in Schlegels Theorie selbst eine Mittelposition ein: die zwischen Assonanz und Alliteration (VphK ' 1798-99, 43; VLK/1 4801-02, 438; VEW ! 1803-04,316 f.). Er ist damit die vornehmste der Klangfiguren, da er mit Vokalen und Konsonanten gleichermaßen arbeitet, deren ausgewogenes Verhältnis seinerseits zum Wohlklang beiträgt (vgl. S. 247, Anm. 178). Obwohl freilich auf diese Weise in ihm das „romantische Prinzip, welches das entgegengesetzte des plastischen Isolirens ist", erkannt wird (VLK/1 ! 1801-02, 439), ist die Theorie des Reims nicht eben sonderlich breit ausgeführt - zumindest nicht, was seine Bedeutung für die Repoetisierung angeht: Schlegel beschränkt sich auf die wenigen hier zusammengestellten Andeutungen. Weitaus intensiver widmet er sich demgegenüber der Metrik.
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Auch dabei liegt die Überzeugung zugrunde, daß Sprache um ihrer selbst willen gesprochen werden müsse, wenn sie ihre ursprüngliche Qualität wiedergewinnen soll. Zu erinnern ist an die Wesensbestimmung der redenden Künste im Gegensatz zu den bildenden, wie sie oben ausgeführt wurde: Die Poesie (ebenso wie die Musik) bezieht sich auf den «inneren Sinn» und stellt sukzessiv dar, wohingegen Malerei und Plastik den «äußeren Sinn» affizieren und simultan darstellen. Sprechen um des Sprechens willen heißt in diesem Zusammenhang, der Sukzessivität einen Eigenwert zuzugestehen und sie zur uneingeschränkten Herrschaft kommen zu lassen. „Nur dadurch wird der Hörer aus der Wirklichkeit entrückt, und in eine imaginative Zeitreihe versetzt, daß er in der Rede selbst eine gesetzmäßige Eintheilung der Successionen, ein Zeitmaß wahrnimmt; und daher die wunderbare Erscheinung daß die Sprache grade in ihrer freyesten Erscheinung, als bloßes Spiel gebraucht, sich des sonst in ihr herrschenden Charakters der Willkühr freywillig entäußert, und [sich] einem ihrem Inhalte scheinbar fremden Gesetze unterwirft" (A. W. SCHLEGEL: V L K / 1 ' 1 8 0 1 - 0 2 , 2 7 0 ) .
Wieder wird der grundlegende Gedanke greifbar, daß die Sphäre der Kunst einen eigenständigen Bereich der Mitte darstellt: Sie ist nicht, wie alles im Bereich des Verstandes und des täglichen Lebens, fremdbestimmt, und sie ist auch nicht völlig unbestimmt oder bestimmungslos wie das Unendliche, sondern selbstbestimmt damit beider Sphären teilhaftig und doch keiner zugehörig. Diese Kombination aus Absolutheit und Bedingtheit ist dieselbe, die in der Genietheorie als Verbindung von freier und notwendiger Produktion begegnet war, und sie ist es auch, die das Metrum zu einer wesentlichen Eigenschaft der Poesie macht (vgl. S. 108). Die Behandlung der unterschiedlichen antiken und modernen Versmaße nimmt in den meisten poetologischen Texten Schlegels einen mehr oder weniger breiten Raum ein; als ausgewiesener und anerkannter Metrikspezialist legt er hier weit mehr als in anderer Hinsicht Wert auf Detailkenntnis und philologische Akribie. In seiner eigenen praktischen Arbeit als Übersetzer sowohl wie als Dichter nimmt folgerichtig der Umgang mit der poetischen Form eine herausragende Stellung ein. Schlegels Virtuosität auf diesem Gebiet findet die Bewunderung seiner Zeitgenossen; auch seine Gegner erkennen sie uneingeschränkt an. Seine Liebe zum „Buchstaben der Poesie" geht so weit, daß er einmal „unwissenden und gefühllosen Kritiker[n]" rät, „alle hochfliegende Gedanken fahren zu lassen, und einige Jahre im stillen darüber zu ruminiren, was wohl ein Triolet sey" (VLK/3 !1803-04, 52). Wenngleich dabei interessante Aspekte begegnen, würde es zu weit führen, Schlegels gesamte theoretische Überlegungen und empirische Untersuchungen zur Metrik nachzuvollziehen. Bedeutsam im vorliegenden Zusammenhang ist allein die Tatsache, daß er das Silbenmaß mit dem Ursprung der Poesie - und damit zugleich mit dem der Sprache - verknüpft und ihm wie der Tropik die Funktion zuschreibt,
Die Restitution der Sprache durch die Poesie II: Praxis
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eine prosaisch gewordene Sprache wieder zu ihrer Ursprünglichkeit zurückzubringen: Da die Poesie „gemeinfchaftlich mit Mufik und Tanz" entstand (BPSS 179596,108) und der Rhythmus das allen dreien Gemeinsame, besser: die Grundeigenschaft der einigen Urkunst ist (vgl. S. 108), muß auch nach ihrer Trennung von den beiden anderen Künsten die Poesie „Gelang und gleichfam Tanz in die Rede zu bringen fuchen, wenn fie noch dem dichtenden Vermögen angehören, und nicht bloß Uebung des Verftandes fein will" (BPSS, 109). Die sonstigen Vorschläge zur konkreten Repoetisierung können vergleichsweise kurz abgehandelt werden. Neben dem Gebrauch von Tropen, dem Einsatz von Archaismen, Provinzialismen und Neologismen und der Verwendung von Reim und Silbenmaß nennt Schlegel die folgenden Mittel, um die Rede vom allgemeinen Sprachgebrauch abzuheben: •
Besondere ,ßiegungsarten der Wörter" (VLK/1 ! 1801 -02,406), d. h. Eigentümlichkeiten der Flexion. Hierbei ist wohl vor allem an antiquierte und/oder regionale Formen gedacht, da man in das Flexionssystem einer Sprache im Unterschied zur Lexik nicht ohne weiteres neue Formen einführen kann. Daneben sind auch bestimmte „Veränderungen, Abkürzungen u. s. w." der Laute und Silben erwähnt, aus denen ein Wort besteht (ebd.). Was damit gemeint sein soll, wird nicht erklärt; man hat sich darunter möglicherweise Erscheinungen wie den Wegfall des unbetonten e vorzustellen, auf das Schlegel und überhaupt die Frühromantiker vor allem im Inlaut gern verzichteten: allenthalben belegt sind Synkope {Innres, Äußres, zusammengezogne...) bzw. Ekthlipsis (dieß) und Kontraktion (giebts, machis, läßtsichs...)', die Synärese (gesaget > geseit) verwendet Schlegel zwar nicht selbst, bemerkt sie jedoch wohlwollend in den oberdeutschen Mundarten (DM 1808, 164).
•
Besondere „Wortfügungen" und „Wortstellungen" (VLK/1 Ί801 -02,406). Beides ist nicht näher erläutert. Deutet man Wortfügung als Wortbildung oder auch als Phrasematik, Wortstellung als Syntax, so würde erstere eher zur sprachlichen «Inhaltsseite» tendieren, letztere könnte der «Ausdrucksseite» zugerechnet werden. Zwar wird eine solche Interpretation durch die traditionelle Verwendung der Termini im 18. Jahrhundert nicht gestützt: Wortfügung und Wortstellung werden meist einfach synonym für >Satzbau, Wortfolge im Satz< gebraucht, und Schlegel stellt keine Ausnahme dar. Andererseits unterscheidet er der Sache nach sehr wohl zwischen Wortbildung und Syntax, und beide Bereiche sind für die Brauchbarkeit einer Sprache zu poetischen Zwecken relevant. „Der Reichtum einer Sprache liegt weniger in der Anzahl der vorhandenen Wörter, als in
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der Fähigkeit, durch Ableitungen und Zusammensetzungen, mit unmittelbaren und verständlichen Wörtern aus eignen Mitteln sich fortzubringen" (VphK '1798-99,28; vgl. auch VLK/1 !1801-02, 427); dieser Reichtum kommt der philosophischen, aber eben auch der poetischen Sprache zugute (VLK/2 '1802-03, 547). Vor allem bei der Wortbildung durch Zusammensetzung ist der synthetische Aspekt hervorzuheben: Diese „gewährt nicht bloß den Vortheil einer bedeutenden Kürze, sondern die Einheit des Verknüpften wird auch für die Fantasie besser dargestellt" (VEW11803-04, 334; Kursivierung von mir, J. B.). Auch hier kommt wieder der Topos vom kognitiven Wert der Kunst ins Spiel: Die Komposition von Signifikanten kann eine neue, möglicherweise unerwartete Perspektive auf Beziehungen zwischen den Signifikaten eröffnen. Diese Betonung des im Zusammenbringen von Getrenntem liegenden kreativen Moments, die Schlegels symbolisch-poetische Sprachauffassung ausmacht, begegnet immer wieder und in verschiedensten Kontexten. Selbst die Syntax hat, wie kaum anders zu erwarten, Synthesisfunktion. Wünschenswert für die Poesie ist eine möglichst große Freiheit der Wortfolge nach dem Vorbild des Lateinischen und Griechischen, wo es „der Deutlichkeit keinen Abbruch thut", wenn man „das zusammen Gehörige auch ziemlich weit trennt" (VEW Ί80304, 325). Diese Freiheit erlaubt es dem Dichter, „für das Gefühl und die Fantasie [...] noch so manches auszudrücken, was nicht in den bloßen Begriffen liegt" (ebd.), indem er, wie durch Tropik, Reim und Wortbildung, so auch im Satzbau Verknüpfungen herstellt und Auseinanderliegendes aufeinander bezieht: „In der Poesie liegt eben in der Verschlingung eine große Schönheit, indem dadurch ein ganzes Bild aufs innigste vereinigt und gleichsam zu einem einzigen großen Worte gemacht wird" (ebd.). Auch bei der positiven Bewertung verkürzender Partizipialkonstruktionen, etwa des Partizipium conjunctum (ebd. 333) mag der Gesichtspunkt der Verschmelzung eine Rolle spielen. •
Verwendung von Beiwörtern oder Epitheta. Da die Poesie im Gegensatz zur verstandesmäßigen Prosa, der es um allgemeine, abstrakte Begriffe geht, „darstellen, Bilder in unsrer Fantasie hervorrufen" will (VLK/1 ' 1801-02,407) und zu diesem Zweck konkrete und individuelle Anschauungen vermitteln muß, ist es „erlaubt und schicklich [...] zu sagen: die weiße Milch, die rothe Rose u. s. w." (ebd. 408). Im poetischen Text handelt es sich dabei nicht um eine Tautologie, sondern um eine „Auffoderung, die so beschriebne Sache sich nicht als todten Begriff zu denken, sondern sie sich als sinnlichen Gegenstand anschaulich vorzustellen" (ebd.).
•
Etymologisierendes Sprechen. Dieses soll gleichfalls dazu dienen, die ursprüngliche Bildlichkeit der Sprache überhaupt und der einzelnen Wörter und Wortfü-
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gungen insbesondere wiederherzustellen: „Die Abstammung kann ganz verdunkelt oder gänzlich veraltet sein; wenn die Beziehung auf die Abstammung noch sichtbar ist, so muß sie der Dichter hervorrufen" (VphK ! 1798-99,27). Außerdem trägt ein hoher Grad an etymologischer Durchsichtigkeit, der als „Ursprünglichkeit" verstanden und als Voraussetzung für die Vielfältigkeit von Wortbildungsmöglichkeiten gesehen wird (VLK/2 ! 1802-03, 547; vgl. auch VLK/3 1803-04,20; VEW ! 1803-04, 325; 334), zur Motiviertheit sprachlicher Zeichen bei: Die Wörter werden „nicht bloß einzeln, sondern in ihrer ganzen Verwandtschaft durch die Herleitung verstanden" (VLK/2,547). - Daß es sich auch bei der etymologisierenden Wortverwendung um elitäres Sprechen handelt, wußte Schlegel sehr wohl, konnte es zumindest bei seinem Bruder nachlesen: „Das ficherfte Mittel unverftândlich oder vielmehr misverftândlich zu feyn, ift, wenn man die Worte in ihrem urfprûnglichen Sinne braucht; befonders Worte aus den alten Sprachen" (F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 183/168, Nr. 19).
Zusammenfassung Sprache und Kunst sind für Schlegel ursprünglich identisch: Beide, Ursprache (VLK/11801-02,399 ff.) sowohl wie Urkunst (ebd. 272; 388) werden als Poesie{2) bezeichnet. Sprache ist anfänglich poetisch, d. h. rhythmisch und sonor („gesangähnlich"). Ihre Poetizität besteht darin, daß sie Sprechen um des Sprechens willen ist. Sie wird prosaisch (verliert ihre Rhythmik und ihren Klangreichtum und wird artikuliertes Sprechen), sobald sie zur Verfolgung fremder Zwecke eingesetzt wird. Wieder poetisch und damit ursprünglich wird sie, wenn ihr Sprechen keinen «fremden Zwecken» mehr dient, sondern zum Selbstzweck wird, also wenn sie um des Sprechens willen gesprochen wird. Auf den Punkt gebracht ist das Schlegelsche Konzept der Repoetisierung in einer Notiz Hardenbergs, der diesbezüglich ganz ähnliche Auffassungen vertritt: „Unsre Sprache [...] war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so prosaisirt - so enttönt. [...] Sie muß wieder Gesang werden" (NOVALIS: ABr *1798, 283 f., Nr. 245). Derselbe Gedanke findet sich bei Hölderlin (vgl. S. 67 sowie 330 f.) und auch bei Bernhardi: „Der Menfch ift [...] in allem feinem Thun und Treiben nichts als eine Kraft, welche, nur mit Verfchiedenheit der äußern Bedingungen, ewig in fich zurückkehrt. [...] Im Phyfifchen hat man dies lângft eingefehn, und das Alter oft eine zweite Kindheit genannt. [...] was ift Weisheit anders, als die wiederhergeftellte, durch Freiheit und innere Kraft gewonnene Unfchuld der Kindheit? Diefer Cyklus, welcher aus der innerften Natur des Menfchen erklärbar ift [...], muß fich ebenfals in der Sprache vorfinden. Denn fie ift Allegorie des Menfchen und feiner Natur, eine finnliche Konftruk-
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tion feines Wefens, und den Gefetzen desfelben, eben Γο gut wie eine jede andere Aeußerung, unterworfen. Und fo múfite demnach [...] die gebildetefte Sprache, eben in dem hóchften Punkte ihrer Bildung und um desfelben willen, freier und fchôner zu ihrem Urfprunge zurücklaufen" (BERNHARD! : Spl/1 1801,68 f.).
Bei allen drei Autoren jedoch, bei Novalis, Hölderlin und Bernhardi, erscheint der Repoetisierungsgedanke nur am Rande. Bei A. W. Schlegel kommt ihm dagegen eine zentrale Rolle zu: Alle wesentlichen Bereiche der Schlegelschen Sprachtheorie lassen sich von diesem Gedanken her erschließen. - Sechs Punkte sind festzuhalten. 1 ) Die poetische Diktion muß von der Alltagssprache (Sprache des gewöhnlichen/ gemeinen Lebens) so weit als möglich abweichen (A. W . SCHLEGEL: V L K / 1 '1801-02, 405). Dabei soll sie zwar noch verständlich bleiben, aber dieser Aspekt ist für Schlegel ohnedies eine sprachliche Grundvoraussetzung, daher trivial und im Gegensatz zur aufklärerischen Sprachreflexion durchaus zweitrangig· 2) Die für die Repoetisierung der Sprache relevanten Aspekte sind im wesentlichen folgende: Etymologisierendes Sprechen; symbolisches Sprechen, insbesondere Verwendung von Bildern und Tropen; Gebrauch unüblicher Wörter, v. a. von Archaismen, Provinzialismen und Neologismen; im Zusammenhang mit letzteren freie Nutzung der Wortbildungsmöglichkeiten; Verwendung von Epitheta; Beachtung der Regeln des Wohlklangs, insbesondere Einsatz von Reim und/oder Versmaß; ungewöhnliche Wortflexion; eigentümliche Syntax. - Bei Schlegel nicht erwähnt wird die faktisch zum selben Themenbereich gehörende bewußte Vermeidung von Monosemie bei zentralen Ausdrücken (vgl. S. 345 ff.). 3) Kunst bzw. Poesie wird als Verbindung des Alltäglich-Wirklichen und des Absoluten angesehen. Beide Sphären reichen in sie hinein, aber sie transformiert beide. Die Realität wird unausgesetzt poetisiert oder romantisiert (vgl. Anhang II s. v. Poesiem und romantisch8)103, das Unendliche wird symbolisch, also durch Endliches dargestellt und mithin ebenfalls poetisiert oder romantisiert (vgl. Anhang II s. v. Poesie-, und romantisch6)104 - in der Poesie liegt daher die
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,,[D]ie Fantasie räumt dieses störende Medium [Wirklichkeit] hinweg und versenkt uns in das Universum, indem sie es als ein Zauberreich ewiger Verwandlungen, worin nichts isolirt besteht, sondern alles aus allem durch die wunderbarste Schöpfung wird, in uns bewegen läßt" (A. W . SCHLEGEL: VLK/1 1 1801-02, 251). ,,[J]edes Ding stellt zuvörderst sich selbst dar, d. h. es offenbart sein Innres durch sein Äußres, sein Wesen durch die Erscheinung, demnächst das, womit es in näheren Verhältnissen steht und Einwirkungen davon erfahrt; endlich ist es ein Spiegel des Universums" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί80102, 250 f.).
Zusammenfassung
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Alleinheit nur „der Ahndung und Anfoderung nach" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 ! 1801-02,251; vgl. Anhang II s. v. romantisch10). Damit ist erneut die Vermittlungsposition bezogen - es zeigt sich, daß dieser Aspekt für Schlegels gesamte Philosophie grundlegend ist. 4) Poesie ist die letztlich allein angemessene Art der menschlichen Beschäftigung mit dem Weltganzen. Nur sie bringt das All adäquat zur Darstellung, wobei «adäquat» und «angemessen» hier soviel heißen soll wie «entsprechend»: Das Absolute wird nicht als solches gefaßt, sondern in Symbolen - vgl. Punkt 3) - , eine Umformung, die man als Übersetzung deuten und wie Cervantes mit „Bruffelfchen Tapeten an der verkehrten Seite" vergleichen könnte, „wo die Figuren noch kenntlich, aber durch die zufammenlaufenden Faden fehr entftellt find" (zitiert nach A. W. SCHLEGEL: NSÜ 1799, 280/125; vgl. auch VLK/2 !1802-03, 480). Die Poesie „läßt noch jenseits der höchsten Speculation des Philosophen Seherblicke thun" und ist deshalb „der Gipfel der Wissenschaft" (VLK/1 ! 1801 02, 388), das „geschickteste Organ [...] um das Göttliche und Höchste im menschlichen Geist zu offenbaren" (VLK/2 ! 1802-03,480). Daher ist die „gegenseitige Verkettung aller Dinge durch ein ununterbrochnes Symbolisiren, worauf die erste Bildung der Sprache sich gründet", und die „in der Wiederschöpfung der Sprache, der Poesie, hergestellt werden" soll, kein „bloßer Nothbehelf unsers noch kindischen Geistes", sondern wäre dessen „höchste Anschauung, wenn er je vollständig zu ihr gelangen könnte" (VLK/1 1 1801-02,250). 5) Eine ausschließlich oder weitgehend unter der Botmäßigkeit des Verstandes stehende Sprache zu repoetisieren oder wieder zu «versinnlichen», meint nicht, sie zu «entgeisten». Das All, das durch sie dargestellt werden soll, ist nur der intellektuellen Anschauung zugänglich, einer spezifischen Verbindung von Geistigem und Sinnlichem, die schon im Wortlaut zum Ausdruck kommt. Die Kunst im allgemeinen und die Poesie im besonderen ist die Sphäre des gleichberechtigten Neben- und Miteinander von Freiheit und Notwendigkeit, innerem und äußerem Sinn, Sub- und Objektivität etc. 6) Repoetisierung als „Wiederschöpfung der Sprache" meint die Rücksetzung derselben in ihre Ursprünglichkeit, die Wiedergewinnung ihrer Schöpferkraft. Der poetische Akt ist ein Analogon des Sprachursprungs, d. h. des initialen Erkenntnisaktes, durch den das Selbstbewußtsein und die Welt gleichermaßen konstituiert werden: „Das Medium der Poesie [...] ist eben dasselbe, wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt [...]: die Sprache. Daher ist sie auch nicht an Gegenstände gebunden, sondern schafft sich die ihrigen selbst; sie ist die umfassendste aller Künste, und gleichsam der in ihnen überall gegenwärtige Universal-Geist. [...] Poesie bezeichnet also in diesem Sinne überhaupt die künstlerische
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Erfindung, den wunderbaren Akt, wodurch dieselbe die Natur bereichert; wie der Name aussagt, eine wahre Schöpfung und Hervorbringung" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02, 387).
Es stellt sich heraus, daß die Untersuchung von Schlegels Sprachphilosophie einen Kreis beschrieben hat und mit der Wendung zum ursprünglich-poetischen Sprechakt zu ihren anfänglichen Gegenständen zurückgekehrt ist. Tatsächlich aber hat sie diese niemals verlassen bzw. dreht sich beständig um sie wie um ein verborgenes Zentrum. Das Spannungsfeld von Ursprung und Ursprünglichkeit ist letztlich der Bezugsrahmen für alle behandelten Aspekte, von der Theorie der Universalpoesie bis zu den metrischen Untersuchungen, von den Überlegungen zur Sprachlichkeit des Selbstbewußtseins bis zur Phonologie.
Autoren II: Schelling „Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbftoffenbarung Gottes. Gott aber kann nur fich offenbar werden in dem, was ihm ähnlich ift, in freien aus fich selbst handelnden Wefen; für deren Seyn es keinen Grund gibt als Gott, die aber find, fowie Gott ift. Er fpricht, und fie find da." (SCHELLING: WmF 1809,291)
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) als Philosophen der Sprache sehen zu wollen, fällt nicht ganz leicht. Abgesehen von einigen etwas ausführlicheren Anmerkungen in der Philoiophie der Kunß (! 1803-04) gibt es nur wenige Stellen, an denen er sich - immer knapp und in anderem Kontext - zu diesem Thema äußert. Eine eigentliche Sprachtheorie, d. h. eine Betrachtung der Sprache um der Sprache willen, findet sich bei Schelling nicht. Er scheint sich dafür wenig interessiert zu haben; seine Anliegen sind ganz andere. Das heißt nicht, daß er sprachtheoretische Literatur seiner Zeit nicht zur Kenntnis genommen hätte (wenn er auch im Vergleich zu den Brüdern Schlegel oder Bemhardi stets Laie auf diesem Gebiet blieb), oder daß die Diskussion z. B. in der Sprachursprungsdebatte an ihm vorbeigegangen wäre. Es kam ihm nur offenbar nicht in den Sinn, dem Phänomen Sprache im Rahmen seines philosophischen Gesamtwerkes mehr als ein paar Randbemerkungen zu widmen. Für den hier nicht berücksichtigten späten Schelling105 gilt diese Feststellung nicht in gleicher Weise; für ihn sind „Sprache und Bewußtsein [...] untrennbar verbunden", und daher ist „die Geschichte des Bewußtseins zugleich eine Geschichte der Sprache" (Hennigfeld 1984,28). Demgegenüber verleitet in früheren Jahren die Feststellung, daß „unfer bisher unabfichtlich gebrauchtes deutfches Wort Β e d i η 105
Aufgrund des allgemeinen Zeitrahmens der Untersuchung kommen hier nur «frühe» Äußerungen in Betracht - gemeint sind Texte bis ca. 1810. Da sich das Denken Schellings bei allen scheinbaren Widersprüchen doch kontinuierlich und konsequent entwickelte (vgl. ζ. B. W. Schulz 1955, 112144), sind «Perioden» dieses Denkens nur schwer abzugrenzen. Man kommt, wenn man die identitätsphilosophisch begründeten Äußerungen zur Sprache behandeln will, nicht umhin, auch Übergänge von der Identitäts- zur Religions- oder Offenbarungsphilosophie in den Blick zu nehmen, ζ. B. die Philofophifchen Unterfuchungen über das Wefen der menfchlichen Freiheit und die damit zufammenhängenden Oegenftände (1809), die Stuttgarter Privatvorhfungen ( Ί 810), und - speziell zur Sprachreflexion - den weitgehend unbekannten Bericht über den pañgraphiíchen Verfuch des Profeffor Schmid in Dillingen (* 1811 ). Nicht eingegangen wird dagegen auf die Äußerungen zur Sprache im 1. Buch der Einleitung in die Philoiophie der Mythologie ( Ί 842) und den Akademievortrag Vorbemerkungen zu der Frage über den Urfprung der Sprache (1850).
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g e n [...] in der That ein vortreffliches Wort [ift], von dem man Tagen kann, daß es beinahe den ganzen Schatz philofophifcher Wahrheit enthalte", den Autor lediglich zu einem Aperçu über die „philofophifche Bildung der Sprachen", die ein „wahrhaftes durch den Mechanismus des menfchlichen Geiftes gewirktes Wunder" sei (IPPh 1795,166), und im Syftem des transfcendentalen Idealismus, das, als „Gefchichte des Selbftbewußtfems" (StI 1800, 399) begriffen, noch heute zu einer philosophischen Sprachursprungstheorie interessante bewußtseins- und erkenntnistheoretische Aspekte zu liefern imstande wäre, erscheint das Wort Sprache nur zweimal in innerem Zusammenhang mit dem jeweils Behandelten (ebd. 499; 509 f.). Dennoch ist die Behauptung gerechtfertigt, daß Sprache in Schellings Identitätsphilosophie eine besondere Rolle spielt; Hennigfeld ( 1984, 16) spricht sogar von einem „eigenständigen sprachphilosophischen Ansatz". Als Argument hierfür kann nicht nur der formale Aspekt dienen, daß die Krönung seines Weltgebäudes - zumindest eine Zeitlang - die Kunst darstellt, der Kulminationspunkt der Kunst aber für ihn in den redenden Künsten liegt. Auch inhaltlich ist eine ausgezeichnete Funktion der Sprache nachzuweisen, die zwar nicht an den prominenten Eckpunkten, aber gerade in den oft unscheinbaren Schlüsselstellungen des Schellingschen Systems ausfindig zu machen ist. Der Gedanke ist nicht einmal neu: Bereits 1927 deutet E. Fiesel Schellings sprachphilosophische Relevanz an. 1977 behandelt E. Coseriu Schellings Sprachreflexion in einem Festschriftbeitrag. 1984 erscheint an einschlägiger Stelle (in den Philosophischen Jahrbüchern) J. Hennigfelds richtungweisender Aufsatz Schellings Sprachphilosophie. Ebenso finden sich interessante und hilfreiche Anmerkungen zu Schellings Sprachauffassung in B. Wannings Monographie über das Identitätssystem als Grundlage der Kunstphilosophie (1988). Trotz allem gilt bis heute: Die philosophische sowohl wie die philologische Fachwelt ist sich des Themas kaum bewußt (Coseriu 1977,1 ). Die Tatsache, daß Hennigfeld Coseriu offenbar nicht zur Kenntnis genommen hat, und Wanning offenbar beide nicht, scheint symptomatisch. Nicht nur als Person und unter allgemeinen Aspekten seiner Philosophie ist Schelling in der Nähe des frühromantischen Kreises in Jena anzusiedeln, sondern auch und gerade im Hinblick auf seine Sprachreflexion. Die Bemerkung, daß diese „begrifflich und tendenziell viel näher derjenigen von Hamann oder von F. Schlegel als derjenigen von Hegel oder von Humboldt steht" (Coseriu 1977, 1), ist zu präzisieren: Schelling kann als herausragendster Vertreter des logosmystischen Diskurses in der frühromantischen Sprachreflexion gelten. Im Zentrum seiner philosophischen Überlegungen zur Sprache steht das schöpferische Wort Gottes, wie es die ganze barocke Sprachtheorie kennt und wie es besonders in der Sprachmystik eines Jacob Böhme begegnet. Allerdings ist es bei
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Schelling in modifizierter Weise gefaßt, was mit seinem spezifischen Gottesbegriff zusammenhängt. Gott (das Absolute) ist das Universum und wird als ein sich selbst anschauendes Wesen verstanden. Diese Selbstanschauung oder Selbsterkenntnis ist zugleich ein schöpferischer Akt. Das All erzeugt sich selbst; anders ausgedrückt: Das All und seine Erzeugung sind identisch. Im gegenwärtigen Kontext interessiert dabei vor allem die Tatsache, daß die produktive Reflexion Gottes wesentlich sprachlicher Natur ist. Man könnte sie - in einer vom fachüblichen Gebrauch des Wortes ganz verschiedenen Verwendungsweise freilich - den «Sprechakt» Gottes nennen, bzw. (da das All seine eigene Erzeugung ist) Gott selbst den «absoluten Sprechakt». Neben diesem universalistischen Ansatz ist bei Schelling vor allem die für die gesamte Frühromantik so typische Durchdringung der Sprachtheorie mit kunstphilosophischen Aspekten festzustellen. Das schöpferische Sprechen Gottes ist für ihn poetisches Sprechen; die Produkte dieses Sprechens (das Universum im ganzen, dann auch die reale Welt, die Natur, zuletzt die menschliche Sprache selbst) sind demnach Kunstwerke. Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge ist ein kurzer Blick auf das philosophische System des Autors hilfreich.
Schellings Identitätsphilosophie Schelling treibt, ganz in der Tradition des neuzeitlichen Denkens seit Descartes, vor allem Erkenntnisphilosophie. Sein spezifischer Ansatz besteht darin, Erkenntnistheorie des deutschen Idealismus mit romantisch-mystischer Unitätsmetaphysik und spinozistischem Pantheismus zu verbinden. Ausgangspunkt und Grundlage aller Philosophie, heißt es im Würzburger System, sei der Satz, „daß es ein und dasfelbe ift, das da weiß und das da gewußt wird" (SCHELLING: SgPh !1804, 137). Jedes Wissen oder Erkennen nennt Schelling die Affirmation eines Objekts durch ein Subjekt; die absolute Identität beider Komponenten wird mit Gott gleichgesetzt einem ganz unchristlichen, vorerst überhaupt religionsunspezifischen Gott freilich, dessen Wesen sich formal adäquat ausdrücken lassen soll in dem Satz A = A, dem „Gefetz der Identität" (ebd. 145; im Original Sperrdruck). Für sein kognitionsphilosophisches Konstrukt bemüht Schelling eine Neuauflage des ontologischen Gottesbeweises Anselms von Canterbury (1033-1109). Gott wird als vollkommen gefaßt, als aliquid quo nihil maius cogitari possit (ANSELM : Plg *1077/78,101); der Begriff Gottes impliziert damit zugleich dessen reale
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Existenz.106 Da ihm, wie Schelling Anselms Beweis paraphrasiert, „nichts gebricht", er vielmehr alles Umfaßbare tatsächlich umfaßt, ist Gott demnach „unmittelbar [.. .] auch abfolutes All, Univerfum" (SCHELLING: SgPh Ί804, 174; vgl. auch DSPh 1801, 125 und PhK'1803-04, 375). Als Identität von Subjekt und Objekt der Erkenntnis ist die absolute Identität eine «Selbstaffirmation» oder Selbsterkenntnis (SgPh 4804, 168, § 19). Gottes Erkenntnis seiner selbst bewirkt zugleich die Existenz seiner selbst (ebd. 198). Anders ausgedrückt: Aus der Selbsterkenntnis Gottes folgt Gott (das Unendliche); das Universum erscheint damit als Produkt des absoluten (Selbst)erkenntnisaktes. Allerdings ist dieser Erkenntnisakt nicht so etwas wie ein «Urknall», vor dem nichts war und nach dem Gott wäre. Gott folgt aus seiner Selbstaffirmation nicht der Zeit nach, sondern hat „überall kein Verhältniß zu der Zeit" (ebd. 158). Gemeint ist eine implikative Folge im Sinne des ontologischen Gottesbeweises. Eben darauf bezieht sich Schelling, wenn er betont, der absolute Erkenntnisakt sei nicht als Handlung zu denken (ebd. 170). Handlung bedeutet hier eine mit Veränderung einhergehende zeitliche Abfolge und impliziert damit schon Relativität (Bezüge von «vorher» und «nachher», «so» und «anders»). Der absolute Erkenntnisakt ist keine Voraussetzung oder Bedingung Gottes, er ist Gott selbst (SCHELLING: SgPh !1804, 170; DSPh 1801, 119, § 13). Damit wird zugleich der möglichen Vorstellung begegnet, daß Gott sich im absoluten Erkenntnisakt gleichsam selbst «aufspalte» in Erkennendes und Erkanntes. Vielmehr ist umgekehrt die Gespaltenheit der Grund der Identität (vgl. auch S. 148 f.). Die Selbsterkenntnis Gottes ist keine «Analysis» eines ursprünglich Ungeteilten. Gott = Gott; da er in Erkennendes und Erkanntes immer schon «zerfallen» ist, also immer schon sich selbst und die Identität seiner mit sich selbst erkennt, ist der absolute Erkenntnisakt (Gott) als ewiger Ursprung seiner selbst zu verstehen, nicht als einmaliger Ursprung eines anderen. - Damit folgt aus Gott wiederum nichts als Gott (absolute Identität). Die Wendling, durch die sich die Tautologie heben läßt und der Satz A = A sich zum Schellingschen Weltsystem öffiiet, besteht darin, Objektives und Subjektives, Affirmiertes und Affirmierendes je für sich allein zu betrachten. Damit werden die Dinge „nicht an fich oder dem Wefen nach, fondern nur ihrer formellen Differenz nach" gesehen (SCHELLING: SgPh Ί804, 172); insofern sie nicht absolut identisch (nicht «in Gott») sind, erscheinen sie unter den Folgen einer «Beraubung» (privatio) der Vollkommenheit. Nur das, was «an sich», in bezug auf das All betrachtet wird, hat für Schelling Realität. Die Dinge unter diesem Aspekt nennt er Ideen. «Für sich» gesehen sind sie
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Vgl. SCHELLING: StI 1800,368; DSPh 1801, 118; PhK Ί803-04, 373 f.; SgPh Ί804, 149.
Schellings Identitätsphilosophie
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der Endlichkeit und der Nichtigkeit (ebd. 156) unterworfen und haben gerade keine Realität. 107 Allerdings stellt sich die Frage, wozu es angesichts der Vollkommenheit, des Insichruhens der absoluten Identität noch der «Dinge für sich», der unvollkommenen Einzeldinge bedarf, bzw. welche Funktion ihnen im Rahmen des Schellingschen Systems zugeschrieben wird. D i e absolute Identität ist gefaßt als Selbsterkenntnis Gottes. Alle Erkenntnis aber benötigt einen Gegenstand,
ohne dessen Entgegenstehen sie ins Leere ginge,
ohne den sie nichts und damit nicht wäre - gleichsam wie das Licht erst leuchtet, wenn es auf einen Körper trifft.108 D a s Medium, worin Gott sich selbst anschaut (wodurch das All als sich selbst affirmierendes ist), ist die Endlichkeit; Schelling bezeichnet sie als die «Erscheinung» Gottes (des Alls) im Gegensatz zur «Idee»109.
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„Inder gewöhnlichen Betrachtungsweife allerdings heißt eben das w i r k l i c h , was zum Dafeyn und Wirken beftimmt ift durch e i n a n d e r e s und i n w i e f e r n es beftimmt ift. Hier gerade wird zur Wirklichkeit des Dings verlangt, daß etwas von dem Begriff des Dings Unabhängiges, d. h. etwas in feinem Begriff nicht Begriffenes, ein anderes Ding, hinzukomme, wodurch es beftimmt werde, und nur infofern dieß ift, wird dem Ding Realität zuerkannt. Diefe Betrachtungsweife kennt aber überhaupt kein anderes Seyn als das S e y n d e r e i n z e l n e n D i n g e [...]. Die Realität der einzelnen Dinge befteht [...] eben in der Nicht-Realität" (SCHELLING: SgPh Ί804,194 f.; vgl. auch FSPh 1802,387). Die seit der Antike geläufige Verbindung von Erkenntnis und Licht (vgl. auch S. SO) wird Schelling immer wieder zu betonen nicht müde. Insbesondere im Zusammenhang mit dem (Selbst-)Bewußtsein spielt die Lichtmetaphorik eine Rolle: „Wenn wir uns bewußt werden - wenn fich in uns Licht und Finftemiß scheiden [...]" (StPV 1810, 425); „In uns find zwei Principien, ein bewußtlofes, dunkles, und ein bewußtes. Der Proceß unferer Selbstbildung [...] befteht [...] immer darin, das in uns bewußtlos Vorhandene zum Bewußtfeyn zu erheben, das angeborene Dunkel in uns in das Licht zu erheben, mit Einem Wort zur Klarheit zu gelangen" (ebd. 433). - Vgl. auch FSPh 1802,379; ebd. 404 f.; StI 1800, 430; SgPh Ί804,268. „Die Wefenheiten der Dinge als gegründet in der Ewigkeit Gottes = Ideen", heißt es im Würzburger Systan (SCHELLING: SgPh 1804,183; im Original Sperrdruck). Als «Dinge in Gott» sind Ideen für Schelling die einzigen Dinge, denen im eigentlichen Sinne Realität zukommt; er versteht darunter folgerichtig „die Urgestalt, das Wesen in den Dingen, gleichsam das Herz der Dinge" (ebd.). Damit kommt der Idee gewissermaßen eine «Vermittlerrolle» zwischen dem Absoluten und der Erscheinungswelt zu. Schon im Syftem des transfcendentalen Idealismus führt Schelling sie als etwas ein, das „zwifchen Unendlichkeit und Endlichkeit fchwebt" (StI 1800, 558). Zwei Jahre später, in den Ferneren Darftellungen meines Syliems der Philofophie, werden die Ideen bereits durch die strenggenommen widersinnige Bestimmung charakterisiert, besondere Formen der Alleinheit zu sein: Ist diese gleichzusetzen mit Gott, so heißen jene nun Götter (FSPh 1802, 405) - etliche relative Absolute gewissermaßen, deren absolute Identität das Absolut-Absolute schlechthin ist. Die Beschreibung der Ideen als Götter zieht sich dann weiter durch die ganze Philofophie der Kunft und erlangt fiir Schellings Theorie der Mythologie Bedeutung, insofern der Mythos „die nothwendige Bedingung und der afte Stoff allo- Kunft" (PhK ' 1803-04,405) sein soll. Im Würzburger System wird die Göttermetaphorik dann zwar zugunsten allgemeinerer Redeweisen aufgegeben (vgl. oben), die besondere Mittelstellung der Ideen zwischen Gott und der Welt der endlichen Dinge bleibt jedoch unverändert bestehen.
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Autoren II: Schelling
Damit ist die zuvor postulierte Unvollkommenheit und Nichtigkeit des Konkreten keineswegs aufgehoben. Gegenständlichkeit und Nichtigkeit schließen einander nicht nur nicht aus, sondern sind implikativ miteinander verbunden: „Wie das Auge, indem es fich felbft im Widerfchein, z. B. im Spiegel, erblickt, fich felbft f e t z t , fich felbft anfchaut, nur inwiefern es das R e f l e k t i r e n d e - den Spiegel - als nichts für fich fetzt, und wie es gleichfam Ein Akt des Auges ift, wodurch es fich felbft fetzt, fich felbft fieht, und das Reflektirende nicht fieht, es nicht fetzt: fo fetzt oder fchaut das All f i c h f e l b f t , indem es das Befondere nicht-fetzt, nicht-fchaut; beides ift Ein Akt in ihm; das Nichtfetzen des Befonderen ift ein Schauen, ein Setzen feiner felbft" (SCHELLING: SgPh Ί804,197 f.).
Die Welt der Einzeldinge ist damit in Schellings System notwendig als «Instrument» („Spiegel") der Selbstanschauung Gottes. Damit ist jedoch nur das allgemeine Verhältnis der endlichen Dinge zum Absoluten bestimmt. Ungeklärt ist noch, warum jedes konkrete Einzelding in einer ganz spezifischen Erscheinungsform, nicht in irgendeiner anderen begegnet (SgPh, 200). Hier erlangt der bereits dargelegte Aspekt Bedeutung, daß absolute Identität die Identität eines Affirmierten und eines Afiirmierenden ist, anders gesagt, daß Gott als absolutes All eine reale und eine ideale Komponente umfaßt. «Reales All» ist das Objektive, «ideales All» das Subjektive im absoluten Erkenntnisakt; Endlichkeit, Besonderheit, Nicht-Sein etc. geht aus ihnen hervor, insofern sie nicht als absolut identisch, sondern je fur sich betrachtet werden. Dabei zeigt sich die große Paradoxie des Schellingschen Systems in ganzer Deutlichkeit, die darin besteht, das All-Eine (Gott) als absolute Identität von Erkennendem und Erkanntem zu konzipieren: als eine „Einheit des Gegenfatzes und der Entzweiung" (StPV !1810, 425; im Original Sperrdruck). Indem Gottes Wesen darin besteht, daß jede seiner Möglichkeiten immer schon wirklich ist, muß auch die Möglichkeit in ihm realisiert sein, reales und ideales All je für sich zu betrachten (vgl. SgPh !1804, 188). Die Vollkommenheit muß, um wahrhaft vollkommen zu sein, die Unvollkommenheit einschließen. Betrachtet man Schellings formale Fassung der «Selbheit» (Identität), den Term A = A, so wird gleichsam schon im Schriftbild deutlich, worauf es hier ankommt. Das, was als dasselbe gesetzt wird, muß, um überhaupt dieser Operation genügen zu können, allererst geschieden sein. Die scheinbare Einheit ist eine Zweiheit und bleibt dies auch in der Gleichsetzung. A kann, ohne im geringsten in seiner Wesenheit beeinträchtigt zu werden, jederzeit wieder durch A=A bezeichnet werden (die Ausdrucksweise ist allenfalls etwas umständlicher, daher unzweckmäßig und im allgemeinen ungebräuchlich). Nicht nur A ist dasselbe wie A, sondern auch A und A =A ist dasselbe. Der Grund jeder Identität ist Gespaltenheit; indem wir vom selben reden, reden wir von zweien.
Schellings Identitätsphilosophie
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Von eben diesem Spalt geht Schellings Philosophie aus: vom Gegensatz zwischen Erkennendem und Erkanntem, Idealem und Realem, Subjekt und Objekt. Dieser Gegensatz ist aufgehoben in der absoluten Identität - aufgehoben in der doppelten Bedeutung des Wortes: >behoben, beseitigt« und >bewahrt, behalten«. Daß die Betonung im gegenwärtigen Zusammenhang auf letzterem liegt, haben schon Zeitgenossen klar genug gesehen. So schreibt Hölderlin in einer Auseinandersetzung mit Fichtes Identitätskonzept, auf das auch Schellings Ansatz zurückgeht: „Wenn ich sage: Idi bin Ich, so ist das Subject (Ich) und das Object (Ich) nicht so vereiniget, daß gar keine Trennung vorgenommen werden kann, ohne, das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verlezen; im Gegenteil das Ich ist nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich. [...] Also ist die Identität keine Vereinigung des Objects und Subjects, die schlechthin stattfände, also ist die Identität nicht = dem absoluten Seyn" ( H Ö L D E R L I N : U U S * ' 1 7 9 5 , 2 1 6 f.).
Zwar handelt es sich bei Fichte noch nicht um die «absolute Identität» Schellings, und diese könnte möglicherweise doch dem „absoluten Seyn" gleich und damit unteilbar sein. Aber trotz ihrer Absolutheit ist auch Schellings Identität, entgegen allen scheinbar anderslautenden Versicherungen im Würzburger System, in der Philo fophie der Kunû, in der Darßellung meines Syfìems der Philo fophie und an anderer Stelle, schon geteilt. Sie ist konzipiert nicht als rißloses Ganzes (A), sondern als Identität zweier Komponenten, die, obgleich sie dieselben sind, es doch auch nicht sind, da sie einander gegenüberstehen (A = A). Coseriu ( 1977, 3) bemerkt so beiläufig wie treffend, „daß das ,Eine' von Schelling eigentlich eine Zweiheit ist und daß seine Philosophie im Grunde dualistisch bleibt". Daß diese Interpretation an Schellings Selbstverständnis nicht vorbeigeht, zeigt ein Blick in die Stuttgarter Privatvorlefungen (Ί810), in denen er in kompakter und eingängiger Form einen deutenden Überblick über seine Identitätsphilosophie gibt: Er bezeichnet hier das Prinzip seines Systems als „Prinzip der abfoluten Identität fchlechthin, wohl zu unterfcheiden von abfoluter Einerleiheit; die hier gemeinte Identität ift eine o r g a n i f c h e Einheit aller Dinge. In j edem Organismus ift Einheit, ohne daß jedoch die Theile desfelben für einerlei gehalten werden könnten" (StPV'1810, 421 f.). Das seinem System in Wahrheit zugrundeliegende Prinzip ist also nicht die absolute Identität, es ist das, was diese impliziert: die Gespaltenheit. Dieser Primat des Spaltes - dem allein faktisch das Attribut absolut zukäme - zeigt sich unmittelbar in der paradox anmutenden Anmerkung der Stuttgarter Privatvorle fungen, daß die absolute Identität ihrerseits „nur fubjektiv gesetzt" (ebd. 424) sei. Zur wahren Absolutheit fehlt ihr die Objektivität: Da einmal der Spalt herrscht, kann sie nicht nur in sich, sondern muß auch außer sich absolute Identität sein, das heißt, sie „muß als folche fich offenbaren, fich aktualißren" (ebd.; Kursivierung von mir, J. B.).
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Autoren II: Schelling
Derlei Gedanken stammen nicht erst aus einer späteren Phase der Schellingschen Philosophie, in der er rückblickend seine früheren Arbeiten diesbezüglich umdeutet, sondern bestimmen das Grundkonzept der Identitätsphilosophie von Anfang an, wie er (mit unausgesprochenem Bezug auf Hegels Kritik im Vorwort der Phänomenologie des Geistes) zu Recht betont. Dies zeigt die inhaltlich genaue Entsprechung der zitierten Textpassage aus den Stuttgarter Privatvorle fungen im § 23 des Würzburger Systems. Schelling hebt hier den doppelten Charakter der absoluten Identität hervor: sie sei „nicht eine einfache Identität, sondern eine Identität der Identität" (SgPh !1804,173; vgl. auch S. 201 f. zur Einführung der absoluten Identität als Gegenstand der Religion im Syßem des trans fcendentalen Idealismus). Die beiden Komponenten des absoluten Alls nennt Schelling «Faktoren» (SgPh ! 1804,208 ff.) und bezeichnet sie mit A und B. Faktor A ist das Ideale, das Affirmierende, damit das Subjektive, Faktor Β das AfFirmierte oder Reale, und damit das Objektive. Beide Faktoren können sich auf dreierlei Weise zueinander verhalten: Das Affirmierte überwiegt das AfFirmierende, das Affirmierende überwiegt das Affirmierte, oder beide stehen im Gleichgewicht zueinander (ebd. 209 f.). Diese drei Möglichkeiten heißen bei Schelling Potenzen. Ausdruck des realen Alls ist der Satz Β = Α. Das Affirmierte ist unter diesem Aspekt der Ausgangs- oder Fixpunkt und wird mit dem Affirmierenden gleichgesetzt; anders gesagt: Es gilt, das Affirmierende auf das Affimierte zu beziehen und die verschiedenen Ausprägungen des idealen Faktors im Realen aufzuweisen. Dieser Faktor A ist in erster Potenz (AJ) da, wo das Affirmierte das Übergewicht hat und A nur gleichsam tautologisch das zu einem Affirmierten per definitionem notwendige Affirmierende ist. In zweiter Potenz (A2) ist er da, wo das Affirmierende ein relatives Übergewicht hat und das Affirmierende erster Potenz selbst wieder affirmiert, d. h. als Ideales in der Realität manifest wird. A3 ist da, wo sich Affirmierendes und Affirmiertes gleichgewichtig gegenüberstehen. Für diese dritte Potenz verwendet Schelling den Ausdruck Indifferenz, diese ist - im Gegensatz zur absoluten Identität, einer „Gleichheit des W e f e η s" oder „qualitative [η] Einheit" - ein nur „quantitatives Gleichgewicht" (ebd. 209). Im idealen All ist es gerade umgekehrt. Ausdruck des idealen Alls ist A = B\ das Affirmierte ist auf das Affirmierende zu beziehen. Faktor Β ist in erster Potenz da, wo das Subjektive das Übergewicht hat und das Affirmierte nur als Gegenstand einer Affirmation, nicht für sich selbst (objektiv) besteht. In zweiter Potenz ist er da, wo das Affirmierte ein relatives Übergewicht hat und das Affirmierte der ersten Potenz Realität auch für sich selbst besitzt. Die dritte Potenz ist wiederum als Indifferenz, hier des Affirmierten und Affirmierenden bestimmt.
Schellings Identitätsphilosophie
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Das Verhältnis der Potenzen zueinander sowie zum Absoluten läßt sich in Form eines Schemas darstellen. Dabei ist zweierlei zu beachten: Erstens sind alle Potenzen „ f i c h g l e i c h i n A n f e h u n g d e s A b f o l u t e n , d. h. keine folgt aus der andern, fondem fie alle folgen gemeinfchaftlich und nach einem gemeinfamen Gefetz aus der abfoluten Identität" (ebd. 212). Zweitens soll das Besondere verschiedene Grade der Realität (der Wahrheit, des Seins, der Vollkommenheit) haben, gemäß dem Grad seiner Annäherung an die absolute Identität (ebd. 212, § 61) : Indifferenz ist der absoluten Identität entsprechender als das Überwiegen des einen oder des anderen Faktors in den beiden anderen Potenzen.
absolutes All
CA-A) reales All
ideales All
(B = A)
(A-B)
/
I
\
/
I
\
Abb. 2: Schellings Potenzenlehre
Unter größerer oder geringerer Vollkommenheit eines besonderen Dings versteht Schelling freilich nicht Vollkommenheit an sich110, sondern den Grad, in dem das Ding eme angemessene Abbildung des Alls ist (SgPh 1804,214). «Vollkommenheit» eines Einzeldings hängt also davon ab, ein wie geeignetes Medium der Selbstanschauung Gottes es ist. Umgekehrt steht „[...] der Grad der Negation eines Dings [...] im Verhältniß der Entfernung von der abfoluten Identität, oder in dem Verhältniß, in welchem es durch fein Befonderes von der abfoluten Identität entfernt, ift es auch der Endlichkeit untergeordnet" (ebd.). Was das Absolute selbst angeht, so ist es „außer aller Potenz, oder [...] fchlechthin potenzlos" (ebd. 212; im Original Sperrdruck).
110
„Die Potenz ist keine Beftimmung des Dings an fich oder des Wefens, fondem vielmehr des NichtWefens." (SCHELLING: SgPh 1804,211; im Original Sperrdruck).
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Autoren II: Schelling
Schellings Kunstphilosophie Wie erläutert hängen im realen All die Potenzen vom idealen Faktor ab und stellen sich je nach dessen Ausprägung als Übergewicht des Affirmierten, als Übergewicht des Affirmierenden oder als Indifferenz beider dar. Die Naturphänomene, die Schelling mit diesen drei Potenzen adäquat fassen zu können glaubt, sind Schwere (in anderem Zusammenhang als Materie bezeichnet), Licht und Organismus. Von allen dreien sind «Unterpotenzen» ableitbar; von diesen dann wieder weitere - eine Operation, die sich prinzipiell bis ins Unendliche fortsetzen ließe, wenngleich sie im konkreten Fall immer auf einer bestimmten (nicht immer derselben) Ebene abgebrochen wird. Im idealen All sind die Potenzen durch den realen Faktor bestimmt und zeigen sich daher als Übergewicht des Affirmierenden, Übergewicht des Affirmierten und Indifferenz beider. Im Unterschied zur dritten Potenz des realen Alls, bei der das Affirmierte dem Affirmierenden gleich werden muß, ist es bei der des idealen Alls umgekehrt; diese etwas spitzfindig anmutende Differenz der Indifferenzen ist selbstverständlich ebenso wie alle Verschiedenheit kein Unterschied des Wesens, sondern einer der Erscheinungsform. Die Potenzen der geistigen Welt sind Wissen, Handeln wAKunst (in besonders pointierter Form: PhK ! 1803-04, 380). Damit korrespondiert dem idealen Phänomen des Wissens das reale des Lichts, dem idealen des Handelns das reale der Materie; der Kunst entspricht in der Realwelt der Organismus(2), die belebte Natur (vgl. Anhang II s. v. Organismus/Organisation2). Kunst als die dritte Potenz der geistigen Welt ist die Indifferenz oder Synthese von Wissen und Handeln. Sie zeigt sich als „ein wiffendes Handeln und ein handelndes Wiffen" (SgPh! 1804,569). Damit stellt sie zwar nicht den Höhepunkt von Schellings Philosophie überhaupt dar, die selbst über das Absolute noch angemessen zu reden beansprucht, und deren Ausgangs- und Endpunkt zugleich folglich nur Gott sein kann. Kunst ist aber der krönende Abschluß des Schellingschen Weltgebäudes, dem, wie oben ausgeführt, keine geringere Funktion zukommt, als der absoluten Identität das zu ihrer Selbsterkenntnis notwendige Anschauungsmedium zu bieten. Die Welt im Ganzen ist der «Spiegel» oder das «Abbild Gottes». Jedes Einzelding oder -phänomen ist ein solcher Spiegel im kleinen, der Gott - je nach seiner Potenz - mehr oder weniger angemessen reflektiert; jedes ist ein solches Abbild, das Gott entsprechend mehr oder weniger ähnlich ist. Den beiden Anforderungen an ein adäquates Abbild Gottes - Objektivation der Idee und autonom zu sein (SCHELLING: FSPh 1802, 395 f.) - genügt das Kunstwerk, und im höchsten Sinne nur dieses: es ist die Analogie der absoluten Identität in der Erscheinungswelt. Mit «Kunstwerk» ist hier selbstverständlich nicht nur die-
Schellings Kunstphilosophie
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ses oder jenes Werk der schönen Kunst gemeint. Kunst bedeutet ganz allgemein: Synthese von Wissen und Handeln, und wo eine solche Synthese sich manifestiert, redet Schelling vom Kunstwerk. So ist die christliche Kirche ebenso ein Kunstwerk für ihn (PhK ! 1803-04,455) wie in anderem Sinne die Sprache (vgl. unten) und in wieder anderem Sinne das All selbst111, das als Produkt der „absoluten Produktion oder Selbstaffirmation" erscheint (ebd. 631). Die Kunst zeigt sich in doppelter Hinsicht als Analogie der absoluten Identität. Nicht nur ist das All Kunstwerk, sondern jedes echte Kunstwerk ist durch seine adäquate gegenbildliche Darstellung der absoluten Identität bzw. der Ideen auch wiederum ein (wenngleich nur relatives) All. Prinzipiell gilt für die Künste insgesamt, was Schelling exemplarisch über die Plastik und über die Poesie sagt: „Jedes plaftifche Werk ift eine Welt für fich, das feinen Raum wie das Univerfum in fich felbft hat, und auch nur aus fich felbft gefchätzt und beurtheilt werden muß" (PhK '1803-04,620); „Das poetifche Kunftwerk foli [...], wie jedes andere, ein Abfolutes im Befondem, ein Univerfum, ein Weltkörper feyn" (ebd. 635). Es bedarf keines Hinweises, daß diese Doppelung nur aufgrund der hinreichend zur Sprache gebrachten Wiederholung des Absoluten in der Erscheinung zustandekommt; im Hinblick auf das «Wesentliche» ist der Kunstwerkcharakter des Alls und der Allcharakter des Kunstwerks eines und dasselbe. - Die Analogie der Kunst zum Absoluten könnte noch unter einem dritten Aspekt behandelt werden, dem hier indessen aus thematischen Gründen wenig Raum gegeben werden kann. Gemeint ist die Interpretation des Kunstwerks als eines Genieproduktes. Wie der Ursprung des absoluten Alls in der unendlichen Selbstaffirmation Gottes, so liegt der Ursprung des Kunstwerkes im Genie, das seinerseits „fo zu fagen ein Stück aus der Abfolutheit Gottes" ! (SCHELLING: PhK 1803-04,460) ist. Es ist - wörtlich genommen - das Gegenbild des göttlichen Schöpfergeistes in der endlichen Welt; Schelling bezeichnet es als „die ganze abfolute Idee, angefchaut in der Erfcheinung oder Beziehung auf Befonderes. Es ift ein und dasfelbe Verhältniß, durch welches in dem urfprünglichen Erkenntnißakt die Welt an fich, und durch welches in dem Akt des Genies die Kunftwelt, als diefelbe Welt an fich nur in der Erfcheinung producirt wird" (ebd.). Schellings Deutung des Kunstwerks als Analogon der absoluten Identität hat unzweifelhaft ihren Höhepunkt in der vielzitierten Eloge, die Kunst sei „das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philofophie [...], welches immer und fortwährend aufe neue beurkundet, was die Philofophie äußerlich nicht darftellen kann, nämlich
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„Das Univerfum ift in Gott als abfolutes Kunftwerk und in ewiger Schönheit gebildet" (SCHELLING: PhK 1 1803-04, 385; im Original Sperrdruck).
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Autoren II: Schelling
das Bewußtlofe [...] und feine urfprüngliche Identität mit dem Bewußten. Die Kunft ift eben deßwegen dem Philoibphen das Höchfte, weil fíe ihm das Allerheiligfte gleichfam öffnet, wo in ewiger und urfprünglicher Vereinigung gleichfam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Gefchichte gefondert ift, und was im Leben und Handeln, ebenfo wie im Denken, ewig fich fliehen muß" (SCHELLING: StI 1 8 0 0 , 6 2 7 f.).
Die Äußerung stammt aus einer Zeit, in der Schelling der Kunst den Status einer „Vollenderin der Philosophie" (Barth 1991, 11) einräumte. Von dieser Ansicht hat er sich „unter den Prämissen einer Philosophie der absoluten Identität" (ebd.) zwar bereits in der Philo fophie der Kunß wieder entfernt. Als Objektivierung dieser absoluten Identität und Gegenbild der Philosophie kommt der Kunst aber nach wie vor eine entscheidende Rolle zu, die Jähnig (1969, 7 f.) mit dem Bild vom «Schlußstein» treffend beschreibt: „Im Unterschied zu den Akroteren eines Tempels oder zum Turm einer Kirche ist der [...] Schlußstein ein immanentes Glied des Bauwerks, dessen Fehlen das Gewölbe zusammenstürzen ließe. Der Schlußstein ist nicht nur Abschluß, sondern zugleich auch Träger des Bauwerks." Höher ist die Kunst von keinem Philosophen - mit Ausnahme der Frühromantiker, denen Schelling in dieser Phase seines Denkens eben näher steht als jeder andere der deutschen Idealisten - j e geschätzt worden (vgl. Jähnig 1966, 10 f.). Die ganze unendliche Vielfalt der Erscheinungswelt läßt sich aus den zweimal drei Möglichkeiten ableiten, wie das Affirmierende und das Affirmierte des absoluten Erkenntnisaktes sich zueinander verhalten können. In jeder dieser Möglichkeiten oder Potenzen finden sich dann wiederum (wenngleich nicht mehr absolute) Affirmierende und Affirmierte, die sich zueinander verhalten; es folgen demnach aus jeder von ihnen zweimal drei «Unterpotenzen», und so fort. Im gegenwärtigen Zusammenhang interessieren nur die Ableitungen aus der höchsten Potenz der idealen Welt, der Kunst. Gemäß der stets gleichen Folge der Potenzen auseinander und gemäß der ausgeführten Analogie von All und Kunst gibt es in der Kunst ebenso wie im All eine reale und eine ideale Seite. Arbeitet Schelling dort mit den Termini Natur und geistige Welt, so wartet er hier mit dem Gegensatzpaar der bildenden und der redenden Kunst auf (PhK Ί 803-04,371 ) und unterteilt jeden dieser beiden Bereiche dreifach: Zur bildenden Kunst gehören in erster Potenz die Musik, in zweiter Potenz die Malerei, in dritter die Plastik; zur redenden Kunst in entsprechender Stufenfolge die Lyrik, das Epos und das Drama (ebd.). Damit ist in kürzester Form Schellings ganzes System der Künste umrissen. - Freilich kann hier nicht nachvollzogen werden, wie er seine Ableitungen und Gattungsreihen im einzelnen plausibel zu machen versucht. Am einmal entworfenen Prinzip der Potenzenlehre hält er auch hier (bisweilen zu streng) fest. So gelingen ihm zwar etliche lichtvolle Aspekte auf einzelne
Schellmgs Kunstphilosophie
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Kunstgattungen; andererseits finden sich verkrampfte Versuche, auch diejenigen ins Schema zu zwängen, die sich einer solchen Behandlung widersetzen zu wollen scheinen. Vereinzelt auftretende Bedenken, dem Wesen der Künste durch die vorgestellte Anordnung nicht gerecht zu werden, verwirft Schelling unter Betonung seiner Potenzenlehre, an der er nicht mehr zu zweifeln bereit ist: Sie schreibe es in dieser Weise vor, also müsse es seine Richtigkeit damit haben (so PhK11803-04, 628 f.). Die Potenzen des realen wie des idealen Alls sind einander zwar in bezug auf ihre Qualität gleichgestellt: Sie sind Erscheinungsformen des Absoluten und damit - absolut betrachtet - der Nichtigkeit unterworfen. Indessen besteht zwischen ihnen ein Unterschied der Dignität, wie Schelling sich ausdrückt, der auf dem Verhältnis beruht, das im absoluten Erkenntnisakt zwischen dem Affirmierenden und AfFirmierten anzutreffen ist: „Die reale Einheit [...] verhält fich als S e y η , die ideale [...] als Ρ ο Γ i t i ο η d e s S e y η s . Nun ift aber das S e y η für fich auch fchon Pofition: alio i ft die Pofition des Seyns eine Ρ o f i t i o η d e r P o f i t i o n [...]. Wir haben zuerft ein Höheres und ein Niedereres - einen Unterfchied der D i g η i t ä t . Das Ideale ift der Dignität nach höher als das Reale" (StPV Ί810, 426 f.).
Dieser Aspekt scheint für Schelling, je weiter er von der Transzendentalphilosophie zur Identitätsphilosophie fortschreitet und den Kulminationspunkt seines Kunstenthusiasmus im Syñem des trans fcendentalen Idealismus (1800) hinter sich läßt, desto gewichtiger zu werden. Bereits 1803 ist der «Dignitätsunterschied» der Stuttgarter Privatvorle fungen als «Höhenunterschied» gefaßt: „Infofern das Ideelle immer ein höherer Reflex des Reellen ift, infofern ift in dem Philofophen nothwendig auch noch ein höherer ideeller Reflex von dem, was in dem Künftler reell ift. Hieraus erhellt [...], daß außer der Philofophie und anders als durch Philofophie von der Kunft nichts auf abfolute Art gewußt werden könne" (SCHELLING: VMaS 1803, 348). - Der These, daß Philosophie und Kunst Schelling als „ursprüngliche und gleichberechtigte Weisen der Offenbarung des Absoluten" gelten (Barth 1991, 15; ähnlich ebd., 75), ist deshalb nur bedingt zuzustimmen. Wo von „gleicher Unmittelbarkeit zum göttlichen Prinzip" (Barth 1991,75) die Rede ist, scheinen die Implikationen des Wortpaars «Urbild - Gegenbild» bei Schelling nicht hinreichend berücksichtigt. Wenn dieser die Kunst als „Ausfluß des Abfoluten" (PhK ! 1803-04, 372) bezeichnet, meint er das nur in demselben Sinne, wie die gesamte Erscheinungswelt gleichursprünglich mit dem absoluten All durch dessen SelbstafFirmation gesetzt wird (SgPh !1804, 180 f.). Der Dignitäts- oder Höhenunterschied zwischen Kunst als dem Realen und Philosophie als dem Idealen, den Barth (1991,16 f.) zwar nicht übersieht, aber nicht weiter zur Sprache bringt, bleibt davon unberührt.
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Autoren II: Schelling
Es liegt nahe, an dieser Stelle das oben entworfene Schema der Schellingschen Potenzenlehre in modifizierter Form zu wiederholen:
absolutes All (A = A)
reales All (B=A)
ideales All (Α-B)
/
/
I
\
B
A3 Al Λ
12
B2
_ (Licht)
(Handeln)
A tiganis (Otjanismus , >
I
(Materie)
[reale Welt]
\ 3
(Kunst)
-Rl a
(Wissen)
[ideale Welt]
Abb. 3: Schellings Weltgebäude unter Berücksichtigung des Dignitätsunterschiedes
Hier erst ist die bisher nur behauptete These einsichtig gemacht, daß gerade die Kunst die höchste Erscheinung der endlichen Welt sei, nicht etwa der Organismus, und es wird auch klar, daß Kunst und Organismus nicht etwa zwei gleichrangige Höhepunkte des Weltgebäudes sein können. Auch im Verhältnis der bildenden und der redenden Künste findet sich der Dignitätsunterschied zwischen dem Realen und dem Idealen. , Alle Kunft ift unmittelbares Nachbild der abioluten Produktion oder der abfohlten Selbftaflinnation; die bildende nur läßt fie nicht als ein Ideales e r f c h e i n e n , fondern durch ein anderes, und demnach als ein Reales. Die Poefie dagegen, indem fie dem Wefen nach dasfelbe ift, was die bildende Kunft ift, läßt jenen abfoluten Erkenntnißakt unmittelbar als Erkenntnißakt erfcheinen, und ift infofern die höhere Potenz der bildenden Kunft, indem fie in dem Gegenbild felbft noch die Natur und den Charakter des Idealen, des Wefens, des Allgemeinen beibehält" (SCHELLING: PhK ' 1803-04, 631). m
112
Ahnlich, wenngleich in anderem Zusammenhang, auch in den Stuttgarter Privatvorlefungeir. „Die Geifterwelt ist die Poefie Gottes, die Natur feine Plaftik. [...] In jener Welt ift alles, was in diefer ift, nur auf poetifche, d. h. geiftige Weife, und kann darum viel vollkommener, [...] auf geiftige Art, mitgetheilt werden [...]. Dort find die Urbilder, hier die Abbilder" (SCHELLING: StPV Ί810,480).
Schellings Kunstphilosophie
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Dieser Vorzug der redenden Künste vor den bildenden ist auch der Grund dafür, daß, ebenso wie die Kunst die Welt krönt, die Krone der Kunstwelt im Drama (der redenden Kunst in höchster Potenz) zu suchen ist. Die Kunst als Ganzes gehört zur idealen Welt. Zwar stellt sie eine Indifferenz des Realen und Idealen (eine Synthese von Handeln und Wissen) dar, aber Indifferenz ist eben immer reale oder ideale Indifferenz, nicht absolute Identität. Daher kann die postulierte Analogie von All und Kunst um einen weiteren Aspekt bereichert werden: Wie das absolute All als Position der Position (SgPh !1804, §§23 u. 24) sich in der idealen Welt angemessener widerspiegeln und selbst anschauen kann als in der realen, und wie darum seine höchste Erscheinung die Kunst ist, so wird die Kunst, die ihrerseits wieder in eine reale und eine ideale Reihe zerfällt, sich in ihrer Idealität wesentlicher in den redenden Künsten ausdrücken als in den bildenden. So kann von der Poesie, welche nach der oben zitierten Ausführung Schellings den „abfohlten Erkenntnißakt unmittelbar als Erkenntnißakt erfcheinen" läßt, geradezu als vom „Princip aller Kunft" (PhK !1803-04, 632) gesprochen und behauptet werden, daß sie „von dem Α η - f i c h aller Kunft die Erfcheinung ift" (ebd.). Auch die bildende Kunst weist damit poetische Züge auf, und folgerichtig nennt Schelling sie unter diesem Aspekt eine „ftumme Dichtkunft" (ebd. 549; 564; VbKN"1807; 1809\292). Der hier aufgezeigten Bezeichnung des Idealen, Geistigen als Poesie (vgl. Anhang II s. v. Poesiem4) widerspricht keineswegs die bei Schelling ebenfalls begegnende Verwendung des Wortes für das Dunkle und Unbewußte der künstlerischen Produktion, dasjenige in ihr, was auf natürliche Begabung zurückgeht und nicht erlernt oder eingeübt werden kann (vgl. Poesie9ll9). Gerade diese Ambivalenz des Poesiebegriffs macht die Analogie der redenden Kunst zur absoluten Identität perfekt.
Schellings «Sprachphilosophie» Gott war als ein nicht religionsspezifischer, in jedem Falle als ein unchristlicher Gott eingeführt worden, als ein abstraktes philosophisches Prinzip, gegen das man sich beispielsweise auch ungestraft Blasphemien erlauben kann, wie der Autor in der Knittelvers-Satire Epikurisch Glaubensbekenntniß Heinz Widerporstens (*1800) zeigt. Das bleibt so bis zu den Stuttgarter Privatvorle fungen, in denen Schelling erstmals das Bedürfiiis nach einem persönlichen höchsten Wesen zu empfinden scheint: „Ein metaphyfifch hinaufgefchraubter Gott taugt weder für unfern Kopf noch für unfer Herz" (StP V ! 1810,429).
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Gleichwohl gibt er, wenn es ihm gerade zupaß kommt, bereits in früheren Texten seinem Absoluten durchaus christliche Züge. Im Würzburger System, aber auch schon in der Philo fophie der Kunfì wird der absolute Erkenntnisakt in bewußter terminologischer Anlehnung an das erste Kapitel des Johannesevangeliums als sprachliche Handlung gedeutet. Die Metaphorik ist durchsichtig: Der Gedanke, daß Gott durch seine unendliche Selbstaffirmation nicht nur sich selbst als diese Affirmation, sondern zugleich die Erscheinungswelt setzt, ja ohne diese überhaupt kein Anschauungsmedium hätte, so daß der Affirmationsakt letztlich sich selbst erst ermöglicht - dieser Gedanke wird mit dem anderen in Verbindung gebracht, daß der Geist sich im Wort ausspreche und objektiviere und daß in diesem Ausdruck Wort und Geist (als logos) dasselbe seien. Gottes Schöpfungsakt ist daher im eigentlichen Sinne als Sprechakt zu verstehen. „Auf keine andere Weife, als wie fich in der Sprache das Wiffen noch jetzt fymbolifch faffet, hat fleh das göttliche Wefen in der Welt fymbolifch gefaßt, fo daß auch das G a n z e der realen Welt (nämlich inwiefern fie felbft wieder Einheit des Realen und Idealen ift) [...] wieder ein urfprüngliches Sprechen ift. Aber die r e a l e Welt ift nicht mehr das lebendige Wort, das Sprechen Gottes felbft, fondern nur das gefprochene - geronnene - Wort" (SCHELLING: PhK '1803-04,484).
Mit dieser Auffassung steht Schelling in einer langen und besonders in Deutschland einflußreichen Tradition, die man mit Apel (1975, passim, bes. 74 ff.) als Logosmystik bezeichnen kann. Drei herausragende Vertreter dieser Tradition sind Meister Eckhart (ca. 1260 - ca. 1328), Jacob Böhme (1574-1624) und Johann Georg Hamann (1730-1788). Es wird zurecht immer wieder daraufhingewiesen (z. B. von Benz 1970, 5 und Apel 1975,80), daß die philosophische Terminologie des deutschen Idealismus der Spracharbeit der hochmittelalterlichen Mystik Wesentliches verdankt. Mit Böhme und Hamann stellt sich Schelling selbst in eine Reihe (WdW *1807, 8).113 Es kann hier nicht darum gehen, die Einflüsse der Sprachphilosophien bzw. -theologien dieser beiden Autoren auf Schellings Logos-Konzept herauszuarbeiten; ein kurzer Blick auf weniges muß genügen. Böhme114 versteht in Fortführung einer auf Augustin zurückgehenden Tradition den Menschen als imago dei, als Ab- oder Gegenbild des göttlichen Urbildes also. In Anlehnung an Joh. 1,1 wird Gott als Logos und seine Schöpfiingstat nach Gen. 1 als sprachliche Handlung gedeutet. Damit ist die besondere Aufmerksamkeit be-
113
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Schelling interessiert sich in dem Fragment Ueberdas Wefen deutfeher Wiffen/chaft (*l%01) vor allem für die Nalurauffassung Böhmes und Hamanns, die aber von ihrer Sprachauffassung nicht zu trennen ist. Vgl. die ausfuhrliche Darstellung seiner Sprachkonzeption bei Gardt 1994.
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gründet, die Böhme der Sprache entgegenbringt: „Das Sprechen ist das eigentliche Werk des Menschen, weil es das erste Werk seines Urbildes, Gottes ist" (Benz 1970,13). Zwischen dem Sprechen Gottes und dem des Menschen besteht allerdings ein entscheidender Unterschied: Gottes Wort ist „Schöpfiingswort, das die Dinge aus dem Nichtssein [sie] hervorruft und sie zu dem macht, was sie sind. Der Mensch selbst verdankt diesem Schöpfiingswort sein Sein und wird, wenn auch als .kleiner Gott' und .Herr', in die geschaffene Welt als Kreatur hineingestellt" (Benz 1970, 13 f.). Das menschliche Sprechen ist demgemäß „nur ein Nennen der bereits geschaffenen Dinge" (ebd. 14), die im übrigen entweder ihrem Wesen gemäß oder davon abweichend benannt werden können. In jedem Fall aber handelt es sich bei dieser sprachlichen Fassung um eine Projektion, um eine Wendung von Urbildern dem «Sein der Dinge in Gott» oder «Ideen», wie Schelling sagen wird - in die Gegenbildlichkeit. Eine ähnliche Position vertritt später Hamann: „Reden ift überfetzen - aus einer Engelfprache in eine Menfchensprache, das heift, Gedanken in Worte, - Sachen in Namen, - Bilder in Zeichen [...]. Diefe Art der Überfetzung [...] kommt mehr als irgend eine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein" (HAMANN: ÀN 1762,199). Schellings Unterscheidung zwischen «lebendigem» und «gesprochenem Wort» ist durch diese Tradition vorbereitet. Sie ist bei ihm in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Erstens allgemein in bezug auf Gott einerseits, die Erscheinungswelt andererseits, und zweitens in bezug auf die Sprache Gottes bzw. die Menschensprachen (vgl. hierzu S. 160, 162 und 168). Den Ursprung der Welt sieht Schelling in der göttlichen Rede. Ein kurzer Blick in seine Naturphilosophie vermag näheren Aufschluß darüber zu geben, was er sich konkret darunter vorstellt. Das Ideale erscheine in der Natur als Klang115, behauptet er (SgPh Ί804,354), und erläutert: „Der Klang ift die in der Natur wieder tönende unendliche Affirmation der Idee Gottes, gleichfam das in die Weh gefprochene Wort Gottes. In Bezug auf den einzelnen Körper ift er nichts anderes als die Affirmation [...], das Α η - f i c h des in-fich-felbft-, des real-Seyns des Körpers. Daher ift es Bedingung feiner Erfcheinung, daß ein Körper aus der Ruhe, aus dem Gleichgewicht und der Identität mit fich felbft [...] gefetzt werde, welches durch Stoß und überhaupt Berührung von außen gefchieht Der Klang ift dann die Wiederherftellung, d. h. die Affirmation der Identität des Körpers mit fich felbft oder des in-fich-felbft-Seyns des Körpers. Da er alfo hier als die Seele der Selbftheit
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Zum Unterschied zwischen Klang und Licht, dem hier nicht nachgegangen werden kann, vgl. SCHELLING: PhK '1803-04,508.
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Autoren II: Schelling
erfcheint, Γο ift der Klang überhaupt ein Nachbild des A u s g e h e n s aller Dinge aus Gott. [...] Auch die r e a l e Welt ift real n u r in der Relation, a n f i c h aber Identität des Affirmativen und Afiirmirten. Sie e r f c h e i n t nur n i c h t als das lebendige Wort, als das Sprechen Gottes felbft, fondern als das g e f p r o c h e n e Wort. In den älteften Philofophemen des Orients insbefondere ift jene u n e n d l i c h e A f f i r m a t i o n f e i n e r f e l b f t , die zugleich das Wefen Gottes ift, als das l e b e n d i g e W o r t bezeichnet worden, fo wie in den meiften Sprachen der Ausdruck der Vernunft und der Rede einer und derfelbe ift" (ebd. 354 f.).
Die Analogie zwischen dem Absoluten und seiner Erscheinung einerseits und dem «lebendigen» und dem «gesprochenen Wort» andererseits ist vollständig. Der absolute Erkenntnisakt Gottes, in dem und durch den er Gott ist, zeigt sich als ein «sich-selbst-Aussprechen». Er ist damit überhaupt wesentlich sprachlicher Natur, indem im Sprechen der Spalt zwischen Idealem (Denken) und Realem (Geäußertem, gegenständlich Gewordenem"6) sich auftut, ohne den auch Gott sich nicht selbst gegenübertreten und erkennen könnte (SCHELLING: StPV '1810,424). In dieser Beschaffenheit des absoluten Erkenntnisaktes kann nun auch rückblickend der eigentliche Grund fìlr den Unterschied zwischen bildenden und redenden Künsten und für den Vorzug dieser vor jenen gesehen werden. „So ift die bildende Kunft nur das geftorbene Wort, aber doch auch Wort, doch auch Sprechen, und je vollkommener es ftirbt [...], defto höher ift die bildende Kunft in ihrer Art, während dagegen auf der tieferen Stufe, in der Mufik, das in den Tod eingegangene Lebendige - das ins Endliche g e f p r o c h e n e Wort - noch als Klang vernehmbar wird. Auch in der bildenden Kunft alfo ift der abfolute Erkenntnißakt, die Idee, nur gleich von der realen Seite aufgefaßt, anftatt daß fie in der Rede oder redenden Kunft u r f p r ü n g l i c h als ideal aufgefaßt ift, und felbft in der durchfichtigen Hülle, die fie annimmt, nicht aufhört, es zu feyn" (SCHELLING: PhK 1803-04,484; vgl. auch SgPh Ί804, 455: „Mufik als Anfang der bildenden und Drama als Gipfel der redenden Kunft lind die beiden Pole").
Die dargelegte sprachliche Qualität des absoluten Erkenntnisaktes läßt nun nach der Funktionfragen,die Sprache als solche im Rahmen des Schellingschen Systems erfüllt. Die Vermutung liegt nahe, daß auch in bezug auf diesen Gegenstand von einem Wechselverhältnis zwischen Absolutem und erscheinender Besonderheit auszugehen ist, von einer Analogie zwischen der «Sprache Gottes» und empirischer Sprache als deren Ab- oder Gegenbild. In der Tat versteht Schelling die menschliche Sprache als „das entsprechendste Symbol des absoluten Erkenntnisakts" (PhK ! 1803-04,634). Da er das Universum als ein (absolutes) Kunstwerk begreift, faßt er Sprache folgerichtig ihrerseits als das „vollkommenste Kunstwerk" (ebd. 358). Sie ist - wie die Kunst überhaupt - ein „Reales, das in sich das Ideale integriert und als diese Integration zum wahren Sinn-
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In einer hier vollends an die traditionell christliche angelehnten Metaphorik spricht Schelling vom „Wort, das Fleifch geworden ift" (SgPh 1804, 492).
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bild des Absoluten wird" (Hennigfeld 1984, 20). Die Kunst ist aber „φύσιςund τέχνη, unbewußte und bewußte Tätigkeit zugleich" (Coseriu 1977, 3); sie ist als die dritte Potenz der idealen Welt eine für sich gesehen noch ideale Indifferenz von Idealem und Realem - so wie der Organismus, die dritte Potenz der realen Welt, für sich gesehen reale Indifferenz bleibt. Das vollkommenste Kunstwerk kann daher nur dasjenige sein, in dem die Indifferenz als solche am klarsten hervortritt, mit anderen Worten: dasjenige, in dem die reale und die ideale Indifferenz ihrerseits zum Ausgleich gebracht werden, und das als Kunstwerk zugleich ganz Organismus ist. Dieser Forderung wird die Sprache gerecht. Sie ist „unmittelbarer Ausdruck eines I d e a l e n - des Wiffens, Denkens, Empfindens, Wollens u. s. w. - in einem R e a l e n , infofern felbft ein Kunftwerk. Allein fie ift von der anderen Seite ebenfo beftimmt ein Naturwerk, indem fie als die Eine nothwendige Form der Kunft nicht urfprünglich durch Kunst erfunden oder entftanden gedacht werden kann" (SCHELLING: PhK ! 1803-04, 482). Sprache erfüllt also in Schellings System die Funktion des künstlichsten Naturwerks und des natürlichsten Kunstwerks zugleich. Dieser Aspekt ist näher zu beleuchten. In der Natur „drückt fich das Allgemeine [= das Ideale] der Vernunft in der Sprache durch abgemessene, in sich organisirte, artikulirte Bewegung aus. [...] Sprache iñ das Höchfte in der Natur; fie ift [...] die unendliche, ewige Affirmation, die im Univerfum wiedertönt" (SgPh ! 1804,491 f.). Zwar heißt bereits die Materie „das ins Endliche eingegangene Wort Gottes" (PhK ' 1803-04,635), wie auch schon in der bloßen Welt der Körper das Phänomen des Klangs (vgl. S. 159) anzutreffen ist. Der Klang aber wird als die reine Einbildung des Idealen ins Reale, als Individuation des Absoluten in der Endlichkeit („Seele der Selbftheit"; SgPh ! 1804,355) verstanden. In der Sprache dagegen „ift diefe Einbildung vollendet, und es beginnt fchon das Reich der entgegengefetzten Einheit" (PhK Ί 803-04,635), also die „Auflöfung des Befonderen ins Allgemeine, des Concreten in Begriff' (ebd. 482; im Original Sperrdruck). Sprache zeigt sich unter diesem Gesichtspunkt als ein Übergangsphänomen vom Realen zum Idealen. „Es iit nothwendig [...], daß die höchfte Verkörperung und Bindung der Intelligenz zugleich der Moment ihrer Befreiung ift. In dem menfchlichen Organismus ift der höchfte Contraktionspunkt des Univerfum und der in ihm wohnenden Intelligenz. Aber eben im Menfchen auch bricht He zur Freiheit durch. Deßwegen erfcheint auch hier wieder Klang, Ton und Ausdruck des Unendlichen im Endlichen, aber als Ausdruck der vollendeten Einbildung - in der S p r a c h e , die lieh zum bloßen Klang ebenfo verhält, wie lieh der dem Licht vermählte Stoff eines organifchen Leibs zur allgemeinen Materie verhält" (ebd. 635).
