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German Pages 223 [226] Year 2022
Glaubenskämpfe zwischen den Zeiten Theologische, politische und ideengeschichtliche Konzepte in der Weimarer Republik
Herausgegeben von Marco Hofheinz und Hendrik Niether
Weimarer Schriften zur Republik
Franz Steiner Verlag
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Weimarer Schriften zur Republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner, Prof. Dr. Alexander Gallus, Prof. Dr. Kathrin Groh, Prof. Dr. Christoph Gusy, Prof. Dr. Marcus Llanque, Prof. Dr. Walter Mühlhausen, Prof. Dr. Wolfram Pyta, Dr. Nadine Rossol, Prof. Dr. Martin Sabrow Band 22
Glaubenskämpfe zwischen den Zeiten Theologische, politische und ideengeschichtliche Konzepte in der Weimarer Republik Herausgegeben von Marco Hofheinz und Hendrik Niether
Franz Steiner Verlag
Die dem Band zugrundeliegende Ringvorlesung wurde gefördert von der Hanns-Lilje-Stiftung, Hannover
Umschlagabbildung: Max Missmann: U-Bahnhof Wittenbergplatz, 1927, in: Das große Berlin. Max Missmann Photographien 1899–1935, hg. von Wolfgang Gottschalk, Berlin 1991, S. 63. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13374-6 (Print) ISBN 978-3-515-13379-1 (E-Book)
INHALT Vorwort …………………………………………………………………………... 7 Hendrik Niether Glaubenskämpfe zwischen den Zeiten. Theologische, politische und ideengeschichtliche Konzepte in der Weimarer Republik – Eine Einleitung und zugleich ein Forschungsüberblick …………………………………………... 9 Claudia Lepp Zwischen Antipathie und Pragmatismus. Protestantismus und Demokratie in der Weimarer Republik ……………………………………………………… 27 Peter Zocher Theologie der Krisis. Die Dialektische Theologie als geistiger Umbruch in der Weimarer Republik ……......…………………………………………...... 47 Alf Christophersen Religiöser Sozialismus und Lutherrenaissance als Politische Theologien der Zwischenkriegszeit …………………………………………………………. 63 Benedikt Brunner Volkskirche im Brennglas. Die Formierung pluraler kirchlicher Selbstbeschreibungen in der Weimarer Republik ……………………………… 89 Reinhard Gaede Zwischen Krieg und Frieden. Diskussionen des deutschen Protestantismus in der Weimarer Republik. Folgerungen für die Friedensethik der Kirchen heute ……………………………………………………………... 109 Katharina Kunter Religion und Geschichte als Antwort auf die moderne Entpersönlichung. Ricarda Huch: Eine außergewöhnliche Protestantin der Weimarer Republik …………………………………………………………… 131 Susanne Möbuß Franz Rosenzweig und das Neue Denken …………………………….............. 145
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Inhalt
Roger Mielke Konkrete Theologie: Kirche, Dogma, Sakrament. Eine Skizze zum Weg Erik Petersons ……………………………………………………… 159 Reinhard Mehring Carl Schmitts Politische Theologie. Entwurf, Umschrift und Rückblick .......... 179 Marco Hofheinz Kampfbegriff Schöpfungsordnung. Die Kontroverse zwischen Otto Piper und Alfred de Quervain am Ende der Weimarer Republik …………………… 197 Autorinnen und Autoren …………………………….………………………… 223
VORWORT „Die evangelische Theologie hat ein Jahrzehnt grundstürzender Erschütterung hinter sich. Von Karl Barths Römerbrief ab […] wird man in gleicher Weise wie von Schleiermachers Reden eine neue Epoche in der Geschichte der Theologie datieren.“1
Mit diesen bedeutungsschweren Worten begann der Theologe Otto Piper (1891– 1982), zu dieser Zeit Privatdozent in Göttingen, seine zweibändigen Grundlagen der evangelischen Ethik aus dem Jahr 1928. Ein umfassendes Krisengefühl angesichts der überwältigenden Herausforderungen durch die Moderne prägte das theologische Denken dieser Zeit ebenso wie das Bewusstsein, in den Jahren 1918/19, als unter dem Eindruck von Erstem Weltkrieg und Novemberrevolution Karl Barths (1886–1968) erster Römerbrief-Kommentar erschienen war,2 an einem historischen geistigen Umbruch beteiligt gewesen zu sein. Dieser Zäsur und der darauffolgenden Dekade theologie- und ideengeschichtlicher Glaubenskämpfe widmet sich der Sammelband. Wir freuen uns, ihn nunmehr vorlegen zu können. Die Beiträge des Bandes gehen überwiegend auf Vorträge zurück, die im Rahmen einer Ringvorlesung an der Leibniz Universität Hannover im Sommersemester 2021 unter Corona-Bedingungen online gehalten wurden. Wir danken allen Beiträger*innen sehr herzlich, die sich auf das ungewöhnliche Format eingelassen und uns einen aufgezeichneten Vortrag zur Verfügung gestellt haben. Herzlich danken möchten wir auch Prof. Dr. Christoph Dahling-Sander und der Hanns-Lilje-Stiftung als Förderer der Veranstaltung, außerdem den verschiedenen Kooperationspartnern: Dem Haus der Religionen in Hannover, insbesondere Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, der Evangelischen Studierendengemeinde Hannover, insbesondere Pfarrerin Angelika Wiesel, dem Verein Begegnungen – Christen und Juden Niedersachsen e.V., insbesondere Prof. Dr. Ursula Rudnick und Pfarrer i.R. Gerd Brockhaus, der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, insbesondere Superintendent PD Dr. Thomas Kück, sowie dem Verein Weimarer Republik e.V. und der Forschungsstelle Weimarer Republik an der FSU Jena, insbesondere Prof. Dr. Michael Dreyer und Dr. Andreas Braune. Michael Dreyer und Andreas Braune waren es auch, die sich sofort auf unsere Idee, diesen Band zu veröffentlichen, eingelassen und ihn in die Reihe Weimarer Schriften zur Republik aufgenommen haben. Für ihre Zusammenarbeit und die damit verbundene Geduld danken wir ihnen ebenso herzlich wie Katharina Stüdemann und dem Franz Steiner Verlag, in dessen Programm die Reihe – und damit auch der vorliegende Sammelband – erscheint.
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Piper (1928): Die Grundlagen der evangelischen Ethik, Bd. 1, S. V. Barth (1985): Der Römerbrief (Erste Fassung).
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Vorwort
Bei der Durchführung der Ringvorlesung sowie beim Korrekturlesen und der redaktionellen Arbeit für den Sammelband erfuhren wir nicht zuletzt durch die studentischen Hilfskräfte Franziska Weise, Christopher Nagel und Benjamin Teichrib hilfreiche Unterstützung. Ebenso hat uns unsere Institutssekretärin Silvia Hermerding bei der Verwaltung der Veranstaltungszuschüsse und der Werbung für die einzelnen Veranstaltungen auf der Institutshomepage sehr weitergeholfen. Von Herzen bedanken wir uns daher bei allen, die an der Durchführung der Vorlesung, der in diesem Rahmen veranstalteten digitalen Ausstellung Theologen und Künstler*innen für den Frieden und an der Erstellung des vorliegenden Bandes beteiligt waren! Hannover im Sommer 2022 Marco Hofheinz und Hendrik Niether
LITERATURVERZEICHNIS Barth, Karl: Der Römerbrief (Erste Fassung 1919), hg. von Hermann Schmidt (GA, Abt. II/16), Zürich 1985. Piper, Otto: Die Grundlagen der evangelischen Ethik, Bd. 1, Gütersloh 1928.
GLAUBENSKÄMPFE ZWISCHEN DEN ZEITEN Theologische, politische und ideengeschichtliche Konzepte in der Weimarer Republik – Eine Einleitung und zugleich ein Forschungsüberblick Hendrik Niether 1. EINLEITUNG Vor etwa einhundert Jahren vollzog sich in Deutschland in der Folge des Ersten Weltkrieges eine politische Revolution, die die erste Demokratie auf deutschem Boden etablierte. Dieses Ereignis bildete den Ausgangspunkt für ein bewegtes und kontrastreiches Jahrzehnt: Getragen vom Gefühl einer „Epochenwende“ 1 entwickelte sich in der Weimarer Republik eine Geisteskultur zwischen Kriegstraumata und Kulturpessimismus auf der einen Seite sowie technischem Fortschrittsglauben und avantgardistischen Innovationen auf der anderen. In diesem gesellschaftlichen Klima musste sich die Theologie, wie auch die übrigen Geisteswissenschaften, neu (er-)finden, was zu unterschiedlichen ideengeschichtlichen Konzeptionen führte, die den weiteren Verlauf des Jahrhunderts zum Teil bis in die Gegenwart prägten. Dabei ist die allgemeine Vorstellung, dass es sich bei der Weimarer Republik um ein kurzes Präludium des Dritten Reichs handelte, längst nicht ad Acta gelegt. Die kollektive Erinnerung assoziiert die 1920er Jahre vor allem mit den Extremen ideologischer Antagonismen, deren Kampf in Deutschland zunächst der Faschismus für sich entschied, oder auch mit dem exzessiven Tanz auf dem Vulkan, dessen überschwängliche Ekstase in Erwartung eines Neuen in der euphorischen Führerverehrung des Nationalsozialismus aufging. Dabei sollte man die Weimarer Republik freilich nicht allein von ihrem Ende aus betrachten.2 Der vorliegende Band widmet sich diesem schillernden und spannungsgeladenen Jahrzehnt in erster Linie aus theologiehistorischer Perspektive des Protestantismus. Da die protestantische Theologiegeschichte jedoch nicht losgelöst von der politischen, kulturellen und ideengeschichtlichen Entwicklung der Republik von Weimar betrachtet werden kann,3 soll darüber hinaus dem geistigen Umbruch sowie einzelnen Akteur*innen und ihrem Denken gebührend Raum zugestanden werden. 1 2 3
Vgl. Fischer (2002): Protestantische Theologie, S. 9; Härle (1975): Der Aufruf, S. 207–224; Rohls (2014): Die deutsche protestantische Theologie, S. 11–58; Brunner (2020): Volkskirche, S. 44. Vgl. Graf (2011): Der heilige Zeitgeist, S. 11. Vgl. Hoeres (2008): Die Kultur von Weimar; Schwan (1980): Zeitgenössische Philosophie und Theologie, S. 259–285; Brunner (2020): Volkskirche, S. 44.
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Aus diesem Grund integriert der Band auch Beiträge zur (jüdischen) Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs (1886–1929), zum umstrittenen katholischen Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985) und zu Erik Peterson (1890–1960), einem Grenzgänger zwischen Protestantismus und Katholizismus. Ebenso wird in den Beiträgen stets die allgemeine Geisteskultur im Blick behalten, um Einflüsse, Parallelen und Unterschiede zur protestantischen Lehr- und Ideenentwicklung aufzuzeigen. Im Fokus stehen dabei folgende Leitfragen: Welche Ideen und Konzepte gab es in der Theologie und Kirchenpolitik der Weimarer Republik? Wie beeinflussten die politischen, geistigen und interreligiösen bzw. interkonfessionellen Rahmenbedingungen das theologische Denken der Zeit? Und wie gestaltete sich das Verhältnis des Protestantismus zu Demokratie und Kultur der Weimarer Republik? Theologisch gelten die 1920er Jahre als „Achsenzeit“4 bzw. – um es zeitgenössisch zu fassen – als Zeit „zwischen den Zeiten“.5 Im Protestantismus brachten Dialektische Theologie, Religiöser Sozialismus und Lutherrenaissance neue Fragestellungen und Problemlösungen mit sich, die die Theologie des 20. Jahrhunderts grundlegend von der des Kaiserreichs unterschieden. Prominente Theologen wie Karl Barth (1886–1968), Paul Tillich (1886–1965) oder Emanuel Hirsch (1888– 1972) begannen in diesen Jahren ihre akademischen Karrieren, von den politischen und philosophischen Ideen ihrer Zeit ebenso beeinflusst wie von dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Kirche durch Säkularisierung und Pluralisierung.6 Während manche Theologen7 angesichts dieser Herausforderungen resignierten und das Ende der Kirche in ihrer bisherigen Form heraufbeschworen, sprachen andere wiederum verheißungsvoll vom Aufbruch in ein neues „Jahrhundert der Kirche“.8 Indessen darf der Begriff der „Epochenwende“ 1918/19 für die Theologiegeschichte nicht überstrapaziert werden. Für eine Zäsursetzung sprechen zwar grundlegende Veränderungen auf der politischen, mentalen und ideengeschichtlichen Ebene. So endeten mit der Abdankung des Kaisers im Zuge der Novemberrevolution 1918 und der damit einhergehenden Trennung von Staat und Kirche auch die etablierten Formen des landesherrlichen Kirchenregiments sowie die etwa vierhundert Jahre währende Nähe von Thron und Altar. Unter Kirchenvertretern und Theologen führten diese politischen Umgestaltungen zu einer massiven Verunsicherung
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Vgl. Assel (1994): Der andere Aufbruch, S. 15. Vgl. Gogarten (1920): Zwischen den Zeiten, S. 95–101. Vgl. Büttner (2010): Weimar, S. 268f. In dem Beitrag wird im Hinblick auf die Weimarer Republik auf die Verwendung von Begriffspaaren wie „Theologinnen und Theologen“ etc. oder auch auf Gendern verzichtet, da beides die tatsächlichen Verhältnisse der Zeit verzeichnen würde. Die Anzahl der Theologinnen war in den 1920er Jahren gering und das Selbstverständnis der die akademischen Diskurse bestimmenden Akteure von soldatischen, kämpferischen Männlichkeitsidealen und patriarchalen Rollenbildern bestimmt. Vgl. Theweleit (2019): Männerphantasien. Vgl. Dibelius (1927): Das Jahrhundert der Kirche.
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vor dem Hintergrund des allgemeinen, an der Moderne wahrgenommenen Krisengefühls.9 Gleichwohl ist zu konstatieren, dass die Vertreter der jüngeren Theologengeneration die Zäsur 1918/19 in ihrer Selbstwahrnehmung und -historisierung überspitzten.10 Insbesondere in der politischen Haltung des Mehrheitsprotestantismus zeigten sich Kontinuitäten aus dem Kaiserreich, blieb doch gerade die nationalprotestantische Mentalität auch nach der Novemberrevolution in erheblichem Maße verbreitet.11 Zudem hatten sich schon im späten 19. Jahrhundert Veränderungen in den theologischen Rahmenbedingungen und Leitparadigmen vollzogen: Bereits seit der Reichsgründung 1870 kritisierte die konservativ-lutherische Seite den Kulturprotestantismus scharf, was nunmehr auch von den Schülern der liberalen Theologen aufgegriffen wurde. Daneben sind auch die Impulse der modernen Religionskritik durch Karl Marx (1818–1883), Ernst Haeckel (1834–1919) oder Friedrich Nietzsche (1844–1900), mit der sich die neue Theologengeneration intensiv auseinandersetzte, ideengeschichtlich dem 19. Jahrhundert zuzuordnen.12 Das gleiche gilt für die einflussreichen Werke Søren Kierkegaards (1813–1855), Fjodor Michailowitsch Dostojewskis (1821–1881) und Lew Nikolajewitsch Tolstois (1828– 1910). Schließlich stellte der Aufstieg der Naturwissenschaften, der für die Herausbildung der theologischen Neuansätze eine zentrale Rolle spielte, ebenfalls eine Kontinuität aus dem 19. Jahrhundert dar. Das vor dem Hintergrund der Technisierung und Industrialisierung neu gewonnene empirische Wirklichkeitsverständnis bedeutete eine Herausforderung für die Theologie, die bereits vor 1918/19 erste Entwürfe unter den Vorzeichen der Religionspsychologie, der Religionsgeschichte, der Sozialethik oder auch der Praktischen Theologie hervorgebracht hatte.13 Die theologischen Neuansätze kamen mithin nicht aus dem Nichts, vielmehr knüpften die jungen Theologen an Sachverhalte und Tendenzen an, die sich bereits seit mehreren Jahrzehnten anbahnten. So gab es nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zwar eine richtungsweisende geistesgeschichtliche Zäsur, doch die Kontinuitäten dürfen nicht übersehen werden. Auch die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts war in der Weimarer Republik nicht plötzlich verschwunden. Vielmehr dominierten ihre Vertreter weiterhin die akademische Bühne.14
9 Vgl. Oelke (2019): Gesamtschau: S. 9f. 10 Vgl. Anselm (2019): Theologische Signatur, S. 125; vgl. zum Konzept der Generationen Graf (2011): Der heilige Zeitgeist, S. 29–45. 11 Vgl. Kurz (2007): Nationalprotestantisches Denken, S. 21–102; Brunner (2020): Volkskirche, S. 44. 12 Anselm (2019): Theologische Signatur, S. 127. 13 Vgl. a.a.O., S. 126f. 14 Vgl. a.a.O., S. 134.
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2. BEGRIFFSGESCHICHTE IM ZEICHEN RADIKALER GLAUBENSKÄMPFE In den wechselseitigen Verhältnissen, Beziehungsgeflechten und Konfrontationen der theologischen Neuansätze untereinander und mit der liberalen Theologie erscheint die Weimarer Republik als eine Zeit radikaler Deutungs- und Glaubenskämpfe. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass theologische und politische Positionierungen oft fließend ineinander übergingen und trotz der prominenten Stellung der Zwei-Reiche-Lehre in der lutherischen Theologie nicht selten zu einer Vermischung beider Welten – der göttlichen und der profanen – führten, selbst bei dialektischen Theologen wie Friedrich Gogarten (1887–1967), die der Alterität Gottes vehement das Wort redeten.15 Um den rechten Glauben wurde so vor dem Hintergrund der vielschichtigen Krise intensiv gestritten und um Deutungshoheiten gerungen, und zwar nicht nur in der protestantischen Theologie, sondern in nahezu allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Insbesondere die Frage nach einer angemessenen Erfassung der Wirklichkeit angesichts ihrer Transzendenz spielte eine zentrale Rolle in den geistigen Auseinandersetzungen der 1920er Jahre.16 Die Aushandlung religiös-konfessioneller Zugehörigkeiten und ihr Verhältnis zu politischen Weltanschauungen und Ideologien erlebte in einer sich immer stärker politisch ausdifferenzierenden Gesellschaft eine neue Dimension. Um die Auslegung wurde erbittert mit Worten gekämpft, zumal sich zum Ende der Weimarer Republik immer mehr abzeichnete, wie sehr Fragen von religiöser und politischer Zugehörigkeit ebenso wie Fragen nach der ethischen Haltung zu Existenzfragen wurden, die sich in der totalitären Ausnahmesituation des Dritten Reiches tatsächlich in die schemenhafte Gegenüberstellung von Freund und Feind aufzulösen schienen, wie Carl Schmitt es in der späten Weimarer Republik beschrieb,17 ohne dass seinem daraus abgeleiteten inhumanen, autoritären, antisemitischen Staats- und Gerechtigkeitsverständnis in irgendeiner Weise zuzustimmen ist, seine Rolle als „Kronjurist“ des Dritten Reiches relativiert oder einer Neuen Rechten gleichsam das Wort geredet werden soll.18 Angesichts der angedeuteten Existenzerfahrung erscheint es gleichwohl angemessen, in der Weimarer Republik von Glaubenskämpfen zu sprechen, die sowohl den religiösen Glauben als auch den säkularisierten „Glauben“ an politische Weltanschauungen und Ideologien einbeziehen, bekommt man doch auf diese Weise einen Einblick in das vielfältige Ausloten des Verhältnisses von Religion und Politik anhand unterschiedlicher theologischer, religionsphilosophischer und politiktheoretischer Akteure. Wohl nicht zufällig erhielt Schmitts Begriff der Politischen Theologie in dieser Zeit seine Ausprägung.19 In seiner theologiehistorischen Kompilation zur Weimarer Republik plädiert Friedrich Wilhelm Graf daher auch in Anlehnung an Schmitts 15 16 17 18 19
Vgl. Goering (2017): Friedrich Gogarten. Vgl. Weinrich (1980): Der Wirklichkeit begegnen. Vgl. Schmitt (1932): Der Begriff des Politischen. Vgl. Koenen (1995): Der Fall Carl Schmitt; Mehring (2009): Carl Schmitt. Vgl. Schmitt (1922): Politische Theologie.