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Autoren II: Schelling
Mit diesen beiden Aspekten - Sprache als «Produkt der Natur» und als Überwindung der reinen Natürlichkeit und Übergang in die Freiheit - erweisen sich die Kategorien des Schellingschen Systems als tragfähig und brauchbar, um die ambivalente Qualität jeder Sprache zu fassen, die durch die Möglichkeit metasprachlicher Äußerungen gegeben ist: Während Sprache sich auf der Objektebene auf anderes richtet und damit Medium der Darstellung, der Erkenntnis, des Handelns ist, wird sie auf der Metaebene selbst zum Objekt, was nur geschehen kann, indem sie die Sphäre der Subjektivität erobert bzw. «zur Freiheit durchbricht». Damit bleibt bei Schelling die „grundsätzliche Schwierigkeit jeder Reflexion über Sprache, daß diese zugleich Gegenstand wie Ausdruck der Untersuchung ist, [...] erhalten, gewinnt jedoch [...] eine neue, positive Akzeptanz. Gerade diese Eigenschaft der Sprache, Subjekt und Objekt zugleich zu sein, wird als Zeugnis für die Wahrheit des Identitätssystems herangezogen" (Wanning 1988, 160 f.). Durch ihre Subjekt-Objektivität ist Sprache im eigentlichen Sinne universal. Sie ist „dasjenige Medium, in dem das Absolute unmittelbar erscheinen kann" (Wanning 1988, 161): Wie in Gott Reales und Ideales absolut identisch sind und damit das All gesetzt ist, wird Sprache zum Verbindungspunkt der realen und idealen Welt, und also zur Erscheinung des absoluten Erkenntnisaktes (des Alls). Der bereits erwähnte Dualismus von «lebendigem» und «gesprochenem Wort» (vgl. S. 159) wird hier erneut greifbar: Man darf die menschliche Sprache - auch als das den Einzelsprechakten zugrundeliegende Ganze - nicht einfach als unmittelbares «Wort Gottes» bezeichnen, wie Coseriu zurecht bemerkt. Unmittelbares Wort Gottes ist für Schelling das Universum. Der Unterschied ist der von Ur- und Gegenbildlichkeit, wobei nicht das Universum das «Urbild», die Sprache das «Gegenbild» ist, sondern der absolute Sprechakt (Gott), der als absolute Identität notwendig und zugleich frei das Universum hervorbringt, verhält sich als Urbild zum Gegenbild des sprechenden (durch «Kunsttrieb» Sprache hervorbringenden) Menschen. Menschliche Sprache ist daher die Erscheinung der göttlichen in der Endlichkeit, sie kann als das „Analogon des Universums im menschlichen Bereich" angesehen werden (Coseriu 1977, 8). Als Wesen des absoluten Erkenntnisaktes war die untrennbare Einheit des Idealen und des Realen, des Allgemeinen und des Konkreten bestimmt worden. Einer unphilosophisch-atomistischen Betrachtungsweise, die alles nur „auseinandergezogen in Urfache und Wirkung" begreift (SCHELLING: FSPh 1802, 344), muß diese wesentliche Einheit und wechselseitige Durchdringung als Chaos erscheinen. Die „Formen der Natur" sind nicht „auf Linien [zu] bringen" ; alles liegt „in einer göttlichen Verwirrung" vor dem Betrachter (ebd. 400). - In der Sprache erscheint nun das All genau so: „Die Sprache als die fich l e b e n d i g ausfprechende unendliche
Schellings «Sprachphilosophie»
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Affirmation ift das höchfte Symbol des Chaos, das in dem abfoluten Erkennen auf ewige Weife liegt. In der Sprache liegt alles als eins, von welcher Seite man fie auffaffe" (SCHELLING: PhK ! 1803-04,484). Die beiden «Seiten», von denen her man die chaotische Identität auffassen kann, und die damit der bei Schelling durchgängig begegnenden Dualität des Universums entsprechen, sind der semantische und der lautliche Bereich, die Inhalts- und die Ausdrucksseite sprachlicher Zeichen. Erstere nennt Schelling den „innem Ausdruck der Vernunft", letztere ist für ihn der „äußere Leib" der Sprache (PhK ! 1803-04, 485). Der Dualismus wiederholt sich auf jeder der beiden Seiten, d. h. diese sind jeweils in sich wieder zweigeteilt, wie auch Coseriu (1977,6), allerdings nur für den „materiellen, phonischen", also den ausdrucksseitigen Bereich festgestellt hat. Als Ausdruck der absoluten Identität erscheint in besonderer Weise das Signifikat eines sprachlichen Zeichens: „Sinnliches und UnTinnliches ift hier eins, das Handgreiflichfte wird zum Zeichen für das Geiftigfte. Alles wird Bild von allem und die Sprache felbft eben dadurch Symbol der Identität aller Dinge. In der innem Conftruktion der Sprache Ielbft ift alles Einzelne beftimmt durch das Ganze; es ift nicht Eine Form oder einzelne Rede möglich, die nicht das Ganze forderte" (SCHELLING: PhK11803-04, 484).
Formulierung und Gedanke entstammen den Berliner Vorlesungsheften A. W. Schlegels (VLK/1 ! 1801-02,401), die ihrerseits Adaptionen der Identitätsphilosophie aufweisen. Es bietet sich für Schelling an, bestimmte von Schlegel sprachphilosophisch transformierte und angereicherte Alleinheitskonzepte wiederaufzugreifen und in sein System, das dadurch seinerseits sprachtheoretisch affiziert wird, zu integrieren. Die Beiläufigkeit allerdings, mit der er hier semantische Grundfragen streift, ist typisch für seine ganze Haltung gegenüber dem Thema Sprache: Es interessiert ihn nur im Zusammenhang mit seinem Philosophem der absoluten Identität. Eine Zeichenkonzeption, das Kernstück jeder ambitionierten Sprachtheorie, wird, wenngleich sie anklingt, nicht ausgeführt. Man kann sie nur als Implikat aus wenigen Äußerungen herausarbeiten (vgl. S. 222). Im Signifikanten wird das „Symbol des Chaos" unter anderem Aspekt greifbar: „Von der Seite des Tons oder der Stimme liegen in [...] [der Sprache] alle Töne, alle Klänge ihrer qualitativen Verfchiedenheit nach. Jene Verfchiedenheiten find alle vermifcht in der menfchlichen Sprache; daher fie keinem Klang oder Ton insbefondere ähnlich ist, weil alle in ihr liegen" (SCHELLING: PhK ! 1803-04,484). Die Betonung einer „qualitativen Verschiedenheit" der Lautgestalt weist vor allem auf die Differenz zwischen Vokalen und Konsonanten. Dieses Thema wird in der deutschen Sprachreflexion des 18. Jahrhunderts kontrovers diskutiert. Die Meinungen scheiden sich an der Frage, ob die Konsonanten oder die Vokale der Spra-
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che wesentlicher seien. Die idealistische Tradition spricht sich für die letzteren aus; sie sieht in ihnen das Geistige der Sprache gefaßt, insofern der freie Atem (spiritus) einen Ton hervorbringt, nicht, behindert durch Artikulationsorgane, nur ein Geräusch: „Diejenigen Töne, welche nicht durch den Druck eines Sprachwerkzeuges, fondem durch bloße OefEhung des Mundes hervorgebracht werden, heißen Vocale undfiefinddas Urfprönglichite der Sprache" (BERNHARDI: AGS 1805,24). - Dem gegenüber steht eine andere Auffassung, die sich aus der Tradition der Aufwertung des Deutschen den romanischen Sprachen, vor allem dem Französischen gegenüber herleitet. Der Mangel an Vokalen, den Autoren wie A. W. Schlegel der deutschen Sprache zum Vorwurf machen (vgl. S. 249), wird hier mit den barocken Theoremen der «Grundrichtigkeit», des «Uraltertums» und der «Natürlichkeit» in Verbindung gebracht und gerade als Vorzug verstanden: „Ueberhaupt wird die Natur der Sprache, mehr durch die Confonanten, als durch die Vokalen gebildet; und diefe originale Natuifprache ift vielleicht in keiner Sprache mehr fo merklich als in der deutfchen. In der franzôfifchen hat fich diese Originalität, weil fie mehr Veränderung erlitten, weniger erhalten können; in allen deutfchen Stammwörtern ift hergegen der Ausdruck, der von der Natur daizu eingerichteten Organen, noch fo kenntlich, daß der, der die Sprache auch nicht verfteht, in hundert Worten ihn nicht fiinfinal verfehlen wird" (JERUSALEM: DSL 1 7 8 1 , 2 1 ) .
Ein Primat der Konsonanten kann allerdings auch unabhängig von der genannten Traditionslinie behauptet werden, wie Adelung (USpr 1781,23) zeigt. Schelling stellt sich selbstverständlich in die idealistische Tradition. Die sprachliche Ausdrucksseite oder der „äußere Leib" der Sprache ist „in fich wieder Seele und Leib. Die Vocale find gleichfam der unmittelbare Aushauch des Geiftes, die formirende Form (das Affirmative); die Consonanten find der Leib der Sprache oder die geformte Form (das Affirmirte)" (PhK! 1803-04,485). Das quantitative Verhältnis von Vokalen und Konsonanten in einer Sprache gibt daher Aufschluß über ihre qualitative Beschaffenheit: „Je mehr [...] in einer Sprache Vocale find, - jedoch so, daß die Begrenzung durch die Confonanten nicht bis zu einem gewiffen Grad verfchwinde - , defto befeelter, und umgekehrt, je überhäufter mit Confonanten, defto feelenlofer" ist sie (ebd.). Mit der Einschränkung, daß die Konsonanten gegenüber den Vokalen nicht weiter als bis zu einem gewissen Grad zurücktreten dürfen, steht Schelling wiederum dem älteren Schlegel nahe, der den «Wohlklang» einer Sprache unter anderem in ein Gleichgewicht beider setzt (vgl. S. 247, Anm. 178). Die geistigen Wege führen freilich in völlig verschiedene Richtungen. Es geht Schelling ja nicht um Wohlklang, sondern um die symbolische Fassung der absoluten Identität. Die logosmystischen Implikationen seiner Lauttheorie werden in den Stuttgarter Privatvorle fungen offenkundig, wo er Gott als ein „Band" zwischen dem Idealen (A) und dem Realen
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(Β) einführt: „Diefes Band heißt fehr expreffiv das W o r t , [...] weil in ihm zuerft das Selbftfeyn mit dem Nichtfelbftfeyn, Selbftlauter und Mitlauter organifch verbunden find (A = Selbftlauter, Β = Mitlauter, das fur fich ftumme Seyn, das erft durch das Ideale oder A in die Verftändlichkeit erhoben wird)" (StPV !1810, 442 f.). Eine solche Symbolik wäre dem transzendentalidealistischen Rationalisten Schlegel, bei aller theoretischen Sympathie für Mystik und kosmische Bedeutsamkeit, in praxi nicht eingefallen. Sprache, wie sich zeigte, ist das, worin das Sprechen Gottes Gestalt angenommen hat. Sie ist die erscheinende, die real objektivierte Vernunft, das «fleischgewordene Wort»; insofern ist sie ein Naturwerk und gehört zum realen All. Indem sie jedoch die Realisierung eines Idealen, die Abbildung eines Allgemeinen im Besonderen (und damit zugleich ein Kunstwerk) ist, gehört sie auch wiederum zum idealen All undfindetin diesem ihre höchste Ausbildung als sprachliches Kunstwerk. Sprache ist Organismus(8)und Kunstwerk in einem, also nicht nur eine reale Indifferenz, und auch keine bloß ideale, sondern eine Indifferenz der Indifferenz. Das entspricht der Mittelstellung, welche die Vernunft im Unendlichen einnimmt: Identität der Identität. Die Doppelstruktur der Sprache gilt gerade auch für ihren Symbolcharakter: „Sprache ist [...] nicht ein einfaches Symbol, sondern, da sie das Chaos verkörpert, welches wiederum eine andere Gestalt des Unendlichen ist, ein Symbol des Symbols" (Wanning 1988,166). Tatsächlich ist hier die herausragende Stellung gesehen worden, die Schelling der Sprache zuerkennt: „Innerhalb der Identitätsphilosophie ist [...] keine Steigerung mehr möglich" (ebd.). Das Gegenbild Gottes ist die endliche Welt in ihrer Gesamtheit. Das einzige endliche Phänomen aber, das für sich die absolute Identität als solche angemessen widerspiegelt, ist weder bloß Naturwerk noch bloß Kunstwerk; es ist Sprache - ein „natürliches Kunftwerk" (SCHELLING: PhK ! 1803-04,482). Diese paradoxe Bezeichnung der konkreten Erscheinung des Absoluten ist gerechtfertigt und folgerichtig: Das Absolute ist immer paradox; besser gesagt der Gedanke ist es, Unendliches endlich fassen zu wollen. Fragt man nach dem Status der Sprache im Bezugsrahmen von Schellings Potenzenlehre, so läßt sich die These aufstellen, daß sie weder aus dem realen noch aus dem idealen All als Potenz folge, sondern, indem sie die «Ineinsbildung» von Kunstwerk und Organismus(1) darstellt, gewissermaßen aus beiden zugleich. Sie ist damitfreilichkeine «siebente Potenz» (aus dem Absoluten können durch die Sonderung in reales und ideales All nur zweimal drei Potenzen folgen), aber sie kann in zweifacher Weise betrachtet werden. Aus der Sicht der Endlichkeit, die immer Ver-
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Autoren II: Schelling
schiedenheit ist, zeigt sich Sprache (je nachdem wie man gewichten will) als zugehörig zur Natur oder zur geistigen Welt und kann damit metaphorisch ihrerseits sowohl als Organismus(8) wie als Kunstwerk bezeichnet werden. Vom Absoluten her betrachtet zeigt sie sich mehr denn jedes andere endliche Phänomen als Einheit des Realen und Idealen und damit wie als direkte Folge der absoluten Identität selbst: als «in die Welt gesprochenes Wort Gottes» (vgl. auch Hennigfeld 1984, 21). Dieser Aspekt auf Schellings System läßt sich am einfachsten wiederum in einem Schema veranschaulichen:
Absolute Identität
Ideales All
Reales AU
\ .Sprache I Organismus,,;
../
K u n s [
(geistige Welt)
(Natur) Licht
Handeln
Schwere
Wissen
Abb. 4: Stellenwert der Sprache in Schellings System
Das ist freilich von Schelling in dieser Form nirgends ausgesprochen oder gar, wie hier, schematisiert worden. Die vorliegende Darstellung beruht auf der konsequenten Weiterfïlhrung einiger weniger Äußerungen zur Sprache, die allerdings aufgrund seiner übrigen, insgesamt mehrere tausend Druckseiten umfassenden Erläuterungen zur Konzeption seines Systems deutbar werden. Schellings Philosophie ist, wie schon eingangs bemerkt, nichts weniger als explizite Sprachphilosophie, und angesichts der Textlage bleibt es auch zweifelhaft, ob sie als implizite Sprachphilosophie interpretiert werden kann. Andere Gegenstände - Natur, das Ich, Kunst, Gott etc. - sind dem Autor wichtiger. Die Frage ist allerdings, ob sie nicht möglicherweise als eine «Sprachphilosophie in nuce» zu verstehen sein könnte. Ansätze sind allemal vorhanden, und zwar so ausgeprägt, daß es durchaus denkbar scheint, Schelling hätte bei einer anderen Ausrichtung seiner Interessen sein gesamtes System nicht ausgehend vom Absoluten oder der Identität des Erkennenden und Erkannten, son-
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dem von der Sprache anlegen können. Nicht von ungefähr wird es August Ferdinand Bernhardi möglich, seine Sprachlehre (1801 und 1803) und seme Anfangsgründe der Sprachwillenschaft (1805) auf die Grundlage der Schellingschen Identitätsphilosophie zu stellen. Immerhin zeigt Sprache sich als eine der wesentlichsten Konstituenten dieses Systems. Sie ist gewissermaßen das kaum jemals emsthaft selbst zum Gegenstand gemachte Bindeglied zwischen all den prominenten Themenkomplexen der Schellingschen Philosophie, von denen einige oben kurz umrissen wurden. Sprache ist Bindeglied und Grundlage. - Der absolute Erkenntnisakt ist, wie sich zeigte, sprachlicher Natur. Wenn dieser „Akt der Selbftaffirmation in Gott der Akt feines ewigen Schaffens - a l s d a s f p r e c h e n d e Wort Gottes, der Logos, [...] zugleich Gott felbft i f t (SCHELLING: PhK !1803-04, 483; Kursivierung von mir, J. B.), und die Welt durch ebendiesen Schöpfungsakt aus Gott hervorgeht, so ist als die Wurzel oder der Anfangsgrund der Welt auch wiederum jene mit Gott identische «absolute Sprache» anzusehen. Der Erkenntnisakt wird zum „urfpriinglichen Erkenntnißakt" (ebd. 460).
Zusammenfassung Der Blick auf Schellings «Sprachphilosophie in nuce» erweist sich als bemerkenswerter Aspekt auf sein gesamtes philosophisches System. Wenngleich er diesen Aspekt selbst kaum ausgeführt hat und die Forschung ihn deshalb kaum beachtete, hat der Autor der Sprache eine besondere Stellung und Funktion zuerkannt. In einem Weltgebäude, das ausgehend vom absoluten Selbsterkenntnis- oder Selbstaffiimationsakt Gottes konstruiert wird (einem Akt, der als absoluter Sprechakt verstanden wird), ist die menschliche Sprache das höchste Analogon («Entsprechung») Gottes. Sie vereinigt in der endlichen Welt die Gegensätze des Afifirmierenden und Affirmierten, Erkennenden und Erkannten in eben der Weise in sich, wie es die absolute Identität im Unendlichen tut: Sie ist gleichermaßen Kunstwerk und Naturwerk, ideal und real, subjektiv und objektiv, sie hat eine geistige und eine sinnliche Seite. „In der Sprache verwirklicht sich der Anspruch, [...] die Überwindung aller Gegensätze, ihre Aufhebung in nur quantitativ differenzierte Unterschiede bis hin zur wahren absoluten Subjekt-ObjektIdentität zu erreichen und sowohl logisch als auch in sinnlich wahrnehmbarer Form zu reproduzieren. Alles dies vermag die Sprache zu leisten, sie ist ebenso logisch klar wie ästhetisch schön. Trotz dieser gedoppelten Erscheinungsform bleibt sie dem Wesen nach einheitlich und übernimmt so dieselbe Struktur der Ungeteiltheit, wie sie vom Identitätssystem auch der Philosophie, der Natur und der Kunst zugrundegelegt wird. Es ist die Struktur des Absoluten" (Wanning 1988, 163).
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Sprache ist damit das eigentliche Bindeglied zwischen dem Absoluten und der Endlichkeit (dem Menschen). Dieser im Grunde typisch christliche Gedanke - Gott spricht mit dem Menschen, wenn er den Propheten die Schrift diktiert, und ebenso, wenn er Christus, das Wort, sendet; andererseits spricht der Mensch mit Gott im Gebet - ist beim Schelling der Jenaer und Würzburger Zeit allerdings von jeder religiösen Emphase unberührt. Abgesehen von bestimmten logosmystischen Termini weist sein Sprachgebrauch kaum einmal eine mit christlichen Inhalten zu verbindende Bildlichkeit auf. Es geht nur um den genannten Doppelcharakter der Sprache (Gott spricht und die Menschen sprechen), und es geht um die Analogie zwischen beiden Realisationsformen. Hier wird die Beziehung von Sprache und Kunst akut. Gottes Sprechen ist Poiesis: der Ursprung des Alls und damit zugleich der endlichen Welt; das menschliche Sprechen entspricht dem göttlichen, und zwar dort am meisten, wo es am schöpferischsten ist (wo Subjektivität und Objektivität völlig ineinander übergehen): in der redenden Kunst. Demnach läßt sich das Verhältnis von Sprache und Kunst in bezug auf die Ursprungsfrage bei Schelling auf einen doppelten Punkt bringen: Das absolute Kunstwerk oder Universum ist das Produkt der absoluten Sprache, die identisch mit Gott ist; damit wurzelt auch die Kunst selbst in dieser absoluten Sprache: „Nach meiner ganzen Anficht der Kunft ist fie felbft ein Ausfluß des Abfoluten" (PhK ! 1803-04,372), bzw.: „Die unmittelbare Urfache aller Kunft ift Gott" (ebd. 386; im Original Sperrdruck). Analog ist Poesie das „Princip aller Kunft" (ebd. 632), und jedes Einzelkunstwerk ist überhaupt nur Kunstwerk, insofern es sprachlich (poetisch) ist. Da indessen andererseits die empirischen Einzelsprachen jeweils das «gesprochene (tote) Wort» sind: endliche, unvollkommene, nichtige Abbilder jener vollkommenen Sprache Gottes, die sich im Status der Privation und der Besonderheit, d. h. Absonderung vom lebendigen Urbild befinden, so ist klar, daß auch eine Wiederannäherung an jenes Urbild nötig wird. Die Vernunft, die in ihnen «zur Freiheit durchbricht» (ebd. 635), also von der Naturobjektivität zur Subjektivität umschlägt, muß sich, um der absoluten Identität ähnlich zu werden, erst von neuem wieder objektivieren, sie muß objektive Subjektivität, gegenständliche Freiheit werden. Der Grad der Ähnlichkeit eines endlichen Dings mit dem Absoluten ist in der höchsten Potenz am größten (vgl. oben, S. 151); die höchste Potenz der endlichen Welt aber ist beim Schelling der Jenaer Frühromantik in der redenden Kunst zu suchen. Das ist der alte Gedanke, daß Sprache im sprachlichen Kunstwerk am vollkommensten sei. In modifizierter Form findet er sich noch bei Linguisten des 20. Jahrhunderts: Dichterische Sprache „muß [...] als Sprache schlechthin angesehen
Zusammenfassung
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werden, denn nur in ihr findet man die Entfaltung aller sprachlichen Möglichkeiten" (Coseriu 1980, 110). In Ansehung des Absoluten liegt der Ursprung der Kunst in der Sprache. In Ansehung der realen (für Schelling «nicht-realen», weil endlichen) Welt ist eine empirische Sprache im (sprachlichen) Kunstwerk ihrem Ursprung am nächsten. Schellings Kunstphilosophie zeigt sich unter diesem Aspekt als Sprachphilosophie; seine Sprachphilosophie - sofern man davon, wie gesagt, reden kann - zeigt sich als Kunstphilosophie.
Themen: Das Sprachursprungsproblem und die Frage nach Aufgaben und Leistungen der Sprache „Man darf sich [...] nicht damit begnügen, zu zeigen, daß und wie etwa eine Sprache erfunden werden k o n n t e : man muß aus der Natur der menschlichen Vernunft die Notwendigkeit dieser Erfindung ableiten; man muß darthun, daß und wie die Sprache erfunden werden m u ß t e " (FICHTE: SUS 1795,97)
Ein „frühromantisches Faszinosum par excellence" (Hausdörfer 1989,469) ist die Ursprungsthematik. Sie weist enge Verknüpfungen mit dem Thema Sprache auf: Den ursprünglichen Erkenntnisakt, in dem Erkennendes und Erkanntes, Subjekt und Objekt einander allererst gegenübertreten, fassen die Frühromantiker als ursprünglichen Sprechakl. Der Sprachursprung ist damit der Ur-sprung schlechthin. Die erste sprachliche Äußerung ist einerseits identisch mit der „ersten Regung eines menschlichen Daseins" (A. W. SCHLEGEL: VphK !1798-99, 5); ein „erstes Losreißen von der Natur" ist sie, durch das der Mensch „sich selbst konstituiert" (ebd.). Andererseits gilt sie als „Produkt des menschlichen Dichtungsvermögens" (ebd. 49), als Resultat einer „poetischen Anlage" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02, 388). Sie ist jene ursprüngliche Poesie(2) oder Poiesis, die mit Hilfe sprachlicher Bezeichnung mannigfaltige, disparate Eindrücke zu kognitiven Einheiten verbindet und damit dem Menschen zu einer Welt - der Gesamtheit des von ihm im Erkenntnisakt «Erschaffenen» - verhilft: „Keine Poefie, keine Wirklichkeit" (SCHLEIERMACHER: Athfr 1798,278/227, Nr. 350) u 7 Diese ursprünglich-poietische Kognitionsleistung ist jedoch nicht die einzige sprachliche Funktion, die das Interesse der Frühromantiker findet. Nach Gardt (1995) werden in der Geschichte der Sprachreflexion zwei Funktionen der Sprache unterschieden: Wer ihre kommunikative Funktion betont, sieht ihre Hauptaufgabe in der Interaktion zwischen verschiedenen Kommunikationspartnern; wer ihre sprecherzentrierte Funktion hervorhebt, konzentriert sich auf ihre Bedeutung filr das sprachverwendende Individuum selbst und kann den dialogischen Aspekt in diesem Zusammenhang ausblenden. Die kognitive Funktion der Sprache deutet Gardt (ebd. 153) als Unterart der sprecherzentrierten und damit in Abgrenzung gegen die kom117
Vgl. auch S. 104 und S. 109.
Themen: Sprachursprung - Aufgaben und Leistungen der Sprache
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munikative Funktion der Sprache. Für die Frühromantiker allerdings sind - nicht nur im Zusammenhang der ,,innere[n] Selbstsprache", der Wertigkeit sich mit sich selbst zu besprechen" (NOVALIS: Tplfr *1798, 611, Nr. 406) - beide Funktionen gleich wichtig, wie im Kontext der Frage nach dem Sprachursprung exemplarisch deutlich zu werden vermag. Wenngleich die Frage, was Priorität habe - das Sprechen zum Zwecke der Interaktion oder das Sprechen zum Zwecke der kognitiven Weltgestaltung - , von verschiedenen Frühromantikern durchaus unterschiedlich beantwortet wird, steht die frühromantische Sprachursprungstheorie im ganzen auf dem Standpunkt, daß beide Aspekte gleichursprünglich und nicht voneinander zu trennen seien.
Ursprünglich-poietisches Sprechen: Die Erkenntnisfunktion der Sprache Die Meinung der Frühromantiker über den Zusammenhang von Sprache und Denken steht im Gegensatz zu der Überzeugung, daß der Mensch „ohne Sprache [...] denken" und „vermittelst der Bilder, die er durch die Phantasie sich entwirft", zu „allgemeinen abstracten Begriffe[n]" fähig sei (FICHTE: SUS 1795, 103). Frühromantischer Auffassung zufolge ist Sprache nicht nur ein Instrument, Gedanken auszusprechen und anderen mitzuteilen, sondern vor allem ein Instrument, Gedanken überhaupt hervorzubringen. Bereits Hamann (MPV r*1784; 18011,284) hatte bekanntlich die Sprache ftlr das „einzige erfte und letzte Organon und Kriterion der Vernunft" gehalten. Dieser Ansicht stehen Autoren wie A. W. Schlegel und Novalis erkennbar nahe - jener mit seinem Entwurf der Sprache als eines „Gedanken-Organs", eines „Mittels, selbst zur Besinnung zu gelangen" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 ! 1801 -02, 399), dieser mit seiner Gleichsetzung von Denken und Sprechen11S, die, offenbar in Vorwegnahme Kleist'scher Bemerkungen über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, auf eigenem Erleben gründet: „Was mich sehr plagt, [ist,] daß ich nicht viel sprechen darf und das war mir zum Denken fast unentbehrlich", berichtet noch wenige Wochen vor seinem Tode der bereits unheilbar Kranke in seinem letzten Brief an Ludwig Tieck ( r l. 1. 18011, NS 343). Novalis zufolge wirkt die sprachliche Äußerung („Rede") in doppelter Weise auf das Denken: initiierend und koordinierend. Einerseits setzt sie überhaupt „die Gedanken erst in Bewegung", andererseits ist sie „so eingerichtet, daß man die Gedankenfinger in der leichtesten Ordnung auf bestimmte Stellen sezt" (NOVALIS: FrSt *1799, 562 f., Nr.
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„Denken ist Sprechen" (NOVALIS: ABr * 1798,297, Nr. 319).
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Themen: Sprachursprung - Aufgaben und Leistungen der Sprache
52). Indem die nach inneren Regeln, grammatisch sowohl wie semantisch strukturierte Sprache so dem assoziativ-chaotisch dahinströmenden Denken Gestalt und Gefììge gibt, wird sie zu seinem Maßstab, zum „Gedankenmeter" (NOVALIS: ABr *1798, 349, Nr. 495). Insbesondere im Zusammenhang des Sprachursprungs wird die Erkenntnisfunktion hervorgehoben. Sie ist es, welche überhaupt die menschliche Sprache zu einer spezifisch menschlichen (im Unterschied zur tierlichen Lautäußerung) macht. Die frühromantisch-transzendentalidealistische Sprachtheorie setzt den Ursprung der menschlichen Sprache mit der Entstehung des Selbstbewußtseins gleich. „Wer das erste Wort aussprach, erhob sich zuerst zum Menschen; er wurde frappili von dem Einfall, dass er reflectiren, [...] einen Gegenstand sich gegenüber stellen und beschauen konnte, und in demselben Moment begann er zu sprechen" (HUMBOLDT: F M B * 1 8 0 1 / 0 2 , 5 9 5 f.).
Das Selbstbewußtsein ist es, was nach Ansicht der Frühromantiker den Menschen vom Tier unterscheidet: „Der Mensch muß sich in jedem Zustande solange ganz verlieren und sich in jeden Gegenstand innerlich gleichsam verwandeln, bis ein Prinzip in ihm wirksam geworden ist, das gegen allen Wechsel in ihm bleibend dauert, welches kein anderes ist, als das Ich; und ohne Selbsttätigkeit würde es in dem Menschen bloß Gegenstände geben; zu etwas außer ihm würde er schwerlich gelangen können, ebensowenig als das Tier" (A. W. SCHLEGEL: VphK Ί798-99, 6).
Die tierliche «Sprache» ist daher „ein bloßer Ausdruck von Abhängigkeit von äußeren Eindrücken und kann nie, auch bei gleichen Organen, in eine menschliche Sprache, d. h. selbsttätige Rückwirkung der Einwirkungen übergehen" (ebd.). - Damit ist freilich nur die Sprache eines einzelnen Individuums gemeint. Einen «phylogenetischen» Übergang von tierlicher zu menschlicher Sprache schließt Schlegel keineswegs aus; die Entwicklung des genannten selbsttätigen Prinzips ist ja gerade dieser Übergang. Er führt das Beispiel von Kindern an: ,,[S]ie verlieren sich in jeden Zustand (Gegenstand), weil das selbsttätige Prinzip sich noch nicht entwickelt hat" (ebd.). Liest man diese Äußerung unter dem Aspekt, daß hinsichtlich der Sprache bzw. des Bewußtseins die Individualentwicklung als eine Art Wiederholung der stammesgeschichtlichen Entwicklung gesehen werden könne119, so wird deutlich,
119
Es scheint tatsächlich, als habe Schlegel bereits mit der später von der biologischen Evolutionstheorie vertretenen Ansicht Emst gemacht, die Ontogenese sei in bestimmter Weise eine Wiederholung der Phylogenese. Der Gedanke, bei der Frage nach der Entwicklung des Selbstbewußtseins die Beobachtung von Kindern heranzuziehen, scheint zwar von Kant zu stammen, dessen Anthropologie im selben Jahr publiziert wird, in dem Schlegel seine Jenaer Vorlesungen hält, und in der sich bereits im ersten Paragraphen folgende Bemerkung findet: Ein Kind, das „schon ziemlich fertig sprechen kann", fange doch erst später an, „durch I c h zu reden", und es scheine ihm „gleichsam ein Licht
Ursprünglich-poietisches Sprechen: Die Erkenntnisfimktion der Sprache
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daß die Aussage,tierlicheSprache könne nie in menschliche übergehen, nicht absolut zu verstehen ist. Ähnlich wie bereits Herder faßt Schlegel die menschliche Sprache als tierliche Lautäußerung, zu der noch etwas anderes hinzukommen muß. Dieses «Andere» ist für Schlegel eben die «Freiheit», welche es dem Menschen erlaubt, auch von den jeweiligen Augenblickseindrücken und -erfordernissen unabhängig zu handeln. Ohne sie ist sein Sprechen wie gesagt nur «Ausdruck»: Das „Innere" wird „wie durch eine [...] fremde Gewalt herausgedrückt" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02, 250). An-
ders formuliert: der Mensch, insofern er «Tier», also seiner organisch-sinnlichen Natur unterworfen ist, wird durch seine Seelenzustände gezwungen, sich zu äußern: „Sei es nun Freude oder Betrübniß, was fich feiner bemächtigt, ίο würden die aufgeregten Lebensgeißer ihre Gewalt nach innen zu wenden, und feine ganze Zufammenfetzung zerrütten, wenn er ihnen nicht durch den heftigften Ausdruck in Worten, Ausrufungen und Geberden Luft machte. Er folgt der Anforderung eines fo dringenden Bedürfniffes; durch jede äußre Verkündigung der Leidenfchaft fühlt er lieh eines Theils feiner Bürde entledigt, und hält daher inftinktmäßig Stunden, ja Tage lang mit Jauchzen oder Wehklagen an, bis fich der Aufruhr in feinem Innern allmählich gelegt hat" (A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96,136).
Solchermaßen als Naturnotwendigkeit bestimmt, ist der Ausdruck unabhängig von Willensakten. Der „wilde Naturfohn" (ebd. 137) kann die Äußerung seiner inneren Befindlichkeit nicht nach Belieben unterlassen oder abbrechen: ,,[W]ie ermüdet auch der Körper fich fühlen möge, reißt ihn die Seele mit fich fort, und gönnt ihm keine Ruhe" (ebd.). Daher mtlßte die Äußerung, die als Ventil dienen und die Zerrüttung des inneren Menschen verhindern soll, auf Dauer dem äußeren Menschen schaden, wenn sie nicht gemäßigt und bestimmten Regeln unterworfen würde. Das „Mittel, fich dem beraufchendften Genuße ohne abmattende Anftrengung lange und ununterbrochen hingeben zu können", auf welches den Menschen „der Inftinkt, oder, wenn man lieber will, eine dunkle Wahrnehmung" leitet (ebd.), ist die rhythmische Bewegung: „Unvermerkt gewöhnten fich die Füße nach einem Zeitmaße zu hüpfen, wie es ihnen etwa der rafche Umlauf des Bluts, die Schläge des hüpfenden Herzens angaben; nach einem natürlichen Gefetz der
aufgegangen zu sein", sobald es von sich selbst in der ersten Person zu sprechen beginne: „Vorher f ü h 11 e es bloß sich selbst, jetzt d e n k t es sich selbst" (KANT: Anthr 1798,4). Schlegel indessen bezieht diese Anregungen konsequent auf die Frage nach dem Sprachursprung und nimmt damit den Gedanken des 20. Jahrhunderts vorweg, aus der Untersuchung des frühkindlichen Spracherwerbs Aufschluß über die phylogenetische Sprachentstehung zu gewinnen: Das Erlernen der Muttersprache setzt seiner Ansicht nach „die Fähigkeit Sprache zu erfinden" voraus; beim Kind, das sprechen lernt, „wiederhohlt sich [...] in schwachen Spuren immer noch das, was bey der Erfindung der Sprache durch das Menschengeschlecht überhaupt vorging" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02, 395).
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Themen: Sprachursprung - Aufgaben und Leistungen der Sprache Organifation mußten lieh die übrigen Geberden, auch die Bewegungen der Stimme in ihrem Gange danach richten; und durch diefe ungefuchte Uebereinftimmung kam Takt in den wilden Jubelgefang, der anfangs vielleicht nur aus wenigen oft wiederholten Ausrufungen beftand" (ebd.).
Damit wird die Anlage zum Rhythmus auf die Beschaffenheit der menschlichen Physis zurückgeführt: „Unfer Körper ift ein belebtes Uhrwerk, ohne unfer Zuthun gehn in ihm unaufhörlich mancherlei Bewegungen, zum Beifpiele das Herzklopfen, das Athemholen, und zwar in gleichen Zeiträumen vor" (ebd. 133). Die Forschung ist sich über die Deutung solcher Aussagen seit jeher weitgehend einig. Dem Autor der Briefe über Poe fíe, Silbenmaß und Sprache wird „eine Art naiver Realismus" unterstellt (Jesinghaus 1913, 5), eine „überwiegend physiologische Erklärung" der Sprache (Haym 1870,156), von der er erst in Reaktion auf einige kritische Anmerkungen Schillers Abstand genommen habe (ebd.; vgl. auch Behler 1992,69). Dabei wird allerdings ein wichtiger Punkt übersehen: Der sprachliche Ausdruck geht bei Schlegel nicht allein aus dem Instinkt, sondern aus dem „Widerstreit von Instinkt und selbsttätiger Richtung" hervor (Jesinghaus 1913, 19); indem er dies feststellt, widerlegt Jesinghaus - ohne es zu bemerken - seine Behauptung vom «naiven Realismus» bereits selbst. Tatsächlich hat Schlegel von Anfang an, und zwar bereits vor Schillers Einwand, die «selbsttätige Richtung» des menschlichen Geistes berücksichtigt und ihren Anteil an der Entstehung der Sprache ausdrücklich betont (A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96, 119 f.). Schiller hatte ihm als Reaktion auf den dritten der Briefe über Poe Re, Silbenmaß und Sprache120 geschrieben, daß er seine Erklärung des Rhythmus „ein wenig zu physiologiteh" finde: ,,[D]enn fo gewiil ich glaube, daß man alles was der Menfch in jener Geiftes Epoche thut, und was er befonders in fo verfchiedenen Lagen auf gleiche Weife thut, zugleich aus physichen Gründen deducieren muff, fo glaube ich doch daß immer zugleich auf die Wirkung feiner Selbftthätigkeit muff Rücklicht genommen werden. Mir däucht, fobald feine Perfönlichkeit fich zu deklarieren angefangen und die Reflexion eingetreten ift, fo entftehen gleich nothwendige Foderungen aus feiner felbftftändigen und moralifchen Natur" (SCHILLER: an A. W. Schlegel r10. 12. 17951, KW 18).
Schlegels Antwort läßt, bei aller konzilianten Höflichkeit, nicht verkennen, daß er sich durch die Kritik mißverstanden fühlt.121 Allerdings nimmt er Schillers Anmer120
121
Die Briefe erschienen in drei Teilen in Schillers Hören: Der erste und der zweite Brief im Novemberheft 1795, der dritte im Januar-, der vierte im Februarheft 1796. Schlegel übersandte, nach Schillers wohlwollender Aufnahme der ersten beiden Briefe, am 9. November den dritten, zu dem der Herausgeber der Hören am 10. Dezember Stellung nahm. „Meine Idee, wenn ichfìeanders deutlich genug ausgedrückt habe, war, nur die Fähigkeit des Taktmeffens ganz körperlich, das Bedürfhiß des Zeitmaaßes aber aus der Natur der Leidenfchaften, zu erklären" (A. W. SCHLEGEL: an Schiller "18. 12. 17951, KW 20). - Die Leidenschaften, wie zu zeigen sein wird, versteht Schlegel als Äußerung der urtümlich-rohen menschlichen Freiheit.
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kungen offenbar als Indiz dafür, daß der Grundgedanke noch nicht klar genug entwickelt sei, und fühlt sich veranlaßt, seine Position im folgenden deutlicher herauszuarbeiten. Er wolle darstellen, „daß das Gemüth durch das gefundne Maaß im Ausdrucke der Leidenfchaft, fich gleichfam über diefe felbst zum Meifter gemacht hat; (aliò eine Art von Beilegung derfelben, wobey ihnen doch durch das freye Auslaffen gewillfahrt wird, wo folglich zugleich moralifche und finnliche Foderungen befriedigt werden)" (A. W. SCHLEGEL: an Schiller "18. 12. 1795\ KW 20). - Im vierten und letzten der Briefe ist daher kein Umdenken zu erkennen, sondern eine konsequente Aus- und Weiterführung bereits vorher angelegter Theoreme. Mit „Erfindung des Zeitmaßes" wird der Übergang von der Naturnotwendigkeit zur Freiheit des Bewußtseins, vom tierlichen Ausdruck zur menschlichen Sprache vollzogen (A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96, 139): Ebenso wie das Tier drückt der Mensch durch „Bewegungen der Glieder und der Stimme" (ebd. 142) seine Empfindungen aus; den Unterschied zum Tier macht in diesen Bewegungen allein der Rhythmus, der das „erfte unterfcheidende Kennzeichen feiner Natur" ist (ebd. 143). Wie er Schiller gegenüber angekündigt hatte, erklärt Schlegel die Fähigkeit zum rhythmischen Ausdruck durch die Beschaffenheit der „Organifation", also des Körpers (ebd.). Das Bedürfnis, Sprechen und Bewegung „in gemeßnen Zeiten vorzunehmen", ist aber eben nicht physisch: Kein Tier, allein der Mensch hat es, so daß es folgerichtig „aus der ihm eigenthümlichen geiftigen Befchaffenheit herrühren" muß (ebd.). Schlegel widerspricht damit nicht seiner früheren Aussage, die Mäßigung des Ausdrucks sei eine physische Notwendigkeit, da der Körper durch die fortgesetzte, anstrengende Äußerung innerer Erregungszustände ermüdet werde. Das Bedürfiiis rührt, folgt man seinen Ausführungen, nämlich nur indirekt aus der dem Menschen eigentümlichen geistigen Beschaffenheit her. Diese ist für Schlegel die Voraussetzung dafür, daß der Mensch sich in der geschilderten Weise (unausgesetzt und bis zur Erschöpfung) zu äußern strebe: „So schwer es uns fällt, in solchen Ausfchweifungen die Würde der Vernunft zu erkennen, fo ift es doch unläugbar, daß der Menfch nur durch das, was ihn über die Thiere erhebt, derfelben fähig wird" (A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96, 143). Im Gegensatz zur tierlichen Befindlichkeit, die ganz vom Augenblick, von aktuellen Reizen, Eindrücken und Nöten abhängt, hat der Mensch „das Vermögen, Vorftellungen felbftthätig feftzuhalten und zu erwekken" (ebd. 144). Es ist also paradoxerweise das kontinuitätsstiftende Vermögen, das Vermögen der Distanzierung vom unmittelbar Gegebenen, das die Dauer und Intensität der menschlichen Leidenschaften bedingt. Diese auf den ersten Blick befremdliche Konstellation erklärt sich dadurch, daß der Mensch als «Natursohn» noch keinen „fittlichen Gebrauch" von seinen Vorstellungen machen kann. Obgleich sie in
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Themen: S prachursprung - Aufgaben und Leistungen der Sprache
der geistigen Natur des Menschen gründen, durch Selbsttätigkeit hervorgebracht sind, wirken sie daher doch auf seine Sinnlichkeit; ihre „ganze Macht" wirft sich in diesem Stadium der menschlichen Entwicklung „verftärkend auf die Seite der Leidenfchaften", und diese „beherrfchen also, bis die Vernunft fie unter ihre Botmäßigkeit gebracht hat, den menfchlichen Körper unumfchränkt" (ebd.)· - Der Mensch ist demnach auf der Schwelle zum Menschsein frei, ohne doch frei zu sein: Er ist nicht mehr dem bloßen Naturzwang des Augenblicks unterworfen, bleibt aber dem „verderblichen Uebermaße" seiner Leidenschaften ausgeliefert, in das er beim „erften Erwachen feiner Freiheit unvermeidlich [...] verfällt" (ebd. 145). Er hat die rechte, die sittliche Freiheit noch nicht erlangt, die ihm die Beherrschung seiner Triebe ermöglicht. Einer Mäßigung der leidenschaftlichen Ausbrüche bedarf es demnach aus zweierlei Gründen: Einmal, wie gesagt, um einem Bedürfiiis der Physis zu genügen, die ohne das auf Dauer «zerrüttet» würde; zum anderen, um die rohe, sich gleichsam selbst im Wege stehende menschliche Freiheit zu ihren spezifischen Möglichkeiten: zur Vernunfterkenntnis und zur Sittlichkeit122 zu bringen. Dazu gelangt sie nicht von allein. Der urtümliche Mensch sieht in ihr sein „höchftes Gut", genießt in ihr das „volle Gefühl feiner Kraft" und weist daher „alles von fich [...], was fich anmaßt fie im geringften einzufchränken" (ebd.). Er müßte also „immerfort durch alle Zeiten im Stande der Wildheit verharren", würde nicht die Natur zur „Vermittlerin zwifchen feinen Sinnen und feiner Vernunft" (ebd.), indem sie ihn zur Rhythmisierung seiner Bewegungen und Töne nötigt, in welcher beides, Freiheit des Ausdrucks und deren Mäßigung, miteinander verbunden ist (vgl. ebd. 139). Schlegels Position ist also bereits in den frühen Briefen über Poeße, Silbenmaß und Sprache diejenige einer Vereinigung von Sinnlichkeit und Geist in der Kunst (hier: der Urpoesie). Der Rhythmus wurzelt gleichermaßen in der sinnlichen und in der geistigen Natur des Menschen, verbindet beide und stiftet auf diese Weise erst die wahre menschliche Freiheit der Selbstbeherrschung. Damit ist er zugleich als das eigentlich 5/>racAkonstituierende Prinzip eingeführt, als das er schon in anderem Zusammenhang behandelt worden war (vgl. S. 107 f.). Er bringt Strukturen, ein Moment des Verweilens, der Wiederholung in die chaotisch dahinströmende Lautäußerung und gewinnt damit mnemonisch-kognitive Funktion. Schillers Anregung, das Zeitmaß als das „Beharrliche im Wechfel" zu verstehen (an A. W. Schlegel r10. 12. 17951, KW 18), wird damit erkenntnistheoretisch adaptiert. Friedrich Schlegel
122
Wie auf dem kontinuittätsstiftenden Vermögen, der Fähigkeit, „Vorftellungen felbftthätig festzuhalten und zu erwecken", die „ganze Entwickelung der menfchlichen Erkenntnißkräfte beruht, fo läßt fich auch ohne dasfelbe keine Anlage zur Sittlichkeit denken. Ohne Vergleichung könnte der Verftand nicht urtheilen und der Wille nicht wählen" (A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96, 144).
Ursprünglich-poietisches Sprechen: Die Erkenntnisfìinktion der Sprache
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erfaßt diese Konsequenz der Überlegungen seines Bruders mit aller Schärfe und bringt sie auf den Punkt: „So bald [...] ein leidenschaftlicher] Zustand und dessen Aeusserung daurend gemacht werden soll, so ist zuförderst nöthig daß die ganze Masse der Empfindung sinnlich begränzt wird, und da sie zu groß ist, um zugleich gefaßt oder gegeben zu werden, durch gleiche (aber nicht durch den Verstand sondern durch die Sinne an einem gegebenen Eindruck ohngefáhr gemeßne) Einschnitte wieder in kleinere Massen sinnlich getheilt wird. Bey dem Mangel kräftiger Hülfsmittel würde das Gedächtnis ohne diese natürliche Erleichterung durchaus unfähig seyn, sie aufzubewahren" (F. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel rFebr. 1796\ KA/23,284).
Noch in seiner Geschichte der Poesie der Griechen und Römer betont Friedrich Schlegel (mit ausdrücklichem Verweis auf die Horen-Bxieït seines Bruders) diese Funktion des Rhythmus: Nur durch ihn könne „die Empfindung, welche sonst an ihrer Geburtsstätte gleichsam fest kleben würde, losgetrennt und zu einer dauerndem und allgemeineren Wirksamkeit erweitert werden" (F. SCHLEGEL: PGR 1798,417). A. W. Schlegel selbst räumt einige Jahre später anläßlich eines Neudrucks der Briefe über Poefie, Silbenmaß und Sprache ein, er finde „den Gang der Unterfuchung" mittlerweile selbst „einfeitig und nicht rational genug [...], indem die pfychologifche Erklärung von der Entftehung des Rhythmus mit der phyfiologifchen hätte verbunden werden folien" (A. W. SCHLEGEL: VChK 1801, XXII). Gleichwohl sind in den Briefen bereits Ansatzpunkte filr eine solche Verbindung vorhanden. Gerade der Gedanke, eine ursprüngliche, «rohe» Freiheit durch Beschränkung zur Qualität einer höheren Freiheit zu heben, verweist bereits deutlich auf transzendentalidealistische Denkzusammenhänge. Es ist Schelling, der einige Jahre später das freie Selbstbewußtsein als Selbstbegrenzung (Individuation) des Ich, als Beschränkung seiner Erkenntnistätigkeit auf bestimmte Gegenstände faßt und erläutert: ,,[E]rft durch diefe Befchränktheit der freien Thätigkeit auf ein beftimmtes Objekt werde ich meiner bewußt, alfo auchfrei,mithin muß, ehe ich frei, d. h. der Freiheit bewußt bin, meine Freiheit fchon eingefchränkt, und gewiffe freie Handlungen müffen noch, ehe ich frei bin, filr mich unmöglich gemacht feyn" (SCHELLING: StI 1800, 549). - Ebenso liest man beim frühen A. W. Schlegel, der ursprüngliche Mensch nehme „die Hand nicht wahr, welche ihn leitet", und erst wenn er von einer „höhern Stufe der Bildung" zurückblicke, erkenne er „in feinen frühen Träumen Vorbilder feiner theuerften Wahrheiten" und „in dem, was oft fein Spiel war, Vorübungen zur ernften Pflicht" (A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96, 145). Hier ist der Schritt zum späteren transzendentalidealistischen Modell im Grunde bereits vollzogen, und es fehlt nur noch die letzte Konsequenz: die Feststellung, dieser Rückblick sei die einzige Möglichkeit, etwas über den Ursprung von Sprache und Bewußtsein herauszufinden, und nur durch ihn konstituiere sich dieser Ursprung (vgl. S. 184 f.).
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Wie sich zeigte, geht A. W. Schlegel nicht einfach naiv davon aus, daß irgendeinem Tier (das durch dieses Ereignis zum Menschen würde) von irgendwoher plötzlich das Selbstbewußtsein zufiele, woraufhin dann auch sein bisheriges Gebrüll oder Geblök zur Sprache würde: In dem Fall müßte von einem letztlich göttlichen Ursprung derselben ausgegangen werden, was Schlegel ablehnt. Ebensowenig setzt er den Ursprung allein in die freie Tätigkeit, sondern vielmehr umgekehrt die freie Tätigkeit mit in den Ursprung: „Es wäre eine verkehrte Ansicht, zu glauben, die Menschen hätten vielleicht eine geraume Zeit ohne Sprache gelebt, und sie dann einmal plötzlich erfunden; denn ohne Sprachen existirten sie [...] überhaupt nicht als Menschen" (A. W. SCHLEGEL: V L K / 1 ' 1 8 0 1 - 0 2 , 3 9 6 ) . Die Sprache muß also in irgendeiner Form bereits dagewesen sein, bevor sie «erfunden» wurde: „Schon als Thier, hat der Menfch Sprache" (HERDER: AUS R * 1 7 6 9 ; 1 7 7 2 1 , 5 I original Sperrdruck), oder, in einer späteren Formulierung Wilhelm von Humboldts: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn" (HUMBOLDT: V S s t ' 1 1 8 2 0 ; 1 8 2 2 , 15). 1 2 3 Man könnte daher sagen, die Sprache sei dem Menschen „angebohren" (A. W. SCHLEGEL: V L K / 1 1 8 0 1 - 0 2 , 3 9 6 ) - sofern man darunter nicht versteht, sie sei das ohne menschliches Zutun entstandene Produkt eines natürlichen Triebes, gegen den der Mensch nicht einmal ankönne, sondern vielmehr dies: daß sie im Menschen zwar angelegt ist, aber gleichwohl „erst durch [...] eigne Thätigkeit hervorgebracht werden muß" (ebd.). ;
M
1
Schlegel konstruiert ein kompliziertes Verhältnis wechselseitiger Bedingung von Sprache und Selbstbewußtsein, bei dem er zwischen Sprache und Sprach/ä/i/gkeit unterscheidet: „Das selbstthälige Prinzip [...], welches der thierischen Abhängigkeit entgegengesetzt ist, macht sich nur dadurch geltend, daß es Zusammenhang und Einheit in das Daseyn zu bringen sucht. Es vergleicht also die sinnlichen Eindrücke mit einander; um verglichen zu werden, müssen sie coexistiren, dieß setzt folglich die Fähigkeit voraus, Eindrücke festzuhalten. Darin besteht nun eben das ursprüngliche Sprechen Dasjenige, woran ein Eindruck festgehalten wird, ist ein Zeichen. Nur in diesem Sinne ist es wahr, daß Sprachfähigkeit und Vernünftigkeit einerley sind, und daß der Mensch ohne Sprache nicht hätte denken, noch allgemeine Begriffe bilden können" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 11801-02, 398; vgl. auch A. W. SCHLEGEL: VphK Ί798-99, 6, § 17).
Damit ist - eine Erwägung, die allerdings schon bei Kant impliziert war - das Selbstbewußtsein an das Gedächtnis gebunden. Schlegel seinerseits bindet das Ge123
Aus diesem Dilemma ergibt sich zugleich ein Darstellungsproblem für den Sprachphilosophen oder -Wissenschaftler: Man muß sich „bey dem Reden über die ersten Elemente der Sprache einer schon fertigen und individuell bestimmten Sprache bedienen [...), wodurch es doppelt schwer wird, den Zustand im menschlichen Geiste vor der Sprache anschaulich darzustellen" (A. W. SCHLEGEL: VEW 1803-04,285).
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dächtnis an die Sprache; bei ihm sieht das erwähnte Wechselverhältnis so aus, daß es einerseits eine synthetische Fähigkeit („Vemünftigkeit"124, mentale Wiedervergegenwärtigungsfähigkeit) geben muß, andererseits eine Fähigkeit zur Produktion von Zeichen, anhand derer die vom synthetischen Vermögen in Zusammenhang zu setzenden mannigfaltigen Sinneseindrücke „festgehalten", d. h. erinnert werden können. Die synthetische Fähigkeit kommt nicht ohne repräsentatorische Zeichen aus, da sie nur mit und an diesen in der chaotischen Wahmehmungsflut eine bleibende Ordnung manifestieren kann; nur mittels der Sprache läßt sich „wieder-holen, was sonst unwiederholbar bliebe" (Mueller-Vollmer 1992, 216). Die repräsentatorischen Zeichen ihrerseits sind solche überhaupt nur dadurch, daß sie mit bestimmten Wahmebmungseinheiten zusammengebracht wurden, also Symbole sind. Kurz gesagt: Wenn Gegenstände der Außenwelt nicht bezeichnet werden könnten, wären sie nicht (wieder)erkennbar; gäbe es aber keine Möglichkeit, sie wiederzuerkennen, könnten sie auch nicht bezeichnet werden. Die Repräsentationsfähigkeit wäre in diesem Fall - sofern überhaupt vorhanden - genausowenig Sprachfähigkeit, wie Lautäußerungen ohne kontinuitätsstiftend-synthetisches Vermögen Sprache wären.125 Drei Komponenten sind hier im Spiel: Gegenstände der Außenwelt, das sie erkennende Subjekt und das zwischen beiden in der Mitte stehende, zwischen beiden vermittelnde sprachliche Zeichen. Es erscheint interessant, an dieser Stelle einen Blick auf die Schlegelsche Zeichenkonzeption zu werfen, weil dadurch eine nähere Bestimmung der Qualität seiner Erkenntnistheorie, seiner Auffassung vom Verhältnis von Subjekt und Außenwelt ermöglicht wird. Nach Ansicht des Autors besteht ursprünglich ein notwendiger „Zusammenhang gewisser Laute mit gewissen inneren Regungen" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 ' 1801 -
124 125
Auch „Vernunft" (A. W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί802-03, 525; vgl. S. 285, Anm. 201). Die Auffassung, daß ohne «Merkwörter» (HERDER: AUS [*1769; 1772', 47), ohne sprachliche Zeichen, in die eine Erkenntnis oder ein Gedanke gefaßt werden kann, die Erkenntnis oder der Gedanke selbst nicht möglich ist, anders gesagt: daß Ausdruck und Inhalt gleichursprünglich sind und einander bedingen,findetsich auch bei Wilhelm von Humboldt: Seiner Ansicht nach besteht das „Wesen des Denkens" im „Reflectiren, d. h. im Unterscheiden des Denkenden von dem Gedachten" (HUMBOLDT: ÜDS "1795-96,581). Der menschliche Geist muß, um zu reflektieren, „in seiner fortschreitenden Thätigkeit einen Augenblick still stehn, das eben Vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst entgegenstellen" (ebd.). Das Denken kann allerdings nicht anders als „mit Hülfe der allgemeinen Formen unsrer Sinnlichkeit" erfolgen, weil es nur in diesen „auf[zu]fassen und gleichsam fest[zu]halten" sei. Daher kommt es zu einer ,,sinnliche[n] Bezeichnung da' Einheiten [...], zu welchen gewisse Portionen des Denkens vereinigt werden, um als Theile andern Theilen eines grösseren Ganzen, als Objecte dem Subject gegenübergestellt zu werden" (ebd.). Die sprachlichen Zeichen sind also zur «Portionierung» des Denkens, zur Bildung und Objektivation von Gedanken unerläßlich.
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02,250); mit anderen Worten: Ein Ausdruck ist notwendig so, wie er ist, und nicht anders. Da aber der Ausdruck, wenn sich die Freitätigkeit seiner bemächtigt, zur Darstellung wird, besteht ursprünglich auch bei dieser ein notwendiger Zusammenhang, und zwar nun zwischen dem sprachlichen Zeichen und dem dadurch Bezeichneten. Ebendies meint Schlegel, wenn er von „natürlichen Zeichen" redet (so etwa VLK/1, 399). Da die Wortsprache aus Tonzeichen besteht, die eine „unmittelbare und eigentliche Ähnlichkeit [...] nur mit dem Hörbaren" haben, muß dasjenige zu Bezeichnende, was von seinen Wahrnehmungsqualitäten her „in andre Sinne fällt, [...] durch vermittelte Ähnlichkeiten bezeichnet" werden (ebd. 400 f.). Natürliche Zeichen im eigentlichen Sinne sind daher für Schlegel vor allem die Onomatopoetika. Von diesen aus können dann „Analogieen der Eindrücke auf die verschiedenen Organe" hergestellt werden, zum Beispiel solche der „Sanftheit, Stärke u. s. w. Ein Blinder soll einmal die rothe Farbe mit dem Schall einer Trompete verglichen haben. Treffend genug! So wird das Rothe in vielen Sprachen durch den Buchstaben R bezeichnet, womit rauschen, rieseln, rasseln, ρε ει ν, lauter Benennungen von Geräuschen anfangen. Ebenso eine Sensation des Gefühls rauh. Man vergleiche mit roth das Wort blau, es ist wie die Farbe selbst der Gegensatz davon" (ebd. 401).
Für Schlegel besteht eine direkte Beziehung zwischen der unmittelbaren Sinnlichkeit eines «natürlichen Zeichens» und „jener urfprünglichen Kraft [...], die im n o t wendigen Zufammenhange zwifchen den Zeichen der Mittheilung und dem Bezeichneten liegt" (BPSS, 105). Die ausdrucksvollsten Wörter seien „die, welche die bezeichnete Sache felbft hervorbringen", läßt Schlegel die Figur des Franzosen in seinem Dialog Die Sprachen sagen, und spöttisch fortfahren, es gebe solche Wörter im Deutschen: ,„KopfTchmerz' macht KopfTchmerz, wenn man es ausfpricht, und .Pfropf pfropft einem den Mund zu" (A. W. SCHLEGEL: Spr 1798,222). 126 Es versteht sich freilich von selbst, daß die Zeichen nicht nur «natürlich» sein können, da ja der freien Selbsttätigkeit beim Sprachursprung eine entscheidende
126
In ähnlichen Ansichten wurzeln Theoreme wie dasjenige Jacob Grimms vom Urbegriff, also die Vorstellung, daß man jedes Wort etymologisch auf eine ursprüngliche sinnliche Anschauung zurückverfolgen können müsse (vgl. Reichmann 1990b, 98 f ; ders. 1991, 303). Ein bekanntes Beispiel ist Grimms Versuch, einen „innem Zusammenhang" zwischen dem Adjektiv arm >miser, pauper< und dem Substantivare >brachium< herzustellen, so sehr sich auch ein solcher Zusammenhang „dem ersten blick verbirgt" (GRIMM: DWB/1 1854, 553). Obgleich Grimm keine Beweise vorbringen kann, ist doch die Vorstellung so faszinierend für ihn, daß sie ihn zu haltlosen Spekulationen verleitet: „armen hiesz amplecti, in manus tollere, umarmen, das grenzt geradezu an erbarmen, bemitleiden; wie gefühlvoll erschiene die spräche, welcher der arme ein solcher ist, den man mitleidig, liebreich aufnimmt und in die arme schlieszt" (ebd. 5 54). - Dergleichen klingt durchaus romantisch und ist es auch: Der Gedanke findet sich in ähnlicher Form bereits bei Brentano, der als Schwager von Grimms Lehrer Savigny mit Grimm persönlich bekannt und befreundet war: „Der Name Reichthum kommt allein von r e i c h e n ; | Hinreichen sollen wir das eigen; allen, | Die arm sind, sollen froh wir geben, | Weil sie die Arme gar so traurig heben" (BRENTANO: Godwi 1801,151).
Urspriinglich-poietisches Sprechen: Die Erkenntnisfunktion der Sprache
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Rolle zukommt. Ursprünglich sind sie dementsprechend auch «notwendig» und «willkürlich» zugleich (A. W. SCHLEGEL: VphK ! 1798-99,6), und ein solches «ursprüngliches» Zeichen wäre daher von einem «unmittelbaren» zu unterscheiden, dem die selbstbewußte «Willkür», die Arbitrarität ganz fehlt. Beispiel für letzteres wäre die Interjektion, also ein bloßer «Ausdruck»: „Nicht dem Menfchen allein, auch vielen Gattungen von Thieren dringt das Gefühl ihres Zuftandes gewiffe Laute ab, die von verwandten Gefchöpfen mit einer ähnlichen, oft fait eben fo ftarken Erfchütterung der Nerven wie die, welche fie erzeugte, vernommen werden" (A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96,112). Davon zu unterscheiden sind Interjektionen im grammatischen Sinne, d. h. die „einfachen Ausrufe der Leidenfchaft [...], welche auch die verfeintefte Sprache noch gelten läßt" (ebd. 113). Diese sind „eigentlich nicht mehr jene unwillkürlich hervorgebrachten Laute felbft, fondern vertreten sie nur durch ihren gemilderten Ausdruck, und fließen alfo mit allen übrigen Wörtern aus der gemeinfchaftlichen Quelle der Nachahmung her" (ebd.). Echte Interjektionen sind demgegenüber keine eigentlichen Sprachzeichen, und es leuchtet ein, daß Schlegel denjenigen Theorien eine Absage erteilt, die den Ursprung von Sprache auf sie zurückführen wollen (VLK/1 '1801-02,397). Die Wortsprache besteht nicht aus unmittelbaren Zeichen, sondern aus „Zeichen von Zeichen" (ebd. 250), die damit schon jede Unmittelbarkeit verloren haben. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu der These, daß man hinter die menschliche Sprache nicht zurückkönne, daß wir mit Wörtern oder überhaupt mit sprachlichen Zeichen nicht Sachen bezeichnen, sondern wieder nur Wörter bzw. sprachliche Zeichen, und daß wir damit prinzipiell keinen Zugang zur Welt der «Dinge an sich» haben. Schlegel selbst diese extreme Ansicht zu unterstellen, schiene allerdings verfehlt, wenngleich sich gewisse Tendenzen zu ihr ganz unstreitig bei ihm erkennen lassen. Für ihn gilt das gleiche, was Adam Schaff an der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts hervorhebt: Humboldt mag das Problem, ob Sprache die Wirklichkeit «widerspiegele» oder nicht, so einfach nicht entscheiden. Obwohl er, wie Schlegel, durchaus dem erkenntnistheoretischen Idealismus anhängt, will oder kann er sich (ähnlich wie Kant bei der Konzeption des «Dings an sich») nicht völlig darauf festlegen, daß Sprache die Wirklichkeit «schaffe». Anders manche Theoretiker des semantischen Feldes im 20. Jahrhundert (vor allem in Deutschland): Für sie gibt es nach Schaff keine Wirklichkeit, die die Sprache «widerspiegeln» oder «abbilden» könnte, sondern die Sprache, dadurch daß sie mit Bedeutungsinhalt gefüllte Symbole («Zeichen von Zeichen») auf „das nur dunkel und komplexhaft Geáhnte" (Trier 1931, 2) anwendet, schafft erst die Wirklichkeit. Das heißt zwar nur: Sie schafft die für den Menschen erkennbare, ihm «gegebene» Wirklichkeit - aber einer anderen als dieser sprechen diese Theoretiker jede Relevanz und daher auch Exi-
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Stenz ab, so daß die durch die Sprache geschaffene Realität letztlich die einzige ist (vgl. Schaff 1964,26 ff). Für Schlegel sind Innen und Außen, Subjekt und Objekt beide gleichermaßen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, an der Entstehung von Sprache beteiligt. Die Sprache ihrerseits wirkt auf Subjekt und Objekt, Mensch und Welt zurück, indem der Mensch mit ihrer Hilfe überhaupt erst die Welt und sich selbst an- und aussprechen kann, wodurch sie sowohl als er erst ganz voneinander geschieden werden und in ihrer eigentlichen Gestalt hervortreten. Man könnte, in einer strengeren und künstlicheren Terminologie als Schlegel sie verwendet, von «Protomensch» und «Protowelt» reden, die miteinander und aneinander eine «Protosprache» hervorbringen, dadurch aber zugleich «Mensch» und «Welt» im eigentlichen Sinne werden, was dann auch wieder die «Protosprache» zur eigentlichen Sprache werden läßt. Hinsichtlich der Frage nach dem Sprachursprung hebt Schlegel, wie sich zeigt, die kognitiv-poietische Funktion der Sprache in besonderer Weise hervor. Insbesondere gegenüber ihrer kommunikativen Funktion stellt er sie in diesem Zusammenhang heraus: Die spezifisch menschliche Sprache ist dadurch bestimmt, daß durch sie „der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt, und seine Vorstellungen zu willkührlicher Verknüpfung und Äußerung in die Hand bekömmt" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 -1801-02,387). Zur Kommunikation hingegen bedürfte es keiner menschlichen Sprache, denn auch Tiere kommunizieren ja. Eine ähnliche Sicht der Dinge findet sich bereits in Herders Sprachursprungsschrift. Demnach hätte der „Wilde, der Einfame im Walde [...] Sprache für fich felbft erfinden müßen; hätte er fie auch nie [mit anderen] geredet" (HERDER: AUS Γ *1769; 17721,38), weil der Mensch „nicht den erften Menfchlichen Gedanken denken, nicht das Erfte befonnene Urtheil reihen" könne, ohne daß er mit sich selbst „dialogire oder zu dialogiren ftrebe" (ebd. 47). Für A. W. Schlegel seinerseits ist das Sprechen „zuförderst eine innerliche Handlung" (VphK ! 1798-99,6): „Das Bedürfiiiß der Sprache als Gedanken-Organs, als eines Mittels, selbst zur Besinnung zu gelangen, geht in der philosophischen Ordnung dem Bedürfnisse der geselligen Mittheilungnothwendig vorher" (VLK/1 '1801-02,399; vgl. auch VphK 4798-99, 6).
Hier ist nun freilich keine zeitliche Abfolge gemeint, sondern eine Abfolge «der Idee nach». Zu beachten ist die Formulierung „in der philosophischen Ordnung". Ursprung überhaupt, und der Sprachursprung insbesondere, ist für die Frühromantiker ein metaphysisches Problem und kann daher zeitlich nicht bestimmt werden. Die philosophische Beschäftigung mit der Sprachursprungsfrage „begnügt fich darzuthun, aus und mit welchen Anlagen des Menschen die Sprache fich entwickeln
Ursprünglich-poietisches Sprechen: Die Erkenntnisfìinktion der Sprache
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konnte und mußte, ohne den wirklichen Vorgang diefer Begebenheit nach Zeit, Ort und Umftänden erzählen zu wollen" (A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96,111). Anstelle einer empirischen Beschreibung des historischen Sprachursprungs fordern die Frühromantiker eine spekulative Auseinandersetzung mit dem Prinzip und den allgemeinen Bedingungen desselben. Zustimmend zitieren sie Fichtes Wort, man müsse „aus der Natur der menschlichen Vernunft" die „Notwendigkeit" des Sprachursprungs ableiten und „darthun, daß und wie die Sprache erfunden werden m u ß t e " (FICHTE: SUS 1795, 97). Wer nicht zeige, wie „die Sprache entstehn mußte", der möge „zu Hause bleiben" (F. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel GO. 1. 17961, KA/23 281); es komme nicht darauf an zu zeigen, daß der Ursprung der Sprache „hier und da fich habe zutragen können", sondern daß er „allezeit nothwendig fo habe erfolgen mûffen" (A. W. SCHLEGEL: AFE 1803, 194/144; VEW '1803-04,289). Allein im prinzipiellen, nicht im zeitlichen Sinne ist daher die Aussage zu deuten, daß der Mensch „zunächst mit sich selbst spricht, und auch, wenn er sich andern mitzutheilen strebt, die Wirkung seiner Sprache zuerst an sich selbst erproben muß" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 r1801-02, 399; fast wörtlich entsprechend auch VphK ! 1 7 9 8 - 9 9 , 7). Die Begründung dafür greift eine Argumentation auf, die bereits im Traité des langues ( 1 7 0 3 ) des Franzosen Frain du Tremblay formuliert und von Rousseau im Discours sur l'Inégalité (1754) wiederholt worden war (vgl. Droixhe/Haßler 1 9 8 9 , 3 1 9 ) : Man könne nicht miteinander sprechen, ohne zuvor bereits über Sprache zu verfügen, „denn zum Mitteilen müssen wir Gedanken und Begriffe haben, die aber nur durch Zeichen festgehalten werden können" (A. W. SCHLEGEL: VphK ! 1 7 9 8 - 9 9 , 6 ; vgl. auch VLK/1 4801-02, 3 9 9 ) . Allerdings ist damit das Ursprungsproblem nicht behoben. Wenn die menschliche Verständigung nicht aus der tierlichen Kommunikation abgeleitet werden soll, wenn sie Sprache nicht erklärt, sondern im Gegenteil sogar voraussetzt, so fragt sich immer noch (und verstärkt), woher die Sprache kommen soll. - Der entscheidende Hinweis liegt in der Unterscheidung von «historischer» und «philosophischer» Betrachtungsweise und der Aussage, daß nur die letztere im Zusammenhang der Sprachursprungsfrage angemessen sei (A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96,111). Das Wort philosophisch, wenn es wie hier ein positives Werturteil impliziert, meint für die Frühromantiker, die mit stolzer Selbstverständlichkeit die neuesten Errungenschaften zeitgenössischer Philosophie mit der Philosophie überhaupt gleichsetzen, immer soviel wie >transzendentalidealistisch interpretiert werden. Unmißverständlich sind Kontexte, in denen beispielsweise ein Volk definiert wird als „eine Menge Menschen, welche sich Sprachzeichen bedient, die eine an Gleichheit gränzende Aehnlichkeit haben" (BERNHARDI: Spl/1 1801,11 ), in denen die Rede ist
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von der individuellen Ansicht des sprechenden Volks, welche in der Sprache niedergelegt ist, oder in denen erklärt wird, es bleibe der Willkür der Nation überlassen, wie sie bestimmte grammatische Phänomene handhaben wolle. Eine Nation durchläuft Zeitalter (d. h. historische Sprachstufen); sie kann im Laufe der Entwicklung ihrer Sprache empirisch die Mängel ihrer Darstellung bemerken und verbessern, sie kann (ebenso wie ein Volk) ein Objekt durch Sprachdarstellung bezeichnen, ein Autor kann entweder für alle Menschen seiner Nation, oder nur für einen Theil derselben darstellen. (Vgl. Anhang II s. v. Nation3 und Volk3.) Zu d): Deutlich beeinflußt ist das frühromantische Nations- bzw. Volkskonzept von der im 18. und 19. Jahrhundert zum gedanklichen Allgemeingut gehörenden Klimatheorie. Eine von den bisher behandelten klar abgrenzbare Bedeutung von Nation bzw. Volk läßt sich angeben als < Gruppe von Menschen, die im selben Land oder in derselben Gegend leben und, bedingt durch die geographischen und insbesondere die klimatischen Verhältnisse, ähnliche physische, psychische und/oder intellektuelle Eigenschaften aufweisen>. Der Charakter einer Nation oder Nationalcharakter hängt ab von klimatischen Einflüssen und Eigentümlichkeiten wie ζ. B. der Temperatur, von Veränderungen des Klimas und des ganzen äußeren Lebens, die physische Verschiedenheit der Menschenstämme (auch Nationalphysiognomie) unterscheidet sich je nach Erd-, Himmels- oder Landstrich, Land oder Weltteil. (Vgl. Anhang II s. v. Nation4 und Volk4.) Der lebensräumlich-charakterliche Nations-/Volksbegriff ist eng mit der frühromantischen Sprachkonzeption verbunden. Sprache wird als ein körperlich-geistiges Doppelphänomen und damit in Abhängigkeit vom menschlichen Organismus ebenso wie vom menschlichen Intellekt gesehen. Die Außenwelt beeinflußt beide - in jeweils unterschiedlicher Weise: Der Organismus (insbesondere die Beschaffenheit der «Sprachwerkzeuge») paßt sich bestimmten Umweltverhältnissen an; der Intellekt verarbeitet sinnliche Eindrücke zu inneren Bildern, die sprachlich gefaßt werden und in dieser Fassung die grammatischen und vor allem semantischen Strukturen einer Sprache bestimmen. Besonders stark vermögen äußere Einflüsse eine Sprache allerdings zu Beginn ihrer Geschichte zu prägen. Ein einmal herausgebildeter Sprachtypus besitzt demgegenüber eine gewisse Konstanz: Die „fchon fertige Sprache" eines wandernden Volkes kann „unter einem andern Himmelsftrich [...] zwar abgeändert werden, aber fich nicht gänzlich verwandeln" (A. W. SCHLEGEL: Spr 1798, 23f./215f.). Zu e): Der aus heutiger Sicht problematischste und am stärksten diskreditierte - da von der nationalsozialistischen Rassenideologie pervertierte - Nations- und vor allem Volksbegriff ist der genetische. Ursprünglich beinhaltet er freilich nicht mehr,
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
als daß eine Gruppe von Menschen über eine gemeinsame Abstammung definiert wird. Die Deutung bestimmter einer Nation oder einem Volk als Charakteristika zugeschriebener physischer, psychischer oder intellektueller Eigenschaften als Erbgut im biologischen Sinne spielt in diesem Zusammenhang keine oder höchstens eine ganz untergeordnete Rolle. So hält A. W. Schlegel (VEW ! 1803-04, 268) zwar die Ansicht für richtig, „daß nicht alle menschlichen Geschlechter gleiche Anlagen und gleichen Werth haben", aber der genetische Aspekt spielt auch hier allenfalls eine sekundäre Rolle und wird durch klimatheoretische Auffassungen relativiert: Als „Grund" der psychophysischen Verschiedenheit von Menschengruppen werden deren äußere Lebensbedingungen, insbesondere klimatische Verhältnisse (vgl. zu d) genannt. Nationen, Völker oder Ragen sind also gemäß dieser Auffassung nicht biologisch auf ein bestimmtes kulturelles oder politisches Schicksal festgelegt. Schlegel wendet sich gegen die Behauptung, daß „die Raçen-Charaktere durch Verpflanzung in andre Climate [...] nicht verändert werden": Zwar könne „durch eine lange Folge von Geschlechtern unter denselben Einwirkungen ein gewisser Charakter so tief eingeprägt werden, daß er unauslöschlich scheint", aber er scheint es eben nur, und es ist möglich, „unter entgegengesetzten Umständen ihn zu verwischen", auch wenn dazu „eine eben so lange Zeit erforderlich seyn" wird (ebd.). Im Rahmen der frühromantischen Gesamtkonzepte und kommt jedoch nicht nur dem Gedanken einer Vererbung bestimmter nationaler Charakterzüge, sondern auch dem Gedanken der gemeinsamen Abstammung - und das heißt: dem genetischen Nations- bzw. Volksbegriff als solchem - keine wesentliche Bedeutung zu. Bemerkenswerterweise spielt die Blutsverwandtschaft nicht so sehr eine Rolle als Kriterium dafür, ob eine Gruppe von Menschen als Nation bzw. Volk bezeichnet wird, sondern weit mehr für das Verhältnis zwischen einzelnen Nationen bzw. Völkern (die dann ihrerseits meist als kulturell und/oder politisch bestimmte Einheiten verstanden werden). So kann beispielsweise ein Volk (im politischen Sinne) Bestandteil eines genetisch zusammengehörenden größeren Stammesverbandes sein, der aber selbst nicht als Volk/Nation (dann im genetischen Sinne) bezeichnet wird, sondern als Stamm (F. SCHLEGEL: S W I 1808,291). Die konzeptionellen Zusammenhänge zwischen Nation/Volk und Sprache lassen sich in einem Satz beschreiben: Beide bedingen einander, beide beeinflussen sich gegenseitig. Die konkrete Beschaffenheit einer Einzelsprache hängt einerseits vom „Geiste der Nation" ab, der sich „immer in der Sprache darstellt" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02,416), wirkt andererseits jedoch auch wieder auf diesen zurück, indem sie die Denkweise und Weltsicht einer Nation bestimmt und sie damit zu bestimmten geistigen und kulturellen Leistungen befähigt:
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„Mit der Muttersprache zugleich saugen wir die Vorstellungen und Ansichten der Dinge; sie ist gleichsam die Form in welche die Thätigkeiten unsere Geistes sich lugen müssen: und wie wir in der Sprache die reiche Hinterlassenschaft vergangner Geschlechter überkommen, so wird uns dabey auch die Verpflichtung mancher Gewöhnung mit auferlegt. Dazu herrscht die Sprache, uns unbewußt, über unsem Geist; es wird durch sie eine Erziehung jedes Zeitalters an dem folgenden ausgeübt" (ebd. 417).
Zu behandeln sind daher 1 ) die konzeptionellen Zusammenhänge zwischen National· und Sprachcharakteren, und 2) die konzeptionellen Zusammenhänge zwischen Sprache und Denken (wobei mit Sprache hier, im Unterschied zum vorangegangenen Kapitel, die konkrete Einzelsprache gemeint ist). Zu 1): Zwei unterschiedliche Arten von Faktoren: einerseits natürliche, andererseits historisch-kulturelle, können eine Nation, und über diese auch ihre Sprache, den „Abdruck der nationalen Individualität" (HUMBOLDT: VmS *'l 8 2 7 - 2 9 , 2 4 2 ) beeinflussen. Als primär wird die Prägung durch die natürliche Umwelt gesehen: „Wie die Natur den Menfchen berührt, fo giebt er es ihr zurück" (A. W. SCHLEGEL: Spr 1798,21 / 213). Nur unter günstigen äußeren Bedingungen, so Novalis in einem frühen Fragment, habe der Mensch geistige Fähigkeiten und Sprache entwickeln können. Daher sei die Wiege der Menschheit und aller Kultur im „Morgenlande" zu suchen, „von woher eigentlich wie vom Urstamme sich alles in die übrigen Erdgegenden und Zonen nur fortgepflanzt hat und eingepfropft worden ist" (NOVALIS: VdB *'1790, 23). Der Orient sei für die „Kindheit des menschlichen Geschlechts und der Künste und Wissenschaften" als Lebensraum besonders geeignet gewesen: ,,[D]ie schönen Gegenden, die Wärme und Heiterkeit des selten bewölkten Himmels bildeten sie, nährten sie, und die Fruchtbarkeit des Bodens ließ ihnen Ruhe, sich allmählich auszubilden und zu reifen; das ihnen in einem weniger milden Boden durch die Einflüsse des Klima, stumpfere Organisation und ängstliche Mühe und Suchen nach Lebensunterhalt und nach den notwendigsten Bedürfhissen wäre verwehrt worden" (ebd.).
Auch Herder (AUSΓ* 1769; 17721, 125) hatte schon angenommen, daß „Clima, Luft und Waßer, Speise und Trank [...] auf die Sprachwerkzeuge und [...] die Sprache einfließen" Die Frühromantiker sind in ihrem Menschenbild der Aufklärung und dem deutschen Idealismus verpflichtet und sehen daher den Menschen als ein selbstbestimmtes, von Naturzwängen aber gleichwohl nur teilweise unabhängiges Wesen. Es ist ihm möglich, seinen Lebensraum „bis auf einen gewissen Grad nach seinen Absichten" zu gestalten, aber dabei könne er sich doch „keinesweges von den tellurischen Einflüssen losmachen, welche vielleicht an dem einzelnen verpflanzten Menschen nicht sichtbar werden, in Massen und Jahrhunderten aber sich
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
unfehlbar mächtig erweisen" (A. W . SCHLEGEL: V E W ! 1 8 0 3 - 0 4 , 2 6 7 ) . Allerdings dürfe die Betrachtung des Menschen „im Zusammenhange mit seinem Wohnsitz" (ebd.) nicht nur „nach den Graden der Breite" erfolgen, sondern „der Boden, die Abdachung der Gebirge und ganze Witterungslage, festes Land und Meer u.s.w." sei dabei zu berücksichtigen (ebd. 268). Stellvertretend fiir die „Gesamtheit der physischen Ursachen" wird das „im weitem Sinne" begriffene Wort Klima verwendet (A. W. SCHLEGEL: VphK '1798-99, 15). Auf die Sprache wirkt das so verstandene Klima in dreierlei Hinsicht: „1. zunächst durch den Einfluß auf die Gehör- und Sprachwerkzeuge; 2. durch den allgemeinen Einfluß auf die Organisation und vermittels dieser auf die Empfänglichkeit und tätigen Fähigkeiten des Menschen; 3. auf die Verschiedenheit der Gegenstände, welche die Natur für die menschliche Darstellung mittels der Sprache darbietet" (ebd.; vgl. auch VLK/1 Ί801-02, 376).
Die Ansichten über den Einfluß verschiedener Umgebungen auf die Sprache sind stereotyp: „Bewohner der Berge fprechen mehr mit Gaumen, Kehle und Lippen, die der Ebnen mit der Zunge" (BERNHARDI: Spl/2 1803, 303). Der „Dialekt der Berge" weist „überall einen entfehiedenen Hang zu den rauh afpirierten ch" auf, wohingegen man „an den Seeküften [...] das fchmelzende fch, und auch die nafalen Töne" findet (F. SCHLEGEL: BGmP 1 8 0 3 , 6 1 / 2 6 ) . An konkreten Beispielen: „Das Dänische ist weich und auseinander geflossen, so wie ihr Klima feucht und neblicht, das Schwedische athmet eine rauhere Bergluft" (A. W. SCHLEGEL: VEW ' 1 8 0 3 - 0 4 , 238); das Oberdeutsche hat „eine gewisse Unbeholfenheit und rauhe Bergaccente an sich", während man „in der fließenden Leichtigkeit des Niederdeutschen [... ] den klimatischen Einfluß der mildernden Seeluft und der an der See gelegenen Ebnen" erkennt (ebd. 330). In Anlehnung an Rousseau unterscheiden die Frühromantiker hauptsächlich zwei Klimazonen: eine «südliche» und eine «nördliche».177 In den „glücklichen Gefilden" des Südens fällt dem Menschen sowohl materiell wie kognitiv alles gleichsam von selbst zu: „Ein von felbft ergiebiger Boden, eine warme Sonne machen ihm das Leben leicht. Seine Bruft hebt fich dem befeelenden Odem der reinen Luft entgegen. Sein ganzes Wefen wird elaftifch und expanfiv. [...] Sein Geilt fondert und ordnet die Gegenftánde fchnell und mit Leichtigkeit; er darf nicht mûhfelig ihre Merkmahle häufen, um fie feftzuhalten. Die Empfindung behält daher den freyeften Spielraum, und gaukelt unaufhörlich auf der Oberfläche feines Dafeyns" (A. W. SCHLEGEL: Spr 1798, 21 f/213 f.).
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Vgl. Buck 1939, 34. - Die Bezeichnungen sind offenbar nicht geographisch-absolut, sondern perspektivisch (vom mitteleuropäischen Standpunkt her gedacht) zu deuten: Südlich meint in aller Regel >tropisch< bzw. >näher am Äquator< - gleich auf welcher Seite.
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In den nördlicheren Gebieten dagegen, in denen „die Natur karger, der Himmel unfreundlicher" wird, „weicht die fröhliche Hingegebenheit dem Emft und der Sorge. Die Bruft verengt fich. Die Sinne, nicht mehr dem Genuffe offen, find nur zu Kampf und Arbeit gefchârft. Der langfamere Verftand greift alles fchwer und gewaftfam an. Der fchlanke Leib badet fich nicht mehr leicht bekleidet in der freyen Luft, die unförmlichere Geftalt wird in Thierfelle eingewickelt, und endlich verkriecht fich der innre Menfch wie der äußre in dumpfe Winterhöhlen" (ebd. 22/214).
Die unterschiedlichen Einflüsse auf den Organismus und über diesen auf den Geist des Menschen wirken sich auch auf die Sprache aus. Besonders betroffen ist davon die quantitative Relation der Vokale und Konsonanten, die „durchgehende charakteristisch für die climatischen Eigentümlichkeiten der Nationen und Länder" ist (A. W. SCHLEGEL: VEW romanisch bestimmt. Hölderlins Romanfigur Hyperion etwa erläutert dies am Beispiel der „Treflichkeit des alten Athenervolks" (HÖLDERLIN: Hyp/1 1797,77): „Ungestörter in jedem Betracht, von gewaltsamem Einfluß freier, als irgend ein Volk der Erde, erwuchs das Volk der Athener. Kein Eroberer schwächt sie, kein Kriegsglök berauscht sie, kein fremder Götterdienst betäubt sie, keine eilfertige Weisheit treibt sie zu unzeitiger Reife. Sich selber überlassen, wie der werdende Diamant, ist ihre Kindheit. Man hört beinahe nichts von ihnen, bis in die Zeiten des Pisistratus und Hipparch" (ebd. 77 f.).
Der klimatischen Mittelposition - ,,[f]reilich hat auch Himmel und Erde für die Athener, wie für alle Griechen, das ihre gethan, hat ihnen nicht Armuth und nicht Überfluß gereicht" (ebd. 78) - korrespondiert das mittlere Maß an historischen Anforderungen; beide zusammen bringen das klassische Phänomen der Mitte, die Schönheit182 hervor: „Kein außerordentlich Schiksaal erzeugt den Menschen. Groß und kolossalisch sind die Söhne einer solchen Mutter, aber schöne Wesen, oder, was dasselbe ist, Menschen werden sie nie, oder spät erst, wenn die Kontraste sich zu hart bekämpfen" (ebd.). Insbesondere die Sprache einer Nation wird durch politische, soziale und kulturelle Gegebenheiten geprägt. Als Beispiele dienen hier unter anderem das Spanische und das Chinesische. In der Sprache und Poesie der Spanier findet A. W. Schlegel
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Gleiches gilt im übrigen auch auf dem Gebiet der Syntax. Schlegel erwähnt das Phänomen der deutschen Satzklammer, die er als Mangel sieht: Durch sie finde keine gedankliche Verbindung zwischen entfernt stehenden Komponenten statt, wie beim griechischen Hyperbaton, sie reiße im Gegenteil „Dinge auseinander, die aufs genaueste verknüpft sind: ζ. B. Zeitwort und Hülfswort, Praeposition und Verbum bey den trennbaren Compositionen" (A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04, 333). „Was ist die Poesie der spätem Zeit, als ein Chaos aus dürftigen Fragmenten der Romantischen Poesie, ohnmächtigen Versuchet höchster Vollkommenheit, welche sich mit wächsernen Flügeln in grader Richtung gen Himmel schwingen, und aus verunglückten Nachahmungen mißverstandner Muster? So flickten Barbaren aus schönen Fragmenten einer bessern Welt Gotische Gebäude zusammen. So fertigt der Nordische Schüler mit eisernem Fleiß mühsam nach der Antike steinerne Gemälde!" (F. SCHLEGEL: StGP Γ1795; 17971, 257). Und: „Es ist wahr, bei aller Eigentümlichkeit und Verschiedenheit der einzelnen Nationen verrät das [moderne] Europäische Völkersystem dennoch [...] einen auffallend ähnlichen Geist der Sprache" (ebd. 225). Zur Schönheit als Phänomen der Mitte vgl. S. 103 und S. 345, Anm. 225.
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
(DKL/2 "1808; 1809-1V, 65) eine „orientalifche Ader", die er durch einen Hinweis auf die spanische Geschichte, d. h. durch den jahrhundertelangen kulturellen Kontakt mit den Arabern erklärt. Auf das Chinesische wendet er den bis auf Piatons Kratylos-Oiaiog zurückzuführenden Topos an, gemäß welchem dem Konsonanten r die Funktion der Bezeichnung von Stärke und Kraft zugeschrieben wird, und kommt so zu der Überlegung: „Vielleicht ist der Mangel des r in der chinesischen Sprache ein Charakter der alten chinesischen Nation, da sie immer die Beute ihrer Feinde geworden ist" (A. W. SCHLEGEL: VphK '1798-99,24). Die Entwicklung oder Ausbildung einer Sprache verläuft stets parallel zur intellektuellen und kulturellen Entwicklung der Nation. ,,[D]er Flug, den das Genie und der Geift eines Volkes nimmt, den nimmt auch die Sprache", hatte bereits A. W. Schlegels Lehrer G. A. Bürger erklärt (GBH 1771, 9/615 f.), und die frühromantische Generation ist der gleichen Meinung: Jede Sprache geht „mit der erweiterten Erfahrung und Nachdenken Hand in Hand" (BERNHARDI: Spl/1 1801, 125); die „Maffe ihrer Zeichen enthält das jedesmalige Maas der Erfahrungen der Nation, welcher die Sprache angehört" (BERNHARDI: Spl/2 1803,19). Da nun dieses „Maas [...] eigentlich täglich wechfelt", wandelt sich auch die Sprache permanent: Sie ist ein „progreßives Ganze [...], welches immer aus der Notwendigkeit der Mittheilung gebraucht, und fo unvermerkt verändert wird" (Spl/1 1801,76), oder, wie es an anderer Stelle heißt, ein „Werkzeug, welches nach einer Reihe von Jahren zu einem ganz andern wird, als es anfangs war, ohne auf dem hóchften Bildungspunkt je etwas anders, als etwas momentanes gewefen zu fein" (Spl/2 1803, 19). In dieser dynamischen Wandelbarkeit sehen die Frühromantiker eine unabdingbare Qualität der Sprache: „Eine Sprache ist ja keine Sache, sondern eine gemeinschaftliche Handlungsweise einer großen Menschenmasse [...], die [...] unaufhörlich mit den Geschlechtem selbst wechseln [...] muß" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 ! 1801-02,417). Damit ist zugleich die frühromantische Einstellung zum Thema Sprachpflege bestimmt: Sie wird befürwortet, sofern sie das Grundprinzip anerkennt, daß jede aktiv verwendete Sprache sich beständig verändert, und sofern sie zu dieser Veränderung in einer Weise beiträgt, die dem «Geist» der Sprache gemäß ist und damit deren Ausbildung zu größerer Poetizität Vorschub leistet. Sie wird abgelehnt, sofern sie einen einmal erreichten Entwicklungsstand der Sprache konservieren will. Es gibt zwar durchaus «klassische» Perioden einer Sprache - z. B. die der attischen Tragödie, Ciceros oder Ludwigs XIV. - , in denen sie zu exemplarischer Ausbildung gelangt. Diese Epochen sind aber eben nicht dahingehend beispielhaft, daß der in ihnen erreichte sprachliche Entwicklungsstand für alle Zeiten beibehalten werden soll. Die Qualität des Klassischen ist in diesem Zusammenhang nicht Vollendung, sondern Progressivität; das Wort klassisch referiert nicht auf den Höhepunkt einer
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abschließbaren Entwicklung, sondern auf ein Durchgangsstadium in einem unendlichen Vervollkommnungsprozeß: „Wer seine Sprache weiter bringt, sie wahrhaft bildet, ist für diese classisch; gesezt auch, er könnte veralten" (F. SCHLEGEL: FLP * 1797,99, Nr. 169). Das «Veralten» ist sogar unumgänglich: „Selbst die alten Classiker konnten veralten" (ebd.) - und, so wird man aus der Sicht Friedrich Schlegels ergänzen dürfen, wenn sie, unbestrittene Höhepunkte sprachlich-stilistischer Ausbildung es konnten: wer sollte es nicht? Eine Sprache, die sich über ihre «klassische» Periode hinausentwickelt hat, ist das Mittellateinische. Ihm, das herkömmlicherweise „bloß als eine Ausartung des Alt-Römischen" gilt (A. W. SCHLEGEL: VEW ! 1803-04,330), wird aus der Perspektivefrühromantisch-poetischerPhilologie ein spezifischer Eigenwert zugesprochen: ,JDaß Cicero es schwerlich würde anerkannt haben, ist kein entscheidendes Argument dagegen; denn das hätte ein Römer aus der Zeit der XII Tafeln auch nicht mit den Schriften des Cicero gethan. Jedes Zeitalter kann sich seine Sprache nach eigner Weise bilden, es kommt nur darauf an, ob sie innem Werth hat, und in sich selbst zusammenhängt. Das Lateinische bewährte sich eben dadurch als eine noch lebende Sprache, daß Prinzipien der Ausbildung darin wirksam waren" (ebd.).
Daß eine Sprache «lebt», heißt im oben erläuterten Kontext der Organismus-Metapher natürlich nichts anderes, als daß sie ein flexibles Ganzes bildet, das geeignet ist, seinen internen Zusammenhängen gemäß weiterentwickelt zu werden, und ihr «innerer Wert» ist gleichbedeutend mit ihrer Poetizität. Als Beispiel für eine Sprache, die ihre Flexibilität eingebüßt hat und daher für die Poesie nicht mehr geeignet ist, dient stereotyp das Französische: Um den Entwicklungsstand, den diese Sprache in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erreicht habe, und der von den Zeitgenossen als das „letzte Ziel" der Sprachkultur angesehen worden sei, „auf immer zu fixiren", sei die Académie Française gegründet worden. Ziel sei es gewesen, „in alle Ewigkeit so [zu] sprechen und [zu] schreiben, wie im Zeitalter Ludwigs des 14ten, bey Strafe für unfranzösisch gehalten zu werden" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02,424). Da das Französische auf diese Weise „durch eine Menge conventionelle Bande gefesselt" sei (ebd.), da es keine freie Entwicklung mehr nehmen könne und sich in einer „unübersteiglichen Eingeschränktheit" im Kreise drehe (ebd. 425), wird es als eine «tote» Sprache bezeichnet: Eine Sprache sei „in ihrem innem Wesen abgestorben", sofern das „lebendige Prinzip des freyen Bildens" in ihr seine Wirksamkeit verloren habe, da sie, um „wahrhaft zu leisten was sie soll", immer „ursprünglich und schöpferisch" bleiben müsse (A. W. SCHLEGEL: VEW !1803-04, 323). Zu 2): Nicht nur die Nation prägt - passiv und aktiv - den Charakter ihrer Sprache, sondern die Sprache ist auch wiederum bestimmend für den Charakter der Nation,
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
die sie spricht. Nach Ansicht der Frühromantiker ist das Denken nicht nur von Sprache überhaupt abhängig (vgl. S. 171 ff.), sondern jeweils von einer konkreten Einzelsprache. Der bekannteste Vertreter dieser Meinung ist Humboldt. Ihm zufolge gibt es zwar allgemeine, reine Verstandesbegriffe, die unverändert von einer Sprache in die andere übersetzt werden können, es gibt aber andererseits auch auf „innerer Wahrnehmung" und Empfindung" beruhende Begriffe, die nicht allgemein gültig, sondern jeweils unterschiedlich und daher „unlösbar in die Individualität ihrer Sprache verwebt" sind. Anders ausgedrückt: Sie sind untrennbar mit dem sie bezeichnenden Wort verbunden und daher unübersetzbar, weil das betreffende Wort sprachspezifisch in jeweils ganz bestimmter Weise konnotiert ist (HUMBOLDT: VSst "1820; 18221, 22 f.). In diesem Sinne kann gesagt werden, daß „eine grosse Anzahl von Gegenständen erst durch die sie bezeichnenden Wörter geschaffen werden, und nur in ihnen ihr Daseyn haben" (HUMBOLDT: EChS * 7 1821,640), und daß die Verschiedenheit der Sprachen „nicht eine von Schällen und Zeichen" ist, sondern „eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst" (HUMBOLDT: VSst "1820; 18221,27). Solchermaßen als Objektivationen spezifischer Arten der kognitiven Weltgliederung und -gestaltung, als „Organe der eigenthümlichen Denk- und Empfindungsarten" (HUMBOLDT: EChS * ? 1821,640) verstanden, wirken die Sprachen determinierend zurück auf die Nationen, von denen sie gesprochen werden. Eine Sprache kann ihren Sprechern nicht nur „Vorstellungen und Ansichten der Dinge" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02, 417) vermitteln, sondern ihnen sogar bestimmte Denkformen vorgeben. So etwa weisen manche Sprachen Strukturen auf, die sie als Medium der Philosophie in besonderer Weise geeignet erscheinen lassen, während andere ihren Sprechern das Philosophieren unmöglich machen oder doch zumindest erschweren. Die „ausgezeichnete philosophische Anlage" der deutschen Sprache beispielsweise beruht auf deren Möglichkeiten zur kompositorischen Wortbildung, die A. W. Schlegel (VEW Ί 803-04, 335) als „Synthesis selbstständiger Begriffe" deutet.183 Demgegenüber wird das Französische als philosophische Sprache für ungeeignet gehalten, weil es von seiner „Structur" (ebd. 345) her „gar nicht deutlich" (VphK Ί798-99,16), vielmehr stärker als jede andere Sprache „der Zweydeutigkeit ausgesetzt" sei (VEW, 345). Diejenige Klarheit im Sinne Antoine de Rivarols - „Ce qui n'est pas claire n'est pas français" (RIVAROL: ULF 1784, 49) - , die es durch vereinigte Bemühungen vieler Autoren dennoch gewonnen habe, bleibe aufgrund
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In ähnlicher Weise interpretiert später Hegel (WdL Ί 8 3 2 , 1 1 ) das semantische Phänomen, daß manche Wörter im Deutschen „verschiedene Bedeutungen nicht nur, sondern entgegengesetzte [...] haben", worin „ein speculativer Geist der Sprache nicht zu verkennen" sei: Es könne dem (im Sinne der dialektischen Philosophie synthetisch operierenden) Denken „eine Freude gewähren, auf solche Wörter zu stoßen, und die Vereinigung Entgegengesetzter [...] auf naive Weise schon lexicalisch als Ein Wort von [...] entgegengesetzten Bedeutungen vorzufinden" (ebd.).
Exkurs: Nation und Individuum in der frühromantischen Sprachreflexion
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der Tatsache, daß es eine vom Lateinischen abgeleitete Sprache und daher der Mehrzahl seiner Sprecher etymologisch nicht durchsichtig sei, eine oberflächliche Klarheit; sie erlaube den Franzosen nur, empirisch, nicht hingegen, spekulativ zu denken und den Zusammenhängen der Dinge auf den Grund zu gehen (vgl. A. W. ! 184 SCHLEGEL: VEW 1803-04, 339; 344 f.). Besonders deutlich wird der Einfluß der Sprache auf das Denken, wenn man über die Grenzen der eigenen Sprache hinausgeht: Jeder, der eine fremde Sprache verwendet, sieht sich „genöthigt, die individuelle Anficht des fprechenden Volks, welche [...] in der Sprache niedergelegt ift, mit in die Darftellung aufzunehmen" (BERNHARDI: S p l / 1 1 8 0 1 , 1 2 5 ) .
Deutlich zeigt sich die Wechselwirkung, die nach frühromantischer Auffassung zwischen Sprache und äußeren Ursachen (Klima/Geschichte) sowie der vermittelnden Größe der Nation besteht: Die äußeren Ursachen (Umwelt/Geschichte) prägen den Charakter einer Nation, diese wiederum prägt den Charakter der Sprache, die sie spricht. Andererseits prägt auch wiederum die Sprache den Charakter der Nation, die mit ihr aufwächst, und ermöglicht es ihr, ihre Umwelt und ihre Geschichte aktiv zu gestalten. Die Deutschen sind aufgrund klimatischer Verhältnisse eine intellektuelle Nation, und das Deutsche ist eben deshalb eine «geistige» Sprache. Andererseits sind die Deutschen auch deshalb eine der intellektuellsten Nationen, weil ihre Sprache es ihnen erlaubt. Allerdings darf die hier aufgezeigte Wechselwirkung nicht als exakt reziprok mißverstanden werden. Sprache bedingt und prägt zwar den Menschen, aber keineswegs so ausschließlich, im Sinne einer absoluten Präformation oder Determination, daß er sich dieser Prägung nicht auch immer ein Stück weit entziehen kann. „Der Gebrauch der Sprache ist wie ihre erste Hervorbringung ein immer fortgesetztes Handeln des menschlichen Geistes" (A. W. SCHLEGEL: VEW ! 1803-04, 286), und was sich „im allgemeinen einer Sprache abdrückt als Charakter", bezieht sich nur auf die Gesamtheit ihrer Sprecher, „nicht auf die einzelnen Individuen" (A. W.
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Festzuhalten ist auch hier, daß Schlegel das Deutsche zwar gegenüber dem Französischen heraushebt, aber nicht als die vollkommenste Sprache schlechthin betrachtet. Es ist philosophisch hinsichtlich seiner Wortbildungs-, nicht hingegen zugleich - wie das Griechische - hinsichtlich seiner Wortste//Hngsmöglichkeiten. Grundregel der deutschen Wortfolge sei es, das inhaltlich Unbestimmteste voranzustellen und dann „nach den Graden der Bestimmtheit fortzugehn" (A. W. SCHLEGEL: VEW Ί 803-04,333). Sie neige daher zur Umständlichkeit: ,,[S]ehr oft wird das, was man sich bey einem Worte vorzustellen hat, erst durch das folgende aufgeklärt" (ebd.). In diesem Zusammenhang erwähnt Schlegel die deutsche Satzklammer, die er, wie schon erwähnt (S. 251, Anm. 180), als Mangel sieht.
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
VphK !1798-99, 2 1 ) : „Das Individuum, - obgleich die Muttersprache gleichsam die Form, das Modell ist, worin die zarten Empfindungen in unserer Kindheit gleichsam fest abgedrückt werden, [und] auf unsere Bildung einen entscheidenden Einfluß hat, - kann sich über die Sprache erheben durch freitätigen Geist" (ebd.). Hier eben wird das individualistische Moment der frühromantischen Sprachreflexion greifbar: die besondere Hervorhebung der Tatsache, „daß jeder Einzelne auch sprachbildend ist" (SCHLEIERMACHER: ZH * 1805/09, 46). Die im vorigen augenfällig gewordene Betonung einer Größe wie «Nation» im Zusammenhang der Sprache und auch die ablehnende Haltung gegenüber dem Prinzip des usus tyrannus, des alleinherrschenden willkürlichen Sprachgebrauchs185, darf nicht einseitig aufgefaßt werden. Voll verständlich wird sie nur im Rahmen der frühromantischen Überzeugung, daß Sprache zwar veränderlich, aber nicht beliebig veränderlich ist. Es ist dieselbe Überzeugung, die auch Wilhelm von Humboldt äußert, wenn er erklärt, man müsse die „Erscheinung der Freiheit" in der Sprache „erkennen und ehren", müsse aber ebenso auch „ihren Gränzen sorgfältig nachspüren, um nicht in den Sprachen durch Freiheit fur möglich zu halten, was es nicht ist" (HUMBOLDT: VmS * i 827-29,184). Während aber Humboldt aus dieser Erkenntnis die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Spiachbelrachtung ableitet, ziehen die Frühromantiker die Konsequenz regelbewußter Spracharbeit: Für sie hat Sprachforschung keinen Selbstzweck, sondern soll als Fundament po(i)etischen Umgangs mit der Sprache dienen: „Nur der grammatische Bau der Sprache [...] kann entscheiden, ob etwas darin erlaubt ist, gefallen und sich erhalten kann, oder nicht" (A. W. SCHLEGEL: VLK/11801-02,417), und Aufgabe dessen, der mit Sprache arbeitet, ist es daher, diesen „Bau" zu kennen. SCHLEGEL:
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„Menschen von mechanischem Geiste sind geneigt, die Sprache als eine bloße Sache [...] zu betrachten. So ist den gewöhnlichen Grammatikern die [...] Sprache [...] ein Quantum von Wörtern, bestimmt durch ein Quantum von Biegungen dieser Wörter und von Möglichkeiten sie zusammenzufügen; [...] der Sprachgebrauch ist ihr oberstes Prinzip. Wäre er dieß aber wirklich, so könnte sich eine Sprache niemals verändern, jede Veränderung stößt einen bisherigen Sprachgebrauch um, und wäre also ein Sprachschnitzer. [...] Es liegt überhaupt in dieser Betrachtung des Sprachgebrauches als höchsten Prinzips etwas widersinniges und sich selbst aufhebendes; es ist, als wenn der Besitzstand für die Quelle des Rechtes erklärt würde, woraus denn folgt, daß, wenn einer dem andern etwas mit Gewalt wegnimmt, er eben dadurch alsbald ein Recht daran erlangen würde" (A. W. SCHLEGEL: VEW 1803-04,285 f.).
Zur „Ausbildung der lebenden Sprachen" II: Philologie und Obersetzung
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Zur „Ausbildung der lebenden Sprachen" II: Philologie und Übersetzung Zwei unterschiedliche Möglichkeiten hat der Dichter-Philologe, die Sprache auszubilden und zu bereichern. Er kann entweder die „älteren Denkmäler" der eigenen Sprache „wieder hervorziehn, und das brauchbare aus ihnen benutzen" (A. W. SCHLEGEL: VEW !1803-04, 335), oder er kann sich „an fremde Sprachen anschließen" und die eigene „danach modeln" (ebd. 336). Damit erschließen sich folgerichtig die beiden wichtigsten Betätigungsfelder frühromantischer Philologie: 1) die Sprach- bzw. Literaturgeschichte, und 2) die Beschäftigung mit fremden Sprachen und Literaturen. Zu 1): Die historische Beschäftigung mit der eigenen Sprache und Literatur hat, wie schon erwähnt, keinen Selbstzweck, sondern soll in die poetische Tätigkeit einfließen. Dieser Anspruch ist durchgängig. Stets wird das Studium der älteren Literatur in erster Linie dem Dichter empfohlen, der „auf neue Bildung seiner Sprache aus ihren Quellen ausgeht" (A. W. SCHLEGEL: VLK/3 ! 1803-04, 32). Das althochdeutsche Ludwigslied, die mittelhochdeutsche Minnelyrik und die Werke des Hans Sachs sie alle können als Vorbilder dienen, wenn ein Autor „seine Sprache aus innem Hülfsquellen zu bereichern strebt" (ebd. 37) und sich „auf das Erneuern des Alten versteht" (ebd. 44). «Erneuerung» des Alten heißt natürlich Modifikation: In einem Brief betont Ludwig Tieck, daß er bei seiner MnweZ/ecfer-Bearbeitung vorsätzlich von den Quellen abgewichen sei und den Wortlaut absichtlich verändert habe (an A. W. Schlegel r30. 5.18031, L 132 ff), und auch der Adressat seinerseits findet nichts dabei, ein Stück aus dem Nibelungenlied „in etwas erneuerter Sprache" an die Öffentlichkeit zu geben: „Ich hab mir zum Gesetz gemacht, nichts grammatisch durchaus veraltetes stehen zu lassen und mußte daher auch oft die Reime ändern" (A. W. SCHLEGEL: an L. Tieck r8. 2. 18041, L 149 f.). Von wissenschaftlich-historischer Philologie im heutigen Sinne kann hier also keine Rede sein. Eine solche ist aber eben auch gar nicht beabsichtigt. Wesentlich für eine angemessene Bewertung frühromantischer Praktiken des Umgangs mit historischen Texten ist stets der aktuelle Rezipientenbezug: Tieck äußert mehrfach, daß seine Minnelieder keine wissenschaftliche Edition, sondern eine Sammlung ftlr Liebhaber sein sollen (vgl. S. 228), und A. W. Schlegel hat die Hörer seiner Vorlesungen im Auge, die er ftlr die alten Texte interessieren will, und denen er daher nichts völlig Unverständliches vortragen darf.186
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Daß seine Rechnung aufgeht, beweist die Reaktion eines dieser Zuhörer: Friedrich Heinrich von der Hagen, 1810 zum ersten Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur in Berlin ernannt, wird
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
Aus solchen Tatsachen wird deutlich: Die Begründung der germanistischen Mediävistik ist, was die Frühromantiker betrifft, lediglich ein Nebenprodukt literarischer Arbeit; es geht ihnen nicht um Wiedergabe, sondern um Aneignung, nicht um Bewahrung, sondern um Renovation. Diese Interessenunterschiede sind auch fur die Zeitgenossen evident, und man wird sie kaum klarer formulieren können als Jacob Grimm in einer Äußerung über Achim von Arnim und Clemens Brentano: „Sie wollen nichts von einer historischen genauen Untersuchung wissen, sie lassen das Alte nicht als Ahes stehen, sondern wollen es durchaus in unsere Zeit verpflanzen, wohin es an sich nicht mehr gehört, nur von einer bald ermüdeten Zahl von Liebhabern wird es aufgenommen. Sowenig sich fremde edele Thiere aus einem natürlichen Boden in einen andern verbreiten lassen, ohne zu leiden und zu sterben, so wenig kann die Herrlichkeit alter Poesie wieder allgemein aufleben, d. h. poetisch; alleinhistorisch kann sie unberührt genossen werden" (GRIMM: an W. Grimm r17. 5. 18091, GH 98).
Freilich darf man solche aus einem persönlichen Distanzierungsbedürfhis entstandenen Fremdaussagen nicht insofern mißverstehen, daß es den Frühromantikern ausschließlich um Ästhetizismus, unter keinen Umständen um historisch-empirische Ergebnisse gegangen sei. Zumindest die Brüder Schlegel sind Gelehrte ersten Ranges, und zwar sowohl auf dem Gebiet der klassischen(S) wie der romantischen^^ Philologie; sie sind, ebenso wie Tieck und Schleiermacher, auch herausragende Übersetzer und können sich ihre poetische Wiederbelebungs-Euphorie überhaupt nur leisten, weil sie das philologische Handwerkszeug virtuos beherrschen. Das ist ihnen selbst durchaus klar; es gibt Äußerungen, in denen der rational-analytische Blick ausdrücklich gegen ästhetisch-nebulöses Schöngeistertum und enthusiasmierte Schwärmerei verteidigt wird: „Wenn manche mystische[n] Kunstliebhaber, welche jede Kritik für Zergliederung, und jede Zergliederung für Zerstörung des Genusses halten, konsquent dächten: so wäre [der Ausruf] Potztausend das beste Kunsturteil über das würdigste Werk" (F. S C H L E G E L : Lyfr 1797,154, Nr. 57). Noch dreißig Jahre später bekräftigt A. W. Schlegel, mittlerweile längst etablierter Professor, wie der Tonfall erkennen läßt: „Unte- allen Aufgaben der Kritik ist keine schwieriger, aber auch keine belohnender, als eine treffende Charakteristik der großen Meisterwerke. Wie die schöpferische Wirksamkeit des Genius immer von einem gewissen Unbewußtsein begleitet ist, so fällt es auch der begeisterten Bewunderung schwer und, je ächter sie ist, um so schwerer, zu besonnener Klarheit über sich selbst zu gelangen. Am besten wird es damit gelingen, wenn die Betrachtung nicht vereinzelt wird, sondern vielmehr den menschlichen Geist in dem Stufengange seiner Entwicklung bis zu dem Gipfel hinauf begleitet. Mit einem Worte, die Kunstkritik muß sich, um ihrem großen Zwecke Genüge zu leisten, mit der Ge-
durch A. W. Schlegel, wie er selbst eingesteht, zu einer eigenen Nibelungenlied-Ausgabe angeregt (HAGEN: an A. W. Schlegel r30. 9. 1807', KJ 447; vgl. auch Haym 1870, 825). Man wird davon ausgehen können, daß dazu nicht nur Schlegels Apotheose des Gedichtes als deutscher Ilias beigetragen haben wird, sondern auch das (Obersetzungs)texterlebms selbst.
Zur „Ausbildung der lebenden Sprachen" II: Philologie und Übersetzung
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schichte, und, so fem sie sich auf Poesie und Litteratur bezieht, auch mit der Philologie verbünden" (A. W . SCHLEGEL: V K S 1 8 2 8 , X X X ) .
Bei aller «begeisterten Bewunderung» geht es also immer zugleich auch um «besonnene Klarheit». Es ist nur nicht zu übersehen, daß die hier entworfene Literaturgeschichtsschreibung ihrem Selbstverständnis nach in erster Linie stets interessierte LiteraturAr///& bleibt. Soll ein strenges Wissenschaftsverständnis im Sinne der Grimmschen Dichotomie «poetisch - historisch» zugrundegelegt werden, so können die Frühromantiker auch in diesem Fall, ähnlich wie in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, nicht als Pioniere, sondern nur als Anreger gelten: Als diejenigen, die den eigentlichen Wegbereitern erstmals eine Richtung gewiesen haben, in welcher sie selbst weder weitergingen noch weiterzugehen gedachten. Zu 2): Die andere Möglichkeit, eine Sprache zu modifizieren, besteht in der Beschäftigung mit fremden Sprachen und Literaturen. Sie kann rein rezeptiv-komparatistischen Charakter haben, gestaltet sich aber in den meisten Fällen aktiv adaptierend als Übersetzung literarischer Texte.187 Diese Übersetzungsarbeit ist nicht bloßes Dolmetschen, ein Verfügbarmachen fremdsprachiger Texte, sondern wird in den Adelsstand der philologisch-poetischen Sprachbildung erhoben: „Wir eignen uns damit nicht bloß die ausländischen Schätze an, sondern führen auch unsre Sprache in neue Regionen des Geistes und der Fantasie hinüber" (A. W. SCHLEGEL: VEW 4803-04, 337). Damit ist schon angedeutet, in welchem Bereich die Spracharbeit vorrangig geleistet werden soll: Von den hierarchischen Rängen des Sprachsystems ist es die Wortebene, und hier insbesondere die Inhaltsseite, der die größte Aufmerksamkeit gilt. Zwar spielt auch die Ebene der Syntax durchaus eine gewisse Rolle - angestrebt wird eine möglichst große Freiheit in der Wortstellung (vgl. S. 138), die durch eine Nachahmung fremdsprachiger Satzbaumöglichkeiten in der Übersetzung erreicht werden kann - , aber in erster Linie ist der Gegenstand der Bearbeitung doch der Wortschatz. Ziel ist eine Erweiterung der Wortgesamtmenge durch Lehnbildungen ebenso wie eine Erweiterung der Bedeutung einzelner Wörter durch Lehnbedeutungen.188 Der Gedanke der Spracharbeit mit Hilfe von Übersetzungen ist selbstverständlich nicht neu, sondern findet sich in der gesamten Sprachreflexion des 17. und 18. Jahrhunderts als Topos:
187
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Wie bei der Vorrangstellung, die in den Gedankengebäuden und Weltanschauungen der hier behandelten Autoren die Kunst einnimmt, nicht anders zu erwarten, beschäftigt sich die gesamte fiühromantische Übersetzungptheorie mehr oder weniger ausschließlich mit dem Übersetzen von Dichtung (wobei das Verständnis von «Dichtung» unter Umständen sehr weit gefaßt sein kann). Die Verwendung der Termini Lehnbildung und Lehnbedeutung folgt Betz (1949,24 f.).
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
„Man hat [...] jederzeit vor ein bequemes Mittel die Sprache anzubauen angefehen, daß man von Ueberfetzungen der beften SchriftenfremderNationen den Anfang mache, weil dadurch neben íchónen Gedancken, viele eigene Wörter, die Tonst in Abgang kommen würden, erhalten, auch etwann neue eingeführet werden; vornehmlich aber, weil auf diele Weife eine Menge verbluhmter Ausdrückungen in diefelbe hinübergetragen und in Gang gebracht werden" (BREITINGER: CD/2 1740, 3 5 0 f.).
Unter anderen betont der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis, der Vater von A. W. Schlegels Frau Caroline, daß gute Übersetzungen „unter den Verbefferungs-Mitteln der Sprachen" einen „anfehnlichen Platz" einnehmen: „Sie entdecken die Mängel der Sprache, und bereichern fie mit Ausdrücken, die bisher gefehlt hatt e n " (MICHAELIS: E M S 1 7 6 0 , 8 3 ) .
In der frühromantischen Übersetzungskonzeption ist der Aspekt der Sprachbildung und -bereicherung meist eng mit einem anderen wichtigen Aspekt verbunden: dem Vermittlungsgedanken. Insofern sie als Vermittlung begriffen wird, ist Übersetzung ein zentraler Gegenstand der frühromantischen Theorie, deren Hauptanliegen die Aufliebung von Gegensätzen ist (vgl. S. 36 f.). Die Grenze zwischen der üblichen Bedeutung und übertragenen Verwendungen des Wortes Übersetzung ist dabei vielfachfließend:„Die Thatfache, daß eine Rede aus einer Sprache in die andere übertragen wird, kommt uns unter den mannigfaltigften Geftalten überall entgegen" (SCHLEIERMACHER: VMÜ ! 1 8 1 3 , 2 0 7 ) . Nicht nur aus unterschiedlichen Einzelsprachen kann übersetzt werden. Auch zwischen den Sprechern verschiedener räumlicher oder historischer Varietäten einer und derselben Einzelsprache, die „in einem engeren Sinne verfchiedene Sprachen find, und nicht feiten einer vollftândigen Dolmetfchung unter einander bedürfen" (ebd.), darüber hinaus zwischen Sprechern, die nicht einmal dialektal und zeitlich, sondern allein sozial differieren, kann Übersetzung nötig sein, damit sie sich verstehen (ebd. 207 f.). Schleiermacher geht so weit, das Phänomen des Verstehens schlechthin als Übersetzung zu deuten. Selbst die idiolektale Rede eines Individuums, das als Sprecher einer räumlichen, historischen und sozialen Varietät „ganz unferes gleichen", lediglich „von anderer Sinnes- und Gemûthsart" ist, muß übersetzt werden: „wenn wir nämlich fühlen daß diefelben Worte in unferm Munde einen ganz andern Sinn [...] haben würden als in dem feinigen" (ebd. 208), und zuletzt müssen wir „unfere eigene[n] Reden [...] bisweilen nach einiger Zeit ûberfezen, wenn wir fie uns recht wieder aneignen wollen" (ebd.). Gut ein Jahrzehnt früher bereits ist der wichtigste frühromantische Sprachdenker, A. W. Schlegel, nach fast 20 Jahren übersetzerischer Praxis zu der Auffassung gelangt, der „menschliche Geist könne eigentlich nichts als übersetzen, alle seine Thätigkeit bestehe darin" ( V L K / 3 4 8 0 3 - 0 4 , 2 4 ) . Was genau das heißen soll, führt Schlegel nicht näher aus; er meint wohl die begriffliche Fassung der Sinneseindrücke, die er als sprachlichen Akt, als ein innerliches «Übersetzen» des Wahrge-
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nommenen in Worte versteht (vgl. A. W. SCHLEGEL: DG 1799,46/10), und die in seiner Metaphernkonzeption erkenntnistheoretische wie poetologische Relevanz gewinnt (vgl. S. 125 ff. und Anhang II s. v. Metapher). Die beiden Aspekte der Vermittlung und der Sprachausbildung bzw. -bereicherung sind dort eng verknüpft. Die Metapher (die «Übertragung» einer Bezeichnung für sinnlich Wahrgenommenes auf nicht sinnlich Wahrnehmbares) verbindet nicht nur die beiden entgegengesetzten Bereiche des menschlichen Wesens, Sinnlichkeit und Geist, sondern stellt zugleich die einzige Möglichkeit dar, daß „ein so einfaches Mittel wie der articulirte Laut, dessen verschiedne mögliche Modificationen so leicht zu übersehen sind [,] zulänglich ist für das ganze Gebiet der aus äußerm und innerm Sinn entsprungenen Vorstellungen und vom Verstände gebildeten Begriffe" (A. W. SCHLEGEL: VEW Ί 80304,291). 189 Ein weiteres Beispiel für die Integration der Übersetzungsmetaphorik in frühromantische Theoriezusammenhänge ist Novalis. Auch er verwendet übersetzen im übertragenen Sinne und weist der so bezeichneten Tätigkeit eine Funktion in seiner Philosophie der Allverständigung zu, indem er die Fähigkeit des Verstehens und Sichverständlichmachens als Fertigkeit des Übersetzens aus einer Individualsprache in eine andere deutet. Ebenso bringt auch er diesen - von ihm nicht nur als kognitiv, sondern zugleich als kommunikativ relevant erachteten - Aspekt der Vermittlung in Zusammenhang mit einer Ausbildung und Bereicherung der jeweiligen individuellen Ausdrucksmittel. Nicht alle Autoren sehen aber Übersetzung als eine Möglichkeit der Sprachbildung. So gleicht für Brentano (Godwi 1801, 318) jede Sprache einem „eigenthümlichen Instrumente". In der Logik dieses Bildes liegt es, daß eine Auswirkung der Übersetzung (hier im eigentlichen Sinne verstanden) auf die Zielsprache nicht in den Blick genommen wird: Jedes Musikinstrument hat seinen spezifischen Charakter, und es ändert dadurch, daß es die Stimme eines anderen Instrumentes spielt, ja gerade nicht diesen Charakter, sondern modifiziert die gespielte Musik: „Viele Uebersetzungen [...] werden immer Töne der Harmonika oder blasender Instrumente seyn, welche man auf klimpernde oder schmetternde übersetzt" (ebd.).
189
Die kognitive Tätigkeit des Menschen wird als sprachlicher und übersetzerischer Akt bereits (und wohl erstmals) von Hamann gedeutet: „Reden ift überfetzen - [...] Gedanken in Worte, - Sachen in Namen, - Bilder in Zeichen" (HAMANN: ÄN 1762,199). Gleichwohl hat Schlegel diesen Gedanken, der „mitten hinein in die wichtigsten frühromantischen Kunstideen" führt (Gebhardt 1970, 102, Anm. 89), nicht von ihm - zumindest nicht direkt: Hamann wurde von den Frühromantikern kaum bis gar nicht zur Kenntnis genommen (vgl. Pikulik 1992, 16), was wohl vor allem daran liegt, daß seine Werke in der Zeit um die Jahrhundertwende nur schwer zugänglich waren und erst 1821-25 neu aufgelegt wurden. Seine Rezeption setzt zwar nicht erst in diesen Jahren, aber doch zu einem Zeitpunkt ein, da die frühromantische Phase schon beendet ist.
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
Während die Übersetzung als Sprachbildungsmöglichkeit in Brentanos Godwi keine Rolle spielt, tritt der Vermittlungsaspekt deutlich hervor, und zwar durch eine bemerkenswerte Engfuhrung der Übersetzungstheorie einerseits und der Theorie des Romantischen andererseits. Ausgehend von einer Literaturauffassung, der Schillers Antithese von naiver und sentimentalischer Dichtung zugrunde liegt, unterscheidet Brentano zwischen «reinen» und «romantischen» Dichtern: Die «reinen» sind diejenigen, die allein einen Gegenstand darstellen und sich selbst aus der Darstellung heraushalten; die «romantischen» sind die, die sich mit in die Darstellung hineinnehmen, so daß der Gegenstand für den Rezipienten nicht direkt wahrnehmbar ist, sondern durch das Medium subjektiver Individualität des Autors vermittelt erscheint: „Das Romantische selbst ist eine Uebersetzung" (BRENTANO: Godwi 1801, 319). Übersetzung eines in diesem Sinne «romantischen» Textes ist daher notwendig bereits potenzierte Übersetzung: „Nehmen Sie zum Beyspiel [...] den Tasso, mit was hat der [...] Übersetzer zu ringen, [...] er [...] muß [...] sich erst ins Katholische übersetzen, und [...] muß [...] sich auch [...] geschichtlich in Tasso's Gemüth und Sprache übersetzen, er muß entsetzlich viel übersetzen, ehe er an die eigentliche Übersetzung selbst kömmt, denn die romantischen Dichter haben mehr als bloße Darstellung, sie haben sich selbst noch stark" (BRENTANO: Godwi 1801,316).
Da es der Charakter des Romantisch-Sentimentalischen ist, den Gegenstand nicht «rein», sondern in subjektiver Auffassung darzustellen, muß, sofern «romantische» Dichtung angemessen übertragen werden soll, ebendiese subjektive Art und Weise der Behandlung mitübertragen werden. Daher ist für den Übersetzer «romantischer» Texte „die Gestalt der Darstellung selbst ein Kunstwerk, das er übersetzen soll" (BRENTANO: Godwi 1801,316). Pflicht des Übersetzers ist größtmögliche Treue in allen Bereichen, die das individuelle, historische oder nationalsprachliche „Colorit" (ebd.) betreffen; er muß im Einzelfall nicht nur Reim und Versmaß, Tropik, Wortspiele, sondern auch charakteristische Eigenheiten des Sprachgebrauchs, sogar Regelverstöße nachzubilden suchen: , Je mehr [...] der Charakter des Werks mit dem seines Schöpfers identisch, je mehr jenes nur ein unwillkürlicher Abdruck seines innem Selbst ist, desto mehr wird es Pflicht, auch fehlerhafte Eigenthümlichkeiten, den Eigensinn der Natur und die Verwahrlosungen oder falschen Richtungen der Bildung treu in die Kopie zu übertragen; sie sind psychologisch und moralisch wichtig und oft mit den edelsten Eigenschaften aufs innigste verwebt" (A. W. SCHLEGEL: GK 1791, 228 f.)"°
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Daß Schlegel zehn Jahre vor Brentano schreibt und sich bei seiner Differenzierung von «objektiver» und - hier - «subjektiver» Literatur natürlich noch nicht auf Schiller (NsD 1795-96) berufen kann, ändert nichts daran, daß es inhaltlich um dieselbe Sache geht. Schiller erfindet ja nicht die Gegenüberstellung von naiver und sentimentalischer Dichtung, sondern greift damit eine gängige, den Zeitgenossen halb und halb bewußte Unterscheidung auf, die er freilich mit besonderer Prägnanz und Suggestivkraft antithetisch faßt und herausarbeitet.
Zur „Ausbildung der lebenden Sprachen" II: Philologie und Übersetzung
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Es leuchtet ein, daß unter diesen Umständen die Übersetzung «romantischen> Literatur besonders schwierig ist. Einfacher sind die «reinen» Dichter, weil sie „weiter von uns entfernt sind" und weil „diese große Ferne jedes Medium zwischen ihnen und uns aufhebt, welches sie uns unrein reflectiren könnte" (BRENTANO: Godwi 1801, 316). Bei ihnen muß man sich an das Überindividuelle, an eine (durch philologisches Studium erfahrbare) allgemeine Norm in Sprache und Denkart halten, um sie angemessen zu übertragen: „Die Bedingniß ihres Uebersetzers ist bloße Wissenschaftlichkeit in der Sprache und dem Gegenstande, er darf bloß die Sprache übersetzen, so muß sich seine Uebersetzung zu dem Original immer verhalten, wie der Gypsabdruck zu dem Marmor" (BRENTANO: Godwi 1801, 316 f.). Weicht ein Autor in seiner Sprachbehandlung oder seinen ästhetischen Prinzipien von eben dieser für seinen kulturellen Hintergrund allgemeinen Norm ab, so ist es dem Übersetzer auch erlaubt, auf die Nachahmung derartiger subjektiver Details zu verzichten, also ζ. Β. „das Harte zu mildem, das Dunkel aufzuklären, das Verfehlte in der Darstellung zu berichtigen, mit Einem Worte, zu verschönem" (A. W. SCHLEGEL: GK 1791,228). Obwohl die Gleichsetzung klassisch/naiv = antik und romantisch/sentimentalisch = modern häufig vollzogen wird, ist die Unterscheidung hier nicht unbedingt eine zeitliche zwischen antiker und moderner (seit dem Mittelalter entstandener) Literatur. Hauptkriterium ist vielmehr die Arbeitsweise und Haltung des Autors, der entweder (im Idealfall völlig) hinter seinen Gegenstand zurücktritt, oder aber seine Sicht des Gegenstandes immer mitreflektiert und im Extremfall sich selbst zum Gegenstand seiner Darstellung macht. Daher kann, wenngleich der naive Autor im Ganzen typisch für die antike, der sentimentalische im Ganzen typisch für die moderne Literatur ist, auch ein antiker Autor tendenziell sentimentalisch, ein moderner tendenziell naiv sein. A. W. Schlegel findet beispielsweise bei Euripides moderne Züge (VLK/2 Ί 802-03,752), Schiller bei Goethe bekanntlich naive (NsD 1795-96, 438, Aran.). Die Tatsache, daß bei Gegenüberstellung der alten und neuen Dichter „nicht sowohl der Unterschied der Zeit, als der Unterschied der Manier" relevant ist (SCHILLER: N S D 1795-96,437 f., Anm.), spielt gerade bei der Frage ihrer Übersetzung eine Rolle. Dante und Shakespeare, gewissermaßen die «Klassiker» der romantischen(2) Literatur, können nach Brentanos Ansicht leichter übersetzt werden als andere neuere Autoren, weil ihre Werke nicht individuellen oder nationalen Beschränkungen unterliegen, sondern unter allgemein menschlichen und künstlerischen Aspekten betrachtet werden müssen: „Diese beiden Dichter stehen eben so über ihrer Sprache, wie über ihrer Zeit" (Godwi 1801, 318). Sie haben keine „ganz eigenthümlichefn] Manieren" (ebd. 318 f.), und auch die jeweilige Nationalsprache mit ihren ausdrucksseitigen und kognitiven Eigenheiten „kann sie nicht fesseln, da ih-
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rem Geiste kaum die Sprache überhaupt genügt" (ebd. 318). Sie vertragen es daher auch - wie alle klassischen, Texte - , bei der Übersetzung im Schlegelschen Sinne modifiziert zu werden: Man „kann sie [...] in einen anderen wackeren Boden versetzen. Es kann gedeihen, nur muß es ein Simson gethan haben. Transportirte Eichen bleiben sie immer, an denen man die kleinen Wurzeln wegschneiden muß, um sie in eine neue Grube zu setzen" (ebd.). Es hieße allerdings die frühromantische Übersetzungstheorie mißverstehen, wollte man aus der vorgeführten Gegenüberstellung von «reiner» und «romantischen) Dichtung ableiten, die Meinung sei, daß die erste prinzipiell modifizierend übertragen werden dürfe, die letztere hingegen nicht. Die Aufgabe des Übersetzers, die romantische Dichtung so treu wie möglich wiederzugeben, schließt eine von der Vorlage - gegebenenfalls erheblich - abweichende Übersetzung keineswegs aus. Im Gegenteil: Gerade das Bewußtsein, daß Übersetzung immer Veränderung ist und überhaupt nichts anderes sein kann, prägt die frühromantischen Äußerungen über diesen Gegenstand. Auch Brentano, obgleich er durchblicken läßt, man solle Dichter, die durch ihre spezifischen sprachlich-stilistischen Eigenheiten eine textgetreue Übersetzung unmöglich machen, lieber gar nicht übersetzen, ist keine Ausnahme. Die in diesem Sinne interpretierbaren Aussagen im Godwi sind cum grano salis zu verstehen; sie lassen sich als perspektivische Rede erklären. Der Sprechende ist der fiktionale Autor des Romans, Maria, der mit dem Dichter Haber über dessen Plan streitet, Tassos Befreites Jerusalem zu übersetzen. Die Figur Haber ist eine Parodie auf den Tasso-Übersetzer Johann Diederich Gries. Brentano will nicht suggerieren, daß Tasso und andere «neuere» Dichter prinzipiell nicht übersetzt werden sollten, sondern nur andeuten, daß der von Gries vertretene Anspruch einer adäquaten Übersetzung zu hoch sei. Die betreffenden Autoren können nicht anders als frei übersetzt werden (vgl. BRENTANO: Godwi 1801, 376); daß man dies nicht tun dürfe, wird nirgends gesagt. Gerade Brentano findet bekanntlich nichts dabei, in seinem Sinne «romantische» Texte nicht nur zu übersetzen, sondern regelrecht zu bearbeiten, wie - um nur ein Beispiel zu nennen - seine Nacherzählung einer Episode aus dem altfranzösischen Roman de Perceforest zeigt (BRENTANO: Rose 1800). 1 9 1 Nicht nur für ihn, für alle hier untersuchten Autoren versteht es sich von selbst, daß „die vortrefflichste Übersetzung nur Annäherung in verschiednen Graden seyn kann, denn sonst müßte mit völlig verschiednen Werkzeugen und Mitteln ganz dasselbe geleistet werden, was genau genommen unmöglich ist" (A. W. SCHLEGEL: VLK/2 4802-03, 480). Man ist sich darüber klar, daß Übersetzung allein schon
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Zu den Unterschieden zwischen der Vorlage und Brentanos Bearbeitung vgl. Kluge 1987, 455 f. und 458 ff.
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deshalb Veränderung sein muß, weil eine exakte Übertragung eines Textes auf allen sinnkonstituierenden Ebenen nicht möglich ist und immer bestimmte Teilaspekte verloren gehen. Dies gilt insbesondere für Phänomene wie Klangmalerei (Assonanzen, Reime) oder auch das Wortspiel, das „fast unûbersetzlich ist, und gemeiniglich nur durch Annäherungen in einer andern Sprache ausgedrückt werden kann" (BERNHARDI: Spl/2 1803,398). Als Beispiele für die Unmöglichkeit einer Eins-zueins-Übertragung unter Beibehaltung der Wortstellung, der Wort- und Silbenzahl, wie sie Klopstock und Voß als Idealvorstellung zugeschrieben wird, führt A. W, Schlegel einmal aus seiner eigenen Übersetzerpraxis Textstellen griechischer, lateinischer und italienischer Autoren an (A. W. SCHLEGEL: Spr 1798, 59 ff./247 ff.), und in seinem Dialog Die Gemâhlde (1799) vergleicht er das Übersetzen mit dem Zeichnen einer Plastik: · „L o u i f e . [...] Kommen Sie, laffen Sie uns unfern Reinhold begrüßen: er zeichnet dort [...] nach dem herrlichen Rumpf des Ringers. [...] Wie gehts, lieber Reinhold? Sie icheinen verdrießlich. R e i η h o 1 d. Die Zeichnung will nicht nach meinem Sinne werden. L o u i f e . Es geht Ihnen, wie Wallern auch mitunter, wenn er fich an den Pindar oder Sophokles macht. Er hat zum Ueberfetzen nur Deutsche Worte, Töne und Rhythmen, Sie nur fchwarze Kreide" (A. W. SCHLEGEL: DG 1799,44/8).
Genau genommen kann man daher nicht einen Text übersetzen, man kann nur nach einem Text übersetzen ( F . SCHLEGEL: Phlg/2 * 1 7 9 7 , 6 3 , Nr. 4 3 ) ; eine Übersetzung ist „durchaus keine Nachbildung" (ebd.), sondern stets eine Bearbeitung. Solche Ansichten stehen im Gegensatz zu einer aufklärerisch-rationalistischen Sichtweise, in der Übersetzung eine Eins-zu-eins-Abbildung sein kann und soll, „ein Conterfey, das defto mehr Lob verdienet, je ähnlicher es ift" (BREITINGER: CD/2 1740,139). Da nach Ansicht des hier zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Realismus „die Gegenftânde, womit die Menfchen fich in ihren Gedancken befchâftigen, überhaupt in der gantzen Welt einerley und einander gleich find" und daher „die Wahrheit, welche fie mit diefer Befchâftigung fuchen, nur von einer Art ift" (ebd. 138), wird davon ausgegangen, daß „nothwendig unter den Gedancken der Menfchen eine ziemliche Gleichgültigkeit ftatt und platz haben" müsse (ebd. 138 f.), und daß daher eine adäquate, vollständige Übertragung möglich sei: „Auf diefem Grunde beruhet nun die gantze Kunft, aus einer Sprache in die andere zu uberfetzen" (ebd. 139). Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die mehrfach verwendete Kleidermetaphorik: Die auszudrückenden Gegenstände oder Gedanken sind immer dieselben, in welcher Sprache sie auch ausgedrückt werden, die unterschiedlichen Sprachen selbst nur verschiedene Bekleidungen des Gegenstandes oder Gedankens. Der Ubersetzer muß daher „die zu uberfetzenden Worte einer fremden Sprache durch andere gefchickte, hinlängliche Wörter der andern Sprache, darinnen
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fie folien eingekleidet werden, gebe[n]", und zwar so, daß „ihr Nachdruck, Lieblichkeit und Verftand erhalten, nicht mehr, und nicht weniger, auch nichts Unrechtes gefagt werde" (VENTZKY: BGU 1734, 91), kurz, er „muß fich bemühen den völligen Abdruck des Verfaffers und die genaue Abbildung des Originals in feiner Ueberfetzung zu hinterlaffen. Nichts muß unrecht, nichts zu viel, nichts zu wenig feyn" (ebd. 105). Diese Aufgabe ist zwar schwierig, aber eben prinzipiell lösbar, und daran, daß sie gelöst wird, kann der gute vom schlechten Übersetzer unterschieden werden. Die Frühromantiker, die eine solche Eins-zu-eins-Übersetzung für schlechterdings unmöglich halten, stehen demgegenüber einer übersetzungsskeptischen Tradition nahe, für die hier nur ein prägnantes Beispiel aus dem 17. Jahrhundert genannt sei: „Ich habe etwas blöde Augen / vnd brauche nun viel Jahr die Brillen / kan aber doch mit den aller reineften / nimmermehr io fchaiff in die weite iehen / als etwa ein gefundes Aug / fo von freyem hinfchawet: Alio gucken alle die nur durch Glâfer / fo die Bibel Alten Teftaments / in anderer / als Hebreifch[e]r Sprach lele / kan auch wol bißweile die brill nit Tauber außgewifcht feyn / oder fonften ein Blâterlein vnd Sandkömlein darin ftecken daß es in die ferne betrengt / vnd man (nach de Sprichwort) ein Elei filr den Müller Knecht anfihet" (SCHICKARDT: HT 1629, Vorr. X).
Ein wichtiges Vorbild für die Frühromantik dürfte die Übersetzungsskepsis Herders sein. Dieser findet es unzulänglich, Texte in Übersetzung lesen zu wollen, „wenn es auch die richtigfte wäre" und erläutert am Beispiel Homers: „Ihr lefet nicht mehr Homer, fondern etwas, was ohngeflhr wiederholet, was Homer in feiner Poetifchen Sprache unnachahmlich fagte" (HERDER: NDL 1767,177). Aus solchen Ansichten wird aber in der Frühromantik keineswegs abgeleitet, daß Übersetzungen prinzipiell schlechter sein müßten als das Original. Sie sind prinzipiell anders. Nach Meinung der Frühromantiker kann Übersetzung nur und allein Veränderung sein, und die Aufgabe des Übersetzers ist es, sich dieser Tatsache bewußt zu sein, dazu zu stehen und sie gegebenenfalls sogar zum Anlaß für aktive, bewußte Gestaltung zu nehmen. Unter Umständen kann nämlich nur auf diese Weise eine dem Original möglichst ähnliche Übersetzung erstellt werden: Was an einer Stelle nicht wiederzugeben ist, soll an anderer Stelle nach Prinzipien der Analogie nachempfunden und hinzugefügt werden. Das Übersetzen wird so zum produktiven Akt, zum Nachdichten. Gleichwohl gibt es auch Äußerungen, die das Gegenteil besagen zu wollen scheinen und Eingriffe in die Textgestalt ausdrücklich ausschließen; so wenn F. Schlegel sich bei seinen Sanskrit-Übersetzungen „bemüht, alles grade so unbestimmt ja so geheimnißvoll zu lassen, als [...] in der Urschrift [...], um dem Leser den Eindruck derselben so rein als möglich wiederzugeben" (SWI 1808,381). Am
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weitesten in diese Richtung gehen zweifellos seine und Tiecks Versuche, bei eng verwandten Sprachen, vielmehr bei historischen Sprachstufen einer und derselben Sprache, auf Übersetzung so weit wie möglich sogar zu verzichten und den Urtext für sich selbst sprechen zu lassen: „Meine Absicht ist, [...] gar nicht zu verändern, gar nicht um zu bilden; sondern, nur grade so viel zu retouchiren, daß es verständlich ist", erklärt F. Schlegel zu einer von ihm geplanten Nibelungenlied-Ausgabe (an L. Tieck r15. 9. 18031, L 136).192 Tieck seinerseits begreift seine vornehmste Ausgabe als Minnesang-Herausgeber in einer größtmöglichen Nähe zum mittelhochdeutschen Original: „Das Wichtigfte fchien mir, nichts an dem eigentlichen Charakter der Gedichte und ihrer Sprache zu verändern; [...] dies war aber zu vermeiden nicht möglich, wenn man nicht manche der alten Worte ίο ließ, wie fie urfprünglich gebraucht waren. In der neueren Sprache verlieren alle diefe Gedichte zu viel [...]. Worte, die in unferer Sprache ganz unverftändlich find, find daher weggeblieben, nicht aberfolche, die wir noch, nur in einem etwas veränderten Sinne gebrauchen, oder deren Bedeutung fich leicht aus der Analogie errathen läßt" (TIECK: AML 1803, 211 f.)
Allerdings geht selbst hier die angestrebte größtmögliche Texttreue mit Modifikationen des Originals einher. Sogar wenn das Prinzip einer Übersetzung ausdrücklich lautet, „gar nicht zu verändern": Irgend etwas zu „retouchiren" erlaubt man sich immer. Wie in anderem Zusammenhang erläutert, ist ja das frilhromantische Interesse an den «altdeutschen» Quellen kein historisch-wissenschaftliches, sondern ein aktuell-poetisches; man denkt folglich nicht an Editionen der Originaltexte für eine Handvoll Sprachkundige, sondern an Bearbeitungen, die einem in erster Linie ästhetisch orientierten Laienpublikum ein Verständnis ermöglichen und es für die mittelalterliche Dichtung gewinnen sollen. Derartige Beobachtungen zeigen, daß die frühromantische Übersetzungskonzeption sich von derjenigen der Aufklärung zwar deutlich abhebt, indessen keinen so völligen Bruch mit ihr vollzieht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wie auch an anderer Stelle (S. 181 f.) bemerkt, leugnen die Frühromantiker keineswegs eine außersprachliche Realität, die in der Sprache zwar nicht abgebildet, aber doch in bestimmter Weise gefaßt wird. Dies erweist sich auch in der Übersetzungstheorie: Sie gehen von einer (gedanklichen) Realität hinter den Texten aus, von etwas, das, sprachlich in spezifischer Weise gefaßt, bei der Übersetzung verändert werden kann, sei es nun, daß man sich diese Veränderung erlaubt oder verbietet. Damit findet sich ein weiteres Indiz für die von der Forschung längst betonte Tatsache, daß
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Bereits 1802 verändert Schlegel bei der Übersetzung eines Liedes Ulrichs von Liechtenstein, das er fälschlich Heinrich von Veldelee zuschreibt, nach eigener Aussage „nur wenige Worte [...], die nach der jetzigen Sprache nicht verständlich [...] sein würden" (F. SCHLEGEL: LHV 1802,173; vgl. auch Brinker-Gabler 1980, 128).
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die Frühromantik, auch wenn sie sich in manchem gegen die Aufklärung stellt, dennoch in vielem der Aufklärung verbunden bleibt (vgl. S. 24 f.). Das Konzept, auf das es beim Verständnis der frühromantischen Übersetzungstheorie in entscheidender Weise ankommt, ist das der «Treue». Sie ist immer Treue zu demjenigen, was als wesentlich für einen Text erachtet wird, und dieses Wesentliche ist seine Wirkung auf den Rezipienten. „Wörtlichkeit ist noch lange keine Treue. Zu dieser gehört es, daß dieselben oder ähnliche Eindrücke hervorgebracht werden, denn diese sind ja eben das Wesen der Sache" (A. W. SCHLEGEL: VLK/2 ! 1802-03,479). Nach allgemeiner Ansicht kann man deshalb einen Text unter Umständen auch «treu» übertragen, indem man von seinem Wortlaut abweicht: dann nämlich, wenn eine solche Abweichung erforderlich ist, um ihn seinem «Charakter» entsprechend wiedergeben zu können, d. h. um bei den Lesern der Übersetzung Rezeptionserlebnisse hervorzurufen, die denen der Leser des Originals vergleichbar sind. So gibt beispielsweise A. W. Schlegel Ludwig Tieck den Rat, in dessen geplanter Cervantes-Übersetzung die „vielen spanischen Participien [. ..] in den meisten Fällen in direkte Sätze" aufzulösen, und zwar so, „daß ungefähr eine so leichte Wortfolge und Structur, wie im Wilhelm Meister, bey gleicher Fülle, heraus käme" (A. W. SCHLEGEL: anL. T i e c k r l l . 12. 1797\ L22).
Die Treue-Konzeption A. W. Schlegels, dessen Arbeiten und Ansichten zur Übersetzung die übrigen Frühromantiker stark beeinflußt haben, ist ihrerseits von seinem Göttinger Lehrer G. A. Bürger inspiriert. In einem Aufsatz zur HomerÜbertragung schreibt dieser: „Wenn ich dem Ueberfetzer die iuferfte Treue empfehle, Γο brauche ich wohl nicht zu erinnern, daß meine Meinung nicht ift, er folle wörtlich nach dem gemeinen Lexicon úberfetzen. Keinesweges! vielmehr muß er den homerifchen Ausdrücken das wahre Gewicht und Gehalt im deutfchen zuzuwiegen fuchen. Um aber diefes Gehalt genau zu erforfchen, wird ein langer, immerwâhrender und vertrauter Umgang mit dem alten Dichter und das allerfeinfte critifche Gefühl erfodert" (BORGER: GBH 1771, 12/617 f.).
Schlegel hat diesen Ansatz weiterentwickelt. Ihm geht es nicht nur darum, daß die Ausdrücke, d. h. die Wörter und allenfalls noch Phraseme, die rechten Assoziationen beim Leser hervorrufen, sondern daß die Textgestalt im Ganzen ihre Wirkung angemessen entfalten kann. Daher nimmt er es mit stilistischen Details, sofern diese seiner Ansicht nach zum «Wesen» des zu übersetzenden Textes gehören, geradezu akribisch genau: „Mein Grundsatz ist, wenn er [Calderón] eine einsylbige [Assonanz] hat, sie ebenfalls einsylbig und in demselben Vocal zu nehmen; bey den zweysylbigen so viel möglich das analogste heraus zu fühlen. [...] Daß ich sie immer eben so lange behalte wie Calderón, versteht sich" (A. W. SCHLEGEL: an L. Tieck r 20. 9. 18021, L 119).
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Eines der seiner Ansicht nach konstitutiven Elemente der Poesie im engeren Sinne (Poesie13) ist bekanntlich das Silbenmaß (vgl. S. 108), weswegen „alles Übertragen von Versen in Prosa verwerflich" ist (A. W. SCHLEGEL: VLK/2 ! 1802-03,479). Das Versmaß hat nicht nur ästhetische, sondern gewissermaßen auch semantische Funktion: Jeder metrischen Form ist eine „entschiedne Bedeutung" eigen, und so ist es für Schlegel „einer der ersten Grundsätze der Übersetzungskunst, ein Gedicht so viel nur immer die Natur der Sprache erlaubt in demselben Sylbenmaß nachzubilden" (ebd.): „Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß ich zuweilen auf einen einzigen Vers Stundenlang gesonnen, und doch zuweilen habe ablassen müssen, ohne mich selbst befriedigt zu haben" (A. W. SCHLEGEL: an Schiller r l. 3. 1796\ KW, 29). Durch all dies wird schon deutlich, daß die frühromantische Treuekonzeption ambivalent ist. Sie erlaubt einerseits eine freie Behandlung des Textes, eine Abweichung von der äußeren Form, wenn eine «wesens»gemäße Übertragung es erforderlich macht oder eine solche dadurch erreicht werden kann, andererseits verlangt sie eine möglichst genaue Berücksichtigung der äußeren Form, sofern diese selbst zum «Wesen» des literarischen Kunstwerkes gehört: „Einheit der Form und des Wesens [ist] das Ziel aller Kunst, und je mehr sie sich gegenseitig durchdringen und eine in der andern spiegeln, desto höher die Vollendung" (A. W. SCHLEGEL: VLK/2 !180203,479). Die Ambivalenz der frühromantischen Treuekonzeption gründet in dem gespaltenen Verhältnis der Frühromantiker zu dem, was sie in einer auf den 2. Korintherbrief zurückgehenden, jedoch längst völlig säkularisierten Metaphorik den «Buchstaben» nennen: zur äußeren, formalen Seite einer jeden Sache, zu ihrer Erscheinung, der Gesamtheit ihrer empirischen Details (vgl. Anhang II s. v. Buchstabe). Einerseits wird dieses Äußerliche gemäß idealistischer Tradition gegenüber dem «Wesen», der «Idee» oder (analog metaphorisch) dem «Geist» der Sache als irrelevant angesehen. Andererseits bringt es der frühromantische Synthesisgedanke mit sich, daß dem «Buchstaben» durchaus ein Eigenwert zugebilligt wird, daß zumindest der «Geist» nur in Verbindung mit dem Buchstaben (gegebenenfalls in Abgrenzung zu ihm, aber eben auch und gerade dann nicht ohne ihn) denkbar ist.193 - Die frühromantische Treue ist also zwar keineswegs eine bedingungslose Treue zum «Buchstaben»; aber wo dieser mit dem «Geist» in Verbindung gebracht werden kann, dort
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Zu erinnern ist hier beispielsweise an die in anderem Zusammenhang erläuterte Tatsache, daß F. Schlegel die Aufgabe des Verstandes nicht nur in der Gewinnung von Wissen, sondern zugleich in der sprachlichen Fassung desselben sieht (vgl. S. 212): „Das Wissen, etwas durchaus Innerliches, geht bloß auf den StofiÇ das Verstehen ist auch etwas Äußeres, geht auch auf die Form. Der Verstand ist Wissen dem Geiste und dem Buchstaben nach; da das wesentlich Unterscheidende des Verstandes in der Mitteilung besteht, gehört eben auch das Wort wesentlich zum Verstände" (F. SCHLEGEL: EPh/1 '1804-05,387).
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
ist er Symbol, Hieroglyphe (»heiliges ZeichenLehre vom Buchstabens wobei Buchstabe selbstverständlich nicht ein graphisches Zeichen meint, sondern in übertragener Verwendung das Äußerliche, Formale eines (konkreten oder abstrakten) Gegenstandes (Buchstabe4/5), und eingeschränkter die grammatischen Strukturen einer Sprache ('Buchstabe6). Ursprünglich ist das Verhältnis der Frühromantiker zur Philologie aus genau diesem Grund durchaus zwiespältig. Einerseits findet sich die traditionell-intellektuelle Sturm-und-Drang-Pose ausgesprochener Verachtung des «toten Buchstabens»; diese wird auch gegenüber der Philologie eingenommen, die dann als Prototyp einer „schalen und unfruchtbaren Buchstabengelehrsamkeit" gilt (F. SCHLEGEL: SWI 1808, 309). Andererseits sind vor allem die Brüder Schlegel zu gute und gründlich ausgebildete Philologen, um sich nicht auf ihre Kenntnis des «Buchstabens» einiges zugutezuhalten und mit diesem auch jene ins rechte Licht zu setzen. F. Schlegel (Phlg/1 *1797, 35, Nr. 5) erkennt der „Mikrologie", dem krokylektischen Detailstudium, eigenen Wert zu: „Wenn gleich die Philologie nicht Zweck an sich ist: so darf doch wohl jemand bloß Philolog seyn [...]?- Ja, es ist wohl in der Ordnung so" (ebd. 37, Nr. 34). Auch A. W. Schlegel (VLK/2 4802-03,709) hält es für „erlaubt und vortheilhaft", bisweilen „den Buchstaben isolirt, ohne den Geist,
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zu bearbeiten und auszubilden", sofern es „mit tüchtiger Gründlichkeit und Meisterschaft" geschieht. Diese beiden Positionen, die auf den ersten Blick äußerst widersprüchlich scheinen197, lassen sich gleichwohl auf einen Nenner bringen, wenn man sie vor dem Hintergrund des frühromantischen Synthesisprogramms betrachtet: Die einander entgegengesetzten Phänomene «Geist» und «Buchstabe» sollen zueinander in Beziehung gebracht werden, d. h. man will „die Philosophie mit der Philologie in Berührung setzen" (F. SCHLEGEL: Athfr 1798,200/179, Nr. 93). Erst eine Beschäftigung mit dem Buchstaben, insofern er sich mit dem Geist berührt, eine philosophische Philologie also, ist für die Frühromantiker „Ächte Philologie" (A. W. SCHLEGEL: VEW -1803-04, 49). Von dieser her gesehen ist die traditionelle Philologie, die bloße Buchstabengelehrsamkeit einerseits minderwertig und kann dafür kritisiert werden, sich „gar zu sehr an das einzelne [zu] halten" und es am „Überblick des Ganzen" fehlen zu lassen (A. W. SCHLEGEL: VEW -1803-04, 354); andererseits aber ist sie, um die angestrebte Synthese zu erreichen, unerläßlich, da bloße Philosophie allein auch nicht ans Ziel fuhrt: „Heraklit sagte, man lerne die Vernunft nicht durch Vielwisserey. Jetzt scheint es nóthiger zu erinnern, daß man durch reine Vernunft allein noch nicht gelehrt werde" (F. SCHLEGEL: Athfr 1798,265/220, Nr. 318). Insgesamt beabsichtigen die Frühromantiker damit weder eine Verdrängung des reinen Denkens durch die empirische Gelehrsamkeit, noch eine der empirischen Gelehrsamkeit durch das reine Denken; vielmehr eine gegenseitige Durchdringung bei-
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Exemplarisch zeigt sich dieser Widerspruch in der frühromantischen PhilologieaufFassung - und zwar ex negativo, durch seine Vermeidung - bei Schelling. Dieser teilt die Schlegelsche Wertschätzung des Buchstabens nicht und versucht, den ihm deshalb ärgerlichen Doppelsinn des Wortes Philologie dadurch auszuräumen, daß er eine terminologische Differenzierung einführt. Unter Philologie im eigentlichen Sinne versteht er soviel wie historische Textwissenschaft: die divinatorische Rekonstruktion alter Werke (SCHELLING: VMaS 1803, 246). Die grammatische Sprachgelehrsamkeit achtet er demgegenüber vergleichsweise gering; sie ist für ihn lediglich das Mittel zu einem „viel höheren Zwecke", d. h. sie hat lediglich propädeutischen Wert. Da die Sprache „an und für fich felbft fchon und bloß grammatiich angefehen" eine „fortgehende angewandte Logik" ist, gibt es „keine Befchäftigungsart, welche mehr geeignet wäre, im früheren Alter dem erwachfenden Witz, Scharflinn, Erfindungskraft die erste Uebung zu geben, als die vornehmlich mit den alten Sprachen" (ebd.). Durch diese Beschäftigung, insofern sie in „Auslegung" und „Verbefferung der Lesart durch Conjektur" besteht, erwirbt der Studierende „auf eine dem Knabenalter angemeffene Art" die „Fertigkeit, [...] Möglichkeiten zu erkennen" (ebd.). Diese spekulative Fertigkeit, die für Schelling jede „wiffenfchaftliche Bildung" ausmacht, und der das „gemeine Wiffen" gegenübersteht, das „nur Wirklichkeiten begreift" (ebd.), kann mit dem Erwachsenwerden eine höhere Stufe erreichen und dann zur philosophischen Fertigkeit werden. Damit werden auch die Gegenstände der Beschäftigung andere: Der im wissenschaftlichen Denken geübte Erwachsene sollte sich nach Schellings Ansicht mit wichtigeren Gegenständen beschäftigen als mit Grammatik, die - ein Seitenhieb offenbar gegen Friedrich Schlegel, dessen philosophische Fähigkeiten Schelling bekanntlich nicht besonders hoch schätzte - im „männlichen Alter" höchstens noch „einen knabenhaft bleibenden Sinn angenehm befchäftigen" könne. Der „bloße Sprachgelehrte" heißt daher „nur durch Mißbrauch Philolog" (ebd.).
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der. ,J)er Philolog soll (als solcher) philosophiren" (F. SCHLEGEL: Phlg/1 *1797, 42, Nr. 87), d. h. er soll Philosoph werden und Philologe bleiben. Freilich hat Schlegel zu den philosophischen Fähigkeiten der Philologen seiner Zeit nicht allzuviel Vertrauen und erhofft sich daher „eher, daß die φσ [Philosophen] philologiren werden als umgekehrt" (Phlg/2 *1797, 64, Nr. 49). Sich selbst sieht er in diesem Sinne mehr als Philosophen denn als Philologen (ebd. 72, Nr. 122), und folgerichtig ist sein Vorschlag eine „antik< gemeint sein: „Das Prinzip [...], nach welchem sie [Griechen] [...] verführen, ist das durchaus richtige; indem sie nicht das fehlerfreie, meistens nur das, was keine Kraft hat zum Ausschweifen, für vortrefflich, fur gebildet und ewiger Nachahmung würdig hielten; sondern was in seiner Gattung als das Erste, Höchste oder Letzte am kräftigsten angelegt, oder am kunstreichsten vollendet war, mochte es übrigens dem beschränkten Sinne noch so viel Anstoß geben. Und vortrefflich war die Methode ihres Studiums; ein unaufhörliches, stets von neuem wiederholtes Lesen der klassischen Schriften, ein immer wieder von vom angefangnes Durchgehen des ganzen Zyklus; nur das heißt wirklich lesen; nur so können reife Resultate entstehen und ein Kunstgefiihl, und ein Kunsturteil, welches allein durch das Verständnis des Ganzen der Kunst und der Bildung selbst möglich ist" (F. SCHLEGEL: LGM 1804, 53)
Klassisch in diesem Kontext im Sinne von >antik< deuten zu wollen, wäre gleichsam tautologisch, da die Kritiker, die hier klassische Texte lesen, selbst noch der Antike angehören. Dagegen sagt Schlegel ja unmißverständlich, was er mit klassisch meint: >in seiner Gattung als das Erste, Höchste oder Letzte am kräftigsten angelegt, oder am kunstreichsten vollendete Aus diesem Grund können, wie in späteren Jahren beide Brüder Schlegel am Beispiel des Sanskrit auch praktisch vorgeführt haben, durchaus solche Sprachen Gegenstand der Philologie sein, die nicht zu den klassisch-antiken zählen (vgl. ζ. B. A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04, 354 und F. SCHLEGEL: PL 1 1805-06,184). Allerdings ist damit noch nicht gesagt, daß nicht gerade diese klassisch-antiken Spra-
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Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
chen, nämlich „das Griechische und Lateinische [...] uns für exemplarisch gelten müssen" (A. W. SCHLEGEL: VEW11803-04, 353), so daß ihr Studium gegenüber dem anderer Sprachen, etwa der orientalischen, „wegen der näheren Verwandtschaft des Geistes das wichtigere" bleibt (ebd. 354; vgl. Di Cesare 1996b, 165). „Mit Recht hat also [...] das Studium der alten Sprachen vorzugsweise den Namen der Philologie erhalten" (A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04, 354; Kursivierung des Wortes vorzugsweise von mir, J. B., um noch einmal zu betonen, daß nicht >ausschließlich< gemeint ist). Das Vorhaben, Geist und Buchstaben, Philosophie und Philologie in Berührung zu setzen, wurde als der Versuch beschrieben, die Philologie zu einer wissenschaftlichen Disziplin zu machen: „Ehe nicht die Philofophen Grammatiker, oder die Grammatiker Philofophen werden, wird die Grammatik nicht [...] eine pragmatifche Wiffenfchaft und ein Theil der Logik, noch überhaupt eine Wiffenfchaft werden" (F. SCHLEGEL: Athfr 1 7 9 8 , 2 0 0 / 1 7 9 , Nr. 9 2 ) . Zur wissenschaftlichen Disziplin aber muß sie werden, um im frühromantischen Großprojekt einer Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Poesie berücksichtigt und in einem zweiten, entscheidenden Schritt mit der Kunst in Berührung gesetzt werden zu können. Freilich stellt man beim genauen Lesen einschlägiger Textstellen198 fest, daß die Philologie nach Auffassung der Frühromantiker Kunst immer schon ist: „Nur dadurch daß die φλ [Philologie] WISSENSCHAFT wird, kann sie sich als KUNST erhalten" (F. SCHLEGEL: Phlg/1 *1797, 55, Nr. 231; Kursivierung - abweichend vom Originaltext - von mir, J. B.). Es ist die Mehrdeutigkeit des Wortes Kunst, mit der hier gespielt wird. Philologie in der Bedeutung >Lehre vom Buchstaben< meint natürlich vor allem Kunst im Sinne von >Handwerk< (F. SCHLEGEL: Phlg/1 * 1797,46, Nr. 141 ; vgl. auch Anhang II s. v. Buchstabe4). Der Ausdruck ist aber bewußt gewählt, weil er neben der Bedeutung >Handwerk< weitere Assoziationen (nämlich die im frühromantischen Diskurs üblichste Bedeutung von Kunst. >Poiesis, schöpferische Tätigkeit) anklingen läßt: Als Philologe muß man geboren werden (vgl. S. 275), man braucht „Philologischen] Sinn, Geist, Begeisterung, Empfänglichkeit" (F. SCHLEGEL: Phlg/1 *1797,47, Nr. 148), und ebenso ist auch die Fertigkeit des Übersetzens aus anderen Sprachen etwas letztlich Unverfügbares, das nicht umsonst als „Sprachgenie" oder „Genie der Übersetzung" bezeichnet wird (vgl. S. 270). Beides, handwerkli-
198
Ζ. B. F. SCHLEGEL: Phlg/1 »1797,35, Nr. 2; ebd. 36, Nr. 14; ebd. 37, Nr. 31; ebd. 40, Nr. 68; ebd. 44, Nr. 111; ebd. 44, Nr. 117; ebd. 45, Nr. 125; F. SCHLEGEL: Phlg/2 »1797,63, Nr. 39; ebd. 66, Nr. 61; F. SCHLEGEL: ÜdU 1800,339/364 usw.