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berühmtes Diktum „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“ dafür,20 theologische Grundbegriffe immer auch als „Leitbegriffe einer ‚gedachten politischen Ordnung‘ zu entschlüsseln“.21 Dies gelte für den theologischen Diskurs der Jahre zwischen 1918 und 1933 in besonderem Maße: „Denn hier streiten früh schon die akademischen Theologen auch um grundlegende Fragen ‚Politischer Ethik‘, und speziell in den sog. Krisenjahren der Republik lässt sich in allen theologischen Lagern eine massive Politisierung des Gottesdenkens beobachten.“ 22
Begriffsgeschichte spielt mithin für die Weimarer Republik eine besondere Rolle. Für Reinhart Koselleck, den historiographischen Grand Seigneur dieser Theorie und Methodik, stellt sie im Sinne einer „begriffenen Geschichte“ ein adäquates Mittel dar, um zu einem differenzierten Geschichtsbild zu gelangen.23 Koselleck wendet seine Begriffsgeschichte ganz spezifisch gegen eine abstrakte Ideengeschichte. Vielmehr ist sie auf den tatsächlichen Sprachgebrauch im sozialen, politischen und rechtlichen Leben ausgerichtet und soll konkrete Erfahrungen und Erwartungen an der Gelenkstelle zwischen sprachgebundenen Quellen und politisch-sozialer Wirklichkeit ausmessen. So konstatiert er im Hinblick auf das Wesen von Grundbegriffen, dass diese mehr böten als bloße Wortbedeutungen, dass sie vielmehr einzelne Bedeutungen zusammenschlössen und höher aggregierten oder dass sie „auf philosophische Systeme, politische Formationen, geschichtliche Lagen, religiöse Dogmen, ökonomische Strukturen, gesellschaftliche Gliederungen u.a.“ abzielten. Aufgrund ihrer Ambiguität seien sie oft umstritten, „weil verschiedene Sprecher ein Deutungsmonopol durchsetzen wollen“.24 Mit Blick auf die Theologie- und Geistesgeschichte der 1920er Jahre zeigt sich in den verdichteten „Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Staates, um die Neuorientierung von Wirtschaft und Wissenschaft, kulturellem Leben und gesellschaftlicher Ordnung“ die Verwendung theologischer Grundbegriffe als ideologisch aufgeladene Kampfbegriffe.25 Vorstellungen vom Kairos, von der Volkskirche, der Theonomie oder den Schöpfungsordnungen zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie von Theologen verschiedener Richtungen in teils ähnlicher, oft aber auch in vollends konträrer Art und Weise angeeignet und gegen die Kontrahenten eingesetzt wurden. Damit erhellen diese Begriffe sowohl die unterschiedlichen theologischen Selbstverständigungsdebatten als auch die Reaktionen der jeweiligen Akteure auf den politischen Wandel und die Etablierung der Demokratie.26 Aus diesen Gründen muss es bei einer Theologie- wie auch bei einer allgemeinen Geistesgeschichte der Weimarer Republik darum gehen, sowohl die Aneignung von Begriffen als auch die Beziehungen einzelner Akteure zueinander auszuloten, 20 21 22 23 24 25 26
A.a.O., S. 43. Graf (2011): Der heilige Zeitgeist, S. 11; vgl. Brunner (2020): Volkskirche, S. 15. Graf (2011): Der heilige Zeitgeist, S. 11. Vgl. Koselleck (2006): Begriffsgeschichten. A.a.O., S. 99. Christophersen (2008): Kairos, S. 3. Vgl. Brunner (2020): Volkskirche, S. 16.
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um die in den jeweiligen Konstellationen erzeugten Denkräume zu erschließen.27 Alf Christophersen hat dies für den Begriff des Kairos und die ambivalente Beziehung zwischen Paul Tillich und Emanuel Hirsch bereits in seiner Habilitationsschrift von 2008 sowie in dem vorliegenden Beitrag eindrucksvoll aufgezeigt. 28 In der Suche nach derartigen Denkräumen hat der Sammelband einen Schwerpunkt, geht es doch in nahezu allen Beiträgen explizit oder implizit um die angezeigten Selbstverständigungsdebatten, Begriffsaneignungen, Personen- und Institutionenkonstellationen sowie die damit verbundenen Diskurse um das moderne Wirklichkeitsverständnis, die menschliche Existenz angesichts der göttlichen Wirklichkeit und das wechselseitige Verhältnis zwischen Individuum, Gemeinschaft, Kirche und Politik. 3. FORSCHUNGSÜBERSICHT ZUR KIRCHEN- UND THEOLOGIEGESCHICHTE IN DER WEIMARER REPUBLIK Seitdem im Jahr 2008 die letzte Bestandsaufnahme der kirchen- und theologiehistorischen Forschung zur Weimarer Republik in der Theologischen Rundschau erschien, auf die wir hier zu unserer Entlastung verweisen,29 hat sich das christentumshistorische Interesse an diesem Jahrzehnt deutscher Geschichte noch einmal mehr „verstetigt und ausgeweitet“.30 Freilich arbeiten viele Publikationen, die sich mit Theologie und Kirche in den 1920er Jahren befassen, weiterhin epochenübergreifend und thematisieren auch das Kaiserreich oder die NS-Zeit, gerade bei Biographien kann dies gar nicht ausbleiben. Gleichwohl verstehen verschiedene Werke diese Zwischenzeit als einen eigenständigen (Zeit-)Raum, dem eine eigene Behandlung gebührt, ohne dabei die Vor- und Nachgeschichte aus den Augen zu verlieren. Besonders hervorzuheben ist der 2019 erschienene erste Band der Reihe Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch, herausgegeben von Siegfried Hermle und Harry Oelke, der sich dem Protestantismus in den Jahren 1918 bis 1933 widmet.31 Den Herausgebern geht es darum, so der Klappentext des Werkes, in einer handbuchartigen Darstellung „einen Überblick über die vielfältige und spannungsvolle Beziehung des Protestantismus zur ersten deutschen Demokratie und deren gesellschaftlicher Erfahrbarkeit im Weimarer Staat“ zu liefern. Nach einem Blick auf die politischen Folgen von Kriegsniederlage und Revolution führen die Autor*innen in die Gruppen und Milieus ein, die die protestantische Wahrnehmung des politischen Umbruchs bestimmten. Es folgen Analysen der politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, denen der Protestantismus ausgesetzt war, sowie der kirchlichen Strukturen. Eine genaue Darstellung der protestantischen Gruppierungen geht darüber hinaus auf die verschiedenen außerkirchlichen Bewegungen der Weimarer 27 28 29 30 31
Vgl. Christophersen (2008): Kairos, S. 7. Christophersen (2008): Kairos. Fitschen (2008): Die Kirchen. A.a.O., S. 119. Hermle/Oelke (2019): Kirchliche Zeitgeschichte, Bd. 1.
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Zeit wie die Jugendbewegung, die Freidenker oder auch die völkische Bewegung ein. Anschließend werden die theologischen Neuansätze sowie die kirchlichen Reaktionen auf die damalige Bildungspolitik und die kulturelle Moderne untersucht. Weitere Themen, die die einzelnen Artikel behandeln, sind die kirchliche Ökumene, die diakonische Arbeit sowie das Verhältnis von Christen und Juden. Insgesamt entsteht so eine vielschichtige Übersicht über den Protestantismus in dieser Teilepoche der kirchlichen Zeitgeschichte. Ein weiteres wichtiges Werk, das nach 2008 erschienen ist und sich ausschließlich mit der Theologiegeschichte der Weimarer Zeit befasst, ist der bereits zitierte Band Der heilige Zeitgeist von Friedrich Wilhelm Graf,32 in dem dieser verschiedene von ihm in den Jahren 1974 bis 2004 verfasste Aufsätze zusammengestellt hat, die sich mit einzelnen Theologen der 1920er Jahre, ihren Biographien und Lehren beschäftigen. Neben Einzelstudien zu liberalen Theologen wie Ernst Troeltsch (1865–1923) und Otto Baumgarten (1858–1934), konservativen Theologen wie Reinhold Seeberg (1859–1935) sowie Theologen der jüngeren Generation wie Friedrich Gogarten, Otto Piper (1891–1982), Paul Tillich, Karl Barth und Hans Joachim Iwand (1899–1960)33 ist insbesondere die über einhundert Seiten umfassende Einführung hervorzuheben, in der Graf eine Übersicht an relevanten Forschungsfragen darlegt und Kernthesen für die Theologiegeschichte der Weimarer Republik formuliert. Hier greift er auf Ansätze der Geschichtswissenschaft zurück, wie Detlev Peukerts Generationenmodell,34 die soziale Milieuforschung oder auch die Institutionengeschichte, und macht diese für die Theologiegeschichte fruchtbar. Grafs eigene theologische und politische Positionierungen werden in den Artikeln stets deutlich, gerade an der Liberalismuskritik Karl Barths arbeitet er sich regelrecht ab.35 Man muss jedoch mit Grafs Ergebnissen nicht en Detail übereinstimmen, um festzustellen, dass sein methodischer Ansatz, verschiedene Intellektuellendiskurse aus unterschiedlichen Milieus zu überschneiden und die Theologiemit der Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte zu verbinden, weiterhin wegweisend ist. Einen dritten Band, den es im Hinblick auf die Theologieforschung zur Weimarer Republik hervorzuheben gilt, ist der im Jahr 2020 von Heinrich Assel und Bruce L. McCormack herausgegebene Sammelband über Karl Barths Verhältnis zu Luthers Lehre und die theologischen Neuansätze, die sich in dem gesetzten Rahmen nach 1918/19 etablierten,36 namentlich die Dialektische Theologie und die Lutherrenaissance. Hier haben sich zwei Schwergewichte der systematisch-theologischen Zeitgeschichtsforschung zusammengetan: McCormack gilt als ausgewiesener Experte des frühen Barth und der Dialektischen Theologie, Assel hat sich eingehend 32 Graf (2011): Der heilige Zeitgeist. 33 Grafs Iwand-Darstellung löste in der Iwand-Forschung nachhaltige Empörung aus. Vgl. u.a. Seim (2002): Friedrich Wilhelm Graf, S. 473–475. 34 Vgl. Peukert (2018): Die Weimarer Republik, S. 25–31. 35 In den 1980er Jahren lösten die hier veröffentlichten Barth-Aufsätze Grafs die sog. HeidelbergMünchen-Debatte aus. Vgl. dazu Holtmann (2007): Karl Barth als Theologe. 36 Assel/McCormack (2020): Luther, Barth and Movements of Theological Renewal.
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mit Protagonisten der Lutherrenaissance befasst. Einzelne Beiträge des Bandes zeigen auf, wie sehr Barth, obwohl reformierter Theologe, Luther rezipierte, sich an ihm orientierte und wie sich diese Orientierung auf seine theologischen Denkwege seit den Römerbrief-Kommentaren auswirkte. Anders als Karl Holl (1866–1926) oder Rudolf Hermann (1887–1962), denen es als Vertreter der Lutherrenaissance darum ging, Luthers Relevanz für die erlebte Gegenwart anhand umfassender Werkanalysen aufzuzeigen, ging es Barth darum, Luther zu zitieren, um seinen eigenen theologischen Anliegen mehr Gewicht zu verleihen. Dies wirkte wiederum auf sein Denken zurück.37 In diesem Sinne wird Barths Lutherrezeption in ein Verhältnis zur zeitgenössischen Lutherforschung gesetzt, doch der Band geht weit darüber hinaus: So befasst er sich in Beiträgen zu Hermann Cohen (1842–1918), Rudolf Otto (1869–1937), Martin Buber (1878–1965) und Martin Heidegger (1889– 1976) auch mit dem philosophischen und interreligiösen Kontext, in dem Barth und die Lutherforschung ihre theologischen und politischen Konzeptionen entwickelten. Dadurch gelingt es, Parallelen und Unterschiede der theologischen Neuansätze in dem breiten Spektrum der Weimarer Geistesgeschichte zu verorten. Als besonderen Anhang zu diesem Sammelband hat Heinrich Assel einen bis dato unveröffentlichten Kommentar Rudolf Bultmanns (1884–1976) zu Friedrich Gogartens Ich glaube an den dreieinigen Gott (1926) aus dem Jahr 1928 ediert.38 Hinsichtlich der Analyse theologischer Grund- bzw. Kampfbegriffe in der Weimarer Republik sind daneben zwei Schriften zu nennen, deren Autoren in diesem Sammelband mit Beiträgen vertreten sind. Das Werk von Alf Christophersen zum Begriff des Kairos fand bereits seine Würdigung.39 Des Weiteren erschien im Jahr 2020 Benedikt Brunners Analyse zum Terminus der Volkskirche,40 die die Zeitspanne von 1918 bis 1960 umfasst, der Zeit der Weimarer Republik aber eine konstitutive Bedeutung im Volkskirchendiskurs zuweist. Angesichts der Trennung von Staat und Kirche im Jahr 1919 bot sich neben den hervorgerufenen existentiellen Ängsten für Kirchenvertreter und Theologen nämlich zugleich die Chance, Kirche neu zu denken. Die Vorstellungen reichten von einer gleichsam basisdemokratisch organisierten Laienkirche bis hin zu einer von oben oktroyierten Reichskirche, die eng an die Tradition der kaiserlichen Kirche gebunden sein sollte. Dabei waren die unterschiedlichen Vorschläge oft an politische Haltungen gebunden, die in den Diskursen um die Kirchenordnung immer wieder an die Oberfläche kamen. In diesem Sinne weist Brunners Darstellung weit über binnenkirchliche Auseinandersetzungen hinaus, rückt das Verhältnis der Akteure zur staatlichen Verfassung doch ebenso in den Blick wie kulturpolitische und gesellschaftsgestalterische Ansichten einzelner Gruppen, Theologen und Kirchenvertreter. 37 Vgl. Pöder (2020): Luther’s Lectures on Romans; Theißen (2020): Barth’s Explicit Reception; vgl. auch Busch (2015): Getroste Verzweiflung. 38 Rudolf Bultmanns unpublizierter Kommentar (1928) zu Friedrich Gogartens „Ich glaube an den dreieinigen Gott“ (1926), ediert von Heinrich Assel, in: Assel/McCormack (2020): Luther, Barth and Movements of Theological Renewal, S. 233–259. 39 Christophersen (2008): Kairos. 40 Brunner (2020): Volkskirche.
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Von den zahlreichen Biographien, die sich freilich nicht ausschließlich, aber auch mit der Weimarer Republik befassen, seien hier exemplarisch ebenfalls einige benannt, die sich mit Theologen und christlichen Akteuren befassen, die in dieser Zeit eine gewisse Wirkung entfalteten. So setzt sich André Fischer mit der politischen Ethik von Paul Althaus (1888–1966) auseinander,41 der wie Holl, Hermann und Hirsch einer der führenden Vertreter der Lutherrenaissance und prägender Lutherforscher der unmittelbaren Vergangenheit war. Die Arbeit fokussiert explizit auf die Weimarer Republik. Mit seiner volksmissionarischen Konzeption stellte Althaus einen herausragenden Vertreter eines Protestantismus dar, der aufgeschlossen auf die völkische Bewegung zuging und eine große Anfälligkeit für die NSIdeologie aufwies. Seine politische Ethik zeigte dabei nicht nur theoretische Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus, sondern ließ gleichzeitig erkennen, welche praktischen Hoffnungen er in die sog. Nationale Revolution setzte. Zugleich lassen sich bei Althaus aber auch Elemente der Resistenz hinsichtlich einer solchen Vereinnahmung nachweisen, die Fischer auf dessen „altkonservativ-christliche Haltung“ zurückführt.42 Sehr detailliert setzt sich der Verfasser mit den politischen Implikationen der Althausschen Theologie auseinander, was zu einem differenzierten Ergebnis führt, ohne dabei zu sehr ins Apologetische abzugleiten. Ähnliches lässt sich für andere Theologen-Biographien sagen, die in den letzten Jahren erschienen sind. Die Auslotung von Anfälligkeiten für und Resistenzen gegen den Nationalsozialismus spielt bei kontroversen Haltungen, die sich nur schwer in einfache Schuld- oder Oppositionsnarrative einpassen, eine wichtige Rolle, können wir doch gerade aus ambivalenten Verhaltensmustern, die sich nicht auf eindeutige Identitätskonstruktionen zurückführen lassen, viel lernen. So setzt sich auch die Dissertation von Timothy Goering über Friedrich Gogarten mit einer umstrittenen Persönlichkeit der theologischen Zeitgeschichte auseinander, die in der Weimarer Republik an verschiedenen Schnittstellen zentrale Bedeutung erlangte.43 Denn einerseits schrieb sich Gogarten als führender Vertreter der Dialektischen Theologie in die Theologiegeschichte ein. Anderseits versuchte er sich seit den späten 1920er Jahren daran, ähnlich wie Althaus, die Einheit von Evangelium und Volkstum schöpfungstheologisch zu begründen. Goerings Studie ist jedoch mehr als ein biographischer Beitrag zur Geschichte des Protestantismus: Er rekonstruiert die Geschichte eines Religionsintellektuellen mit all seinen Ambivalenzen, indem er die verschiedenen gesellschaftlichen Rollen Gogartens historisch-kritisch erschließt. Vor diesem Hintergrund zeichnet er in dem Abschnitt seiner Arbeit zur Weimarer Republik das Netzwerk der Dialektischen Theologie von ihrer Entstehung über ihren Zenit bis zum Auseinanderbrechen in den frühen 1930er Jahren aus der Perspektive Gogartens detailliert nach. Ein weiterer kontrovers diskutierter Vertreter des Protestantismus, über den jüngst eine umfassende Biographie erschien, ist Hans Meiser (1881–1956), der frühere Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayerns. In den ersten 41 Fischer (2012): Zwischen Zeugnis und Zeitgeist. 42 Vgl. a.a.O., S. 698. 43 Goering, Timothy (2017): Friedrich Gogarten.
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Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg noch als Gegner des Dritten Reichs wahrgenommen, galt er in den Erinnerungsdiskursen der letzten Jahre überwiegend als NS-Bischof und überzeugter Antisemit. Beiden Pauschalurteilen setzt Nora Andrea Schulze eine Biographie entgegen, die umfassend und differenziert zwischen den Polen auszutarieren sucht.44 Auf diese Weise entwirft sie ein vielschichtiges Bild von Meiser, der sich gegenüber dem Nationalsozialismus zwischen lutherischer Untertanenmentalität, kirchlicher Realpolitik und kritischer Opposition bewegte. Ähnlich ambivalent hatte er sich auch schon in der Weimarer Republik verhalten: Zwar war er der Demokratie gegenüber zunächst aufgeschlossen, doch die als antikirchlich wahrgenommene sozialdemokratische Politik und der Versailler Vertrag veranlassten ihn zu scharfen Protesten gegen die neue Ordnung. In der Endphase der Republik kritisierte er schließlich den vermeintlichen Verfall von Gesellschaft und Kultur, der darauf zurückzuführen sei, dass die Demokratie wegen ihrer mangelnden Fundierung im Christentum nicht dazu in der Lage wäre, ihrer Ordnungsfunktion nachzukommen. Durch das genaue Ausbalancieren der (kirchen-)politischen Haltungen Meisers gelingt es Schulze aufzuzeigen, warum seine Person im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte so unterschiedliche erinnerungspolitische Reaktionen hervorrufen konnte. Weniger differenziert geht dagegen Paul Silas Peterson in seiner historischen Einordnung Karl Barths in die soziopolitischen, kulturellen und ekklesiologischen Kontexte der Jahre 1905 bis 1935 vor.45 Seine Recherchen und die darauf basierenden Ausführungen erscheinen selektiv darauf ausgerichtet, Barth in die Tradition eines antiliberalen, antidemokratischen, pangermanisch-völkischen Nationalismus einzuordnen, der sich ebenso rassistisch äußere, wie er Affinitäten für den Nationalsozialismus aufweise. Selbst Barths frühes Bekenntnis zum Religiösen Sozialismus bzw. zur Sozialdemokratie deutet Peterson als einen radikalen Sozialismus, der seinen frühen Hang zum Totalitarismus offenbare. Dabei unterscheidet der Verfasser nicht zwischen theologischem und politischem Antiliberalismus und kommt so zu dem Schluss, dass Barth autoritäre Regime bevorzugt habe, weshalb sein Engagement für die Bekennende Kirche in den frühen 1930er Jahren lediglich als ein gegen den Reichsbischof Ludwig Müller (1883–1945) gerichtetes politisches Kalkül zu verstehen sei, während er den Aufstieg der Nationalsozialisten eigentlich begrüßt habe. In seiner Argumentation blendet Peterson indessen Äußerungen Barths aus, die nicht in dieses Bild passen. Freilich kann Barth, wie so vielen seiner Zeitgenossen, der Vorwurf gemacht werden, sich zu wenig öffentlich für die Weimarer Demokratie stark gemacht zu haben. Aber Peterson geht weit darüber hinaus, wenn er Barth zum Steigbügelhalter der Nationalsozialisten macht, zeigt sich in Barths Lehre doch ganz klar die Ablehnung totalitärer, völkischer und nationalistischer Tendenzen innerhalb der politischen Sphäre.46
44 Schulze (2021): Hans Meiser. 45 Peterson (2018): The Early Karl Barth. 46 Vgl. Detmers (2022): Karl Barth 1933–1935; McCormack (2006): Theologische Dialektik und kritischer Realismus.