Zur Synthese von Kunst und Wissenschaft
281
ches Können und Fachwissen einerseits, schöpferische Intuition andererseits, muß zusammentreffen, damit der Philologe wirklich als Künstler bezeichnet werden kann. Diese Einheit von geistiger Anschauung und Liebe des Buchstabens ist nach frühromantischer Auffassung ursprünglich, in der klassischen Antike nämlich, noch vorhanden. In späterer Zeit komme der Geist im Umgang mit dem Buchstaben abhanden; was ursprünglich eins gewesen sei, falle auseinander in empirische philologische Gelehrsamkeit auf der einen und spekulative philosophische «Wissenschaft» auf der anderen Seite. Die Frühromantiker formulieren die Aufgabe, beide wieder zusammenzuführen und also beide, Philosophie und Philologie, (wieder) zur Kunst zu machen. Damit wird auch in diesem Zusammenhang der frühromantische Restitutionsgedanke erkennbar. Er zeigt sich hier wie sonst als wirkungsvoller argumentativer Trick: Indem man etwas Erstrebtes, sei es die Einheit von Natur und Geist, die poetische Sprache oder eben die Philologie als Kunst, als «eigentlich» oder «ursprünglich» schon vorhanden und nur in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform von jenem Zustand der Eigentlichkeit oder Ursprünglichkeit etwas abgekommen darstellt, braucht man nicht etwas noch nie Dagewesenes neu einzuführen, sondern muß lediglich vorgeben, etwas längst Dagewesenes wiederbringen zu wollen. Da aber der Restitutionsgedanke nie eine bloße Neuauflage des Alten meint, sondern vielmehr stets eine rückwärtsgewandte Progression, kann hier auch nicht einfach Kunst und Kunst identisch gesetzt werden: Diejenige Kunst, welche die Philologie immer schon war, ist anders beschaffen als die, die sie werden soll. In erkennbarer Analogie zu den Termini Naturpoesie und Kunstpoesie, die jener das erste, dieser das letzte Stadium der als triadische Progression aufgefaßten Literatur- und auch Sprachgeschichte» bezeichnen, finden daher bei F. Schlegel die Ausdrücke Naturphilologie und Kunstphilologie Verwendung. Natophilologie ist die Philologie in einer Zeit, in der der Mensch mit sich und der Welt noch eins ist, in der Innen und Außen, Gehalt und Form noch übereinstimmen, in der die Beschäftigung mit dem «Buchstaben» eines Textes von selbst auf den «Geist» desselben führt, weshalb sie auch keine eigenen Regeln und Methoden braucht, sondern intuitiv, gleichsam instinktiv erfolgen kann. Dieser Zustand ursprünglicher Einheit geht dadurch verloren, daß beide Aspekte, Geist und Buchstabe, auseinandertreten, sich isolieren, und einer von beiden, nämlich der Buchstabe, nahezu ausschließliche Geltung erlangt. Der Philologie kommt der Geist abhanden, und sie wird von einer ursprünglichen, im Schillerschen Sinne «naiven» Kunst zum reinen Handwerk, zur antiquarischen Detailkrämerei, die jetzt zwar Methoden, aber ausschließlich empirischen Methoden folgt Das Stadium der Vielheit oder Diversität, in das sie damit eingetreten ist, manifestiert sich in geistloser Anhäufung disparater Einzelkenntnisse. Will sich daher
282
Diskurse: «Progressive Universalphilologie»
die Philologie aufs neue mit dem Geist in Berührung zu setzen, so muß sie sich der Disziplin annähern und öffnen, in welche sich jener zurückgezogen hat, und dies ist eben die spekulative «Wissenschaft», die (idealistische) Philosophie. Ebenso wie die Kunstpoesie sich als „Transzendentalpoesie", als selbstreflexive „Poesie der Poesie" darstellt, muß die Kunstphilologie philosophische Philologie, ,,rächen, bestrafen< werden ursprüngliche semantische Gemeinsamkeiten postuliert: ,,[B]eide Bedeutungen [...] fließen aus einer Grundbedeutung und es ist [daher] gewiß nur ein Wort" (TIECK: an A. F. Bemhardi rEnde Juli/Anf. Aug. 17931, VL 282). Anhand von Fällen wie diesem zeigt sich der Gegensatz der frühromantischen und der aufklärerischen Sprachkonzeption in aller Schärfe: Während ein Autor wie Adelung in einem Wort mit zwei gänzlich unterschiedlichen Bedeutungen lieber gleich zwei unterschiedliche, wiewohl gleichklingende Wörter sieht, die man, um ihre Verschiedenheit zum Ausdruck zu bringen, am besten sogar verschieden schreiben sollte (vgl. S. 306, Anm. 208), nehmen die Frühromantiker lieber ein sementiseli disparates mehrdeutiges Wort als zwei monoseme Homonyme an.
348
Anhang I: Zum frühromantischen Sprachgebrauch
Synonyme sind für die Frühromantiker solche Wörter, „deren Sphären beinahe gleich find, auf deren Unterfchied aber nicht reflektirt wird" (BERNHARDI: Spl/2 1803,98). Allerdings können die Unterschiede nicht immer vernachlässigt werden. Spielen sie auch für den an Synthesis und Einheit interessierten philosophisch-theoretischen Sprachgebrauch keine Rolle, so tun sie es hingegen überall dort, wo es auf Details und Nuancen ankommt. Die Heimat solcher Details und Nuancen, der Bereich sinnlich-konkreter Individualität, ist für die Frühromantiker bekanntlich die Poesie. Im poetischen Sprachgebrauch gibt es keine Synonyme, weil „die Wörter einen verschiednen Klang haben, weil dieser Klang uns unwillktlhrlich auf die Bedeutung anspielend erscheint, und ihr also verschiedne Nebenbestimmungen giebt, weil auch die Form, die Ableitung des Wortes und Verwandtschaft mit andern die Art, seinen Sinn zu fassen, affizirt" (A. W. SCHLEGEL: VLK/1 ! 1801-02, 407). Es ist daher „unmöglich, daß die Sphären zweier Worte fich völlig decken, daß ihre Bedeutung ganz gleich sei" (BERNHARDI: Spl/2 1803, 96). Die ausdrucksseitige Verschiedenheit ist Indiz dafür, daß beide Wörter „bei einem verschiedenen finnlichen Anlaß entftanden, und daß demnach in der einen Sphäre ein Merkmal aufgenommen fei, welches der andern fehle, oder an deffen Stelle fie ein anderes habe, welches der erften mangele" (ebd.). Durch die Gegenüberstellung von philosophisch-theoretischem und poetischem Sprachgebrauch sind die beiden Seiten der menschlichen Existenz angesprochen, die A. W. Schlegel als Vernunft und Phantasie gefaßt und als die eine „gemeinschaftliche Grundkraft unsers Wesens" beschrieben hat (VLK/2 ! 1802-03, 525). Die Vernunft ist das auf Einheit, die Phantasie das auf Mannigfaltigkeit ausgehende Vermögen. Beide, Einheit und Mannigfaltigkeit, stehen in einem Prozeß der dynamischen Wechselwirkung. Zwei Wörter können für die Frühromantiker dasselbe bedeuten und zugleich nicht dasselbe - je nachdem, ob man sie unter allgemeinlogischem oder unter poetischem Aspekt betrachtet. Vor dem Hintergrund dieser Synonymieauffassung zeigen sich die synonymischen Wortverwendungen der Frühromantiker als praktische Umsetzung der frühromantischen Synthesiskonzeption: des Programms einer in doppeltem Sinne verstandenen «Aufhebung» von Gegensätzen. Die Möglichkeit, einen Gegenstand oder Sachverhalt durch verschiedene Wörter ausdrücken zu können, wird folgerichtig explizit begrüßt: „Mehre Nahmen find einer Idee vortheilhaft" (NOVALIS: Blstb 1798, 79/425, Nr. 29). Die unterschiedlichen, jeweils unterschiedlich konnotierten Bezeichnungen bewirken eine Erweiterung der Sicht eines Gegenstands oder Sachverhaltes und ermöglichen es, ihn mit anderen Gegenständen oder Sachverhalten in Beziehung zu setzen, ohne daß dadurch seine spezifischen Besonderheiten aus den Augen verloren werden müssen.
Zum Verhältnis von Sprachreflexion und Sprachverwendung
349
Synonymie und Polysemie hängen im frühromantischen Sprachgebrauch eng zusammen - eine Tatsache, deren sich die Autoren selbst bewußt sind: „Man muß die Lehre von den Synonymen und von der Vielheit der Bedeutungen zusammen nehmen um sich richtige Vorstellungen von der Natur eines Wortes zu machen" (SCHLEIERMACHER: Z H * 1 8 0 5 / 0 9 , 3 9 ) .
Vor allem hinsichtlich der semantischen Relationen sind Wechselwirkungen zwischen Polysemie und Synonymie festzustellen. Nicht nur hat ein Wort mehrere Bedeutungen, die untereinander in bestimmten Relationen stehen können, sondern es ist zugleich bedeutungsverwandt mit anderen Wörtern, die meist ebenfalls mehrere, ihrerseits relational verknüpfte Bedeutungen aufweisen können. So besteht beispielsweise die oben angeführte Antisemie von heiter3 und heiter} nicht nur in der partiellen Gegensätzlichkeit der Bedeutungserläuterungen (>harmonisch, ganzheitlich< vs. >bunt, vielfältig«), sondern auch darin, daß es zu heiter in den beiden hier vorgestellten Bedeutungen Synonyme gibt, die in bestimmten Bedeutungen einander ausschließen. Die Wörter klassisch und romantisch sind Antonyme (klassisch wird antonym zu romantisch5/9, klassisch4 antonym zu romantisch2 verwendet). Sie sind zugleich Synonyme zu heiter: Im Zusammenhang mit heiter3 wird der Gegenstandsbereich der klassischeny4 bzw. klassizistischen Kunst angesprochen; mit heiteri wird im Gegensatz dazu ein bestimmter Zug der romantischen^,^ 228 Kunst bezeichnet. Die Wörter klassisch und romantisch schließen einander ihrerseits jedoch nicht völlig aus: Als romantisch(2) wird nicht nur die «moderne» Kunst (also die abendländische Kunst seit dem Mittelalter) im Gegensatz zur klassisch-antiken bezeichnet, sondern auch diejenige Kunst kann romantisch(9) heißen, die Züge der «modernen» und der klassisch-antiken verbindet. In bestimmten Kontexten kann also romantisch nicht nur antonym zu klassisch verwendet werden, sondern auch hyperonym: Es umfaßt semantische Aspekte des «Klassischen» mit. Ähnliches gilt für das zu romantisch weitgehend synonyme Adjektiv progressiv. Es steht einerseits im Gegensatz zu klassisch, insofern es auf die Unabgeschlossenheit der «modernen» Kunst verweist; andererseits kann, wie gezeigt, derjenige Autor als klassisch bezeichnet werden, der „seine Sprache weiter bringt, sie wahrhaft bildet" (vgl. S. 252). Das Wort klassisch(1) ist damit partiell bedeutungsoffen zu progressiv(1.3), das wiederum mit romantisch n (>unabgeschlossen, unendlich perfektibel; umfassend, universal, allseitig«) semantisch korreliert.
228
Streng genommen handelt es sich zumindest bei klassisch nur um ein indirektes Synonym: Im Gegensalz zu romantisch ist klassisch nicht im unmittelbaren Kontext von heiter belegt. Diese Belegsituation ist allerdings eher zufällig zu nennen, da das onomasiologische Feld (die Gesamtheit der bedeutungsverwandten und kontextcharakteristischen Wörter) von heiter3 und klassisch„ partiell identisch ist.
350
Anhang I: Zum frühromantischen Sprachgebrauch
Durch solche und ähnliche Wort- und Bedeutungsrelationen, die sich im frühromantischen Sprachgebrauch mit auffälliger Häufigkeit finden, werden auch die zum Ausdruck gebrachten Gegensätze relativiert. Sie bleiben aber, und dies ist für eine angemessene Sicht der Frühromantik ebenso wichtig, gleichwohl erhalten, weil die Synonymien immer nur partiell sind. Diese Tatsache ist den Autoren selbst bewußt und liegt durchaus in ihrer Absicht.229 Die frühromantische Weltsicht ist ein komplexes Ganzes, in dem die Aspekte der Einheit und der Vielfalt gleichermaßen wichtig und unabdingbar sind. Entsprechendes gilt fìlr den frühromantischen Sprachgebrauch: Alles hängt semantisch mit allem zusammen und die Gesamtheit der Bedeutungen aller Schlüsselwörter des frühromantischen Diskurses ließe sich, bei Betonung ihrer Bedeutungsähnlichkeiten und Vernachlässigung aller Bedeutungsunterschiede, auf jenes All-Eine reduzieren, um das die frühromantische Theorie beständig kreist, ohne es doch für positiv erreichbar zu halten. Daher besteht auch das Eigentümliche der frühromantischen Sprachauffassung darin, daß diese Reduktion weder als durchführbar noch als wünschenswert betrachtet wird. Fielen alle Bedeutungen in eine zusammen, bedürfte es bloß eines einzigen Wortes, um alles zu sagen, so wäre Sprache weder möglich noch nötig. Die frühromantische Sprachtheorie will aber die Sprache nicht abschaffen, sondern setzt sie im Gegenteil absolut. Das Unsagbare soll nicht verschwiegen, sondern gerade gesagt werden - eine Aufgabe, an der die frühromantische Sprachpraxis faktisch immer wieder scheitert, und die sie allenfalls durch Annäherung, ex negativo erfüllen kann: Indem die Identität von Einheit und Mannigfaltigkeit, Gleichheit und Gegensätzlichkeit exemplarisch, in der Semantik des konkreten Einzelwortes vorgeführt wird.
Ansatz zu einer lexikographischen Beschreibung Die bewußt vieldeutige Sprachverwendung der Frühromantiker macht den interpretierenden Umgang mit ihren Texten schwierig. Man hat stets damit zu rechnen, es könnten in einer bestimmten Einzelverwendung eines Wortes mehr semantische Nuancen anklingen, als sich durch den nächsten oder selbst nur den näheren Kontext erschließen lassen.
229
Die Wörter klassisch und progressiv, um beim Beispiel zu bleiben, werden häufig synonym zu antik bzw. modern verwendet. Dennoch wird auf den Unterschied hingewiesen: „Das Classische und Progreßive paßt nur nach Mehr oder Weniger auf Antik und Modern; relativ, nicht absolut" (F. SCHLEGEL: P h L / 3 » 1 7 9 8 , 1 2 4 , Nr. 2 1 ) .
Ansatz zu einer lexikographischen Beschreibung
351
Ein beliebig gewähltes Beispiel verdeutlicht das Problem: „Das Land der Poesie, das romantische Morgenland, hat euch mit seiner süßen Wehmut begrüßt" (NOVALIS: HvO Ι» 1 7 9 9 - 1 8 0 0 ; 1 8 0 2 1 , 2 8 3 ) . - L a n d der Poesie scheint hier im Sinne von PoesiemA gemeint zu sein und soviel zu heißen wie >märchenhaft-idealisches Lande ; romantisch seinerseits wäre dann im Sinne von romantischg (>idealischdas in der Poesie), (in Gedichten und Romanen) beschriebene Land< sein, so daß auch romantisch so viel bedeutete wie >in Romanen geschildert bzw. entworfen< (romantisch3). Letztere Möglichkeit wäre allein schon deswegen nicht von der Hand zu weisen, weil die hier sprechende Figur (Klingsohr) ein Dichter ist und auch sonst die handwerklich-technische Seite der Poesie betont (vgl. NOVALIS: HVO, 2 8 2 ) . Tatsächlich ist hier offensichtlich beides gemeint; das Beispiel führt vor Augen, daß eine scharfe Abgrenzung von Bedeutungen schwierig, im Einzelfall sogar völlig unmöglich ist. Es bedarf daher einer umfassenden, nicht nur auf das semantische Denotat, sondern ebenso auf das Konnotat ausgerichteten Untersuchung des frühromantischen Wortgebrauchs, damit man möglichst viele Wortverwendungskontexte (und damit potentielle Bedeutungsnuancen) im Blick hat und für die Interpretation der Einzelstelle in Erwägung ziehen kann. Für ein solches Vorhaben, bei dem einerseits eine möglichst große Materialmenge bewältigt, andererseits ein Höchstmaß an Übersichtlichkeit erreicht werden muß, bietet sich die Methode einer lexikographischen Untersuchung an. Freilich steht Wörterbucharbeit seit jeher in dem Ruf, nur geistlose Sammeltätigkeit, nicht eigenständige wissenschaftliche Leistung zu sein. Verächtliche Urteile wie das Verdikt Lord Monboddos, der lieber Hungers sterben als Lexikograph werden will230,findensich bei manchen Literatur- und sogar Sprachwissenschaftlern bis auf den heutigen Tag. Selbst wenn man aber berücksichtigt, daß, wie die neuere Wörterbuchforschung gezeigt hat, die lexikographische Arbeit von der Exzerption bis hin zum Wörterbuchartikel eine Fülle von philologischen und hermeneutischen Anforderungen stellt (vgl. ζ. B. Reichmann 1990a und Lemberg 1996), könnte doch eine lexikographische Untersuchung speziell zur Frühromantik auf prinzipielle Vorbehalte stoßen: Sie könnte sozusagen als contradictio in adjecto aufgefaßt werden. Denn Wörterbuchartikel gelten per definitionem als systematisch, wohingegen die Frühromantiker eine „fragmentarische Genialität", genannt „Witz" (F. SCHLEGEL:
,,[T]here are many works useful, and even necessary, which require no genius at all; and dictionarymaking is one of these. [...] to compile a dictionary of a barbarous language, such as all the modem are, compared with the learned, is a work which requires neither genius nor learning, and which, a man of real genius, rather than undertake, would choose to die of hunger, the most cruel, it is said, of all deaths" (MONBODDO: OPL/4 1789, 273 f.).
352
Anhang I: Zum frühromantischen Sprachgebrauch
Lyfr 1797,148, Nr. 9), propagieren und sich gegen jede Art von totalitärem Zugriff gerade zur Wehr setzen: Selbst Aberglaube ist in ihren Augen immer noch „besser als S y s t e m g 1 a u b e" (WACKENRODER: HKK/9 1797 [1796], 89).231 Tatsache ist, daß unter genau diesem Aspekt viele Autoren im Umfeld der Frühromantik der Lexikographie recht skeptisch gegenüberstehen, wie sich anhand der Einstellung gegenüber dem zu Ende des 18. Jahrhunderts rennomiertesten deutschen Wörterbuch zeigen läßt: Man könne nicht sagen, so Jean Paul (VSÄ 1804, 269/159), „der lexikographifche Adelung ftecke voll Witz". Der Grund für solche Ablehnung ist wohl hauptsächlich in der hermeneutischen Ausrichtung der frühromantischen Theorie zu suchen: Wörterbücher werden in erster Linie als Hilfsmittel für das Verständnis von Texten gesehen, und zwar als unzulängliche Hilfsmittel. Zum einen liegt das daran, daß die Interpretation von Texten nach Schleiermacher nicht nur «grammatische», sondern auch «technische» Interpretation sein muß, d. h. nicht nur vor dem Hintergrund des Sprachsystems bzw. einer Sprachnorm, sondern auch vor dem Hintergrund der Persönlichkeit des Autors, also unter idiolektalem Aspekt erfolgen soll. Das zeitübliche - einseitige - Bild vom Wörterbuch ist das eines langue-Wörterbuches, das als solches lediglich für die «grammatische» Interpretation brauchbar ist. - Der zweite Kritikpunkt beruht auf einem Vorurteil über lexikographische Arbeit, das fur die Mehrzahl der damals vorliegenden Wörterbücher wohl zutreffen mag: „Der Lexikograph ist [...] noch gar kein Philolog", weil er „Kritik, Hermeneutik [...] und selbst Gram.fmatik] OBERSPRINGT und ohne das Alles gradezu übersetzt" (F. SCHLEGEL: Phlg/1 *1797, 49, Nr. 173). Der lexikographische Anspruch gehe dahin, die Bedeutungen der Wörter anzugeben. Dies aber sei unangemessen, sofern sich nicht der Lexikograph „des Geistes s[eine]r Sprache vollkommen bemächtigt" habe (SCHLEIERMACHER: HEE *1810\19,62 f.) und die Wörterbücher „zu einer systematischen Darstellung der Anschauungsweise der Sprache alle Data" enthielten (ebd. 63; Hervorhebung von mir, J. B.). Die Funktion von Wörterbüchern im Rahmen der hermeneutischen Beschäftigung mit Texten kann nach Schleiermachers Ansicht nur die sein, „den Reichthum eigener Analogie des Besonderen entw[eder] überhaupt oder für den Moment zu ersezen" (SCHLEIERMACHER: HEE * 1810\19, 62), d. h. vergleichbare Stellen zu liefern, die der Interpretierende aus eigenem Studium nicht kennt. Die „erste Regel" für die Benutzung von Wörterbüchern bei Übersetzung oder Interpretation bestehe darin, sie nur als Findebücher solcher Parallelstellen zu gebrauchen und „alles was [...] Urtheil ist",
231
Vgl. auch Pikulik (1992, 9): Die Frühromantiker, als „kritisch-freie und ins Fragmentarische, Systemlose verliebte Geister, setzen [...] jedem Systematisierungsversuch beträchtlichen Widerstand entgegen".
Ansatz zu einer lexikographischen Beschreibung
353
ζ. B. die Angabe von Bedeutungen, „vorläufig zu vernichten" (ebd.), d. h. bei der Deutung unberücksichtigt zu lassen. Die beschriebene Skepsis der Frühromantiker gegenüber Wörterbüchern könnte man nun mit einer gewissen Folgerichtigkeit auch dort zum Ausdruck bringen, wo lexikographische Methoden auf die Texte ebendieser Wörterbuchskeptiker angewendet werden sollen. Gerade die Individualität des frühromantischen Sprachgebrauchs, der sich auf keine Weise durch systematisch-allgemeine Beschreibungsschemata fassen läßt, erfordere, so könnte man argumentieren, immer «technische» Interpretation, also einen Stellenkommentar. Das Gegenargument ist einfach: Bei aller scheinbaren semantischen Chaotik und Neigung zu nur einmaliger, situationsabhängiger Verwendung von Wörtern in einer bestimmten Weise läßt doch der frühromantische Sprachgebrauch im ganzen232 eine nicht geringe Stringenz und Systematizität erkennen und rechtfertigt von daher jederzeit die Beschreibung durch ein Wörterbuch. Natürlich durch ein Wörterbuch besonderen Zuschnitts: «Grammatische» und «technische» Interpretation sind bei Schleiermacher ja keine Alternativen, sondern Komplemente. Es kann nicht darum gehen, die eine durch die andere zu ersetzen, sondern allein darum, beide zusammen und in Ergänzung zueinander durchzuführen. Durch eine solche Aufgabenstellung wäre freilich die Lexikographie um 1800 mit ihrer traditionellen Sicht des Wörterbuchs als langue-Wörterbuch wohl überfordert gewesen. Mittlerweile hat aber die Lexikographie Fortschritte gemacht. Es gibt heutzutage Wörterbücher, die sowohl für die «grammatische» wie für die «technische» Interpretation brauchbar sind. Man kann heutzutage auch Wörterbuchstrukturen erarbeiten, die eine flexible Recherche unter verschiedensten Aspekten zulassen, selbst eine ganz unsystematische, «schweifende» Benutzung, bei der man durch explizite oder implizite Verweise von einer Position zu anderen, vielleicht entferntliegenden Positionen, von einer Information zu anderen, vielleicht überraschenden Informationen gelangen kann. Kurz gesagt, es ist heutzutage möglich, ein Wörterbuch gemäß der frühromantischen Idealvorstellung zu machen: „Lexika sollten witzig sein" (F. SCHLEGEL: FLP •1797, 124, Nr. 482). Natürlich kann ein solches Wörterbuch nicht geradezu ein langue-Wörterbuch, sondern muß ein Textwörterbuch sein (Wiegand 1993, 231 f.), womit nicht ein Wörterbuch zu einem Einzeltext, ein sogenanntes Werkwörterbuch gemeint ist, sondern eins zu einer im konkreten Einzelfall jeweils näher zu bestimmenden Gruppe 232
Daß man es tatsächlich mit einem diskursspezifischen Sprachgebrauch, nicht nur mit einer Menge von idiolektalen Varietäten zu tun hat, macht bereits die frühromantische Praxis der gesprächsweisen und brieflichen Symphilosophie deutlich: Die Autoren schreiben nicht in der Hauptsache monologisch nur für sich und die Schublade, sondern tauschen ihre Aufsätze und selbst ihre Notizbücher untereinander aus.
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Anhang I: Zum frühromantischen Sprachgebrauch
von Texten. Auf dieser näheren Bestimmung der Textgruppe, die das Quellenkorpus bildet, beruht dann die genauere Wörterbuchklassifikation. Im gegenwärtigen Fall kann von einem Diskurswörterbuch die Rede sein, wobei ich Diskurs im oben (S. 61 f.) erläuterten Sinne als eine bestimmte räumlich und zeitlich situierte (d. h. natürlich: personengebundene) Art und Weise verstehe, bestimmte Themen oder Gegenstände zu behandeln, mit anderen Worten: sie in topische Zusammenhänge mit bestimmten anderen Themen oder Gegenständen zu bringen und bestimmte Methoden, Darstellungsweisen, stereotype Denk- und Bewertungsmuster auf sie anzuwenden. Diskurslexikographie ist somit nicht gleichbedeutend mit Autorenlexikographie (auch dann nicht, wenn man letztere als lexikographische Beschreibung der Texte nicht nur eines einzigen, sondern mehrerer Autoren versteht), weil ein Autor thematisch-inhaltlich nicht notwendig mit allen seinen Werken an einem bestimmten Diskurs teilnehmen muß, und auch weil ein Diskurs, wie am Beispiel des frühromantischen ersichtlich, zeitlich so gefaßt werden kann, daß nicht alle Werke eines Autors in die zu beschreibende Zeitspanne fallen. - Diskurslexikographie ist ebensowenig gleichbedeutend mit Textsortenlexikographie, weil sie sich weder mit allen zu einer bestimmten Textsorte gehörenden Texten eines bestimmten Zeitraums beschäftigen, noch sich auf eine einzige Textsorte beschränken muß. Bereits an anderer Stelle (Bär 1998a) habe ich ausführlich dargelegt, wie ein Diskurswörterbuch zur deutschen Frühromantik aussehen könnte - ein Wörterbuch, das den erläuterten Problemen gewachsen ist und gemäß Friedrich Schlegels Postulat die nötige Systematizität mit der nötigen Systemlosigkeit verbindet.233 Einzelheiten müssen hier nicht wiederholt werden.234 Es genügt ein kurzer Überblick, der für die Benutzung der im folgenden (Anhang II) vorgestellten Wortartikel hilfreich sein mag.
Zur Struktur der Wortartikel: Hinweise fur die Benutzung Die Artikel gliedern sich jeweils in zwei Hauptabschnitte: In einen Allgemeinen Teil, der sich auf die Wortbedeutung in ihrer Gesamtheit bezieht, und in einen Besonderen Teil, in dem die Einzelbedeutungen der Reihe nach erläutert werden.
233
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„Esiit gleich t&dtlich fur den Geift, ein Syftem zu haben, und keins zu haben. Er wird fich alio wohl entfchließen raüßen, beydes zu verbinden" (F. SCHLEGEL: Athfr 1798,191/173, Nr. 53). Nicht unterbleiben soll allerdings ein Hinweis auf die Tatsache, daß die hier vorgestellten Überlegungen und Entwürfe Entscheidendes den lexikographischen und lexikographietheoretischen Arbeiten Oskar Reichmanns verdanken und sich methodisch eng an das Vorbild seines Frühneuhochdeutschen Wörterbuches anschließen (zu Einzelheiten vgl. Bär 1998a).
Zur Struktur der Wortartikel: Hinweise für die Benutzung
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Allgemeiner Teil: Jeder Wortartikel wird durch ein (halbfett gesetztes) Lemma eingeleitet, das gegebenenfalls durch Angaben zu Wortvarianten235 ergänzt werden kann. Es folgen Angaben zur Wortart und Flexionsmorphologie236 sowie eine Zusammenstellung der Derivata und Komposita, die von dem in ihm behandelten Wort abgeleitet bzw. mit diesem gebildet sind. Im Anschluß an diesen ersten, gewissermaßen grammatischen Abschnitt des Allgemeinen Teils finden sich, wo dies für das Verständnis der Wortsemantik im ganzen oder bestimmter Einzelbedeutungen hilfreich ist, Anmerkungen zur Etymologie und Wortgeschichte sowie zur Wortverwendung und zur Gliederung des semantischen Feldes. Durch sie soll in einem ersten allgemeinen Zugriff das Spektrum des Wortgebrauchs abgesteckt und gegebenenfalls eine Erläuterung möglicher Funktionen des Wortes im Rahmen der frühromantischen Theorie (d. h. seiner inhaltlich-konzeptionellen Verortung) vorgenommen werden. - Bei prominenten Wörtern wie Poesie, Ironie oder romantisch, zu denen in der Vergangenheit bereits gearbeitet wurde,findensich darüber hinaus Hinweise auf ausgewählte Forschungsliteratur. Zur leichteren Übersicht enthält jeder Artikel am Ende des Allgemeinen Teils eine kurzgefaßte Zusammenstellung der Einzelbedeutungen, die durch Petitsatz und einen Rahmen optisch hervorgehoben wird. Sie fällt dadurch unmittelbar in den Blick und ermöglicht eine rasche Orientierung über den Artikel als ganzen sowie das Auffinden einzelner Bedeutungspositionen. Besonderer Teil: Dieser Teil des Wörterbuchartikels besteht aus den Bedeutungspositionen, deren Anzahl sich nach der Anzahl der einem Wort zugeschriebenen Bedeutungen richtet. Jede Bedeutungsposition besteht aus drei verschiedenen Abschnitten: a) der Bedeutungserläuterung, b) Angaben zur paradigmatischen und syntagmatischen Relation und c) dem Beleg(stellen)block; diese Abschnitte wiederholen sich pro Bedeutungsposition in der aufgeführten Reihenfolge.
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AJs Wortvarianten werden hier alle in den Quellentexten belegten Erscheinungsformen von Wörtern bezeichnet, die von der gängigen Norm abweichen. Angegeben werden sie allerdings nur dann, wenn ihr Voikommen eine varietätenspezifische Systematik aufweist, d. h. als idiolektal, textsortenspezifisch oder regelhaft situations- bzw. kontextbedingt erkennbar ist, und wenn die Variante nicht nur graphisch (z. B. Phantasie vs. Fantasie), sondern auch lautlich relevant ist (z. B. Buchstab vs. Buchstabe, Organism vs. Organismus). Die Form dieser Angaben ist standardisiert: Bei Substantiven folgt im Anschluß an die Wortvariantenangabe, bzw. (wo diese fehlt) direkt im Anschluß an das Lemma und durch Komma von der vorigen Position getrennt die Angabe des Artikels; davon durch Semikolon getrennt die Angabe der Flexionsendungen im Genitiv Singular und Nominativ Plural. Das Nullmorphem wird durch das Angabesymbol Θ bezeichnet. Bei Adjektiven wird die Wortart durch die Abkürzung/!^., bei Verben die Wortart und Valenz (transitiv bzw. intransitiv) durch die Abkürzungen V. tr. bzw. V. intr. angegeben Angaben zur Komparation bzw. Konjugation werden nur dann gemacht, wenn die Flexionsformen systematisch von der heutigen Norm abweichen.
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Anhang I: Zum frilhromantischen Sprachgebrauch
Zu a): Die Bedeutungserläuterung ist das zentrale Anliegen des Bedeutungswörterbuches. Sie wird hier gemäß Reichmann (1989,84) verstanden und besteht dementsprechend mindestens aus einer von umgekehrten einfachen französischen Anführungszeichen (>a< eines Wortes χ läßt sich von einer bestimmten Bedeutung >b< desselben Wortes nach dieser Auffassung allein dadurch abgrenzen, daß man die jeweiligen Umgebungen von x. und xb einander gegenüberstellt und spezifische Unterschiede zwischen beiden Umgebungen herausarbeitet. Als Kriterium für den Ansatz einer Einzelbedeutung gilt daher, daß sich für ein Wort „(1 ) je besondere onomasiologische Feldzusammenhänge und/oder (2) je besondere Gegensatzwörter und/oder (3) je besondere syntagmatische Verbindungen und/oder (4) Wortbildungsparallelen und/oder (5) Entsprechungen im semasiologischen Feld anderer Wörter nachweisen lassen" müssen (Reichmann 1989,111 ; zur näheren Erläuterung und theoretischen Begründung vgl. ebd. 111 ff). Damit ist freilich noch nicht gesagt, daß sich Bedeutungen immer klar voneinander unterscheiden lassen (vgl. ebd. 112 ff). Im Gegenteil ergibt sich bei nahezu allen für die frühromantische Gedankenarbeit relevanten Ausdrücken das Problem einer trennscharfen Gliederung des Bedeutungsspektrums. Für eine semantische Beschreibung des frühromantischen Sprachgebrauchs gilt in besonderer Weise die prinzipielle Tatsache, daß jede Abgrenzung einzelner Wortbedeutungen immer nur eine „mit anderen Gründen auch anders mögliche Gliederung eines Kontinuums durch den Lexikographen" ist (ebd. 156). Das Problem der Gliederung eines semantischen Feldes ist das Problem der Beleginterpretation. Auch wenn sich in der Regel eine hinreichend große Anzahl monose-
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Anhang I: Zum frühromantischen Sprachgebrauch
mierbarer Belege findet, die in ihrer Gesamtheit einen plausiblen Bedeutungsansatz ermöglichen, so ließe sich in vielen anderen Fällen die Zuordnung eines und desselben Beleges zu zwei oder mehr der angesetzten Bedeutungen mit jeweils gleich guten Gründen vertreten. Eine der größten Anforderungen, die frühromantische Texte an eine lexikographisch-semantische Beschreibung stellen, ist daher die Entwicklung einer praktikablen Methode des Umgangs mit mehrdeutigen Belegen, durch welche es möglich wird, die Offenheit der angesetzten Bedeutungen zueinander im konkreten Einzelfall nachvollziehbar zu machen. Die vorgeschlagene Lösung besteht darin, solche Belege tatsächlich als Belege für unterschiedliche Bedeutungen zu interpretieren und auch zu präsentieren. Zur Vermeidung redundanter Mehrfachzitate wird jeder Beleg nur ein einziges Mal zitiert und an allen anderen Bedeutungspositionen, denen er zugeordnet wurde, nur durch Angabe der Belegstelle aufgeführt. Um diese Praxis in jedem Einzelfall nachvollziehbar zu machen, wurde eine eigene Kommentarform entwickelt, die als Minimalkommentar zur Belegbedeutung (Bär 1998a, 189 f.) bezeichnet werden kann: Ein als nicht monosemierbar aufgefaßtes Wort wird im Belegtext durch eine numerische Angabe derjenigen Bedeutungspositionen gekennzeichnet, für die es nach Ansicht des Lexikographen als Beleg dienen könnte. Diese Angabe erfolgt mittels tiefgestellter, petit gesetzter arabischer Ziffern, die, um ihren Kommentar-Status und ihre Qualität als Hinzufügung des Lexikographen zum Belegtext zu erkennen zu geben, in eckigen Klammem stehen und (im Unterschied zum kursiv gesetzten Belegtext) recte gesetzt sind. Am Beispiel der oben angeführten Novalis-Stelle: Das Land derPoesie^ml^, das romantische^^ Morgenland, hat euch mit seiner süßen Wehmut begrüßt
[...]. NOVALIS: H V O ' » 1 7 9 9 - 1 8 0 0 ; 1 8 0 2 \ 2 8 3 .
In der gleichen Weise ist es natürlich auch möglich, einen Beleg zu kommentieren, in dem dasselbe Wort mehrfach, und zwar jeweils mehr oder weniger eindeutig gebraucht ist, die Bedeutungen selbst aber differieren: Das einzelne tönende Element einer Sprache nennen wir in Zukunft einen Buchftab^^ [...]. Auch fchüeßen wir durch die Beftimmung tönendes Element, das ßchtbare orthographifche Zeichen deJTelben, welches ebenfalls oñmit dem Nahmen: Buchftab^, bezeichnet wird, von unterer Unterfuchung aus. Die Summe der tönenden Elemente heißt das Alphabet. BERNHARDI: Spl/2 1803,254.
Der Nachweis des Belegs unter der oder den jeweils anderen Bedeutungsposition(en) mittels einer Belegstellenangabe wird durch eine auf den Minimalkommentar zur Belegbedeutung als Verweisadresse bezogene Verweisangabe ergänzt, so daß die vom Lexikographen angenommene Mehrdeutigkeit eines Beleges in jedem Fall und unter jeder einzelnen der unterschiedlichen Bedeutungen, denen er zugeordnet wurde, erkennbar ist. Eine solche Verweisangabe besteht immer aus zwei Angabe-
Zur Struktur der Wortartikel: Hinweise für die Benutzung
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dementen, nämlich aus einem Verweiszeichen und einer Verweisadressenangabe (vgl. Wiegand 1996, 20). Unterschieden werden drei Möglichkeiten: a) Der Belegtext enthält einen Wortbeleg, der vom Lexikographen als polysem interpretiert wurde. In diesem Fall besteht das Verweiszeichen aus einem Doppelpfeil (=»). Am Beispiel: Der Novalis-Beleg {...das romantische Morgenland..) ist unter romantisch8 zitiert. Die Belegstelle wird unter romantisch3 ebenfalls angegeben und durch die in runde Klammern gesetzte Verweisangabe => 8 ergänzt: NOVALIS: H V O » 1 7 9 9 - 1 8 0 0 ; 1 8 0 2 \ 2 8 3
8).
b) Derselbe Belegtext enthält mehrere Belege desselben Wortes, die jeweils als monosem interpretiert, aber unterschiedlichen Bedeutungspositionen zugeordnet wurden, oder er enthält Belege verschiedener, jeweils in eigenen Artikeln behandelter Wörter. In beiden Fällen besteht das Verweiszeichen aus einem einfachen Pfeil (-). Wiederum am Beispiel: Der Bemhardi-Beleg (Das einzelne tönende Element einer Sprache..) ist unter Buchstabe3 zitiert. Die Belegstelle wird unter Buchstabe x ebenfalls angegeben und durch die in runde Klammern gesetzte Verweisangabe - 3 ergänzt: BERNHARDI: Spl/2 1803, 254 ( - 3).
Entsprechend wird der unter romantisch8 zitierte Novalis-Beleg für das Wort romantisch auch als Beleg für das Wort Poesie genutzt; die Belegstelle wird auch unter Poesie4, Poesie,, und Poesieu angegeben und durch die in runde Klammern gesetzte Verweisangabe - romantisch8 ergänzt: NOVALIS: H V O R* 1 7 9 9 - 1 8 0 0 ; 1 8 0 2 ' , 2 8 3 ( -
romantisch„).
c) Der Belegtext enthält einen Wortbeleg, der vom Lexikographen als polysem interpretiert, aber nicht fllr zitierbedürftig befunden wurde (ζ. B. weil der Beleg im Vergleich zu anderen Belegen redundant wäre). Die Belegstelle wird dann unter verschiedenen Bedeutungspositionen angegeben. Auf die angesetzte Mehrdeutigkeit wird jeweils hingewiesen, und zwar durch einen doppelten Doppelpfeil (). Dieses Verweiszeichen gibt zugleich zu verstehen, daß ein Aufsuchen der Verweisadresse überflüssig ist, weil sich auch dort lediglich eine Belegstellenangabe, kein Belegzitat findet. Der Minimalkommentar zur Belegbedeutung wird damit zu einem multifixnktionalen lexikographischen Instrument. Die numerische Angabe der Bedeutungsposition dient 1) als Interpretationshilfe, 2) als allenthalben präsenter Hinweis auf die PolysemiefrühromantischerWortverwendung, 3) als Verweisangabe, die auf anderswo zu findende Informationen hinweist, und damit zugleich 4) als Hilfsmittel zur optimalen Nutzung des Belegmaterials, da jeder Beleg auf diese Weise nur einmal zi-
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Anhang I: Zum frühromantischen Sprachgebrauch
tiert werden muß - sogenannte «Inzuchtbelege» (zur Sache vgl. Speer 1994,187) können vermieden werden. Am Beispiel eines Auszugs aus dem Artikel Buchstabe (Abb. 5) lassen sich die vorstehend erläuterten Artikelstrukturen synoptisch zusammenfassen. Dabei kann zugleich die drucktechnische Gestaltung der Artikelgliederung anschaulich gemacht werden. Zusätzlich zu dieser regulären Artikelform gibt es die Form des Mehrfachartikels, also der simultanen Darstellung der Semantik verschiedener Wörter, die weitgehend (in der überwiegenden Mehrzahl der Belege) synonym sind. Mithilfe dieser Artikelform können auch solche theoretischen Konzeptionen lexikographisch beschrieben werden, die nicht durch ein einziges Schlagwort, sondern durch mehrere repräsentiert werden: Während man die frühromantische Poesieauffassung oder Metaphernkonzeption hinreichend in Wörterbuchartikeln zu den Wörtern Poesie und Metapher fassen kann, muß eine Beschreibung der frühromantischen Dialektauffassung oder Organismuskonzeption nicht nur Belege für die Wörter Dialekt bzw. Organismus, sondern auch filr die weitgehend synonymen Wörter Mundart bzw. Organisation berücksichtigen. Der Mehrfachartikel (faktisch handelt es sich in der nachfolgend präsentierten Artikelstrecke allein um Doppelartikel) beschreibt lexikologisch gesehen nicht das Bedeutungsfeld eines Wortes, sondern das als konzeptuelles Feld oder Begriffsfeld bezeichenbare semantische Spektrum eines onomasiologischen Minimalfeldes, dessen Einzelwörter durch entsprechend mehrere Lemmata repräsentiert sind. Die Artikelstruktur ist derjenigen der Einzelwortartikel genau analog. Statt aus verschiedenen Bedeutungspositionen besteht der Besondere Teil aus verschiedenen Begriffspositionen; die Begriffsangabe erfolgt im Unterschied zur Bedeutungsangabe in einfachen französischen Anfuhrungszeichen (o).239 Unter Konzept/Begriff (zur Terminologie vgl. Anm. 174) wird hier keine mentale oder kognitive Größe hinter den verschiedenen Einzelwörtern verstanden, die unabhängig von der ausdrucksseitigen Fassung durch dieses oder jenes Einzelwort vorhanden wäre, sondern allein das Produkt einer lexikographischen Meta-Abstraktion: Verschiedene Bedeutungen einzelner Wörter (die ihrerseits aus dem Vergleich verschiedener einzelbelegspezifischer Wortverwendungen abstrahiert sind) werden miteinander verglichen und auf einen gemeinsamen semantischen Nenner gebracht.
239
Das hier vorgestellte Verfahren ist gegenüber Bär 1997 und 1998a modifiziert: Dort hatte ich zwischen Angabesymbolen für Begriffsangaben () und für Bedeutungsangaben (>fabsträktesygraphisches Zeichen*"1 jim Unterschied zurj_ Angaben von bedeutungs¡Hieroglyphe, die als zumindest noch teilweise motiviertes,] rverwandten Wörtern und ¡s^mbojisches Schriflzeichenj?edeutet wird.J" [Paraphrasen, typischen ( ¡Bdv.: Hieroglyphe ,~Zeichenj-\Pipil.: ^Itfsclïês'ZëicÎïên) ~lun¡*,IZuchslabenschrJfiì
sicftihares
Τ
orthogra-
Syntagmen, kontextcharakteristischen rWörtern und Syntagmen, Wortbil-
~T
~ dungen! ¡Man "bediente sich [in Aegypten]einer doppelten Schrift: einer gemeinen -Belegtext 'mit Bachstaben, und einer heiligen, mysteriösen, die in sinnbildlichen Figu-* Jrei^ockr_Andeutungen_ ^onjl^^ichepjnjheroglyphen^ bestand.jÄ W SCHLEGEL ~VEW "8Ö3"-M7 Í77 - ^ S ü f f l ^ ^ p l ß " 1 8 0 3 7 2547.29 (- 3); Belegstellenangaben (mit A. W. SCHLEGEL: VEW '¿SOjMM,81Γ-"5")Π 'Verfasserangabe, Textsiglenangabe, Angabesymbol 2. »Schrift, schriftlich fixierter Text*; Metonymie zu 1 zur Textsortenzugehörig(pars-pro-toto-Verwendung) ; vgl. 8. Synt: zweideutiger B. ; Historiker / Restaurator des B. keit, Zeitangabe, SeitenanKtx.: .B)'6e/i(Hyponym)f gabe, Zeilenangabe, AngaDer Heilige Geist ist mehr, als die Bibel. Er soll unser Lehrer des Xstenbe der Fragmentnummer) thumsseyn nicht todter, indischer, zweydeutiger Buchstabe [2/ΜΊ . NovaLIS: FrSt * 1800.^90,, ,Νγ. 688,. 4-Verweis auf das Zitat der angegebenen Belegstelle
LT
Abb. 5: Wortartikel Buchstabe (Auszug)
-Semantischer Kommentar - Minimalkommentar Belegbedeutung
zur
362
Anhang I: Zum frühromantischen Sprachgebrauch
Methodischer Ausgangspunkt bei der Erstellung von Mehrfachartikeln ist folglich nicht die Wortfeld-, sondern die Einzelwortsemantik. Da das Begriffsfeld die Bedeutungsfelder mehrerer Einzelwörter umfaßt und daher umgekehrt das Bedeutungsfeld jedes einzelnen Wortes nicht notwendigerweise alle Einheiten des Begriffsfeldes (Einzelbegriffe) umfassen muß, ist für jede dieser Einheiten anzugeben, für welches der im Mehlfachartikel behandelten Wörter sie als Bedeutung belegt ist. Diese Frage kann nur mit Blick auf die paradigmatischen und syntagmatischen Relationen der einzelnen Wörter, und das heißt letztlich nur mit Blick auf die Wortbelege beantwortet werden. Die Angaben zur paradigmatischen und syntagmatischen Relation sowie die Belege und Belegstellenangaben werden daher pro Einzelwort gesondert, und zwar in parallelen Spalten aufgeführt.240 Die erläuterte lexikographische Meta-Abstraktion der BegrifFskonstruktion wil d also in jedem Einzelfall nachvollziehbar gemacht; der vom Lexikographen angesetzte Einzelbegriff eines Wortfeldes läßt sich auf zuvor von ihm angesetzte Einzelbedeutungen einzelner lexikalischer Einheiten dieses Wortfeldes, die angesetzten Einzelbedeutungen wiederum lassen sich auf die einzelnen Belege zurückverfolgen. Das Verfahren kann anhand zweier Begriffspositionen aus dem Artikel Organismus/Organisation demonstriert werden (Abb. 6): Beide Wörter sind in der Verwendungsweise 9, nur eines, nämlich Organisation, ist in der Verwendungsweise 10 belegt. Mithin läßt sich sowohl von einem strukturellen Organismusbegriff wie von einem strukturellen Organisationsbegriff sprechen (9), hingegen nicht von einem integrativen Organismus-, sondern nur von einem integrativen Organisationsbegriff (10). Entsprechend wird im Orientierungskommentar (der überblicksartigen Zusammenstellung der Einzelbegriffe am Ende des Allgemeinen Artikelteils) jeweils angegeben, für welches Lemmazeichen ein Einzelbegriff belegt ist (Abb. 7): Hinter der Begriffsangabe erscheint in Klammern der kursiv gesetzte Anfangsbuchstabe des betreffenden Lemmazeichens (bei gleichen Anfangsbuchstaben - Organismus/ Organisation - das gesamte Wort). Wird keine Angabe gemacht, so ist der Begriff für alle Lemmazeichen belegt.
240
Diese Vorgehensweise unterscheidet sich von der bei Bär 1998a, 196 vorgestellten insofern, als ich dort pro Lemmazeichen eines Mehrfachartikels lediglich die Angaben zur syntagmatischen Relation und die Wortbelege unterschieden, die Angaben zur paradigmatischen Relation hingegen als prinzipiell für alle in einer bestimmten Bedeutung belegten Lemmazeichen gültig angesehen hatte. Die Einführung einer Unterscheidung zwischen Bedeutung und Begriff und das Verständnis von Begriff im erläuterten Sinne machte jedoch eine Modifikation nötig.
Zur Struktur der Wortartikel: Hinweise für die Benutzung
363
9. ; Spezialisierung zu 8. Organismus·. Prph.: sinnliche Regel Organisation'. Bdv.: Struktur. - Synt.: O. materialisierte, objektivierte Gesetzmäßig- der Rede. - Ktx.: klassisch3; Bildung, Gekeit. - Synt.: O. der Natur, innerer O. der diegenheit, Reinheit. Kunst, gesetzmäßiger O. der Sprache. Die Griechen [haben] eigene Partikeln um die Organisation der Rede zu bezeichnen, weit besser als I f t man [...] über den gefetzmißigen Organismus unsere Interpunction. SCHLEIERWACHER ZH * 1805/ der Sprache überhaupt im klaren, fo können die hin09,42. - HÖLDERLIN: Hypfr 1793 [1794], 163; RITTER: zukommenden befondem Beftimmungen als das InFr/1 »1800, 1810', 41, Nr. 67; RJTTER: Fr/2 '*1802; dividuelle hiTtorifch begriffen und charakterifirt wer- 1810178,Nr. 471, F. SCHLEGEL: PhL/5 »1798, 330, Nr. den. A W. SCHLEGEL: AFB 1803, 203/152. - BERN70. HARDT Spl/2 1803, 19, 8; RITTER: Fr/1 Vokal(formaler) Einzelaspekt, technisches und/oder empirisches Detaik, Spezialisierung zu 4. - D i e Kenntnis des Details wird von den Frühromantikern k e i n e s w e g s pauschal zugunsten allgemeiner spekulativer Ideen verworfen. Geist und
Buchstabe
sollen miteinander in Beziehung gesetzt und verschmolzen werden, w o z u die souveräne Beherrschung d e s «Handwerks» ebenso vonnöten ist w i e philosophische Einsicht in innerste Weltzusammenhänge. Bdv. : Element, -< Geist, -> Idee, -< Sinn. - Prph. : ertötetes lebendige
Kraft.
- Synt.: den B. ausbilden
/ bearbeiten
Objekt, / erlernen,
totes
Zeichen,
sich bei B.
370
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
(PI.) aufhalten, Einheit des Β., B. des Buchstabens4, B. der Natur / des Altertums. -Ktx.: empirisch, technisch, -· lebendig. - Ktx. Synt. tote Formel, geistloser Schüler, -·philosophisches System, ^philosophisches Prinzip, ^ geistiger Zentralpunkt, ^künstlerischer Instinkt. - Wbg.: Buchstabengelehrsamkeit, Buchstabenphilosophie. Voß beñtzt bey der Vertrautheit mit dem Buchitaben der alten Poelie doch gar zu wenig von ihrem Geiíte. A. W. SCHLEGEL: an Goethe R4. 2. 17991, KW, 83. Die Wissenschaft soll Geist sein, wir sollen dabei frei und eigentlich nicht auf die Buchstaben gehen; man muß sie im Geist und in der Wahrheit treiben. A. W. SCHLEGEL: VphK 1798-99, 126. Dieneueren Theoristen haben sich vielfältig mit dem Lehrgedicht herumgeschlagen: einige haben es viel zu wichtig genommen, andre [...]haben es mit Unrecht ganz verworfen und aus dem Gebiet der Poesie[Hi verwiesen. Das versteht sich von selbst, daß, wenn man das höchste in ihr sucht, von technischen Lehrgedichten gar nicht die Rede seyn kann; auch leuchtet es sogleich ein, daß das Ganze solcher Werke nicht poetisch ist, sondern nur logischzusammengehalten wird; dieß verhindert aber nicht die Àchtheit der einzelnen poetischen Elemente, die daran sehr schätzbar seyn können. Die Poesie[ 1(11,| hat, wie jede andre Kunst, ihren Geist und ihren Buchstaben: sollte es nicht erlaubt und vortheiihañ seyn zuweilen auch den Buchstaben isolirt, ohne den Geist, zu bearbeiten und auszubilden. Freylich muß es alsdann mit tüchtiger Gründlichkeit und Meisterschaft geschehen [...]. A. W. SCHLEGEL: VLK/2 '1802-03, 709. Die rohen kosmopoäüichen Verfuche der Carthager und andrer Völker des Alterthums erfcheinen gegen die politifche Univerialitat der Römer, wie die Naturpoefie ungebildeter Nazionen gegen die klafiifche{n Kunftder Griechen. Nur die Römer waren zufrieden mit dem Geift des Despotismus, und verachteten den Buchitaben; nur üe haben naive Tyrannen gehabt. F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 216/190, Nr. 155. In dem edleren und urfprânglichen Sinne des Worts Korrekt, da es ablichtliche Durchbildung und Nebenausbildung des Inneriten und Kleinften im Werke nach dem Geift des Ganzen, praktifche Reflexion des KäniUers, bedeutet, ift wohl kein moderner Dichter korrekter als Shakfpeare. So ift er auch iyitemaüfch wie kein andrer: bald durch jene Antithefen, die Individuen, Mafien, β Welten in mahleriichen Gruppen kontraitiren ¡äffen; bald durch muñkaülche Symmetrie deiielben großen Maßitabes, durch gigantiiche Wederholungen und Refrains; oft durch Parodie des Buchitabens und durch Ironie^ über den Geiit des romantiichenm Drama und immer durch die hôchite und vollit&ndigite Individualität und die vielieitigite alle Stuien der Poelie¡lmi von der ßnnlichiten Nachahmung bis zur geiltigiten Charakteriltik vereinigende Daritellung derielben. F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 246/208, Nr. 253. NOVALIS: a n C . Just R5. 2. 1798 1 , N S 2 4 9 ; NOVALIS: G L 1 7 9 8 ; NOVALIS: L S » 1 7 9 8 , 9 8 ; NOVALIS: V F S » 1 7 9 8 , 5 9 4 , Nr. 3 1 6 ( - 4 ) ; A. W. SCHLEGEL: V E W '1803-04, 8 1); A. W. SCHLEGEL: V L K / 3 1 8 0 3 - 0 4 , 5 2 ( - 4 ) ; F. SCHLEGEL: Phlg/1 » 1 7 9 7 , 3 5 , Nr. 8 ; F. SCHLEGEL: Phlg/2 » 1 7 9 7 , 6 9 , Nr. 1 0 0 ; F. SCHLEGEL: G P 1 8 0 0 , 123 f . / 3 3 6 ; 1 8 3 / 3 4 8 ( - 6 ) ; F. SCHLEGEL: Ideen 1800, 1 5 / 2 6 2 , Nr. 6 1 ; F. SCHLEGEL: S W I 1 8 0 8 , 3 0 9 .
6. spezifische, auf den Gegenstandsbereich Sprache bezogene (damit zu 1 bzw. 3 offene) Verwendungsweise von 5: Allgemein >zufällig gewähltes (und damit zum adäquaten Ausdruck des zu fassenden Inhaltes prinzipiell nicht hinreichend geeignetes) sprachliches Zeichen< - wobei in der Regel unklar bleibt, ob die graphematische, die phonologische oder die lexikalische Ebene gemeint ist. Bei A. W. Schlegel (VEW !1803-04, 51) scheint sogar die syntaktische Ebene anzuklingen. Bei F. Schlegel (konkret bezogen auf das Wort) >Sprachelement oder -substanz unter formalem Aspekt« (F. SCHLEGEL: GP 1800, 183/348); bei Bernhardi die >strukturelle Eigenheit einer Einzelsprache auf potentiell allen hierarchischen Ebenen des Sprachsystems, vor allem jedoch hinsichtlich der Phonologie, Morphologie und Le-
Buchstabe 6-7
371
xik< als Gegenstand der „Grammatik" und im Unterschied zu „allgemeinen und nothwendigen Sprach-Gesetzen", die Gegenstand der „Sprachlehre" sein sollen (Bernhardi: Spl/1 1801,12). Bdv.: Chiffer, Form, Wort, Zahl. - Synt.: toter B., Gewirr von B. (Pl.). - Ktx.: Arithmetik, Sprache, Sprachzeichensystem. - Ktx. Synt.: Wort- und Sprachengeschnatter, monströse Hierogfyphenschrift ^unverständliche sprachliche Äußerung< (?)1 - Wbg.: Buchstabensymbol >Folge sprachlicher Zeichen (wohl auf Textebene), durch die ein geheimer Inhalt verschlüsselt ist(spekulative) Wissenschaft von den Varietäten, insbesondere den regionalen einer Sprache« (Bernhardi).
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Mundart: Bdv.: Sprache, ^ Schriftsprache. - Prph.: unvollkommene Sprechart einzelner Orte und Stimmen, Sprache des Umgangs / des gemeinen Lebens. - Synt.: meißnische / sächsische / schweizerische Μ., M. einer Gegend, ausgeartete M. - Ktx.: Aussprache,Hoch-INieder-IOber-IPlattdeutsch, Provinz, Provinzialismus. - Ktx. Synt. : der angewohnten [Schreib-] Weise seines Geburtsortes treu bleiben, unregelmäßige aber unendlich reizende Mannigfaltigkeit in der Sprache, Unterschiede in der Gefälligkeit des Vortrags und Ausdrucks; schweizerisches Deutsch.
Die Denkmäler unsrer Sprache aus diesem Zeitraum vor und nach Karl dem Großen , sind lauter Arbeiten von Geistlichen, eine der ältesten ist die Regel des heiligen Benedict von Kero aus der ersten Hálñe des Sten Jahrhunderts, später die Biblischen Paraphrasen von Notker und Willeram, wahrscheinlich erst nach dem Jahre 1000. Verschiedne aus den Evangelisten zusammengeschriebne Geschichten, sind zum Theil gedruckt, zum Theil liegen sie noch hier und da in Manuscripten. Alle diese sind in Aus mehreren Stimmen bildet Geh, nach Anlei- Prosa. Man würde die Fortschritte und Verändetung von einzelnen, äußeren (Jmftinden, ein rungen der Sprache mit mehr Sicherheit daraus Staat; die nachbarlichen Stämme mit ihren im beurtheilen können, wenn sie alle in einerley Ganzen ähnlichen Sprachen fchmelzen zu ei- Mundart abgefaßt wären, allein man darf das nem Volkzufammen; es entfteht Volksfpra- rauhere Fränkische nicht mit dem vermischen che, welche einen allgemeinen und noch fettem was sich dem Niederdeutschen und AngelsächCharakter bekommt. Allein diele Stimme ver- sischen zuneigt. Wir dürfen nicht vergessen, daß einigen ßch anfangs nur durch ein fehr lockeres einige der ersten Aufzeichner in der Schweiz Band, und die einzelnen Stammfprachen blei- (im Kloster Sankt Gallen) zu Hause waren, wo ben daher noch lange Zeit von einander ge- auch noch jetzt rauhe Kehllaute und Beyklänge trennt, und erhalten blos eine allgemeine Aehn- neben den Vocalen herrschen. Am ungelichkeit. Diefe allgemeine Aehnüchkeit ift nun schlachtsten unter allen sieht das von Kero aus, die eigentliche Landesfprache, und die übrigen so daß wirklich mit der Milderung der Sitten Stammfprachen erfcheinen in Hinücht auf diefe nachher auch eine in der Sprache vorgegangen als Dialekte[lrr,y Nun ift aber ein doppelter Fall zuseynscheint. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 180304, 31. Unfre Alten liebten auch im Schreiben denkbar; entweder dies Band zwifchen den Stämmen bleibt fo locker, als es anfangs war, den überflüßigen Zwang nicht; fie kümmerten und jeder kultivirt fich fúr fích, dann wird die fich nicht ängftlich um Silbenftechereien: fo jedesmalige Provinz, in welcher die Kultur ward zu großem Vortheil der Lebendigkeit alles
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
wohnt, ihren Dialekt^m zurHauptfprache erheben, und temporelI die Sprachen der andern Stimme ais abweichend und weniger gebildet herabfetzen; oder die Stimme nihern ßch einander bis zur Vermifchung, dann entfteht eine Hauptfprache, welche die andern, durch zufillige Umftinde, ßch neben der Hauptfprache erhaltenden Dialekte[iv wûrklich als fehlerhaft und provinziell, wenigftens für die fchriftliche Darfteilung, verwirft. Griechenland liefert Beifpiele zu beiden, in der anfingüchen Trennung in einzelne Stimme und Dialekte{irziv und der fpitern Reception des attifchen Dialekts[mn als klaflifch[2y BERNHARDI: Spl/I 1801, 110 f.Die Dialecte und Pronunciationen werden durch Consonan ten und Vocale im Großen gebildet. \ Lippensprache - Gaume - Kehle - Zunge Zähne - Nase etc. Manche Sprache wird aus dem e, u, o etc. gesprochen. So hat jeder Mensch seinen Hauptvocal. NOVALIS: ABr *1798, 306, Nr. 367. Je mehr eine bestimmte Eigentümlichkeit in einer Sprache vorwaltet, desto eingeschränkter wird ihr Gebrauch. Die Drolligkeit ündet vorzüglich in eignen Dialekten und unter besonderen Ständen (so die Fischhändlerinnen in Paris) statt. A. W. SCHLEGEL: VphK11798-99, 16. Es ist für die Poesie unendlich vortheilhaft, wenn in einer Sprache für die [poetische] Licenz ein weites Feld offen gelassen ist [...]. Zuerst hat dieß den negativen Vortheil, daß die Poesie dadurch ihre Verschiedenheit von der Prosa und ihren Vorsatz sich in einer freyeren Sphäre zu bewegen, selbst dem Ohre ankündigt; dann aber wird die Sprache durch diese Breite zu einem weit biegsameren Organ[2l für sie. Sie hat sich dabey nur vor der Gefahr zu hüten, daß dieser poetische Dialekt nicht ins conventionelle ausarte, bloße Phrase werde, so wie dem unvermeidlichen, oft sehr heilsamen Gebrauche der Terminologie das nachbetende Formularwesen nahe liegt. A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04, 303 f. [Die romanischen Sprachen] waren zuerst corrumpirte Dialekte des gemeinen Volkes. Durch die frisch aufblühende Poesie erhielten sie Form. Dieß erschien nun als ein unschätzbares Gut, welches man zu erhalten suchte; so wurden früher oder später gewisse A utoren als unübertreffliche Muster der Reinigkeit anerkannt, und die nachherigen sollten nun nicht mehr gleiche Rechte der Sprachschöpfung genießen, sondern wurden eingeengt. In Italien wurde hiemit, so wie mit dem ausschließenden Vorzugsrechte des Florenünischen Dialektes,
biegfam und fch webend erhalten. Jeder blieb der angewohnten Weife feines Geburtsortes treu: daher feine Schreibung, wie das Ohr die Ausfprache auffaßte; in Wortformen und Fügungen homerifche Fülle. Man verftändigte fich dennoch von einem Ende des Reichs bis zum andern. Ift denn dieß fo barbarifch? War es nicht in der gebildetften Sprache, die wir kennen, der griechifchen, Grundfatz, verfchiedene Eigenthümlichkeiten neben einander als gefetzlich anzuerkennen ? Nicht nur in allen Hauptdialekten wurden Bücher gefchrieben, fondern Dichter wandten verfeinerte Kunft auf, die örtlichften, vielleicht für roh geachteten Spracharten in wohllautende Maße zu fügen. | Soll aber ein grammatifches Reichsgericht beftallt werden, und dabei, wie billig, nicht bloß die Mehrheit, fondent das Gewicht der Stimmen gelten, fo würdeich dasgeringfte Anfehen denen Provinzen einräumen, wo das Volkplattdeutfch redet, und Hochdeutfch eine in den Städten und unter den höhern Ständen erlernte Sprache ift: alfo Niederfachfen, Weftphalen und Brandenburg. Das Plattdeutfche ift eine durch Au s fch ließung von der Schriftfprache und durch Einmifchung des Hochdeutfchen ausgeartete niederdeutfche Mundart, die, wie diefe fämmtlich, Vielesgrammatifch unbeftimmtläßt, weswegen die darin Erzogenen nur mit großer Mühe die hochdeutfchen Biegungen richtig gebrauchen lernen. Auch ift ihre Ausfprache weichlich. Eine Stufe höher flehen die urfprünglich von flavifchen Volkerfchañen bewohnten, von Deutfchen nur kolonifíerten Länder, weil das Sia vifche ftch nicht un vermerkt dem Deutfchen einmengen konnte. Dahin gehört das ganze öftliche Deutfchland, und felbft ein Theil der fächfifchen Kurlande. \ Die oberfte Stelle nehmen endlich diejenigen Länder ein, wo das Geblüt rein geblieben, und das Hoch- oder Oberdeutfche, wie man es nennen möge, von jeher einheimifch war. Luñ und Boden, fremde Nachbarfchaft, Anbau oder Vemachläßigung der redenden Künfte, können in der Gefälligkeit des Vottrages und Ausdrucks noch bedeutende Unterfchiede begründen: aber immer wird die Mundart diefer Gegenden dem Sprachforfcher als Quelle und dem Dichter für fein Bedürfhiß der Bereicherung befonders wichtig fein. A. W. SCHLEGEL: D M 1 8 0 8 , 1 6 2 f. ( 1 6 3 , π f., 25 f.) Von
den Altvordern der Natiolernte er [Dante] das eigen f te und fonderbarfte, das heiligite und das fdßefte der neuen gemeinen Mundart^im zu claffifcherm Würde und Krañ zufammenzu-
Dialekt/Mundart 1-2
377
schon im löten Jahrhundert große Pedanterey dringen, und ίο die provenzalifche Kunft der getrieben. A W. SCHLEGEL: VEW11803-04,340. Reime zu veredeln [...]. F. SCHLEGEL: GP 1800, Die provenzal[ischen] Dial.[ekte] (auch der von 77/297. - A. W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί802-03, Valencia) in d[er] Verstümmelung schon sehr 550, Anm.; A. W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04, französisch. Das Quelle [sie] und das Franzlösi- 36,25; A. W. SCHLEGEL: DM 1808,162, 16; 164; sche] als dferj Untergang der romantischen^ 165, Anm.; F. SCHLEGEL: SWI 1808,161; 163; SprachfenJ zu betrachten. F. SCHLEGEL: ZP/2 177; 187 KO/FC,); F. SCHLEGEL: Gdk «1808-09, *1802,421, Nr. 48. - NOVALIS: an A. C. Just'l. 288, Nr. 186; 290, Nr. 203; 290 f., Nr. 212,2,4 f 7. 17971, NS 233; A. W. SCHLEGEL: VphK « , , 1798-99,96; A. W. SCHLEGEL: VLK/2 '1802-03, 550; 612; 654; A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04,238 2); 324; 331, ri, η ( - 3)1,24; A. W. SCHLEGEL: VLK/3 1803-04,12 romantisch,)·, 36,29; F. SCHLEGEL: Athfr 1798,256/215, Nr. 295; F. SCHLEGEL: PhL/4 »1799, 288, Nr. 1099; F. SCHLEGEL: FPL *1801, 332, Nr. 929; 334, Nr. 946; F. SCHLEGEL: BGmP 1803,67/32; 71/35; F. SCHLEGEL: SWI 1808,161; F. SCHLEGEL: G Dialekt/MundartΛ. F. SCHLEGEL: SWI 1808, 141 f.; 143.
* » *
VEW 1 1803-04,342. - A. W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί 8 0 2 - 0 3 , 4 7 8 ; A. W. SCHLEGEL: V E W Ί 8 0 3 - 0 4 , 2 2 0 ; 238 1); 330,31,35 3); 350; A. W. SCHLEGEL: VLK/3 Ί 8 0 3 - 0 4 , 1 1 Dialekt/Mundart138,8, 15; F. SCHLEGEL: F P L » 1 8 0 1 , 3 3 3 , Nr. 930.
3. (Gruppe von Einzelsprachen und/oder Varietäten von Einzelsprachen, Zweig einer Sprachfamilie >. Dialekt. Bdν. . Hauptzweig (eines Sprachstamms). - Ktx.: Niederdeutsch. Wir können uns hiebey nicht über alle Sprachen Germanischen Stammes im Einzelnen verbreiten. Was aber die unsrige charakterisirt, gilt entweder von jenen mit, oder es leidet Einschränkungen. Nur dieß will ich hier im allgemeinen bemerken, daß sich der Deutsche Stamm in zwey Hauptzweige theilt: das Ober- und Niederdeutsche. Zu dem letzten gehören das Frisische, Holländische und Englische. Ob man noch einen dritten Hauptstamm anzunehmen habe, den Scandinavischen, zu welchem dann das Schwedische und Dänische gehören würde, dieß lasse ich dahin gestellt seyn. Auf jeden Fall sind die eben genannten Dialekte^ dem Niederdeutschen verwandter als dem Oberdeutschen. Zwischen diesen beyden Dialekten^ muß man wie mich dünkt, ohne Frage für das letzte entscheiden. Es hat weit mehr Bestimmtheit, Charakter und grammatische Construction; statt daß die niederdeutschen Dialekte^ erscheinen wie Sprachen, welche dieß alles gehabt, aber aus weichlichem Phlegma weggeschüffen und verschmolzen hätten. Das ist nicht zu leugnen, daß das Oberdeutsche in seiner ungemilderten Gestalt eine gewisse Unbeholfenheit und rauhe Bergaccente an sich hat; in der fließenden Leichtigkeit des Niederdeutschen erkennt man den klimatischen Einfluß der mildernden Seeluft und der an der See gelegnen Ebnen. Dazukommt, daß sich der Deutsche Volksstamm im Norden reiner erhalten hat, vielleicht sind manche Diaiektelli im Süden von Deutschland dadurch härter geworden, daß die große Masse der Ein wohner Sia visch war, und das Deutsche erst als eine fremde Sprache erlernt werden mußte, wie es ja noch jetzt innerhalb der Gränzen Deutschlands keineswegs allgemein verbreitet ist. Allein bey allem dem verräth der so oft widerhohlte Wunsch, das Niederdeutsche möchte doch statt des Hochdeutschen die poetische und Büchersprache geworden seyn, eine große philologische undhistorische Unkunde. Der Versuch istja angestellt mit dem Englischen und Holländischen, undman hat genugsam gesehen, was daraus geworden. Dasjenige wodurch ein solches Provinzial-Patois gefällt, eine gewisse naive Grazie, ein scherzhafter Anstrich, geht bey der Ausbildung durch Schrift unausbleiblich verlohren. Es ist eine beschränkte Individualität, die keine allgemeine Gültigkeit haben kann. Das sogenannte Plattdeutsch schreibt sich zum Theil von flamändischen Colonien her, in neueren ¡leiten ist es aber so sehr durch eingemischtes Hochdeutsch verfälscht worden, daß es als eine Bestandsprache keinen höheren Rang verdient, als Dialekdes gemeinen Volksm in einer Provinz zu seyn. A. W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04, 330 (33) f.
4. (Klasse sprachlicher Subsysteme, Kategorie von Varietäten; Sprech-/Schreibart> (ob es sich um schriftliche oder mündliche Sprachrealisation handelt, läßt der Kontext offen); eine im Gegensatz zu 3 nicht nach Sprachverwandtschaftskriterien,
Dialekt/Mundart 4 - heiter
379
sondern - zum Zweck der Verwendung in der Poesie (1) - unter prosodisch-euphonischem Aspekt zusammengefaßte Gruppe von Dialekt:
Synt. : göttlicher
Dialekten,.
/ harter / weicher
D.
Auch die Verse misfallen mir nicht in der Prosa, da jeder göttliche Dialekt das Recht haben muß einzig zu seyn, und die himmlischen eben werden wie es ihnen gutdäucht. F. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel r25. 2.17991, KA/24,234. Es giebt nur zwei Dialekte 1) d.ferj harte a t h (o) 2) der weiche sh, b, i, u. / Das macht gleichsam zwei Ton arten (Moll und Dur), der Unterschied der häßlichen und d[er] schönenproducüven Sylben - noch zwei. F. SCHLEGEL: ZP/3 *1803,455, Nr. 19.
5. (gattungsspezifische Ausdrucksweise, nicht ausschließlich des Menschen, sondern überhaupt eines Lebewesens); metaphorische Verwendung von 1 (wohl i. S. v. Helligkeit, Tageslicht, das
Adj. Heitere,
Aufheiterung. Daß neben Ironie (s. dort), komisch, phantastisch
und Witz auch das Adjektiv hei-
ter, das zugehörige Substantiv Heiterkeit (s. dort) und einige weitere Wortbildungen {erheitern,
aufheitern,
Aufheiterung)
als Schlüsselwörter des
frühromantischen
Diskurses gelten können, ist gemeinhin kaum bekannt. Eine eigene «Heiterkeitstheorie», etwa nach Art von F. Schlegels Ironie- oder Jean Pauls Witz-Reflexion,
380
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
findet sich nicht; heiter und die zugehörigen Wortbildungen dienen kaum als termini technici, sondern sind Wörter des Alltagsgebrauchs, was auch dadurch bestätigt wird, daß sie vor allem in Briefen und autobiographischen Notizen sowie in literarischen Texten vorkommen. Gleichwohl stehen sie im Zentrum frühromantischer Theoriebildung, wie ein Blick auf bedeutungsverwandte und kontextspezifische Lexeme (beispielsweise Kunst, Poesie, romantisch usw.) zeigen kann. Allein schon die Verwendungshäufigkeit, insbesondere des Adjektivs, ist auffällig. Bei einigen Autoren, etwa bei Ludwig Tieck und Sophie Mereau, handelt es sich geradezu um ein «Allerweltswort»; auch Novalis gebraucht es passim.248 Der Gedanke einer Synthesis und Harmonisierung einander entgegengesetzter Phänomene begegnet einerseits in den anzusetzenden Bedeutungen selbst (vgl. v. a. 3), andererseits bei der Untersuchung des Wortfeldes, das teilweise deutlich antonym zu setzende Einheiten umfaßt (Bdv. lustig, laut vs. ruhig, still, Synt. h. Scherz vs. h. Ernst, Prph. ohne Begierde vs. Ktx. Synt. ruhiger ausgebreiteter Sinnengenuß). Ein Bewußtsein etymologischer Zusammenhänge, wie es sich beispielsweise bei Klopstock (GR 1774,140) findet, ist für die Frühromantik nicht belegt; allerdings sind einige der hier untersuchten Autoren mit Etymologie bestens vertraut. Auch unabhängig von etymologischem Wissen ist aber (gemäß zeittypischem allgemeinem Sprachgebrauch) die «ursprüngliche» Verwendungsweise im Sinne von >licht, hell, klar, himmelfarben, unbewölkt (Synt.: h. Himmel) häufig belegt; davon ausgehend kann heiter im gesamten Bereich der Lichtmetaphorik eingesetzt werden. Literatur: Bär 1997.
1. >hell, leuchtend, glänzend; klar, ungetrübt ; 2. >warm, trocken, angenehm, wohltuendschön, harmonisch, (innerlich) ausgewogen, geordnet, ganzheitlich; gelassen, ruhig, unerschütterlich, abgeklärt, besonnen; distanziert; geschlossen, autark, selbstzweckhaft bunt, lebendig, vielfältig, abwechslungsreich, phantastisch; humoristisch, komisch*.
Am konkreten Beispiel: Das Sophien-Tagebuch von 1797, das in der historisch-kritischen Ausgabe 21 Drudeseiten umfeßt, weist nicht weniger als 20 heiter-Belege auf, davon mitunter drei und mehr auf einer Sehe.
heiter 1
381
1. >hell, leuchtend, glänzend; klar, ungetrübt«, im eigentlichen wie im übertragenen Sinne als Bezeichnung der Beschaffenheit von • Licht/Helligkeit, deren Quelle oder Ursache und allem von ihnen Beschienenen bzw. Erfüllten; besondere semantische Nuancen: >unbewölkt, unverhangen, nicht dunstig< (h. Himmel) - vgl. hierzu auch 2 - , >licht, freundlich; geräumig, großzügig angelegt (h. und lichter Rheingau, h. Straße, h. Terrasse) - vgl. hierzu auch 4 - , • Ruhm (h. Lorbeer), • äußerlich (v. a. als Strahlen des Auges, überhaupt als Gesichtsausdruck) wahrnehmbare Anzeichen von Abgeklärtheit, innerer Ruhe, Gelassenheit, auch von Zuversicht, Unbeschwertheit, guter Laune249; unter den erstgenannten Aspekten von Bedeutung 3, unter den letztgenannten Aspekten von Bedeutung 4 bisweilen nicht klar zu trennen. Die im Zusammenhang mit dem Gegenstandsbereich «Licht» stehende positive Konnotierung von heiterλ begegnet durch den extensiven Einsatz der Lichtmetapher auch in allen übrigen Verwendungsweisen. Βάν.: glänzend, hell, klar, licht, mondbeglänzt, strahlend, -· dämmernd, ~· trübe, -• bewölkt. - Synt.: h. strahlen (vom Auge gesagt), der Freude h. Lichtjn. umstrahlen, etw. (konkret: die lebendigen Glieder) in h. Schwingungen bewegen, h. Glanz, h. Herrschaft des Lichtes, h. Lichtgestalt, h. Pracht, h. Strahl, h. Sonnenblicki-strahl, h. Himmel, (stürmisch-)h. Wetter, h. lSee (f.) >MeerWaldlichtungRuhmangeheitert, beschwipst, betrunken« ist in den hier ausgewerteten frühromantischen Quellen nirgends belegt. Vielleicht müßte man bei E. T. A. Hoffmann suchen.
382
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
gel Übersetzung von Skr. Aditi, des Namens einer Gestalt der indischen Mythologie). [AJuf der heitern Stime manchen Greises las ich [. . .] Weisheit [...]. BRENTANO: Godwi 1801, 70. Diotima und ich giengen eine Weile unter den herrlichen Bäumen umher, bis eine große heitere Stelle sich uns darbot. \ Hiersezten wir uns. Es war eine seelige Stille unter uns. Mein Geist umschwebte die göttliche Gestalt des Mädchens [...] und all ' mein Wesen erleichterte, vereinte sich in der Freude der begeisternden Betrachtung. HÖLDERLIN: Hyp/1 1797, 87. Heiterw,froh und sorgenlos \ tanz'ich durch das Leben, \ ruhe sanft auf weichem Moos \ unter grünen Reben, \ kränze meine heit'r^ Stirn I mit dem Laubgewinde, \ schwärme leicht, wie Vögelflug, \ um die grüne Linde. MEREAU: Ged/1 1800,135,6. Es war ein heitrer glänzender Wintermorgen. MEREAU: EkG 1801,20. Ein heitrer Glanz fliefst von der Stime nieder [.. .]. MEREAU: Srf 1802, 10. Ein heitrer Lorber grünet \ um seine Stirn, und goldne Beute bringen \ ihm die bezwungnen Feinde [...]. MEREAU: Srf 1802, 154. Der Kopf war [...] heiter - nur gegen Abend, wie gestern, Kopfschmerzen Nov AUS: Tgb *1797, 37. Ich beschloßkünftig häufige körperliche Anstrengungen und Hut für Trägheit. Demzufolge gieng ich noch denselben Tag Nachmittags im stürmisch-heitem Wetter mit Landvoigt nach Ballenstedt. NOVALIS: T g b *1797, 46, 29. Heinrich war erhitzt, und nur spät gegen Morgen schlief er ein. In wunderliche Träume flössen die Gedanken seiner Seele zusammen. Ein tiefer blauer Strom schimmerte aus der grünen Ebene herauf. Auf der glatten Fläche schwamm ein Kahn. Mathilde saß und ruderte Sie war mit Kränzen geschmückt, sang ein einfaches Lied, und sah nach ihm mit süßer Wehmut herüber. Seine Brust war beklommen. Er wußte nicht warum. Der Himmel war heiter[lf2V die Flut ruhig. Ihr himmlisches Gesicht spiegelte sich in den Wellen. Auf einmal fing der Kahn an sich umzudrehen. Errief ihr ängstlich zu. Sie lächelte und legte das Ruder in den Kahn, der sich immer während drehte. [...] Sie winkte, sie schien ihm etwas sagen zu wollen, der Kahn schöpfte schon Wasser; doch lächelte sie mit einer unsäglichen Innigkeit, und sah heiter(mii¡ in den Wirbel hinein. Auf einmal zog es sie hinunter. Eine leise Luñ strich über den Strom, der eben so ruhig und glänzend flöß, wie vorher. NOVALIS: HVO *1799-1800; 1802 1 ,278,11,18. Mit dem Eintritt ins Purgatorium thut sich die Ae/ire,,, Herrschaft des Lichtes wieder auf, anfangs zwar sehr gemäßigt, der Tag ist kaum noch angebrochen, und das erste, was der Dichter erkennt, ist das Blau des Himmels, der Morgenstern, und 4 allegorische Sterne welche die natürlichen Tugenden vorstellen. Während des Heraufsteigens am Berge ist noch Wechsel des Lichts und der Finstemiß, die Nächte unterbrechen die Reise, aber in einer reinen Atmosphäre, und durch heitre^^ Traumgesichte gemildert. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 Ί 803-04, 154,23,29. Was der junge Hannoveraner von unserm Wohlleben an seine Mutler schrieb, das würden Sie erst verstehen können, wenn Sie ihn selber kennten! Er ist in seinen Ausdrücken immer sehr übertrieben [...]. Zudem lebte er damals in einer kleinen Unstern Straße vom innem Paris ganz allein in einem elenden Stübchen, und uns fand er in der heitern Straße am Ende der Stadt, mit einem riemlich großen Garten, wo wir ihn [...Jsogut und freundlich aufzunehmen uns bemühten als es uns in unsem sehr bedrängten Umständen möglich war [...]. D. SCHLEGEL: an Ch. Emst r10. 4. 18041, K J 74. Unser Fernrohr war nicht sonderlich; unser Führer konnte uns die Oerter u[nd] Gegenden nicht genau nennen; u[nd]der Himmel war am Horizonte nicht ganz heiter, obgleich die Sonne schien. Demohngeachtet hat eine so weite Aussicht, wenn man auch die einzelnen Gegenstände nicht genau unterscheidet, immer viel Erhabenes. WACKENRODER: an seine Eltern r3. 6. 17931, V L 175. - BRENTANO: Rhn/1 »1810-12, 20; BRENTANO: Rhn/2 »1810-12,153; HÖLDERLIN: Hyp/1 1797, 36; 48; 49 2); 77; HÖLDERLIN: Hyp/2 1799,126; 133; JEAN PAUL: VSÄ1804,100/66, 8/9 ( - 3); MEREAU: B E 1794, 23; 122; MEREAU: Ged/1 1800,20; 117; MEREAU: EkG 1801,15; MEREAU: Srf 1802, 3 ( - Poesiea)\ 6; 26,14; 57,13; 74; 125; 134; 164; NOVALIS: Tgb »1797,30; NOVALIS: L S »1798, 86, 18; 100; SCHILLER: AUW 1793,288; 296; A. W. SCHLEGEL: an S. Tieck-Bernhardi r27. 5. 18041, K J 90; r6. 9. 18041, K J 148; C. SCHLEGEL: D G 1799,67/29; F. SCHLEGEL: Lucinde 1799,70; TIECK: HKK/16 1797 [1796], 120 4); TIECK.: FStW 1798,741,22; 788; 808; 838; 967. - Vgl. BRENTANO: Rhn/2 »1810-12,259; HÖLDERLIN: Hyp/2 1799, 157; MEREAU: G e d / 1 1800, 129; MEREAU: S r f 1802, 57, i o ; SCHILLER: AUW 1 7 9 3 , 3 0 8
3); A. W.