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Wiederum ganz anders gelagert ist die jüngst erschienene Biographie Claudius Kienes über den Zentrumspolitiker Karl Spiecker (1888–1953).47 In genauer Abwägung der Quellenbefunde stellt Kiene Spieckers politisches Leben als eine alternative Geschichte der christlichen Demokratie dar, indem er besonders für die Weimarer Jahre dessen Bedeutung als zu Unrecht vergessenen Demokraten und Aktivisten unterschiedlicher republikanischer Vereinigungen hervorhebt, sei es als Pressechef von Reichskanzler Wilhelm Marx (1863–1946), als Publizist und Verlagsleiter des Zentrumsorgans Germania oder als Sonderbeauftragter zur Bekämpfung des Nationalsozialismus unter Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970). Innerhalb des politischen Katholizismus gehörte Spiecker dem linken Flügel an, was seine Parteikarriere durchaus erschwerte. Kiene zeichnet Spieckers Lebensweg detailliert nach und stellt ihn überzeugend als Akteur einer deutschen Demokratiegeschichte der Zeit vor 1945 dar. Mit der Geschichte des politischen Katholizismus in der Weimarer Republik hat sich zudem Stefan Gerber eingehend beschäftigt.48 In seiner Habilitationsschrift Pragmatismus und Kulturkritik von 2016 gibt Gerber einen Überblick über die katholischen Diskurse zum politischen Wandel 1918/19 in Deutschland und zur daraus hervorgehenden Demokratie. Dabei fokussiert er die weltanschauliche Fundierung der Debatten zum einen auf den Begriff des Pragmatismus, zum anderen auf die Erklärung der Revolution und die Versuche einer Rechtfertigung der aus diesem Bruch mit der bestehenden Ordnung hervorgegangenen Republik. Nach anfänglichen Ängsten entwickelte der politische Katholizismus angesichts der neuen Herausforderungen zunächst ein pragmatisches Verhältnis zur Idee der Republik, der seit Mitte der 1920er Jahre von einem Selbstbild der schöpferischen Mitte abgelöst wurde, um konservative und republikanische Vorstellungen innerhalb des politischen Katholizismus zu versöhnen. Mit seiner Schrift leistet Gerber einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Kommunikation des Katholizismus, der nach dem Kulturkampf im Kaiserreich in der Weimarer Republik eine Chance sah, sich neu zu positionieren und von der Revolutionsangst über ein pragmatisches Verhältnis zu einer gleichsam positiven Beziehung mit der neuen Ordnung zu gelangen. 4. ZU DEN BEITRÄGEN DIESES BANDES Die Bestandsaufnahme zur theologie- und kirchenhistorischen Forschung über die Weimarer Republik macht deutlich, welches Erkenntnispotential in dieser kurzen zeitgeschichtlichen Periode für die Geistes-, Ideen- und Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts steckt. Nicht umsonst wird das Deutschland der 1920er Jahre auch als ein „Ideenlabor“ der Moderne bezeichnet.49 Vor diesem Hintergrund versucht der vorliegende Band, zumindest einen repräsentativen Teil der geistes- und theologie-
47 Kiene (2020): Karl Spiecker. 48 Gerber (2016): Pragmatismus und Kulturkritik. 49 Vgl. Graf (2011): Der heilige Zeitgeist, S. 3f.
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geschichtlichen Probleme und Errungenschaften abzubilden, der sich in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Dritten Reich entwickelte, um nicht zuletzt aufzuzeigen, auf welch unterschiedlichen Ebenen die kirchenhistorische Perspektive etwas zu einer umfassenderen Wahrnehmung der Weimarer Zeit beitragen kann. Da die geistige Neuausrichtung nicht nur die Theologie und die Kirchenordnungen, sondern sämtliche Bereiche in Politik, Gesellschaft und Kultur betraf, versammelt der Band nicht nur Theolog*innen und Kirchenhistoriker*innen, sondern ebenso Zeithistoriker*innen, Philosoph*innen und Politikwissenschaftler*innen, um gleichsam in einen Dialog zwischen den Fachrichtungen zu treten. Die einzelnen Autor*innen stehen in diesem Sinne für einen intrareligiösen, interkulturellen und interdisziplinären Ansatz, der sich ebenso mit den theologischen und kirchenpolitischen Debatten beschäftig wie mit den Haltungen der Kirchen und einzelner religiöser Intellektueller zum gesellschaftlichen Wandel, zur demokratischen und geistigen Kultur, zu Krieg und Ökumene sowie zum aufkommenden Nationalsozialismus. Am Anfang steht mit Claudia Lepps Beitrag eine Übersicht über das Verhältnis des Mehrheitsprotestantismus zur Weimarer Demokratie. Während Kriegsniederlage, Revolution und der Versailler Friedensvertrag für viele protestantische Kirchenvertreter und Theologen wesentliche Traumatisierungen darstellten, die zunächst fundamentale Ängste und eine grundsätzliche Ablehnung der Republik hervorriefen, zeigt Lepp auf, wie sich schließlich doch ein pragmatisches Verhältnis zur Republik entwickelte, zumindest bei den Kirchenleitungen und den liberalen Theologen. Daneben geht sie auch auf alternative Strömungen innerhalb des Protestantismus ein, wie den Pazifismus der Religiösen Sozialisten oder den linken Lutheraner Otto Piper, der sich für ein positives Verhältnis des Christentums zur Demokratie einsetzte. Doch mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus zu Beginn der 1930er Jahre war es um das pragmatische Verhältnis zur Republik gerade bei den Kirchenleitungen schnell geschehen. Die Sehnsucht nach einem nationalen Aufbruch war groß, ebenso die seit 1918 gehegte messianische Hoffnung, ein starker Führer werde Deutschland wieder zu alter Größe führen. Mit seinem Beitrag zur Dialektischen Theologie nimmt Peter Zocher anschließend den zentralen geistigen Umbruch innerhalb der Geschichte des Protestantismus im 20. Jahrhundert in den Blick. Er plädiert dafür, den theologischen Neuansatz als Wort-Gottes-Theologie zu begreifen, da dies den Kern treffe, um den es Karl Barth, Eduard Thurneysen (1888–1974), Friedrich Gogarten, Georg Merz (1892–1959) und Emil Brunner (1889–1966) als Begründer dieser geistigen Bewegung im Wesentlichen ging. Anhand der theologischen Denkwege und biographischen Stationen der genannten Akteure zeichnet Zocher die Geschichte der Dialektischen Theologie in der Weimarer Republik nach und geht dabei sowohl auf die gemeinsamen Grundlagen ein, die diese Theologen zusammenführten, als auch auf die zum Auseinanderbrechen der Gruppe führenden Unterschiede in ihrer Denkweise. Insbesondere Fragen nach dem Stellenwert der Anthropologie und der politischen Ethik bewirkten schließlich das Ende der mit der Dialektischen Theologie eng verbundenen Zeitschrift Zwischen den Zeiten im Jahr 1933.
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Alf Christophersen setzt sich daraufhin mit den beiden anderen theologischen Neuansätzen der Weimarer Republik auseinander, dem Religiösen Sozialismus und der Lutherrenaissance. Bei beiden kann unumwunden von Politischen Theologien gesprochen werden, verknüpften sie ihre Entwürfe doch eng mit politischen Implikationen der Weimarer Gegenwart: auf der linken Seite des Spektrums mit Vorstellungen eines demokratischen, am Christentum ausgerichteten Sozialismus; auf der rechten Seite mit vermeintlich an Luther orientierten völkisch-nationalen, bellizistischen und autoritären Staatsvorstellungen. Im Fokus stehen Paul Tillich und Emanuel Hirsch, die die beiden Richtungen jeweils prominent repräsentierten, sowie ihre jeweilige Aneignung des Kairos-Begriffs. Ebenso geht Christophersen auf die Debatte zwischen Karl Barth und Paul Althaus um die christliche Sozialethik in der frühen Weimarer Republik ein. Anhand dieser Auseinandersetzungen verdeutlicht Christophersen die Relevanz der Konstellationsforschung für die Erschließung der Weimarer Theologie- und Geistesgeschichte. Im Anschluss daran beschäftigt sich Benedikt Brunner mit dem Begriff der Volkskirche und seiner Formierung in der Weimarer Republik. Einen Schwerpunkt setzt er dabei auf Debatten innerhalb der Hannoverschen Landeskirche. So hatte sich in Göttingen unter dem Systematiker Arthur Titius (1864–1936) der sog. Volkskirchenbund gegründet, der sich für eine Laienkirche und die Volksmission einsetzte, um der Kirche neue Orientierung angesichts des politischen Umbruchs 1918/19 zu geben. Zudem nimmt Brunner die Debatte zwischen Otto Dibelius (1880–1967) und Karl Barth Ende der 1920er Jahren unter den Vorzeichen der ecclesia triumphans und der Dämonie der Kirche genauer in den Blick, um die Relevanz des Volkskirchenbegriffs als Forschungsparadigma für eine differenzierte Begriffsgeschichte der Weimarer Republik aufzuzeigen. Auf den christlichen Pazifismus des liberalen und religiös-sozialistischen Protestantismus in der Weimarer Republik und seine Implikationen für die Gegenwart geht Reinhard Gaede in seinem Aufsatz ein, indem er zum einen den grundsätzlichen Widerspruch zwischen den beiden in den 1920er Jahren existierenden ethischen Konfessionen – Nationalprotestantismus und Friedensbewegung – thematisiert und damit zugleich auf das Dilemma der Kirchen verweist, zwischen Herrschaftslegitimation und christlichem Liebesgebot zu changieren. Mit Blick auf die Gegenwart sieht Gaede für die Kirche die Chance, sich aufgrund des zunehmenden Verlustes herrschaftslegitimierender Funktionen auf ihre kritische Funktion zu konzentrieren, was verschiedene liberale Theologen bereits 1918 erkannt hätten. So habe die Kirche in den vergangenen einhundert Jahren eine erstaunliche Lernstrecke hinter sich gelegt, weg von der Legitimation eines gerechten Krieges hin zum Einsatz für einen gerechten Frieden, deren Beginn in der Weimarer Republik lag. Während sich die meisten Beiträge des Bandes überwiegend mit Männern als Akteuren befassen, da diese sowohl die Universitätstheologie als auch die Kirchenleitungen zu dieser Zeit schlichtweg dominierten, setzt sich Katharina Kunter in ihrem Aufsatz eingehend mit der Schriftstellerin Ricarda Huch (1864–1947) auseinander. Huch stand in der Tradition der historischen Erzählliteratur, in ihren Werken zeigt sich sowohl ein an der Romantik orientiertes Ideal eines sich aus den
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Fehlentwicklungen der Geschichte neu zu behauptenden Menschen als auch die Suche nach religiösem Halt. Bereits 1916 veröffentlichte sie mit Luthers Glaube eine bewusst vollzogene Hinwendung zum Protestantismus. Es folgten weitere Werke, in denen Huch sich mit dem evangelischen Christentum im Sinne einer gleichsam rückwärtsgewandten geistigen Erneuerung beschäftigte. Kunter zeichnet ein ambivalentes Bild von einer zugleich progressiven wie konservativen Literatin auf der Suche nach neuer Orientierung in der veränderten Welt. Die Suche nach einem Neuen Denken beschäftigte auch den jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig (1886–1929) in seinem wegweisenden Werk Der Stern der Erlösung,50 das heute zu den philosophischen Klassikern des 20. Jahrhunderts zählt. In ihrem Beitrag setzt sich Susanne Möbuß mit den Implikationen dieses zwischen Religionsphilosophie, Neukantianismus und Lebensphilosophie changierenden Autors auseinander, der zu den wichtigsten Exponenten der jüdischen Renaissance gehörte und der in seiner sprachlichen und ideengeschichtlichen Wirkkraft oft mit Karl Barth verglichen wurde.51 Möbuß verdeutlicht, dass Rosenzweig philosophisches Denken als eine permanente Suche nach einer neuen Form begriff, die die Erfahrungen der vergangenen Zeit und das Zukünftige adäquat ausdrücken und abstrahieren könne und in den Dienst menschlicher Existenz gestellt werden sollte. Sein Werk hat nicht zuletzt deshalb besondere Bedeutung, da es gleichsam die existenzphilosophische Diskussion eröffnete,52 die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre mit Martin Heideggers (1889–1976) Sein und Zeit53 einen Höhepunkt erlebte und von Theologen wie Rudolf Bultmann euphorisch begrüßt wurde. Auch wenn die zeitgenössische Theologie kaum mit Rezensionen auf Rosenzweigs Werk reagierte,54 hatte es mit seinem gläubigen Realismus doch erheblichen Einfluss auf das Denken jüngerer Theologen dieser Zeit. So schrieb Otto Piper in einer der wenigen Besprechungen des Werks von protestantischer Seite, die Kollegen könnten sich bei Rosenzweig vieles an „Rat und Anregung holen [...], etwa in den feinsinnigen Ausführungen über das Herbeizwingen des Reichs, über das Gebet zur angenehmen Zeit oder in den Analysen der Weltreligionen“.55 Ein ähnlich schillernder geistiger Akteur auf der Weimarer Bühne wie Rosenzweig war der Theologe Erik Peterson, der 1930 vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierte. Roger Mielke befasst sich mit Petersons Theologie aus protestantischer Perspektive, verweist zugleich aber darauf, dass dessen theologiegeschichtliche Bedeutung auf katholischer Seite gemeinhin als wesentlich höher eingeschätzt wird. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Auseinandersetzung mit Petersons Theologie unter dem Vorzeichen der Konkretion, die Peterson im Dogma von der Menschwerdung des Logos sah. Mit seinen Ansichten stand Peterson jedoch quer zu sämtlichen Prämissen des zeitgenössischen Neuprotestantismus, des50 51 52 53 54 55
Rosenzweig (2021): Der Stern der Erlösung. Vgl. Graf (2011): Der heilige Zeitgeist, S. 49f. Vgl. Schmied-Kowarzik (2000): Franz Rosenzweig, S. 32f. Heidegger (1927): Sein und Zeit. Vgl. Graf (2011): Der heilige Zeitgeist, S. 49f. Piper (1922): Rez. zu Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung.
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sen Vertreter aller Richtungen ihm katholisierende Neigungen vorwarfen. Nach seiner Konversion zum Katholizismus und der Emigration nach Italien setzte sich Peterson intensiv mit dem katholischen Staatsrechtler Carl Schmitt auseinander, dem er vorwarf, das Politische zu totalisieren, während er selbst das trinitarische Dogma des Christentums als Differenzlehre verstand, die dem Totalen grundsätzlich entgegenstehe. Die Korrespondenz zwischen Peterson und Schmitt spielt auch in dem Beitrag Reinhard Mehrings zu Schmitts Politischer Theologie im Kontext seiner theologischen Gesprächspartner eine Rolle. Der Verfasser versteht Schmitt als einen apokalyptischen Religionsintellektuellen, der dem Katholizismus einerseits wichtige Ideen seines Staatsverständnisses entnahm, ihm andererseits jedoch gerade auch moralisch-ethisch fernstand. Aufgrund seiner autoritären Staatslehre entwickelte sich Schmitt zu einem der führenden Staatsjuristen des Dritten Reiches. Gleichwohl setzte er sich Zeit seines Lebens auch mit Kritikern seiner Politischen Theologie wie Erik Peterson auseinander. Später, in der Bundesrepublik, führte er ebenso intensive Debatten mit seinem Schüler, dem liberalen Katholiken und Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019), der den Begriff der Politischen Theologie unter demokratischen Vorzeichen ebenfalls aufnahm. In seinem den Band abschließenden Aufsatz analysiert Marco Hofheinz die kritische Auseinandersetzung des Theologen Otto Piper mit den Werken seines Kollegen Alfred de Quervain (1896–1968) in den frühen 1930er Jahren. Dabei ging es in erster Linie um den theologischen Kampfbegriff der Schöpfungsordnung, der gemeinhin von der Lutherrenaissance aufgegriffen und zur Legitimation autoritärer Staatsformen verwendet wurde. In diesem Beitrag zeigt sich jedoch eine ganz andere Konstellation, kritisierte der Lutheraner Piper doch den vermeintlich unreflektierten Gebrauch des Begriffs durch den Reformierten de Quervain. Dabei war auch Piper kein Vertreter der Lutherrenaissance, vielmehr war er ebenso wie de Quervain dem religiös-sozialistischen Umfeld zuzurechnen, das sich der Kritik der Dialektischen Theologen an der Verweltlichung der Theologie gegenüber offen zeigte. Doch obwohl die beiden in vielerlei Hinsicht die gleichen theologischen und politischen Interessen vertraten, konnte Piper den Gebrauch des Schöpfungsordnungsbegriffs durch de Quervain nicht nachvollziehen und kritisierte ihn dafür scharf. Auch in dieser Auseinandersetzung ging es mithin um die Frage der gemäßen Aneignung eines theologischen Grundbegriffs und seiner politischen Instrumentalisierung. Dabei zeigt Hofheinz an dem Beispiel zum einen, dass eine solche Instrumentalisierung auch quer zu gängigen konfessionellen Zuordnungen erfolgen konnte; zum anderen wird deutlich, dass sich die Dialektische Theologie, der sich beide Akteure auf unterschiedliche Weise verbunden fühlten, vor dem Kirchenkampf des Dritten Reichs nicht einfach zu einer Opposition gegenüber der Ordnungstheologie und insbesondere der Lehre von den Schöpfungsordnungen stilisieren lässt. In den unterschiedlichen Beiträgen, die hier versammelt sind, geht es nicht zuletzt auch um die Frage der Implikationen der Weimarer Geistesgeschichte für die Gegenwart. Angesichts aktueller krisenhafter Entwicklungen wie der Konjunktur nationaler und antidemokratischer Bestrebungen seit der sog. Flüchtlingskrise
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2015/16, der zurzeit grassierenden Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges liegen Vergleiche zwischen den 1920er Jahren und der Gegenwart nahe, obschon im Hinblick auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ebenso starke Unterschiede zwischen Damals und Heute bestehen wie hinsichtlich der globalen Verflechtungen. So kann die Geschichte zwar im Sinne eines konkreten Vergleichs nicht einfach etwas lehren,56 allerdings erscheint die Vergleichbarkeit auf einer abstrakten Ebene durchaus plausibel: Die Weimarer Republik hat gezeigt, welch fragiles Gut die Demokratie ist und wie schnell sie den Boden der gesellschaftlichen Akzeptanz verlieren kann. Dabei ist auch die Demokratiefeindschaft, die das Weimarer System in den frühen 1930er Jahren zu Fall brachte, nicht mehr dieselbe wie damals: „Gefährdet wird die westliche Demokratie heute vor allem durch Demokraten, die ein allzu simples Verständnis von Demokratie pflegen.“57 Von daher ist zwar eine direkte Vergleichbarkeit nicht möglich, wohl aber weisen die Beiträge des Sammelbandes ebenso tragbare wie zu verwerfende Ideen und geistige Traditionslinien in Bezug auf Demokratie, Religion und Philosophie von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart auf. Im Hinblick auf die Christentumsgeschichte hat sich gezeigt, wie lang der Weg der Kirchen in Deutschland zur Demokratie war,58 obgleich sich freilich nicht nur die Kirchen mit der Demokratie schwertaten.59 Doch während sie sich heute in der Pflicht sehen, sich im Sinne der christlichen Botschaft für Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Frieden und Versöhnung einzusetzen, waren sie in der Weimarer Republik von einer solch positiven Haltung zum demokratischen Staatswesen und seinen Werten noch weit entfernt. LITERATURVERZEICHNIS Anselm, Reiner: Theologische Signatur, in: Siegfried Hermle, Harry Oelke (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch, Bd. 1: Protestantismus und Weimarer Republik (1918–1932), Leipzig 2019, S. 124–147. Assel, Heinrich/McCormack, Bruce L. (Hg.): Luther, Barth and Movements of Theological Renewal (1918–1933), Berlin/Boston 2020. Ders.: Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), Göttingen 1994. Braun, Hermann/Riedel, Manfred (Hg.): Natur und Geschichte. Stuttgart 1967, S. 196–219. Brunner, Benedikt: Volkskirche. Zur Geschichte eines evangelischen Grundbegriffs (1918–1960), Göttingen 2020. Busch, Eberhard: Getroste Verzweiflung. Dialektische Theologen und Martin Luther, in: Eberhard Busch: Barth – ein Porträt in Dialogen. Von Luther bis Benedikt XVI., Zürich 2015, S. 13–37.
56 Von Reinhard Koselleck stammt das berühmte Diktum: „Die Geschichte lehrt nur, daß sie nichts lehrt.“ Zur Sentenz Historia Magistra Vitae vgl. neben Kosellecks gleichnamigem Aufsatz (in: Ders [1979]: Vergangene Zukunft, S. 38–66) auch die Darstellung von Karl Barths Geschichtsrezeption entlang dieses Leitmotivs durch Freudenberg (1997): Karl Barth. 57 Winkler (2018): Weimar 1918–1933, S. III. 58 Vgl. Scheliha (2013): Protestantische Ethik, S. 154. 59 Vgl. Richter (2020): Demokratie.
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ZWISCHEN ANTIPATHIE UND PRAGMATISMUS Protestantismus und Demokratie in der Weimarer Republik Claudia Lepp Die bürgerlichen Freiheits- und Menschenrechte und damit die normativen Grundlagen des freiheitlich-demokratischen Staatswesens zählten lange nicht zum Wertekosmos des deutschen Mehrheitsprotestantismus. Liberale parlamentarische Demokratie und evangelische Staatsethik fanden erst spät zusammen. Angesichts eines pessimistischen Menschenbildes vertrat der Protestantismus lange das Leitbild eines christlichen autoritären Staatswesens. Hier setzte erst in der zweiten deutschen Demokratie ein allmählicher Lernprozess ein. Mit dem politischen und wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik begann seit den 1950er Jahren in Westdeutschland die protestantische Distanz zur Demokratie allmählich abzunehmen. In der Weimarer Republik hingegen dominierte trotz einiger evangelischer Vernunftsdemokraten eine antidemokratische Mentalität. Eine politische Beheimatung der deutschen Protestantinnen und Protestanten in der Republik fand nicht statt; Nation und Demokratie wurden von ihnen nicht miteinander verbunden. 1. EIN SCHLECHTER START: VERLUSTE – VERLETZUNGEN – ÄNGSTE Die Beziehung zwischen evangelischem Christentum und der ersten Demokratie auf deutschem Boden hatte einen schlechten Start. Die Jahre 1918 und 1919 waren für die circa 40 Millionen, mehrheitlich nationalkonservativen Protestanten im Deutschen Reich geprägt von traumatischen Umbruchserfahrungen, massiven Kränkungen und starken Verlustgefühlen.1 Der Krieg, von dem sich der deutsche Protestantismus 1914 eine religiöse Erneuerung und eine nationale Wiedergeburt der Deutschen erhofft hatte, war verloren.2 Für den Verrat, ohne den eine deutsche Niederlage nicht vorstellbar schien, machte man Kommunisten, Juden und Sozialdemokraten verantwortlich. Die Dolchstoßlegende wurde von der protestantischen Presse eifrig verbreitet und entwickelte sich zu einem zentralen Bestandteil der nationalprotestantischen Agitation 1
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In der Geschichtswissenschaft werden seit einigen Jahren verstärkt Gefühle als soziale Praktiken analysiert. Zu den emotionsgeschichtlichen Ansätzen vgl. Verheyen (2010): Geschichte der Gefühle. Der folgende Beitrag nimmt Emotionen als gesellschaftlich wirksame Kräfte mit in den Blick, ohne streng einem emotionsgeschichtlichen Ansatz zu folgen. Vgl. zum Folgenden Lepp (2020): Krisendiagnose; Dies. (2020): Protestantismus.
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gegen die Weimarer Republik. Hinzu kam, dass der Versailler Friedensvertrag und insbesondere die These von der Alleinschuld der Deutschen am Ausbruch des Krieges nationalkonservative Protestanten zutiefst in ihrem nationalen Ehrgefühl verletzte und ihr Verhältnis zur Republik und deren Erfüllungspolitikern schwer belastete. Zum Jahrestag des Versailler Diktats 1929 empfahl der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss die Veranstaltung von Trauertagen, an denen Flaggen mit Trauerflor gehisst, die Glocken geläutet und liturgische Gottesdienste gefeiert werden sollten. Die Überwindung des Vertragswerks wurde zu einem emotionsgeladenen Dauerthema im Protestantismus. Neben dem verlorenen Krieg war der Verlust der Monarchie und damit auch des Summus Episcopus für die Protestantinnen und Protestanten ein schwerer Schlag. Kaiser Wilhelm II., oberster Bischof aller evangelischen Kirchen auf preußischem Territorium und bisheriger Garant einer deutsch-protestantischen Leitkultur, hatte abgedankt. Am 9. November 1918 wurde die Republik ausgerufen. Es folgten gewalttätige Auseinandersetzungen, als die radikale Linke eine sozialistisch-proletarische Räterepublik durchzusetzen versuchte. Die blutigen Kämpfe erzeugten im deutschen Protestantismus Ängste vor einem Umsturz nach dem Muster der russischen Oktoberrevolution, die von brutalen Christenverfolgungen begleitet gewesen war. Bis Frühjahr 1919 entschieden jedoch die Anhänger einer parlamentarischen Demokratie den Machtkampf für sich. Viele evangelische Theologen hielten die sich formierende Weimarer Republik für das Ergebnis des verräterischen, gewaltsamen Sturzes der Monarchie und damit der von Gott gesetzten Obrigkeit. Der diskreditierende Vorwurf des Verrats traf auch alle protestantischen Befürworter einer republikanischen Neuordnung. So erklärte etwa der Münchner Pfarrer und spätere bayerische Landesbischof Hans Meiser (1881–1956) am 17. November 1918 in einer Predigt: „Wird jetzt auch die erzwungene Freiheit hoch gepriesen, wir dürfen die sittlichen Begriffe nicht verwirren lassen und müssen unserem Volk sagen: Du hast eine Schuld auf dich geladen, die du vor deinem Gott zu verantworten hast und der Unsegen des Treuebruches ist mit dir über die Schwelle in das neue Haus gegangen, das du zimmern willst.“ 3
2. EIN STAAT OHNE GOTT Mit dem Ende des Deutschen Kaiserreichs gerieten alle politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sicherheiten des deutschen Protestantismus ins Wanken. Man wähnte sich in der neuen Republik schutzlos gegenüber der Bedrohung durch die gottlose Sozialdemokratie, den Bolschewismus und den Katholizismus. Kirchenund christentumsfeindliche Aktivitäten während der Revolutionszeit hinterließen dauerhafte Bedrohungsängste. Die am 14. August 1919 in Kraft getretene neue Verfassung des Deutschen Reiches bewahrte jedoch die privilegierte öffentliche Position der evangelischen Kirchen und gab ihnen mit dem Wegfall des Staatskirchentums die Möglichkeit zur 3
Zitiert nach Schulze (2021): Meiser, S. 100.
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selbstständigen Gestaltung ihrer Angelegenheiten. Diese ergriffen sie denn auch schnell und erfolgreich, indes nicht in Form einer demokratischen Neuordnung.4 Dass es zu einer kirchenfreundlichen Variante der Trennung von Staat und Kirche – der sog. hinkenden Trennung – gekommen war, verdankte sich der politischen Kräftekonstellation und auch dem Wirken einflussreicher Protestanten im Verfassungsausschuss, vor allem des ehemaligen Pfarrers Friedrich Naumann (1860– 1919) und des Staats- und Kirchenrechtlers Wilhelm Kahl (1849–1932). Politisch getragen wurde die Neuordnung des Staat-Kirche-Verhältnisses von der katholischen Zentrumspartei sowie von den politisch realistischen protestantischen Kräften in der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Obgleich die Weimarer Verfassung der evangelischen Kirche Wirkungsmöglichkeiten entsprechend ihres volkskirchlichen Anspruches sicherte, zeigte sich diese nur begrenzt zufrieden. So monierte sie die weltanschauliche Neutralität der Republik, die sie als Bedeutungsverlust des christlichen Glaubens empfand. Da die Relevanz des Christentums für Gesellschaft und Kultur nicht mehr eigens hervorgehoben wurde, sahen evangelische Christen Ehe und Familie, Sitte und Moral, Religion und Kirche bedroht. Die kulturelle Vielfalt wurde von ihnen nicht als Bereicherung, sondern als Verlust traditioneller Werte gedeutet. Eine Kultur ohne Religion war für sie unvorstellbar. Da die meisten Protestantinnen und Protestanten weiterhin am Ziel einer homogenen christlichen Gesellschaft festhielten, fiel es ihnen schwer, sich auf den weltanschaulich-religiösen Pluralismus einzustellen, der zur modernen Staatlichkeit gehört.5 Die Weltanschauungsneutralität des Staates wurde als Religionslosigkeit interpretiert, von manchen gar als Religionsfeindschaft.6 Ein Staat ohne Gott konnte nach dem Verständnis der evangelischen Zeitgenossen aber keine autarke und starke Staatsgewalt sein. So erklärte Meiser, inzwischen Mitglied der Kirchenleitung, im Jahr 1929: „Die Mächte, die bisher dem Verderben steuerten, sind machtlos geworden. Der christliche Staat, der von Chlodwig bis 1918 reichte, ist zu Ende. Der Staat ist jetzt grundsätzlich religiös neutral und rein weltlich orientiert. Seinem Wesen nach […] entbehrt er der sittlichen Ideen, der Verankerung seiner Grundsätze in letzten, ewigen Bindungen. Er ist ein Spielball herrschender Majoritäten geworden.“7
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Vgl. hierzu Fix (2019): Ordnungen. Vgl. Nowak (1995): Geschichte, S. 210. Vgl. a.a.O., S. 211. Meiser, Hans: Die Kirche der Zukunft. In: Evangelisches Gemeindeblatt für den Donaugau 3 (1929), Nr. 19 vom 5. Mai 1929, S. 2–5, hier: S. 4, zitiert nach Schulze (2021): Meiser, S. 148.
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3. DIE THEOLOGEN UND DIE REPUBLIK Evangelische Theologen hielten die Weimarer Republik und ihre demokratische Verfassung für ein Produkt westlich-liberalen Denkens und des Einflusses der Sieger von Versailles.8 Sie lehnten das politische und sozialökonomische Ordnungssystem der westlichen Länder als den Deutschen wesensfremd ab. Die demokratische Staatsform traf auf eine protestantische Staatsethik, die mit den politischen Kategorien der Neuzeit wie Verfassung, Gewaltenteilung, Parlamentarismus und Volkssouveränität nichts anfangen konnte. Eine „veritable Theologie der Demokratie, die sich den Erfordernissen der pluralistischen Kultur und den Ansprüchen der parlamentarisch-demokratischen Verfassungsrealität stellte“,9 war unter den sehr zahlreichen neuen theologischen Entwürfen nach 1919 nicht zu finden, so urteilte der Kirchenhistoriker Kurt Nowak zu Recht. Folglich kann sie in diesem Beitrag auch nicht vorgestellt werden. Der Mensch als autonom handelndes, verstandesgeleitetes Individuum hatte in dem von Begriffen wie Krise, Gemeinschaft, Autorität und Ordnung bestimmten, aufklärungsskeptischen oder -feindlichen Denken vieler Theologen keinen hohen Stellenwert. Die Gemeinschaft der Deutschen unter christlichem Vorzeichen und nicht die aus einzelnen Individuen bestehende Gesellschaft war ihr politisches Ideal. Dem Protestantismus gelang es nicht, einen Gesellschaftsbegriff zu entwickeln, der auf dem Ausgleich von Interessen und Meinungen aufbaute. Eine konstruktive Auseinandersetzung mit der neuen demokratischen Ordnung fand insbesondere unter den jungen Theologen nicht statt. Der protestantische Vorbehalt gegenüber demokratischer Volksherrschaft blieb während der Weimarer Republik weitgehend erhalten. Unter den evangelischen Theologen war es nur die kleine Gruppe der Liberalen, darunter Adolf von Harnack (1851–1930), Martin Rade (1857–1940), Otto Baumgarten (1858–1934), Ernst Troeltsch (1865–1923), Hermann Mulert (1879–1950) und Martin Dibelius (1883– 1947), die sich aus Vernunft oder Überzeugung in der und für die Demokratie engagierten. Der einflussreiche liberale Theologe und Kulturphilosoph Troeltsch hoffte darauf, die Demokratie im Deutschen Reich, die er sich als eine mit konservativen Gegengewichten ergänzte „soziale Demokratie“ wünschte, durch einen politisch gereiften Protestantismus stärken zu können.10 Dafür kämpfte er als politischer Publizist, als Mitglied der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung und als parlamentarischer Staatssekretär im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. In seinen in der Zeitschrift Kunstwart zwischen 1919 und 1922 veröffentlichten 56 Briefen forderte Troeltsch das Bürgertum dazu auf, sich auf die politischen Realitäten einzustellen und die Demokratie in Staat und Gesellschaft zu nutzen und zu fördern.11 Doch Troeltsch starb bereits 1923, nachdem ihn ein Jahr zuvor die Ermordung des befreundeten Außenministers 8 9 10 11
Vgl. Tanner (1994): Demokratiekritik, S. 26. Nowak (1995): Geschichte, S. 214. Vgl. a.a.O., S. 228. Die Briefe sind editiert in Troeltsch (2018): Spectator-Briefe.
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Walther Rathenau (1867–1922) durch Rechtsextreme in Bezug auf die politische Entwicklung Deutschlands hatten resignieren lassen. Der Heidelberger Neutestamentler Dibelius bemühte sich 1926 auf der Verfassungsfeier der Stadt Worms, seinen Zuhörerinnen und Zuhörern die demokratische Reichsverfassung als ein deutsches Projekt näher zu bringen. Der Übergang von der Monarchie zur Demokratie sei bereits im Krieg unausweichlich angelegt gewesen, so Dibelius. Die Reichsverfassung habe der neuen Staatlichkeit eine stabile Form gegeben und den Bestand der deutschen Nation von 1871 gesichert. Sie basiere nicht auf fremden, undeutschen Ideen, sondern auf der deutschen Geschichte und deutschem Geist. Die republikanische Verfassung schütze Familie, Kirche und Kultur, anstatt sie zu regulieren.12 Ähnlich argumentierte Dibelius auch in einem als Plakat mit schwarz-rot-goldenem Rand gedruckten Aufruf an die Heidelberger Studentenschaft, das er Ende Juli 1929 anlässlich des zehnten Verfassungsjubiläums aufhängen ließ.13 Dieses Bekenntnis zur demokratischen Reichsverfassung und ihrer integrativen Kraft wurde auf Beschluss des Heidelberger Allgemeinen Studentenausschusses von dessen Schwarzem Brett entfernt.14 Dibelius erkannte, dass politische Bildung in der Schule ansetzen müsse und forderte, dort eine staatsbürgerliche Erziehung auf dem Boden der Reichsverfassung einzuführen.15 Die wenigen Anhänger der Liberalen Theologie standen jedoch unter Beschuss der Vertreter der neuen theologischen Richtungen in der Weimarer Zeit. Eine wesentliche theologische Strömung war die Neuentdeckung Luthers.16 In ihrem Zentrum stand der Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl (1866–1926), dessen Interpretation Luthers von der bürgerlichen Stilisierung des Reformators im Kaiserreich wegführte. Holl stellte die Rechtfertigungslehre wieder in das Zentrum der Theologie. Eine junglutherische Theologengeneration entdeckte im jungen Luther Auswege aus den Paradoxien ihrer eigenen Zeit. In den theologischen Anliegen der Luther-Renaissance spielten die Bestrebungen zu einer Gesundung des nationalen Lebens aus konservativem Geist eine wichtige Rolle. Aber auch die überwiegend jungen Anhänger der Dialektischen Theologie schwächten die wenigen theologisch und politisch Liberalen. Sie wandten sich von den mediatisierten Offenbarungsformen des 19. Jahrhunderts ab, entdeckten für sich die Gottheit Gottes neu und favorisierten eine als absolut gefasste Subjektivität Gottes.17 Der gesellschaftliche Durchbruch der Moderne mitsamt der demokratisch-parlamentarischen Verfassungsrealität ließ sich nicht eins zu eins in das neue theologische Denken integrieren. Mit ihrer radikalen Abwendung von der Welt hielten die Vertreter der Dialektischen Theologie einen prinzipiellen theologischen Abstand von der Politik, obgleich ihre Zentralfigur, der Theologe Karl Barth (1886– 12 Paraphrasiert nach Fix (2021): Theologie, S. 75. 13 Das Plakat ist zu sehen unter https://de.evangelischer-widerstand.de/#/karte/19331934/D7040 (Zugriff: 17. Juni 2021). 14 Vgl. Fix (2021): Theologie, S. 76. 15 Vgl. a.a.O., S. 74. 16 Vgl. https://de.evangelischer-widerstand.de/#/karte/19331934/D7042 (Zugriff: 17. Juni 2021). 17 Vgl. zum Folgenden https://de.evangelischer-widerstand.de/#/zeiten/vor1933/D7045 (Zugriff: 17. Juni 2021).
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1968), selbst politisch die SPD unterstützte. Entschieden wandten sie sich gegen jegliche politische Theologie, wiesen alle aktuellen zeitlichen Bezüge der christlichen Offenbarung zurück und betonten ein grundsätzlich dialektisches Verhältnis der Theologie zur bürgerlichen Kultur sowie zu einem modernaufklärerischen Staatsbewusstsein.18 Den wenigen Religiösen Sozialisten ging die Weimarer Demokratie hingegen politisch und sozial nicht weit genug. Sie forderten deren sozialistische Weiterentwicklung und bekämpften die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Etwas quer zu den theologischen Richtungen seiner Zeit stand der „linke Lutheraner“ Otto Piper (1891–1982).19 Das SPD-Mitglied hoffte auf eine Aussöhnung der Klassen auf sozialistischer Grundlage und eine Stärkung der Republik. Er lehnte indes „jede direkte theologische Begründung des demokratischen Gedankens“ ab.20 Auf der Seite des antidemokratischen Denkens standen die Universitätstheologen Paul Althaus (1888–1966) und Emanuel Hirsch (1888–1972) sowie der Publizist Wilhelm Stapel (1882–1954). Sie vertraten eine Volkstums- und Ordnungstheologie, mit der man den als bedrohlich empfundenen Säkularisierungserfahrungen und den unbewältigten Modernisierungsproblemen in Deutschland zu entfliehen suchte. Auf sie wird später noch einzugehen sein. Festzuhalten ist hier, dass es nicht die neuen theologischen Richtungen waren, die sich die neue Staatsform anverwandelten und sie aktiv verteidigten, sondern der liberale Protestantismus, der als theologisch überkommen galt, sowie – mit Einschränkungen – der Religiöse Sozialismus. 4. KEINE FREUNDE DER REPUBLIK: PFARRER, KERNGEMEINDEN UND VERBÄNDE Die evangelische Pfarrerschaft lehnte in ihrer Mehrheit die ungewohnte demokratische Staatsform innerlich ab. In ihrem grundsätzlichen Unbehagen fühlte sie sich durch die politischen und ökonomischen Krisen der Weimarer Republik immer wieder aufs Neue bestätigt. Und auch ihre eigene, zum Teil schwierige soziale und wirtschaftliche Situation trug dazu bei,21 dass eine innere Verankerung der Weimarer Demokratie ausblieb und stattdessen Wehmut über die verlorene Ordnung oder Sehnsucht nach einer neuen Ordnung, einer antimodernen Moderne, dominierten. Ähnliches galt für den Kern des protestantischen Sozialmilieus, bestehend aus „altem Mittelstand“22 sowie bäuerlichen und adeligen Familien, der Vorbehalte gegenüber dem modernen, säkularen Staats- und Gesellschaftssystem hegte und den politisch-soziale Ängste umtrieben.
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Vgl. Inacker (1994): Transzendenz, S. 97. Graf (2011): Neurealismus, S. 330. Piper (1931): Demokratie, S. 93. Vgl. hierzu Dahm (1965): Pfarrer. Büttner (2008): Weimar, S. 269.
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Auch im evangelischen Verbandswesen ließen sich wenig Sympathien für die Demokratie als Herrschafts- und Gesellschaftsordnung finden. Der Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen, der 1886/87 ins Leben gerufen worden war, um die evangelischen Interessen gegen den Ultramontanismus zu stärken und den innerevangelischen Frieden zu fördern, stand in enger Verbindung mit dem konservativen Nationalprotestantismus.23 Folglich lehnte er die Demokratie und die Weimarer Republik ab, was zum Exodus demokratisch eingestellter Mitglieder führte. Die Vertreterinnen und Vertreter der Inneren Mission, des evangelischen Wohlfahrtsverbands, teilten grundsätzlich die Haltung des Mehrheitsprotestantismus gegenüber der Weimarer Demokratie. Sie hielten sich jedoch mit antidemokratischer Rhetorik zurück, da der Weimarer Wohlfahrtsstaat der Inneren Mission ermöglichte, sich zu einem wichtigen Träger der Wohlfahrtspflege zu entwickeln.24 Trotz reservierter Haltung zur Republik kooperierte die Innere Mission vielfach mit dem Staat, hatte beratend an der Sozialgesetzgebung teil und erschloss sich neue Tätigkeitsfelder.25 Folgerichtig erklärte der Präsident des Central-Ausschusses, Reinhold Seeberg (1859–1935), im Jahr 1925: „Man kann im allgemeinen sagen, dass sie [die Innere Mission, C.L.] mit dem neuen Staat bisher nicht schlecht gefahren ist.“26 Theologisch und politisch zählte Seeberg indes zu den entschiedenen Gegnern der Weimarer Republik.27 5. DER PRAGMATISMUS DER KIRCHENLEITUNGEN Die konservativen evangelischen Kirchenleitungen fanden aus institutionellen Eigeninteressen zu einem pragmatischen Verhältnis zur Republik und kooperierten mit dem demokratischen Staat in praktischen Fragen.28 Dies galt insbesondere für die Stabilisierungsphase der Republik zwischen 1924 und 1930. Otto Dibelius (1880–1967), Generalsuperintendent der Kurmark, schrieb 1926 in seinem programmatischen Bestseller Das Jahrhundert der Kirche in distanziert-neutraler Haltung und voller volkskirchlichem Selbstbewusstsein, dass die evangelische Kirche grundsätzlich „jede Staatsform bejahen und in jeder Staatsform ihren Dienst ausrichten“ könne.29 Der Jurist und konservative Vernunftsrepublikaner Hermann Kapler (1867–1941), der seit 1925 Präsident des preußischen Oberkirchenrates war und damit auch an der Spitze des 1922 gegründeten Deutschen Evangelischen Kirchenbundes stand, vertrat eine pragmatisch-loyale Linie. Je ein Beispiel für den distanziert-neutralen und den pragmatisch-loyalen Kurs seien im Folgenden angeführt. 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. zum Folgenden Bauer (2019): Milieus, S. 119f. Vgl. Friedrich (2019): Diakonie, S. 212f. Vgl. Hammer (2013): Geschichte, S. 231. Zitiert a.a.O., S. 230f. Zu Seeberg vgl. Graf (1998): Seeberg. Zur Haltung der Kirchenleitungen vgl. Wright (1977): Parteien. Dibelius (1926): Jahrhundert, S. 237.