SCHLEGEL: an S. Tieck-Bernhardi '28. 5. 18041, K J 95; F. SCHLEGEL: SWI 1808,211.
2. >warm, trocken, angenehm, wohltuend< als Bezeichnung derjenigen klimatischen Qualität, die durch heiteren
{
Himmel bewirkt wird, unter Verschiebung der
heiter 2-3
383
Bezugsgröße auch der Gegend, in der ein solches Klima herrscht; offen zu 1. Im Unterschied zu den übrigen Verwendungsweisen kann als heiter2 nicht nur eine optische, sondern unter anderem eine olfaktorische Qualität charakterisiert werden: heitere >reine< Luft. Bdv.: mild, trocken, warm, ruhig, ^ stürmisch. - Synt.: h. Klima, h. Luft, h. Wärme. -Ktx.: -· Ungewitter, -< Winter. - Ktx. Synt.: schönes Wetter, mildes / südliches Klima, reine Luft. Es war einer der fchônften Tage des Augufts. Eine heitere, frifche Luft ftrich durch das Thal; am Himmel flogen, wie Blumenbeete, zerftreute Wolkenftúcke umher. MEREAU: EkG 1801, 5. O ! Lassen Sie mich künftig noch genießen \ Ihr Herz, das mich stets glücklich macht. \ Ihr Leben müsse froh verfließen \ Gleich einerheitern Sommernacht. NOVALIS: an J. D. S. v. Dieskau f l. 1. 17851, NS 63. In den weitläußgen Ebnen um den Euphrat und Tigris [...]sind die ersten großen Reiche entstanden, von denen in unsrer Universalgeschichte die Rede ist. Das warme, dabei heitre und trockne Klima, die unglaubliche Fruchtbarkeit des Bodens besonders an Getreide, der durch zwey so große Flüsse erleichterte Verkehr, mußten hier die Bevölkerung und den Übergang vom zerstreuten einzelnen Familienleben zur Vereinigung in größere politische Massen befördern. A . W . SCHLEGEL: VEW '1803-04,172 (33) f Dann wäre mein Plan, daß Sie auf allen Fall, auch wenn es nicht dringend nöthig scheint, für den Winter ein milderes Klima suchen möchten. Etwa in der Mitte Augusts müßten Sie die Reise antreten, so könnten Sie den ganzen September, der hier sehr schön und heiter seyn soll, noch am Genfer See genießen, und alsdann weiter fürs erste nach Nizza oder Pisa, dann vielleicht späterhin nach Neapel gehen. A W. SCHLEGEL: an S. Tieck-Bemhardi f22. 5. 18041, KJ 85. - HÖLDERLIN: Hyp/1 1797,49 1); HÖLDERLIN: Hyp/2 1799, 93; 136; NOVALIS: H V O r*1799-1800; 1802 1 ,224, IO; 278,11 (-> 1); A . W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04, 179; A . W. SCHLEGEL: an S. Tieck-Bemhardi schön, harmonisch, (innerlich) ausgewogen, geordnet, ganzheitlich; gelassen, ruhig, unerschütterlich, abgeklärt, besonnen; distanziert; geschlossen, autark, selbstzweckhaftc, offen zu 4. Heiter3 kann insbesondere genannt werden: •
das menschliche Gemüt bzw. seine Verfassung,
•
eine mit heiterem3 Gemüt ausgeübte geistige/künstlerische Tätigkeit,
•
unter Verschiebung der Bezugsgröße dasjenige, was als Produkt einer solchen Tätigkeit gesehen werden kann (h. Anlage eines Stücks), und/oder dessen Apperzeption eine heitere3 Gemütsverfassung bewirkt (h. Land, h. Tag)', unter diesem Aspekt offen zu 1. Durch Anspielungen auf die Antike, v. a. auf die Griechen, sowie auf J. J. Winckelmann werden Bezüge zum Gegenstandsbereich der klassischen/klassizistischen Kunst hergestellt. Im Zusammenhang der Lichtmetaphorik kann aber auch eine Verbindung zum Bereich der Ästhetik im Kantischen Sinne (vgl. KANT: KrV 2 1787, 35 f., Anm.) hergestellt werden, zur Erkenntnistheorie also. A. W. Schlegels Rede von den „heitern Regionen schöner Anschaulichkeit" der poetischen Darstellung (VLK/1 ! 1801-02,411) verweist auf den Erkenntniswert, den die Frühromantiker der Kunst als einer Möglichkeit symbolischer Anschauung des Absoluten zuschreiben (vgl. S. 127).
384
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
Bdv.: deutlich, klar, besonnen, gedankenvoll, lassen,
kalt, leidenschaftslos,
verworren, vgl. klassischw.
gefaßt,
- Prph. : ohne Begierde.
ruhiges h. Dasein, h. Besonnenheit, Geist!Genius,
h. Vollendung
/ Weltansicht
Welt, h. Region schöner Anschaulichkeit. -> beklommen,
^ nützlich,
-< Schwermut,
-•Spannung,
Zwang, -> Bombast, der Humanität
stürmischer
Affekt, -· wildwundes
Bewußtsein,
werden,
h. Denken,
h. Ernst, h. Ruhe, h.
der Griechen,
10;
Behagen,
Ruhe,
Ängstlichkeit,
Leidenschaft,
->
geordnete
1
Sophrosyne,
Weh, - dunkle Urkräfte der
stark,
Fassung, -> Lei-
Verzweiflung,
Schwulst. - Ktx. Synt.: moralische
und der Sokratischen
h.
Resignation,
h. Athen, h.
Harmonie,
Verstand, -"Angst,-·
— Sehnsucht,
milde Denkart
mild, geunberührt,
- Ktx.: gesund, gut, kräftig, mutig,
romantisch^
Würde (Schiller), Theorie, Philosophie, den, -> Schmerz,
verständig,
- Synt.: innerlich h.
h. philosophisches
h. Gemüt, h. Seele, h. Stimmung,
h. Mythologie,
vernünftig,
ruhig, sanft, still, einfach, frei,
Freiheit,
qualvoller
/
Natur.
Ein Zeitafter wo Kritiken uns ein Bedürfnis werden, ist in aller Hinsicht ein sehr kritisches Zeitalter. Im gesellscbañlichen Leben so wo! als in den Künsten und Wissenschaften bezeugen sie eben so sehr Mangelan achtem Geist als dessen göttliche Anregung. Es ist ein Zwischenzustand, eine Dämmerung des Lichts. Nur aus äußern Verhältnißen läßt sich bestimmen, ob wir in einer kritischen Zeit mit freudigen Hofhungen gen Osten, oder mit bangen Besorgnißen gen Westen blicken sollen. So weit unsre Geschichte reicht, sind noch wenig ganz heitre^^ Tage auf der lieben Erde gewesen. Die Griechen erreichten noch kaum das Jünglingsalter. Sie hätten es wol verdient, sich zu einer freien Gesellschañ auszubilden, und in allen Nationen der Erde, als einer einzigen fortzuleben. Von Aristoteles wüßten wir dann nichts, denn er hätte nie gelebt. Aber die Sokratische Weisheit, die einzige, die von den Göttern kommt, würde in klahren Anschauungen alles umfaßen, was seitdem die stille Abstraktion so mühsam zu gewinnen gesucht hat. Jetzt ist alles geschieden, und vom Leben geschieden; was wollen wir Großes aufdie Art doch gewinnen. Ein Moral-System ist ein wunderbares Ding; und eine Kritik dieser Systeme muß billig zwei Momente, den, da sie nicht waren, und den, da sie nicht mehr seyn weiden, wieder verbinden, um uns so zu der lebendigen Anschauung zu fuhren. HÜLSEN: an A. W. Schlegel!8.12.1803} KJ62./fe//«^ 3| Ruhe i ft die dritte Farbe der Griechen. Ihr hòchfter Gott wurde, ob ergleich den Donner in der Hand hatte, (nach Winkelmann) ftets heiterm abgebildet. JEAN PAUL: VSÄ 1804, 100/66, 5/7. Meine Soñé hat einen schönen Tod gehabt - Vorher sind einige schreckliche Tage gewesen, die sie still und lächelnd und tröstend durchlebt hat. Sie ist mit jeder Minute Hebens würdiger ge worden - Heiter und gefaßt hat sie zuletzt um ihren Tod gewußt - Ein sanfter Schmerz hat sie auf einmal allen Lasten enthoben NOVALIS: an K. L. Woltmann R14. 4. 1797 1 , N S 221.
In tiefer, heitrer Ruh will ich den Augenblick erwarten, der mich ruft. NOVALIS: Tgb *1797, 46, 3. Jacobi hatkeinen Kunstsinn und darum verfehlt er den Sinn der W[issenschafts]L[ehre] - sucht derbe, nüzlicheReaiitaet - und hat keine Freude am bloßen Philosophiren - am heitern Philosophischen Bewußtseyn- Wircken undAnschauen. NOVALIS: FrSt «1799, 572, Nr. 121. Gleich ab von Fröhlichkeit und Trauer, Vom Lustigen und Rührenden - sowohl der verständige Mensch - als der wahre Dichter. (Heiterer, verständiger Emst.) NOVALIS: FrSt "1800, 691, Nr. 695. Der Roman foli [. . .] zur heiteren, ruhigen Betrachtung einladen und die Theilnahme allenthalben gleich fefthalten; jeder feiner Theile, alle Worte Tollten gleich golden feyn, wie in ein innerliches höheres Sylbenmaß gefaßt, da ihm das äußere mangelt. [.. J Alles im Menfchen anregend foli der Roman auch die Leidenfchaft in Bewegung fetzen; das höchfte Tragi/che ift ihm erlaubt wie das Komifche, nur daß der Dichter felbft von badem unberührt bleibe. SCHELLING: PhK Ί 803-04,676. Aber die heitere Anlage des Ganzen fchon im erften Wurf[...]läßt [...] erwarten, daß der Widerftreit lieh in einer höheren Inftanz löten werde, und Fauft in höhere Sphären erhoben vollendet werde. SCHELLING: PhK '1803-04,732. Auch besaßen sie [Etrusker] nicht nur den Gebrauch der Schrifi f...], sondern die Anfange aller Künste, vorzüglich der bildenden: jedoch haben sie darin nie die heitere Vollendung der Griechen erreicht. A. W. SCHLEGEL: VEW ' 1803-04, 194. Und wenn nun die Seele gleichfam unter den Trauer-
heiter 3-4
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weiden der Verbannung ruhend, ihr Verlangen nach der fremd gewordenen Heimath ausathmet, was andres kann der Grundton ihrer Lieder fein als Schwermuth? So ift es denn auch: die Poefielmi] der Alten war die des Beßtzes, die unfüge ift die der Sehnfucht; jene fteht feft auf dem Boden der Gegenwart, diefe wiegt ñch zwifchen Erinnerung und Ahndung. Man mißverftehe dieß nicht, als ob Alles in einförmige Klage verfließen, und die Melancholie ñch immer vorlaut ausfprechen müßte. Wie in da hâtera Weltanßcht der Griechen die herbe Tragödie dennoch möglich war; fo kann auch die aus der obengefchilderten entfprungene romantifche^^ Poeßeiimi alle Stimmungen bis zur fröhüchften durchgehen; aberße wirdimmer in einem namenlofen Etwas Spuren ihrer Quelle an ßch tragen. Das Gefühl ili im Ganzen bei den Neueren inniger, die Phantafíe unkörperlicher, der Gedanke befchaulichergeworden. A. W. SCHLEGEL: DK1V1 "1808; 1809-111,16. Julius, fragte Lucinde, warum fühle ich in so heiterer Ruhe die tiefe Sehnsucht? - Nur in der Sehnsucht finden wirdieRuhe, antwortete Julius. Ja, die Ruhe ist nur das, wenn unser Geist durch nichts gestört wird, sich zu sehnen und zu suchen, wo er nichts Höheres finden kann als die eigene Sehnsucht. F. SCHLEGEL: Lucinde 1799, 78. Verftand ift das Vermögen der Gedanken. Ein Gedanke ift eine Vorftellung, die vollkommen für ßch befteht, völlig ausgebildet ift, ganz, und innerhalb der Grinzen unendlich; das Gôttlichfte, was es im menfchlichen Geifte giebt. In diefem Sinne ift Verftand nichts anders als die natürliche Philofophie feibft, und nicht viel weniger als das höchfte Gut. Durch feine Allmacht wird der ganze Menfch innerlich heiter und klar. Er bildet alles was ihn umgiebt und was er berührt. Seine Empßndungen werden ihm zu wirklichen Begebenheiten, und alles Aeußerliche wird ihm unter der Hand zum Innerlichen. Auch die Widerfprdche lôfen ßch in Harmonie auf; alles wird ihm bedeutend, er ßeht alles recht und wahr, und die Natur, die Erde und das Leben flehen wieder in ihrer urfprúnglichen Größe und Göttlichkeitfreundlichvor ihm. F. SCHLEGEL: ÜdPh 1799,25/54. Aber Ihr meynt, alles sey nur da, um Euer Urthei! daran zu schärfen, und seyd eitel genug, zu glauben, es gebe nichts Höheres oder nur Anderes, als Se Kunst oder handwerksmäßige Übung des Urtheilens. Ihr fühlt das Bediiifhiß nicht, das Streben des reinen und poetischen Geistes, aus dem Streit der inenden Gedanken in ein stilles, heiteres, ruhiges Land erlöst zu werden. TlECK: PhK/20 1799, 240 f. Die Griechen, in einem schönen genußreichen Erdstriche wohnend, von Natur heiter{i,iV umdrängt von einem glänzenden taten vollen Leben, mehr äußerlich als innerlich lebend, überall nach Begrenzung und Befriedigung trachtend, kannten oder nährten nichtjene dämmernde Sehnsucht nach dem Unendlichen. Ihre Philosophen suchten es in lichten Systemen aufzufassen, ihre Dichter stellten jeder innem Regung desHöheien äußerlich eine helle, mit kräftigen Umrissen abgestochene, mit bezeichnenden Attributen ausgerüstete Göttergestalt entgegen. Ihr Olymp stand in lichter Sonne da, jeder Gott, jede Göttin ließ sich klar darauf erblicken. | Einzelne Erscheinungen in der griechischen Poesie sind vielleicht mehr für uns romantisch(lli0V als sie es Zur die Griechen selbst waren. UHLAND: ÜdR 1807, 399 f. BRENTANO: Godwi 1801,40 4); BRENTANO: Rhn/2 »1810-12,165; HÖLDERLIN: Hyp/1 1797,51; HÖLDERLIN: Hyp/2 1799,130 4); 135 ( - 4): MEREAU: NdL 1802,62; 87; NOVALIS: an Schiller r7. 1 10. 1791 , NS 101; NOVALIS: an seinen Bruder Erasmus r13. 10. 17951, NS 155 4); NOVALIS: an seinen Bruder Carl r20. 11.17951, NS 161 4); NOVALIS: an C. Just r24. 3.1797', NS 209; NOVALIS: r 1 Tgb »1797,29,7,18,23; 32; 33, u. 26; 41 4); 44; NOVALIS: an R. Just 5.12.1798 , NS 265 4); f 1 NOVALIS: an F. Schlegel 10. 12. 1798 , NS 267; NOVALIS: Blstb 1798, 81/429, Nr. 40. NOVALIS: FrSt •1800, 687, Nr. 678; NOVALIS: Tgb »1800, 56 4); RITTER: Fr/1 1810, LXXVI; SCHELLING: PhK 1803-04,680 /rome,); SCHILLER: AuW 1793,308; A. W. SCHLEGEL: an L. Tieck Ί4.9. 18001, L 49; A W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02, 411 ( - Metapher,); A. W. SCHLEGEL: VLK/3 11803-04, 152; A. W. SCHLEGEL: DKL/1 '1808; 1809-11', 91; F. SCHLEGEL: Lucinde 1799, 56; F. SCHLEGEL: Ideen 1800, 29/270, Nr. 137; F. SCHLEGEL: GP 1800, 125/337; F. SCHLEGEL: SWI 1808, 225 ( - 4); 239; WACKENRODER: HKK/17 1797 [1796], 122; WACKENRODER: PhK/13 1799,206,17; WINKELMANN: NLU 1801, 564; 570.
4. >leicht, beschwingt, anmutig; lustig,fröhlich;guter Dinge, aufgeräumt, zufrieden; hoflhungsfroh, zuversichtlich; von äußeren und inneren Nöten/Betrübnissen unbeeinträchtigt, unbeschwert, unbefangen, (kindlich) unschuldig, natürlich, unverdorben ; offen zu 3 (v. a. bei Novalis als Bezeichnung derjenigen Stimmung oder
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
Weltsicht, die zu einer heiteren3 Geistes- oder Gemütsverfassung führen kann); auch in aktivisch-transitiver Verwendung: >hell, freundlich, belebend; fröhliche Stimmung, Hoffnung, Zuversicht bewirkende Heiter4 können insbesondere genannt werden: • Menschen (h. Schar, h. Mädchen) • das menschliche Gemüt bzw. seine Verfassung, • unter Verschiebung der Bezugsgröße eine in heitererA Gemütsverfassung unternommene Tätigkeit, das Produkt einer solchen Tätigkeit (h. Lied) oder ein Gegenstand oder Phänomen, dessen Apperzeption oder Genuß eine heitere4 Gemütsverfassung bewirkt (h. grüne Wiese, h. Bild, h. Magie, h. Sprache des Tanzes, h. Gaben des Lebens, h. reine Region >Bereich der Kunstin schöpferischer Stimmung< (v. a. bei Novalis), wodurch Bezüge zum Bereich der Kunst hergestellt werden. Bdv.: froh, munter, lustig, laut, vergnügt, gesprächig, behaglich, le bensweise >savant vivrei, freudenvoll, romantisch^,fidel >tapfer, trotz Krankheit guten Mutes verdrießlich, mißvergnügt, melancholisch, traurig, -· beklommen, -· hoffnungslos, -1 gespannt, -< krank. - Prph.: leichten Blutes, unaufhörlich beschäftigt, in Gesellschaftsstimmung, -> nicht recht aufgelegt. - Synt. : jm. in der Seele h. werden, wohl und h. leben, etw. (hier: einen Geburtstag) h. feiern', von Natur h., h. Gaben des Lebens, h. grüne Wiese, h. Frühling, h. Jugend, h. Schar, h. Mädchen, h. Magie, h. Glück, h. Bild, h. reine Region >Bereich der KunstStimmungEifer, Begeisterung innere Glut und Qual.
Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrthum, weil sie ihn im ganzen ihres Systems, in seine Zeit und seine Stelle sezt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Diß ist auch die höchste Poésie^, in der auch das unpoetische, weil es zu rechter Zeit und am rechten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poetisch wird. Aber hiezu ist schneller Begriff am nöthigsten. Wie kannst du die Sache am rechten Ort brauchen, wenn du noch scheu darüber verweilst, und nicht weist, wie viel an ihr ist, wie viel oder wenig daraus zu machen. Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, daßman alles Enzeine in die Stelle des Ganzen sezt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisâtes|5J Gefühl keine Vortreflichkeit, kein Leben. HÖLDERLIN: Rfl »1798/99,234 f. (235, 4 f.). AUmählig legt sich der innre Aufruhr, und über die dunkeln sich aneinander brechenden Wogen scheint ein Geist des Friedens heraufzusch weben, dessen Ankunft sich durch neuen Μυώ und überschauende Heiterkeit in der Seele des Jünglings ankündigt. NOVALIS: L S *1798, 91. Gestern kam ich von Weißenfels zurück, woich vorgestern Mittag den 25ua, Hardenberg sterben sah [...]. Esistgewiß, daß er keine Ahndung von seinem Tode hatte, und überhaupt sollte man es kaum möglich glauben so sanft und schön zu sterben. Er war so langeich ihn sah von einer unbeschreiblichen Heiterkeit[MV und obgleich die große Kraftlosigkeit ihn den letzten Tag sehrhinderte selbst zu sprechen, so nahm er doch an allem den Hebens würdigsten Antheil und es ist mir über alles theuer, ihn noch gesehn zu haben. F. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel 27.3. 18011, W 471. Die heftig unruhig strebende Begierde wollte die ursprüngliche Einheit zerstören, sie brachte das Welt-Ich mit sich selbst in Zwietracht und Kampf; trübte die stille Heiterkeit der Sehnsucht und ängstigte sich selbst in innerer Glut und Qual. F. Schlegel: EPh/1 '1804-05, 435. Knorring hatte eine Spazierfahrt auf dem Wasser mit Musik veranstaltet und ich glaube einen so schönen A bend erlebe ich niemals wieder. Das ruhige Wasser die sehr gute Musik das Echo von den Ufern und dabei der Himmel ringsum mit fernen Gewittern umzogen in der schönsten milden Luft wo sich die Blitze recht von allen Seiten antworteten und der ferne Donner zu weilen in die Musik hinein sprach die herlichen Ufer auf beiden Seiten und endlich der Mond der sich recht dunkel golden aus den schwarzen Wolken herauf drängte und sich gleich wieder im Wasser spiegelte. Heiterkeit und Ruhe bemeisterte sich aller [...]. S. TIECK-BERNHARDI: an A. W. Schlegel rAnf. Aug. 18031, KJ 50. Die Stirn ist [...] der Spiegel himmlischer Heiterkeit, mit Nachdenken verknüpft. WACKENRODER: R E B *'l 793/94,243. Sie [Musik]ist die einzige Kunst, welche die mannigfaltigsten und widersprechendsten Bewegungen unsres Gemüths auf dieselben schönen Harmonieen zurückfuhrt, die mit Freud'und Leid, mit Verzweiflung und Verehrung in gleichen harmonischen Tönen spielt. Daher ist sie es auch, die uns die ächte Heiterkei i¡3/4) der Seele einflößt, welche das schönste Kleinod ist, das der Mensch erlangen kann; - fine Heiterkeit meyn 'ich, da alles in der Welt uns natürlich und gut erscheint, da wirim wildesten Ge wühle des Menschen einen schönen Zusammenhang finden, da wir mit reinem Herzen alle Wesen uns verwandt und nahe fühlen, und, gleich den Kindern, die Welt wie durch die Dämmerung eines lieblichen Traumes erblicken. WACKENRODER: PhK/13 1799, 208. -BRENTANO: Sänger 1801,171/54 ( - 4); HÖLDERLIN: Hyp/2 1799,156 4); JEAN PAUL: VSÄ 1804, 100/66; NOVALIS: ABr »1798, 419, Nr. 779; NOVALIS: H V O "1799-1800; 18021, 255 (• · 1); RITTER: Fr/1 1810, XXI; A. W. SCHLEGEL: VLK/3 Ί803-04, 172; F. SCHLEGEL: SWI 1808, 245; SCHLEIERMACHER: R R 1799,220 4); 289; TIECK: FStW 1798, 875. - Vgl. NOVALIS: an Schiller r7. 10. 17911, NS 98 4).
4. zu heiter4: >gute Laune, Fröhlichkeit; Humor; Unbeschwertheit, Unbefangenheit; Unverdorbenheit, (kindliche) Unschuld, (natürliche) Leichtigkeit, Anmut, Schönheit; Natürlichkeit; hoffiiungsfrohe Stimmung, Zuversicht; offen zu 3. Heiterkeit in diesem Sinne kann als Qualität zugeschrieben werden •
der jemanden umgebenden, ihn in einen Gemütszustand der Heiterkeit4
verset-
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
zenden Natur (hervorgerufen insbesondere durch wolkenlosen, strahlenden Himmel; dann offen zu 1), • der als Volksfest verstandenen klassisch-antiken Kunst (als Gegensatz wird dann der in sich gekehrte Emst der reflexiven romantisch-modernen Kunst aufgefaßt), • Personengruppen/Völkern, insbesondere den Griechen, • Personen (vor allem in der Funktion als Autoren bzw. Rezipienten), • Texten (der sophokleischen Elektro: A. W. Schlegel). Besondere semantische Nuancen: schöpferische Stimmung« ( N O V A L I S : H V O 1 R* 1799-1800; 1802 ,279); >Humanität, Lebensbejahung< (A. W. SCHLEGEL: VLK/2 ! 1802-03, 762). Bdv.: Lust, Lustigkeit, Fröhlichkeit, Freudigkeit, Mut, Stärke, Hoffnung, Zuversicht, Freiheit, Anmut, Grazie, Leichtigkeit, Unschuld, Kindereinfalt, -< Bekümmernis, Traurigkeit, ~· Schüchternheit. - Prph.: gutmütige Harmlosigkeit, festliche Freude, trüber schwungloser Ernst. - Synt.: H. (Subj. ) jn. ergreifen, sorglose / scherzende /frohe / gesellige / innerliche / schöpferische Η.,Η. der Phantasie, H. der Jugend. - Ktx.: schweben, sich freuen, -· weinen , freundlich, frei, froh, hoffnungsvolljugendlich, leicht, licht, romantischvm, sanft, schön, -< einsiedlerisch schwermütig, gezwungen, -1 traurig, Ironie2, Geselligkeit, Leben, Volksfest, Gesundheit, Wohlbefinden, Kraft, Glaube. - Ktx. Synt.: etw. guten Mutes ertragen; schöne Gegend, schuldlose Kindheit, schwarze Phantasie. So fühle ich mit einer ruhigen Heiterkeifay wie üch mein zerdrücktes Leben entfaltet, und unter Sonne und Liebe ausbreitet; ich fühle wie die Natur ein recht freundlicher Garten ift, in dem ich gehen kann, und nie ermüde. BRENTANO: Sänger 1801, 171/54. Ich bin [...] gesund und froher und freier in meiner Seele, und darum will ich guten Muthes die äußern Beschränkungen noch ertragen, bis es erfreulicher um mich wird. [. . .] Ich freue mich, daß Du in meinem letzten Briefe die wiederkehrende Heiterkeit meines Gemütbs bemerken konntest. Ich fühle es selbst so lebendig, und weiß, wie viel [...] vor allem Deine Freundschaft dazu beigetragen hat. HÜLSEN: an A. W. Schlegel r l 8. 8. 1803', F 113. Sein fchaff ender Gei ft ließ neue Ideen in mir hervorgehen, und ergötzte lieh an dem Eifer, mit dem ich ße verarbeitete und mir zueignete, und mein fröhlicher Jugendfinn erhielt und nährte die verliegende Flamme feiner Heiterkeit. MEREAU: BE 1794, 35. Habeich doch schon oft, rief Heinrich aus, mich an dem Aufgang der bunten Natur, an der friedlichen Nachbarschaft ihres mannichfaltigen Eigenthums ergötzt; aber eine so schöpferische und gediegene Heiterkeit hat mich noch nie erfüllt wie heute. Jene Femen sind mir so nah, und die reiche Landschaft ist mir wie eine innere Fantasie. NOVALIS: HVO '* 1799-1800; 1802 1 ,279. Nur der Kathoäcismus
lebte in einer mythologifchen
Welt.
Daher die Heiterkeiten} der poetifchen Werke, die in dem Katholicismus felbft entfprungen find, die Leichtigkeit und Freiheit der Behandlung diefes - ihnen natürlichen - Stoffes, faft wie die Griechen ihre Mythologie behandelt haben. Außer dem Katholicismus kann faft nur Unterordnung unter den Stoff, gezwungene Bewegung ohne Heiterkeit und bloße Subjektivität des Gebrauchs erwartet werden. Ueberhaupt wenn eine Mythologie zum Gebrauch herabgefunken, z. B. der Gebrauch der alten Mythologie in den Modernen, fo ift diefer, eben weil bloß Gebrauch, bloße Formalität; fie muß nicht auf den Leib paffen, wie ein Kleid, fondem der Leib felbft feyn. SCHELLING: PhK 1803-04, 443 (25, 29) f. Der Chor [. . .] war Repräsentant einer harmonisch frey versammelten Menge d. i. eines Volksfestes. Dieß war erimmer, wenn er auch, wie in den Tragödien eine ernste ja traurige Handlung feyerte.Es war immer Feyer, ein wirkliches Volksfest konnte sich ja auch auf dergleichen beziehen,
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Heiterkeit 4-5
denn wir müssen hier ganz unsern rohen Begriff entfernen, die Volksfeste waren die künstlerisch organising öffentliche Geselligkeit überhaupt, der schönste Selbstgenuß der Staaten. - So war in der Ode aus der ihr eignen contemplativen Concentration die heiterste¡4J Geselligkeit wiederhergestellt. Daher die Neigung zur Fröhlichkeit auch in der höheren Lyrik der Alten, die auf uns gekommnen Gesänge des Pindar athmen in der That festliche Freude an einer festlichen Freude. \ Bey den Neueren geht nun die Richtung im allgemeinen mehr auf das Subjektive und Ideale, und es findet sich kein solches Gegengewicht, welches den lyrischen Sängerin die äußere Welt zurückriefe. Daher ist der Charakter der eigenthümüch romantischen¡M] Ode, der Canzone, statt der geselligen Heiterkeit des Chores, vielmehr einsiedlerisch schwermüthig, und es ist ein vorwaltender Hang zur beschaulichen Vertiefung in sich selbst, in die Abgründe des eignen Gemüths, sichtbar. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04, 173. Meine Gefundheit ift fehr gefchwächt - aber wahrlich die innre Heiterkeit meiner Seele fo wenig, daßich heute den Muth habe mich [..Jan einem Ort, wo ich keine Gefangen Wärter und Wache mehr zu fehn brauche, glücklich zu fühlen, fo heftig mein Kopffchmerzt und ein unaufhörlicher Hüften, der ganz anhaltend geworden ift, mich plagt. C. SCHLEGEL: an F. W. Gotter r l 5. 6. 17931, C/l, 291. Ich habe eine Zeitlang geschwelgt in den Schönheiten der Natur, die hier groß und mannigfaltig sind. Dieses und der ruhige Genuß der frischen Bergluft, giebt mir neue Kraft und Heiterkeit nach den ununterbrochnen Arbeiten und Mühseligkeiten des Winters. Ich bin froh und glücklich und sehe ein schönes Leben να-mir. F. SCHLEGEL: an Novalis rEnde Juli 17941, KA/23 203. Durch Franzens Geist ergoß sich Heiterkeit und Stärke, erfühlte wieder seinen Mut und seine Kraft. TLECK: FStW 1798,735. Ach lieber Bruder wen[n]mir Ihre Liebe recht deutlich wird so kann ich oft mitten in der Heiterkeit weinen und es mir vorwerfen das ich mich ohne Sie freuen kann. S. TIECK-BERNHARDI: an A. W. Schlegel Ί. 9. 18041, KJ 146. Mit leichter, spielender Freude steigt die tönende Seele aus ihrer Orakelhöhle hervor, - gleich der Unschuld der Kindheit, die einen lüsternen Vortanz des Lebens übt, die, ohne es zu wissen, über alle Welt hinwegscherzt, und nur auf ihre eigene innerliche Heiterkeit zurücklächelt. WACKENRODER: P h K / 1 6 1 7 9 9 , 2 2 2 . - BRENTANO: Godwi 1 8 0 1 , 1 9 3 ; HÖLDERLIN: Hyp/2 1 7 9 9 , 1 5 6 ( - 3 ) ; HÜLSEN: an A. W. Schlegel R26. 5. 1803', F 107; r l 4. 10. 1803 1 , F 118; MEREAU: B E 1794, 6 6 ; MEREAU: E k G 1 8 0 1 , 2 7 ( - 1); MEREAU: N d L 1 8 0 2 , 6 7 ; NOVALIS: a n Schiller Π. 10.1791', N S 98;NOVALIS: an F. Schlegel r l . 8. 1794 1 , N S 138; NOVALIS: an C. Just R 28. 3. 1797 1 , N S 2 1 1 , Ι ; N O V A L I S : H V O » 1 7 9 9 - 1 8 0 0 ; 1802 1 , 306;NOVALIS: T g b 1800, 55; A. W. SCHLEGEL: V L K / 2 '1802-03,762; A. W. SCHLEGEL: DKIV1 ' 1 8 0 8 ; 1 8 0 9 - 1 1 \ 5 2 ( - 1); A. W. SCHLEGEL: D K L / 2 ' 1 8 0 8 ;
1809-1 Γ, 199 ( - Irome2y, F. Schlegel: an A. W. Schlegel 'Januar 17921, KA/23 40; F. SCHLEGEL: Ideen
1 8 0 0 , 2 2 / 2 6 6 , Nr. 104; SCHLEIERMACHER: R R 1799, 2 2 0 3 ) ; TIECK: F S t W 1 7 9 8 , 7 8 9 ( - 1); 8 0 1 ; 8 4 0 ; 8 8 6 , 21, 42; 9 5 6 ; TIECK: A M L 1 8 0 3 , 2 0 0 ; 2 0 8 Ironie,); TIECK.: an F. Schlegel R 25. 3. 1813 1 , L 169; S. TIECK-BERNHARDI: a n A. W. Schlegel R 30. 5. 1804 1 , K J 100; R 26. 12. 1805 1 , K J 2 6 8 ; WACKENRODER: an L Tieck '4.6.1792 1 , V L 4 5 ; WACKENRODER: PhK/13 1 7 9 9 , 2 0 8 ( - 3); WINKELMANN: N L U 1801, 565.
5. zu he iter>
Vielfältigkeit, Abwechslungsreichtum, Detailfreude, Lebendig-
keit, Phantasie einer poetischen Darstellung; den Bereich der Sinnlichkeit nicht aussparende, gleichwohl sublime Komik< als Charakteristikum der
romantischenm/i
Dichtart, insbesondere des Romans im Gegensatz zur Novelle; von A. W. Schlegel als poetischer Wert an sich apostrophiert; offen zu 4; vgl. Ironiem. Bdv.: -·Kahlheit. - K t x . : malerisch, pittoresk, profan, romantische^ 1
- heilig,
trübe. - Prph. : phantastischer
Farbenzauber,
fromm,
Pracht der Malerei
und der Farbe. - Synt. : poetische Η., H. des Details. - Ktx. : Roman. - Ktx. Synt. : -1 etw. auf das eigentlich Faktische reduzieren (vom Gehalt eines Romans gesagt). Man würde Reh fehr irren, wenn man in dem Werk des Calderón eine fromme und heilige Darfteilung erwartete [...]: es ift keine Genoveva, wo der Katholicismus abftchthch fromm und im höchften Grad trübe genommen ift, es ift vielmehr eine durchaus poetifche und unauslöfchliche Heiterkeit darin; es ift alles, im höchften Styl, profan darin [ ] SCHELLING: PhK '1803-04, 730. Allein das ist ausge-
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
macht, daß viele der modernen und unromantischen Romane sich gerade dasselbe zum Ziel gesetzt, was die Novelle: nämlich Erfahrungen über den Weltlauf mitzutheilen, und etwas als wirklich geschehen zu erzählen. Daher die vielen Überschriften: kein Roman, wahre Geschichte u. s. w. Wie wenige dieß leisten, liegt wieder am Tage. Denn erstens enthalten siekeine Wahrheit, sondern Fratzen, und zweytens geschieht auch nichts darin. Im besten Falle aber, wenn beydes geleistet wird, wofern das Detail keine Heiterkeit, keinen fantastischen Farbenzauber, mit einem Worte keinen poetischen Werth an sich hat, so muß doch der Gehalt eines solchen Romans auf das eigentlich Factische reducirt werden, d. h. dasjenige was sich darin zur Novelle quaüfizirt. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04, 189. - SCHELLING: D p h B 1 8 0 3 , 1 6 1 ; SCHELLING: PhK Ί 8 0 3 - 0 4 , 4 4 3 , 25 ( - 4). *
*
*
*
Ironie, die; -01-en (Pl. selten). Wortbildungen: V. ironieren; Adj. ironisch. Vor allem bei F. Schlegel läßt sich von einer theoretisch fundierten Konzeption der Ironie sprechen. Sie ist ein Standardbeispiel fur frühromantische Versuche der Vermittlung von Antithesen (vgl. S. 40 f.) und steht insbesondere mit Überlegungen zur Darstellbarkeit des Undarstellbaren im Zusammenhang, die auf den Gedanken hinauslaufen, sich dem Unbedingten durch eine als dialektische Bewegung verstandene unaufhörliche Negation einander entgegengesetzter Dinge zu nähern. Literatur: Strohschneider-Kohrs 1967; Mennemeier 1968; Strohschneider-Kohrs 1977; Prang 1989; Oesterreich 1994.
1. Einschränkung oder Zurücknahme einer Aussage; bewußte Darstellung eines Gegenstandes unter mannigfachen, auch und gerade widersprüchlichen Aspekten Komik, Parodieauf (Selbst)reflexion beruhende Überlegenheit, (schalkhafte) Distanz zum Gegenstand wie zu sich selbstÜberlegenheit eines Autors über seinen
Stoff, Unparteilichkeit Lebendigkeit, Reichtum der Darstellungmit dem scheinbaren oder erklärten Anliegen nicht übereinstimmender Hintergedanke; Wendung gegen ein Übermaß an Emotion, Idealismus usw. durch Betonung rational-kritischer, realistischer Aspekte; Desillusionierungspöttische Desillusionierung< vgl. 5. Ktx. : Agilität, Chaos, Schein, Kontrast, Gegensatz, Mischung, Tautologie, Gleichgewicht.; romantisch5/9no. - Ktx. Synt.: absolute Synthesis absoluter Antithesen, dem Tragischen beigemischtes Komisches, pittoreske Darstellung, phantastische Fülle.
Ironie 1-2
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Im Wunderbaren zeigt fich Poefíe und Prof a im Kampf; das Wunderbare i f t es nur gegenüber von der Profa und meiner getheilten Welt. Im Homer ift, wenn man will, alles, abereben deßwegen nichts wunderbar. Allein Aríoíto hat wirklich vortrefflich verftanden, fein Wanderbares vermittel ft feiner Leichtigkeit, feiner Ironie und des oft ganz ungefchmückten Vertrags in ein Natürliches zu verwandeln. Er wird auch am fch werften da zu erreichen feyn, wo er ganz trocken erzählt. Im Uebergang aber von folchen Partieen zu andern, über die er den ganzen Schmuck feiner reichen PhantaTie ergoffen, malen fich die Contrafte und Mifchungen des Stoffs, welche im romantifchen[w) Gedicht nothwendigßnd [...]. SCHELLING: PhK '1803-04,670 f. (671, 4). Wo der Boden der Dichtung es [das Pittorefke]nicht begünftigt, muß der Dichter es erfchaffen [...]. Alles, was die Sitten Roman tifches[sj darbieten, muß herausgewendet und das Abenteuerliche nicht verfchmäht werden, fobald es auch wieder zur Symbolik dienen kann. Die gemeine Wirklichkeit foli fich nur darftellen, um der Ironieíl!M¡ undirgend einem Gegenfatze dienftbar zu feyn. SCHELLING: PhK '1803-04,677 f. (678, 2). Mit einem Wort, es folgte auf die idealische Weltansicht des Ritterthums und seiner Galanterie ein derber Realismus: vielleicht kann man diese Zusammenstellung als ein allgemeines Gesetz, wenigstens im Gange der romantischen^^ Poesieinno] ansehen, da in dieser die Ironie zu Hause ist. A W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04,39. Was ich unter Ironie verftehe, werdeich zur Rechtfertigung des dem Tiagifchen beigemifchten Komifchen im romantifchen[m] Drama des Shakfpeare und Calderón näher entwickeln. Hier nur fo viel, daßeseinin die Darfteilung felbft hineingelegtes mehr oder weniger leife angedeutetes Eingeftändniß ihrer übertreibenden Einfeitigkeit in dem Antheil derPhantafie und Empfindung ift, wodurch alio das Gleichgewicht wieder hergeftellt wird. A W. SCHLEGEL: DKL/1 R 1808; 1809-111,366. Niemand hat fo wie er [Shakfpeare] den leifen Selbftbetrug gefchildert, die halb felbftbewußte Heuchelei gegen ftch, womit auch edle Gemüther die in der menfchlichen Natur faft unvermeidliche Eindrängung felbfäfcher Triebfedern verkleiden. Diefe geheime Ironie der Charakteriftikift bewundernswürdig als ein Abgrund von Scharfünn, aber dem Enthusiafmus thut sie wehe. Dahin kommt man alfo, wenn man das Unglück gehabt hat, die Menfchheit zu durchfchauen, und außer der traurigen Wahrheit, daß keine Tugend und Größe ganz rein und acht fei, und dem gefährlichen Irrthum, als ftände das Höchfte zu erreichen, bleibt uns keine Wahl übrig. Hier fpüre ich, während er die innigften Rührungen erregt, in dem Dichter felbft eine gewiffe Kälte, aber die eines überlegenen Geiftes, der den Kreiß des menfchlichen Däferns durchlaufen, und das Gefühl überlebt hat. A W. SCHLEGEL: DKL/2 r'l 808; 1809-11U97 f. ( 198, L). Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist. F. SCHLEGEL: Lyfr 1797, 153, Nr. 48. Naiv ift, was bis zur Ironie, oder bis zum fteten Wechfel von Selbftfchôpfung und Selbftvemichtung natürlich, individuell oder klaffifchin ift, oderfcheint. [...] Das fchòne, poetifche, idealifche Naive muß zugleich A blicht, undInftinkt fein. F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 190/172, Nr. 51. Eine Idee ift ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine abfolute Syntheßs abfoluter Antithefen, der ftete lieh felbft erzeugende Wechfel zwey ftreitender Gedanken. F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 207/184, Nr. 121. Ironie ift klares Bewußtfein der ewigen Agilit&t, des unendlich vollen Chaos. F. SCHLEGEL: Ideen 1800,16/263, Nr. 69. Ein großer Theil von der Un verftindlichkeit des Athenaeums hegt unftreitig in der Ironie, die fich mehr oder minder überall darin äußert. F. SCHLEGEL: ÜDU 1800,346/368. Im Süden hatte fich alle Poefie[l] in PhantaTie verflüchtigen, im Norden hatte fíe fich fchon früh in Gemeinheit, Alltäglichkeit und Gleichgülúgkeit verlieren wollen. Mit diefem, ihrem widerwärügften Gegentheil vermählte fíe diefer unergründliche Geift [Shakfpeare] und gab ihr die moralifche Kraft und die Kühnheit, das Schickfal darzuftellen und auszufprechen, die wir an ihm nie genug be wundern können. Er zieht einen magifchen Kreis der fchmerzhafteften Ironie^m um feine Phantafíen, aus welchem fíe nicht weichen dürfen, und die uns nun eben fo heiterm, als wehmüthig, eben fo groß und ge waltig, als beengt und niedergedrückt erfcheinen wollen. Eben fo räthfelhaft, als Cervantes, ergreift uns in feiner Gegen wart eine Bangigkeit, weil wir ein Geheimniß fpuren, welches uns die frifche Heiterkeit des fudüchen Dichters in jedem Augenblick wieder vergeffen läßt. TLECK: AML 1803, 208. - BERNHARDI: Spl/2 1803, 230; SCHELLING: PhK 1803-04, 675, 27 ( - 2); 677; 680 ( - 2); F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 259/217, Nr. 305; F. SCHLEGEL: G M 1 7 9 8 , 3 4 1 / 1 3 7 ( - 4).
2. >Komik, Parodie< als Instrument sowohl wie als Wirkung der unter 1 beschriebenen Operation (klare Trennung von 1 oft nicht möglich), damit zugleich als Instrument zur Auflockerung der Rezeptionshaltung; vgl. Heiterkeit5.
396
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen B d v . : Leichtigkeit,
Scherz, leichte Gaukelei - Ktx. : Lachen,
Anmut,
Fröhlichkeit,
der Phantasie,
Heiterkeit4,
Parodie.
- Prph.: leichter
trüber I schwungloser
Spiel, -1 Geschäft-, komisch,
/
! strenger
leiser Ernst.
tragisch.
Die Gleichgültigkeit [des Dichters] darffo weit gehen, daßße fogarín Ironielm] gegen den Heiden übergehen kann, da froniepnn] einzige Form ift, in der das, was vom Subjekt ausgeht oder ausgehen muß, fleh am beftimmteften wieder von ihm abiöft und objektiv wird. Die Unvollkommenheit kann alfo dem Helden in die fer Hinßcht gar nichts fchaden; die prätendine Vollkommenheit hingegen wirddenRoman vernichten. SCHELLING: PhK '1803-04,675. Der Roman des Cervantes ruht alfo aufeinem fehr unvollkommenen, β verrückten Helden, der aber zugleich fo edler Natur ift [...], daß ihn keine Schmach, die ihm widerfahrt, eigentlich herabwürdiget. An diefe Mifchung (in Don Quixote) ließ lieh eben das wunderbarfte und reichfte Ge webe knüpfen, das im erften Moment fo anziehend wie im letzten ftets den gleichen Genuß gewährt und die Seele zur heiterften.n Befonnenheit ftimmt. Für den Geift ift die nothwendige Begleitung des Helden, Sancho Pania, gleichfam ein unaufhörlicher Fefttag; eine unverfiegbare Quelle der Ironie[lli] ift geöffnet und ergießt fich in kühnen Spielen. SCHELLING: PhK Ί 803-04,680. Wo das eigentlich Tragifche einuitt, hört freilich alle Ironie auf; allein von dem eingeftandnen Scherz der Komödie an bis dahin, wo die Unterwerfung fterbiieher Wefen unter ein unvermeidliches Schickfal den ftrengen Ernft fordert, giebt es eine Menge menfchlicher Veihältniffe, die allerdings, ohne die ewige Gränzfcheidung zwifchen Gut und Böfe zu verwirren, mit Ironie betrachtet werden dürfen. Die fem Zweck dienen die komifchen Perfonen und A uftrítte, welche in Shakfpeares meiften Stücken einer edlen und erhöhenden Darftellung romantifcher Dichtungen oder hiftorifcher Vorfälle eingeflochten find. Manchmal ift eine beftimmte Parodie des emfthaften Theils darin nicht zu verkennen; andre Male ift der Zufammenhang lofer und willkürlicher, um fo mehr, je wunderbarer die Erfindung des Ganzen ift, je mehr es bloß zu einer leichten Gaukelei der Phantafie wird. Ueberall dienen die komifchen Unterbrechungen dazu, zu verhüten, daß das Spiel ßch nicht in ein Gefchäfi verwandle, dem Gemüth feine Heiterkeit zu bewahren, undjenen trüben fchwunglofen Ernft abzuhalten, der ßch fo leicht im fentimentalen, jedoch nicht tragifchen Schaufpiele einfchleicht. A W. SCHLEGEL: DKL/2 R1808; 1809-1V, 198 f. (199, L, 6). Jener leichte Scherz warihm [Ben Jonfon] vertagt, der harmlos um Alles gaukelt, der eine bloße Eingebung der Fröhlichkeit zu fein fcheint, aber um fo philofophileher ift, weil er nicht eine beftimmte Lehre einkleidet, fondern nur eine allgemeine Ironie enthält. A. W. SCHLEGEL: DKL/2 N1808; 1809-1L1,337. Man laffe fich alfo dadurch, daß der Dichter [Goethe] felbft die Perfonen und die Begebenheiten fo leicht und fo launig zu nehmen, den Helden faft nie ohne Ironie^ zu erwähnen, und auf fein Meifterwerk felbft von der Höhe feines Geiftes herabzulicheln fcheint, nicht tâufchen, als fey es ihm nicht derheiügfte Ernft. F. SCHLEGEL: G M 1798, 334/133. - NOVALIS: ABr »1798, 288, Nr. 2 7 0 ; SCHELLING: PhK 1803-04,678 (-> 1); 713; A W. SCHLEGEL: VLK/3 1803-04, 83; F. SCHLEGEL: Athfr 1 7 9 8 , 2 4 6 / 2 0 8 , Nr. 253 Buchstabe5); F. SCHLEGEL: G M 1 7 9 8 , 3 4 1 / 1 3 7 ( - 4); TIECK.: A M L 1803, 2 0 8 ( - 1).
3. >auf (Selbst)reflexion beruhende Überlegenheit, (schalkhafte) Distanz z u m Gegenstand w i e zu sich selbstals qualitativ hochrangig und beispielhaft allgemein anerkannt; zur Nachahmung empfohlenrein, unvermischt, einheitlich; klar begrenzt, abgesondert, für sich ein
Ganzes ausmachend, in sich geschlossen, vollendet; klar gegliedert; harmonisch proportioniert; auch (mit tendenziell eher negativer Wertung) >regelhaft, streng, formal, akademische; offen zu 1 und 2; auch als inhaltliche Bestimmung zu 4. Bdv. : korrekt, fehlerfrei, mischt,
phantastisch,
rein, streng, kalt, einfach, einzeln, gleichartig,
progressiv^
romantischsl9in,
nau bestimmt, aus einem Stück. - Synt.: k. Verschiedenheit, Ktx.: systematisieren, setzmäßigkeit,
chaotisieren;
k. Gesetz, k. Kälte.
Individualität,
Einseitigkeit,
Langeweile,
Organisation9,
mäßigkeit, -· Ausartung,
Heterogeneität,
-·Mischung.
- Ktx. Synt.:
der Umrisse, Scheidung
der Dichtarten,
strenge Reinheit,
wuchs,
Korrektheit,
-· phantastisch',
Ergötzen ohne Rückhalt. - Wbg.: klassifizieren
einteilen^ klassizisieren
-· ge-
universell. - Prph.: geGattung, -·
-
Ge-
Unregel-
Bestimmtheit
fremdartiger
Aus-
bestimmen, in Klassen
>zum Klassischen^ tendierend
Paul [Veronefe]mahlte Mich, was eriah und erlebte, Poufñn fchópfte múhíam aus alten Denkmälern und Bâchem. Jener hätte vielleichtfeinefantaitifche Jovialität eingebüßt, wenn er die Kunft fo emft hätte treiben wollen; diefer konnte ßch fchwerlich über feine klaffifche Kälte erheben, wenn er lieh auch gefelligerins Leben hineinwagte [...]. A. W . SCHLEGEL: D G 1 7 9 9 , 1 1 9 / 7 7 . Nach unsrer allgemeinen Ansicht vom Verhältniß der alten und neueren Kunst werden wir auch in der Musik keine gegen die andre herabzusetzen, sondern die Bedeutung ihres Gegensatzes zu verstehen suchen; und da würde sich vielleicht bey näherer Erörterung finden, daß das vorwaltende in der alten Musik eben das war, was in den übrígen Künsten: das plastische, rein classische, streng begränzende; in der neueren hingegen das pittoreske, romantische^^ oder wie man es nennen will. A. W . SCHLEGEL: V L K / 1 1 8 0 1 - 0 2 , 3 6 7 . [Das strenge Regelpostulat der Kritiker] hat bey Vielen dieMeynung erzeugt, die Cultor des Geschmacks sey eine gar nicht angenehme, nicht selten mit vieler Langen weile abzubüßende Pflicht, und sie rechnen es mit zu den Kennzeichen des Classisch-Correcten daß es kalt läßt. Hingegen eine herzäche Freude, ein nicht bestelltes, sondern sich gleichsam wider Willen einstellendes Ergötzen ohne Rückhalt, ist schon der Unregelmäßigkeit verdächtig und wird als eine ästhetische Debauché nicht eingestanden. A. W . SCHLEGEL: V L K / 3 ' 1 8 0 3 - 0 4 , 9 . Wir haben zwar classische[4] undromantische^Poesie einander von Jeher in diesen Vorträgen entgegengesetzt, aber keine Trennung ist so absolut, daß nicht Elemente des Getrennten sich aufbeyden Seiten fínden sollten, nur daß sie in veischiednerRangordnung hervortreten oder zurückstehen. Wir haben schon mehrmals bemerkt, daß einzelne Dichter, ja ganze Gattungen der antiken Poesie, welche nach den classischen[3)i] Gesetzen beurtheilt, nicht bestehen können, ein dem unsrigen sich annäherndes Streben verrathen, nur freylich unreif und nicht mit gehöriger Reife entfaltet. A. W . SCHLEGEL: V L K / 3 1 1 8 0 3 - 0 4 , 184. Alle klassischen Dichtarten in ihrer strengen Reinheit sindjetzt lächerlich. F. SCHLEGEL: Lyfr 1 7 9 7 , 1 5 4 , Nr. 6 0 . Derplatte Mensch beurtheilt alle andern Menschen wie Menschen, behandelt sie aber wie Sachen und begreifi nicht daß die andern Menschen sind wie Er. Die Notwendigkeit d[er] Polemik ist wohl besonders daraus zu deduciren, daß Einer nicht Alles sein kann. Soll Einer dieß, der andre das sein, so entsteht schon von selbst Streit, damit alles was sein soll für sich bei seiner classischen Verschiedenheit und dazu noth wendigem Rigorism erhalten und gegen einander in seinen Rechten geschützt werde. F. SCHLEGEL: PhL/2 * 1 7 9 7 , 8 1 (37) f., Nr. 6 2 4 . Im Vergleich mit d[em] Ganzen ist dfasjEinzelne immer nur classisch, das Ganze aber progreßivm F. SCHLEGEL: PhIV2 * 1 7 9 7 , 9 2 , Nr. 7 5 1 . DieMetaVersmaß, das nicht auf Silbenquantität oder -qualität, sondern auf regelhafter Verwendung sprachlicher Bilder beruhen soll< (F. Schlegel), Metaphernsprache, Metaphorenkreis >Menge der in einem Text vorkommenden Metaphern< (F. Schlegel). Ein [...] ausgeführtes Gegen bild, deffen Hauptbild durch den Sprachgebrauch ¡eicht zu errathen i ft, erhält den Nahmen Allegorìe, und fpine Einheit verhalt lieh gegen die der Metapher^, wiederSatz lieh gegen den einzelnen Redetheii verhält. - Uebrigens kann die Sprachdarftellung der Metapher^, der Synekdoche und der Metonymie [...] noch ohne Sprachfitze gefchehen, allein wegen der A usfdhrlichkeit der Allegorie tritt hier zuerft die Darfteilung durch Satze als noth wendig ein. [...] Es ift unftreitig eine Metapherw, wennmanfagt: das Schiff des Staates; allein diefe wird zur Allegorie, wenn das Hauptbild: der Staat gänzlich verdunkelt, und das Gegenbild: das Schiff durch ausführliche Darfteilung gefchildert [...] und endlich durch jene, durch den Redegebrauch fanktionirte Metapher^ der Gei ft auf das Hauptbild, auf den Staat geleitet wird. B E R N HARDT Spl/2 1 8 0 3 , 1 0 1 , 5 , 1 4 , 2 2 . Diefes = ift die Identität, welche unter den Verftandesfiguren als Definition auftritt, unddiefer flehen unter den imaginativen Darftellungen Metapher und befonders Allegorie entgegen, welche in der Sprachdarftellung als fynonymifche Beftrebungen können betrachtet werden. B E R N H A R D ! : Spl/2 1 8 0 3 , 2 0 7 . Wir haben durch das vorige [...] das Princip aller muñkali[f]ch-
Metapher 1
407
poetifchen Sprachfiguren [Reim, Affonanz, Allitteration, Wortfpiel, Annomination] ausgefprochen, es ift die Dariteüung der abfoluten fdentitit, und daher kann man diefe ganze Gattung, als mufikalifch-poeüfche Metaphern anfehen, indem jener Wirkung auf demfelben Grunde ruht, wie die Wirkung diefer. BERNHARDI: Spl/2 1803,397. [FJolgende Allegorie Youngs ift übel: „jeder uns geraubte Freund ift eine dem Flügel menfchhcher Eitelkeit ausgeriffene Feder, wodurch wir gezwungen werden, aus unterer Wolkenhóhe herabzufteigen, und [...] auf den f chía f f en Fittigen des finkenden Ehrgeitzes (- wie tautologifch! -) nur noch eben an der Oberfläche der Erde hinzureichen (- ohne das „noch eben " h&tt' er nicht weitergekonnt), bis wir fie aufreißen, um über den verwefenden Stolz ein wenig Staub zu ftreuen (jetzt geht er aus der Metapher des Sinkens in die des Stinkens über) und die Welt mit einer Peft zu verfchonen. "JEAN PAUL: V S Ä 1804, 306/175,12/I6. Die schönste und für die Poesie^ wichtigste Art von Tropen ist die Metapher. Sie besteht darin, daßman das Verghchene ganz verschwinden, und das Bild, womit es verglichen wird an seine Stelle treten läßt, wodurch also nicht mehr Ähnlichkeit sondern völlige Gleichheit angedeutet wird. Daher lassen sich auch viele Metaphern eben so schicklich umkehren, z. B. man kann sagen: der Frühling des Lebens und: die Jugend des Jahres. Ganz besonders schön und sinnreich sind daher die doppelten Metaphern, wo die Vertauschung der Sphären beyder Bilder schon in der Symmetrie ihrer Entgegensetzung hegt, wenn z. B. vom Calderón ein Schiff beschrieben wird als: Ein Fisch der Luft, ein Vogel der Gewässer. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 1801-02, 410. Manräth gewöhnlich beym Gebrauch der Tropen und Metaphern große Mäßigung an, und warnt vor Übertreibung und allzu großer Kühnheit. Frey lieh kann in vielen Gedichten oder Theilen derselben Einfalt und Schmucklosigkeit des Ausdrucks wesentlich seyn; in andern Fällen ist es aber erlaubt, das ganze Füllhorn der üppigsten und feurigen Fantasie auszuschütten: die Natur der Sache muß darüber einzig entscheiden [...]. Die Nüchternheit in diesem Punkte, welche die Kunstrichter als Correctheit anpreisen, ist meistens nurFantasielosigkeit und Armuth des Geistes. Als Sch wulst und Bombast pflegen eben diese alles zu verwerfen, was irgend über den Horizont des Herkommens und der Gewöhnung hinausgeht. [...¡Nur auf einesolche Verschwendung von Bildem, welcher kein wahrer Schwung der Fantasie zum Grunde liegt, die also ein bloß erborgter Schmuck ist, paßt die Benennung des Sch wulstes, oder des Bombastes, wenn die Fantasie sich aus den heiternm Regionen schöner Anschaulichkeit in das Verworme und Sinnlose verliert. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 1801-02,411,1. ich will hier nur im allgemeinen bemerken, daß, so wie die rhetorischen Regeln, welche man für die Poesie[n ertheilt, und in deren Beobachtung die Correctheit der Diction gesetzt wird, zB. von der Mäßigkeit in den Bildem, Vermeidung übertriebner Metaphern und folgerechte Zusammenstimmung in denselben, viel zu unbestimmt sind, und daß es kein absolutes rhetorisches Ideal für den poetischen Styl ohne Rücksicht auf die Gattungen und den Charakter der einzelnen Werke giebt [...]. A. W. SCHLEGEL: V E W 1803-04,272. Durch die Metapher[lni wird aber nicht bloß sinnliches und unsinnliches gleichgesetzt, sondern es wird [...] eine allgemeine Verwandtschaft aller möglichen Bilder durch sie begründet. Es ist daher lächerlich, wenn die rhetorische Poetik hier gewisse Gränzen setzen, und manche Metaphernm als zu kühn und übertrieben, folglich schwülstig, absolut untersagen will. Wenn nicht alle Dinge innig eins wären, und sich das größte in dem kleinsten, jedes überhaupt in dem entferntesten spiegelte, so wäre auch jedes Bild von dem andern durch eine unermeßliche nie zu überschreitende Kluft getrennt, und die uns als die nüchternste und abgedroschenste erscheinende Metapherm hätte nie gewagt werdenkönnen. Dann wäre aber auch [...] durchaus keine Sprache zu Stande gekommen. Nachdem die gelindeste Metaphern] möglich gewesen, so ist die kühnste nur ein geringer Fortschritt. Eben so ist es mit der Regel, nicht aus derselben Metapherm heraus zu gehen. Es kann eben die fortschreitende Übertragung in derPoesie[n] an der gehörigen Stelle sehr ausdrucksvoll seyn. A. W. SCHLEGEL: VEW 1803-04, 305. Wie durch die Metapher die Identität aller Dinge behauptet und anschaulich gemacht wird, so dehnt die Personification die menschliche Natur über alle Gegenstände im Universum aus, und begabt sie mit Sitüichkeit und Freyheit. Dieß entspricht f...] dem Streben des Menschen, welches auch die Poesie¡7) selbst hervorrief, sein Wesen reflectirt zu erblicken. A. W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04,306. Wenn er [Calderón] das Entfemtefte, das Größte undKleinfte, Steme und Blumen zufammenftellt, fo ift der Sinn aller feiner Metaphern der gegenseitige Zug dererfchaffnen Dinge zu einander wegen ihres gemeinfchaftlichen Urfprungs, und diefe entzückende Harmonie und Eintracht des Weltalls ift ihm wieder nur ein Widerfchein der ewigen Alles umfaffenden Liebe. A. W. SCHLEGEL: DKL/2 "1808; 1809-111, 397. Alle π [poetischen] und ρ [rhetorischen]Figuren müssen entweder synthetisch (Metapher, Gleichniß, Allegorie, Bild, Personification) oder analytisch sein (Antithesen, Pariosen pp) /Der Personification liegt der Imperativ zum Grunde: Alles Sinnliche zu
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
vergeistigen. DferJ Allegorie rfer.'AIIes Geistige zu versinnlichen / V. SCHLEGEL: FLP *1797,103, Nr. 221. Es bleibt dabey [...]: Dein Roßtrappist schlecht, u[nd] ich habe ihm, glaub'ich, eben nicht Unrecht gethan. [,..]Der Sachen itztzu geschweigen, so sind Einkleidung, Verse, Styl, Bilder, Wohlklang so, daß sie mich beleidigen. Du u[nd] Burgsdorff, ihr versteht euch auf erhabene, große Gefühle, dramatischen Genius etc tausendmal besser als ich. Ich hingegen behaupte dreist, daß ich über Versbau, Wohlklang, Rhythmus, Ausfeilung derPerioden, Ausbildung derMetaphern, Feinheiten der Sprache, u[nd] was dergleichen k 1 ei η e Sächelchen mehr sind, ungleich treffender urtheilen kann als ihr beyden. WACKENRODER: an L. Tieck R 5.3.1793 1 , VL136. -BERNHARDI: Spl/2 1 8 0 3 , 9 0 ; 93; 94; 103; 400; HUMBOLDT: G M »1797, 3 3 3 ; HUMBOLDT: H D 1799, 311; JEAN PAUL: V S Ä 1804, 298/171; 300/173; 3 0 5 / 1 7 4 f.; 306/175, 16f/20; SCHELLING: PhK Ί 8 0 3 - 0 4 , 6 3 8 ; A. W. SCHLEGEL: VphK Ί 7 9 8 - 9 9 , 9 ( - Poesie,); A. W. SCHLEGEL: VLK/1 ' 1 8 0 1 - 0 2 , 4 1 1 , 2 5 ; 412 Poesie^; A. W. SCHLEGEL: A F B 1803, 197/147; A. W. SCHLEGEL: V E W 1 1803-04, 3 0 4 ( - Poesie,); F. SCHLEGEL: PhL/4 *1798, 206, Nr. 118; F. SCHLEGEL: FPL *1801,317, Nr. 754 romantisch3); F. SCHLEGEL: ZP/1 *1802, 375, Nr. 9 6 u. 97; F. SCHLEGEL: ZP/3 »1803,454, Nr. 14; 455, Nr. 18 u. 20; 456, Nr. 29 u. 31. F. SCHLEGEL: ZP/4 «1803, 511, Nr. 114; 512, Nr. 115; 513, Nr. 124 u. 127; 517, Nr. 162. - Vgl. F. SCHLEGEL: PhL/6 »1802, 464, Nr. 323; F. SCHLEGEL: ZP/3 » 1 8 0 3 , 4 7 6 , Nr. 212; WACKENRODER: an L. Tieck '5. 3. 1793 1 , VL 135.
2. Bezeichnung einer Sinneswahrnehmung oder Empfindung durch eine ihr unter jeweils näher zu bestimmendem Aspekt vergleichbare LautäußerungAnwendung einer Bezeichnung für einen Gegenstand sinnlicher Erkenntnis auf einen Gegenstand geistiger Erkenntnisauf Textebene erfolgende Repräsentation eines geistigen «Gehalts» durch eine materielle «Gestalt» in der Poesie«. Ktx. : Bedeutung, Gehalt, Geist, Ausdruck, Form, Gestalt, Stoff. Das lyrische, dem Schein nach idealische Gedicht ist in seiner Bedeutung naiv. Es ist eine fortgehende Metapher Eines Gefühls. \ Das epische, dem Schein nach naive Gedicht ist in seiner Bedeutung heroisch. Es ist die Metapher großer Bestrebungen. \ Das tragische, dem Schein nach heroische Gedicht ist in seiner Bedeutung idealisch. Es ist die Metapher einer intellectuellen Anschauung. HÖLDERLIN: U D A » 1 8 0 0 , 2 6 6 . - HÖLDERLIN: V P G * 1 8 0 0 , 2 4 3 .
5. >Gleichsetzung, Identifikation zweier Vorstellungen oder innerer AnschauungenEpoche der Klassizität] fey nun einmal eine moderne Krankheit,
Nation 1-2
415
durch diejede Nation hindurch múffe, wie die Kinder durch die Pocken. F. SCHLEGEL: G P 1800, 6 6 / 289 £ Als Albrecht [Dürer] den Pinsel führte, da war der Deutsche auf dem Völkerschauplatz unsers Welttheils noch ein eigenthiimlicher und ausgezeichneter Charakter von festem Bestand; und seinen Bildern ist nicht nurin Gesichtsbildung und im ganzen Äußeren, sondern auch im inneren Geiste, dieses ernsthafte, grade und kräftige Wesen des deutschen Charakters treu und deutlich eingeprägt. In unsero Zeiten ist dieser festbestimmte deutsche Charakter, und eben so die deutsche Kunst, verloren gegangen. Der junge Deutsche lernt die Sprachen aller Völker Europa's, und soll prüfend und richtend aus dem Geiste aller Nationen Nahrung ziehen; - und der Schüler der Kunst wird belehrt, wie er den Ausdruck Raphaels, und die Farben der venezianischen Schule, und die Wahrheit der Niederländer, und das Zauberlicht des Correggio, alles zusammen nachahmen, und auf diesem Wege zur alles übertreffenden Vollkommenheit gelangen solle. - O traurige Afterweisheit! O blinder Glaube des Zeitalters, daßman jede Art der Schönheit, undjedes Vorzügliche aller großen Künstler der Erde, zusammensetzen, und durch das Betrachten aller, und das Erbetteln von ihren mannigfachen großen Gaben, ihrer aller Geist in sich vereinigen, und sie alle besiegen könne! WACKENRODER: H K K / 1 0 1 7 9 7 [ 1 7 9 6 ] , 9 3 f. - BERNHARDI: Spl/1 1 8 0 1 , 3 3 7 , 3 3); 3 3 7 , 2 7 ( - 3); 3 3 8 ; BERNHARDI: Spl/21803,185 ( « 3); NOVALIS: OG * ' 1 7 8 8 , 7 ( = Volk,)·, 8 , 2 0 ( - 2); 9; NOVALIS: Thcl * ' 1 7 9 0 , 5 7 6 ;
NOVALIS: an seinen Bruder Erasmus'Anf. Januar 17931, NS 119 ( « 2); NOVALIS: an A. W. Schlegel R30. 11.1797 1 , N S 237; NOVALIS: Blstb 1 7 9 8 , 1 0 4 / 4 5 9 , Nr. 107; NOVALIS: G L 1798, 4 9 7 , N r . 3 8 ; NOVALIS: Ü G » 1 7 9 8 , 6 4 6 , N r . 4 6 7 ; NOVALIS: a n C. Schlegel R27. 2. 1799 1 , N S 2 8 1 ; SCHELLING: P h K 1 8 0 3 - 0 4 , 4 4 2 ; 5 4 5 ; 6 8 0 ; SCHELLING: S g P h Ί 8 0 4 , 5 7 3 ; SCHELLING: W d W » 1 8 0 7 , 1 3 , 3 Volk,); 13, 21, 25; A. W.SCHLEGEL: a n L . T i e c k r l l . 1 2 . 1 7 9 7 ' , L 2 4 ; A. W . SCHLEGEL: Spr 1 7 9 8 , 7 F . / 2 0 1 f.; A. W . SCHLEGEL: V p h K ' 1 7 9 8 - 9 9 , 1 1 8 ; A . W . SCHLEGEL: D G 1799, 6 9 / 3 1 2); A. W. SCHLEGEL: V L K / 1 1 8 0 1 - 0 2 , 194; 2 0 6 ; 2 5 6 ; 3 7 6 (-> 3); A. W . SCHLEGEL: V L K / 2 1802-03, 4 8 4 ; R 550, 9,10 3) 1 , 5 6 4 ; 6 3 0 ; 6 3 4 ; 1 R A. W . SCHLEGEL: V E W 1803-04, 74,2,5; ' 9 7 , 3 ( « 3)', 's 2) ; 159,13,16 f. ( - 5)'; 159,29 f. ( « 2/5);
167; 169; 173; 175 ( - 4 ) ; 176 Volk,); 188 ( - 2); 217 ( - DialektlMundartX 247,2 ( - 3); 248 ( - 5);335 3); 336; 349 (-* 3); A. W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04,14; 15; 16; 24; 25; 27 2); 30, 38 f. Volk3); 61; 124; 125; 143; 175 3); A. W. SCHLEGEL: DKIV1 "1808; 1809-11', 27; A. W. SCHLEGEL: DKL/2 "1808; 1809-111, 47; 49; 54; 62; 155; 158 Volk,); 159, Anm.; 169; 194; F. SCHLEGEL: SchD/3 » 1 7 9 5 , 8 , Nr. 12
2); F. SCHLEGEL: F L P * 1 7 9 7 , 88, Nr. 3 4 ; 9 8 , Nr. 164; 98, Nr.
167; F. SCHLEGEL: IG »1797, 211, Nr. 88; 218, Nr. 180; F. SCHLEGEL: Phlg/2 *1797, 81, Nr. 220; F. SCHLEGEL: A t h f r 1798, 1 8 6 / 1 6 9 , Nr. 2 6 2); 2 9 3 / 2 3 6 , Nr. 3 8 2 ; F. SCHLEGEL: I G » 1 7 9 8 - 9 9 , 2 2 1 , N r . 2 3 0 ; F. SCHLEGEL: F P L * 1 7 9 9 , 2 7 2 , Nr. 2 1 8 ; 2 7 4 , Nr. 2 4 4 ; F. SCHLEGEL: Ü d P h 1799, 13/48;
F. SCHLEGEL: FPL*1800,298, Nr. 537; 302, Nr. 589; F. SCHLEGEL: GP 1800, 74/295; 75/295; 77/297 (- Dialekt/Mundart,): 78/298; 79/298; 8 6 / 3 0 3 , 25/27 ( - 2); 1 0 3 / 3 1 9 ; F. SCHLEGEL: ÜdU 1800, 3 4 0 / 364; F. SCHLEGEL: F P L « 1 8 0 1 , 3 0 6 , Nr. 6 2 2 ; 3 2 1 , Nr. 8 0 0 ( - 2); 3 2 2 , Nr. 8 1 4 , 2; F. SCHLEGEL: Z P / 1
* 1802, 408, Nr. 353; 409, Nr. 359; F. SCHLEGEL: ZP/2 *1802, 444, Nr. 245; F. SCHLEGEL: BGmP 1803,49/17 2); 5 0 / 1 8 ; 5 3 / 2 0 f.; F. SCHLEGEL: P N 1803, 1 3 9 / 3 5 1 ; F. SCHLEGEL: S W I 1 8 0 8 , 2 6 9 Volk,)· WACKENRODER: an L. Tieck Ί 1.-14.1.1793 1 , VL 118; WACKENRODER: PhK/1 1799,155. - Vgl. A. W . SCHLEGEL: V E W 1803-04, 3 4 6 ; A. W . SCHLEGEL: V L K / 3 1 1 8 0 3 - 0 4 , 6 9 ; F. SCHLEGEL:
Phlg/2 »1797, 80 f., Nr. 217.
2. >Gruppe von Menschen, die in einem selbständigen Gemeinwesen zusammenleben und durch gemeinschaftliches politisches Handeln eine Einheit bilden 159,29 f. 1/5); 173; 208; 219; 229; 230; 231, 10 ( - 5); 261; A. W. SCHLEGEL: VLK/3 1803-04,12; 26,12,30; 27 1); 66; 76; F. SCHLEGEL: SchD/3 »1795,8, Nr. 12 1); F. SCHLEGEL: Athfr 1798,186/169, Nr. 26 1); 219/191, Nr. 166; F. SCHLEGEL: Ideen 1800,14/262, Nr. 56; F. SCHLEGEL: FPL »1800-01, 353, Nr. 94; F. SCHLEGEL: FPL »1801, 306, Nr. 626; 322, Nr. 8L4,3; F. SCHLEGEL: BGmP 1803,49/17 1); F. SCHLEGEL: SWI 1808,269 (- Volk,). - Vgl. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 Ί803-04,69.
3. >Gesamtheit von Sprechern einer Einzelsprache< (die zugleich eine Gemeinschaft der Denkart oder Weltanschauung ist), und zwar sowohl unter synchroni-
257
Vgl. den Kommentar bei Eichner (1981, 581): „Der aus der Metallurgie entlehnte Ausdruck Silberblick für einen besonders hervorstechenden Moment des Lebensfindetsich auch bei Thümmel, Baader, Jean Paul, Schleiermacher, und Tieck."
Nation 3-4
417
schem wie unter diachronischem Aspekt: Eine Nation umfaßt nicht nur sondern durchläuft auch Zeitalter. wicklung laufen immer parallel
Offen zu 1 : Nationale
Bildung
Individuen,
und Sprachent-
(A. W. SCHLEGEL: V E W '1803-04, 3 3 6 ) ; die Spra-
che ist immer Spiegel des National-Geistes
(ebd. 346), d. h. der spezifischen Eigen-
tümlichkeiten einer Nation^ Offen zu 4. Extensionale Übereinstimmung mit 4 kann vorkommen, ist aber nicht notwendig: Eine Nation3
kann Menschen aus unter-
schiedlichen Regionen mit jeweils unterschiedlichen klimatischen Bedingungen (und damit von unterschiedlicher Physiologie, auch und vor allem unterschiedlicher Ausbildung der Sprachorgane) umfassen. - Bei F. Schlegel (Gdk * 1808-09, 291, Nr. 212) auch in der eingeschränkteren Bedeutung > Gesamtheit von Sprechern einer regionalen Varietät< (vgl. Dialekt/Mundart,). Bdv. : Volk3. - Ktx: Menschheit Stamm (Hyponym), Zeitalter
- Vgl. 6.
(Hyperonym), Sprachdarstellung,
Sprache,
>historische SprachstufeGruppe von Menschen, die im selben Land oder in derselben Gegend leben und, bedingt durch die geographischen und insbesondere die klimatischen Verhältnisse, ähnliche physiologische, charakterliche und/oder intellektuelle Eigenschaften b z w . Fähigkeiten aufweisenInstrumentenlehreKörper; System der Wissenschaftern, Bewegungsorgan, Denkorgan, Glaubensorgan, Hauptorgan, Lichtorgan, N-Organ >produktives Vermögen in allgemeinster, ganz unspezifizierter Hinsicht< (Novalis), Respirationsorgan, Seelenorgan, Sinnesorgan, Sprachorgan. Ausgehend von der Bedeutung des greh. Grundwortes όργανον >Werkzeug< kann prinzipiell jede instrumenteil einsetzbare materielle oder geistig-abstrakte Größe als Organm bezeichnet werden; in dieser Verwendungsweise (und nur in ihr) ist das Synonym Organon belegt. In den Spezialisierungen Organ2 und Organ3, die den Produktions- bzw. Rezeptionsaspekt fokussieren, läßt sich die romantiktypische Figur einer signifikativen Dichotomie erkennen, die durch Einheit des Signifikanten aufgehoben wird. Die beiden Bereiche, die miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen, sind hier wie sonst Objektivität («Äußeres») und Subjektivität («Inneres»). Die Durchgängigkeit dieses Anliegens zeigt sich in einer bemerkenswerten Parallelität innerhalb des semantischen Feldes. Organe sind Funktionsträger, die als Phänomene entweder einer äußeren Realität angehören können (1-3), oder andererseits einem dieser gegenüberstehenden Subjekt (4-9), einem Individuum, das seinerseits eine objektive und eine subjektive Seite aufweist: Organe sind dann Funktionsträger entweder im körperlichen (4) oder (metaphorisch gebraucht) im geistig-seelischen Bereich (7); zu beiden Verwendungsweisen sind wiederum jeweils analoge Spezialisierungen belegt (5 und 6 zu 4; 8 und 9 zu 7), durch die einerseits der Aspekt der Objektivierung, der Äußerung innerer Zustände oder Vorgänge betont (5/8), andererseits deijenige der Subjektivierung, der Rezeption äußerer Gegenstände (im weitesten Sinne) hervorgehoben wird (6/9). Die besondere semantische Offenheit von 4 - 6 zu 7-9 läßt sich durch die Absicht erklären, Körper und Geist in Relation zu bringen, bisweilen sogar ausdrücklich zu identifizieren (Ζ. B. F. SCHLEGEL: PhL/3
Organ
421
*1798, 136, Nr. 166; *1799, 151, Nr. 337; NOVALIS: ABr *1798-99, 458 f., Nr. 1011). Adelung (GKW/3 2 1798,614) nennt nur zwei Bedeutungen, die mit den nachfolgend unter 6 und 4 beschriebenen übereinstimmen: Organ bezeichnet demnach „befonders die Werkzeuge der äußern Sinne, der Empfindung, im weitem Verftande aber auch der Veränderung an und in dem Körper".
1. materielles oder (öfter) geistiges Instrument, Mittel, eine Aufgabe zu erfüllen oder einen Zweck zu erreichen«; 2. >Instrument (im weitesten Sinne) kreativ-produktiver Tätigkeit«, insbesondere »Medium des Ausdrucks, Artikulationsmittel«; 3. > Instrument (im weitesten Sinne) der Aneignung«, insbesondere >Medium der Erkenntnis«; 4. >Teil des menschlichen, tierlichen oder pflanzlichen Körpers mit bestimmter Funktion«; 5. >Teil des tierlichen, vor allem aber des menschlichen Körpers, das der Äußerung innerer Vorgänge oder Zustände und damit produktiver Tätigkeit dient oder dafür eingesetzt werden kann«, insbesondere »Artikulationsorgan, Sprachwerkzeug«;
6. »Teil des tierlichen oder menschlichen Körpers, das der Rezeption von Sinneseindrücken dient«; 7. »Gemütskraft, (instrumenten einsetzbares) geistig-seelisches Vermögen des Menschen«; 8. »produktives, schöpferisches Vermögen des Menschen«; insbesondere »Ausdrucksvermögen«; 9. »menschliches Wahmehmungs-, Auffassungs- und/oder Erkenntnisvermögen; Fähigkeit zur Aneignung, Verinnerlichung äußerer Gegenstände (im weitesten Sinne)«; 10. »(unverzichtbarer, auch konstitutiver) Bestandteil einer meist größeren, übergeordneten Einheit {Organistnus/Organisation,), dem in diesem Rahmen eine bestimmte Funktion oder Aufgabe zukommt«.
1. »materielles oder (öfter) geistiges Instrument, Mittel, eine Aufgabe zu erfüllen oder einen Zweck zu erreichem, das meist mit seiner Funktion in einem inneren Zusammenhang steht und nicht außerhalb des dadurch vorgegebenen Rahmens, d. h. willkürlich-beliebig einsetzbar ist. Bdv. : Apparat (Hyperonym), Hilfswissenschaft, Kriterium, Medium, Mittel, Organon, Werkzeug. - Prph.: Mittel zu einem bestimmten Ende, zu einem äußeren Objekt gemachte Seelenkraft. - Synt.: etw. als O. brauchen, allvermögendes O., äußeres O., künstliches O., philosophisches O., theoretisches 0 . ; O. der Selbstanschauung, O. der Kunst. - Ktx.: Armatur, Experiment, Handwerk, Instrumentenlehre, Maschine, Methode, System. - Ktx. Synt.: etw. werkstellig machen-, objektivierter Verstand. - Wbg. : organisieren¡, Organologie >InstrumentenlehreSystem der Wissenschaftern. Durch die ganze Natur und Menfchheit fluthet ewig derfelbe Strom, den unendlichen nimmt keine Brultin lieh auf, liebevoll ichließt He fich an das einzelne, undfucht undñndet da die Gottheit. Sie predigt der Strohhalm, wie die ewigen Sterne iie verkündigen, und follie fíe nicht in der Sprache dem Orgari\m der Gefelägkdt der Wiffenfchaft und der Kunft wohnen7BERNHARDI: Spl/2 1803, 445. Am
422
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
Ende ist die ganze Mathematik] gar keine besondre Wissenschaft - sondern nur ein allgemein] wissenschaftliches Werckzeug [...]. Sie ist vielleicht nichts, als die exoterisirte, zu einem äußern Object und Organ, gemachte Seelenkraft des Verstandes - ein realisirter und objectivirter Verstand. Sollte dieses vielleicht mit mehreren und vielleicht allen Seelenkrähen der Fall seyn - daß sie durch unsre Bemühungen, äußerliche Werckzeuge werden sollen?NovAUS: ABr »1798,251, Nr. 69. Fast jedes Handwerck - jede Kunst sezt verschiedne, wissenschaftliche Organe zugleich in Bewegung. [...] Manche W[issenschañen] bestehn ganz aus Hülfswissenschaften [...]. NOVALIS: ABr »1798, 257, Nr. 90. Höhere Physik, oder höhere Mathematik oder ein Gemisch von beyden wurde immer unter Philosophie] bisher verstanden. Man suchte durch Philosophie]immer etwas werckstellig zu machen - man suchte ein allvermögendes Organ in der Philosophie], NOVALIS: ABr *1798, 385, Nr. 642. Freyheit i f t Organ derKunft. IhrMisbrauch wird Prinzip der Krankheit. RITTER: Fr/2 Γ»1802; 18101, 101, Nr. 487. DieMeynung derer, welche behaupten die Sonettfoim lege dem Dichter einen unglücklichen Zwang auf, sie sey das Bett des Prokrustes, nach dessen Maße der Gedanke verstümmelt oder gereckt werden müsse, verdient keine Widerlegung, denn diese Einwendung paßt eigentlich eben so gut auf alle Versißcation, und man muß, um sie zu machen, ein Gedicht wie ein Exercitium ansehen, das erst formlos in Prosa entworfen, und nachher schülermäßig in Verse gezwungen wird. Solche Menschen haben freylich keinen Begriff, wie die Form vielmehr Werkzeug, Organ für den Dichter ist, und gleich bey der ersten Empfängniß eines Gedichts, Gehalt und Form wie Seele und Leib unzertrennlich ist. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04, 161. Die Postulate der Philologie sind 1) Historie 2) Classika 3) Philosophie. Als 1) Ziel 2) Objekt 3) Fundament, Organ und Kriterium. F. SCHLEGEL: Phlg/1 *1797, 54, Nr. 217.1st die Hermeneutik nicht auch eine Art der Kritik? oder giebt es nicht wenigstens auch eme hermeneutische Kritik ? Der Gebrauch der hermeneutisch[en] Materialien (historische]Erlauterungf en]) und Organe (Gramm[atik]pp) ist eine Kunst, nicht Wissenschaft, und zwar nicht eine Werke bildende sondern eine urtheilende Kunst, also Kritik. F. SCHLEGEL: Phlg/2 *1797, 62, Nr. 35. Die Analogie ist das Organ d[er] Rückkehr zum Universum und zur reinen Speculation. F. SCHLEGEL: Phl74 »'1798,297 f., Nr. 1221. Emp[irie] führt zur & [Theorie]; Spekulation desgleichen]; beyde sind nur Organe, Mittel. F. SCHLEGEL: PhL/5 *1799, 396, Nr. 911. Die Theorie ist in der φσ [Philosophie] bei weitem das herrschende. Das ganze System von η [Poesie], φσ [Philosophie] und φλ [Philologie]ist eigentlich] d[ie] Theorie d[er] Menschheit, die theoret. fische] Kraft, das theoretische] Organ. F. SCHLEGEL: PhL/5 «1800-01, 377, Nr. 688. - NOVALIS: PhSt »1797,370, Nr. 30; NOVALIS: Tgb »1797,26; NOVALIS: ABr »1798, 292, Nr. 291; 391, Nr. 656,657; 403, Nr. 702; 411, Nr. 737; NOVALIS: an A. W. Schlegel Γ12. 1. 17981, NS 245; 105/461, Nr. 110; NOVALIS: Poësie »1798, 533, Nr. 31 ( - Poesie„); RITTER: Fr/2 w 1802; 18101, 45, Nr. 434; 46, 435; SCHELLING: SgPh Ί804, 488,26 3); A. W . SCHLEGEL: V E W 1803-04, 48; F. SCHLEGEL: PhL/3 *1798, 136, Nr. 164; F. SCHLEGEL: PhL/4 »'1798, 281, Nr. 1029; 291, Nr. 1147; 295, Nr. 1197; F. SCHLEGEL: PhL/5 »1800-01,377, Nr. 687; F. SCHLEGEL: PhL/6 »1802,468, Nr. 356; TIECK: PhK/19 1799,238. - Vgl. NOVALIS: BgrE »1796,294, Nr. 658; NOVALIS: ABr »1798,252, Nr. 69; NOVALIS: an F. Schlegel r7. 11. 17981, NS 263; NOVALIS: ÜG »1798, 644, Nr. 458; 645, Nr. 464; NOVALIS: MFr »1799/1800, 593; F. SCHLEGEL: FPL »1799, 264, Nr. 124; F. SCHLEGEL: ZP/1 »1802,398, Nr. 276.
2. >Instrument (im weitesten Sinne) kreativ-produktiver Tätigkeit^ insbesondere >Medium des Ausdrucks, ArtikulationsmittelTeil des menschlichen, tierlichen oder pflanzlichen Körpers mit bestimmter FunktionKörperTeil des tierlichen oder menschlichen Körpers, das der Rezeption von Sinneseindrücken dientGemütskraft, (instrumenten einsetzbares) geistig-seelisches Vermögen des Menschern; übertragene Verwendung von 4; bei Novalis offen zu 1. Bdv.: Seelenkraft, Sinneswerkzeug, Vermögen. - Synt.: inneres O., moralisches O., keiliges O., O. für die Religion. - Wbg.: Organibilität Fähigkeit, seine inneren Vermögen auszubilden«, Glaubensorgan. Dieinnem Organe des Menfchen [. ..] find nur folgende Drei: der Verftand oder das Erkenntnisvermögen, die Einbildungskraft oder das Vermögen Empfindungen und Objecte in lieh aufzunehmen, unddas Willens-oder Begehrungsvermögen. BERNHARDI: Spl/2 1803, 152. Auch ift es nicht aus der Acht zu laffen, daß diefe drei Vermögen ftch nach den drei Zeitrichtungen beftimmen, denn der Verftand oder das Erkenntnisvermögen bezieht ftch jederzeit auf etwas vergangenes, die Einbildungskraft fei ßeproduküv oder repràfentirend oder blos aufnehmend, geht immerdar auf die Gegenwart, und das Begehrungsvermögen endlich auf die Zukunft. Da aber diefe drei Vermögen und Organe ßch durcheinander beftimmen, einander vorausfetzen und begründen: fo mû f f en De in einem höhern beftimmenden als ihrem Vereinigungspunkte liegen und aus demfelben abgeleitet werden. BERNHARDI: Spl/2 1803, 153. Verftand, Gefühl und Sittlichkeit find von einem gewiffen Punkte angefehen, nichts anders als innere Organe mit wenigen beftimmten Verrichtungen, welche einen fehr engen Kreis befchreiben, der durch Beobachtung bald aufgefaßt wird[...]. BERNHARDI: Spl/2 1803, 161. Offenbar muß d[er] Geist mit einem Organw unmittelbar in Berührung stehn, denn sonst ging dfiej Vermittlung ins % [Unendliche] fort. Dießistdas Wahre an F[ichte]s Theorie d[es]höhern Organspuy Es heißt aber schicklicher auf alte Weise Seele und ist weder bloß Natur noch bloß Geist, sondern ein Mittleres zwischen beiden. F. SCHLEGEL: PhL/3 »1799,151, Nr. 337. - NOVALIS: VFS •1798, 562, Nr. 179; 583, Nr. 247 ( - 4); NOVALIS: ABr »1798-99, 458 f., Nr. 1011 ( - 4); NOVALIS: ChrE »1799, 517; 520; F. SCHLEGEL: PhlV5 »1798,329, Nr. 57; F. SCHLEGEL: PhIV3 »1800-01, 190, Nr. 761 ( - 4). - Vgl. NOVALIS: ABr »1798,251, Nr. 69 ( - 1); NOVALIS: Dlg/2 »1798,665,23.
8. bei Novalis produktives, schöpferisches Vermögen des Menschen«; insbesondere >Ausdrucksvermögen« ; übertragene Verwendung von 5 oder Spezialisierung zu 7; offen zu 9. Bdv.: Herz, Sinneswerkzeug. - Prph.: Werkzeug des Geistes. - Synt.: durch ein O. wirken, tätiges O., religiöses O., O. der Unsterblichkeit. - Ktx.: ausdrücken, darstellen, machen, mitteilen, produzieren, Aktivität, Ausdruck, Erzeugnis. - Ktx. Synt. : eine Welt hervorbringen. - Wbg. : Denkorgan, N-Organ produktives Vermögen in allgemeinster, ganz unspezifízierter Hinsicht« (Novalis), Sprachorgan. Durch Bemeisterung des Stimmhammers unsers höhern Organs[m werden wir uns selbst zu unserm poetischen Fato machen - und unser Leben nach Belieben poëtisiren, undpoëtisiren lassen können NOVALIS: Akdt »1798, 569. Werkzeuge armiren den Menfchen. Man kann wohlfagen, derMenfch verfteht eine Welt hervorzubringen, es mangelt ihm nur am gehörigen Apparat, an der verhältnißmißigen Armatur feiner Sinneswerkzeuge. Der Anfang ift da. So liegt das Prinzip eines Kriegsfchiffes in der Idee des Schiffbaumeifters, der durch Menfchenhaufen und gehörige Werkzeuge und Materialien diefen Gedanken zu verkörpern vermag, indem er durch alles diefes Reh gleichfam zu einer ungeheuren Mafchine macht. So erforderte die Idee eines Augenblicks oft ungeheure Organe^ ungeheure Mafien von Materien, und derMenfch ift alfo, wo nicht acta, doch potentia Schöpfer. NOVALIS: Blstb 1798,98/453, Nr. 88. Wer nicht vorsätzlich, nach Plan und mit Aufmercksamkeit thätigseynkann, verräth Schwäche. Die Seele wird durch die Zersetzung zu schwach. [...J Sobald sie sich theilenmuß, wird, bey aller Anstrengung, nichts. Hier muß sie sich überhaupt zu stärken suchen.
Organ 8-9
429
Ofìist Verwöhnung daran Schuld. Das Organm der Aufmfercksamkeitj ist auf Kosten d[es] thätigen Organs^ geübt - voraus gebildet, zu reitzbar gemacht worden. Nun zieht es alle Kraft an sich und so entsteht diese Disproportion. NOVALIS: VFS *1798, 560, Nr. 165. Eigentlich wird in allen ächten Künsten Eine Idee - Ein Geist realisirt - von innen heraus produciti - die Geisterwelt. Für das Auge ist es die sichtbare Welt a príorí - fur das Ohr die hörbare Welt a priori - für das sittliche Organ die sittliche Welt apr[iori]-für das Denkorgan die denkbare Welt apr[iori] und so weiter. Alle diese Welten sind nur verschiedene Ausdrücke verschiedner Werckzeuge Eines Geistes und Seiner Welt. NOVALIS: VFS *1798,577, Nr. 234. Der Mahler hat so einigermaaßen schon das Auge - der Musiker das Ohr - der Poët die Einbildungskraft - das Sprachorgan, und die Empfindung oder vielmehr schon mehrere Otganelt/l] zugleich - deren Wirkungen er vereinigt auf das Sprachorgan oder auf die Hand hinleitet- (derPhilosoph das absolute Organmy) - in seinerGewalt - undv/irckt durch sie beliebig, stellt durch sie beliebig Geisterwelt dar - Genie ist nichts, als Geist in diesem thätigen Gebrauch der Organel,m [...]. NOVALIS: VFS *1798, 584, Nr. 249. Wir wissen etwas nur - insofern wir es ausdrücken -/'. e. machen können. Je fertiger undmannichfacher wir etwas produciren, ausführen können, desto besser wissen wir es - Wir wissen es vollkommen, wenn wir es überall, und auf jede Art mittheilen, erregen können - einen individuellen A u s d r u c k desselben in jedem Organ bewircken können. NOVALIS: VFS * 1798,589, Nr. 267. Das Herz scheint gleichsam das religioese Organi 1 Vielleicht ist das höhere Erzeugniß des produktiven Herzens - nichts anders, als der Himmel. NOVALIS: FIST »1799,570, Nr. 104. Die Sinne [sindJan den Thieren, was Blätter undBlüthen an den Pflanzen sind. EXe Bluthen sindAllegorieen des Be wußtseyns, oder des Kopfs. Eine höhere Fortpflanzung ist der Zweck dieser höheren Blüthe - eine höhere Erhaltung - Bey den Menschen ist es das Organ der Unsterblichkeit-einerprogressiven Fortpflanzung - der Personalitaet. NOVALIS: FrSt *1800,663, Nr. 602. - NOVALIS: PhSt * 1 7 9 7 , 3 7 6 ( - 9); NOVALIS: V F S »1798, 586, Nr. 2 5 3 5). - Vgl. NOVALIS: ABr * 1 7 9 8 , 2 5 7 , Nr. 92; NOVALIS: VFS »1798, 588, Nr. 2 6 4 ( - 4); NOVALIS: an C. Schlegel R27. 2. 1799 1 , N S 278.
9. menschliches Wahmehmungs-, Auffassungs- und/oder Erkenntnisvermögen; Fähigkeit zur Aneignung, Verinnerlichung äußerer Gegenstände (im weitesten Sinne^; übertragene Verwendung von 6 oder Spezialisierung zu 7; offen zu 8. Bdv.: Intelligenz, Phantasie, Vermögen, Vernunft. - Synt.: inneres O., nüchternes / grobes Ο., höheres Ο., göttliches Ο., wissenschaftliches O. ; Reiz auf ein Ο., O. für Verhältnisse / die Gottheit / das Universum, Perfektibilität der O. (Pl.). Ktx.: begreifen, fassen, Reizbarkeit, Sensibilität, Sollizitation. - Ktx. Synt. : geistiger Reiz, Empfänglichkeitfür den Idealismus. - Wbg. : Organismus·,, Seelenorgan. Die vielfachen Uebungen Deiner Duldungskraft müssen Dir eine gewisse Festigkeit, Ergebung und Gewandtheit, Deinem Herzen eine Weichheit und Delicatesse, und Deinen Organen eine Reitzbarkeit geben, die Dich zu der feinsten A uffassung und Bildung menschlicher Schicksale, zu der seltensten Behandlung tiefgelegener Eigenschaften der Außenwelt fähig macht. NOVALIS: an seinen Bruder Erasmus 1 ^. 10.1795\NS 157. Innres, äußres Organ^ 6| - Arten derinnern und äußern Gegenstände, die besondre Organe^ voraussetzen, und damit eine neue Modification des Sinns, sichtbar, erkennbar machten. NOVALIS: FSt *1796,274. Verstand und Vernunft drücken die Organe oder Vermögen fur Verhältnisse aus. NOVALIS: PhSt *1797, 364, Nr. 25. Sollte nicht der lange, angestrengte Gebrauch jedes Organsjwt/5l es mehr oder weniger erschöpfen und seiner Sensibiütaet und Activitaet berauben? NOVALIS: PhSt *1797, 376. Eine wahre Anekdote ist an sich selbst schon poetisch - Sie beschäftigt die Einbildungskraft. Ist nicht die Einbildungskraft, oder das höhere Organ|M1, der poetische Sinn überhaupt. Es ist nur nicht reine Poesie[nv wenn die Einbildungskraft um des Verstandes, desErkenntnißvermögens willen, erregt wird. NOVALIS: Akdt *1798, 568, Nr. 206. Schlummer ist ein Anhalten des hohem Organs - eine Entziehung des geistigen Reitzes [...]. NOVALIS: Tplfr/Έ * 1798,622, Nr. 442. Es liegt nur an der Sch wäche unsrer Organe, daß wir uns nicht in einer Feen weit erblicken. NOVALIS: VFS *1798,562, Nr. 182. Um den Galvanism des Geistes zu verstehen, mußte man bestimmen, was Muskel und Nerv in ihm ist; femerauch eine Theorie d[er]Leiter, auch das Princip d.[er]
430
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
Berührung, die Organe d.[er] Berührung. F. SCHLEGEL: PhL/3 *1798, 136, Nr. 165. Der Idealismus bedeutet nichts als daßalle Vernunft universell ist. Sie ist das Organ des Menschen fürs Universum. F. SCHLEGEL: PhL/4 »1799,252, Nr. 701. Der Verftand, Tagt der Verfaffer der Reden über die Religion [d. i. Schleiermacher], weiß nur vom Univerfum; die FantaRe herrfche, ίο habt ihr einen Gott. Ganz recht, dieFantaßeiftdas Organ des Menfchen für die Gottheit. F. SCHLEGEL: Ideen 1800, 5/257, Nr. 8. Die Lehren der Weisen setzen nur unser Gehirn, nur die eine Hälfte unseres Selbst, in Bewegung; aber die zwey wunderbaren Sprachen, deren Krafiich hier verkündige, rühren unsre Sinne sowohl als unsern Geist; oder vielmehr scheinen dabey [...] alle Theile unsers [...] Wesens zu einem einzigen, neuen Organ zusammenzuschmelzen, welches die himmlischen Wunder, auf diesem zwiefachen Wege, faßt und begreift. \ Die eine der Sprachen, welche der Höchste selber von Ewigkeit zu Ewigkeit fortredet, die ewig lebendige, unendliche Na tur, ziehet uns durch die weiten Räume der Lüfte unmittelbar zu der Gottheit hinauf. Die Kunst aber [...] schließt uns die Schätze in der menschlichen Brust auf, richtet unsern Blick in unser Inneres, und zeigt uns das Unsichtbare, ich meyne alles was edel, groß und göttlich ist, in menschlicher Gestalt. WACKENRODER: HKK/11 1797 [1796], 99. Von denjenigen, welche die Musik und alle Künste nur als Anstalten betrachten, ihren nüchternen und groben Organen|6Λ) die nothdürftig sinnliche Nahrung zu verschaffen, - da doch die Sinnächkeitnurals die kräftigste, eindringlichste und menschlichste Sprache anzusehn ist, worin das Erhabene, Edle und Schöne zu uns reden kann, - von diesen unfruchtbaren Seelen ist nicht zu reden. WACKENRODER: PhK/16 1799, 218. - NOVALIS: PhSt »1797, 368, Nr. 27; 377, 17; NOVALIS: ABr *1798, 331 f., Nr. 452,2,4,7; 361, Nr. 552; NOVALIS: Akdt »1798, 569 ( - 8); NOVALIS: VFS »1798, 560,Nr. 165 8); 577 f, Nr. 235, 8, 13, 15,17; 584, Nr. 249 ( - 8); NOVALIS: ChrE »1799, 513; NOVALIS: FrSt »1800, 649, Nr. 552; F. SCHLEGEL: PhL/7 »1802, 476, Nr. 50.
10. >(unverzichtbarer, auch konstitutiver) Bestandteil einer meist größeren, übergeordneten Einheit (Organismus/Organisation 8 ), dem in diesem Rahmen eine bestimmte Funktion oder Aufgabe zukommtbelebte NaturHylozoist, Anhänger der Meinung, daß die Materie belebt seiBiologe, Wissenschaftler, der sich mit der belebten Natur befaßt< (im Unterschied zum Mineralogen), Organologie >Biologie, Wissenschaft von der belebten Natur«. Durch Übertragung ist, ausgehend von einem enger gefaßten, konkreten Bezug auf den Bereich der belebten Natur (1-3), eine weiter gefaßte, allgemeinere Verwendung des Wortes möglich (4-5), in der alles als organisch bezeichnet werden kann, was bestimmte Analogien zu einem Lebewesen bzw. zur belebten Natur überhaupt aufweist. Tertium comparationis ist der Aspekt einer sich aus konstitutiven Bestandteilen zusammensetzenden Einheit, in der alles mit allem wesenhaft zusammenhängt, d. h. in der jeder einzelne Bestandteil ebenso durch jeden anderen einzelnen Bestandteil bestimmt ist, wie durch das Ganze, das als solches noch einmal etwas anderes ist als nur die Summe seiner Teile. Hervorgehoben werden kann dabei entweder die Bedeutung der Teile und ihrer Wechselwirkung fllr das Ganze (1/4) oder die Bedeutung des Ganzen für die Bestimmung und Beschaffenheit der einzelnen Teile - die als solche, für sich betrachtet natürlich mehr oder weniger irrelevant werden (2/5). Adelung (GKW/3 2 1798,614) gibt nur eine Bedeutung an, die der hier unter 2 genannten entspricht.
1. >als konstitutiver Bestandteil (Organ4) eines pflanzlichen, tierlichen und/oder menschlichen Körpers (Organismus/Organisation,) nach bestimmten inneren Gesetzmäßigkeiten in Wechselwirkung mit anderen konstitutiven Bestandteilen desselben stehend«, auch >auf ein Organ4 bezüglich, zu ihm gehörig, ihm eigenleiblich; auf den Organismus / die Organisation3, den pflanzlichen, tierlichen und/oder menschlichen Körper (als ganzen) bezogen oder ihm eigen; aus unterschiedlichen, nach bestimmten inneren Gesetzmäßigkeiten in Wechselwirkung miteinander stehenden Organengebildet oder sich bildend«; 3. »lebend, Lebensprozessen unterworfen; biologisch, zur belebten Natur (Organismus/Organisation2) gehörend bzw. auf
sie bezogen; einem Lebewesen (Organismus/Organisation^) eigen«; 4. »als konstitutiver Bestandteil (Organu) eines größeren Ganzen (Organismus/Organisation,) nach bestimmten inneren Gesetzmäßigkeiten in Wechselwirkung mit anderen konstitutiven Bestandteilen desselben stehend«, speziell im Zusammenhang des Gebrauchs von Wörtern: »den Sprachregeln, insbesondere der Etymologie und Wortgeschichte gemäß«, auch »zu einem Organm gehörig, ihm eigen«; 5. »innere Strukturen auiweisend; aus unterschiedlichen, nach bestimmten inneren Gesetzmäßigkeiten in Wechselwirkung miteinander stehenden Konstituenten sich selbst oder etwas bildend bzw. gebildet habend«, auch »auf einen Organismus / eine Organisation, bezogen«.
432
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
1. >als konstitutiver Bestandteil (Organi eines pflanzlichen, tierlichen und/oder menschlichen Körpers (Organismus/Organisation 3 ) nach bestimmten inneren Gesetzmäßigkeiten in Wechselwirkung mit anderen konstitutiven Bestandteilen desselben stehendauf ein Organ Λ bezüglich, zu ihm gehörig, ihm eigenleiblich; auf den Organismus / die Organisation3, den pflanzlichen, tierlichen und/oder menschlichen Körper (als ganzen) bezogen oder ihm eigen; aus unterschiedlichen, nach bestimmten inneren Gesetzmäßigkeiten in Wechselwirkung miteinander stehenden Organenw gebildet oder sich bildend< ; hyposem und offen zu 3. Bdv.: -1 geistig. - Prph.: die höheren Formen des organischen3 Leibs andeutend. - Synt. : o. >durch Tätigkeit eines/einer als Organ2 gebrauchten Organismus! Organisation,< bauen (von der Natur gesagt); o. Körper, o. Masse, o. Architektur / Ausbildung / Beschaffenheit / Bildung / Form / Gestalt / Hervorbringung, o. Schönheit, o. Technik, o. Leben. - Ktx.: Ernährung, Verdauung, Erzeugung, Fortpflanzung, Lebensmasse, Anatomie, Lebenslehre, Physiologie, Hylozoist, Animalität, Tierreich, Vegetation, Selbstbestimmung, ^ Chymie, 1 Krankheit, ^ Materialist, Mechanik, Verwesung. - Ktx. Synt.: geometrisch regelmäßig, mathematisch konstruktibel, innerer Bau, menschlicher Körper, unendliche Lebensfülle, kleine Welt. Eie org[anische]Masse wird durch die argfanische] Beschaffenheit der Mutter - und die org[anische] Beschaffenheit des Vaters und die Verhältnisse dieser beyden Organisationenj31 zu einander bestimmt. NOVALIS: ABr *1798,323, Nr. 437. Alle Pflanzen verstärken im thieríschen Körper den orga-
organisch 2-3
433
nischennm] Bildungstrieb und die Reproduktionskraft [..,). NOVALIS: FrSt *1800, 665. Architektonifch ili die Draperie, weil fíe mehr oder weniger nur eine Allegorie oder Andeutung (Echo) der Formen derorganifchen Gelialtift. [...] In der That kann es keine herrlichere und fchönere Architektonik geben als die der vollendetften Draperie in den griechifchen Werken. Die Kunft, das Nackte darzuftellen, potenzirtfích hier gjeichfam felbft, indem fíe die organifche Form auch durch ein fremdartiges Medium hindurch erkennen läßt; undje weniger unmittelbar, je mehr mittelbar fíe hier darftellt, deftofchöner wird die/er Theii der Kunft. SCHELLING: PhK Ί803-04,626. Es ist im vorhergehenden schon einmal bemerkt worden, daß die Natur im Reich des unorganischen mit geometrischer Regelmäßigkeitpmdudit, wo sie ungestört wirkt; die organischenFormen hingegen sind, bey einer mathematischen Grundlage, welche die Symmetrie und Proportion der ganzen Gestalt ausmacht, durchaus nicht mathematisch constmctibel. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02, 306 f. (307, L). Vermöge der Abhängigkeit von den himmlischen Bewegungen findet im organischen[M) Körper ein gemessener Kreislauf von Bewegungen Statt. Nicht nur der allgemeine Wechsel von Schlaf und Wachen, Ernährung und Verdauung bestimmt sich nach natürlichen Zeitperioden, sondern noch mehr in Ansehung der Functionen, welche ganz der Willkühr entzogen sind, ist eine geregelte stätige in sich selbst zurückkehrende Bewegung (wie die der Himmelskörper) bemerkbar, die nach ihren kleinsten Hemmungen im Atemholen, Pulsschlagen u. s. w. unmittelbar gefühlt wird oder werden kann. Wir haben [...] die künstlichen Uhren als eine Nachahmung vom Lauf der Himmelskörper begriffen; nicht ohne Grundhat man den organischen^^ besonders menschlichen Körper ein Uhrwerk genannt. Aber anstatt mit seiner eignen mechanischen Kopie wollen wir ihn lieber mit dem großen Original selbst vergleichen und in ihm ein Abbild des Sonnensystems und seiner Gesetze erblicken. A. W . SCHLEGEL: VEW '1803-04, 72,9,17 f. - HÖLDERLIN: WV »1800, 286 4); NOVALIS: ABr »1798,324, Nr. 438, 439; NOVALIS: MH *1798,51 ( - OreamsmuslOrs>anisaüon,\. NOVALIS: PhyFr »1798,93; SCHELLING: StI 1800,510; SCHELLING: PhK Ί803-04, 523; 542; 543; 545; 577; 580; 581; 582; 583, 5,8, n, 15,20; 587/25,30(-*Organ¿\ 595; 596; 602; 629,18 f.; SCHELLING: SgPh'1804, 425,6; SCHELLING: StPV Ί810, 422, 6 ( - Organ4); A. W. SCHLEGEL: VphK '1798-99,122; A. W. SCHLEGEL: VLK/1 1801-02, 282; 283; 307,39 ( - organisieren3); 308 ( - organisieren3); 309, 33; 312, 2 ( - 1); 331 ( - Organismus/ Organisation•); A. W. SCHLEGEL: VLK/2 '1802-03,752,26 ( - organisieren,); A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04/39,19,27,33(- 5)1; 178; 323 (-Oreamsmus/Oreamsation.): A.W. SCHLEGEL: VLK/3 Ί80304, 172; F. SCHLEGEL: PhL/3, »1800, 174, Nr. 579.
3. >lebend, Lebensprozessen unterworfen; biologisch, zur belebten Natur nismus/Organisation)
gehörend bzw. auf sie bezüglich; einem L e b e w e s e n
nismus/Organisation^
chanisch,
tot,
Periode
geistig.
animalisch,
botanisch,
- Synt.: o. Körper
/ Geschöpf
/ Gebäude
- Ktx.: Ernährung,
bensmasse, Anatomie,
Lebenslehre,
Vegetation, Selbstbestimmung,
/Leib,
anorgisch,
o. Materie
/ Gebilde
/ Produkt
Verdauung, Physiologie,
Chymie,
bel\ innerer
Bau, menschlicher
unorganisch,
Organik
schied zu Chymie \mà Mechanik), die Materie belebt seiontogenetische Entwicklungsstufe< (Ritter), o. Prozeß,
Kunst der Natur, o. Natur, o. Naturreich, turlehre/Physik.
(Orga-
eigene, hypersem (Verallgemeinerung) z u 2.
Bdv.: lebend, lebendig,
sen / Individuum
(Orga-
o. o.
O., o. Na-
Fortpflanzung,
Animalität,
Le-
Tierreich,
Materialist,
-'Mechanik,
^ mathematisch
konstrukti-
Lebensfülle,
kleine
Welt.
-
> Wissenschaft v o n der belebten N a t u n (im UnterOrganist
>Hylozoist, Anhänger der Meinung, daß
Wissenschaftler, der sich mit der belebten N a -
434
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
tur befaßt< (im Unterschied zum Mineralogen), Organologie >Biologie, Wissenschaft von der belebten Naturzu einem Organm machen: in die inneren Strukturen eines (bereits bestehenden oder dadurch gerade erst zustandekommenden) größeren Ganzen einord-
organisieren 4-5
441
nen, seinen Eigengesetzlichkeiten gemäß gestalten und/oder zu anderen Bestandteilen desselben in eine (interaktive) Beziehung setzen OreanismuslOreamsation,, V. SCHELLING: FSPh 1802,422; SCHELLING: PhK '1803-04, 378; 382; 383; 419 organischs); 459; 505; 514; 515; 570; 583; A. W. SCHLEGEL: VLK/2
1802-03, 517,7;
SCHELLING:
SgPh'1804, 377,
10,14,27;406,6, LI; 4 2 5 , 2 3 ; 4 3 1 , L, 3,6; 4 3 4 ; 4 3 5 ;
F. SCHLEGEL: PhL/3 »1800-01, 181, Nr. 661. F. SCHLEGEL: PhL/5 »1800-01, 419, Nr. 1177; 420, Nr. 1194; F. SCHLEGEL: PhL/6 *1802,453, Nr. 229; - Vgl. F. SCHLEGEL: PhLO »1800-01, 180, Nr. 655; F. SCHLEGEL: Phl78 »1804,22, Nr. 197.
Organisation·. lebende
Naturn,
Universums. größere
Bdv. : Leben. verkleinertes
- Prph. : Bild
des
- Synt.: O. (Subj.) eine
Ausdehnung
Kreis erweitern',
gewinnen
/ ihren
die O. in ihrer
ganzen
Ausdehnung. Alle Organifation ift ßnger als das Waffer. Waffer ift der Erde erftes Gefchôpf, nach dem Begriffe, den wir heut zu Tage von der Organifation haben. RITTER: Fr/1 r*1801; 1810\ 59 (16), 60 (l), Nr. 95. Die Organifation im allgemeinen ift [...] nichts anderes als das verkleinerte und gleichfam zufammengezogene Bild des Univerfums. Nun ift aber die Succefflon felbft allmählich, d.h. fie kann in keinem einzelnen Moment fich ganz entwickeln. Je weiter aber die Succeffìon fortrückt, defto weiter entwickelt fich auch das Univerfum. Alfo wird auch die Organifation in dem Verhältniß, wie die Succefflon fortrückt, eine größere Ausdehnung gewinnen, und einen größeren Theil des Univerfums in ßch darfteilen. Dieß wird alfo eine Stufenfolge geben, welche der Entwicklung des Univerfums parallel geht. Das Gefetz die fer Stufenfolge ift, daß die Organifation ihren Kreis beftändig erweitert, wie ihn die Intelligenz beftändig erweitert. SCHELLING: StI 1800, 492. Was wir mechan. fische] Bewegung nennen, ist nicht todt sondern mineral.[isches] Leben - cristal!, finische] Organisation], Nur ist hier d.[er]Proceß des Lebens von s. feinen] Producten entschiedner getrennt. F. SCHLEGEL: PhIV4 »1799, 241, Nr. 580. - RITTER: Fr/1 r*1801; 18101, 48, Nr. 81; RITTER: Fr/2 r»1797; 1810', 24, Nr. 398 (-> Organismus/Organisation 3 ) ; SCHELLING: STI 1800,496; 631; 633; SCHELLING: PhK 1803-04, 573; F. SCHLEGEL: PhL/3 »1799, 153, Nr. 359; 162, Nr. 466; 163, Nr. 477, 482; 167, Nr. 521; 169, Nr. 536; F. SCHLEGEL: PhL/4 »1799, 315, Nr. 1469; F. SCHLEGEL: PhL/3 »1800-01, 183, Nr. 683; F. SCHLEGEL: PhlVlO »1805, 89, Nr. 64.
446
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
3. (Körper eines Lebewesens, Gesamtheit von Organen4>; zu organisch2; als Synekdoche (totum-pro-parte-Verwendung) zu 1 deutbar. Organismus: Bdv.: Körper, Leib, Organisation: Synt.: etw. (ein Lebe-1 Geist, Intelligenz, Seele. - Pφh. : wesen) seine O. haben, die O. affizielebender Körper, menschlicher Leib, ren (von klimatischen Einflüssen gemenschliche Gestalt. - Synt.: js. O., sagt); menschliche / tierische O. - Ktx. : menschlicher O., Zustände des O. - Absterben, Auswuchs, Gliederung, Wbg.: Tierorganismus. Krankheit, Leben. - Wbg. : Organisationsprozeß, Pflanzenorganisation, Wer bey der Erklärung des Organism keine Rücksicht auf die Seele nimmt und das geheim-· Desorganisationsprozeß. nißvolle Band zwischen ihr und dem Körper, der wird nicht weit kommen. Leben ist vielleicht nichts anders, als das Resultat dieser Vereinigung - die Action dieser Berührung. NOVALIS: ÜG *1798, 643, Nr. 453, 4. Das Gehirn ift bey den Thieren der Schwerpunkt des Organismus, nach ihm gravitirt alles. [...] Ein Stein fällt zur Erde, und eine Empfindung gelangt zum Bewußtfeyn: - derfelbe Act. RITTER: Fr/2 r1799; 18101,33, Nr. 414. [D]a der Organismus [...¡nur eine Anfchauungsart der Intelligenz ift, fomuß ihr noth wendig alles, was in ihr ift, unmittelbar im Organismus zum Objekt werden. [...JSobald [...] der Organismus nicht mehr vollkommener Reflex unteres Univerfums ift, dient er auch nicht mehr als Organm der Selbftanfchauung, d. h. er ift krank; wir fühlen uns felbf t als krank nur wegen jener abfoluten Identität des Organismus mit uns. [.. J Das Krankheitsgefühl entfteht durch nichts anderes als durch die Aufhebung der Identität zwifchen der Intelligenz und ihrem Organismus, das Gefundheitsgefiihl dagegen, wenn man anders eine ganz leere Empßndung Gefühl nennen kann, ift das Gefühl des gänzlichen Verlorenfeyns der Intelligenz im Organismus, oder, wie ein trefflicher Schriftfteller fich ausdrückt, der Durchlichtigkeit des Organismus fur den Geift. SCHELLING: StI 1800, 498. Es ift nicht einzufehen, warum uns nicht die ganze Außenwelt wie unfer Organismus vorkommt, in welchem wir überall, wo wir empfinden, unmittelbar gegenwärtig zu feyn glauben. So wie wir unfern Organismus, auch nachdem fich die Außendinge von uns getrennt haben, in derRegel gar nicht außer uns anfchauen, wenn er nicht durch eine be fondere A bftraktion von uns unterfchieden wird, fo könnten wir auch die Objekte ohne urfprüngliche A bftraktion nicht als von uns verfchieden erblicken. SCHELLING: StI 1800, 507. Der vorzüglich, ja
Polypen, wild Fleisch, Exostosen, Krebs, Brand, sind vollkommne Schmarotzerthiere (oder Thierpflanzen) - sie wachsen, sie werden erzeugt, sie zeugen, sie haben ihre Organisation, sie secemiren, sie essen. NOVALIS: ABr *1798, 264, Nr. 128; vgl. RITTER: Fr/2 '»1797; 1810', 27, Nr. 403 ( - organisch3). Jede Substantz kann in einem Dreyfachen Zustande [...] existiren Im Starren - Flüssigen -und Luftigen [...]- der aber auch ein Zweyfâcher ist [...]- und zwar ein antithetischer - und ein Synthetischer - der antithetische] ist der todte - d[er] Synthetische] der Lebendige. Leben und Organisation sind nicht schlechterdings verbunden. Organisches^ Leben ist schon Product einer Verbindung des Synthetischen und Antithetischen [Zustandes], NOVALIS: MH »1798, 51. Unitreitig ift das vorliegende Werk [A. F. Bernhardt: Sprachlehre] das erfte in feiner Art, welches den Bau der Sprache aus dem in einer höheren Wiffenfchañ erwiefenen Organismus^ der menfchlichen Geiñesverrichtungen gefetzmäßig ableitet, und lieh an den Idealismus anknúpñ. Freilich befindet ßch der Sprachlehrer auf dem Gebiet des empirifchen Bewußtfeyns, und darf alfo Verftand undEinbildungskrañ,ja auch die Organifationm mit den Sprach werkzeugen als ein gegebnes vorausfetzen. Dies hindert aber keinesweges die ftete Beziehung auf das Urfprüngliche, auf die hóchfte Idee, welche denn keine andre ift, als die Einheit des Subjektiven und Objektiven [...]. A. W . SCHLEGEL: AFB 1803, 194/144. Wir haben [...]gesagt, dieEncyklopädie solle uns von einem höheren Standpunkte aus, dem der Philosophie und Historie, eine Übersicht des gesamten menschlichen Wissens verschaffen. Wenn wir vorerst bey diesem Bilde stehen bleiben, so hätten wires uns als ein weitläuftiges Gebiet zu denken, von welchem eine Landcharte entwor-
Organismus/Organisation 3 der faft einzig würdige Gegenftand der bildenden Kunftift die menichliche Geftalt. Wie der Organismus innerlich und feinem Wefen nach die [ich aus Reh felbft erzeugende und in ßch zurückkehrende Succe/JIon ilt, fo drückt er diele Form auch äußerlich aus durch die Herrfchaft derelliptifchen, parabolifchen und anderer Formen, welche am meiften die Differenz in der fdentität ausdrücken. SCHELLING: PhK11803-04, 523. Der Modus der unendlichen Affirmation, den fie [Thiere] durch ihren Leib ausdrücken, fallt zugleich als Modus der Affirmation, als A k t , in das Thier felbft; jedes Thier iftalfo außerdem, daß es ein Ding ift, noch ein aktiver Modus der Weltanfchauung, und von der aktiven Weltanfchauung fallt in jedes fo viel, als es durch feinen Organismus ausdrückt. [...] Das Thier Thier ift [aber]nur ein beftimmter aktiver Modus des Anfchauens, nicht das Anfchauende felbft; denn fonft wäre es identifch mit dem Unendlichen, das Objekt in ihm = Subjekt. Erft die Seele der vollkommenften Organifationw, welche die ganze Möglichkeit durch die Wirklichkeit darf teilt, ift nicht ein Modus der unendlichen Affirmation, fondera die unendliche Affirmation felbft. Diefe vollkommenfte Organifation^ ift derMenfch - die gelungenfte Darftellung des Unendlichen im Unendlichen. SCHELLING: SgPh Ί804, 505 f. (506, 2). Nach dem dritten Axiom verhalten ßch die einzelnen Dinge überhaupt als Organe[m des All, und der Organismus in specie verhält fich als das unmittelbare Abbild der abfoluten Subftanz oder der Natur fchlechthin betrachtet. SCHELLING: SgPh Ί804, 431. Stoff und Form find in der Kunft ebenfo wie im Organismus eins. SCHELLING: SgPh'1804, 571. Die chirurgische Heilung, wiewohl organise!^ bedingt, ist mehr negativer Art: der eigentliche Arzt hingegen soll den kranken Körper positiv afftziren, und dieß kann er nur indirecter Weise, indem er ihn be wegt, sich selbst zu afßziren [...]. Der Organismus ist ein Ganzes, worein nichts eintreten kann, ohne sich dessen Gesetzen zu unterwerfen, und diese Gesetze sind gerade im Zustande der Zerrüttung. Das ist die große Schwierigkeit
447
fen werden soll. [...] Vielleicht reicht aber [...] dieses Gleichniß nicht hin, um die Art der Verknüpfung und Ganzheit auszudrücken, welche im menschlichen Wissen Statt fìndet, und man muß zu dem einer Organisation seine Zuflucht nehmen, die zugleich Ursache und Wirkung von sich selbst ist. Dann würde man die Gliederung und gegenseitige Abhängigkeit der Organe[t), die Beschaffenheit des Nahrungsstoffs, und die Ait ihn zu verarbeiten und den Theilen zuzuführen, femer die Krankheiten und Auswüchse, übermäßige Anschwellungen einzelner Theiie welche den übrigen die Säfte entziehn, das Absterben andrer u. s. w. zu beobachten suchen müssen, und vielleicht dürfte sich alles dieß in der Geschichte der Wissenschaften deutlich genug nachweisen lassen. A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04, 9 f. (10,15 f.). [Dieromanischen Sprachen]kann man ohne Übertreibung partial todte Sprachen nennen. Man verstehe mich recht: nicht als ob man in ihrer poetischen Erscheinung unmittelbar einen Mangel an Leben gewahr würde. Sondern die Sprache ist ein organisiites[¡] Ganzes, und wie in der wirklichen Organisation die ausgearbeitetsten Theiie mehr und mehr erstarren, nur unmerkliche Veränderungen erleiden, und am wenigsten auf den allgemeinen Kreislauf zurückzuwirken vermögen: so ist es auch mit derjenigen Ausbildung der Sprachen wodurch sie unveränderlich ftxirt werden. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04, 22. - NOVALIS: ABr »1798,249, Nr. 55; 323, Nr. 437 ( - organisch2); NOVALIS: PhyFr »1798, 93; RITTER: Fr/1 1810, 36, Nr. 52; RITTER: Fr/2 ^»1797; 18101, 2 4, Nr. 398 (-* Organismus/OrganisationA. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02,292; A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04, 40; 71; 72 organisch J; 74; 289 ( - OrsanismuslOreamsaUonX 293 (- Nation, auch (geistige und/oder seelische Verfassung; innere Anlage>; übertragene Verwendung von 3. Organismus:
Synt. : O. der
fiinktionen / der menschlichen verrichtungen,
innerer
stes / des geistigen
GeistesGeistes-
O. (des
Gei-
Daseins).
Der erste Versuch einer Sprachlehre, welche den Bau der Sprache aus dem in einer höheren Wissenschaft erwiesenen Organismus^ der menschlichen Geistesverrichtungen gesetzmäßig ableitet und sich an den Idealismus anknüpft, ist die kürzlich erschienene von Bernhardi. Freylich befindet sich der Sprachlehrer aufdem Gebiete des empirischen Bewußtseyns, und darf also Verstand und Einbildungskraft, β auch die Organisation[}] mit den Sprachwerkzeugen als ein Gegebnes voraussetzen. Dies hindert aber keines weges die stete Beziehung auf das UrspriingUche, auf die höchste Idee, welche denn keine andre ist, als die Einheit des Subjectiven und Objectiven, Α = A, welche eben das Princip des Idealismus ist. A. W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04, 289. Schon f...Jals Mittel der gewöhnlichen Verständigung ist die Sprache ein Kunstwerk, welches den innern Organismus ausdrückt. Dieß wird aber durch den beständigen sorglosen Gebrauch im Dienste des bloßen Bedürfnisses verdunkelt, die Sprache verwildert gewissermaßen, und so tritt die Anfoderung ein, durch absichtliche Be-
Organisation:
Bdv.:
Wesen.
-
Prph.: gesunde Kräfte der Seele, -1 Umstände welt.
und Verhältnisse
der
Außen-
- Synt.: seine O. (Subj.) jn.
etw. bestimmen. - Wbg. :
zu
Symorganisa-
tion (sie) >ähnliche oder gleiche Geistes- bzw.
Seelenverfassung
zweier
Menschen(. Man hat Langeweile, Ueberdruß, fíndet Unbedeutendheit und Leerheit, martert sich mit kränkelnder Empfindung und Fantasie ebenso gut in der glänzendsten Laufbahn als im beschränktesten Zirkel. Alle Begriffe von Beschränktheit und Umfang, Unbedeutendheit und Leerheit und Wichtigkeit und Befriedigung sind höchst relaüv. DerLebensgenuß findet sich überall bey gesunden Kräften der Seele; Wichtig kann uns der Raum einer Nußschaale werden wenn wir selbst Fülle des Daseyns mitbringen. Ich will deswegen nicht behaupten, daß man alle ehrgeitzige Neigungen diesen Ideen unterordnen soll, aberrferCharakterunsere Lebens, der deutliche Hngerzeig des Schicksals, Zwecke, die nut unserm Wesen innig verwebt sind und treue Untersuchung dessen, wozu uns unsre Organisation und alle Umstände und Verhältnisse der
Organismus!Organisation 5-8
449
arbeitung die gesetzmäßige Thätigkeit, die ihr Außenwelt zu bestimmen scheint, können und ursprünglich zum Grunde liegt, in größeren müssen allein unsrer Wahl Richtung, unsren Ganzen deutlicher und bestimmter auszuprägen. Aussichten Grenzen, unsrer Gedankenwelt AnDa nun die natürliche Sprache wegen der geordnung und Bestimmung geben. NOVALIS: an meinschaftlichen und gemischten Wirksamkeit seinen Bruder Erasmus r16. 3. 1793\ NS 115 f. der Einbildungskraft und des Verstandes, wor- (116,2 f). - Vgl. NOVALIS: an F. Schlegel r7. 11. aus sie zunächst entstanden, einen schwebenden 17981, NS 262. und zweydeutigen Charakter haben muß, indem * * » dieselben Zeichen Bild oder Begriff bedeuten können, so geht die künstlich gebildete noth wendig in entgegengesetzte Richtungen auseinander, je nachdem die eine oder die andre dieser Kräfte zur herrschenden erhoben, das Begriffsmäßige oder Bildliche in der Sprache vorzugsweise geltend gemacht wird. Mit einem Wort, die Sprache wird Organpi entweder der Poesie oder der Wissenschaft [. . .J. A. W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04, 302. - A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02, 388; 397; A. W. SCHLEGEL: A F B 1 8 0 3 , 1 9 4 / 1 4 4
Organismus/Orsani-
sationX 196/146 ( - Organt).
6. (Gesamtheit produktiver Gemütskräfte des Menschen (Organe 8 ); Fähigkeit zur Äußerung innerer Gegenstände (im weitesten Sinne) >; Spezialisierung zu 5, offen zu 7. Organismus'. Synt.: gelehrter O. - Ktx.: arbeiten. - Ktx. Synt.: Ideen produzieren. Ideen produciren und Ideen assimiliren beydes schwächt im Übermaaße. (Bestimmung] des gelehrten Organismitn]. | Lesen und Arbeiten [...] zugleich]) Nov ALIS: ABr *1798,408, Nr. 724.
7. < Gesamtheit menschlicher Wahrnehmungs-, Auffassungs- und/oder Erkenntnisvermögen (Organe9); Fähigkeit zur Aneignung, Verinnerlichung äußerer Gegenstände (im weitesten Sinne)>; Spezialisierung zu 5, offen zu 6. Organismus: Synt.: gelehrter O., Inzitament /Nahrung des O. - Ktx.: lernen, lesen. - Ktx. Synt.. Ideen assimilieren. Wie kann ein Menfch Sinn für etwas haben, wenn er nicht den Keim davon in fich hat? Was ich verftehn foil, muß fich in mir organitela entwickeln; und was ich zu lernen 1Cheine, i ft nur Nahrung, Inzitament
des Organismus.
NOVALIS: Blstb 1798, 74/419, Nr. 18. - NOVALIS: A B r *1798, 408,
Nr. 724 ( - 6).
8. diejenige der schönen Künste, deren Material und Werkzeug die Sprache ist Kunst / Künste, Musik, -· Rhetorik, Wissenschaft. - Prph.: poetische Bemühung, redende Í schöne Kunst, -· schülerhafte Rhetorik, -< bildende Kunst / Künste. - Synt. : P. ausüben / (be)treiben, der P. sichere Bahn und Unterstützung im Leben und der Wirklichkeitschaffen, (eine Sprache) durch P. ausbilden, etw. für die P. benutzen, den Zauberstab der P. führen, die P. wecken, sich zur P. fähig glauben, P. (Subj .) zu etw. (konkret: einer bestimmten Gattung) streben / zu etw. (konkret: zu einer anderen Kunst) zurückgehen; alte / antike / moderne / romantische / griechische / spanische P., Literatur katholischer P., epische / lyrische / dramatische P., bildende l künstliche / musikalische / natürliche / rhetorische / technische / transzendentale
456
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
P., echte / idealische Buchstabe4/5
/ wahre P., Geist / Idee / Rechte / Geheimnis / Wesen der P.,
! Kunstlehre
! Philosophie
/ Theorie / Schule der P., Organ2 / fferfc-
zewg cfer P., Erzeugnis / Hervorbringung
in der P., Gegenstand / S/o/f ¿/er P.,
Gang / Geschichte / Streben der Ρ., schöne Zeit der Ρ., Versuchen in der Ρ., Anfall von Ρ., Quellen der Ρ., Künstleranlage
zur Ρ., Monopol
der Ρ., Tauglichkeit
Ρ., P. der Worte. - Ktx. : streng, Sprache, Form, Stil, Technik, Handwerk. Formalpoesie, Kunstpoesie, Schönheitspoesie, sie, — (chaotische)
Schulpoesie,
Sympoesie,
zur
- Wbg. :
^ Antipoe-
Überhauptpoesie.
Es erhellt [...] ganz deutlich, daß die Dichterfprache doch nur Organm, obgleich noth wendiges der Poeße, nichtßefelbit tei, daß die Sprache daher allerdings einen /ehr hohen Werth habe, aber immer eine Nebenfache, und der poetiichen Idee unterworfen fei. Wenn daher manche die Sprache und deren Correktheit, das heißt in der PoeJie, die Uebereinftimmung mit der fanctionirten Dichterfprache zur Hauptfache erhoben, undLicenzen als Sprachfehler behandelt haben, fo beruht dies auf einer unrichtigen Anficht der Dichtkunft. BERNHARD! : Spl/2 1 803,64 (25,30) f. Übersetzen ist so gut dichten, als eigne Wercke zu Stande bringen - und sch werer, seltner. \ Am Ende ist alle Poesie Übersetzung. Ich bin überzeugt, daß der deutsche Shakespeare jezt besser, als der Englische ist. NOVALIS: an A. W. Schlegel r30. 11. 1797', NS 237,32. Poesie^ bezieht sich unmittelbar auf d[ie] Sprache. [,..]Poësiem ist ein Thei! der philosophischen] Technik. Das Prädicat philosophisch - drückt überall ùïeSelbstbezweckung [.. Jaus. [..Jim Allgemeinen] kann man alle Stufen der Worttechnik unter dem A usdruck Poesiein begreifen. Richtigkeit, Deutlichkeit, Reinheit, Vollständigkeit, Ordnung sind Praedicate oder Kennzeichen der niedrigem Gattungen der Poesie^ul. Schönheit ist das Ideal, das Ziel - die Möglichkeit-der Zweck der Poësie[mm überhaupt. - Wird nach dem notwendigen Schema derPoësiew (Rede) - dernothw[endigenJPoésie[l¡ (Rede) - die wirckliche Poësie{ul 1?| (Rede) bearbeitet - so entsteht die idealische Poésie[mn(Rede), die Schönheitspoesie (rede). NOVALIS: ABr *1798, 399, Nr. 688. Die Poesie will vorzüglich, fuhr Klingsohr fort, als strenge Kunst getrieben werden. Als bloßer Genuß hört sie auf, Poesie zu seyn. Ein Dichter muß nicht den ganzen Tag müßig herumlaufen, und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das ist ganz der verkehrte Weg. Ein reines offenes Gemüth, Gewandftjheit im Nachdenken und Betrachten, und Geschicklichkeit alle seine Fähigkeiten in eine gegenseitig belebende Thätigkeitzu versetzen und darin zu erhalten, das sind die Erfordernisse unserer Kunst. NOVALIS: H V O r*1799-1800; 18021, 282. Ueberdie großen Gegenftände der Poefie[lm7V die Ideen weit, die für die Kunft die Welt der Götter ift, das Univerfum, die Natur, war fchon [.. J die Rede. [...]Die allgemeine Form der Poe/ìe[vu,ì ift [...] überhaupt die, daß Re die Ideen in Rede und Sprache darftellt. SCHELLING: PhK '1803-04, 634. Die Sprache furfích felbftnun ift das Chaos, aus dem die Poefte die Leiber ihrer Ideen bilden foli Das poetifche Kunftwerk foli aber, wie jedes andere, ein Abfolutes im Befondem, ein Univerfum, ein Weltkörper feyn. Dießift nicht anders möglich als durch A bfonderung der Rede, worin das Kunftwerk fich ausdrückt, von der Totalität der Sprache. A ber die fe A bfonderung einerfeits und die A bfolutheit andererfeits ift nicht möglich, ohne daß die Rede ihre eigne unabhängige Zeit in lieh felbft habe, wie der Weltkörper; dadurch fchließt lie lieh von allem andern ab, indem fíe einer inneren Gefetzmäßigkeit folgt. Die Rede be wegt lieh frei und felbftändig nach außen betrachtet, und ift nur in ßch wieder geordnet und der Gefetzmäßigkeit unterworfen. Demjenigen nun, wodurch der Weltkörper in ßch felbft ift, und die Zeit in fich felbft hat, entfprichtin der Kunft, fowohl fofern fie Mufik als redende Kunft ift, der Rhythmus. SCHELLING: PhK'1803-04, 635 f. Die Rhetorik kann den Zweck haben, durch Bilder zu reden, um fich anfehauäch zu machen, oder um zu täufchen und Leidenfchaft zu erwecken. Die Poeße hat nie einen Zweck äußerlich, obgleich ße diejenige Empßndung, die in ihr felbft ift, auch außer ßch hervorbringt. [...] In der Poeße alfoifi alles, was zum Schmuck der Rede gehört, demhöchften und oberften Princip der Schönheit untergeordnet f...]. SCHELLING: PhK 11803-04, 639. Da die Poesie[2/n ihrer Natur nach sprachschaffend ist, so verliert sie zugleich mit der unveränderlichen Festsetzung der Sprache ihr wahres Leben und sinkt un vermeidlich zu einem bloßen Spiele mit Phrasen herab. [...] Die Poesie¡1/2Í5] spricht das aus, was noch nicht ausgesprochen worden ist; dies ist ihr hoher Zweck; sie darf daher nicht im Sprachgebrauche ßxiert werden f..J. A. W. SCHLEGEL: VphK 1798-99,33, 5,19. Es wird also
Poesie 1
457
in der Poesie schon Gebildetes [Sprache] wieder gebildet; und die Bildsamkeit ihres Organsm [Sprache] ist ebenso gränzenlos, als die Fähigkeit des Geistes zur Rückkehr auf sich selbst durch immer höhere potenzirtere Reflexionen. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02, 387. Eben so irrig als die eben widerlegte Meynung ist die, daß die Bilder und Metaphern(1] veraltern und sich abnutzen könnten. Dann wäre die Poesie in der That ein trostloses Handwerk, die Vorgänger hätten das beste vorweggenommen, undman müßte suchen ihnen aus dem Wege zu gehn, wodurch man unfehlbar auf Abwege gerathen würde. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 1801-02,412. Indessen ist die Poesief...] eine Art vongemeinschafilichem Mittelpunkt der Künste, in welchen sie zurückkehren und von da Wiederausgehn; da sie sich zum Mittel ihrer Darstellungen des allgemeinen Organs^ der Verständigung, der Sprache bedient, so ist auch in ihr das klarste Bewußtseyn über das Streiten aller Kunst einheimisch, sie kann eine Vermittlerin der übrigen abgeben, das Medium gleichsam, worin sie sich sämtlich auflösen lassen, um in einander überzugehen. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 Ί803-04,3. Es trat f...] eine Classe von Schriftstellern auf, welche behaupteten, diePoesie[¡] solle gar keine Kunst, sondern ein bestimmungsloser fast unbewußter Erguß der Natur seyn. Der Irrthum lag darin, daß sie die Entgegensetzung von Kunst und Natur als absolut fixirten, und sie nicht zu synthetisiren wußten, da doch ächte vollendete Poesie¡ni eben so sehr Kunst als Natur seyn muß, und eins immer in das andre übergeht. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04,63,15. [EJs läßt sich leicht zeigen, daß gegen die gemeine Meynung die Fantasie (nur mit einer andern Richtung) eben so viel AntheiJ an der philosophischen Speculation habe, als an der Poesie; und auf der andern Seite, daß ächte selbstständige Poesie eine ebenso energische Thätigkeit der Vernunft voraussetzt, als die sich in der Philosophie hervorthut. A. W. SCHLEGEL: VEW 1 1803-04,11 & begreift sich hieraus [...] der Mis brauch, den junge Dichter häufig mit den Bey Wörtern durch Überladung zu treiben pflegen, indem sie den allgemeinen Zweck der Poesie, Darstellung, gar zu sehr durch das Einzelne zu erreichen streben. A. W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04, 304. Die Poesie ward in Rom nur wie im Treibhause getrieben. Mit Übersetzungen der Griechen fing man an, dann kamen Nachahmungen, ächte Originalwerke haben sie weniger aufzuweisen gehabt. A. W. SCHLEGEL: VEW 11803-04, 328. In[...]der Tragödie will[...]diePoefie ein feibftändiges, in fichgefchloßenes Ganzes au feinmal vor das Auge bringen. A. W. SCHLEGEL: DKL/1 RI1808; 1809-111, 84 f. Es gibt so viel Poesie¡WJ?t, und doch ist nichts seltner als ein Poem! Das macht die Menge von poetischen Skizzen, Studien, Fragmenten, Tendenzen, Ruinen und Materialien. F. SCHLEGEL: Lyfr 1797, 147, Nr. 4. Alle Kunst soll Wissenschañ, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein. F. SCHLEGEL: Lyfr 1797, 161, Nr. 115. WerFantalie, oder Pathos, oder mimifches Talent hat, müßte die Poefie lernen können, wie jedes andre Mechanilche. Fantafíe ift zugleich Begeiftrung und Einbildung; Pathos ift Seele und Leidenfchaft; Mimik ift Blick und Ausdruck. F. SCHLEGEL: Aíhfr 1798,244/207, Nr. 250. Die Römer hatten nur einen kurzen Anfall von Poefie, während deffen ße mit großer Kraft kämpften undftrebten, fich die Kunft ihrer Vorbilder anzueignen. F. SCHLEGEL: OP 1800,74/295. Die Engländische Sprache sollte theils auf das altdeutsche zurückgeführt werden für Poesie[tnr¡; theils fur φσ [Philosophie] - combinat.[orisch] und theoretisch zubereitet werden. F. SCHLEGEL: Phl/7 * 1803,492, Nr. 204. Überhaupt wäre zu wünschen, daß das Studium dieser schönen Sprache [Persisch] auch in Deutschland allgemeiner würde. Für Poesie dürfte außer der Griechischen nicht leicht eine belohnender gefunden werden f...] F. SCHLEGEL: SWI 1808,139. - BERNHARDT JGH 1800, 272; BERNHARDI: Spl/2 1803, 48; 98,20; 123 ( - Metapher3); 227; 236; 2 3 7 ; BRENTANO: Godwi 1801, 117,2; HÖLDERLIN: Rfl »1798/99, 234 ( - Heiterkeit,); NOVALIS: an A. W. Schlegel R 25. 12.1797 1 , N S 240; NOVALIS: Akdt *1798, 568,16; NOVALIS: Poesie »1798, 533, 2, Nr. 3 1 ( - 4); 536, Nr. 47; NOVALIS: Tplfr »1798, 600, Nr. 348; NOVALIS: VFS »1798, 572, Nr. 214; NOVALIS: FrSt • 1 7 9 9 , 560, Nr. 35; NOVALIS: ABr » 1 7 9 8 , 2 9 7 , Nr. 323; 309, Nr. 3 8 2 ; 368, Nr. 582; NOVALIS: HVO R *1799-1800; 1802', 285 ( - 2), 21.23; 286,12; NOVALIS: an L. Tieck '23. 2. 18001, NS 322, 19,24; NOVALIS: an seinen Bruder KarlTCndeMärz 18001, NS 327; SCHELLING: DphB 1803,157 ( - 12), 14; SCHELLING: PhK Ί803-04,359; 436; 444; 451; 472; 648; 652; 668; 683; 719; 735; SCHELLING: VMaS 1803,344; SCHELLING: VbKN 1807,292; SCHELLING: WMF 1 8 0 9 , 4 1 4 ; 415; SCHILLER: N s D 1795-96, 442, 14; 455, 26; 490, 21, 22, 24; A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96, 131; A. W. SCHLEGEL: VphK 1798-99,13 ( - 2 ) ; 16, L; 30,29,38; 49; 119; 130,15,16 ( - 2); 138; A. W. SCHLEGEL: D G 1 7 9 9 , 1 3 4 f./ 9 0 F ; 144/98; 146/100; A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί 8 0 1 - 0 2 , 184; 244; 250 ( - 7); 251; 270; 273; 387, 16 ( - 2); 404; 405; 406,15,41; 407; 408, 2; 410 ( - MetapherJ; 426; 429, 16,20; 439; A. W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί 802-03,492,31 ( - 5); 508; 510; 513; 519,12; 528; 533; 543, 1, 14,21,33; 7 0 9 , 1 7 ( - Buchstabe.,); 723; A. W. SCHLEGEL: VEW 1803-04, 9; 27 Organi 28; 49; 59; 217 ( - Dialekt/Mundart,)·.
458
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
272 (-Metapher^, 302 Oreamsmus/Oreanisation.Y 325 (-* 13); A. W. SCHLEGEL: VLK/3 Ί 8 0 3 04,14,17,3i; 40; 55,13,22; 60,24; 65,14; 92,30,35; 141,40; A. W. SCHLEGEL: DKL·! Γ Ί808; 1809-11 1 , 3; 9; 16 heiterj, 17,7; 33; 156; 330, 2; A. W. SCHLEGEL: DKL/2 "1808; 1809-111, 7; 11; 52 ( - 4); 161 romantisch9), 3,13; 169; 185, 28; 323; 344; F. SCHLEGEL: an L. Tieck "Anf. Nov. 17971, L 19 ( - 18); F. SCHLEGEL: Lyfr 1797, 152, Nr. 42; 155, Nr. 65; F. SCHLEGEL: Athfr 1798, r 204 ff/182 f , Nr. 116, 4/3, 7/6, 51/38 ( - romantischa)\ 240 f./204, Nr. 238 18), 22/16; 245 f./207 f., Nr. 252; 287/232, Nr. 365; 296 f./239, Nr. 390, 22/I6 ( - 3); 300/241, Nr. 404; F. SCHLEGEL: GP 1800, 59/285 ( - 2), 24/10; 89/305; 92 f./309 f.; 99/315; 101/318 ( - 2), 11/7; 182/348,8/18; 183/348 ( - Buchstabe6); F. SCHLEGEL: FPL*1801,322, Nr. 813; F. SCHLEGEL: an L. Tieck 1 5 . 9.1803 1 , L 136,7,13; F. SCHLEGEL: BgmP 1803,55/22,16/6; F.SCHLEGEL: VPL'1805-06, 180; TIECK.: an A. W. Schlegel r23. 12. 17971, L 2 5 ( - 18); TIECK.: AML 1803, 190; 192 romantisch2); 193, 25 ; 204, 14; 205,10; 206; 207, 1 24; 208, 4, R8 ( - Ironie¡)\ TLECK: an F. Schlegel '16. 12. 1803 , L 141; 142; 143; S. TIECK-BERNHARDI: r 1 an A. W. Schlegel 5. 11. 1806 , KJ 369,35. - Vgl. F. SCHLEGEL: Ideen 1800,21/265, Nr. 96.
2. Unter Hinweis auf die Etymologie des Wortes gilt Poesie als schöpferische Tätigkeit überhaupt und daher als das Wesen aller Kunst (Poiesis), das in jeder Einzelkunst gleichermaßen anzutreffende gestalterisch-kreative Moment (bei Schelling offen zu 5). Sie kann unter diesem Aspekt als eine allgemeine, d. h. nicht ausschließlich sprachliche Darstellung erscheinen262, die insbesondere Musik und Tanz mitumfaßt und sowohl als Ausgangspunkt (Urkunst) wie als Ziel der Entwicklung der Künste verstanden werden kann. Bei F. Schlegel (GP 1800, 59/285) und Novalis wird das Wort auch unter Verzicht auf den Aspekt der Beteiligung eines schöpferisch tätigen Subjekts gebraucht; es bedeutet dann soviel wie >(unbewußt wirksame) schöpferisch-produktive Lebenskraft der Nature (bei Novalis offen zu 4). Im engeren Sinne ist der >kreative und gestalterische Umgang mit Sprache< gemeint, bei A. W. Schlegel (bildende/umbildende) Darstellung im Gegensatz zur Nachahmung genannt, die durch die unter 7 und 8 beschriebenen Tätigkeiten näher bestimmt und von allem Anfang an auch schon rhythmisches Sprechen ist; unter diesem Aspekt offen zu 1 und 3; bei F. Schlegel offen zu 4. - Der Unterschied von Poesie2 und Poesie, kann vor allem darin gesehen werden, daß erstere eine notwendige Äußerung natürlicher Anlagen ist, letztere hingegen eine willentlich ausgeübte, bewußte Tätigkeit. Der Gegensatz läßt sich unter diesem Aspekt auf das v. a. bei A. W. Schlegel ausführlich differenzierte Begriffspaar Naturpoesie und Kunstpoesie bringen. Bdv.: Erschaffung, Schöpfung, Erfindung, Invention, Kunst, Musik, Tanz. Prph.: freie schaffende Wirksamkeit der Fantasie, erste Darstellung der Sinnenwelt (A. W. Schlegel), bildende Darstellung (A. W. Schlegel), bildende Tätigkeit des
262
So schon bei A. W. Schlegels Göttinger Lehrer G. A. Bürger: „Das Deutfche Wort D i c h t k u η f t entfpricht dem Griechifchen Ρ o e f i e keinesweges. Richtiger wire es durch Β i 1 d η e r e i zu úberíetzen. Denn g e d i c h t e t , oder gefabelt, wird nicht immer; hergegen überall wird g e b i 1 d e t" (BÜRGER: PF «'1777-78,266/725).
Poesie 2
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Künstlers. - Synt. : Anfänge / Ursprung der P., Naturgeschichte der P., Organ2 der P. (von der Sprache gesagt), Wesen / Geist der P., Poesie(ì/n) der P., schöpferische Kraft der P., form- / bewußtlose P., Anlage / Antrieb zurP. - Ktx. Synt.: Funken des Enthusiasmus, zündender Funken (F. Schlegel). - Wbg.: Poetik (A. W. Schlegel), Elementarpoesie, Naturpoesie. Aus einem Menschen spricht für dieses [erste] Zeitalter Vernunft und Gottheit nicht vernehmlich nicht frappantgenug-Steine, Bäume, Thiere müssen sprechen, um den Menschen sich selbst fühlen, sich selbst besinnen zu machen. \ Die erste Kunst ist Hieroglyphistik. \ Mittheilungs, Besinnungskunst oder Sprache, und Darstellungs, Bildungskunst, oder Poesie sind noch eins. Erst später trennt sich diese rohe Masse - dann entsteht Benennungskunst, Sprache im eigentlichen Sinn - Philosophie - und schöne Kunst, Schöpfungskunst, Poesie überhaupt. NOVALIS: VFS *1798, 571 f., Nr. 214. Im Kriege, versetzte Klingsohr, regt sich das Urgewässer. Neue Welttheile sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung anschießen. Der wahre Krieg ist der Religionskrieg; der gehtgerade zu auf Untergang, und der Wahnsinn der Menschen erscheint in seiner völligen Gestalt. Viele Kriege, besonders die vom Nationalhaß entspringen, gehören in diese Klasse mit, und sie sind ächte Dichtungen. Hier sind die wahren Helden zu Hause, die das edelste Gegenbild der Dichter, nichts anders, als unwillkührlich von Poesie^ durchdrungene Weltkräfte sind. Ein Dichter, der zugleich Held wäre, ist schon ein göttlicher Gesandter, aber seiner Darstellung ist unsere Poesi^ nicht gewachsen. | Wie versteht ihr das, lieber Vater? sagte Heinrich. Kann ein Gegenstand zu überschwänglich für die Poesie[l] sein?\ Allerdings. Nur kann man im Grunde nicht sagen, für die Poesiem, sondern nur für unsere irdischen Mittel und Werkzeuge. NOVALIS: H V O r*1799-1800; 1802\ 285, 18,24. Unter Poeße im engern Sinne wird, wenn wir uns auch bloß an die Sprachbedeutung halten, das unmittelbare Hervorbringen und Schaffen eines Realen verftanden, die Invention an und für fich felbft. SCHELLING: PhK Ί803-04, 461. Das, wodurch die bildende Kunft ihre Ideen ausdrückt, ift ein an Reh Concretes; das, wodurch die redende, ein an lieh Allgemeines, nämlich die Sprache. Deßwegen hat die Poeße Vorzugs weife den Namen der Poeße, d. h. der Erfchaffung behalten, weilihre Werkenichtalsein Seyn, fondern als Produciren erfcheinen. Daher kommt es, daß die Poeße wieder als das Wefen aller Kunft kann angefehen werden, ungefähr fo wie die Seele als das Wefen des Leibes. SCHELLING: PhK Ί803-04, 631 f. Allein in der Beziehung, inwiefern [,..]Poeße^ das Erfchaffende der Ideen, und dadurch das Princip aller Kunft ift, war von ihr fchon in der Conftruktion der Mythologie die Rede. Nach der von uns vorgenommenen Methode kann alfo hier -im Gegenfatz mit der bildenden Kunft - von PoeßeUi] nur die Rede feyn, inwiefern ße felbft b e fondere Kunftform, und alfo von derPoeße[nv die von dem An-fich aller Kunft die Erfcheinungift. SCHELLING: PhK'1803-04,632, 4. [Cervantes, Don Quijote:] Der Boden, auf dem das Ganze gefchieht, verfammeltein jener Zeit alle romantifchenm Principien, [...] die Hirten, die auffreiem Felde lebten, einenritterlichenAdel, das Volk der Mauren, die nahe Küfte von Afrika, den Hintergrund der Zeit und derFeldzüge gegen die Seeräuber, endlich eine Nation, unter welcher die Poeße popular ift - felbft malerifche Trachten [...]. SCHELLING: PhK 1803-04, 680.253 Dießistes, was man fo oft getagt hat, und was doch nur in einem gewiffen Sinne wahr ift: Poeße undMußkfei vom Anfange an da ge wefen, und gleichalt mit der Sprache. Welch eine Poeße und Mufik kann man ßch hiebei denken ? Beiden fehlte noch etwas, woran doch ihre ganze Entwickelung zu fchönen Künften hieng, nämlich ein Gefetz der äußeren Form [...]. A. W. SCHLEGEL: B P S S 1795-96,121 f. Poesie ist eine bildende Darstellung der innern Empfindungen und der äußern Gegenstände vermittels der Sprache. A. W. SCHLEGEL: VphK 11798-99, 7. Die Poesie[mt fing an eine Kunst zu werden, doch mußte zwischen der Periode, wo sie allgemein war, und der, wo sie die seltene Gabe weniger ausgezeichneter Menschen ist, ein Zeitraum in der Mitte liegen, wo es eine zahlreiche Klasse, einen Stand von
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Die Bedeutung des Belegs, der im Sinne von A. W. Schlegels Naturpoesie-Konzepl interpretiert und deshalb hierher gestellt werden könnte, bleibt unklar; eine Zuordnung zu 1, unter Umständen zu 11 scheint gleichfalls möglich Tendenzen zu 5, 15 und 21 sind im Zusammenhang mit romantisch} erkennbar.
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
Dichtern geben konnte. A. W. SCHLEGEL: VphK '1798-99,13. Das Wort Poetik, von ποιέω, ist fur das Erschaffen des Schönen, das vorher noch nicht da war, ein vorzüglich passendes Wort. Die Poesie ist die allgemeinste unter alten Künsten, wir schreiben daher den übrígen einen poetischen Teil zu. A. W. SCHLEGEL: VphK '1798-99, 129. Bei allen Dingen, die ihren Grundin dem Menschen selbst haben, geht die Praxis der Theorie voraus; so auch bei den schönen Künsten und derPoesieli]. Die Sprache ist dem Menschen natürlich; Poesie¡2n] wurde beim Menschen erst eigentlich ganz instinktmäßig, er bedurfte keiner, mit ihr entstand der Gesang und der lyrische Tanz. A. W. SCHLEGEL: VphK Ί798-99, 130,16. Den Inbegriff der Künste [...] nennt man noch besser die Kunst: dadurch deutet man an, daß das, was sie mit einander gemein haben (der menschliche Zweck) das Wesentliche an ihnen, das aber, was sie unterscheidet (die Mittel der A us fuhrung) das Zufällige ist. Diesem nach wäre ihre Philos, [ophische] Theorie am schicklichsten Kunstlehre zu benennen, nach der Analogie von Sittenlehre, Rechtslehre, Wissenschaftslehre. - Oder auch Poetik, da man ein verstanden ist, daß es in allen schönen Künsten, außerdem mechanischen (technischen) und über ihm, einen poetischen Theil gebe; d.h. es wird eine freye schaffende Wirksamkeit der Fantasie (ποιησις) in ihnen erkannt. Poesieheißt dann im allgemeineren Sinne das allen Künsten gemeinsame, was sich nur nach der besondern Sphäre ihrer Darstellungen modifizirt. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02, 186. Wenn man nicht zugiebt, daß der Geist etwas von außen her in sich aufgenommenes, ohne sein Wesen aufzuheben, zu einer künstlerischen Erscheinung umgeschaffen als ursprünglich aus sich hervorgehen lassen kann: so begreift man überhaupt noch nichts vom Wesen der Poesie und Kunst. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02,346. Das Medium der Poesie^m [ ]ist eben dasselbe, wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt, und seine Vorstellungen zu willkürlicher Verknüpfung und Äußerung in die Gewalt bekömmt: die Sprache. Daher ist sie auch nicht an Gegenstände gebunden, sondern schafft sich die ihrigen selbst; sie ist die umfassendste alle Künste, und gleichsam der in ihnen überall gegenwärtige Universal-Geist. Dasjenige in den Darstellungen der übrigen Künste, was uns über die gewöhnliche Wirklichkeit in eine Welt der Fantasie erhebt, nennt man das Poetische in ihnen; Poesie^ bezeichnet also in diesem Sinne überhaupt die künstlerische Erfíndung, den wunderbaren Akt, wodurch dieselbe die Natur bereichert; wie der Name aussagt, eine wahre Schöpfung und Hervorbringung. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02,387,16,24. Durch alles obige ist erwiesen, daßdieOnomatopöie, die Metaphermsamt allen Arten von Tropen, und die Personification [...]in der Ursprache [...Jim höchsten Grad herrschend sind, worin eben die im Ursprünge der Sprache angekündigte Elementarpoesie liegt. In diesem Sinne ist es wahr, was so oft gesagt worden: Poesie[w^ sey früher da gewesen als Prosa, welches wenn man zur Poesie.^^ gleich eine festgesetzte Kunstform mitrechnet, sich nicht behauptenläßt. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί 8 0 1 - 0 2 , 4 0 3 . Unermeßlich undunerfchôpfiich iftdie Welt der Poeße& wie der Reichthum der belebenden Natur an Gewichfen, Thieren und Bildungen jeglicher Art, Geftalt und Farbe. Selbft die künftlichen Werke oder natürlichen Erzeugniffe, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der umfaffendfte alle umfäffen. Und was find fíe gegen die formlofe und bewußtlofe Poeße^, die lieh in der Pflanze regt, im Lichte ftrahit, im Kinde lächelt, in der Blúthe der Jugend fchimmert, in der liebenden Bru ft der Frauen glüht?-Diefe aber iftdie erf te, urfprúngliche, ohne die es gewiß keine Poeße[l] der Worte geben wurde. F. SCHLEGEL: GP 1800, 59/285. Und jede [Wiffenfchañ undKunft], die auch nicht in den Worten der Sprache ihr Wefen treibt, hat einen unßchtbaren Geift, und deriftPoeße. F. SCHLEGEL: GP 1800, 87/304. Und ift nicht diefer milde Widerfchein der Gottheit im Menfchen die eigentliche Seele, der zündende Funken aller Poeße[2t ? - Das bloße Darftellen von Menfchen, von Leidenfchaften und Handlungen macht es wahrlich nicht aus, fo wenig wie die kánffliehen Formen; und wenn Ihr den alten Kram auch Millionenmal durcheinander würfelt und über einander wälzt. Das ift nur der fichtbare äußere Leib, und wenn die Seele erlofchen ift, gar nur der todte Leichnam der Poefíem. Wenn aber jener Funken des Enthußasmus in Werke ausbricht, fo fteht eine neue Erfcheinung vor uns, lebendig undin fchôner Glorie von Licht und Liebe. F. SCHLEGEL: GP 1800, 101/318,5/2. Darum find die innerften Myfterien aller Kdnfte und Wiffenfchañen ein Eigenthum der Poeße. Von da ift alles ausgegangen, und dahin muß alles zurückfließen. In einem idealifchen Zuftande der Menfchheit würde es nur Poeße geben; nàmlich die Künfte und Wiffenfchañen ßnd alsdann noch eins. In unferm Zuftande würde nur der wahre Dichter ein idealifcher Menfch feyn und ein univerfeller Künftler. F. SCHLEGEL: GP 1800,108/324. - BERNHARDI: Spl/2 1803, 123 Metapher3); BRENTANO: Godwi 1801, 112, 2; 359, 12 ( - romantisch,)·, NOVALIS: Poésie »1798, 533, Nr. 31 ( - 4); NOVALIS: Mlg »'1798/99,672,29,32; NOVALIS: HVO '»1799-1800; 1802\ 284 ( - 4), 19,23,2(5; SCHELLING: StI 1800, 629; SCHELLING: PhK Ί803-04, 391; SCHELLING: BPV » 1 8 1 1 , 4 5 0 ; A. W. SCHLEGEL: B P S S 1795-96,
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Poesie 2-3 106, LI; A W. SCHLEGEL: VphK 1798-99,12; 33 ( - 1), 5,19; 127; A W.
SCHLEGEL:
VLK/1 Ί801-02,
272,28;389,27(- 11); 392, 37,39, TI; 417; 443; A W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί802-03,476,5-14; 507,16;
A W.SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04, 106, 23; A W. SCHLEGEL: DKL/2 "1808; 1809-1V, 193, 30; F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 306/245, Nr. 419; F. SCHLEGEL: GP 1800, 60/285, 15/25; 181/348, 22/8; F. SCHLEGEL: DGr «1805,7, Nr. 25, 6 ( - Metapher3).
3. >gebundene Rede, das Sprechen oder Schreiben im Versmaß und/oder Reimschemageistige Tätigkeit der Übertragung von Bezeichnungen fllr sinnlich erfahrbare auf nicht sinnlich erfahrbare, abstrakte oder metaphysische Gegenstände< ; der unter 7 beschriebenen idealtypisch entgegengesetzte, von ihr realiter (und aufgrund des Belegmaterials) jedoch kaum zu trennende Operation264; offen zu 1 , 2 und 4. Prph.: Allegorie des Unendlichen. - Ktx.: Bild, Metapherm,
Idealismus,
Identi-
tät. Die Zachen der Sprache haben nurmit dem Hörbaren eine unmittelbare Ähnlichkeit. Da das sich Bewegende auch meistens hörbar ist, so geht die Bezeichnung natürlich vom Hörbaren aus. Weil aber der Mensch mit der Sprache immerfort darzustellen strebt, somuß er, was in andere Sinne fällt, durch übertragene Ähnlichkeit anderer Sinne bezeichnen. | Die Erweiterung der Sprache setzt eine ununterbrochene Kette von Vergleichungen voraus; die früheste Sprache ist daher im höchsten Grade tropisch und bildlich, d. h. poetisch. Poesie,,, ist bildlich anschauender Gedankenausdruck [...] Tropen undMetaphemm, der schönste Schmuck derPoesie[n waren Kinder der Poesie^.; die bildliche Benennung war eher als die (unbildliche, wesentliche) einfache. A. W. SCHLEGEL: VpnK Ί798-99,9,24, 35. Nächst dem kommen in Betracht als poetische Figuren die Tropen, oder uneigentlichen Ausdrücke, unter welchen dieMetapher^ die wichtigste und von dem ausgedehntesten Gebrauche ist. Sie ist eine Gleichsetzung verschiedner Bildersphären, und gewährt als solche bedeutende Aufschlüsse überdas Wesen der Poesie und den ihr innewohnenden Idealismus. A. W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04, 304.2iifRhetorik gehört[...Jdie Theorie vonrferMetapher|1/3|, den Tropen. - Die lezten mehr in Prosa, Bild aber das Wesen der Poesie^y weil dieses in Allegorie des Unendlichen besteht. \ Tropen auch in der gemeinen Rede; gründen sich stets auf Uebereinkunft; - D.[as] Bild aber auf innere Aehnlichkeit der geistigen und sinnlichen Welt. F. SCHLEGEL: DGr *1805, 15, Nr. 75 u. 76. - BRENTANO: Godwi 1801,359, 12 ( - romantisch,)·, A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02, 250 (-7);403 (-2); A. W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04, 292 (- Metapher3); F. SCHLEGEL: DGr »1805, 7, Nr. 25,6 {-MetapherJ. - Vgl. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02,401; 402 ( - 11).