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Einen distanziert-neutralen Kurs fuhr die evangelische Kirche im sog. Flaggenstreit von 1926.30 Dieser Konflikt schwelte seit dem Wechsel von Schwarz-WeißRot des Kaiserreiches zu Schwarz-Rot-Gold in der Weimarer Republik. Im Jahr 1926 führte er zum Sturz des bürgerlichen Kabinetts unter dem DVP-Politiker Hans Luther (1879–1962). Luther hatte die alten Farben Schwarz-Weiß-Rot für die außereuropäischen Auslandsvertretungen zugelassen. Die meisten evangelischen Amtsträger lehnten es seit 1919 ab, an nationalen Feiertagen die kirchlichen Gebäude mit der schwarz-rot-goldenen Reichsflagge zu beflaggen und sich auf diese Weise mit der Republik zu identifizieren. Stattdessen bürgerte sich eine evangelische Flagge ein: ein violettes Kreuz auf weißem Grund. Im Kontext des eskalierenden Flaggenstreits erklärte der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss am 9. Dezember 1926 das violette Kreuz auf weißem Grund zur offiziellen Kirchenfahne für den Deutschen Evangelischen Kirchenbund, mit der auch am Verfassungstag beflaggt wurde. Als einen symbolischen Akt der Loyalität lässt sich hingegen der Umstand deuten, dass sich die evangelische Kirche am 11. August 1929 auf Initiative von Kapler mit Gottesdiensten an den Feierlichkeiten zum zehnten Verfassungstag der Republik beteiligte. Auf Veranlassung des Reichsinnenministers hatte der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss den Landeskirchen eine Mitwirkung empfohlen und auf die dankenswerte verfassungsrechtliche Sicherung der Selbstständigkeit der Kirche und finanzielle Unterstützung durch den Staat verwiesen. Letztlich kam aber nur „eine opportunistisch-taktisch motivierte, halbherzig-formale Teilnahme auf oberster Ebene, die nicht frei von Spannungen war“,31 zustande. Der 11. August wurde nie zu einem wirklichen Feiertag der deutschen Protestanten. Die emotionale Beheimatung in der Weimarer Republik fand nicht statt. Dies zeigt sich auch in der Trauerkultur: Während es zum Tod von Reichspräsident Friedrich Ebert (1871– 1925) seitens der evangelischen Kirche zu keinerlei amtskirchlicher Würdigung kam, waren anlässlich des Todes der evangelischen Kaiserin Auguste Viktoria (1851–1921), der noch immer beliebten ehemaligen Landesmutter und Förderin karitativer und kirchlicher Aktivitäten, zahlreiche Gedenkgottesdienste abgehalten worden.32 Sowohl staatspolitische Pragmatik als auch antidemokratische und antiliberale Ressentiments waren in den Vorträgen auf dem zweiten offiziellen Deutschen Kirchentag, dem Parlament des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes, zu finden, der im Juni 1927 im ostpreußischen Königsberg abgehalten wurde. Erstere Haltung zeichnete den Vortrag des 78jährigen, konservativ-bürgerlichen Vernunftrepublikaners Wilhelm Kahl aus. Der Staats- und Kirchenrechtswissenschaftler, der zugleich Reichstagsabgeordneter für die DVP war, sprach sich in seiner Rede über Kirche und Vaterland für die Loyalität der Christen gegenüber der Weimarer Republik aus und begründete dies juristisch und theologisch. Der Systemumsturz sei
30 Vgl. Lepp (2020): Protestantismus, S. 42. 31 Fix (2003): Protestanten, S. 78. 32 Vgl. Hauschild (2001): Lehrbuch, S. 848.
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durch göttliche Geschichtsführung erfolgt und der Weimarer Staat folglich legitimiert.33 Der junge Erlanger Theologieprofessor Paul Althaus gab hingegen unter dem Titel Kirche und Volkstum allen im Protestantismus der Zeit vorhandenen Antipathien gegenüber dem demokratischen Staat Ausdruck. Er sprach von „schmerzliche[r] Entartung“, „Zersetzung zur Masse“, „Entwurzelung und Entheimatung“ sowie „Überfremdung“.34 Das Volk hingegen wurde für ihn wie für andere evangelische Theologen in der Weimarer Republik zu einer „politisch-theologischen Utopie“ fern der bestehenden Gesellschaftsordnung,35 es wurde „zum neuen ethischen Bezugspunkt der Theologie“.36 Die religiöse Überhöhung des national bestimmten Volkstums wurde mit den Symbolbeständen und Traditionen des evangelischen Christentums verknüpft.37 Prominente Vertreter dieses „nationalkonservativen Luthertums“38 waren Paul Althaus, Emanuel Hirsch, Werner Elert (1885–1954) und Friedrich Gogarten (1887–1967). In Königsberg sprach Althaus vom „Volkstum“ als dem „Mutterschoß arteigenen geistig-seelischen Wesens“.39 Der organologische Volksbegriff wurde dabei dem Staatsgedanken vorgeordnet, dem „Volk“40 galt die christliche Gehorsamspflicht. Evangelische Theologen, aber auch Staatsrechtslehrer, sahen im „Volkstum“41 eine überpositive Ordnung, die gegenüber der liberalen Verfassung Priorität besaß, wodurch letztere de facto delegitimiert wurde. Mit der Volkssouveränität in einer Demokratie hatte dieses metaphysische Volksverständnis nichts zu tun. Die am Ende des Königsberger Kirchentages mit großer Mehrheit verabschiedete Vaterländische Kundgebung versuchte mit staatsethischer Neutralität beiden gerecht zu werden: Sie verband den konservativen Vaterlandsgedanken einschließlich seiner Forderung nach biblisch-lutherisch gebotener Staatsloyalität mit einem jungkonservativen, antirepublikanischen Volkstumsgedanken.42 Im Unterschied zum Vorentwurf enthielt die Endfassung keinen Passus mehr, in dem das rechtmäßige Bestehen der Weimarer Staatsform unterstrichen wurde. 43 Indem sie aber die Loyalität gegenüber dem bestehenden, d.h. dem demokratischen Staat für alle Kirchenglieder zur Gewissenspflicht erklärte, erregte die Kundgebung dennoch die Kritik nationalistischer Theologen. Diese wollten dem Satz: „Sie [die Kirche, C.L.] will, dass jedermann um des Wortes Gottes willen der staatlichen Ordnung untertan“ sei,44 nicht zustimmen. Dennoch stellte die mit großer Mehrheit angenommene 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Abgedruckt in: Vaterländische Kundgebung (1927). Althaus (1928): Kirche, S. 8f. Trauthig (1999): Kampf, S. 384. Scholder (1977): Kirchen, S. 125. Vgl. Leonhardt (2017): Religion, S. 326. Scheliha (2013): Ethik, S. 167. Althaus (1928): Kirche, S. 7. Leonhardt (2017): Religion, S. 329. Tanner (1989): Verstaatlichung, S. 265. Vgl. Bormuth (2007): Kirchentage, S. 240. Vgl. a.a.O., S. 241. Vaterländische Kundgebung (1927), S. 7.
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Erklärung „einen gewissen verbindlichen Bezugs- und Orientierungspunkt für die Haltung der evangelischen Kirche zum Weimarer Staat dar.“ 45 Eine explizite Befürwortung der Demokratie als Staatsform war sie aber nicht. Als Ausdruck eines „Annäherungsprozesses“ zwischen evangelischer Kirche und demokratischem Staat lassen sich auch die zwischen 1923 und 1932 mit den evangelischen Landeskirchen abgeschlossenen Verträge deuten.46 Entsprechend den Abschlüssen von Konkordaten mit dem Vatikan kam es aus Paritätsgründen erstmals auch zu Kirchenverträgen der Länder mit den jeweiligen evangelischen Landeskirchen, die damit als gleichrangige Partner des Staates anerkannt wurden. Zumeist erhielten die evangelischen Landeskirchen in diesen Verträgen die gleichen Rechte, die zuvor schon die katholische Kirche erhalten hatte, u.a. den Erhalt staatlich finanzierter theologischer Fakultäten sowie die kirchliche Mitwirkung bei der Ernennung von Theologieprofessoren und Religionslehrern. Auch die Dotationen des Staates an die Kirche als Kompensation für die Säkularisation von Kirchengut wurden geregelt. Teilweise, so in Preußen, bekam der Staat ein Einspruchsrecht bei der Besetzung kirchenleitender Ämter, sofern staatspolitische Bedenken gegenüber einem Kandidaten bestanden (politische Klausel).47 Kirche und Weimarer Republik hatten damit einen „amtlichen und rechtlichen modus vivendi“ gefunden.48 Der innere Vorbehalt gegenüber der demokratischen Republik konnte bei der Mehrheit der Kirchenchristen jedoch auch mithilfe der Kirchenverträge nicht überwunden werden. Dem „kirchenoffizielle[n] Vernunftrepublikanertum […] fehlte der theologische und staatsethische Unterbau.“49 6. PROTESTANTEN IN DER PARTEIENDEMOKRATIE Eine tiefe Abneigung empfanden viele evangelische Christen insbesondere gegenüber der repräsentativen Parteiendemokratie und dem Parlamentarismus. Die Parlamentarismuskritik des Staatsrechtlers Carl Schmitt (1888–1985) stieß unter ihnen auf breite Zustimmung. Lutherische Theologen wie Althaus und Hirsch bekämpften die parlamentarische Demokratie als kompromisslerisch und geißelten den Eigennutz partikularer Parteiinteressen. Viele Theologen und Kirchenführer nutzten das Stereotyp vom ewigen Parteienhader argumentativ, um durchaus vorhandene Leistungen und Erfolge der Republik zu diskreditieren. Parlamentarische Mehrheitssuche und politischer Kompromiss blieben ihnen innerlich fremd, der Wunsch nach politischer Integration jenseits des Ausgleichs konkurrierender Interessen dominierte. Einer der wenigen Theologen, die dies scharf kritisierten, war Otto Piper. Er forderte von den Christinnen und Christen ein aktives politisches Engagement in einer Partei, in der sie dann mit Hinweis auf ihre Partikularität mäßigend auf die 45 46 47 48 49
Bormuth (2007): Kirchentage, S. 229. Dies tut Bormuth, a.a.O., S. 243. Zur Entstehung des Vertrages vgl. Koch (1999): Kirche. Smend (1973): Protestantismus, S. 5. Nowak (1999): Weg, S. 423.
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politischen Auseinandersetzungen wirken sollten.50 Die evangelischen Kirchenleitungen verstanden sich selbst als über den Parteien stehend. Das bedeutete aber nicht, dass sie sich nicht zu politischen Fragen äußerten.51 Nach Piper war die evangelische Kirche weitgehend selbst zur Partei geworden und habe innerhalb der Weimarer Gesellschaft Feindbilder noch verstärkt.52 In einer überparteilichen Position sahen viele Protestantinnen und Protestanten ihren Ersatzkaiser, Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847–1934), der die Einheit des Volkes repräsentieren sollte. Für die Wahl des Monarchisten, Militaristen und evangelischen Christen Hindenburg ergriffen protestantische Verbände, die Mehrheit der Kirchenpresse und viele evangelische Pfarrer 1925 beherzt Partei. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) hatte den Kriegshelden im zweiten Wahlgang gegen den von der SPD unterstützten Zentrumspolitiker Wilhelm Marx (1863–1946) aufgestellt, woraufhin der Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen die Wahl zu einem Kampf der Konfessionen erklärte. Demokratische Protestanten wie Otto Baumgarten, Adolf von Harnack oder Martin Dibelius, die sich für Marx aussprachen, wurden entsprechend hart attackiert. Dibelius, der in einer Rede für Marx die konfessionellen Vorbehalte gegen ihn entlarvt hatte, wurde daraufhin von seinen Fakultätskollegen nicht für das der Fakultät turnusgemäß zustehende Rektorat nominiert.53 Circa zwei Drittel der evangelischen Pfarrer und die überwiegende Mehrheit der kirchennahen Protestantinnen und Protestanten in der Weimarer Republik lassen sich dem nationalkonservativen politischen Spektrum zurechnen. Ihre Hauptwidersacherin war und blieb die Sozialdemokratie, obgleich sich diese religionspolitisch zumeist durchaus pragmatisch verhielt. Zum ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) wurde kirchenoffiziell keinerlei Kontakt gesucht. Im Juni 1926 lehnte der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss öffentlich den von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) angeregten und von der SPD befürworteten Volksentscheid zur entschädigungslosen Fürstenenteignung ab und verwies auf das biblische Gebot „Du sollst nicht stehlen“.54 Das Privateigentum wurde damit christlich legitimiert und angesichts des bolschewistischen Angriffs auf die politische Ordnung eine anhaltende Loyalität gegenüber den ehemaligen Monarchen demonstriert. Pfarrer, die öffentlich für den Volksentscheid votierten, erfuhren amtskirchliche Disziplinarmaßnahmen. Kirchenleitungen riefen die evangelischen Christinnen und Christen dazu auf, sich der Wahl zu enthalten, damit das erforderliche Quorum nicht erreicht werde, was dann auch der Fall war. In der Auseinandersetzung um die Aufwertungsgesetzgebung und ihre Folgen für Kleinsparer und Kleinrentner ließ der Protestantismus hingegen einen ähnlich starken Einsatz zugunsten des ökonomisch unter Druck geratenen Mittelstands vermissen. 50 Vgl. Graf (2011): Neurealismus, S. 337f. 51 Zum problematischen kirchlichen Anspruch auf Überparteilichkeit vgl. Wright (1977): Parteien. 52 Vgl. Graf (2011): Neurealismus, S. 339. 53 Vgl. Fix (2021): Theologie, S. 74. 54 Vgl. zu dieser Thematik: Kluck (1996): Protestantismus.
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Die eher kirchenferne evangelische Arbeiter- und Arbeitnehmerschaft verhalf der SPD zu hohen Wahlergebnissen. Die Sozialdemokratie war zumeist auch die politische Heimat der wenigen, aber agilen Religiösen Sozialisten, die sich um eine Öffnung konservativer Kirchenkreise für soziale Gegenwartsfragen bemühten. Bereits 1919 forderte der Frankfurter Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich (1886–1965) zu einem gemeinsamen Kampf von Kirche und Sozialdemokratie gegen den ökonomischen und nationalen Egoismus auf.55 Die evangelische Kirche äußerte sich in der Republik zunächst kaum öffentlich zu wirtschafts- und sozialethischen Fragen. 1924 aber verabschiedete der Kirchentag in Bethel die soziale Kundgebung An das deutsche Volk!. In ihr wurden eine besorgniserregende Verschärfung der sozialen Spannungen und ein „materialistischer Geist“ beklagt sowie an die christlich-soziale „Gesinnung“ appelliert.56 Die Arbeitgeber wurden auf ihre soziale Verantwortung hingewiesen und den Arbeitern das Recht zur gewerkschaftlichen Selbstorganisation bestätigt. Als Volkskirche bemühte man sich um ein ausgewogenes Verhältnis zu beiden gesellschaftlichen Gruppen. Konkrete Lösungsvorschläge für aktuelle soziale Konflikte in der Weimarer Republik unterblieben. Vertreter des Religiösen Sozialismus wie Emil Fuchs (1874–1971) kritisierten daher die wirtschafts- und sozialpolitische Zurückhaltung der Kundgebung. Der Katholizismus besaß seit dem Kaiserreich mit der Deutschen Zentrumspartei eine effektive Interessensvertretung, wie sie dem Protestantismus fehlte. Von 1919 bis zum Sturz von Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970) war das Zentrum dann an allen Reichsregierungen beteiligt. Zwar teilte der konservative Protestantismus mit dem Zentrum viele kirchenpolitische Standpunkte, dennoch war für ihn eine Unterstützung der de facto katholischen Partei undenkbar. Der tiefe Gegensatz der Konfessionen blieb erhalten und prägte auch das politische Leben der ersten deutschen Demokratie. Die kleine Minorität der liberalen Protestanten votierte zumeist auch politisch liberal. Ihre Vertreter wollten die Demokratie mitgestalten, die sozialen Gegensätze versöhnen und im Rahmen des Völkerbundes für den Frieden arbeiten. In den Anfangsjahren der Republik hielten sie sich zur linksliberalen DDP, in der einige Theologen eine wichtige Rolle spielten. Auch Martin Dibelius trat nach der Revolution in diese Partei ein und war bis zu ihrem Niedergang im Jahr 1930 für sie als Wahlkampfredner vor Landtags- und Reichstagswahlen in Nordbaden tätig. Zudem gehörte er, der 1921 ohne Erfolg für den Landtag kandidiert hatte, dem badischen Landesausschuss und dem Kulturausschuss der DDP an.57 Allerdings stand auch Dibelius seiner Partei und der Parteiendemokratie durchaus kritisch gegenüber. Vor dem Hintergrund protestantischer Homogenisierungserwartungen erhoffte er sich vom politischen Engagement aller Bevölkerungsteile eine „kulturbewußte Demokratie“ und die Überwindung einer auf die Durchsetzung partikularer Interessen ausgerichteten Politik.58 Den nationalkonservativen Protestanten galt die DDP als 55 56 57 58
Vgl. Tillich (1919): Sozialismus. Deutscher Evangelischer Kirchentag (1924): Soziale Kundgebung. Vgl. Fix (2021): Theologie, S. 72. Vgl. a.a.O., S. 73.
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zu prodemokratisch, jüdisch und großkapitalistisch. Später wurden die politischen Präferenzen der liberalen Theologen uneinheitlicher. Mehrere entschieden sich für die nationalliberale DVP, wenige für die SPD und einige Jüngere wanderten zur NSDAP ab. Trotz Anti-Parteien-Affekt und Ablehnung des Mehrheitsprinzips waren auch Protestanten in Parteien aktiv und gingen evangelische Christinnen und Christen zur Wahl. Während kirchenferne Protestanten zu großen Teilen linke Parteien wählten, war die politische Heimat jener kirchengebundenen Protestanten, die der Demokratie und der Republik skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, bis Mitte der 1920er Jahre die rechtskonservative, monarchistische DNVP,59 in der sich die unterschiedlichsten Republikskeptiker und -gegner sammelten. In der Parteiprogrammatik der DNVP gingen Nationalismus und Christentum eine innige Bindung ein. Ihre Abgeordneten auf Reichs- oder Länderebene gehörten mehrheitlich der evangelischen Kirche an, darunter allein 24 evangelische Pfarrer. Die Partei hatte im gesamten Verbandsprotestantismus zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger. Auch die Kirchenleitungen unterstützten trotz vermeintlicher Überparteilichkeit faktisch die DNVP, was auch in dem zeitgenössischen Bonmot zum Ausdruck kam: „Die Kirche ist politisch neutral, aber sie wählt deutschnational“. Dennoch entwickelte sich die DNVP nie zum politischen Arm des deutschen Protestantismus. Vor allem unter dem Vorsitz des Medienunternehmers Alfred Hugenberg (1865–1951) kam es zu einer Entfremdung christlich-sozialer Protestanten von der Partei, die nun offen republikfeindlich sowie einseitig zugunsten von Schwerindustrie und Großagrariern auftrat. Evangelische Parteigründungen waren wenig erfolgreich, zumal eine solche Parteibildung „als parteipolitische Verzerrung des aufs Gemeinwohl gerichteten evangelischen Ethos“ erschien.60 Auf Initiative von pietistisch geprägten Gemeinschaften und Freikirchen bildete sich 1924 der Reichsverband der christlich-sozialen Gesinnungsgemeinschaften, aus dem 1927 in Nürnberg der Christliche Volksdienst (CVD) hervorging. Der CVD kritisierte Parteienegoismus, die Methoden der Wahlpropaganda sowie Fraktionszwang und verstand sich selbst nicht als eine Partei im üblichen Sinne, sondern als „Gesinnungsgemeinschaft“.61 Seine Politik begründete er religiös. 1928 spaltete sich die Christlich-soziale Reichsvereinigung von der weiter nach rechts driftenden DNVP ab und schloss sich Ende des Jahres mit dem CVD zum Christlich-Sozialen Volksdienst zusammen. Kulturpolitisch folgte dieser einer christlich-konservativen Linie, während er sich sozialpolitisch der politischen Linken annäherte. In seinen Anfangsjahren unterstützte der Volksdienst die junge Republik. Seine Vertreter erkannten den Zusammenbruch des Kaiserreichs, dem auch noch nach 1919 ihre Sympathien galten, als Gottes Fügung an und waren zur Mitarbeit im neuen Staat bereit, um das Deutsche Reich wiederaufzubauen. In den Richtlinien des Reichsverbandes der christlich-sozialen Gesinnungsgemeinschaften vom März 1926 hieß es: „Jeder gewaltsame Umsturz 59 Zur Entwicklung der DNVP bis 1928 vgl. Ohnezeit (2011): Opposition. 60 Nowak (1995): Geschichte, S. 226. 61 Vgl. Opitz (1969): Volksdienst, S. 90f.