9. Bei Schelling die >auf Talent, natürliche Begabung, angeborene Fähigkeit zurückgehende Tätigkeit des Künstlers (im weitesten Sinne), die unreflektiert ausge-
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Während bei 7 das Abstrakte oder Unendliche mit dem Endlichen, Konkreten in Beziehung gesetzt werden soll, ist es bei 8 genau umgekehrt (vgl. s. v. Metapher). Das Ergebnis ist in beiden Fällen das gleiche: Geistiges wird sinnlich-anschaulich dargestellt. - Die unter diesem Aspekt etwas künstlich anmutende Unterscheidung zwischen 7 und 8 erfolgt hier, um die Denkfigur der Gegenläufigkeit (vgl. romantisch,0) in der für die Frühromantiker im allgemeinen und A. W. Schlegel insbesondere so typischen Ausgleichs- oder Vermittlungsposition deutlich hervortreten zu lassen.
Poesie 9-10
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übt wird und nicht erlernt werden kannProdukt des Umgangs mit Sprache nach Regeln der Kunst: Bestandteil eines Textes oder der Text selbsteine Menge oder Gesamtheit solcher Produkte«; Metonymie zu 1, im weiteren Sinne offen zu 12, bisweilen zu inhaltlichen Spezialisierungen neigend (vgl. 14/15), hypersem zu 13. Als Produkt der Kunst soll Poesie gleichwohl den Eindruck eines auf Eingebung beruhenden, gleichsam durch Naturnotwendigkeit hervorgebrachten Werkes machen (A. W. SCHLEGEL: SGM 1796, 53). Bdv.: Text, Rede, Dichtung, Dichtkunst, Kunst, Dichtart, Aufsatz (vgl. 18), Gedicht, Kunsturteil, Literatur, Kunstwerk, Werk(e). - Prph. : poetisches Produkt, poetische Prosa (Bernhardi). - Synt.: alte / antike / klassische4 / naive / moderne / neuere /romantische^ (häufig) /sentimentalische P., (altdeutsche /französische / griechische / indische / italienische / orientalische / provenzalische / spanische Ρ., prosaische P., epische / lyrische / dramatische P., ernsthafte / tragische / komische P., christliche /geistliche P., geistige / idealische / enthusiastische P., eigentliche / echte /falsche P., transzendentale P., selbstgeschaffene / ausgearbeitete / vollendete P., Denkmal I Werk der P., ein Stück P., P. einer Nation, Form / Gattung! Abart der Ρ., Geist / Wesen der P., Organ der Ρ., Gestalten der Ρ., Welt der P. ; P. erzeugen / hervorbringen, die P. bereichern, die P. charakterisieren, P. (Subj .) etw. darstellen / von etw. (konkret: von einer Gattung) ausgehen, Richtung der P. Ktx.: Sprache. - Ktx. Synt.: redende ! schöne Künste, bildende Künste (Schelling). - Wbg.: Poem', Begriffspoesie, Bühnenpoesie, Dekorationspoesie, Empfindungspoesie, Gesellschaftspoesie, Idealpoesie, Individuenpoesie, Konversationspoesie, Lehrpoesie, Nationalpoesie, Originalpoesie, Phantasiepoesie, Romanpoesie, Schönheitspoesie, Transzendentalpoesie, Verstandespoesie, Volkspoesie, -' Unpoesie. Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Association, wie Träume. Gedichte - blos wohlklingend und voll schöner Worte - aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang - höchstens einzelne
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Strofen verständlich - sie müssen, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen [seyn]. Höchstens kann wahre Poésie einen allegorischen Sinn im Großen haben und eine indirecte Wirckung wie Musik etc. thun [...]. NOVALIS: FrSt*1799, 572, Nr. 113. Nicht ein einzelnes Gedicht, fonderti die ganze Gattung der neueren Poefie reprälentierend und fei bit eine Gattung fur /Ich, fteht die göttliche Komödie foganz abgefchloffen, daßdie von einzelneren Formen abftrahirte Theorie für fie ganz unzureichend ift, und Re als eine eigne Welt auch ihre eigne Theorie fordert. SCHELLING: DphB 1803, 152 f. Ich werde nun zuerft die Frage beantworten: wodurch wird die Rede zur Poefie¡wm?Es wird in diefer Frage [...] von den Formen die Rede feyn muffen, wodurch fleh die Poefielwm als folche von der Rede abfondert, alfo vornehmlich vom Rhythmus, Sylbenmaß υ f . w. SCHELLING: PhK'1803-04,633. Das A n-fich der Poefie ift nun das aller Kunft: esiftDarftellung desAbfoluten oder des Univerfum in einem Befonderen. [...] Sowie nichts Kunftwerk überhaupt ift, das nicht mittelbar oder unmittelbar Reflex des Unendlichen ift, fo kann insbefondere nichts Gedieh t oderpoetifch feyn, was nicht irgend etwas Abfolutes, d. h. eben das Abfolute in der Beziehung auf irgend eine Befonderheit darfteilt. [...] Das Princip der Unpoefie [...] ift der Empirismus oder die Unmöglichkeit, etwas anderes als wahr und real zu erkennen, als was in der Erfahrung liegt. SCHELLING: PhK ' 1803-04,634. Von dem epifchen Gedicht [.. J als der Identität ging die Poefie aus, gleichfam als von einem Stande der Unfchuld, wo alles noch beifammen und eins ift, was fpäter nur zerftreutexiftirt, oder nur aus der Zerftreuung wieder zur Einheit kommt. SCHELLING: PhK Ί803-04, 687. Endlich, was Calderón durch die höhere Welt voraushat, auf die feine Poefie lieh gründet, ift, daßdie Verfohnung zugleich mit der Sünde, und mit der Differenz unmittelbar auch die Nothwendigkeit bereitet iñ. SCHELLING: PhK Ί803-04,730. Jede Poesiet¡l) [...] muß einen unendlichen Gehalt haben, dadurch allein ist sie Poesie[ulut [.. .]. SCHILLER: NSD 1795-96, 469. Ich bemerke hier zuerft, daß alle Poefie mehr oder weniger nach den Gattungen Anfprüche daraufmacht, für eine zwar ungewöhnliche, aber doch fchneile, ungetheilte, ununterbrochene Eingebung, nicht für eine aUmäliche Hervorbringung gehalten zu werden; daß die letzte, und nicht die leichtefte Kunft des Dichters darin befteht, alle Kunft zu verbergen, und Uber das tie ff te Studium, die forgfamfte Wahl den Anftand ungezwungener Leichtigkeit zu verbreiten, als hätte er Alles nur fo eben hingegoßen. A. W. SCHLEGEL: SGM 1796,53. Begreiñman denn nicht, daß, da die Poesie^ ursprünglich in der Sprache daheim ist, diese nie so gänzlich depoetisirt werden kann, daß sich nicht überall in ihr eine Menge zerstreute poetische Elemente ßnden sollten, auch bey dem willkührüchsten und kältesten Verstandesgebrauch der Sprachzeichen, wie viel mehr im gemeinen Leben, in der raschen, unmittelbaren oft leidenschaftlichen Sprache des Umgangs. Viele Wendungen, Redensarten, Bilder und Gleichnisse, die, sogar im plebe/esten Tone, vorkommen, sind unverändert auch für die würdige und ernsthafte Poesielm brauchbar, und unstreitig ließe sich bey einem Gezänk von Höker weibern die Lebhaftigkeit der Vorstellungen eben so gut als Prinzip demonstriren, wie bey jenen ausgehobnen Dichterstellen. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί 801-02,389. Es baut sich nun also in der Sprache über der ersten Darstellung der Sinnen weit eine zweyte unsrer unsinnlichen Anschauungen, und das Band zwischen beyden ist die Metapherm. Die Bildlichkeit, das Bezeichnete durch Vergleichung, trat zwar schon in jener ersten Sphäre ein, aber hier thut sich erst das volle Bewußtseyn des symbolisirenden Vermögens in uns hervor, durch dessen willkührlichen absichtlichen Gebrauch alsdann aus den poetischen Elementen der Ursprache eigentliche Poesie gebildet wird. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02,402 (vgl. Poesie,). Als Kirchensprache erhielt es ¡Latein]eine eigne geistliche Poesie, von der ich darthun zu können glaube, daß sie etwas weit höheres leistete, als je die classische[2n¡ der Lateiner konnte, welche doch im Ganzen nurpoetische Schulübung war, statt daß hier die Begeisterung einer ursprünglichen Anschauung weht. A W. SCHLEGEL: VEW 1803-04, 330. Wiewohl ich mich nur auf Eine Gattung der Poefie befchränke, fo ift die Mafie des darin Vorhandenen immernoch unüberfehlich, und würde es bleiben, wenn ich auch wiederum nur eine Unterart hervorhöbe. A. W. SCHLEGEL: DKL/1 r 1808; 1809-11', 19. Die drei Hauptgattungen der Poefie überhaupt find die epifche, die lyrifche und die dramatifche. A W. SCHLEGEL: DK1V1 "1808; 1809-11', 38. Wenn Sie nur [. . .]mit Ihrem Aufsatze über den Cervantesfertig würden! Sie glauben nicht, wie sehr ich es wünsche, Sie auch einmal über die Poesie poetisiren zu hören [, . .]. F. SCHLEGEL: an L. Tieck r27. 7. 1798', L 3 1 . Die Poesie des einen heißt die philosophische; die des andern die philologische; die des dritten die rhetorische, u. s. w. Welches ist denn nun die poetische Poesie??. SCHLEGEL: Lyfr 1797,159, Nr. 100. Jede Kunft und jede Wiffenfchaft die durch die Rede wirkt, wenn fíe als Kunft um ihrer felbft willen geübt wird, und wenn fíe den hóchften Gipfel erreicht, erfcheint als Poefie. F. SCHLEGEL: GP 1800, 87/304. Sollte sich nicht aus der
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
gothischen Grammatik und Sprachefindenlassen, was fur Poesie die Deutschen] damals müssen gehabt haben? Y. SCHLEGEL: DGr *1805, 11, Nr. 54. - BERNHARDI: Spl/2 1803,46; 68; 178; NOVALIS: ABr *1798, 399, Nr. 688 ( - 1); NOVALIS: Akdt »1798, 568, 8,16, '22 ( - Organ,f, NOVALIS: Poësie *1798, 535, Nr. 43 ( - organisch^·, NOVALIS: Post *1798, 537, Nr. 54; NOVALIS: HVO '»1799-1800; 1802', 283 ( - romantischs); 286, io; NOVALIS: FrSt *1800, 649, Nr. 549; 691, Nr. 695, r, NOVALIS: an L. Tieck Ί . 1. 1801\ NS 343; SCHELLING: DphB 1803, 157 ( - 12), 14; SCHELLING: VMaS 1803,346, 31,33; 347; 351; SCHELLING: PhK Ί803-04,411; 470 9), 17; 545; 630; 632, 2) 8 f., 28; 634 (=> 1); 637;649;658; 669;686,12;707; 718; SCHELLING: StPV Ί810,480 ( - 12), 13; A W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96,108,23; A W. SCHLEGEL: VphK '1798-99, 9 ( - 8), 34; A W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02, 196 ( - 10), 12,21; 234; 240; 254; 391; 406, 37,38; 408, 14,19; A. W. SCHLEGEL: VLK/2 '1802-03, 477,9,37; 479; 526; 541, 4; 543, 4; 625; 709 ( - Buchstabe,); 773 ( - 3), 16, 18; 781; A W. SCHLEGEL: VLK/3 1803-04,8,2.30,38;9; 18; 39 ( - /rome,); 55, io; 63 1), 19; 111, 2L; 177, 30; A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04,246; 305 ( - Metapher,); A. W. SCHLEGEL: DM 1808,164; A. W. SCHLEGEL: DKL/1 "1808; 1 1809-11 , 16 ( - heiterj, 17,15; 32; 34; 143; 182; 190; 195; 342; A. W. SCHLEGEL: DKL/2fl1808; 1809-111, 47; 64; 71; 161 ( - romantisch,), 3,13; 179 15); 185, 31; F. SCHLEGEL: an L. Tieek " Anf. Nov. 17971, L19 ( - 18); F. SCHLEGEL: Lyfr 1797,162, Nr. 117 ( - 18); F. SCHLEGEL: FLP *1797,90, Nr. 62; 119, Nr. 413,415; F. SCHLEGEL: Alhfr 1798, 190/172, Nr. 49; '204 ff./182 f., Nr. 116, 3/2,51/38 O romantischa)\ 212/187, Nr. 139; 233/199, Nr. 217; 240 f./204, Nr. 238 18), l/i, 13/10, 21/16; 259f/217, Nr. 305; F. SCHLEGEL: OP 1800,66/289; 68 f./291; 80/299,4/3; 85/302; 183/348 ( - Buchstabe^·, F. SCHLEGEL: Ideen 1800, 27/269, Nr. 127 15), l/i; F. SCHLEGEL: an L. Tieck r25. 9. 18021, L 115; r15. 9. 18031, L, 136, 3, 4, 6; F. SCHLEGEL: BGmP 1803, 50 f./18; 53/20; 54/21; 55/22, îo/l; F. SCHLEGEL: SWI1808,175; 261 f ; 311; 315; TIECK: an Wackenroder r28. 12. 17921, VL 107; TIECK: PhK/20 1799,242,31; TIECK: an F. Schlegel 'Mitte März 1801', L 58; TIECK: an A. W. Schlegel '15. 10. 18021,L 123; TIECK: AML 1803, 189; TIECK: an F.Schlegel '4.9. 18061, L 160,20(- 13); WAKKENRODER: an L. Tieck Ί 1.-14. 1. 17931, VL 118; 122; 123; WACKENRODER: DAHS »1793/94,285; 286.
12. >Produkt generierender, schöpferischer Tätigkeit überhaupt«, im engeren Sinne >Produkt des kreativen und gestalterischen Umgangs mit Sprache«; Metonymie zu 2, offen zu 11, bei A. W. Schlegel zu 13. Bei Schelling (StPV 4 810) Produkt geistiger Tätigkeit«; offen zu 14. Prph.: poetische Elemente der Ursprache (A. W. Schlegel). - Synt.: Urbild aller P. (vom Universum gesagt; Schelling), P. des Absoluten / des Geistes / Gottes (Schelling). - Ktx.: erzeugen, Tätigkeit. - Wbg.: Urpoesie. Wenn die Verbindung der Philofophie und PoeJ]e¡lmr¡ auch nur in ihrer untergeordnetften Synthefe als Lehrgedicht aufgefaßt wird, ío iít, weil das Gedicht ohne äußeren Zweck feyn foli, nothwendig, daß die A blicht (zu lehren) in ihm felbft wieder aufgehoben und in eine A bfolutheit verwandelt i ft, fo daß es um feiner felbfi willen zu feyn fcheinen könne. Dieß i ft aber nur denkbar, wenn das Wiffen als Bild des Univerfums und in der vollkommenen Eintracht mit demíelben, als der urfprünglichften und fchönften Poefie^¡2¡, an und fìir fich felbft fchon poetifchift. SCHELLING: DphB 1803, 157, 21. Denn überhaupt Natur und Geifterwelt find nicht mehr verfehl eden als [...] die Welt der Plaftik und die Weit der Poefie^ny deren Geftalten nicht fichtbar auftreten, fondern in jedem wieder erzeugt werden muffen durch eigne Thätigkeit, alio nur innerlich anfchauüch find. Die Geifterwelt ift die Poefie^m Gottes, die Natur feine Plaftik. fm Menfchen entfteht ein Mittleres, nämlich das fichtbare Drama, weil diefes feine geiftigen Schöpfungen zugleich in der Wirklichkeit darfteilt. Daher die Gefchichte am beften als eine große Tragödie anzufehen ift, die auf der Trauerbühne die fer Welt aufgeführt wird, wozu fie die bloßen Bretter hergibt, indeß die Handelnden, d. h. die darauf vorgeftellten Perfonen, von einerganz anderen Welt find. In jener Welt ift alles, was in dieferift, nur aufpoetifche, d. h. geiftige Weife [...]. Dort Und die Urbilder, hier die Abbilder. SCHELLING: StPV Ί810,480, 16. Die Sprache ist von ihrer Entstehung an der Urstoff der Poesie; das Sylbenmaß (im weitesten Sinne) die
Poesie 12-14
471
Faim ihrer Realität, das äußerliche Gesetz, unter welchem sie in die Weh der Erscheinungen eintritt [...]. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί 8 0 1 - 0 2 , 393. - BRENTANO: Godwi 1801, 112, 3,18; NOVALIS: M l g *Ί798/99,672,32; 673, 3; SCHELLING: StI 1 8 0 0 , 3 4 9 ; SCHELLING: PhK '1803-04, 454, 25; 667, eine M e n g e oder Gesamtheit solcher Produkte< (dann als inhaltliche Bestimmung z u 11 dorthin offen): gemeint sein können Texte oder Bestandteile von Texten, die deren phantastische, die Ein-
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
bildungskraft reizende Qualität ausmachen. Metonymie zu 5; offen zu 12; von 14 inhaltlich oft nicht klar zu trennen. - Poesie
15
wird durchgehend positiv wertend ge-
braucht; eine außerhalb des frühromantischen Diskurses feststellbare Bedeutung >Ausfluß einer realitätsfremd-schwärmerischen Weltsicht, Produkt der Phantasterei findet sich bei Novalis (FrSt * 1 7 9 9 - 1 8 0 0 , 6 3 8 f.) zwar belegt, ist aber eindeutig als perspektivische Redeweise zu verstehen, in der ein v o m Autor abgelehnter Wortgebrauch wiedergegeben wird. Bdv.: Schmuck, Wunderbares, Dunkel, Geheimnis. - Synt.: reine P., in den Dingen vorhandene chelnde Lieblichkeiten bens', einen Anspruch
- Prph.: Zauber des
P., Bezauberungen
der P.,
der süßen P., Sinn für P., P. des Gegenstandes, auf P. machen
einschmeiP. des Le-
(von Texten gesagt), etw. mit P.
schmücken (von Texten gesagt), in einem Text eine Spur von P. entdecken. Reiz, Dämmerung, phantastisch,
Nacht, Mystizismus,
— bürgerlich,
Schwärmerei,
-< häuslich,
tisch5/10. - Wbg.: Poem\ Minuspoesie,
Lebens.
heiterfern,
^ gewöhnlich,
aus-
- Ktx.:
geheimnisvoll,
^ gemein', vgl.
roman-
Pluspoesie.
Alle Poesie unterbricht den gewöhnüchen Zustand - das gemeine Leben, fast, wie der Schlummer, um uns zu erneuern - und so unser Lebensgefuhl immertege zu erhalten. | Kranckheiten, Unfälle, sonderbare Begebenheiten, Reisen, Gesellschaften wirckenin einem gewissen Maas, auf eine ähnliche Weise. Leider ist das ganze Leben der bisherigen Menschheit Wirkung unregelmäßiger, unvollkommnerPoesie gewesen. NOVALIS: Akdt * 1798, 568 f., Nr. 207. Die Philosophie] ist die Prosa. Ihre Consonanten. Ferne Philosophie] klingt wie Poesie[li] - weiljeder Ruf in die Ferne Vocal wird. Auf beyden Seiten oder um sie her liegt + und minus Poesie(uy So wird alles in der Entfernung Poësie115,J?] -Poëm. Actio in distans. Feme Berge, ferne Menschen, ferne Begebenheiten etc. alles wird romantisch^ quodidem est - daher ergiebt sich unsre Urpoetische Natur. Poësievm7. der Nacht und Dämmerung. NOVALIS: ABr*1798,302,14,15,16,19, Nr. 342. Wilhelm Meisters Lehrjahre sindgewissermaaßen durchaus prosaisch - und modern. Das Romantische.„ geht darinn zu Grunde - auch die Naturpoësie, das Wunderbare - Er handelt blos von gewöhnlichen menschlichen Dingen - die Natur und derMystizism sind ganz vergessen. Es ist eine poëtisirte bürgerliche und häusliche Geschichte. Das Wunderbare darinn wird ausdrücklich, als Poesie und Schwärmerey, behandelt. NOVALIS: FrSt *1799-1800, 638 f., Nr. 505. Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn fur Mystizism gemein. Er ist der Sinn fur das Eigenthümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendigzufallige. [...] Kritik der Poésie ist ein Unding. Schwer schon ist zu entscheiden, doch einzig mögliche Entscheidung, ob etwas Poesie sey, oder nicht. Der Dichter ist wahrhafi sinn beraubt -dafür kommt alles in ihm vor. Erstelltim eigentlichsten Sinn Subj[ect] Obj[ect] vor - Gemiith und Welt. Daher die Unendlichkeit eines guten Gedichts, die Ewigkeit. Der Sinn für Pfoësie] hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn überhaupt. Der Dichter ordnet, vereinigt, wählt, erfindet - und es ist ihm selbst unbegreiflich, warum gerade so und nicht anders. NOVALIS: FrSt *1800, 685 f., Nr. 671. Vorzüglich hielt sie sich bei dem Lobe ihrer Laadsleute und ihres Vaterlandes auf. Sie schilderte den Edelmuth derselben, und ihre reine starke Empfänglichkeitfur àePoesie[lsnt] des Lebens und die wunderbare, geheimnißvolle Anmuth der Natur. Sie beschrieb die romantischen^ Schönheiten der fruchtbaren Arabischen Gegenden f...]. N O V A LIS: HvO r*1799-1800; 1802', 236. Lafontaine bildete sie [Fabel] dramatisch um, schmückte sie mit charakteristischen Reden aus, mit außerordentlich viel Naivität und viel Poesie¡15,13). A. W. SCHLEGEL: VphK Ί798-99, 109. In diesen Erfindungen [Ritterromanen und Fabliaux] ist unstreitig sehr viel schöne Poesie [...], aber sie liegt im Ganzen der Dichtung, keines weges im einzelnen A usdruck, der die Geschichte vielmehr, auch wenn sie in Versen abgefaßt war, auf das einfachste darstellte. A. W. SCHLEGEL: VEW 1803-04,343. Er [Shakefpeare] hatte es nicht mit einer kleinlich krittelnden Zeit zu thun, wie die unsrige ift, wo man in derPoeße[ll) immer etwas anders Aichtals Poeñe[iS]; feine Zu-
Poesie 15-17
475
fchauer giengen in 's Theater, nicht um die wahre Chronologie, Geographie und Naturgefchichte zu erlernen, fondern um eine heitre^ Darfteilung anzufehn. A. W. SCHLEGEL: DKL/2 R'1808; 1809-111, 179. Wenn ein Mann gegen feine Lage und Lebensart ein Gegengewicht bedarf, um nicht die Mufen zu vergef f en und die Harmonie zu verlieren, fo können ihn die Wiffenfchañen nicht retten, wenn nicht die Poeüe ihn aus ihrer Quelle e wiger Jugend erfrifcht und ftirkt. Du errithft fchon, daß ich Dich an das erinnere, was ich über die Verfchiedenheit der minnlichen und weiblichen Bildung fagte, und nun eben daraus folgere: für die Frauen fey die Philofophie das nähere und unentbehrlichere Bedürfnis. Den äußern Reiz find fíe nicht in Gefahr zu vergeffen, wie es Männern fo leicht begegnet, und wenn ße auch fonft noch fo unheilig find, fo halten Re doch die Jugend heilig und den jugendlichen Sinn, und diefe Poefte des Lebens ift ihnen natürlich. F. SCHLEGEL: ÜdPh 1799, 20/52 f Der PoeßeiWii]der Dichter bedürfen die Frauen weniger, weil ihr eigenftes Wefen Poeße[wift. F. SCHLEGEL: Ideen 1800, 2 7 / 2 6 9 , Nr. 127, L/I, 2/2. - NOVALIS: C h r E *1799, 516, 8 ( - 21); A. W. SCHLEGEL: VLK/3 Ί803-04, 41; 57; 111, L; 1 2 1 , 5 ( - 19); A. W. SCHLEGEL: DKIV2 "1808; 1809-11 1 , 96; F. SCHLEGEL: Lyfr 1 7 9 7 , 1 4 7 , Nr. 4 ( - 1); TIECK: A M L 1 8 0 3 , 1 9 4 , 1 8 , 2 4 .
16. Bei Bernhardt das Produkt oder Ergebnis der unter 6 beschriebenen kognitiven Tätigkeit, die >bildlich-konkrete Vorstellung des sinnlich Wahrnehmbaren an den Gegenständen«; Metonymie zu 6. Bdv.: Anschauung,
Vorstellung,
Bild,
Begriff, -> Spekulation.
Vorftellungen find immer noch ein inneres: und alle freien Vorftellungen, Poefíe und Spekulation, Bild und Begriff find ein In wendiges. Nun aber ift es, um diefe Begriffe und Bilder feftzuhalten, und ße frei und nach Belieben zu wiederhohlen, unterer Natur nothwendig, fíe in die Reihe derAnfchauungen hinzufiellen; undßefo zu etwas Aeußem zu machen. So entfteht eine Darftellung unterer freien Vorftellungen grade aufdiefelbeArt, wie Sprachdarfteilung überhaupt entftand, nur ift die Sprachdarfteilung eine Unterart der hier angedeuteten Darftellung. [...] Diefe Darftellungen von Begriffen und Bildern, bei denen wir uns des Vorftellens und Darfteilens deutlich bewußt find, fei uns erlaubt, freie Darftellungen zu nennen; und die Arten der freien Darftellungen müffen ßch daher wefentüch durch die finnlichen Materialien beftimmen ¡äffen, welche zur Ausfprechung und Darftellung der Vorftellungen, und ihrer Arten vorhanden find. BERNHARDI: Spl/2 1803,25 f.
17. >Qualität einer literarischen/metrischen Form oder einer figürlichen Redew e i s e , die sie für die poetische Arbeit i. S. v. 1 geeignet machte, auch >Machart, Qualität eines Textes« als Resultat der poetischen Arbeit i. S. v. 1 ; bei Bernhardi die als Korrelat der unter 6 beschriebenen kognitiven Tätigkeit gefaßte Qualität einer Sprache bzw. ihrer Bestandteile, die diese zu einem geeigneten Medium der bildlichen Darstellung i. S. v. 7 bzw. der poetischen Arbeit i. S. v. 1, enger gefaßt: der Versifikation i. S. v. 3 macht; offen zu 14 und 15. Synt.: innere / innerliche (Sprachjformen
P., äußere P. (eines Tropus), P. der Sprache,
(d. i. «ausdrucksseitige» P.), P. der Sprachsphären
seitige»F.)> P- e'nes
Stückes. - Wbg.: sichpoetisieren
P. der
(d. i. «inhalts-
(von einer Sprache gesagt).
Die philofophifchen Sprachen find wegen ihrer beftimmten Wortfolge, ihren wenigen Formen am leichteßen zu erlernen, und als Sprachen fehr wenig zur Poefí£¡3| geeignet; die poetifchen dagegen find in den erften Schritten weit fchwieriger; aber fíe find weit mehr zu künftächen Sylbenmaaßen, zu fch&nen Perioden gebildet; kurz alles dasjenige, was die Sprache als Mufik charakterißrt, ift ein Eigenthum der letztern; was ße als Bedürfniß bezeichnet, der erftem; aber die innerliche Poel/e¡l7í kann beiden in gleich hohem Grade eigen fein f...]. BERNHARDI: Spl/1 1801,346, 23. DieSpra-
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
che ift nehmüch an und für fìch, in ihrem inner/ten Baue etwas poetifches. Sie entfpringt durch die Anfchauung, und deren Beziehung auf uns: diefe ftelitfie in den mannigfaltigften Mifchungen und den verwickeltften und trockeniten Formen immer wieder auf; und dieferinnem Poefíe[íri kann fíe fìch nimmermehr entledigen. Daher treten alle Redetheile [.. Jin eine beftimmte Beziehung auf die Einbildungskrafì; jeder einzelne Redetheil hat etwas poetifches, ift Theil eines zu zeichnenden Bildes. [...]Es zeigt fìch [...], daß diefe Poefie^^ der Sprache, eine Poefíe[¡1] der Formen ift [...J, und daß dadurch nichts anders begründet werde, als die Möglichkeit, durch die Sprache überhaupt Poeße^ darzuftellen, ja daß dies in der That durch den Gebrauch der Sprache in jedem Momente gefchehe. BERNHARDI: Spl/2 1803,56,24 u. 57,15. Femer fahen wir [...], daß in der Sprache an fìch, in ihren einzelnen Formen und deren Verbindung im allgemeinen eine Poeße enthalten fei, daß aber die Redetheile unterûch in Hmßcht ihres poetifchen Beftandtheiles Grade hätten. Die mindefle Poeße fchloffen nehmüch diejenigen Formen in ßch, welche nichts als ein Verhältniß ausdrdckten, alfo die Pripoütion und Conjunction. Daher muß es nothwendig Charakter der poetifchen Sprachdarfteilung werden, ûch dieferunpoetifchen Elemente zu entladen. BERNHARDI: Spl/2 1803, 112. Ich weiß wohl, daß man auch die edelsten Formen gehaltlos nachleyem kann, aber wofern sie acht sind, veralten sie nie, und es wohnt ihnen allerdings Poetie bey, die dem, der ihr Geheimniß versteht, begeisternd entgegenkommt. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04, 52. Am Abend gingen wir ins Schauspiel, Hieron im us Knicker von Dittersdorf ward gerade gegeben; die Poesie des Stücks ist so, daß man auf diese Art unendliche (sogenannte) intriguen aneinanderreihen könnte, und ein Stuck so ununterbrochen einPaar Jahrin eins fortspielen könnte. TIECK: an A. F. Bernhardi rEnde Juli/Anf. Aug. 17931, VL 260. - BERNHARDI: Spl/2 1803, 5 8 , 3 , 4 ; 101; 394, io, 14; WACKENRODER: an E. J. Koch Ί 6 . 2. 1794 1 , V L 143. - Vgl. A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί 8 0 1 - 0 2 , 4 2 9 .
18. >Theorie der Poesie
in¡,
Poetik; Lehre von derjenigen der schönen Künste,
deren Material und Werkzeug die Sprache ist; Gesamtheit dessen, w a s ein Künstler, eine M e n g e oder Gesamtheit von Künstlern über den dichterischen U m g a n g mit Sprache und ihren Einsatz bei der schönen Darstellung von realen oder fiktionalen Gegenständen weißindividuelle Ansicht eines M e n schen, w a s Poesie überhaupt, und speziell i. S. v. 11 sein sollin dieser Sprache verfaßtes (meist aus dem Lateinischen übersetztes) erzählendes Gedicht in Versen oder - später - in ProsaRoman, abenteuerliche Vers- oder Prosaerzählung< (im OED VIII, 770c erstmals 1530 belegt), dessen Adjektivableitung romantic >romanhaft, nach Art der Romane< Ende des 17. Jahrhunderts in der Form romantisch entweder direkt oder über das entsprechende, seinerseits vom engl, romantic herstammende frz. romantique ins Dt. übernommen wird271: Erstbeleg 268
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271
Vgl. F. SCHLEGEL: FPL »1799-1801, 322, Nr. 810: Die „Synthesis" des Klassischen und des Romantischen ist „groß romantisch". Vgl. auch NOVALIS: Poët *1798, 537, Nr. 54: ,,[I]n der Universalgeschichte der Poesie [lösen sich] die Antike, Moderne, und Vereinigte Periode ab". Ich danke den Studentinnen Monika Heigele und Manuela Sonnentag, die im Rahmen einer Seminarveranstaltung nach meiner Mediode und mit demselben Belegmaterial, das dem hier vorgestellten Wortartikel zugrundeliegt (aber ohne Kenntnis dieses Artikels), jeweils einen eigenen Artikel romantisch verfaBten und mir dadurch die Möglichkeit gaben, meine Bedeutungsansätze kritisch zu reflektieren. DWBVIII, 1155 führt gleichbedeutend mlat. romanticus in einem Beleg aus dem 15. Jh. aniexlectione quorundam romanticorum i. e. librorum compositorum in gallico poeticorum de gestis militaribus in quibus maxima pars fabulosa est. - DELF, 560a verwirft demgegenüber einen mlat. Beleg aus dem 15. Jh. (denselben?) als auf einem Lesefehler beruhend. So EWbD II, 1137a; entsprechend DÉLF, 560a. Umgekehrt nehmen DUDEN, 598b, OED, 769b und CED II, 1355b Entlehnung des engl, romantic von frz. romantique an. - Zu verwerfen ist wohl die Möglichkeit einer Entlehnung desfrz.romantique von dt. romantisch (EWFS, 770b).
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
scheint Gotthard Heideggers Mythoscopia romantica oder Discours von den so benannten Romans (1698) zu sein. Synonym verwendet werden über längere Zeit romanisch und romanzisch (vgl. DWB VIII, 1155). - Kenntnis der Herkunft und Etymologie des Wortes (wiewohl vermutlich nicht der Verworrenheit der Entlehnungsverhältnisse im einzelnen) bezeugen F. Schlegel (GP 1800, 122/335) und A. W. Schlegel (VLK/3 ! 1803-04, 12). Verworrene Verhältnisse lassen sich auch im semantischen Bereich feststellen. Es ist teilweise schwer, einzelne Verwendungsweisen des Wortes zu unterscheiden (vgl. DWB VID, 1156). Jede Gliederung des Bedeutungsspektrums kann daher nur eine unter verschiedenen möglichen sein. So differiert die hier vorgeschlagene etwa von Pikulik 1992, 74 ff. zwar nicht substantiell, weicht aber in der Gruppierung bzw. Isolierung einzelner Aspekte beim Ansatz der Bedeutungspositionen erkennbar ab. Teilweise läßt sich auf sie die in der Romantikforschung übliche Unterscheidung projizieren, wie sie in Anlehnung an Eichner ( 1972a) z. B. von Behler ( 1992) vertreten wird. Die semantischen Positionen 1-4 entsprechen etwa dem «historischchronologischen» Verständnis von romantisch, 5-12 etwa dem «typologischen». Die «zeitgenössische» Verwendungsweise des Wortes romantisch findet sich in den für die vorliegende Untersuchung hauptsächlich herangezogenen Quellen kaum belegt (vgl. allenfalls F. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel ΑΘ. 9. 1804\ KJ 150 und Α5. 7. 18051, KJ 216), anders gesagt, die Frühromantiker bezeichneten sich selbst nicht als romantisch bzw. Romantiker (vgl. Behler 1992,18 f. und 22 sowie Pikulik 1992, 73). Im Überblick lassen sich inhaltliche Gemeinsamkeiten der Wortbedeutungen nennen: So tritt der Aspekt der Mischung und Synthesis bei 2 - 5 , 7 , 9 , 1 0 und 12 hervor. Bei 2, 3, 5-7 und 9 klingt der Aspekt der bunten Vielfalt an. 1,2, 5,8 und 10 verbindet der Aspekt des Idealisch-Verklärenden, 1, 2, 5-7,10 und 11 der des Individuell-Subjektiven. Bewußt aufgegriffen schließlich wird im Rahmen der frühromantischen Theoriebildung der durch die Etymologie implizierte Aspekt des Poetisch-Ästhetischen; er ist (zumindest kollokationsweise) in allen Verwendungen des Wortes zu erkennen. Literatur: Eichner 1972a; Kainz 1974, 375 ff.; G. Schulz 1983,70 ff.; Ueding 1987, 99-102; Hoffineister 1990,1-12; Behler 1992,18 ff.; Pikulik 1992,73 ff.; Segeberg 1994, 31-36.
romantisch
1. >modern< als Charakterisierung eines Zeitraums vom Beginn des Mittelalters bis zur unmittelbaren Gegenwart; häufig auch nur in der eingeschränkteren Bedeutung mittelalterlich, zum Mittelalter gehörige 2. inhaltlich an 1 anschließbarer kunstbzw. literaturtheoretischer Ausdruck mit besonderer Verwendungshäufigkeit, der in bestimmten festgefügten Syntagmen (romantische Poesie, romantische Gattung usw.) zum Gebrauch als Terminus tendiert; 3. »romanhaft, romanspezifisch, auf den Roman bezügliche, 4. >romanisch klassisch,)·, 194; A. W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04, 148; 159 ( - 9 ) ; 280; 309; 346 ( - 5 ) ; A. W. SCHLEGEL: D K L / 1 "1808; 1809-1119,27 ( - 1 0 ) ; 16 ( - heiter,); 18; 249; 366 ( - Ironie¿)\ A. W. SCHLEGEL: DKL/2 "1808; 1809-
romantisch 2-3
491
111,28; r 16l, 4 f., 17 (— 9)1; 162; 185 f. ( - 5 ) ; 289; 388; 392; 398; 4 2 3 , 5 f ( - 9 ) ; 433; F.SCHLEGEL: F L P *1797, 166, Nr. 964 ( - progressiv6); F. SCHLEGEL: Alhfr 1798, 204/182, Nr. 116 ( - 12); 209 f / 1 8 5 f., Nr. 125 ( - 3); 244/206, Nr. 247; F. SCHLEGEL: G P 1800, 81/300; 83/301, 19/15 ( - 5); 119/333 ( - 5); 179/346 klassisch4); F. SCHLEGEL: F P L »1801,317, Nr. 754 ( - 3); F. SCHLEGEL: an r r L . Tieck 25.9.1802', L 115; F. SCHLEGEL: B G M P 1803,51/19; F. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel 15. 7. 18051, KJ 214; 216; r8. 9. 18051, KJ229; r27. 2. 18061, KJ 295; f13. 7. 18081, KJ 571; TIECK: AML 1803, 193; UHLAND: ÜdR 1807,400, io ( - heiter,).
3. »romanhaft, romanspezifisch, auf den Roman bezüglich ; eine auf Ausfüllung einer terminologischen Leerstelle der Literaturreflexion abzielende spezielle Verwendung von 2, in der romantisch in analoger Weise als Adjektiv zu Roman dient, wie lyrisch, episch und dramatisch in bezug auf die Gattungstrias Lyrik, Epos und Drama (vgl. Eichner 1972b, 102 f.)278; offen zu 5 und 7. Synt.: r. Gattung, r. Dichter, κ Motiv, r. Sujet, r.-epischer Stoff, r. episches Gedicht, r. Arbeit, r. Projekt, r. Erstling, r. Schreibart, r. Prosa, r. Periode, r. Rhythmus,r. Darstellung, r. Ordnung. -Ktx.: lyrisch, episch, dramatisch. -Ktx. Synt.: Prosa des Romans, poetisierte Prosa, ruhig darstellende Prosa. - Wbg.: romantisieren (tr./intr.); schafromantisch mach Art eines Schäferromans< (Brentano)279;
278
279
Die Prosa des Romans nennt Bemhardi (Spl/2, 238) romantische Prosa-, Jean Paul (UL H822,6) bezeichnet die Unsichtbare Loge als seinen romantischen Erstling; bei Novalis (an F. Schlegel Γ 31. 1. 18001, NS 318) ist das Romantische die Arbeit an Romanen. Die «brentaneske» (Boëtius 1985, 10) Wortbildung schafromantisch ist typisch für eine gewisse Vorliebe, die einige romantische oder romantischem Denken nahestehende Autoren dem Schaf als Gegenstand der Reflexion bzw. Exemplifikationsmodell entgegenbringen. Mindestens zwei unterschiedliche Ausprägungen solcher Ovinophilie lassen sich ausmachen. Einerseits gibt es eine im wörtlichen Sinne «ästhetisch» (vgl. KANT: KrV J 1787, 35 f., Anm.) zu nennende Tradition, in der das Tier zur Verdeutlichung erkenntnistheoretischer Zusammenhänge herangezogen wird. Am bekanntesten (und im Rahmen der vorliegenden Untersuchung interessantesten) sind wohl die vielzitierten Passagen („weiß, sanft, wollicht" etc.) aus Herders Sprachursprungsschrift, die das Schaf-Beispiel in eminent sprachphilosophischem Kontext anbringen. - Andererseits ist eine im engeren Sinne als »romantisch» zu bezeichnende Linie feststellbar, die insbesondere mit der Ästhetik im heutigen Verständnis, der Kunsttheorie also, verknüpft ist. Ihr liegt die arkadisch-bukolische Schafrezeption der Hirtenidylle zugrunde, wie sie sich bei Novalis (HvO f * 1799-1800; 18021, 299) findet, wie sie in Brentanos Wortfügung anklingt und wie sie auch in einer Äußerung Schellings deutlich wird: Beiläufigwendet dieso' sich gegen das «Malende» in der Musik, „welches nur ein ganz verdorbener und gefunkener Gefchmack [...] gut finden kann" (SCHELLING: PhK Ί803-04, 496). Beispiel für einen solchen Geschmack sei es, wenn der Hörer „fich an dem Blöcken der Schafe in Haydns Schöpfungsmufik ergötzt" (ebd.). Ebenfalls ex negativo erläutert A. W. Schlegel (VLK/1 1801-02, 283) seine Auffassung vom Wesen der Plastik mithilfe des Schafexempels, da das Tier „in seinem dicken wolligen Pelze, wie ein formloser Sack gestaltet, woraus bloß die dünnen Stecken der Beine hervorstehen, [...] für die Sculptur ein äußerst ungünstiger Gegenstand" sei. - Eine eingehendere Darstellung der hier nur angerissenen Zusammenhänge, insonderheit die Prüfung der beiden benannten und gegebenenfalls die Herausarbeitung weiterer Traditionslinien, bleibt Aufgabe einer Monographie über die philosophische und literarische Topik des unspektakulären Paarhufers, die in Ausrichtung und Methode ζ. B. an die vorbildlichen Untersuchungen über den Affen (Zimmermann 1991) oder den Papagei (Lindemann 1994) anzuschließen wäre.
492
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
Romantiker >Romanschreiber, Romanauton (Novalis), Romantisierung Ausarbeitung, Gestaltung (eines literarischen Stoffs) zu einem Romane Wir [...[merken nur an, daß wirdieProfa des Romans mit dem Nahmen der romantifchen Profa [...] bezeichnen wollen. BERNHARDI: Spl/2 1803, 238. Verfchiedene romantifche Sujets überlegt. Verwandlung derAchilleis in einen Roman. GOETHE: Tgb *1807,256.™° Gegenwärtiger Schreiber ift [...] im Begriffe, zu β bilieren und ein Familienleft mit einem feiner liebften Kinder-eben dem gegenwärtigen Buche, feinem romantifchen Erftling ~ zu begehen, und redet hier zur zweiten Auflage vor. JEAN PAUL: UL21822,6. Es scheint mir auch, als ließe sich ein epistolarischer und dialogischer Rythmus, in dem Verhältniß zu den lyrischen und dramatischen, wie der romantische Rythmus zu dem Epischen -recht gut denken. NOVALIS: an A. W. Schlegel R12. 1. 17981, NS 247. Mit den romantischen Proyecten muß ich [ J noch eine Zeillang zurückhalten f. ]No\AUS: anF. Schlegel R10. 12. 17981, NS 270. Ich habejezt nichts im Kopfe, als Romane, und Lustspiele. Der Lehrling zu Sais kommt nach der Vollendung des obigen R[omans][d. i. Heinrich von Ofterdingen] sogleich in die Arbeit. Lieder füllen einzelne Nebenstunden aus, und die Reden sind fur den Sommer zur Unterbrechung des Romantischen bestimmt NOVALIS: an F. Schlegel R31. 1. 18001, NS 318. Sowohl die Italiänerals Spanier besitzen romantische¡3;5?) Darstellungen in einer [...] wahrhaft poetisirten Prosa. [...] Boccaz muß wohl als derStifier der romantischenj3) Prosa angesehen werden, wie wohl er die Französischen Ritterromane und Fabliaux vor Augen haben mochte. - Bey den Spaniern ist sie zuerst in den Ritterromanen aufgeblüht, [.. .Jdann wurde sie besonders in den Schäferromanen und einigen andern sehranmuthig bearbeitet, und endlich von Cervantes aufden letzten Gipfel erhoben, der nicht weiter hat übertroffen werden können. - Es ist keine Frage, daß die Deutsche Sprache sich hierin sehr gut an diese südlichen Muster anschließen kann; sie hat in frühem Zeiten schon mehr das dazu gehörige besessen, und jetzt ist durch Goethes W. Meister zuerst der Sinn für romantisch^ ruhig darstellende Prosa wieder geweckt worden. A. W. SCHLEGEL: VEW 11803-04, 348. Jean Pauls groteskes Talent und Peter Leberechts fantaftifche Bildung vereinigt, würden einen vortrefflichen romantifchen[y2IS7] Dichter hervorbringen. F. SCHLEGEL: Aihfr 1798,209 f. (210,3) / 1 8 5 f. (186,2), Nr. 125. Sie behaupteten,
Friedrich
Richters Romane feyen keine Romane, fondern ein buntes Allerley von kränklichem Witz. [...] Das bunte Allerley von kränklichem Witz gebe ich zu, aber ich nehme es in Schutz und behaupte dreift, daßfolche Grotesken und Bekenntniffe noch die einzigen romantifchen^ Erzeugniffe unfers unromantifchen Zeitalters find. F. SCHLEGEL: GP 1800, 113 f. (114, 7)/329F. (330, 4). Die Metaphern, „ müssen allerdings insofern in Betracht gezogen werden, daß sie d[em] Ganzen entsprechen müssen. -Metaphern,,, aus d[er] fabelhaften Naturgeschichte z. B. schicken sich für Rom[antisches]{m] im engem Sinn, nicht furs λυρ [Lyrische] Δρ [Dramatische] επ [Epische], nicht furs Antike. F. SCHLEGEL: FPL *1801, 317, Nr. 754. Alle diete verfchiednen Formen werden lieh als nützlich undicht, β als wefentlich bewähren, wenn ßch erft der Roman felbftin feiner ganzen Fülle bei uns weiter wird entfaltethaben, und die Mannichfaltigkeit der alten romantifchenm Gefchichten in eben fo mannichfaltigen Formen neu dargeftellt und eigen gebildet, uns den ehemaligen Frühling des romantifchen(miin. Lebens und Dichtens, in feinerganzen Schönheit wieder bringen wird. F. SCHLEGEL: BGmP 1803, 52/ 20, 22/4, 24/6. Daher finden wir diesen sogenannten orientalischen Charakter eben so wohl in vielen Dichtem des Mittelalters (auch in italienischen und deutschen, nicht bloß in spanischen) als in den romantischen^^ Dichtungen der Perser und Araber [...]. Wie paßt nun aber diese Farbenglut zu der prosaischen Trockenheit der Chinesischen Bücher, oder zu der schönen Einfalt des indischen Stils? Zwar in derSokuntola des Kaiidas fehlt es auch nicht an Blumenschmuck und Bilderfiille, doch auch hier ohne alle Überspannung. F. SCHLEGEL: SWI 1 8 0 8 , 3 1 1 . - BERNHARDI: Spl/2 1 8 0 3 , 2 4 0 ; BERNHARDI: AGS 1805, 378; JEAN PAUL: V S Ä 2 1 8 1 3 , 3 6 ( - 10); NOVALIS: ABr * 1 7 9 8 , 3 0 8 , Nr. 3 7 3 ( - 7); 326, Nr. 4 4 5 , 17 ( - 7); 434, Nr. 853; NOVALIS: FrSt *1800, 647, Nr. 537; 654, Nr. 576; 6 5 4 f., Nr. 580 ( - 5 ) ; NOVALIS: HVO »1799-1800; 1802\ 283 ( - > 8 ) ; SCHELLING: PhK '1803-04, 672, 28 ( - 7); F. SCHLEGEL: FLP »1797, 87, Nr. 2 3 ( - progressivpoetisch, romanhaft, wie in der «romantischen» Erzählung, im Roman: bunt, mannigfaltig, reich, abwechslungsreich, pittoresk, interessant; ausgefallen, bizarr, abenteuerlich, phantastisch; übertrieben, absurd, irrealphantastisch< zu 10, in der Bedeutung >romanhaft< zu 3; oft - wertend oder wertfrei - im Gegensatz zum Ausgewogenen, Stillen, Vollendeten, Gediegenen des Klassischen(VA) als inhaltliche Bestimmung für 1/2. - Eichner (1972a, 5; vgl. auch 1972b, 100 f.) weist auf die teilweise gegensätzlichen Konnotationen hin, die mit diesem Wortverständnis verbunden sein können: Sofern romantisch auf Personen angewendet wird, die sich verhalten oder sprechen wie Romanfiguren, überwiegt der pejorative Aspekt; Eichner (1972a, 5) nennt Syntagmen wie „.romantic (i. e., absurdly unrealistic, lying) fiction' or ,romantic (i. e., extravagantly devoted, chival-
281
Der Herausgeber setzt Sprache[n], eine vielleicht nicht notwendige Konjektur. Sprache kann bei den Frühromantikern hypersem gebraucht sein: Das Wort, das unter anderem in der Bedeutung >Sprachfamilie< begegnet, kann als übergeordnete Bezeichnung für eine Menge oder Gesamtheit von Einzelsprachen verwendet werden, die dann Dialekte/Mundarten2, ebensogut aber auch ihrerseits Sprachen genannt werden können.
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
rous or naïve) love'". «Romantische» Literatur sei gleichwohl mit Vergnügen rezipiert worden, was sich auf die Verwendung des Wortes ausgewirkt habe. Im Laufe der Zeit habe sich der positiv wertende Wortgebrauch allmählich durchgesetzt, „particularly as applied to landscapes" (ebd.). - Als romantisch können bezeichnet werden: • Situationen, Lebenslagen (NOVALIS : HvO '* 1799-1800; 1802\ 221 ; C. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel r4. 4. 1801 \ C/2 91); • Stimmungen, Gemüts- oder Geistesverfassungen (NOVALIS: HvO r * 1799-1800; 1802\ 285; F. SCHLEGEL: GP 1800, 83/301, io/8), auch eine bestimmte, dem Romantischen5 aufgeschlossen gegenüberstehende Haltung in der Kunstrezeption (A. W. SCHLEGEL: DKL/2 π 1808,1809-11\ 75,9); • Meinungen, Vorstellungen, Lebensansichten, Lebenspläne (NOVALIS: an seinen Vater r9. 2. 17931, NS 109; MEREAU: NdL 1802, 68): romantische IdeenUugendideen, • eine bestimmte Schreibart (vor allem für den Roman; vgl. 3) und im Zusammenhang damit eine bestimmte Denkart (NOVALIS: FrSt *1800,654 f., Nr. 580); • bestimmte Stilrichtungen, insbesondere in der «Machart» eines Kunstwerkes; • bestimmte literarische Stoffe (F. SCHLEGEL: BGmP 1 8 0 3 , 5 4 / 2 1 ) : in dieser Verwendung in besonderer Weise offen zu 1/2; • die allgemeine Qualität eines literarischen Werkes: Shakespeares Dramen haben romantischen Geist (F. SCHLEGEL: G P , 8 3 / 3 0 1 , 1 7 / 1 3 ) ; • einzelne Bestandteile eines unter ästhetischen Aspekten rezipierbaren Ganzen, vor allem Elemente eines literarischen Werkes, bestimmte in ihm behandelte oder dargestellte Themen und Gegenstände, die es seinerseits romantisch5/2 machen.282 Romantische Prinzipien, Phänomene oder Elemente sind Bukolik, Rittertum, Abenteuer, Poesie, Liebe, Ehre, das Christentum (der Katholizismus), der Orient, das Phantastische, Wunderbare, auch das Metaphysische, Übersinnliche (vgl. 10). Eine Gesamtheit solcher Gegenstände als Fundus literarischer Gestaltung nennt Schelling (PhK, 669) eine romantische Welt. • Landschaften - „be they idyllic country scenes that would appear ,romance-like' only to city dwellers, scenes of alpine grandeur, or the painted landscapes of a Nicolas Poussin (1594-1665), Claude Lorrain (1600-82), or Salvator Rosa (1615-73)" (Eichner 1972a, 5). Adelung (GKW/3 21798, 1155) nennt überhaupt nur diese Wortverwendung. 282
Dies ist möglich ohne die bewußte Absicht eines Autors (Α. W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί 802-03, 752 ohne Verwendung des Wortes romantisch am Beispiel des Euripides, wobei der unter romantisch, behandelte Aspekt der Mischung die Hauptrolle spielt; VLK/3 1803-04, 184 ohne Nennung von Beispielen; JEAN PAUL: VSÄ 2 1813, 76 f. am Beispiel Homers), ja sogar gegen seine Intention (A. W. SCHLEGEL: VphK11798-99, 68 und VLK/2 11802-03, 546 am Beispiel Tassos).
romantisch
5
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Der zeitübliche teilweise pejorative Wortgebrauch wird durch Novalis (an seinen Vater '9. 2. 1793\ NS, 109 f.), indirekt auch durch A. W. Schlegel (DKL/2 π 1808; 1809-111,432) bestätigt: Seiner Ansicht nach wird „der Name Romantisch an rohe und verfehlte Erzeugnisse" (an die „abgeschmacktesten Zauber-Opern") „verschwendet und entweiht" und muß durch „Kritik und Geschichte" (d. h. durch Nachweis der Etymologie und durch literarhistorische Untersuchungen der romantische«2 Poesie) erst wieder zu seiner „wahren Bedeutung" geführt werden. Bdv.: poetisch, romanhaft, lebendig, leicht, angenehm, heiterschön, arkadisch, reizend, bezaubernd, fremd, morgenländisch, pittoresk, abenteuerlich, bizarr, wild, schauerlich, phantastisch, wunderbar, mannigfaltig, unerschöpflich, konfus, -• gewöhnlich, gemein, abendländisch, einförmig, ^ bildlos, -· sparsam, nützlich, -·prosaisch; vgl. heiter5. - Synt.: r. werden (von literarischen Werken gesagt), einer Sache (insbesondere einem Kunstwerk) einen r. Anstrich geben, sich aufs R. verstehen, r. liegen (von einer Ortschaft gesagt); r. Kunst, (Bezauberungen der) r. Poesie, r. Stoff, r. Prinzip, r. Effekt, r. Phänomen, r. Element, r. Welt, r. Sinn, r. Geist, r. /cfeew/Jugendideen, r. Anordnung in den Gedanken, r. Schwung, r. Farbe, r. Schönheit, r. Aussicht (mehrfach), r. Szene, r. Gegend (mehrfach), r. Land, r. Tal, r. Stürzen des Waldbachs, r. Waldhöhe, r. Hain, r. Spaziergang, r. Lage, r. Ferne, r. Morgenland, Fratze des R. - Ktx: einsam, melancholisch', Poesie21, Reichtum, Farbenglut, Fülle, Bilderfülle, Schmuck, Anmut, Lieblichkeit, Witz, Ironie4, Groteske, Arabeske, Fabel, Feerei, Zauberei, Orient, Schwärmerei, Überspannung, Chaos, Wasserfall, Wald, Ruine, Nacht, Mond, Armut, -• Trockenheit, -< Strenge; vgl. Poesie5/l}. - Ktx. Synt.: wilder Spaziergang, südliche Glut, wildes Feuer, unerwartete Schläge und Strahlen der glühenden Phantasie, kühne allegorische Bildlichkeit, gefälliger Reiz, Land der Poesie, schlichter bonsens. - Wbg. : Ossianische Nebelromantik (F. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel r22. 6. 18061, k j 346). Romantiich, [. J aus dem Franz. romantesque, welches [...] von Roman abftammet, aber nurin engerer Bedeutung von vorzüglich angenehmen und gleichfam bezaubernden Gegenden üblich i/t, ίο wie ße in den Romanen und Ritterbüchem befchrieben werden. Die Stadt liegt [ehr romanúích aufeinem Feifen über der See. Eine romantifche Gegend. Der romantiíche Styl, in derMahlerey, die VorAellung einer Gegend mit Ruinen. ADELUNG: G K W / 3 ' 1 7 9 8 , 1155. Diesi'.] Werk [...] kaufte ich von einer emigrirten Familie aufmeiner Reise. Es ist von einem Straßburger Künstler aus dem fünfzehnten Jahrhundert [...]. Alle seine Werke sind in einem solchen phantastischen romantischen Stiel, und bezeichnen seinen wunderbaren Gemüthszustand. BRENTANO: Godwi 1801, 322. Dieser Sommer war also für Anton Reiser ein recht poetischer Sommer. - Seine Lektüre mit dem Eindruck, den die schöne Natur damals aufihn machte, zusammengenommen, that eine wunderbare Wirkung aufseine Seele; alles erschien ihm in einem romantischen bezaubernden Lichte, wohin sein Fuß trat. MORITZ: AR/3 1 7 8 6 , 7 1 f. Du lehrtest mir wandeln mit Ariosi \ Und Tasso durch wahre Labyrinthe \ Von Fabeln und durch ein mäeandrisches Gewinde \ Von Heldenthaten und Zaubereyn \ Verwandlungen, Reisen undFeeereyn, \ Und kurz von dem was pflegt in romantischen Zeiten zu seyn. NOVALIS: an Chr. G. Wolf'Ί7891, NS 66. Plötzlich erblickte er von einer sanñen Anhöhe auf der andern
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Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
Seite ein romantisches Thal, das sich sanfi zwischen ungeheure Felsen schmiegte und mit aller Frühlingspracht sich seinen trunkenen Blicken darstellte. Himmelhohe Cedem umschlossen es von einigen Seiten und das frischeste Grün schmückte die Auen, durch die sich sanfì ein silberheller Felsenquell ergoB und die Stille des schauerlichen Orts unterbrach. NOVALIS: GUA *'1789, 575. Ich habe jeztdie Odyssee und den Don Karlos gelesen; auf einem Weinberge gelesen, mitten zwischen hochaufgeschossen vollen Rebenbüschen, und beyde waren wieder fur mich neu: So unterschieden sich die dadurch in mir erregten Empfindungen zu andern Zeiten und in dieser romantischen Lage voneinander NOVALIS: an Schiller r7. 10. 17911, N S 9 9 . Die Erfahrung wird ihre Hand an meine Bildung legen und in ihrem hellen Lichte wird manche romantische Jugendidee versch winden und nur der stillen, zarten Wahrheit, dem einleuchtenden Sinn des Sittlichguten, Schönen und Bleibenden den Plaz überlassen. NOVALIS: an seinen Vater r9. 2. 17931, NS 109. Mir wird die Subordination, die Ordnung, die Einförmigkeit, die Geistlosigkeit des Militairs sehr dienlich seyn. Hier wird meine Fantasie das Kindische, Jugendliche verlieren, was ihr anhängt und gezwungen seyn sich nach den festen Regeln eines Systems zu richten. Der romantische Sch wung wird in dem alltägtichen, sehr unromantischen Gange meines Lebens viel von seinem schädlichen Einfluß auf meine Handlungen verlieren und nichts wird mir übrigbleiben als ein dauerhafter, schlichter bonsens, der für unsre modernen Zeiten den angemessensten, natürlichsten Gesichtspunkt darbietet. NOVALIS: an seinen Vater r9. 2. 17931, NS 109 f Ditfurt liegt sehr romantisch, dahinter drängt sich der Weg durch eine lange Schlucht. NOVALIS: Tgb*1793,14. [Geräthschaften und Habseeligkeiten, die der Mensch zum mannigfachen Dienst seines Lebens um sich her versammelt:] Zog schon das Geheimniß der Natur und die Entstehung ihrer Körper den ahndenden Geist an: so erhöhte die seltnere Kunst ihrer Bearbeitung/, J die romantische Ferne, aus der man sie erhielt, und die Heiligkeit ihres Alterthums [...] die Neigung zu diesen stummen Gefährten des Lebens. NOVALIS: HVO Γ *1799-1800; 1802 1 ,203. Die Höhle war trocken und mit reinlichem Moose bewachsen. Der Jüngling zündete rasch ein Feuer von Reisern und Moos an, woran sie sich trocknen konnten, und die beyden Liebenden sahen sich nun auf eine wunderbare Weise von der Welt entfernt, aus einem gefahrvollen Zustande gerettet, und auf einem bequemen, warmen Lagerailein nebeneinander. [...] Die Laute hatte der Jüngling mitgenommen, und sie gewährte ihnen jetzt eine aufheiternde und beruhigende Unterhaltung bey dem knisternden Feuer. Eine höhere Macht [...¡brachte sie unter sonderbaren Umständen in diese romantische Lage. NOVALIS: HVO r *1799-l 800; 18021221. Wilhelm Meisters Lehrjahre sind gewissermaßen durchaus prosaisch - und modern. Das Romantische geht darinn zu Grunde - auch die Naturpoesie, das Wunderbare - Er handelt blos von gewöhnlichen menschlichen Dingen - die Natur und derMystizism sind ganz vergessen. Es ist eine poëtisirte bürgerliche und häusliche Geschichte. Das Wunderbare darinn wird ausdriickhch, als Poesie und Schwärmerey, behandelt. NOVALIS: FrSt »1799-1800,638, Nr. 505. Es fehlt noch anromantischer[inrm Anordnung, und Veränderung in den Gedanken. Aeußerst simpler Styl, aber höchst kühne, Romanzenähnliche Dramatische Anfänge, Übergänge, Folgen - bald Gespräch - dann Rede - dann Erzählung, dann Reflexion, dann Bild und so fort. Ganz Abdruck des Gemüths, wo Empfindung, Gedanke, Anschauung, Bild, Gespräch, Musik etc. unaufhörlich schnell wechselt und sich in hellen, klaren Massen neben einander stellt. NOVALIS: FrSt *1800, 654 f., Nr. 580. Die einfórmigfte und flachfte Natur erzieht am beften zum Landfchaftsmahler. Man denke an den Reichthum derHoHindifchen Kunfìin diefem Fache. Armuth macht haushilterifch: es bildet lieh ein gendgfamer Sinn, den felbft der leifefte Wink höheres Lebens in der Natur erfreut. Wenn der Kúnftler dann auf Reifen romantifche Szenen kennen lernt, fo wirken ßedefto mächtiger aufihn. A. W. SCHLEGEL: Athfr 1798, 225/194, Nr. 190. Den Franzosen war sogar, wenigstens vor dem Kriege, England das romantische Land geworden, wo die edelmüthigen Lords herkommen; so wie dagegen die Englischen Romanschreiber mit den Deutschen das gemein haben, daß sie, wo sie nach dem Wunderbaren streben, die Szene gem ins südliche Europa, nach Italien oder Spanien verlegen. Die Sucht nach dem Abentheuerlichen hat auch in England viel Liebhaberey fur Spukgeschichten von alten Burgen u. dergl hervorgebracht, wovor ein gewisser Sinn für das Schickliche die Franzosen bey ihrer Nüchternheit mehr bewahrt. A W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί802-03, 499. Ich möchte ihn [Fleming] unter unsem Dichtem Vorzugs weise den südlichen nennen, aber er wurde darum seinem Vaterlande nicht fremd: er hatte ein Deutsches Herz und eine Orientalische Fantasie; und wie sich das äußre Leben oft mit dem innem harmonisch gestaltet, so mußte sich auch fur ihn durch die holsteinische Gesandtschaft nach Persien die damals unerhört seltne Gelegenheit darbieten, durch Rußland und die tatarischen Steppen bis in die schönsten Gegenden des Orients hinzugelangen, eine Reise, die er mit romantischem Sinne aufge-
romantisch S
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faßt und heträch dargestellt hat. A. W. SCHLEGEL: VLK/3 1803-04,49. Alle [romanischen Sprachen] haben eine Menge Vorzüge miteinander gemein, und wenn uns die Griechische Sprache das Muster einer vollkommnen Organisation|g) für den strengen und reinen Kunststyl , so fínden wir hier die gefalligsten Reize und die größte Lieblichkeit für alle Bezauberungen der romantischen^^ Poesielmiï A. W. SCHLEGEL: VEW '1803-04, 346. Man verkennt [. . .] ganz und gar die Rechte der Poelund des romantifchen^ Dramas, welches eben weil es pittorefk ift und fein foil, reichere Umgebungen und Contrapofte fìir feine Hauptgruppen erfordert. In aller Kunft und Poefje¡m¡], vornehmlich aberin der roman tifchen[m p macht die Phantafie als eine unabhängige Seelenkraft, die fich nach eignen Oefetzenregiert, ihre Anfpriichegeltend. A. W. SCHLEGEL: DKL/2 R,1808; 1809-111, 185, 29, 186, L. [D]ie Kreuzzüge im Hintergründe, der Schauplatz zu Jerufalem, das Zufammentreffen verfchiedner Nationen und Religions- Verwandten auf diefem morgenländifchen Boden, das alles giebt dem Ganzen [Lessings Nathan] einen romantifchen Anftrich, womit die jenem Zeitalter fremden Gedanken, die der Dichter feinem philofophifchen Zwecke zu lieb ßch erlaubt hat einzuftreuen, einen zwar etwas gewagten, aber anziehenden Gegenfatz bilden. A. W. SCHLEGEL: DKL/2 R' 1808; 1809-111, 410. Was die Menge in unfern halb rührenden, halb drolligen Dramen am meiften anzieht, die uns bald nach Peru, bald nach Kamtfchatka, bald in die Ritterzeit verfetzen, während die Gefinnungen modern und empfmdfam bleiben, ift immer eine Fratze des Romantifchen, die man auch in den abgefchmackteften Zauber-Opern noch wieder kennt. [...JA ufhundert Komödienzetteln wird der Name Romantifch an rohe und verfehlte Erzeugniffe verfch wendet und entweiht; es fei uns erlaubt, ihn durch Kritik und Gefchichte wieder zu feiner wahren Bedeutung zu adeln. A. W. SCHLEGEL: DKL/2 "1808; 1809-11', 432 f. Durch das R[omantische]
bekömmt ein Werk die FÜLLE, die Uni-
versalität undPotenzir[un]g; durch AbstractionJ bekommt es die EINHEIT die Class.[icität] und Progress. [ivitätj; durch das Transzendentale] aber die ALLHEIT, die Ganzheit, das Absolute und Systematische. F. SCHLEGEL: FLP »1797,161, Nr. 900. 2 ° Gemein fey da [im Theater] in der Regel freylich faft alles; aber felbft im Leben [...] mache ja oft das Gemeine eine fehr romantifche und angenehme Erfcheinung. F. SCHLEGEL: GP 1800, 65/288 £ Liebe, Freundfchaft und edle Gefellfchañ wirkten [...] eine fchône Revoluzion in feinem [Shakfpeare 's] Geifte; die Bekanntfchañmit den zärtlichen Gedichten des bey den Vernehmen beliebten Spenfer gab feinem neuen romantifchen(„ Sch wunge Nahrung, und diefer mochte ihn zur Lektüre der Novellen führen, die er [...]fantaftifch reizend dramatiDrte. Diefe Ausbildung flöß nun auch auf die hiftorifchen Stücke zurück, gab ihnen mehr Fülle, Anmuth und Witz und hauchte allen feinen Dramen den romantifchen|5| Geift ein, der Tie in Verbindung mit der tiefen Gründlichkeit am eigenften charakterißrt, und fie zu einer romantifchen^ Grundlage des modernen Drama confútuirt, die dauerhañ genug ift für ewige Zeiten. F. SCHLEGEL: GP 1800, 83/ 301,10/8,17/13. Wären uns nur die Schätze des Orients fo zugänglich wie die des Alterthums! [...]Im Orient mäßen wir das hòchfte Romantifche fuchen, und wenn wir erft aus der Quelle fchôpfen können, fo wird uns vielleicht der Anfchein von füdlicher Gluth, der uns jetzt in der fpanifchen Poefie fo reizend ift, wieder nur abendlindifch und fparfam erfcheinen. F. SCHLEGEL: GP 1800, 103 (27) f. / 319 f. (320, L). Denn nach meiner Anficht und nach meinem Sprachgebrauch ift eben das romantifch{viV was uns einen fentimentalen Stoff in einer fantaftifchen Form darfteilt. F. SCHLEGEL: GP 1800,119/333. Es war anfangs nebligt und ziemlich kalt, nur an einzelnen Stellen brachen die Sonnenstrahlen durch und malten helle Streifen schön und romantisch in die finstre Landschaft. TIECK: an Λ F. Bernhardt rEnde Juli/Anf. Aug. 1793', VL 273. Es gehört großer poetischer Reichtum dazu, um im Romantischen zu glänzen. Der romantische Dichter darf nicht mit e wig wiederkehrenden Bildern, mit längst verduñeten Blumen die Welt langweilen und anwidern. Ein schöpferischer Geist muß mit gewaltigem Zauberstab immer neue und wechselnde Erscheinungen hervorrufen. Auch ist es nicht damit getan, das buntfarbige Feuerwerk spielen zu lassen, das mit zuckenden, sich kreuzenden Lichtern das Auge blendet. Wir wollen nicht bunte Seifenblasen der Phantasterei vor uns aufsprudeln sehen; im Spiele soll Bedeutung liegen, im Bilde das göttliche Leben. UHLAND: ÜdR/E *'1807,402.
283
Ciassicität hier im Sinne von Einheitlichkeit, Geschlossenheit (zu klassisch3), Progressivität im Sinne von Verbindung der Einheit (des Klassischen,) und der bunten Vielfalt (des Romantischen3)< (zu progressiv6), transcendental im Sinne von >auf sich selbst reflektierend, seiner selbst bewußt< (vgl. Ironie3).
498
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
Berneck liegt am weißen Main, den man hier mehrmals passiren muß: er ist nur flach. Nun kommt man über Wiesen, u[nd] durch sehr schöne, romantische, arkadische Thäler, deren Anblick unser Auge nach den rauhen Gegenden vom Fichtelgebirge u[nd] von Bemeck [...]sehr angenehm erquickte. WACKENRODER: an seine Eltern r3. 6. 17931, VL 176. - BRENTANO: Godwi 1801, 129; MEREAU: BE 1794,78; 90 heiter,); MEREAU: NdL 1802,68; MORITZ: AR/3 1786,149; MORITZ: AR/4 1790, 244; 294; 320; NOVALIS: Tgb »1793,17; NOVALIS: VFS »1798, 559, Nr. 157; NOVALIS: ABr »1798, 280, Nr. 234 ( - 10); 302, Nr. 342 ( - Poesie»); 303, Nr. 347; 308, Nr. 373 ( - 7); NOVALIS: an C. Schlegel r 27.2.17991, N S 279; NOVALIS: H V O Γ*1799-1800; 18021, 236 ( - Poesie,,); 285 (-> 8); 299; NOVALIS: FrSt H800,685, Nr. 668; SCHELLING: PhK 1803-04, 669, 27; 677 Ironie,); 680, 19,33; A. W. SCHLE1 GEL: VphK 1798-99,68 ( - 2); A. W . SCHLEGEL: DG 1799,106/64 ( - Poesie21); 112/70; A. W . SCHLEGEL: VLK/1 '1801-02,195 ( - 7 ) ; 3 6 7 ( - klassisch3); A. W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί802-03,775, 10; A. W. Γ 1 SCHLEGEL: DKL/2 Ί808; 1809-11 ,75,20; C. SCHLEGEL: DG 1799,81 ( - 7); C. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel "17971 C/l 428 (->7); '4. 4. 18011, C/2 91 ( - 8); F. SCHLEGEL: FLP *1797, 146, Nr. 717 progressiv6); F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 209 f./185 f., Nr. 125 ( - 3); 305/245, Nr. 418 ( - Ironie,); F. SCHLEGEL: GP 1800,113 f./329 £ ( - 3); F. SCHLEGEL: BGmP 1803, 52/20, 24/6 ( - 3); 54/21; 55/22; F. SCHLEGEL: SWI 1808, 311 ( - 3); TIECK: an Wackenroder r12. 6. 17921, VL 51; TIECK: an S. Tieck r 2. 5.1793', VL246; TIECK: an A. F. Bemhardi rEnde Juli/Anf. Aug. 17931, VL 255; 259; 270; 276; 278; 279; 280; 281; TIECK: an A. W. Schlegel r12. 12. 17971, L 21; WACKENRODER: an seine Eltern individuell, konkret, realitätsorientiertindividualisierend, konkretisierendgebrochen, vermittelt, indirekt wirksam oder z u g ä n g l i c h e auch in aktivischer Verwendung: vermittelnd, Gebrochenheit bewirkende A l s metaphorische Verwendung von 2 und/oder 6 deutbar, bei der Schillers Konzeption der sentimentalischen Dichtung im Gegensatz zur naiven anklingt: D e r reine Dichter
(der klas-
sisch-antike) ist bei Brentano (Godwi 1801, 3 1 5 f.) derjenige, der objektiv, einen Gegenstand als solchen darstellt; demgegenüber heißt romantisch
der moderne
Dichter, der den Brechungsfaktor seiner eigenen Individualität und Subjektivität in die Darstellung einbezieht. Ktx.: Medium,
Mittler,
Perspektiv,
Übersetzung.
Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem seinigen mitgiebt, ist romantisch. [...] Godwi setzte hinzu, das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases. BRENTANO: Godwi 1801, 314. Das Romantische^^ [...Jist eine Uebersetzung. BRENTANO: Godwi 1801,319. In diesem Augenblick erhellte sich der dunkle Saal, es ergoß sich ein milder grüner Schein vondem Wasserbecken [...]. | Sehen Sie, wie romantisch, ganz nach Ihrer Definition. Das grüne Glas ist das Medium der Sonne. 2 BRENTANO: Godwi 1801,319. - Vgl. JEAN PAUL: VSÄ 1804,93 f./63, 14-22; 1813,64,28-30.
12. Hinabgeschlossen, unendlich perfektibel; umfassend, universal, allseitig; offen z u 2 und 9; i m Gegensatz zu 2 auch im Sinne einer Qualität nicht nur der modernen Poesie, sondern der Poesie überhaupt. Bdv.: endlos, grenzenlos, - Synt.: r. Poesie,
unendlich, allseitig,
r. Interesse.
- Ktx.: wachsen,
progressiv2, werden,
^fertig,
vgl. Poesie
vollendet. 10.
Die romantifche[2fín2¡ Poeße[lul01 ift eine progrefßve^MJ Univerfalpoelie. Ihre Beftimmung ift nicht bloß, alle getrennte Gattungen derPoeße[n) wieder zu vereinigen, und die Poeße[lntn mit der Philofophie, und Rhetorik in Berührung zu fetzen. Sie will, und foli auch Poeß^ und Profa, Genialität und Kritik, Kunñpoefie, undNaturpoeße bald mifchen, bald verfchmelzen, diePoeß^ lebendig und gefellig, und das Leben und die GefellTchafi poetifch machen, den Witz poetifiren, und die Formen der Kunll mit gediegnem Bildungsfìoffjeder Art anfüllen und fittigen, und durch die Schwingungen des Humors befeelen. Sie umfaßt alles, was nur poetifch ift, vom größten wieder mehre Syfteme in fich enthaltenden Syfteme der Kunft, bis zu dem Seufzer, dem Käß, den das dichtende Kind aushaucht in kunfthfen Gefang. [...] Nur fíe kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch fíe am meiften zwifchen dem Dargefíellten und dem Darñellenden, frey von allem realen und idealen Intereffe auf den Flügeln der poetifchen Reflexion in der Mitte fch weben, diefe Reflexion immer wieder potenziren und wie in einer endlofen Rahe von Spiegeln vervielfachen. Sie ift der hóchften und allfeitiglien Bildung fähig; [...]indem ßejedem, was ein Ganzes in ihren Produkten feyn foli, alle Theile ähnlich organißrt^y wodurch ihr die Ausßcht aufeine grinzenlos wachfende Klaffizität eröffnet wird. Die romantifehe^^ Poeße[imift unter den Kûnften was der Witz der Philofophie, und die Gefellfchafi, Umgang, Freundfchaft und Liebe im Leben ift. Andre Dichtarten find fertig, und können nun vollftindig zergliedert werden. Die romantifche[2nil2i Dichtart ift noch im Werden; ja das ift ihr eigentliches Wefen, daßße ewig nur werden, nie vollendet feyn kann. Sie kann durch keine Theorie erfchópñ werden, und nur eine divinatorifche Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterißren zu wollen. Sie allein ift unendlich,
506
Anhang II: Exemplarische Wortuntersuchungen
wie ße allein freyift, und das als ihr erftes Geietz anerkennt, daßdie Willkühr des Dichters kein Gefetz über üch leide. Die romanüfche[2nim Dichtart ift die einzige, die mehr als Art, undgleichfam die Dichtkunñ felbû ift: denn in einem gewiffenSinn ift oder foli alle Poeßeiiln] romantifch^ feyn. F. SCHLEGEL: Athfr 1798, 204 ff./182 f., Nr. 116. Zwar erfcheint Horatius in jeder Form intereffant, und einen Menfchen von dem Werth dieles Römers würden wir vergeblich unter den fp&tem Hellenen fuchen; aber diefes allgemeine Intereffe an ihm felbft ift mehr ein romantifches als ein Kunfturtheil, welches ihn nur in der Satire hoch ftellen kann. F. SCHLEGEL: GP 1800,74/295. Ich kann die didaktifchePoeße nicht für eine eigentliche Gattung gelten laffen, ebenfowenig wie die romantifche^. Jedes Gedicht foil eigentlich romantifchll2i undjedes foil didaktifch feyn in jenem weitem Sinne des Wortes, wo es die Tendenz nach einem tiefen unendlichen Sinn bezeichnet. F. SCHLEGEL: GP 1800, 107/323. [D]as Romantifche [ift]nicht fo fehr eine Gattung [...]als ein Element der Poeße, das mehr oder minder herrfchen und zurücktreten, aber nie ganz fehlen darf. Es muß Ihnen nach meiner Anficht einleuchtend feyn, daß und warum ich fodre, alle Poeße folle romantifch feyn [...]. F. SCHLEGEL : G P 1 8 0 0 , 1 2 3 / 3 3 5 . - JEAN PAUL: V S Ä 1 8 0 4 , 1 1 7 / 7 4 ; A. W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί 8 0 1 - 0 2 , 195 ( - 7); 196,20 ( - PoesieL0); 4 6 2 9), 6 f, A. W. SCHLEGEL: V L K Ί 8 0 3 - 0 4 , 3 9 Ironie,); F. SCHLEGEL: FLP
»1797, 166, Nr. 9 6 4 {-
progressiv„). *
*
*
*
Volk, das; -(e)s/-er + Uml. Wortbildungen: Adj. völkergeschichtlich·, Subst. Bevölkerung, Bevölkerungstabelle, Landvolk, Völkergeschichte, Völkerkunde, Völkerlehre, Völkermasse, Völkerrecht, Völkerschaft, Völkerwanderung, Volksaberglaube, Volksannalen, Volksart, Volksbuch, Volksdarstellungsart, Volksdichter, Volksfest, Volksgedicht, Volksgesang, Volksgeschichte, Volksglaube, Volksklasse, Volkslied, Volkslustbarkeit, Volksmärchen, Volksmäßigkeit, Volksmeinung, Volkspädagogik, Volkspoesie, Volksredner, Volksroman, Volksromanze, Volkssage, Volkssprache. In frühromantischer Verwendung bezieht sich Volk ebenso wie Nation (s. dort) in aller Regel auf (im Einzelfall jeweils unterschiedlich gefaßte) Gruppen von Menschen; zwischen Volk¡_5 und Nation,_5 besteht jeweils weitestgehende Synonymie. In den meisten Fällen kann die Bedeutung verallgemeinernd mit >kulturelle, sprachliche und/oder politische Gemeinschaft angegeben werden. Wortgeschichtlich gesehen ist diese Tatsache verhältnismäßig neu. Während Nation schon seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, spätestens seit dem 16. Jahrhundert im genannten Sinne verwendet werden kann (vgl. Schönemann 1992,284 ff.), wird Volk vor dem Ende des 18. Jahrhunderts hauptsächlich auf bestimmte Teile der Nation : „soziale Gruppen der unterschiedlichsten Größe und Zusammensetzung bis hin zur Gesamtheit der Besitzlosen und Ungebildeten in der Gesellschaft" angewendet; in der umfassenderen Bedeutung wird es - von bestimmten Ausnahmen abgesehen - erst seit Herder gebraucht (ebd. 283). Auch in den hier untersuchten Texten ist die ältere, sozialschichtige Bedeutung von Volk (vgl. 8) belegt, die bei Nation nicht anzutreffen ist, aber in der Mehrzahl aller Fälle liegt die neuere Verwendungsweise vor. Aus den gleichen Gründen, die s. v. Nation genannt sind, wird bei der Beschreibung der Semantik von Volk nur auf intensionale Bedeutungsaspekte Wert gelegt.
Volk
1. »Gruppe von Menschen, die durch kollektives Zusammenwirken eine einheitliche, geschlossene, kohärente Kultur hervorbringen oder bereits hervorgebracht habenBevölkerung, Einwohnerschaft< einer Ortschaft oder eines Landstrichs; meist offen zu 8. Bdv.: Leute. - Synt.: Charakter eines V.,physische Bildung des V. In Ebermannstadt waren alle Leute sehr freundlich, besonders die Frauenzimmer, die im Katholischen fast alle blond sind, blaue A ugen und einen ge wissen sch wärmerischen Madonnenblick haben, die Männer haben fast alle ganz sch warze Haare und sehn aus wie die Petrus und Judas auf ihren GemähJden, [...] die Bilder und Gemähide müssen ge wiß viel auf die physische Bildung des Volks wirken, da die Weiber sie täglich sehn und doch wenigstens zu weilen in eine wirkliche Begeisterung gesetzt werden. TlECK.: an A F . Bernhardi 'Ende Juli/Anf. Aug. 1 7 9 3 1 , V L 2 5 5 . Wir kamen nach Holfeld, einem kleinen bambergischen Städchen, [...] dann [...] Uber ein paar Dörfer und durch einen sehr angenehmen Wald, allenthalben herrscht hier Fröhlichkeit und Thätigkeit, [...] alle Leute sind gesund und munter. - Soviel man nehmlich den Charakter eines Volks im Vorbeigallopiren bemerken kann, denn es ist leicht möglich, daßebenso viele, oder noch mehrere krank und verdrießlich waren, viele unthätig [...]. TIECK: an A F. Bernhardi rEnde Juli/Anf. Aug. 1 7 9 3 1 , V L 2 5 7 . - NOVALIS: Tgb • 1 7 9 3 , 16 ( - 4).
10. >Kriegsvolk, Truppe VmaS 1803; WdW »1807; WmF 1809.
A. W. Schlegel (23 Quellen; ca. 3000 Seiten): AFB 1803; an [Empfanger] + Einzeldatum + K; an [Empfänger] + Einzeldatum + KJ; an [Empfänger] + Einzeldatum + KW; an [Empfänger] + Einzeldatum + L; Athfr 1798; BM/1 »1793; BM/2 »1794; BPSS 1795-96; DG 1799; DK1V1-2 "1808; 1809-11> DM 1808 (21812); GK 1791; LRA 1799; NSÜ 1799; SGM 1796; Spr 1798; VChK 1801; VEW '1803-04; VLK/1 '1801-02; VLK/2 1802-03; VLK/3 Ί803-04; VphK '1798-99.
518
Anhang III: Zum Korpus
C. Schlegel (3 Quellen; ca. 800 Seiten): An [Empfanger] + Einzeldatum + C/l; an [Empfänger] + Einzeldatum + C/2; DG 1799.
D. Schlegel (1 Quelle; ca. 10 Seiten): An [Empfänger] + Einzeldatum + KJ.
F. Schlegel (58 Quellen; ca. 4300 Seiten): An [Empfanger] + Einzeldatum + KA/23; an [Empfanger] + Einzeldatum + KA/24; an [Empfänger] + Einzeldatum + KJ; an [Empfänger] + Einzeldatum + KW; an L. Tieck + Einzeldatum + L; an A. W. Schlegel + Einzeldatum + W; Athfr 1798; BGmP 1803; Blstb 1798; DGr »1805; EPh/1-2 '1804-05; FLP * 1797-98; FPL »1799-1801; Gdk »1808-09; GeL '1803-04; GF 1797; GM 1798; GP 1800; Horen/2-5 1796; Ideen 1800; IG »1794-1800; LGM 1804; LHV 1802; Lucinde 1799; Lyfr 1797; OGP »1795; PGR 1798; PhlVl »1796; PhL/2 »1796-98; PhL/3 »1797-1801; PhL/4 »1798-99; PhIV5 »1798-1801; PhL/6 »1802; PhL/7 »1802-03; PhL/8 »1804; PhL/9 »1805; PhL/10 »1804-05; PhlVll »1806; PhIV12 »1806; Phlg/1 »1797; Phlg/2 »1797; Phs ca. 1803\07'; PL Ί805-06; PN 1803; SchD »1796; SchD/3 »1795; StGP'»1795; 179T; SWI 1808; Trph '1800-01; ÜdPh 1799; ÜdU 1800; ÛL 1797; VGR 1797; ZP/1 »1802; ZP/2 »1802; ZP/3 »1803; ZP/4 »1803; ZPh '* ca. 1802-031
Schleiermacher (8 Quellen; ca. 420 Seiten): AH 1809-10; Athfr 1798; GGU 1808; HEE »1810\19; Piaton 1807; RR 1799; VMÜ'1813; ZH »1805/09.
Systemprogrammr* ca. 17961 (= 1 Quelle; ca. 3 Seiten). Tieck (8 Quellen; ca. 710 Seiten): AML 1803; an [Empfanger] + Einzeldatum + L; an [Empfanger] + Einzeldatum + MZM; an [Empfänger] + Einzeldatum + VL; an [Empfänger] + Einzeldatum + ZMF; FStW 1798; HKK (+ TeilNr.) 1797 [1796]; PhK (+ Teil-Nr.) 1799.
S. Tieck-Bernhardi (3 Quellen; ca. 170 Seiten): An A. W. Schlegel + Einzeldatum + KJ; an L. Tieck + Einzeldatum + MZM; LA 1800.
Uhland (1 Quelle; ca. 3 Seiten): ÜdR 1807.
Wackenroder (5 Quellen; ca. 270 Seiten): An [Empfänger] + Einzeldatum + VL; DAHS »1793/94; HKK (+ Teil-Nr.) 1797 [1796]; PhK (+ Teil-Nr.) 1799; REB »'1793/94.
Winkelmann (1 Quelle; ca. 15 Seiten): NLU 1801.
Autoren
519
Der Eindruck der quantitativen Unausgewogenheit (64 Quellen von Novalis und 58 von Friedrich Schlegel stehen 8 Quellen von Schleiermacher, 8 von Tieck, 5 von Wackenroder gegenüber) relativiert sich, wenn man die ungefähre Anzahl von Druckseiten pro Autor berücksichtigt: Während die 64 Novalis-Quellen durchschnittlich ca. 28 Seiten lang sind, haben die 15 Schelling-Quellen im Mittel ca. 126 Seiten. Zwei Autoren können also auch dann gleichmäßig berücksichtigt sein, wenn einer von beiden mit weitaus mehr Quellen vertreten ist.
Abb. 8: Druckseiten pro Autor
Darüber hinaus lassen sich die zahlenmäßigen Unterschiede teilweise durch eine Betrachtung der Kriterien erklären, die der Quellenaufhahme zugrundeliegen. Als Einheit im Sinne des Quellenverzeichnisses wird ein Text dann verstanden, wenn er einem Verfasser zugeordnet werden kann289 und von diesem und/oder vom Heraus-geber typographisch bzw. buchbinderisch von anderen Texten klar abgesetzt und mit einem Titel versehen ist. Dabei hat die Verfahrensweise des Verfassers, so-
289
290
Dann, aber nicht nur dann. Die Aussage ist nicht so zu verstehen, daß ein anonym überlieferter Text nicht als Quelle im hier ganeinten Sinne gilt. Es geht vielmehr um die Tatsache, daß ein von mehreren Autoren gemeinsam verfaßter Text, bei dem verschiedene Anteile jeweils einem Verfasser plausibel zugeschrieben werden können290, nicht als eine einzige Quelle gerechnet wird, sondern pro Autor einen eigenen Eintrag ins Quellenverzeichnis erhält. Ähnliches gilt für Briefsammlungen, die Texte verschiedener Autoren beinhalten. In diesem Fall bilden alle Briefe eines und desselben Verfassers auch dann eine einzige Quelle, wenn sie aus editionstechnischen Gründen über den ganzen Band verteilt sind. Bekannte Beispiele sind die von Wackenroder und Tieck gemeinsam verfaßten Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders ( 1797) und die Athenaeum-Fragmente ( 1798), an denen außer dem Hauptautor F. Schlegel noch dessen Bruder A. W. Schlegel, Schleiermacher und Novalis mitgearbeitet haben. In beiden Fällen konnte die Forschung starke Argumente für eine Zuschreibung der einzelnen Teile vorbringen.
520
Anhang III: Zum Korpus
fem es zitiertechnisch möglich ist, Vorrang. So zählen beispielsweise die verschiedenen Notizbücher Friedrich Schlegels, die in der Kritischen Friedrich-SchlegelAusgabe (KFSA) ediert sind, nicht als vier Großquellen gemäß der Bandaufteilung der KFSA (2 Bände „Fragmente zur Literatur und Poesie", 2 Bände „Philosophische Lehijahre"), sondern als 26 unterschiedliche Fragmentsammlungen nach Ausweis der verschiedenen von Friedrich Schlegel verwendeten (und jeweils unterschiedlich betitelten) Schreibhefte.291 Ahnlich läßt sich die große Anzahl von Novalis-Quellen begründen. - Umgekehrt ist die relativ geringe Quellenanzahl bei Tieck und Wackenroder zu erklären: Teiltexte eines als Einheit zu verstehenden größeren Textes, ζ. B. Kapitel eines Romans, werden nicht als eigene Quellen behandelt. Dies führt dazu, daß beispielsweise bei den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders und bei den Phantasien über die Kunst nicht die einzelnen Teilstücke, die von der Forschung jeweils dem einen oder dem anderen von beiden plausibel zugeschrieben sind, als Einzelquelle betrachtet werden, sondern jeweils nur der gesamte Text zweimal im Quellenverzeichnis erscheint (einmal pro Autor: vgl. Anm. 289 und 290). Trotz derartiger Hinweise bleibt aber die Tatsache bestehen, daß einige Verfasser stärker als andere repräsentiert sind. Die Gewichtung bedarf pro Autor einer kurzen Begründung. •
Als besonders wichtig für die frühromantische Sprachreflexion sind die Œuvres der Brüder Schlegel anzusehen. Beide haben sich - jeweils recht unterschiedlich - vielfach zum Thema Sprache geäußert. Die Tatsache, daß Friedrich Schlegel nach Anzahl und Umfang der Quellen deutlich hervortritt, erklärt sich aus zwei Umständen: Erstens hat er, anders als sein Bruder, die frühromantische Theorie nicht nur auf dem Gebiet der Sprache, sondern auf fast allen Gebieten entscheidend geprägt; sein Werk muß daher, wenn größere theoretische Zusammenhänge und Verflechtungen untersucht werden sollen, ausführlich in den Blick kommen. Zweitens sind von Friedrich Schlegel weitaus mehr Texte als
291
Die pragmatische Entscheidung, nur mit Editionen zu arbeiten, bringt es allerdings mit sich, daß derartige Quellen unter Umständen doch das Produkt editorischen Textverstandes sein können. Anders gesagt: Bei Nachlaßtexten folge ich in der Regel textphilologisch begründeten Entscheidungen des Herausgebers, verschiedene Manuskriptkonvolute als Einheit zu begreifen und als solche abzudrucken. Auch wenn edierte Texte, streng genommen, immer eine wissenschaftliche Fiktion sind: Es hieße den philologischen Purismus zu weit treiben und wäre abgesehen davon auch nicht sinnvoll, sich an die Handschriften halten zu wollen. (Nicht sinnvoll nicht nur des unverhältnismäßigen Aufwandes wegen, den die Arbeit in internationalen und teilweise schwer zugänglichen Archiven erforderte, sondern allein schon der allgemeinen Überprüibarkeit der Zitate zuliebe). Immerhin präsentieren die meisten heute vorliegenden Editionen - zumindest vom Wortlaut her, um den es bei reflexionshistorischen Untersuchung ja vor allem geht - einen verläßlichen Text.
Autoren
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von August Wilhelm Schlegel überliefert bzw. zugänglich. Besonders hervorzuheben sind hier die umfänglichen Notizhefte, die eine Fülle von wichtigem und aufschlußreichem Gedankenmaterial enthalten. Was Novalis angeht, so ist er ohne Zweifel der universalistischste der frühromantischen Autoren, der sich von der Literatur bis zur Transzendentalphilosophie, von der Staatstheorie und Nationalökonomie bis zum Bergbauwesen, von der Mathematik bis zur Medizin für alles interessiert und alle Bereiche gleichermaßen in seine Weltentwürfe einbezieht und im Rahmen dieser Entwürfe innig miteinander verflicht. Bei der Interpretation seiner sprachreflexiven Äußerungen sind daher auch prinzipiell alle diese Bereiche zu berücksichtigen. Wenn Novalis im Korpus der Untersuchung dennoch «nur» mit ca. 1780 Seiten vertreten ist, so liegt das daran, daß er nicht einmal 29 Jahre alt wurde und entsprechend nicht dieselben Textmengen produzieren konnte wie etwa die Brüder Schlegel. Tatsächlich ist das Gesamtwerk eher schmal. Die fünf starken Bände der Historisch-kritischen Novalis-Ausgabe vermitteln diesbezüglich ein falsches Bild: Nahezu die Hälfte der Seiten bieten mehrfach abgedruckte (da in unterschiedlichem Zusammenhang relevante) Texte sowie Einleitungen der Herausgeber, Kommentare, Lesarten und Register. Weitaus weniger als die Brüder Schlegel und Novalis hat Schelling zum Thema Sprache zu sagen. Auch und gerade bei ihm muß aber, wie in anderem Zusammenhang gezeigt, das Wenige stets vor dem Hintergrund seiner gesamten Philosophie (gemeint ist vor allem seine Identitätsphilosophie nach 1800) gedeutet werden, so daß eine ca. 1900 Seiten umfassende Quellenauswahl gerechtfertigt scheint. Tieck, ebenfalls ein wichtiger frühromantischer Autor, hält sich in sprachreflexiver Hinsicht eher zurück. Bisweilen finden sich interessante Äußerungen in Romanen, vor allem im Sternbald, und in Briefen. Die Auswahl kann sich daher auf 8 Quellen (insgesamt ca. 710 Seiten) beschränken. Ähnliches gilt für Brentano: Seine ebenso erratischen wie mitunter recht aufschlußreichen Aussagen über Sprache müssen hauptsächlich aus fiktionalen Texten zusammengetragen werden, in die sie - oft in ironischer Brechung der Erzählperspektive - eingebettet sind. Bei Schleiermacher handelt es sich zwar um einen bedeutenden Autor der Frühromantik, der auch relevante Beiträge zur Sprachreflexion geliefert hat. Allerdings stammen seine diesbezüglichen Texte überwiegend aus einer Zeit, die nicht mehr in den Untersuchungszeitraum fällt. Wichtige Texte, z. B. der Vor-
Anhang III: Zum Korpus
trag Ueber die verfchiedenen Methoden des Ueberfetzens ('1813) und handschriftliche Entwürfe zur Hermeneutik (HEE *1810\19), sind gleichwohl berücksichtigt; indes mußte hier selektiv verfahren werden, um die ohnedies unscharfe zeitliche Obergrenze der Untersuchung nicht völlig aufzuheben. August Ferdinand Bemhardi, nach Haym (1870, 852) immerhin der Begründer und Hauptrepräsentant frühromantischer Sprachwissenschaft, hat aus dem hier zu behandelnden Zeitraum wenig relevante Texte, indessen gewichtige hinterlassen: Die Sprachlehre (1801; 1803) und die Anfangsgründe der Sprachwiffenfchaft (1805). Zudem argumentiert er über weite Strecken hinweg eher systematisch-rationalistisch als poetologisch-hermeneutisch und steht daher eher am Rande als im Zentrum der Frühromantik. Die Quellenauswahl kann sich also weitgehend auf seine sprachtheoretischen Hauptwerke beschränken. Wilhelm von Humboldt, ohne Zweifel einer der wichtigsten Autoren in der Geschichte der Sprachtheorie überhaupt, der darüber hinaus gerade im Hinblick auf seine Sprachtheorie ohne Bedenken im Umkreis der Frühromantik angesiedelt werden kann, ist mit 6 Quellen natürlich völlig unterrepräsentiert. Dieser Tatsache liegt eine rein pragmatische Entscheidung zugrunde. Humboldts Sprachreflexion ist - anders als die Sprachreflexion der Frühromantik im engeren Sinne - in jüngerer Zeit Gegenstand ausführlicher Untersuchungen gewesen. Den Autor stärker als nur am Rande (im Vergleich mit Positionen der Frühromantiker) zu berücksichtigen, hätte aufgrund der Qualität seines Gesamtwerkes bedeutet, ihm eine Hauptrolle zuzuerkennen. Dies hätte der Darstellung eine völlig andere Ausrichtung gegeben; sie wäre in vielen Punkten lediglich zu einer Wiederholung dessen geworden, was die Humboldt-Forschung bereits geleistet hat. Von Wackenroder sind aufgrund seiner kurzen Lebenszeit und auch überlieferungsbedingt sehr wenig Texte vorhanden (die Historisch-kritische Ausgabe seiner Sämtlichen Werke und Briefe umfaßt nur zwei Bände). Tatsächlich ist das Wackenroder-Korpus so klein, daß im Gegensatz zu anderen Autoren seine wenigen sprachreflexiven Äußerungen sogar vollständig erfaßt und ausgewertet werden konnten. Ritter, derfrühromantischePhysiker, ist kein genuiner Sprachtheoretiker; in seinen Fragmenten aus dem Nachlaffe eines jungen Phyftkers finden sich jedoch einige hinsichtlich der Verortung der Sprachreflexion in der frühromantischen Naturphilosophie sehr aufschlußreiche Äußerungen. Hölderlin gehört nicht persönlich zum Jenaer Kreis, aber konzeptionell-theoretisch ins unmittelbare Umfeld der Frühromantik. Seine Äußerungen zum The-
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Autoren
ma Sprache fallen zwar quantitativ kaum ins Gewicht, bieten indessen interessante Nuancierungen bestimmter frühromantischer Theoreme, insbesondere im Kontext der Poesiereflexion. •
Jean Paul, hinsichtlich seiner Literaturtheorie ebenfalls im Umkreis der Frühromantik anzusiedeln, macht in der Vorfchule der Aeñhetik (1804) einige Anmerkungen insbesondere zur deutschen Sprache, die eine Berücksichtigung des Werkes nahelegen.
•
Bei Sophie Tieck-Bernhardi finden sich einige interessante, freilich beiläufige Äußerungen zum Thema Kommunikation und Verstehen sowie zum Verhältnis von Wort und Tat. Eine explizite Sprachkonzeption entwirft sie auch im Ansatz nicht; ihre Äußerungen sind aber aufschlußreich, weil sie diskurstypische Alltagsmeinungen erkennen lassen - das ohne eigentliche Auseinandersetzung mit dem Thema Sprache für selbstverständlich Gehaltene.
Die übrigen Autorinnen und Autoren sind entweder im Hinblick auf ihre Beiträge zum theoretisch-frühromantischen Diskurs oder im Hinblick auf sprachreflexive Äußerungen - bisweilen auch im Hinblick auf beides - von sekundärem Interesse; ihre Texte dienen als Hintergrundfolie für die Interpretation derjenigen Quellen, denen das Hauptinteresse der Untersuchung gilt. 2) Das Korpus der Sekundärquellen umfaßt 64 Autoren mit insgesamt 92 Texten, deren Auswahl wie gesagt themenorientiert, im Zusammenhang einzelner Fragestellungen erfolgte: ADELUNG: GKW/1 2 1 7 9 3 ; ADELUNG: G K W / 3 2 1 7 9 8 ; ADELUNG: ÜdSt/1 1785; ADELUNG: USpr 1 7 8 1 ; ADELUNG: V G C 1 7 8 2 ; ANSELM: P l g » 1 0 7 7 / 7 8 ; ARISTOTELES: P o e t i k r» c a . 3 3 5 v . Chr! ; S. BOISSERÉE: a n [ E m p f a n g e r ] + E i n z e l d a t u m ; BOUTERWEK: G P B 1 8 1 9 ; BREITINGER: C D / 2
1740;
BRENTANO: K1R « 1 8 1 6 ; BÜRGER: G B H 1 7 7 1 ; BÜRGER: P P » ' 1 7 7 7 - 7 8 ; BYRON: D J / 3 1 8 2 1 ; D O R N -
BLÜTH: OGA1755; ECKERMANN: Gspr/21836 + Einzeldatum des Gesprächs; ECKERMANN: Gspr/3 1 8 4 8 + E i n z e l d a t u m d e s G e s p r ä c h s ; FICHTE: S U S 1 7 9 5 ; FREYER: A T O 1 7 2 2 ; FULDA: V I S 1 7 8 8 ;
GARVE: S E A 1802; GEDIKE: GPS 1779; GOETHE: an [Empfänger] + Einzeldatum + W A / 1 2 ; GOETHE: Faust 1832 + Vers; GOETHE: Tgb »1807; GOTTSCHED: A R s 1 7 5 9 ; GOTTSCHED: CD/1 3 1 7 4 2 ; GRIMM: an W. Grimm + Einzeldatum + GH; GRIMM: D W B / 1 1854; GRIMMELSHAUSEN: S P G 1 6 7 3 ; HAGEN: an A W.Schlegel ' 3 0 . 9 . 18071 + KJ; HAMANN: Ä N 1762; HAMANN: MP V Γ
*1784; 18011; HEGEL: PhG 1807; HEGEL: WdL 2 1832; HEGEL [HOTHO]: VÄ/1 '1818-29; 1835>
HEINE: R S 1 8 3 3 ; HEINZELMANN: G W F 1 7 9 8 ; HERDER: A U S > » 1 7 6 9 ; 1 7 7 2 > HERDER: N D L 1 7 6 7 ;
HERDER: N D L 2 1768; HERDER: ZB/6 1797; HUMBOLDT: V S s t f l 1 8 2 0 ; 1822 1 ; JEAN PAUL: U L 2 1 8 2 2 ; JEAN PAUL: V S Ä
2
1 8 1 3 ; JERUSALEM: D S L 1 7 8 1 ; JONES: O H
K d U 1 7 9 0 ; KANT: K r V
2
1 7 8 6 ; KANT: A n t h r 1 7 9 8 ; KANT:
1 7 8 7 ; KINDERLING: R D S 1 7 9 5 ; KLOPSTOCK.: G R 1 7 7 4 ; KOLBE: W m g
1809; LEIBNIZ: an [Empfänger] + Einzeldatum + AA; LEIBNIZ: UG r * ca. 1697; 17171; LESSING: an [Empfänger] + Einzeldatum + LM/17; LESSING: Lkn 1766; LICHTENBERG: SB/E »1775-76; LONGOLIUS: E T S 1 7 1 5 ; MENDELSSOHN: Ü E 1 7 5 5 ; MICHAELIS: E M S 1 7 6 0 ; MONBODDO: O P L / 4 1 7 8 9 ;
MORITZ: A R / l ^ t 1 7 8 5 - 9 0 ; MORITZ: B N S 1788; MORITZ: Vst 1 7 9 3 - 9 4 ; NICOLAI: B Z W 1755; PLATON: s>mp [ ca.380v.Chr. 1 ; PS.-LONGIN: Erh r *'l. H. 1. Jh.1; RATKE: SK 1612-15; RICHTER:
524
Anhang III: Zum Korpus
K A 1 7 8 4 ; RIVAROL: U L F 1 7 8 4 ; ROUSSEAU: D M 1 7 6 8 ; SCHICKARDT: H T 1 6 2 9 ; SCHILLER: a n
A. W . Schlegel + Einzeldatum + K W ; SCHILLER: AuW 1793; SCHILLER: D G *1797; SCHILLER: JO 1801 (M805); SCHILLER: N S D 1795-96; A . W . SCHLEGEL: V K S 1828; D . SCHLEGEL: an L. Tieck + Einzeldatum [hier: 1829] + L ; J. A . SCHLEGEL: ASK 3 1770; J . H . S C H L E G E L : V M D 1763; 3 Γ SCHLEICHER: DTS 1873; SCHLEICHER: SpE 1850; SCHOTTELIUS: A A 1663; SHELLEY: DP * 1821 ; 18401; SULZER: A T K / 3 21793; TIECK: an K. W . F. Solger + Einzeldatum [hier: 1815] + T R ; TSCHERNING: U B 1 6 5 9 ; VENTZKY: B O U 1 7 3 4 ; V o ß : G G K 1 8 0 4 ; WACK.: K A 1 7 1 3 .
Zum zeitlichen Rahmen Der temporale Aspekt ist bereits in anderem Zusammenhang bestimmt und erläutert worden (vgl. S. 31): Der Untersuchungszeitraum umfaßt ungefähr zwei Jahrzehnte, nämlich die Zeit von ca. 1790 bis ca. 1810. Damit ist nicht nur die deutsche Frühromantik im engeren Sinne gefaßt, sondern es werden gewisse Übergangszeiträume mitberücksichtigt, in denen bestimmte Texte oder Textkomponenten (Aussagen, Topoi, Schlüsselwörter oder ähnliches) schon bzw. noch auf die Frühromantik verweisen. Als pragmatische Binnengliederung dieser 20 Jahre bietet sich die nach Jahrfünften an (wobei «Jahrfünft» cum grano salis zu verstehen ist). Von ca. 1790 bis ca. 1795 dauert die Frühphase, in der bei einigen Autoren erste interessante Reflexionsansätze festzustellen sind. Von ca. 1796 bis ca. 1801 dauert die Phase der Herausbildung und realen Existenz einer frühromantischen «Schule»; sie endet mit dem Zerfall des Jenaer Frühromantikerkreises. Von ca. 1802 bis ca. 1806 dauert die Phase unmittelbarer Nachwirkungen und Reminiszenzen (vgl. Behler 1992,12 f.). Die Zeit nach 1806 kann als Endphase der Frühromantik gedeutet werden; sie ist zugleich die Phase des Übergangs zur mittleren Romantik. Zur Peripherie hin ist die Quellenbasis schmaler als für den Kernzeitraum von ca. 1796 bis ca. 1806. Dieser Kernzeitraum selbst kann nochmals reduziert werden auf die Phase der Frühromantik im engsten Sinne (ca. 1796 bis ca. 1801), der das Hauptaugenmerk der Untersuchung gilt. Entsprechend variiert die Anzahl der Quellen je nach zeitlichem Unterabschnitt. Das Korpus umfaßt 22 Quellen fìlr die Zeit bis 1795: Hypfr 1793 [1794]; HÖLDERLIN: U U S »'1795; HUMBOLDT: StA »1793; MEREAU: BE 1794; NOVALIS: Bmric *1795; NOVALIS: G U A «'1789; NOVALIS: O G *'1788; NOVALIS: Thcl •Ί790; NOVALIS: US »1795; NOVALIS: VdB »'1790; SCHELLING: IPPh 1795; A. W . SCHLEGEL: BM/1 »1793; A. W. SCHLEGEL: BM/2 »1794; A. W. SCHLEGEL: BPSS 1795-96292; A. W. SCHLEHÖLDERLIN:
293
Die Briefe über Poe fie, Silbenmaß und Sprache sind im Winter 1795/96 entstanden und in drei Lieferungen in Schillers Hören erschienen: im November und Dezember 1795 und im Februar 1796. Sie gehören zum größeren Teil noch ins Jahr 1795.
525
Zum zeitlichen Rahmen
GK 1791; F. SCHLEGEL: OGP »1795; F. SCHLEGEL: SchD/3 »1795; F. SCHLEGEL: StGP »1795; 17971; TŒCK: an [Empfänger] + Einzeldatum [1792-93] + VL; WACKENRODER: an [Empfänger] + Einzeldatum [1792-95] + VL; WACKENRODER: DAHS * 1793/94; WACKENRODER: REB »'1793/94. GEL:
125 Quellen für die Zeit von 1796 bis 1801: BERNHARDI: J G H 1 8 0 0 ; BERNHARDI: S p l / 1 1 8 0 1 ; BRENTANO: G o d w i 1 8 0 1 ; BRENTANO: R o s e
1800; BRENTANO: Singer 1801; HÖLDERLIN: Hyp/1 1797; HÖLDERLIN: Hyp/2 1799; HÖLDERLIN: GE »1799; HÖLDERLIN: IW»'ca. 1800> HÖLDERLIN: QD »1801; HÖLDERLIN: Rfl »1798/99; HÖLDERLIN: U D A »1800; HÖLDERLIN: V P G »1800; HÖLDERLIN: W V »1800; HÜLSEN: N G M 1799; HUMBOLDT:
GM »1797; HUMBOLDT: H D 1799,
HUMBOLDT: Ü D S
»1795-96;
MEREAU:
EkG 1801;
MEREAU: F W M 1 8 0 1 ; MEREAU: G e d / 1 1 8 0 0 ; MEREAU: J U L 1 8 0 1 ; NOVALIS: A B r » 1 7 9 8 - 9 9 ; N o -
AdlL »1798; NOVALIS: AHSt »1799; NOVALIS: Akdt »1798; NOVALIS: ANL »1798; NOVAAthfr 1798; NOVALIS: Athfr/T »1798; NOVALIS: AthKr »1798; NOVALIS: AU »1798; NOVALIS:
VAUS: LIS:
BgrE »1796; NOVALIS: Blstb 1798; NOVALIS: Blumen 1798; NOVALIS: BP »1800; NOVALIS: BWL
»1796; NOVALIS: ChB »1799; NOVALIS: ChrE »1799; NOVALIS: Chym/1 »1798; NOVALIS: Chym/2 »1798-99; NOVAUS: Dlg/1-6 »1798-»'99; NOVALIS: FDA »1798; NOVALIS: Fremdling »1798; NOVALIS: FrSt »1799-1800; NOVALIS: FSt »1795-96; NOVALIS: Ges »1800; NOVALIS: G L 1798; NO-
GPSH * 1798; NOVALIS: Grvl * 1798; NOVALIS: HN * 1797/99; NOVALIS: ΗΝ 1800; NOVAHptr »1796; NOVALIS: HvO »1799-1800; 1802> NOVALIS: IdKr »1799; NOVALIS: Krlg »1798;
VALIS: LIS:
NOVAUS: LS »1798; NOVALIS: MedB »1799; NOVALIS: M H »1798; NOVALIS: Mlg »'1798/99; NO-
VALIS: MNSt »1798-99; NOVALIS: MSt »1798; NOVALIS: Mthfr »1798; NOVALIS: MwSt »1796; NOVAUS: PA »1798; NOVALIS: PhSt »1797; NOVALIS: PhyB »1799; NOVALIS: PhyFr »1798; NOVALIS: Poésie »1798; NOVALIS: Poët »1798; NOVALIS: SlgSt »1798; Novalis: StBK »1798; NOVALIS: StKM »1800; NOVALIS: TLSt »1798; NOVALIS: Tplfr »1798; NOVALIS: Tplfr/E »1798; NOVAUS: ÜG »1798; NOVALIS: VFS »1798; NOVALIS: WSt »1798; SCHELLING: DSPh 1801; SCHELLING: StI 1 8 0 0 ; A W . SCHLEGEL: A t h f r 1 7 9 8 ; A . W . SCHLEGEL: D G 1 7 9 9 ; A . W . SCHLEGEL: L R A 1 7 9 9 ; A . W . SCHLEGEL: N S Ü 1 7 9 9 ; A . W . SCHLEGEL: S G M 1 7 9 6 ; A . W . SCHLEGEL: S p r 1 7 9 8 ; A . W .
SCHLEGEL: VChK 1801; A. W. SCHLEGEL: VphK Ί 7 9 8 - 9 9 ; C. SCHLEGEL: D G 1799; F. Schlegel:
an [Empfinger] + Einzeldatum [1797-99] + KA/24; F. SCHLEGEL: Athfr 1798; F. SCHLEGEL: Blstb 1 7 9 8 ; F. SCHLEGEL: FLP »1797-98; F. SCHLEGEL: F P L »1799-1801; F. SCHLEGEL: G F 1797; F. SCHLEGEL: G M 1 7 9 8 ; F. SCHLEGEL: G P 1 8 0 0 ; F. SCHLEGEL: H o r e n / 2 - 5 1 7 9 6 ; F. SCHLEGEL:
Ideen 1800; F. SCHLEGEL: Lucinde 1799; F. SCHLEGEL: Lyfr 1797; F. SCHLEGEL: PGR 1798;
F. SCHLEGEL: PhL/1 »1796; F. SCHLEGEL: PhL/2 »1796-98; F. SCHLEGEL: PhLG »1797-1801; F. SCHLEGEL: PhL/4 »1798-99; F. SCHLEGEL: PhL/5 »1798-1801; F. SCHLEGEL: Phlg/1 »1797; F. SCHLEGEL: Phlg'2 »1797; F. SCHLEGEL: SchD »1796; F. SCHLEGEL: Trph Ί 800-01; F. SCHLEGEL: ÜdPh
1 7 9 9 ; F . SCHLEGEL: Ü d U 1 8 0 0 ; F. SCHLEGEL: Ü L 1 7 9 7 ; F. SCHLEGEL: V G R
1797;
Athfr 1798; SCHLEIERMACHER: RR 1799; SYSTEMPROGRAMM '* ca. 1796'; TIECK: FStW 1798; TIECK.: HKK (+ Teil-Nr.) 1797 [1796]; TIECK: PhK (+ Teil-Nr.) 1799; SCHLEIERMACHER:
S. TIECK-BERNHARDI: L A 1 8 0 0 ; WACKENRODER: H K K ( + T e i l - N r . ) 1 7 9 7 [ 1 7 9 6 ] ; WACKENRODER:
PhK (+ Teil-Nr.) 1799; WINKELMANN: N L U 1801.
39 Quellen für die Zeit von 1802 bis 1806: BERNHARDI: S p l / 2 1 8 0 3 ; BERNHARDI: A G S 1 8 0 5 ; HÖLDERLIN: F F » 1 8 0 2 ; HÜLSEN: a n A . W .
Schlegel + Einzeldatum [1803] + KJ; HUMBOLDT: FMB »1801/02; HUMBOLDT: L H »'1806; JEAN 1804; MEREAU: NdL 1802; MEREAU: Srf 1802; SCHELLING: DphB 1803; SCHELLING: FSPh 1802; SCHELLING: Κ1804; SCHELLING: PhK 1803-04; SCHELLING: SgPh 1804; SCHELLING: VMaS 1803; A. W. SCHLEGEL: AFB 1803; A W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04; A W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί801-02; A W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί802-03; A. W. SCHLEGEL: VLK/3 Ί803-04; F. SCHLEPAUL: V S Ä
GEL: BGmP 1803; F. SCHLEGEL: DGr »1805; F. SCHLEGEL: EPh/1-2 '1804-05; F. SCHLEGEL: GeL '1803-04; F. SCHLEGEL: LGM 1804; F. SCHLEGEL: LHV 1802; F. SCHLEGEL: PhL/6 »1802;
F. SCHLEGEL: PhI/7 »1802-03; F. SCHLEGEL: PhL/8 »1804; F. SCHLEGEL: PhL/9 »1805; F.
SCHLE-
526
Anhang III: Zum Korpus
GEL: PhL/10 * 1804-05; F. SCHLEGEL: PL 1805-06; F. SCHLEGEL: PN 1803; F. SCHLEGEL: ZP/1 *1802; F. SCHLEGEL: ZP/2 »1802; F. SCHLEGEL: ZP/3 *1803; F. SCHLEGEL: ZP/4 »1803; F. SCHLEGEL: ZPh r» ca. 1802-03 1 ; TIECK: A M L 1803.
21 Quellen für die Zeit nach 1806: BRENTANO: Rhn/1 »1810-12; BRENTANO: RHN/2 »1810-12; BRENTANO: Rhn/3 »1810-12; BRENTA-
NO: Rhn/4 »1810-12; SCHELLING: BPV »1811; SCHELLING: StPV 1810; SCHELLING: VbKN "1807; 18091; SCHELLING: WdW »1807; SCHELLING: WmF 1809; A. W. SCHLEGEL: DKL/1-2 r 1808;
1809-1 Γ ; A W . SCHLEGEL: D M 1808 ( 2 1812); F. SCHLEGEL: Gdk »1808-09; F. SCHLEGEL: PhL/11 »1806; F. SCHLEGEL: PhL/12 »1806; F . SCHLEGEL: S W I 1808; SCHLEIERMACHER: A H 1809-10; SCHLEIERMACHER: GGU 1808; SCHLEIERMACHER: H E E »1810U9; SCHLEIERMACHER: Piaton 1 8 0 7 ; SCHLEIERMACHER: V M Ü Ί 8 1 3 ; UHLAND: Ü d R 1 8 0 7 .
27 Quellen, die sich über größere Zeiträume erstrecken: HÖLDERLIN: an [Empfänger] + Einzeldatum (im folgenden: Edt.) [bis 1804] + StA; HÜLSEN: an [Empönger] + Edt [1798-1803] + F; NOVALIS: an [Empfänger] + Edt. [bis 1801] + N S ; NOVALIS: Tgb + Enlstehungsjahr [bis 1800]; RITTER: Fr/1 rggf. + Entstehungsjahr [1797-1809]; 18101; RITTER: Fr/2 'ggf + Entstehungsjahr [1797-1809]; 18101; SCHELLING: an [Empfänger] + Edt. [1795-1807] + H; A. W. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. [Gesamtzeitraum] + K; A. W. SCHLEGEL: an [Empfanger] + Edt [Gesamtzeitraum] + KJ; A. W. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. [ab 1795] + K W ; A. W . SCHLEGEL: a n [ E m p f a n g e r ] + E d t . [ a b 1 7 9 7 ] + L ; C . SCHLEGEL: a n [ E m p -
fänger] + Edt. [bis 1800] + C/1; C. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. [ab 1800] + C/2; D. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. [ab 1803] + KJ; F. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. [bis 1 7 9 7 ] + KA/23; F. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. [ab 1796] + KJ; F. SCHLEGEL: an
[Empfanger] + Edt. [ab 1795] + K W ; F. SCHLEGEL: an L . Tieck + Edt. [ab 1797] + L ; F. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel + Edt. [Gesamtzeit] + W; F. SCHLEGEL: IG »1794-1800; F. SCHLEGEL: Phs '* ca. 1803X07!; SCHLEIERMACHER: ZH »1805/09; TIECK: an [Empfänger] + Edt. [ab 1797] + L; TIECK.: an [Empfänger] + Edt. [Gesamtzeit] + MZM; TLECK: an [Empfanger] + Edt. [Gesamtzeit] + Z M F ; S. TIECK-BERNHARDI: a n A. W . S c h l e g e l + E d t . [ a b 1 8 0 1 ] + K J ; S. TIECK-BERNHARDI: a n
L. Tieck + Edt. [Gesamtzeit] + MZM.
140
120 100 80 60 40 20
0
Abb. 9: Quellen Verteilung pro Zeitraum
2) Sekundärquellen. Das Kontrollkorpus deckt schwerpunktmäßig einen Zeitraum von 3 Jahrhunderten (17.-19. Jh.) ab. Darüber hinaus sind einige wenige Quellen aus der Antike bzw. dem Mittelalter berücksichtigt:
527
Zum zeitlichen Rahmen
Antike (3 Quellen): ARISTOTELES: Poetik * ca. 3 3 5 v. Chr. 1 ; r
PLATON:
Symp
r
ca. 3 8 0 v . Chr. 1 ;
PS.-LONGIN:
Erh
*'l. H. 1. Jh.1.
11. Jahrhundert Π Quelle): ANSELM: P l g * 1 0 7 7 / 7 8 .
17. Jahrhundert (7 Quellen): GRIMMELSHAUSEN: S P G 1 6 7 3 ; LEIBNIZ: a n [ E m p f ä n g e r ] + E i n z e l d a t u m [ 1 6 6 3 - 8 5 ] + A A ; LEIBNIZ: U G r* ca. 1 6 9 7 ; 1717 1 ; RATKE: S K 1 6 1 2 - 1 5 ; SCHICKARDT: H T 1 6 2 9 ; SCHOTTELIUS: A A 1 6 6 3 ; TSCHERNING: U B 1 6 5 9 .
18. Jahrhundert (53 Quellen): ADELUNG: G K W / 1
2
1 7 9 3 ; ADELUNG: G K W / 3 2 1 7 9 8 ; ADELUNG: Ü d S t / 1 1 7 8 5 ; ADELUNG: U S p r
1781; ADELUNG: V G C 1 7 8 2 ; BREITINGER: C D / 2 1 7 4 0 ; BÜRGER: G B H 1 7 7 1 ; BÜRGER: Ρ Ρ * ' 1 7 7 7 7 8 ; DORNBLÜTH: O G A 1 7 5 5 ; FICHTE: S U S 1 7 9 5 ; FREYER: A T O 1 7 2 2 ; FULDA: V I S 1 7 8 8 ; GEDIKE:
GPS 1779; GOETHE: an [Empfanger] + Einzeldatum [1797] + WA/12; GOTTSCHED: AR 3 1759; GOTTSCHED: C D / 1
3
1 7 4 2 ; HAMANN: Ä N 1 7 6 2 ; HAMANN: M P V
G W F 1 7 9 8 ; HERDER: A U S ' » 1 7 6 9 ; \ΊΊ2\
Γ
* 1 7 8 4 ; 1801 1 ; HEINZELMANN:
HERDER: N D L 1 7 6 7 ; HERDER: N D L 2 1 7 6 8 ; HERDER:
Z B / 6 1 7 9 7 ; JERUSALEM: D S L 1 7 8 1 ; JONES: O H Ί 7 8 6 ; KANT: A n t h r 1 7 9 8 ; KANT: K d U 1 7 9 0 ; KANT: KRV 2 1 7 8 7 ; KINDERLING: R D S 1 7 9 5 ; KLOPSTOCK: G R 1 7 7 4 ; LESSING: a n [ E m p f a n g e r ] + E i n z e l d a t u m + L M / 1 7 ; LESSING: L k n 1 7 6 6 ; LICHTENBERG: S B / E » 1 7 7 5 - 7 6 ; LONGOLIUS: E T S 1 7 1 5 ; MICHAELIS: E M S 1 7 6 0 ; MENDELSSOHN: Ü E 1 7 5 5 ; MONBODDO: O P L / 4 1 7 8 9 ; MORITZ: A R / 1 - 4 1 7 8 5 - 9 0 ; MORITZ: B N S 1 7 8 8 ; MORITZ: V S t 1 7 9 3 - 9 4 ; NICOLAI: B Z W 1 7 5 5 ; RICHTER: K A 1 7 8 4 ; RIVAROL: U L F 1 7 8 4 ; ROUSSEAU: D M 1 7 6 8 ; SCHILLER: a n A . W . S c h l e g e l + E i n z e l d a t u m + K W ; SCHILLER: A u W 1 7 9 3 ; SCHILLER: N S D 1 7 9 5 - 9 6 ; SCHILLER: D G » 1 7 9 7 ; J. A . SCHLEGEL: A S K ' 1 7 7 0 ; J. H . SCHLEGEL: V M D 1 7 6 3 ; SULZER: A T K / Í
1 7 9 3 ; VENTZKY: B G U 1 7 3 4 ;
WACK: K A 1 7 1 3 .
19. Jahrhundert (28 Quellen): S. BOISSERÉE: a n [ E m p f ä n g e r ] + E i n z e l d a t u m ; BOUTERWEK: G P B 1 8 1 9 ; BRENTANO: K I R + 1 8 1 6 ; BYRON: D J / 3 1 8 2 1 ; ECKERMANN: G s p r / 2 1 8 3 6 + E i n z e l d a t u m d e s G e s p r ä c h s ; ECKERMANN: G s p r / 3 1 8 4 8 + E i n z e l d a t u m d e s G e s p r ä c h s ; GARVE: S E A 1 8 0 2 ; GOETHE: F a u s t 1 8 3 2 + V e r s ; GOETHE: T g b » 1 8 0 7 ; GRIMM: a n W . G r i m m + E i n z e l d a t u m + G H ; GRIMM: D W B / 1 1 8 5 4 ; HAGEN: a n A . W . Schlegel ' 3 0 . 9 . 1 8 0 7 H K J ; HEGEL: P h G 1 8 0 7 ; HEGEL: W d L 2 1 8 3 2 ; HEGEL [HOTHO]: V Ä / 1 " 1 8 1 8 2 9 ; 18351; HEINE: R S 1 8 3 3 ; HUMBOLDT: V S s t " 1 8 2 0 ; IS22\ VSÄ
2
JEAN PAUL: U L 2 1 8 2 2 ; JEAN PAUL:
1 8 1 3 ; KOLBE: W m g 1 8 0 9 ; SCHILLER: J O 1 8 0 1 ( J 1 8 0 5 ) ; A . W . SCHLEGEL: V K S
1828;
D. SCHLEGEL: a n L . T i e c k + E i n z e l d a t u m [hier: 1 8 2 9 ] + L ; SCHLEICHER: D T S 3 1 8 7 3 ; SCHLEICHER:
SpE 1850; SHELLEY: DP '»1821; 1840'; TIECK: an K. W. F. Solger + Einzeldatum [hier: 1815] + TR; Voß: GGK 1804.
Zum Textsortenspektrum Korpusrelevante Texte sind alle diejenigen, in denen sich die Frühromantiker sprachreflexiv geäußert haben. Zu berücksichtigen ist dabei stets die enge Verflech-
528
Anhang III: Zum Korpus
tung derfrühromantischenSprachreflexion beispielsweise mit transzendentalphilosophischen, religionsphilosophischen, natur-, geschichts- und kunsttheoretischen Problemen (vgl. S. 2). Korpusrelevant können daher auch Texte sein, die Sprache oder Sprechen nicht eigens thematisieren, sich aber mit anderen, zum Verständnis der Sprachreflexion wichtigen Problemfeldern beschäftigen. Das heißt nun nichts anderes, als daß prinzipiell alles als Quelle in Frage kommt, was die Frühromantiker an Texten überhaupt produziert haben: „die wissenschaftlichen, programmatischen und kunstkritischen Schriften, die halb poetischen, halb philosophischen Äußerungen der Fragmente, jene schwärmerischen Phantasien über das Thema Kunst [...], das romantische συμφιλοσοφεΐναηά συγκριτίζειν'ιτα Kunstgespräch und Briefwechsel - und schließlich die romantische Dichtung in ihrer Gesamtheit. Zwischen romantischer Theorie und Kunstpraxis bestdien enge Zusammenhänge, die auf sprachästhetischem Gebiet besonders deutlich hervortreten." (Kainz 1937,116 f.)
Die Textsorten des Primärkorpus lassen sich in zwei Großgruppen gliedern: Zum einen die im Untersuchungszeitraum durch Druck publizierten Texte, die somit einem größeren zeitgenössischen Publikum bekanntwerden konnten, zum anderen die im Untersuchungszeitraum nicht gedruckten Texte, deren Bekanntheit sich gegebenenfalls auf einen sehr kleinen Personenkreis beschränkte. Textsorten innerhalb der ersten Großgruppe sind: a) Aufsätze, Abhandlungen, Rezensionen, Nekrologe, Vor- und Nachreden. 43 Quellen: BERNHARDI: AGS 1805; BERNHARDI: JGH 1800; BERNHARDI: Spl/1 1801; BERNHARDI: Spl/2 1803; HÜLSEN: N G M 1799; HUMBOLDT: H D 1 7 9 9 , JEAN PAUL: V S Ä 1 8 0 4 ; MEREAU: F W M 1 8 0 1 ; MEREAU: NdL 1802; SCHELLING: DphB 1803; SCHELLING: DSPh 1801; SCHELLING: FSPh 1802; SCHELLING: IK 1804; SCHELLING: IPPh 1795; SCHELLING: StI 1800; SCHELLING: VbKN "1807; 1809> SCHELLING: VMaS 1803; SCHELLING: WmF 1809; A. W. SCHLEGEL: AFB 1803; A. W.
SCHLEGEL: BPSS 1795-96; A W. SCHLEGEL: DM 1808 (*1812); A. W. SCHLEGEL: GK 1791; A. W.
NSÜ1799; A W. SCHLEGEL: SGM 1796; A. W. SCHLEGEL: VChK 1801; F. SCHLEGEL: BGmP 1803; F. SCHLEGEL: GF 1797; F. SCHLEGEL: GM 1798; F. SCHLEGEL: Horen/2-5 1796; F. SCHLEGEL: LGM 1804; F. SCHLEGEL: PGR 1798; F. SCHLEGEL: StGPr*1795; \ Ί 9 Ί \ F. SCHLEGEL: SWI 1808; F. SCHLEGEL: ÜdPh 1799; F. SCHLEGEL: ÜdU 1800; F. SCHLEGEL: ÜL 1797; F. SCHLEGEL: VGR 1797; SCHLEIERMACHER: GGU 1808; SCHLEIERMACHER: Piaton 1807; SCHLEGEL:
SCHLEIERMACHER: R R 1 7 9 9 ; TIECK: A M L 1 8 0 3 ; S. TIECK-BERNHARDI: L A 1 8 0 0 ; UHLAND: O d R
1807.
b) Aphorismen-oder Fragmentsammlungen. 13 Quellen293: r NOVALIS: Blstb 1798; NOVALIS: GL 1798; NOVALIS: Athfr 1798; RITTER: Fr/1 ggf. + Entstehungsjahr, 18101; RITTER: Fr/2 fggf. + Entstehungsjahr; 1810'; A. W . SCHLEGEL: Athfr 1798; A. W .
293
De facto allerdings nur 9 verschiedene Texte, da aufgrund der verfasserorientierten Zitierweise (vgl. S. 519, Anm. 289) die Athenaeum-Fragmente (Athfr) viermal erscheinen, die Blúthenñaub-YT&%· mente (Blstb) zweimal.
529
Zum Textsoitenspektnim
SCHLEGEL: L R A 1799; F. SCHLEGEL: Athfr 1798; F. SCHLEGEL: Blstb 1798; F. SCHLEGEL: Ideen 1800; F. SCHLEGEL: Lyfr 1797; F. SCHLEGEL: PN 1803; SCHLEIERMACHER: Athfr 1798.
c) fiktionale Texte, und zwar •
Prosatexte (Romane, Erzählungen, Parabeln usw.). 18 Quellen: BRENTANO: Sänger 1801; BRENTANO: Godwi 1801; BRENTANO: Rose 1800; HÖLDERLIN: Hyp/1 1797; HÖLDERLIN: Hyp/2 1799; HÖLDERLIN: Hypfr 1793 [1794]; MEREAU: B E 1794; MEREAU: EkG 1801; MEREAU: J U L 1801; NOVALIS: HN 1800; NOVALIS: HvO'* 1799-1800; 18021; F. SCHLEGEL: Lucinde 1799; TIECK: FStW 1798; TIECK.: HKK (+ Teil-Nr.) 1797 [1796]; TIECK.: PhK (+ Teil-Nr.) 1799; WACKENRODER: HKK (+ Teil-Nr.) 1797 [1796]; WACKENRODER: P h K ( + T e i l - N r . ) 1 7 9 9 ; WINKELMANN: N L U 1 8 0 1 .
•
Lyrik. 4 Quellen: MEREAU: Ged/1 1 8 0 0 ; MEREAU:
•
Srf
1 8 0 2 ; NOVALIS:
Blumen
1 7 9 8 ; F. SCHLEGEL: L H V 1 8 0 2 .
Dialoge. 4 Quellen294: A W . SCHLEGEL: D G 1 7 9 9 ; A W . SCHLEGEL: S p r 1 7 9 8 ; C . SCHLEGEL: D G 1 7 9 9 ; F. SCHLEGEL: G P 1 8 0 0 .
Die zweite Großgruppe (im Untersuchungszeitraum nicht gedruckte Texte) umfaßt: d) Vorlesungen, Vorträge. 15 Quellen: PhK Ί803-04; SCHELLING: SgPh 1804; SCHELLING: StPV'1810; A. W. SCHLEGEL: DKL/1-2 "1808; 1809-111; A W. SCHLEGEL: VEW Ί803-04; A W. SCHLEGEL: VLK/1 Ί80102; A W. SCHLEGEL: VLK/2 Ί802-03; A W. SCHLEGEL: VLK/3 '1803-04; A W.SCHLEGEL.· VphK '1798-99; F.SCHLEGEL: Eph/1-2 '1804-05; F. SCHLEGEL: GeL'1803-04; F. SCHLEGEL: PL SCHELLING:
Ί805-06; F. SCHLEGEL: Tiph'1800-01; SCHLEIERMACHER: AH Ί 8 0 9 - 1 0 ; SCHLEIERMACHER: V M Ü
1813.
e) Briefe. 25 Quellen (ausgewertet wurden 16 Briefsammlungen295): HÖLDERLIN: an [Empfänger] + Einzeldatum (im folgenden: Edt.) + StA HÜLSEN: an A W. Schlegel + Edt + KJ; HÜLSEN: an [Empfinger] + Edt. + F; NOVALIS: an [Empfinger] + Edt. + NS; SCHEL-
294
295
De facto nur 3 verschiedene Texte, da aufgrund der verfasserorientierten Zitierweise der Dialog Die Gemâhlde{DG 1799) zweimal erscheint. Band 1 der Kömerschen Krisenjahre (KJ), die beiden Bände der Caroline von Waitz/Schmidt (C/l ; C/2X der Band August Wilhelm und Friedrich Schlegel im Briefwechsel mit Schiller und Goethe von Kömer/Wieneke (KW), Lohners Edition des Briefwechsels zwischen Tieck und den Brüdern Schlegel (L), Band 4 der Historisch-kritischen Novalis-Ausgabe (NS), die Briefe von und an August Wilhelm Schlegel von Körner (K), die Bände 23 und 24 der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KA/23; KA/24), Walzels Edition der Briefe Friedrich Schlegels an seinen Bruder August Wilhelm (W), Band 6 der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (StA), die Tieck Letters von Zeydel/Matenko/Fife (ZMF), die Letters to and from Ludwig Tieck and his Circle von Matenko/Zeydel/Masche (MZM), Band 2 der Historisch-kritischen Wackenroder-Ausgabe von Vietta und Littlejohns (VL), die Edition einiger Briefe Holsens an A W. Schlegel und Sophie Tieck-Bemhardi von Flitner (F) sowie Band 1 der Briefe von und an Hegel von Hoflmeister (H).
530
Anhang III: Zum Korpus
LING:
an [Empfänger] + Edt. + H; A. W. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. + K; A. W.
SCHLEGEL:
an [Empfänger] + Edt. + KJ; A W. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. + KW; A. W. SCHLEGEL: an
[Empfanger] + Edt. + L; C. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. + C/I; C. SCHLEGEL: an [Empfanger] + Edt. + C/2; D. SCHLEGEL: an [Empfinger] + Edt. + KJ; F. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt.
+ KA/23; F. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. + KA/24; F. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. + KJ; F. SCHLEGEL: an [Empfänger] + Edt. + KW; F. SCHLEGEL: an L. Tieck + Edt. + L; F. SCHLEGEL: an A. W. Schlegel + Edt. + W; TIECK: an [Empfänger] + Edt. + L; TIECK: an [Empfänger] + Edt. + MZM; TLECK: an [Empfänger] + Edt. + VL; TLECK: an [Empfänger] + Edt. + ZMF; S. TIECK-BERNHARDI: an A W. Schlegel + Edt. + KJ; S. TIECK-BERNHARDI: an [Empfänger] + Edt. + MZM; WACKENRODER: an [Empfänger] + Edt. + VL.
f) fiktionale Texte, und zwar •
Prosatexte (Romane, Erzählungen, Parabeln usw.). 8 Quellen: BRENTANO: Rhn/1 »1810-12; BRENTANO: Rhn/2 «1810-12; BRENTANO: Rhn/3 »1810-12; BRENTANO: Rhn/4 »1810-12; NOVALIS: Ges »1800; NOVALIS: G U A »'1789; NOVALIS: LS »1798; NOVALIS: Thcl »'1790.
•
Lyrik. 4 Quellen: HÖLDERLIN: F F » 1 8 0 2 ; HÖLDERLIN: Q D » 1 8 0 1 ; NOVALIS: F r e m d l i n g » 1 7 9 8 ; NOVALIS: H N »1797/99.
•
Dialoge. 1 Quelle: NOVALIS: Dlg/1-6 *1798-»'99.
g) Aufsätze, Erörterungen, Gutachten. 12 Quellen: HUMBOLDT:
»1793;
FMB »1801/02; HUMBOLDT: GM »1797; HUMBOLDT: L H »'1806; HUMBOLDT: StA Mlg »'1798/99; NOVALIS: OG * 1788; SCHELLING: BPV »1811; SCHELLING:
NOVALIS:
WdW »1807; A. W. SCHLEGEL: BM/1 »1793; A W. SCHLEGEL: BM/2 »1794; F. SCHLEGEL: O G P
»1795; WACKENRODER: DAHS »1793/94.
h) Notizen und Entwürfe. 85 Quellen: HÖLDERLIN: GE »1799; HÖLDERLIN: IW r *'ca. 1800 1 ; HÖLDERLIN: Rfl »1798/99; HÖLDERLIN: UDA »1800; HÖLDERLIN: UUS »'1795; HÖLDERLIN: VPG »1800; HÖLDERLIN: W V »1800; HUM-
BOLDT: ODS »1795-96; NOVALIS: ABr »1798-99; NOVALIS: AdlL »1798; NOVALIS: AHSt »1799; NOVALIS: Akdt »1798; NOVALIS: ANL »1798; NOVALIS: Athfr/T »1798; NOVALIS: AthKr »1798; NOVALIS: AU »1798; NOVALIS: BgrE »1796; NOVALIS: Bmrk »1795; NOVALIS: BP »1800; NOVALIS: BWL »1796; NOVALIS: ChB »1799; NOVALIS: ChrE »1799; NOVALIS: Chym/1 »1798; NOVALIS: Chym/2 »1798-99; NOVALIS: FDA »1798; NOVALIS: FrSt »1799-1800; NOVALIS: FSt »1795-96; NOVALIS: GPSH »1798; NOVALIS: Grvl »1798; NOVALIS: Hptr »1796; NOVALIS: IdKr »1799; NOVALIS: Krlg »1798; NOVALIS: MedB »1799; NOVALIS: MH »1798; NOVALIS: MNSt »1798-99; NOVALIS: MSt »1798; NOVALIS: Mthfr »1798; NOVALIS: MwSt »1796; NOVALIS: PA »1798; NOVALIS: PhSt »1797; NOVALIS: PhyB »1799; NOVALIS: PhyFr »1798; NOVALIS: Poesie »1798; NOVALIS: Poët »1798; NOVALIS: SlgSt »1798; NOVALIS: StBK »1798; NOVALIS: StKM »1800; NOVALIS: TLSt »1798; NOVALIS: Tplfr »1798; NOVALIS: Tplfr/E »1798; NOVALIS: ÜG »1798; NOVALIS: US »1795; NOVALIS: VdB »'1790; NOVALIS: VFS »1798; NOVALIS: WSt »1798;
F.
DGr »1805; F. SCHLEGEL: FLP »1797-98; F. SCHLEGEL: FPL »1799-1801; F. SCHLEGdk »1808-09; F. SCHLEGEL: IG »1794-1800; F. SCHLEGEL: PhlVl »1796; F. SCHLEGEL: PhL/2 »1796-98; F. SCHLEGEL: PhI73 »1797-1801; F. SCHLEGEL: PhIV4 »1798-99; F. SCHLEGEL: PhL/5 »1798-1801; F. SCHLEGEL: PhL/6 »1802; F. SCHLEGEL: PhIV7 »1802-03; F. SCHLEGEL: SCHLEGEL:
GEL:
Zum Textsortenspektrum
531
PhL/8 »1804; F. SCHLEGEL: PhL/9 »1805; F. SCHLEGEL: PhL/10 »1804-05; F. SCHLEGEL: PhL/11 »1806; F. SCHLEGEL: PhIV12 »1806; F. SCHLEGEL: Phlg/1 »1797; F. SCHLEGEL: Phlg/2 »1797; F. SCHLEGEL: Phs '* ca. 1803V071; F. SCHLEGEL: SchD »1796; F. SCHLEGEL: SchD/3 »1795; F. SCHLEGEL: ZP/1 » 1 8 0 2 ; F. SCHLEGEL: Z P / 2 » 1 8 0 2 ; F. SCHLEGEL: ZP/3 » 1 8 0 3 ; F. SCHLEGEL:
ZP/4 »1803; F. SCHLEGEL: ZPh r » ca. 1802-03 1 ; SCHLEIERMACHER: HEE »1810U9; SCHLEIERMACHER: ZH »1805/09; SYSTEMPROGRAMM r* ca. 17961.
i) Tagebücher, Autobiographisches. 2 Quellen: NOVALIS: T g b + E n t s t e h u n g s j a h r ; WACKENRODER: R E B » ' 1 7 9 3 / 9 4 .
Aufs. Frgm Fikt. Vslg. Brf.
Fikt. Aufs. Not. Tabu
Abb. 10: Quellenverteilung pro Textsorte
Es ist klar, daß dieser Differenzierung keine trennscharfen Kriterien zugrundeliegen, daß im Gegenteil die Grenzen zwischen den verschiedenen Textsorten im Einzelfall fließend sein können. Dialoge wie Friedrich Schlegels Gespräch über die Poefíe können längere, den einzelnen Dialogteilnehmern in den Mund gelegte Abhandlungen enthalten; lyrische Texte können in Romane integriert sein; die Romanform als solche ist in der Frühromantik völlig unbestimmt und soll Gattungsgrenzen ja nach Möglichkeit gerade aufweichen; Vorlesungen können lediglich in Form von handschriftlichen Notizen vorliegen; Briefe haben bisweilen Tagebuchfimktion usw. Beabsichtigt ist hier lediglich eine im allgemeinen brauchbare und tragfähige Unterscheidung, die die gesamte Bandbreite des Textsortenspektrums deutlich machen soll. 2) Für das Sekundärkorpus, das weniger synchron als diachron betrachtet wird, läßt sich die Unterteilung in publizierte und unpublizierte Quellen nicht sinnvoll aufrechterhalten. Auch Texte, die von einem Autor selbst nicht publiziert worden sind (zudem: was genau heißt «publiziert» bei Quellen aus der Zeit vor Erfindung
532
Anhang III: Zum Korpus
des Buchdrucks?), können zu einem späteren Zeitpunkt breit rezipiert worden sein. - Das Sekundärkorpus umfaßt folgende Textsorten: a) Aufsätze, Abhandlungen, Vorlesungen, Rezensionen. 67 Quellen: ÜdSt/1 1785; ADELUNG: USpr 1781; ADELUNG: VGC 1782; ARISTOTELES: Poetik '* ca. 335 V. Chr.1; BOUTERWEK: GPB1819; BREITINGER: CD/2 1740; BRENTANO: K1R *1816; BÜRGER: GBH 1771; BÜRGER: PP »'1777-78; DORNBLÜTH: OGA 1755; ECKERMANN: Gspr/2 1836 + Einzeldatum des Gesprächs; ECKERMANN: Gspr/3 1848 + Einzeldatum des Gesprächs; FICHTE: ADELUNG:
S U S 1 7 9 5 ; FREYER: Α Τ Ο 1 7 2 2 ; FULDA: V I S 1 7 8 8 ; GARVE: S E A 1 8 0 2 ; GEDIKE: G P S
1779;
AR51759; GOTTSCHED: CD/131742; HAMANN: A N 1762; HAMANN: MPV r*1784; 180P, HEGEL: PhG 1807; HEGEL: WdL21832; HEGEL [HOTHO]: VÄ/1 Γι1818-29; 18351; HEINE: RS 1833; HEINZELMANN: GWF 1798; HERDER: AUS "1769; 1772> HERDER: NDL 1767; HERDER: NDL21768; HERDER: ZB/6 1797; HUMBOLDT: VSstri1820; 1822UEAN PAUL: VSÄ21813; JERU2 SALEM: DSL 1781; JONES: O H Ί786; KANT: Anthr 1798; KANT: KdU 1790; KANT: KrV 1787; r 1 KINDERLING: RDS 1795; KOLBE: Wmg 1809; LEIBNIZ: UG * ca. 1697; 1717 ; LESSING: Lkn 1766; LICHTENBERG: SB/E »1775-76; LONGOLIUS: ETS 1715; MENDELSSOHN: ÜE 1755; MICHAELIS: EMS 1760; MONBODDO: OPL/4 1789; MORITZ: BNS 1788; MORITZ: VSt Ί793-94; NICOLAI: BZW 1755; PS.-LONGIN: Erh r*'l. H . 1. Jh.1; RATKE: SK 1612-15; RICHTER: KA 1784; RIVAROL: ULF 1784; SCHICKARDT: H T 1629; SCHILLER: AuW 1793; SCHILLER: NsD 1795-96; A. W. SCHLE3 GEL: VKS 1828; J. A. SCHLEGEL: ASK 1770; J. H . SCHLEGEL: V M D 1763; SCHLEICHER: D I S Ί 8 7 3 ; SCHLEICHER: SpE 1850; SCHOTTELIUS: AA 1663; SHELLEY: DP Γ»1821; 18401; TSCHERGOTTSCHED:
NING: U B 1 6 5 9 ; VENTZKY: B G U 1 7 3 4 ; V o ß : G G K 1 8 0 4 ; WACK: K A 1 7 1 3 .
b) fiktionale Texte, und zwar •
Prosatexte (Romane, Erzählungen, Parabeln usw.). 4 Quellen: GRIMMELSHAUSEN: S P G 1 6 7 3 ; JEAN PAUL: U L
2
1 8 2 2 ; KLOPSTOCK: G R 1 7 7 4 ; MORITZ:
AR/1-4 1785-90.
•
Versepen. 1 Quelle: BYRON: D J / 3 1 8 2 1 .
•
Lyrik. 1 Quelle: SCHILLER: D G » 1 7 9 7 .
•
Dramen. 2 Quellen: GOETHE:
•
Faust 1832; SCHILLER: JO 1801 (21805).
Dialoge. 2 Quellen: ANSELM:
Plg »1077/78; PLATON: Symp 'ca. 380 v. Chr.1.
c) Wörterbücher, Enzyklopädien. 5 Quellen: ADELUNG: G K W / 1 2 1 7 9 3 ; ADELUNG: G K W / 3 2 1 7 9 8 ; GRIMM: D W B / 1 1 8 5 4 ; ROUSSEAU: D M 1 7 6 8 ; SULZER: A T K / 3
2
1793.
d) Briefe. 9 Quellen: an [Empfänger] + Einzeldatum (im folgenden: Edt.) [1797] + WA/12; GRIMM: an W. Grimm + Edt + G H ; HAGEN: an A. W. Schlegel '30. 9. 18071 + K J ; LEIBNIZ: an [Empfänger] + Edt. GOETHE:
Zum Textsortenspektrum
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[1663-85] + AA; LESSING: an [Empfänger] + Edt. + LM/17; SCHILLER: an A W. Schlegel + Edt. + KW; S. BOISSERÉE: an [Empfänger] + Edt.; D. SCHLEGEL: an L. Tieck + Edt. [hier: 1829] + L; TIECK: an K. W. F. Solger + Edt. [hier: 1815] + TR.
e) Tagebücher, Autobiographisches. 1 Quelle: GOETHE: T g b » 1 8 0 7 .
Zur Datenerhebung Die Zusammenstellung eines Korpus ist ein erster, auch bereits ein entscheidender Schritt. In einem zweiten Schritt muß dann allerdings das ausgewählte Quellenmaterial erschlossen, d. h. die in den Texten enthaltenen Informationen müssen unter bestimmten inhaltlichen Aspekten gegliedert werden, so daß zu einem späteren Zeitpunkt - bei der eigentlichen Untersuchung nämlich - alle im Zusammenhang einer bestimmten Fragestellung interessanten Aussagen greifbar sind. Da auch das Vorgehen bei der Quellenerschließung die Ergebnisse einer Untersuchung präformiert, muß Aufschluß über die dabei angewandten Methoden gegeben werden. Die geforderte Zugriffsmöglichkeit läßt sich bei einer Menge von Quellen wie der hier zu bewältigenden nur durch systematische Exzerption erreichen. Um es mit Friedrich Schlegel zu sagen: „Das beständige Geschäft ist Sammeln, Exzerp[iren], [...] Lesen aller Schriftsteller, εγκυκλοπαιδ'κύα^ Lesen" (F. SCHLEGEL: Phlg/1 *1797,38, Nr. 41). Dabei ist die prinzipielle Art der Fragestellung zu berücksichtigen, mit der später an die Texte herangegangen werden soll. Eine konzepthistorische Untersuchung wie die vorliegende interessiert sich selbstverständlich für Textinhalle: Konzepte sind nichts anderes als komplexe semantische Großeinheiten (vgl. S. 240, Anm. 174). Auf eine inhaltsseitige sprachliche Einheit hat man aber nur Zugriff über die zugehörige ausdrucksseitige Einheit bzw. (bei Konzepten im Sinne von Anm. 174) über die zugehörige« ausdrucksseitige« Einheite«. Die Exzerption muß sich also an ausdrucksseitigen Einheiten (Einzelwörtern) orientieren; die durch sie erarbeitete Ordnung des Materials muß eine Ordnung sein, mit deren Hilfe man jederzeit möglichst viele aufschlußreiche Belegstellen jedes beliebigen inhaltlich interessanten Wortes in den Texten finden kann. Exzerption muß aber nicht nur die Aufgabe haben, einen leistungsfähigen gesamtkorpusbezogenen Wortindex zu erstellen. Sinnvoll angelegte Exzerpte können den Historiographen zugleich des zeitaufwendigen Nachschlagens der Fundstellen in den einzelnen Quellen entheben und haben damit nicht nur eine heuristische, sondern zugleich eine praktisch-ökonomische Funktion. Um diese letztere zu erfüllen, müssen sie einen Kotextausschnitt bieten, der so viel an Informationen enthält, daß
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Anhang III: Zum Korpus
das Nachschlagen im Text zum Verständnis der Stelle nicht mehr oder nur noch in Ausnahmefällen nötig ist. Entworfen wird hier nichts anderes als das Bild einer leistungsfähigen Datenbank, die alle Korpusquellen verwaltet und unter vielfältigen Rechercheaspekten erschließbar macht. Für die Einrichtung einer solchen Datenbank fehlten und fehlen mir allerdingsfinanzielleMittel; abgesehen davon waren Anfang der 90er Jahre, zu Beginn meiner Beschäftigung mit dem romantischen Diskurs, die computertechnischen Möglichkeiten (insbesondere OCR-Programme) noch nicht im heutigen Maße vorhanden. Die vorliegende Untersuchung basiert daher auf einem Quellenarchiv, das nach der althergebrachten Karteikastenmethode angelegt ist. Dieses Archiv enthält nicht nur Exzerpte aus Texten deutscher Frühromantiker, sondern auch aus späteren und aus fremdsprachigen Texten; es wurde unter der Bezeichnung Quellenkartei zur europäischen Romantik (QUER) bereits in anderem Zusammenhang vorgestellt (vgl. Bär 1998a, 167 ff.) Das QUER-Korpus umfaßt einige Texte, die in der vorliegenden Untersuchung nicht zitiert und daher auch nicht als Quellen aufgenommen wurden. Ebenso sind hier Quellen berücksichtigt, die sich im QUER-Korpus nicht finden. Dennoch besteht eine weitgehende Übereinstimmimg der Korpora: Fast alle Primärquellen und ein Teil der Sekundärquellen sind über das QUER-Archiv erschlossen. Die nicht exzerpierten Texte (zu den meisten von ihnen existieren brauchbare Indices) wurden zumindest einmal vollständig gelesen. Für den Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts stand mir darüber hinaus das gesamte exzerpierte und alphabetisch geordnete Archivmaterial des Heidelberger Projektes Sprachreflexion in Barock und Aufklärung. Enzyklopädisches Wörterbuch von Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Thorsten Roelcke zur Verfügung, wofür an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Das Heidelberger Korpus umfaßt mehr als 600 Quellen, an deren Exzerption ich mehrere Jahre lang mitarbeiten konnte, die mir daher als ganze aus eigener Beschäftigung, nicht nur punktuell in einigen Exzerpten Anderer bekannt sind; diejenigen, die für mich relevante Informationen enthielten, habe ich ins Sekundärkorpus aufgenommen. Wichtiger jedoch als das Barock- und Aufklärungsmaterial selbst war für mich die Methode, nach der es erschlossen worden war (vgl. dazu Gardt 1996, 93 f.), und die ich für die QUER-Kartei übernahm. Nach dieser Methode wurde jeder Text vollständig gelesen; dabei wurden interessante Textstücke, die einen in sich geschlossenen Sinnabschnitt bilden, gekennzeichnet. Alle in einem Textstück vorkommenden relevanten Ausdrücke oder Ausdruckskombinationen wurden markiert. Für Sachverhalte, die im Text selbst nicht durch einen «sprechenden» Ausdruck bezeichnet waren, konnte ein beschreibungssprachlicher Ausdruck angesetzt und auf dem
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Zur Datenerhebung
Rand der Textseite vermerkt werden, der auf den Sachverhalt in nachvollziehbarer Weise referiert (vgl. Gardt 1996, 93, Anm. 3). Beide, markierte ebenso wie hinzugefügte Ausdrücke, dienten später als Grundlage des Stichwortansatzes. Das Archiv wurde auf diese Weise als integrierte Wort- und Sachkartei angelegt; da Sachbelege von Wortbelegen durch eine andere Art des Stichworteintrags unterschieden sind (vgl. Bär 1998a, 169), kann das Material als Grundlage sowohl für historiographische wie für lexikographische Arbeit dienen. Alle gekennzeichneten Textpassagen wurden in einem zweiten Arbeitsgang ausgeschnitten und auf Karteikarten geklebt, auf denen eine Quellennummer und die jeweilige Zitierweise (meist die Seitenzahl) vermerkt wurden. Das Verfahren kann am Beispiel eines Abschnitts aus A. W. Schlegels Berliner Vorlesungen veranschaulicht werden: Quellennummer
Freiraum für Stichworteintrag
Seitenzahl /
+
A 38, 479
[ Ui-ftr.·}]
hinzugefügter beschreibungssprachlicher Ausdruck (Sachangabe)
Wirtlichkeit ist nodi lange keine Treue. Zu dieser gelrtri es, da8 dieselben oder Ihnliche Eindrücke hervorgebracht werden, denn diese sind hier j« eben das Wesen der Sache. Deswegen ist luverderst alles Übertragen von Ϊ £ β £ η in £cosa verwerflich: denn dis Svlhenmafl soll kein »itiwiirii>.r 7.iemitli scyn, lind ist es bey lebten fiedichten auch nicht, sondern es gehört zu den ursprünglichen und wesentlichen Bedingungemder Poesie. Ferner, da alle metrischen Formen eine entschied* Bedeutung haben, und die Notwendigkeit derselben an ihrer Bestimmten Stelle sich sehr wohl darthun liflt, , so ist es eine/ der ersten Gnutdsitte der Übersetzungskunstwein Gedicht so viti nur immer die Natur der Sprache erlaubt in d a n e b e n SylbenipB nachzubilden.
markierte Ausdrücke bzw. Ausdruckskombinationen
Abb. 11:QUER-Exzerpt (QuelleNr. A
38
= A.W.
SCHLEGEL: VLK/1 Ί 8 0 1 - 0 2 )
Ein solches Exzerpt wurde so oft vervielfältigt, wie es Markierungen und Zusätze aufwies; für jeden Ausdruck und jede Ausdruckskombination entstand so ein eigener Belegzettel. Dieses Verfahren sollte ermöglichen, daß ein und derselbe Beleg später in unterschiedlichsten Zusammenhängen aufgefunden und nutzbar gemacht werden kann: Nur so ist die enge inhaltliche Verflechtung der verschiedenen Gegenstandsbereiche frühromantischer Theorie einigermaßen adäquat nachzuvollziehen.
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Anhang III: Zum Korpus
Nach dem Kopiervorgang wurden die Stichwörter oder Stichwortkombinationen (im Beispiel: Zierrat, äußerlicher) der Reihe nach auf den Zetteln eingetragen. Alle Zettel wurden alphabetisch nach Stichwörtem, dann numerisch nach Quellennummer und Seitenzahl geordnet. Das QUER-Archiv umfaßt derzeit ungefähr 70000 Exzerpte aus rund 240 Texten von ca. 60 Autoren. Es ist durch diverse mit EDV erstellte Listen unter verschiedenen Gesichtspunkten erschlossen. Eigens zu nennen sind •
ein gesamtkorpusbezogener alphabetischer Wortindex, der für jedes Stichwort verzeichnet, in welchen Texten und an welcher Stelle es belegt ist. So wird beispielsweise eine rasche Synopse über die Belegdichte in verschiedenen Quellen möglich. Abgesehen davon ist es mit dem Computer möglich, per Suchfunktion Stichwörter aufzufinden, die an völlig anderer Stelle im Alphabet stehen, hinter denen sich aber möglicherweise gleichwohl interessante Exzerpte zu einem Thema verbergen (ausgehend von Sprache kann man beispielsweise zu Idealsprache, Kunstsprache, Natursprache gelangen).
•
quellenspezifische alphabetische Wortindices, die für jeden bearbeiteten Text verzeichnen, welche Stichwörter an welcher Stelle exzerpiert wurden. Dies ermöglicht themenbezogen einen schnellen Überblick über die Einzeltexte selbst.
Durch diese Hilfsmittel kann jeder exzerpierte Text schnell und effizient nach jedem beliebigen Stichwort abgesucht werden.
Zusammenfassung Das Korpas der Untersuchung ist unterteilt in ein Primär- und ein Sekundärkorpus. Das Primärkorpus umfaßt 234 Quellen (insgesamt ca. 18400 Druckseiten) von 21 frühromantischen oder der Frühromantik nahestehenden Autoren. Es enthält Texte aus dem Zeitraum von etwa 1790 bis etwa 1810 (wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf der Zeit von 1796-1801 liegt). Alle relevanten Textsorten des frühromantischen Diskurses sind vertreten (wobei ein Schwerpunkt auf theoretisch-philosophischen Texten liegt. - Das Sekundär- oder Kontrollkorpus umfaßt 92 Quellen. Diese stammen hauptsächlich aus dem Zeitraum vom 17.-19. Jahrhundert, einige wenige auch aus früheren Jahrhunderten (Antike und Mittelalter). Alle Quellen wurden zumindest einmal vollständig gelesen; der weitaus größte Teil wurde systematisch exzerpiert. Auf diese Weise entstand eine sichere Grundlage für umfassende und detaillierte Untersuchungen zur frühromantischen Sprachreflexion ebenso wie zu allen damit zusammenhängenden Themenkomplexen.
Anhang IV: Zitierte Literatur „Es giebt Leute, die eine unüberwindliche Leidenfchaft für Büchertitel haben, und ihnen wird billig gegönnt, deren Zahl durch Bücher über Büchertitel zu vermehren." (A. W. SCHLEGEL: DKUl "1808; 1809-111, 19)
Die Zitierweise folgt einer in anderem Zusammenhang (Bär 1998a, 184 f.) vorgestellten und begründeten Methode. Autoren von Quellentexten werden in KAPITÄLCHEN gesetzt, Quellentexte durch Kürzel und Angabe des Erscheinungsjahres zitiert (SCHELLING: StI 1800). Autoren von Sekundärliteratur erscheinen im Normaldruck, Sekundärtexte werden allein durch Angabe des Erscheinungsjahres zitiert (Gardt 1994). Werden - ältere - Sekundärtexte ihrerseits als Quellentexte herangezogen, so stehen die Autorennamen in Kapitälchen (HAYM 1870). Zusätzlich angegeben wird üblicherweise die Seitenzahl. Falls nötig, kann sie durch eine Zeilenangabe ergänzt werden, die dann petit gesetzt wird (BRENTANO: Godwi 1801, 132, 3). Handelt es sich bei der zitierten Quelle um eine der frühromantischen Fragmentsammlungen, so wird nach der Seitenzahl die Fragmentnummer genannt (F. SCHLEGEL: Lyfr 1798, 150, Nr. 34). Eine Zeilenangabe ist auch hier möglich: Erscheint sie vor der Fragmentnummer (F. SCHLEGEL: Lyfr 1798, 150,20, Nr. 37), so bezieht sie sich auf die Druckseite; erscheint sie nach der Fragmentnummer (F. SCHLEGEL: Lyfr 1798,150, Nr. 37,4), so ist vom Beginn des Fragmentes aus gezählt. (Faktisch referieren die beiden vorstehenden Beispielstellenangaben auf dieselbe Textzeile). Alle Quellentexte, von denen keine zitierfähigen, d. h. in Wortlaut und Graphie die ursprüngliche Textgestalt wahrenden Editionen vorliegen, werden nach Möglichkeit nach der Originalausgabe zitiert. Zur leichteren Orientierung werden sie zusätzlich in der Standardausgabe, zumindest einer gängigen Ausgabe nachgewiesen; die jeweiligen Seitenangaben werden durch Schrägstrich (/) voneinander abgesetzt, wobei sich die erste Angabe auf das Zitat, die zweite auf den Nachweis bezieht. Zitiert wird üblicherweise nach der ersten Auflage. Spätere Auflagen werden durch hochgestellte Ziffern vor der Jahreszahl kenntlich gemacht. Entstehungsjahre von Texten werden durch vorangestellten Asterisk (* 1795) bezeichnet, der bei unsicheren Angaben mit Fragezeichen versehen wird (*'l 795). Texte, die mündlich publik gemacht wurden, z. B. Vorlesungen, werden durch vorangestelltes Ausrufezeichen kenntlich gemacht (! 1803). Gemeint ist auch hier der Erstvortrag. Bei Briefen
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Anhang IV: Zitierte Literatur
erscheint (nach Möglichkeit) die genaue Datumsangabe in Skopuszeichen (r und ohne Asterisk. Unsichere Angaben werden durch vorangestelltes Fragezeichen gekennzeichnet (^1673!). Weicht das Jahr der Entstehung und/oder des ersten mündlichen Vortrags vom Erscheinungsjahr ab, so werden ggf. beide Jahreszahlen genannt und durch Semikolon voneinander getrennt (Γ* 1821 ; 18401). Ein Schrägstrich, der zwei Jahreszahlen voneinander trennt, heißt >oder< (1798/99), wobei auch Kombinationen möglich sind (r* 1797/99; 18001 entstanden 1797 oder 1799, erschienen 1800