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ist zu verwerfen. Der republikanische Staat ist zu achten und ehrlich anzuerkennen.“62 Als Befürworter einer Theokratie war für seine Vertreter die Staatsform nicht zentral, wichtig war ihnen der „Dienst am Volk“.63 In seinen späteren Jahren forderte der Christlich-Soziale Volksdienst eine Einschränkung der Befugnisse des Reichstags und neigte einer autoritären Regierungsform zu, bis hin zu einer, wenn auch nicht uneingeschränkten, Bejahung eines totalen Staates.64 Die Splitterpartei fand vor allem Zulauf von kirchennahen Kleinbauern, Landarbeitern und Vertretern des gewerblichen Mittelstands sowie von Frauen. Bei der Reichstagswahl von 1930 gewann die Partei nur 2,5 Prozent der Stimmen; überproportionalen Zuspruch erhielt sie in Wahlkreisen, welche durch eine starke pietistische oder freikirchliche Tradition geprägt waren, vor allem in Ostpreußen, Liegnitz, Westfalen Nord und Süd, Hessen-Nassau, Chemnitz-Zwickau, Württemberg und Baden.65 Bei den Wahlen im Juli und November 1932 wechselten dann viele ihrer bisherigen Wählerinnen und Wähler zur NSDAP. Die alten nationalprotestantischen Kreise mit den jungen nationalistischen Kräften zu verbinden, war Ziel der 1930 gegründeten Christlich-deutschen Bewegung (CdB) unter Vorsitz des pommerschen Großgrundbesitzers Ewald von KleistSchmenzin (1890–1945).66 Sie unterstützte die monarchistische und nationalistische Opposition gegen die Republik und erhoffte sich eine antimodernistische Kulturpolitik und eine antidemokratische Staatsführung auf christlicher Grundlage. Den Übergang zu einer Präsidialdiktatur nach der Entlassung von Reichskanzler Heinrich Brüning durch Hindenburg im Mai 1932 begrüßte der CdB auf Grundlage einer evangelisch-konservativen Staatsethik: „Der Satz: ‚Die Staatsgewalt geht vom Volke aus‘ widerspricht der evangelischen Lehre. Sie kennt nur eine Obrigkeit, die ihre Gewalt von Gott empfängt [...] Es ist nur logisch, wenn die eigentlichen Hoheitsämter des Staates [...] von der parlamentarischen Verantwortung gelöst und dem Reichspräsidenten als der Obrigkeit unterstellt werden.“67
Die politische und theologische Ausrichtung der Mitglieder der CdB war jedoch uneinheitlich. Vor allem die Jüngeren wollten die CdB an die Nationalsozialisten heranführen.
62 63 64 65 66 67
Zit. nach a.a.O., S. 328. Vgl. a.a.O., S. 96f. Vgl. a.a.O., S. 321. Zu den Ergebnissen bei der Reichstagswahl am 14. September 1930 vgl. a.a.O., S. 346f. Zur CdB vgl. Weiling (1998): Bewegung. So der Schriftleiter Gerhard Günther (1903–1944) in der CdB-Zeitschrift Glaube und Volk 1(1932), S. 111, zitiert nach: Weiling (1998): Bewegung, S. 263.
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7. DIE FEINDE DER DEMOKRATIE ALS PROTESTANTISCHE HOFFNUNGSTRÄGER Theologiestudenten, Vikare und jüngere Pfarrer neigten seit 1930 zunehmend zur NSDAP. Auch in den evangelischen Vereinen waren Nationalsozialisten aktiv. Vertreter des Evangelischen Bundes wie der Vorsitzende des Rheinischen Hauptvereins, Hermann Kremers (1860–1934), sympathisierten mit der Bewegung. Bei Wahlen erhielt die NSDAP vor allem im vormals konservativen, ländlichen Protestantismus viel Zuspruch. Evangelische Bauern waren eine frühe und treue Wählerbastion der NSDAP. Später kamen evangelische Wähler der Mittelschichten und des städtischen Kleinbürgertums dazu. Im September 1930, als die Partei unerwartet 18,3 Prozent der Stimmen erhielt, war ihr Wähleranteil in protestantischen Gebieten überproportional hoch. Auch im Juli 1932 erreichte die NSDAP in den vorwiegend protestantischen Gebieten wie Ostpreußen, Hannover, Schleswig, Sachsen, Thüringen und Teilen Württembergs überproportional gute Ergebnisse. In den bayerischen Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen der Protestantenanteil über 90 Prozent betrug, erzielte die NSDAP bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 64,7 Prozent.68 Hierfür war zuvörderst ein übersteigerter Nationalismus, verbunden mit dem Glauben an einen in der Geschichte handelnden Gott ausschlaggebend. Die national-protestantische Mentalität war tief verankert und der Protestantismus hatte mit seinem Kampf gegen die Versklavung von Versailles großen Anteil an der Radikalisierung des deutschen Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg. In der Endphase der Weimarer Republik nahmen Nationalismus und auch Militarismus dann noch einmal zu. Die Sehnsucht nach einer nationalen Wiedergeburt war groß. Die nationale Idee erschien vielen Protestanten in Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheit als Schutzdamm gegen Bolschewismus und Internationalismus – vertreten durch Jesuiten, Sozialisten und Juden. Gerade die Judenfrage war in evangelischen Sonntagsblättern ein viel diskutiertes, zumeist mit antijüdischen Ressentiments behandeltes Thema. Die antisemitische NS-Propaganda mit den populären Stereotypen des jüdischen kapitalistischen Ausbeuters und des jüdischen Materialismus verfingen im protestantischen Milieu, lehnten doch viele (neu)konservative Protestanten den Kapitalismus westlicher Prägung, dessen Triebkraft der Egoismus sei, ab.69 Da sie die parlamentarische Demokratie für eine nur schlecht verdeckte Herrschaft partikularer, wirtschaftlicher Interessengruppen hielten, kamen so Antikapitalismus, antidemokratischer Affekt und Antisemitismus zu einer republikfeindlichen Melange zusammen, welche viele Protestantinnen und Protestanten anfällig für die NSIdeologie machte. Hoffnungen in die Nationalsozialisten setzten viele evangelische Kirchenchristen auch im Hinblick auf eine Rückgewinnung der zunehmend kirchenfernen Teile der protestantischen Arbeiterschaft für die Kirche. Die nationalsozialistische
68 Siehe Mensing (1998): Pfarrer, S. 145. 69 Vgl. Tanner (1994): Demokratiekritik, S. 29.
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Kampfansage an den politischen Katholizismus kam im evangelischen Milieu ebenfalls gut an. Die NSDAP präsentierte sich aller konfessionellen Neutralität zum Trotz in manchen Gegenden wie z.B. in der Pfalz als evangelische Partei. Eine erhebliche Rolle spielte auch der weit verbreitete politische Messianismus. Die seit 1918 gehegte Hoffnung, ein von Gott gesandter starker Mann werde Deutschland wieder zu alter Größe führen, verband sich mit dem insbesondere in der Jugendbewegung populären antidemokratischen Führerideal und spielte Hitler und den Nationalsozialisten in die Hände. 1932 übte der Herausgeber des Kirchlichen Jahrbuches, der Lutheraner Hermann Sasse (1895–1976), jedoch scharfe theologische Kritik am „messianische[n] Führerkult“.70 Theologische Kritik zielte auch auf den NSRassengedanken und auf das Vorhaben einer Entjudaisierung des christlichen Glaubens. Vertreter der Dialektischen Theologie erteilten mit ihrem eschatologischen Radikalismus und christologischen Zentrismus jeder religiösen Verklärung historischer Gegebenheiten und natürlicher Ordnungen eine radikale theologische Absage. Ein Hauptansatzpunkt evangelischer Kritik war Alfred Rosenberg (1893– 1946), der führende Ideologe der NSDAP, und sein 1930 veröffentlichtes, gegen das Christentum gerichtetes Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts, in dem er Geschichtsphilosophie und rassistische Mystik vermischte.71 Insgesamt zielte protestantische Kritik am Nationalsozialismus vornehmlich auf einzelne Teile von dessen Weltanschauung und kaum auf dessen politisches Programm. Letzteres fand mit den Forderungen nach Beseitigung des Versailler Schanddiktats, nach Bekämpfung von Kommunismus und jüdischem Bolschewismus, nach einem starken Staat und nach Überwindung des westlichen Individualismus sowie des politischen Streits in der Volksgemeinschaft viel Widerhall im protestantischen Milieu. Andere Programmpunkte wurden ebenso wie der Radauantisemitismus oft als ideologische Auswüchse banalisiert. Der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss unter Hermann Kapler unterschätzte Anfang der dreißiger Jahre zunächst die Sog- und Schlagkraft der NS-Bewegung. In zwei geheimen Gesprächen mit NSDAP-Politikern versuchte Kapler, Genaueres über die kirchenpolitische Haltung und das politische Programm der Partei herauszufinden. Anschließend stufte er die NSDAP als politikunfähig und gefährlich ein. Eine öffentliche Stellungnahme gegen die Partei vermied er jedoch, da er glaubte, damit die Befugnisse der Kirche zu überschreiten, und er zugleich wusste, dass die NSDAP in kirchlichen Kreisen viele Sympathien genoss. 8. DAS ENDE DER DEMOKRATISCHEN REPUBLIK Schätzungen gehen davon aus, dass bei den Reichspräsidentenwahlen 1932 etwa 60 Prozent der kirchennahen evangelischen Wählerinnen und Wähler für Hitler stimmten. Im Gegensatz zur katholischen Kirche hielten sich die evangelischen Kirchenleitungen insgesamt mit Stellungnahmen zur politischen Entwicklung 70 Sasse (1932): Kirche, S. 65. 71 Rosenberg (1930): Der Mythus des 20. Jahrhunderts.
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zurück. Auch in den politischen Krisen und Polarisierungen in der Endphase der Weimarer Republik glaubte man, weiterhin über den Parteien stehen zu müssen und zu können. Damit aber überließen die Kirchenführer die erste deutsche Demokratie den Angriffen ihrer radikalen rechten und linken Gegner. Mit verschiedenen Erlassen versuchten die Kirchenleitungen, zumindest der wachsenden Politisierung der jüngeren Pfarrer Einhalt zu gebieten. Doch selbst stark engagierten nationalsozialistischen Pfarrern drohten selten Sanktionen. Die Kirchenleitungen mahnten ganz allgemein zu politischer Zurückhaltung, ohne explizit auf den Nationalsozialismus einzugehen. Man wolle, so eine gängige kirchliche Argumentation, gegenüber der NS-Bewegung nicht denselben Fehler machen wie gegenüber der Arbeiterbewegung, deren Glieder der Kirche letztendlich verloren gegangen waren. Am frühesten und entschiedensten nahmen jedoch liberale Theologen und religiöse Sozialisten gegen die NSDAP, deren Ideologie und politischen Ziele Stellung. Sie warnten vor Antisemitismus, Militarismus und dem Ende der Meinungsfreiheit. Gerade die Argumentation der Religiösen Sozialisten aber empfanden viele Protestanten als politisch-ideologisch und sie verwiesen auf die Situation der Kirchen in der Sowjetunion. Im Jahr 1931 unternahm Otto Piper, inzwischen Nachfolger von Karl Barth auf dem Lehrstuhl für Systematische Theologie in Münster, einen letzten Versuch, den evangelischen Deutschen die repräsentative Demokratie mit „geschichtlichen“, „praktischen“ und „ethischen Gründen“ nahe zu bringen.72 In einem Vortrag auf dem 38. Evangelisch-Sozialen Kongress erklärte er seinen Zuhörern, die Demokratie sei „heute die gegebene Form, um politische Gerechtigkeit zu verwirklichen“.73 Dies geschehe „auf dem Wege der Auseinandersetzung verschiedenartiger Ansprüche“.74 Angesichts des politischen Bildungsstandes der Bevölkerung sei die Demokratie gegenwärtig „auch vom Glauben her gerechtfertigt“. 75 Für die Christen gäbe es „heute“ eine „Pflicht zur Demokratie“.76 Das Evangelium rufe „alle Menschen zum verantwortlichen Dienst an ihren Brüdern auf“.77 Die Christen müssten die Möglichkeit zur politischen Mitverantwortung wahrnehmen. Piper schlug auch konkrete verfassungspolitische Änderungen vor, so die Stärkung der Rechte der Regierung als „Repräsentation des Volkes“, eine Beschränkung der Rechte des Parlaments als Repräsentation des „jeweiligen Staatsvolks“ sowie die Einführung einer zweiten Kammer („Führerhaus“).78 Zudem forderte er von den Demokraten, eine nationale Geschichtspolitik zu betreiben. Sie müssten aus „den großen Gestalten der Vergangenheit eine neue Synthese […] schaffen“.79 Sie dürften den „nationalen
72 73 74 75 76 77 78 79
Piper (1931): Demokratie, S. 93f. A.a.O., S. 94. A.a.O., S. 109. A.a.O., S. 94. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 100f. A.a.O., S. 104.
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Gedanken“ nicht den Demokratiegegnern überlassen.80 Für sein Plädoyer zugunsten der repräsentativen Demokratie, das jedoch viel Kritik am Parlamentarismus und am liberalen Rechtsstaat aufwies und Vorschläge mit autoritären Tendenzen enthielt, erntete Piper von seinen Zuhörern „[l]ebhafte[n] Beifall“,81 in der Diskussion indes auch einige Kritik. Am 17. Juli 1932 starben nach einem provokanten Werbemarsch der SA durch das rote Altona 18 Menschen, zwei vermutlich durch kommunistische Schützen, 16 durch Polizeikugeln. Dieser Altonaer Blutsonntag wurde zum Auslöser für den Versuch einer kirchlichen Identitätsklärung. 21 Altonaer Pastoren um Hans Asmussen (1898–1968) verfassten das Altonaer Bekenntnis, das am 11. Januar 1933 verkündet wurde und auf viel Zustimmung stieß. Die Pastoren sahen den Auftrag der Kirche angesichts der gewalttätigen politischen Auseinandersetzung darin, auf Gottes Ordnung im Staatswesen und auf ein Leben nach Gottes Geboten zu verweisen. Auf diese Weise sollte den pseudoreligiösen politischen Utopien von rechts und links begegnet werden. Insgesamt machten die erklärten Gegner der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik nur eine kleine Minderheit im deutschen Protestantismus aus. Denn der Protestantismus hegte – wie gezeigt wurde – tiefe Vorbehalte gegenüber dem demokratischen, säkularen Staats- und Gesellschaftssystem, die in der 14 Jahre währenden ersten Demokratie auf deutschem Boden nicht überwunden werden konnten. Eine innere Verankerung des politischen Systems und die Entwicklung eines tieferen Demokratieverständnisses fanden nicht statt. Die protestantische Vorstellung einer von Gott gewollten und von ihm eingesetzten Obrigkeit zur Erhaltung der Ordnung schien ihm angesichts seines pessimistischen Menschenbildes, das die Sündhaftigkeit und Fehlbarkeit des Menschen betonte, in einer autoritären Staatsform besser verwirklicht zu sein. Der nationalsozialistische Staat war für die Protestanten ein solch starker Staat. LITERATURVERZEICHNIS Althaus, Paul: Kirche und Volkstum. Der völkische Wille im Lichte des Evangeliums, Gütersloh 1928. Bauer, Gisa: Protestantische Milieus und Gruppen, in: Siegfried Hermle, Harry Oelke (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch. Bd. 1: Protestantismus und Weimarer Republik (1918–1932) (Christentum und Zeitgeschichte 5), Leipzig 2019, S. 100–123. Bormuth, Daniel: Die Deutschen Evangelischen Kirchentage in der Weimarer Republik (KuG 41), Stuttgart 2007. Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008. Dahm, Karl-Wilhelm: Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933 (Dortmunder Schriften zur Sozialforschung 29), Köln/Opladen 1965.
80 Ebd. 81 A.a.O., S. 109.
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THEOLOGIE DER KRISIS Die Dialektische Theologie als geistiger Umbruch in der Weimarer Republik Peter Zocher Im Jahr 1933, als er mit seinem Rückzug aus der gemeinsamen Zeitschrift Zwischen den Zeiten zugleich das Ende derselben besiegelt, beschreibt Karl Barth (1886– 1968) das Gemeinsame der mit dieser Zeitschrift verbundenen Theologen so: „Als wir im Herbst 1922 ‚Zwischen den Zeiten‘ begründeten: Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen und ich mit Georg Merz als Schriftleiter, da waren wir uns, wie wir meinten, leidlich einig in dem, was wir wollten: im Gegensatz zu der positiv-liberalen oder liberal-positiven Theologie des Neuprotestantismus des Jahrhundertanfangs mit dem Menschgott, den wir als deren Heiligtum erkannt zu haben meinten, eine Theologie des Wortes Gottes, wie sie sich uns als jungen Pfarrern von der Bibel her allmählich als geboten aufgedrängt hatte und wie wir sie bei den Reformatoren vorbildlich gepflegt fanden. (Der Name ‚dialektische Theologie‘ ist uns noch im selben Jahr von irgend einem Zuschauer angehängt worden.)“1
Etwas distanzierter formuliert gut 25 Jahre später Wolfhart Pannenberg (1928– 2014) in seinem Artikel für die dritte Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart das Anliegen der Dialektischen Theologie: „Sie betonte die Jenseitigkeit Gottes […] und die Souveränität seiner Offenbarung […] wieder gegenüber all dem, was der Mensch in seinem Denken und Erleben, in seiner Kultur, Philosophie und Religion als geistigen Besitz haben kann. Ihr Radikalismus berührte sich mit der die Kriegs- und Nachkriegszeit kennzeichnenden allgemeinen Krise des Kulturbewußtseins, ist aber wesentlich durch die theologische Erkenntnis bedingt, daß der Mensch immer, auch als Glaubender, vor Gott mit leeren Händen steht.“2
Schon in diesen eher überblickshaften Aussagen wird klar, wie sehr das, was zunächst Karl Barth und Eduard Thurneysen (1888–1974), dann auch Emil Brunner (1889–1966), Friedrich Gogarten (1887–1967), Georg Merz (1892–1959), Rudolf Bultmann (1884–1976) und andere wollten, die zur Dialektischen Theologie gerechnet wurden, natürlich ein radikaler geistiger Umbruch war – und wie sehr es sich in das allgemeine Krisenbewusstsein ebenso einfügte wie es zu einem guten Teil aus ihm zu erklären war. Insofern eignet sich der im mir vorgegebenen Vorlesungstitel auftauchende Begriff Theologie der Krisis mindestens genauso gut wie die schnell sich durchsetzende Bezeichnung Dialektische Theologie als Benennung jener theologischen Richtung, um die es im Folgenden gehen soll. Warum ich der Meinung bin, dass die von Barth selbst angeführte Charakterisierung als Theologie 1 2
Barth (1933): Abschied, S. 496f. Pannenberg (1958): Dialektische Theologie, Sp. 168.
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des Wortes Gottes die treffendste Beschreibung ist, werde ich zu erklären versuchen. Meine Gliederung orientiert sich an bedeutsamen Texten aus der Geschichte der Dialektischen Theologie. In jedem Teil werden Texte und Zitate im Vordergrund stehen, aus denen ich die mir wesentlich erscheinenden Momente ableiten will. Zunächst sind dies die Römerbrief-Auslegungen Karl Barths (1.), danach wird Barths Vortrag Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie der Angelpunkt sein (2.). Der Blick auf die weiteren dialektischen Theologen (3.) wird sich im Wesentlichen auf Emil Brunner (3.a) und Friedrich Gogarten (3.b) beschränken. Der Abschluss führt über das Ende der Weimarer Republik hinaus: Was könnte zu dem Auseinandergehen der dialektischen Theologen (4.) und zugleich zu unserem heutigen Abschied besser passen als Barths Vortrag mit eben jenem Titel: Abschied? 1. KARL BARTHS RÖMERBRIEF-AUSLEGUNGEN (1918/1921) Als am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg beginnt, ist Barth seit drei Jahren in seinem Pfarramt in Safenwil im Kanton Aargau tätig. Er hat sich dort durch sein Engagement für die am Ort ansässigen Textilarbeiter den Ruf eines roten Pfarrers erworben; seine Predigten spiegeln dieses Engagement inhaltlich oft wider, und so verwundert es kaum, dass der von seinem Studium eher liberal geprägte Barth von seinem Umfeld gern den schweizerischen religiösen Sozialisten zugeordnet wird. Bald nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterzeichnen neben vielen anderen zwei von Barths wichtigsten theologischen Lehrern, die theologisch liberal eingestellten Adolf von Harnack (1851–1930) und Wilhelm Herrmann (1846– 1922), umstandslos den Gelehrten-Aufruf An die Kulturwelt zur Unterstützung der deutschen Haltung und zur Abwehr der gegnerischen Propaganda vom 4. Oktober 1914. Dieses Ereignis gibt Barth den Anstoß zu seinem völligen Umdenken, und zwar vor allem deshalb, weil er die Theorie, bei seinen Lehrern also das theologische System, das ihnen eine solche Haltung ermöglicht, radikal in Frage stellt. Barth schreibt wenig später: „Über den Kaiser und seine Hofprediger verwundere ich mich kaum, auch nicht über die Masse, aber über die geistigen Führer des deutschen Christentums? Was für ein Zusammenbruch der christlichen Ideale nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Gesinnung, in der ruhigen Theorie!“3
Ich möchte kurz innehalten und darauf hinweisen, dass hier ein gewichtiger Unterschied zu einigen anderen theologischen und sonstigen Auf- und Umbrüchen der 1920er Jahre besteht: Karl Barth war in seinem Zweifel an der überkommenen Theologie sicherlich durch den Ersten Weltkrieg bestärkt worden. Dieser zeitgenössische Kontext hat auch bei ihm zu der ganz grundsätzlichen Infragestellung vieler vermeintlicher Selbstverständlichkeiten geführt. Allein, und das muss betont
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Brief an Willy Spoendlin vom 4. Januar 1915 (KBA 9215.1).
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werden, weil es leider auch neuere Veröffentlichungen gibt, die solche Unterschiede nicht beachten: Für Barth war es nicht das furchtbare Abschlachten von Millionen im Verlauf des Krieges, es war nicht das Fronterlebnis im Schützengraben, und es war auch nicht die unerwartete und daher zu allerlei Verschwörungstheorien Anlass gebende deutsche Niederlage, die ihn erschütterte. Barth war davon erschüttert, dass der Krieg überhaupt ausbrechen konnte, und mehr noch davon, wie die zeitgenössische Theologie – und wie übrigens auch die doch international ausgerichteten sozialistischen Parteien der Kriegsgegner darauf reagierten. In seinen Zweifeln und Vorbehalten bestärkt wird Barth durch seinen engen Freund Eduard Thurneysen, der seit 1913 Pfarrer im benachbarten Leutwil ist. Beide sind sich einig, dass es für eine Predigt, die geeignet sein soll, der Gemeinde in dieser Zeit Gottes Wort wirklich nahezubringen, eine ganz andere Theologie brauche als jene, die sie selbst noch im Studium erlernt und begierig in sich aufgenommen hatten. Für Barth besteht der Ausweg aus seinen theologischen Zweifeln darin, dass er noch einmal ganz neu daran geht, die Bibel zu lesen. Er beginnt damit, den Römerbrief des Paulus gründlich zu studieren: „Ich begann ihn zu lesen, als hätte ich ihn noch nie gelesen: nicht ohne das Gefundene Punkt für Punkt bedächtig aufzuschreiben. […] ich las und las und schrieb und schrieb.“4 Lange dient diese Arbeit nur der eigenen Vergewisserung und trägt ihre Früchte allein für und in Barths Predigten und seiner Gemeindearbeit. Mit finanzieller Unterstützung des guten Freundes Rudolf Pestalozzi (1881–1961) gelingt es im Spätsommer 1918, das Geschriebene nun als Römerbrief-Auslegung in gerade zwei Monaten für den Druck fertig zu machen. Das Buch erscheint 1919 im Berner Verlag G. A. Bäschlin, aber schon bald übernimmt es auf Initiative seines Lektors, Georg Merz, der Christian Kaiser Verlag in München.5 Karl Barth ist schon zu diesem Zeitpunkt durch Publikationen und Vorträge in Deutschland kein ganz unbekannter Schweizer mehr; das Werk erlangt schnell auch dort Aufmerksamkeit. „Nur Vorarbeit ist alles menschliche Werk und ein theologisches Buch mehr als jedes andre Werk“,6 schreibt Barth, als er nur drei Jahre später schon wieder ein Vorwort zu einer Römerbriefauslegung formuliert. Seine erste erscheint ihm nun als „noch viel zu sehr auf Hurra! gestimmt“ und zu „Missverständnissen und Irrungen“ Anlass gebend.7 Ganz am Ende seiner Safenwiler Zeit schreibt er – wieder in stetigem Austausch mit Thurneysen – in nur elf Monaten eine völlig neue Auslegung, die 1922 erscheint. Auch in ihr wird – konsequenter noch als im ersten Anlauf – die vorherrschende, aus menschlichen Erfahrungen zu Aussagen über Gott kommende liberale Theologie von Grund auf in Frage gestellt. Barth formuliert eine ganz andere Theologie, in der die Einsicht in den unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch in den Vordergrund rückt.
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Barth (1968): Nachwort, S. 294f. Vgl. Barth (1919): Römerbrief (Erste Fassung). Barth (1922): Römerbrief (Zweite Fassung), S. 5. Brief an Eduard Thurneysen vom 27. Oktober 1920 (KBA 9270.271; Barth/Thurneysen: Briefwechsel I, S. 436).
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Barth tastet sich in den Römerbriefen schrittweise an eine Neubegründung der Theologie in der biblisch bezeugten Anrede Gottes heran. Er versucht der Souveränität des lebendigen Gottes, der uns in Gnade und Gericht überlegen begegnet, Ausdruck zu verschaffen, einer Souveränität, die sich weder religiös noch spekulativbegrifflich noch ethisch fixieren lässt. Die dialektisch stark zugespitzten Ausdrucksformen sollen dem Ereignis der Selbstmitteilung Gottes Raum schaffen und die Unverfügbarkeit des göttlichen Redens und Handelns gewährleisten. Hier entwickelt sich der seine Theologie prägende Gedanke, dass auch die menschliche Gotteserkenntnis durch Gott gewirkt wird und ausschließlich auf der dem Menschen immer überlegenen göttlichen Initiative und Zuwendung in der Offenbarung Gottes fußt. An dieser Stelle möchte ich einfach ein längeres Textbeispiel für das dialektische, beinahe schon beim bloßen Lesen schwindelerregende Hin und Her der Argumentation geben. Deutlich wird 1.), dass die hier anzutreffende Dialektik nicht mit jenem philosophischen System zu verwechseln ist, das über These, Antithese und dann Synthese zu immer höheren Stufen der Erkenntnis führt. Ein höher oder besser gibt es hier nicht, hier gibt es nur ein immer wieder neu, und: hier wird immer wieder mit dem Anfang angefangen! Aus dem Beispiel kann unschwer 2.) die wohl nur zu dieser Zeit vorstellbare, geradezu expressionistisch anmutende Wucht und Unbedingtheit der Sprache des zweiten Römerbriefs abgelesen werden, die ihn auch sprachlich zu einem Ereignis macht und nicht nur einen Literaten wie Martin Walser bis heute beeindruckt. Es handelt sich um einen Abschnitt aus der Auslegung zu Röm. 3, 21–22a: „Jetzt aber ist abgesehen vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes offenbart, die vom Gesetz und den Propheten bezeugt ist, nämlich die Gerechtigkeit Gottes durch seine Treue in Jesus Christus für alle, die glauben“8
– das Beispiel ist aber zufällig ausgewählt und könnte durch zahllose andere ersetzt werden: „‚Für alle, die glauben‘. Das ist das fruchtbare Aber! Das Sehen des neuen Tages ist und bleibt indirekt, die Offenbarung in Jesus ein paradoxes Faktum – so objektiv, so allgemeingültig ihr Inhalt ist. Dass die Verheißungen der Treue Gottes in Jesus dem Christus erfüllt sind, dass gerade Jesus der Christus ist, auf den alle Verheißungen hinweisen, und dass Jesus gerade darum der Christus ist, weil in ihm die Treue Gottes in ihrer letzten Verborgenheit, in ihrem tiefsten Geheimnis erscheint, das alles ist nicht selbstverständlich und wird es nie. Es ist keine seelische, geschichtliche, kosmische, naturhafte Gegebenheit, auch nicht eine solche höchsten Ranges. Es wird nicht durch direkte Einsichtnahme zugänglich: weder durch Erschließungen des Unbewussten, noch durch mystische Versenkung im Gebet, noch durch Entwicklung okkulter Geistesfähigkeiten; es wird vielmehr durch alle Versuche in dieser Richtung nur um so unzugänglicher. Es kann weder überliefert, noch gelehrt, noch erarbeitet werden; wäre es anders, so wäre es ja nicht das Allgemeingültige, nicht Gottes Gerechtigkeit für die Welt, nicht Errettung für alle. Glaube ist die Umkehrung, die radikale Neuorientierung des nackt vor Gott stehenden […] Menschen. Glaube ist selbst Treue Gottes, immer noch und immer wieder verborgen hinter und über allen menschlichen Bejahungen, Gesinntheiten, Errungenschaften Gott gegenüber. Glaube ist darum nie fertig, nie gegeben, nie gesichert, er ist, von der Psychologie 8
Barth (1922): Römerbrief (Zweite Fassung), S. 129.
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aus gesehen, immer und immer aufs neue der Sprung ins Ungewisse, ins Dunkle, in die leere Luft. Fleisch und Blut offenbart uns das nicht (Mat. 16,17): kein Mensch kann es dem andern, keiner sich selber sagen. Was ich gestern hörte, muss ich heute neu hören, werde ich morgen wieder neu hören müssen, und immer ist der Offenbarende Jesu Vater im Himmel, nur er. Die Offenbarung in Jesus ist ja, eben indem sie Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes ist, zugleich die denkbar stärkste Verhüllung und Unkenntlichmachung Gottes. In Jesus wird Gott wahrhaft Geheimnis, macht er sich bekannt als der Unbekannte, redet er als der ewig Schweigende. In Jesus erwehrt sich Gott aller zudringlichen Vertraulichkeit, aller religiösen Unverschämtheit. In Jesus offenbart, wird Gott den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit [vgl. 1.Kor. 1,23]. In Jesus beginnt die Mitteilung Gottes mit einem Zurückstoßen, mit dem Aufreißen eines klaffenden Abgrundes, mit der bewussten Darbietung des kräftigsten Ärgernisses.“9
2. DAS WORT GOTTES ALS AUFGABE DER THEOLOGIE. AUFBRUCH, ABGRENZUNGEN UND APORIEN Noch von Safenwil aus formuliert Barth in dem 1919 gehaltenen Vortrag Der Christ in der Gesellschaft für sich eine grundsätzliche Absage an eine bestimmte Grundhaltung des Religiösen Sozialismus – und dies ausgerechnet auf einer Konferenz religiöser Sozialisten in Tambach in Thüringen! Auch in der Safenwiler Zeit hatte er sich entgegen allen Zuschreibungen nie ganz mit dem Religiösen Sozialismus identifiziert. Zentral war und blieb ihm immer die Existenz als Christ, zu der ihm sein sozialdemokratisch orientiertes politisches Engagement allerdings nicht als Widerspruch erschien. Der Religiöse Sozialismus nahm in seinen Augen hier jedoch eine andere und falsche Gewichtung vor. So wie die konstruktive Mitarbeit am politischen Aufbau und der Ausgestaltung des Alltags nicht als Rechtfertigung oder Wiederaufrichtung bereits erledigter Strukturen und Privilegien missverstanden werden dürfe, so dürfe auch eine durch Reform oder Revolution angestrebte grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft nicht etwa dahingehend missverstanden werden, als würde man damit dem Reich Gottes einen Schritt näher oder gar nahe kommen. In Barths Tambacher Worten: „Neben die schlichte sachliche Mitarbeit im Rahmen der bestehenden Gesellschaft ist die radikale Opposition gegen ihre Grundlagen getreten. Aber wie wir uns dort verwahren mussten gegen das Missverständnis, als könnten durch solche Sachlichkeit die gestürzten Götzen wieder aufgerichtet werden, so müssen wir uns jetzt sichern gegen den Irrtum, als wollten wir durch Kritisieren, Protestieren, Reformieren, Organisieren, Demokratisieren, Sozialisieren und Revolutionieren, und wenn dabei das gründlichste und umfassendste gemeint wäre, etwa dem Sinn des Gottesreiches Genüge leisten. Darum kann es sich wirklich nicht handeln.“ 10
1921 wird Barth – ohne je eine Dissertation, geschweige denn eine Habilitation geschrieben zu haben – auf die neu eingerichtete Professur für Reformierte Theologie in Göttingen berufen. Er entfaltet von dort aus eine rege Vortragstätigkeit, um sich in seinem neuen Umfeld und über die Universität hinaus auch bei den nord9 A.a.O., S. 137f. 10 Barth (1919): Der Christ in der Gesellschaft, S. 593 (im Original ist nur die letzte Hervorhebung ebenfalls hervorgehoben).
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deutschen Reformierten, für die er ja nun zuständig ist, bekannt zu machen. In einem dieser Vorträge, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, geht Barth einmal mehr von der Predigtnot der Pastoren aus und bringt in einer berühmten Formulierung prägnant zum Ausdruck, was die neue Theologie charakterisiert: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“11
Im ausführlichen Mittelteil des Vortrags beschreibt er drei mögliche Wege theologischer Rede von Gott – und zeigt für jeden von ihnen auf, warum er nicht zum Ziel führt! Der „dogmatische Weg“, den die Orthodoxie (und im Prinzip alle positive Theologie) beschritten hat, vergegenständlicht Gott einseitig und sperrt ihn in ein System – in den Worten Barths wird hier die Frage des Menschen nach Gott (die identisch ist mit dem Menschen selbst) durch die immer schon feststehende positive Antwort abgelöst. Der „kritische“ oder „mystische Weg“ der Versenkung und Selbstaufhebung des Menschen in Gott (oder Gottes im Menschen) kann diese Frage ebenfalls nicht lösen, verstärkt sie allenfalls noch, indem sie durch ihre Verlagerung in Gott noch potenziert wird. Aber auch der „weitaus beste“, der „dialektische Weg“, den nach Barth Paulus und die Reformatoren beschritten haben, kommt letztlich nicht zu dem angestrebten Ziel, so von Gott zu reden, wie angemessen nur von ihm geredet werden kann. Zwar wird hier die „lebendige“, aber unanschauliche „Mitte“, dass Gott nämlich Mensch geworden ist und so die unaufhebbaren Gegensätze in sich vereinigt, ernst genommen, es wird indirekt = dialektisch von Gott gesprochen, indem Position und Negation, Ja und Nein, ständig aufeinander und auf diese Mitte bezogen werden. – Es gibt aber auch bei diesem Weg ein großes Aber; in Barths Worten: „Der echte Dialektiker weiß, daß diese Mitte unfaßlich und unanschaulich ist, er wird sich also möglichst selten zu direkten Mitteilungen darüber hinreißen lassen, wissend, daß alle direkten Mitteilungen darüber, ob sie nun positiv oder negativ seien, nicht Mitteilungen darüber, sondern eben immer entweder Dogmatik oder Kritik sind. Auf diesem schmalen Felsengrat kann man nur gehen, nicht stehen, sonst fällt man herunter, entweder zur Rechten oder zur Linken, aber sicher herunter. So bleibt nur übrig, ein grauenerregendes Schauspiel für alle nicht Schwindelfreien, Beides, Position und Negation, gegenseitig aufeinander zu beziehen, Ja am Nein zu verdeutlichen und Nein am Ja, ohne länger als einen Moment in einem starren Ja oder Nein zu verharren, also z.B. von der Herrlichkeit Gottes in der Schöpfung nicht lange anders zu reden als (in Erinnerung an Röm. 8 [, 19–22] etwa) unter stärkster Hervorhebung der gänzlichen Verborgenheit, in der sich Gott in der Natur für unsre Augen befindet, vom Tod und von der Vergänglichkeit nicht lange anders als in Erinnerung an die Majestät des ganz andern Lebens, das uns gerade im Tod entgegentritt, von der Gottebenbildlichkeit des Menschen um keinen Preis lange anders als mit der Warnung ein für allemal, daß der Mensch, den wir kennen, der gefallene Mensch ist, von dessen Elend wir mehr wissen als von seiner Glorie, aber wiederum von der Sünde nicht anders als mit dem Hinweis, daß wir sie nicht erkennen würden, wenn sie uns nicht vergeben wäre. […] Ich brauche nicht fortzufahren. Wer’s merkt, merkt’s, wie’s gemeint ist, wo so geredet wird.“12
11 Barth (1922): Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, S. 151. 12 A.a.O., S. 167f.
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Auch auf diesem Weg kann ein vollgültiges Sprechen von Gott, das diese unanschauliche Mitte als die wahre Wirklichkeit erweist, also nur dort erfolgen, wo alles Theologisieren und also auch das dialektische an sein Ende kommt – und Gott selbst spricht. Angemessen von Gott kann nur Gott selbst sprechen. Ausgangs-, Mittelund Endpunkt aller Theologie, und das ist und bleibt die Grundvoraussetzung der Theologie Barths, ist Gottes Wort (daher besser: Wort-Gottes-Theologie), ist – später formuliert Barth genauer – Gottes eines Wort, ist die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Eine kleine Bemerkung noch: Dieser Vortrag war es, an den anknüpfend man von der Dialektischen Theologie zu reden begann. Wenn man bedenkt, dass Barth hier die Wege oder Methoden der verschiedenen Theologien von ihrer Benennung oder ihrem Anliegen konsequent unterschieden hat, könnte schon dies Anlass sein, auch im Fall des dialektischen Weges die Methode nicht mit dem Anliegen umstandslos in eins fallen zu lassen. – Allemal schlüssiger wäre es, davon zu reden, dass die neue Theologie, nennen wir sie einmal Theologie des Wortes Gottes, dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Unfasslichkeit und Unverfügbarkeit dessen, um was es ihr geht, auf dem dialektischen Weg zu umschreiben versucht. 3. DER KREIS UM DIE ZEITSCHRIFT ZWISCHEN DEN ZEITEN. EINFLUSSGEWINN UND AUSDIFFERENZIERUNG Wie gezeigt bildeten Barth und Eduard Thurneysen und ihre seit dem ersten Römerbrief bestehende enge Arbeitsgemeinschaft die Keimzelle der Dialektischen Theologie. Zu ihnen gesellen sich in der Frühphase bis etwa 1921/22 zunächst zwei weitere Gemeindepfarrer: Der Schweizer Emil Brunner, wie Barth zunächst religiöser Sozialist und mit ihm und Thurneysen bald freundschaftlich verbunden, wird durch deren Predigten und dann vor allem durch den Römerbrief für die neue theologische Richtung gewonnen; sodann mit Friedrich Gogarten ein deutscher Pfarrer aus Thüringen, der noch bis in den Weltkrieg hinein der modernitätsaffinen und kulturprotestantischen Theologie seiner Lehrer Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch (1865–1923) treu geblieben war. 1920 aber gibt Gogarten mit dem Aufsatz Zwischen den Zeiten eine kultur- und zeitkritische Haltung zu erkennen, die einen äußerst positiven brieflichen Kommentar Barths hervorruft: „Herzlichen Dank für dieses gute Wort! […] Bitte erheben Sie Ihre Stimme laut! Sie haben dasjenige zu sagen, das jetzt in Deutschland gesagt werden muss und was man Ihnen doch vielleicht williger abnimmt als uns Schweizern (bes[onders] weil wir Schweizer, auch wir Rel[igiös-]Soz[ialen], es zum grössten Teil selbst noch nicht gemerkt haben!) […] Sie begegnen uns mit Ihrem Artikel überraschend genau.“13
Gogarten sucht und findet schnell engen Anschluss an Barth und Thurneysen.
13 Brief Barths an Gogarten vom 16. Juni 1920 (KBA 9220.29; Friedrich Gogartens Briefwechsel, S. 152–154).
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Im Jahr 1923 erscheint im Christian Kaiser-Verlag das erste Heft einer theologischen Zeitschrift, die der neuen theologischen Richtung noch mehr Gehör verschaffen soll und wird. Zwischen den Zeiten wird von 1923 bis 1933 in elf Jahrgängen erscheinen und innerhalb kurzer Zeit eine Druckauflage von 2.500 Exemplaren erreichen, was einem Vielfachen der Auflage ähnlicher Zeitschriften entspricht. Georg Merz, der einst Barths Römerbrief zum Kaiser-Verlag geholt hatte, ist Schriftleiter der neuen Zeitschrift, die er gemeinsam mit Barth, Thurneysen und Gogarten herausgibt. Nicht nur genuin dialektische Theologen wie die Herausgeber oder auch Emil Brunner und Rudolf Bultmann publizieren hier, sondern von Beginn an und durchweg zahlreiche Theologen (z. B. Hans Asmussen [1898–1968], Ernst Fuchs [1903–1983], Erik Peterson [1890–1960] oder Heinrich Vogel [1902–1989]) und Nicht-Theologen (z. B. Victor von Weizsäcker [1886–1957] oder Karl Stoevesandt [1882–1977]), die zum engeren Kreis der Dialektiker nicht gezählt werden können. Die Zeitschrift ist – wie zunehmend auch die Dialektische Theologie als solche – geprägt von einer „gewissen Vielstimmigkeit und differenzierten Vielfalt“.14 Einig ist man sich in der Kritik an der neuprotestantischen Theologie der damals letzten zweihundert Jahre, wie sie nicht allein Barth immer wieder gern pauschal bezeichnet. Der Vorwurf lautet: Sie hat ihr Eigentliches, nämlich Theo-logie zu sein, durch das Hören auf die Erfahrung, das fromme Selbstbewusstsein, die Befindlichkeiten und Ideen des jeweils modernen Menschen ersetzt, ist also zur – überhöhten – Anthropologie geworden. Sie hat Theologie und Kirche damit in verhängnisvoller Weise abhängig gemacht und gebunden an die kulturellen, staatlichen, gedanklichen und sonstigen Hervorbringungen dieses Menschen. Und sie hat das Nachdenken über Gott und das vor ihm Rechte ersetzt durch immer neue Versuche, Gott mittels der menschlichen Vernunft einzuhegen und ihm einen Platz zuzuweisen, wo er nicht weiter stört. Im allgemeinen, durch den Ersten Weltkrieg und die von ihm verursachten Umwälzungen nur noch befeuerten Krisenbewusstsein und Kulturpessimismus der Zeit kommt diese radikale Kritik gut an. Sie fügt sich ein in ähnliche Muster in den meisten gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen. Diese „Verflochtenheit mit dem radikalen Zeitgeist“ reicht als Erklärungsmuster für den großen Einfluss und die Wirkung der Dialektischen Theologie aber nicht aus.15 Es kommt noch ein Moment hinzu, warum gerade diese Theologie einen solchen Einfluss gewinnen kann. Dietrich Korsch beschreibt es eher nüchtern so: „Für die erstaunliche Breitenwirkung der dialektischen Theologie ist es nicht unerheblich gewesen, daß diese Theologie im kirchlich-pastoralen Milieu anschlußfähig war.“16 Man kann es auch anders sagen: Es handelte sich im Unterschied zu allerlei schon damals rein akademisch gewordener Theologie um eine solche, die von Pfarrern für die Gemeinde und ihre Pfarrer gemacht war!
14 Beintker (2009): Barths Abschied, S. 87f. 15 So Fischer (2002): Protestantische Theologie, S. 16. 16 Korsch (1999): Dialektische Theologie, Sp. 813.
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Ein besonders auch von Barth selbst bald benannter wunder Punkt in der Geschichte der Dialektischen Theologie ist ihr Verhältnis zur Politik. Sie erweckt den Anschein, unpolitisch zu sein, und genährt wird dieser Eindruck auch davon, dass politische Überzeugungen aller Couleur in ihr vertreten sind; neben solchen, die – wie Barth – überzeugte Demokraten sind und ihre eher linkspolitische Haltung keineswegs verleugnen, auch solche, die, wie sich bald zeigen sollte, dem Nationalsozialismus gegenüber nicht nur affin sind, sondern ihn gar aktiv, teils gar mit dem Parteieintritt unterstützen. Politik ist menschliches Geschäft, und als solches innerhalb theologischer Begründungszusammenhänge nicht relevant; das ist die Begründungsstruktur, warum man sich dagegen wehrt und verwahrt, mit einer bestimmten politischen Haltung identifiziert zu werden. Allerdings: Gegenüber jenen -Ismen, die auf ihrer totalitären ideologischen Grundlage den ganzen Menschen – und das hieß damals noch beinahe selbstverständlich: den ganzen Christenmenschen – für sich vereinnahmen wollen, hätte ein von den Grundeinsichten der Dialektischen Theologie überzeugter Theologe schon immun sein sollen. Auch gegen solche unbotmäßige Vermengung war man ja gerade angetreten! Die Abstinenz auf politischem Gebiet dient, das sollte nicht unterschlagen sein, der Abwehr jedes Verdachts einer „Verwechselung zwischen dem Reiche Gottes und irgend einer politischen Ideologie“, so Barth selbst.17 Natürlich ist das gegen den Religiösen Sozialismus gerichtet, aber doch auch und historisch sogar zuerst gegen die kulturprotestantische Vorstellung einer unausweichlich sich einstellenden immer größeren Synthese von protestantisch-preußisch oder auch deutsch-national geprägtem Kaiserreich und dem Reich Gottes. Und später gegen die 1933 die deutsche Stunde der sog. Machtergreifung als Offenbarung wertenden deutschchristlichen und völkischen Theologien! Will man hiergegen glaubwürdig Protest anmelden, dann darf man auf der anderen Seite des politischen Spektrums nicht in denselben Fehler verfallen, so die lange – zu lange! – ein intensiveres öffentliches Eintreten für demokratische Werte und Parteien verhindernde Überzeugung. 1938, geschult durch die Erfahrung des Kirchenkampfes, sieht Barth das Defizit dieser Abstinenz und korrigiert sich mit folgender Begründung: „Vielleicht war dieser Puritanismus damals nötig oder doch entschuldbar. Heute geht das so nicht mehr. Heute ist der totale Staat nicht als Idee, sondern als praktische Macht auf dem Plane, und wie man zu dieser Sache – laut oder leise – etwas Anderes als eben Nein sagen können soll, das kann ich nicht einsehen.“18
Das Erscheinungsbild der Dialektischen Theologie ist aber nicht nur in dieser politischen Perspektive vielgestaltig. Sobald ihre führenden Vertreter beginnen, aus dem Modus des Protests, der Kritik oder Korrektur der vorherrschenden theologischen Muster herauszutreten und selbst programmatisch zu arbeiten, zeigt sich, dass sie zwar alle nach wie vor irgendwie dialektisch arbeiten und argumentieren, aber 17 So in einem Brief an Pierre Maury vom 12. Oktober 1938 (KBA 9238.152; auszugsweise abgedruckt in Barth, Offene Briefe 1935–1942, S. 124–125; französische Edition: Barth/Maury: Correspondance 1928–1956, S. 133–138. 18 Ebd.
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im Blick auf die ihnen wichtigen Probleme, Themen und Ziele des theologischen Denkens und Arbeitens doch sehr unterschiedliche Ansätze entwickeln. Skizziert sei diese Vielfalt nun noch anhand der frühen Weggefährten Barth, Brunner und Gogarten und ihrer Entwicklung in den 1920er Jahren. Ausgewählt habe ich sie deshalb, weil sie die wirkmächtigsten Systematiker der Dialektischen Theologie waren und sich an ihren signifikant voneinander abweichenden Schwerpunkten das Ende der ursprünglichen Gemeinsamkeiten gut anschaulich machen lässt. a) Friedrich Gogarten Besonders aufgrund seines Aufsatzes Zwischen den Zeiten,19 in dem er sich von der damals gängigen Deutung einer Zeitenwende abhebt, und seiner Rede von einer Krisis der Kultur,20 mit der er die radikale Infragestellung alles Weltlichen und alles Menschlichen durch Gott meint, wird Gogarten von Barth, wie gezeigt, als verwandter Denker erkannt. Die Beiden und Eduard Thurneysen verbindet ab 1920/21 eine tief empfundene Gemeinsamkeit, die sich auch in der gemeinsam mit Georg Merz Ende 1922 vollzogenen Gründung von Zwischen den Zeiten äußert, die jedoch nicht von Dauer sein wird. Mitte, spätestens aber Ende der 1920er Jahr wird klar, dass die Interessen doch verschieden sind; in einer Rezension von Barths Christlicher Dogmatik im Entwurf macht Gogarten die Differenzen publik,21 vermisst er bei Barth doch eine genauere Klärung der Begriffe, ein Eingehen auf das Wesen der Geschichte und speziell eine sorgfältigere Anthropologie mit einem stärkeren Interesse für den Menschen, der Gott gegenübersteht.22 Diesem Vorwurf entsprechen wichtige weitere Veröffentlichungen Gogartens, in denen sein Interesse an anthropologischen Fragestellungen durch die Aufnahme des Ich-Du-Personalismus und der Geschichtlichkeit dieser Begegnung als konstitutives Moment der Wirklichkeit des Menschen erweitert und vertieft wird.23 Beides macht Gogarten verstärkt „anfällig gegenüber historisch inszenierten Aktualismen auf dem Feld des Politischen“;24 dies zeigt sich noch zu Zeiten der Weimarer Republik in seiner immer stärkeren Annäherung an ein autoritäres Staatsverständnis, 25 spätestens aber 1933, als er der Ineinssetzung von Volks- und Gottesgesetz das Wort redet und schließlich den „Deutschen Christen“ beitritt.26 Spätestens zu diesem Zeitpunkt sind Barth und Gogarten geschiedene Leute, und es wird in den folgenden gut dreißig Jahren bis zum Tode Gogartens keine Aussöhnung geben.
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Gogarten (1920): Zwischen den Zeiten. Gogarten (1920): Die Krisis der Kultur. Barth (1927): Die Christliche Dogmatik. Gogarten (1929): Karl Barths Dogmatik, bes. S. 19f. Vgl. bes. Gogarten (1929): Das Problem einer theologischen Anthropologie. Korsch (1999): Dialektische Theologie, Sp. 812. Vgl. bes. Gogarten (1930): Wider die Ächtung; ders. (1932): Politische Ethik. Vgl. Gogarten (1933): Einheit. Siehe dazu auch unten, Abschnitt 4.
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b) Emil Brunner Eine ebenfalls in anthropologischer Richtung sich weiterentwickelnde Theologie betreibt bald auch Emil Brunner. 1924 zeigt sich Brunner in seinem Buch Die Mystik und das Wort,27 einer Auseinandersetzung mit Schleiermacher und seiner Art, Theologie zu treiben, ganz an der Seite der Dialektischen Theologie, ist er in der Radikalität seiner Kritik sogar konsequenter als Barth selbst. Im englischsprachigen Raum gilt der sprachgewandte Brunner lange Zeit als der Dialektische Theologe; zu einer stärkeren Wahrnehmung Barths kommt es hier erst mit einiger Verzögerung. Auch bei Brunner zeigt sich aber bereits in den 1920er Jahren eine Hinwendung zu stärker anthropologisch orientierten Fragestellungen. In Brunners Worten: zu der „anderen Aufgabe“ der Theologie, nämlich „zu zeigen, wie durch das Wort Gottes die menschliche Vernunft teils als Quelle lebensfeindlichen Irrtums enthüllt, teils in ihrem eigenen unvollendbaren Suchen erfüllt wird“,28 bzw. zu der Suche nach einem „Anknüpfungspunkt“ für das göttliche Gnadenhandeln im Menschen.29 Schließlich entwickelt Brunner 1934 eine seiner Meinung nach gut reformatorische Anschauung von Natur und Gnade im dezidierten Gegensatz zu Barth und seiner gerade im deutschen Kirchenkampf vehement betriebenen Abwehr jeglicher Natürlicher Theologie.30 Barth antwortet sehr schlicht mit einem Nein!;31 sein Verhältnis zu Brunner bleibt jedoch – von diesen und weiteren theologischen Auseinandersetzungen abgesehen – ein durchaus freundschaftliches. c) Karl Barth Barths eigene Theologie wiederum entwickelt sich inzwischen von der starken Betonung der Dialektik in den frühen Jahren in quasi entgegengesetzter Richtung weiter. Durch das akademische Lehramt genötigt, bleibt auch er nicht im Gestus des Protests stecken, sondern arbeitet kontinuierlich daran, zu einer theologisch verantwortbaren Rede von Gott zu kommen, die die Unverfügbarkeit der göttlichen Offenbarung ernst nimmt und sich dennoch traut, materiale dogmatische Aussagen zu machen. Über die intensive Beschäftigung mit der reformatorischen Theologie und der protestantischen Orthodoxie, zwei Anläufe zu einer eigenen Dogmatik32 und die in der Studie Fides quaerens intellectum33 sich niederschlagende Auseinandersetzung mit Anselm von Canterbury (ca. 1033–1109) gelangt er zu der Methode, 27 28 29 30 31 32
Brunner (1924): Die Mystik und das Wort. Brunner (1929): Die andere Aufgabe, S. 260. Brunner (1932): Die Frage nach dem „Anknüpfungspunkt“. Brunner (1934): Natur und Gnade. Barth (1934): Nein! Noch vor der schon genannten Christlichen Dogmatik im Entwurf hielt Barth in Göttingen und Münster eine erste ausgeführte, zeitgenössisch unveröffentlicht gebliebene Dogmatik-Vorlesung unter dem Titel Unterricht in der christlichen Religion. 33 Barth (1931): Fides quaerens intellectum.
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auf dem Weg der Analogie zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus Aussagen auch über Gottes Sein zu formulieren. Es ist ihm daran gelegen, letzte Reste anthropologischer Begründungsmuster in seiner Theologie zu eliminieren. Seine Reaktion auf Gogartens Kritik an der vermeintlich defizitären Anthropologie der Christlichen Dogmatik im Entwurf bringt es auf den Punkt. Im Vorwort zum ersten Band der Kirchlichen Dogmatik antwortet Barth, dass er nun einiges „besser verstanden zu haben meine“ und daher „in dieser zweiten Fassung des Buches tunlichst Alles, was in der Ersten nach existentialphilosophischer Begründung, Stützung oder auch nur Rechtfertigung der Theologie allenfalls aussehen mochte, ausgeschieden habe“.34 Schon an diesen wenigen Punkten wird deutlich, dass die Rede von der einen Dialektischen Theologie allenfalls auf eine recht kurze Phase in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zutrifft. Jedoch ist auch dafür Barths eigene Rede von einer theologischen „Arbeitsgemeinschaft“ wohl zutreffender.35 Wenn es überhaupt jemals eine umfassende theologische Gemeinsamkeit einer größeren Gruppe unter diesem Zeichen gab, dann zeigte sie bereits nach wenigen Jahren deutliche Risse und zerbrach bald darauf. Der Kirchenkampf war hierfür nicht ausschlaggebend, sondern wirkte allenfalls als Katalysator und beschleunigte die Entwicklung. Dazu ein abschließender kurzer Ausblick. 4. AUSBLICK: KARL BARTHS ABSCHIED IM HERBST 1933 Bis zum Beginn des Kirchenkampfes, so Barth später, waren die Differenzen zwischen den Herausgebern von Zwischen den Zeiten und die Vielfalt der abgedruckten Meinungen hinnehmbar. Eine Entscheidung war nicht nötig, denn: „es war eben doch noch immer Friedenszeit“.36 Dennoch sind schon zum Jahreswechsel 1932/33 die Gegensätze so groß und auch öffentlich sichtbar geworden, dass Barth nicht weiter so tun will, als arbeite man gut zusammen. An Georg Merz schreibt er: „Ich bin es leid, hier nach außen den Anschein einer Gemeinschaft zu erwecken oder zu unterstützen, die ich als […] gebrochen ansehen muss, und damit so und so viel gutmütigen Leuten Anlass zu geben zu dem Irrwahn, als ob sie sich in aller Behaglichkeit miteinander das, was ich vertrete, und Brunners Anknüpfungspunkt und Oxfordbewegung und Gogartens Schöpfungsordnungen samt Ständelehre, Polis etc. gefallen lassen und als ‚irgendwie‘ berechtigte ‚Anliegen‘ aneignen könnten“.37
Es gelingt Merz, den Bruch noch einmal abzuwenden; die Zeitschrift erscheint fortan jedoch ohne die Nennung der Herausgeber.
34 35 36 37
Barth (1932): KD I/1, S. VIII. A.a.O., S. X. Barth (1933): Abschied, S. 502. Brief vom 20. Januar 1933 (KBA 9233.25; Barth [1933]: Briefe, S. 42).
Die Dialektische Theologie als geistiger Umbruch in der Weimarer Republik
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Das Jahr 1933 wird Gogarten dann in den Reihen der „Deutschen Christen“ wiederfinden; dies, Brunners Beharren auf seinem ihn von Barth immer weiter entfernenden Weg, vor allem aber die sich zuspitzende Lage in Kirche und Theologie machen für Barth auch im Blick auf Zwischen den Zeiten eine Entscheidung notwendig; und Entscheidungen – so sein häufig geäußerter Hinweis – führen allemal zu Scheidungen. Besonders Gogartens Verhalten entsetzt ihn: „Irgendeinmal im Lauf dieses Sommers las man dann […] das Bekenntnis Gogartens […], dass das Gesetz Gottes für uns identisch sei mit dem Nomos des deutschen Volkes. Dass Gogarten sich wenig später […] auch kirchenpolitisch an die Seite von Ludwig Müller und Joachim Hossenfelder stellte, war und ist mir verhältnismäßig nebensächlich neben der Tatsache jenes […] Bekenntnisses. Gogarten hat sich mit diesem Satz die entscheidende These der Deutschen Christen zu eigen gemacht.“38
Dass Barth Gogartens Verhalten für „folgerichtig“ hält, macht die Sache nicht besser: „Gogarten wird sich über mich so wenig wundern wie ich mich über ihn wundere. Die Sonne hat es ja bei mir wie bei ihm nur an den Tag gebracht. Wir sind jetzt beide klüger als wir vor dreizehn Jahren oder noch vor einem Jahr waren. Das muss aber heißen: wir sind nun geschiedene Leute.“39
Weil Barth bei Georg Merz keine ähnlich konsequente Haltung sieht, kündigt er daraufhin seinen Rückzug aus der Zeitschrift Zwischen den Zeiten an, und zwar in Form eines Aufsatzes mit dem Titel Abschied. Seine Worte sind von einer solchen Wucht und Wirkung, dass Verleger und Schriftleiter sich gezwungen sehen, mit Barths Rückzug auch die Zeitschrift einzustellen. Damit wird das Ende der Dialektischen Theologie als Arbeitsgemeinschaft der sie ursprünglich tragenden Theologen auch nach außen sichtbar. Eine letzte Bemerkung zur Benennung sei gestattet: Redet man, dem ursprünglichen Anliegen gemäß, von einer Theologie des Wortes Gottes, werden die Gründe für dieses Auseinanderbrechen viel durchsichtiger, denn: Irgendwie dialektisch arbeiten ja alle weiter. Während Brunner und vor allem Gogarten jedoch diesem einen Anliegen rasch weitere hinzufügen und ihre Arbeit immer mehr darauf konzentrieren, ist und bleibt Barths theologisches Denken ein solches, das konsequent und im Grunde immer konsequenter um das Wort Gottes – in seinen drei Gestalten (Jesus Christus, Bibel, Bekenntnis und Predigt der Kirche) – kreist, von ihm ausgeht und zu ihm hinführt. So mag das, was Barth über Zwischen den Zeiten schrieb, vielleicht auch insgesamt für das kurzzeitige Zusammentreffen und das Aufscheinen einer theologischen Arbeitsgemeinschaft zwischen im Grunde sehr verschiedenen Theologen gelten: Es war vielleicht wirklich nur „ein Missverständnis“, jedoch, wie er sogleich hinzufügte: ein „produktives Missverständnis“!40
38 Barth (1933): Abschied, S. 502f. 39 A.a.O., S. 504f. 40 A.a.O., S. 509.
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Peter Zocher
LITERATURVERZEICHNIS Anfänge der dialektischen Theologie, Teil II: Rudolf Bultmann. Friedrich Gogarten. Eduard Thurneysen, hg. von Jürgen Moltmann (TB 17/II), München 1987. Barth, Karl: Der Römerbrief (Erste Fassung). 1919, hg. von Hermann Schmidt (GA, Abt. II/16), Zürich 1985. Ders.: Der Christ in der Gesellschaft [1919], in: Ders.: Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, hg. von Friedrich-Wilhelm Marquardt (†) und Hans-Anton Drewes (GA, Abt. III/48), Zürich 2012, S. 546–598. Ders.: Der Römerbrief (Zweite Fassung). 1922, hg. von Cornelis van der Kooi und Katja Tolstaya (GA, Abt. II/47), Zürich 2010. Ders.: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie [1922], in: Ders.: Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von Holger Finze (GA, Abt. III), Zürich 1990, S. 144–175. Ders.: „Unterricht in der christlichen Religion“, Erster Band: Prolegomena. 1924, hg. von Hannelotte Reiffen (GA, Abt. II/17), Zürich 1985; Zweiter Band: Die Lehre von Gott/Die Lehre vom Menschen. 1924/1925, hg. von Hinrich Stoevesandt (GA, Abt. II/20), Zürich 1990; Dritter Band: Die Lehre von der Versöhnung/Die Lehre von der Erlösung. 1925/1926, hg. von Hinrich Stoevesandt (GA, Abt. II/38), Zürich 2003. Ders.: Die Christliche Dogmatik im Entwurf, Erster Band: Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik. 1927, hg. von Gerhard Sauter (GA, Abt. II/14), Zürich 1982. Ders.: Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms. 1931, hg. von Eberhard Jüngel und Ingolf U. Dalferth (GA, Abt. II/13), Zürich 32002. Ders. (1932): Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1, München 1932. Ders.: Abschied [1933], in: Ders.: Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, hg. von Michael Beintker, Michael Hüttenhoff und Peter Zocher (GA, Abt. III/49), Zürich 2013, S. 492–515. Ders.: Briefe des Jahres 1933, hg. von Eberhard Busch unter Mitarbeit von Bartolt Haase und Barbara Schenck, Zürich 2004. Ders.: Nein! Antwort an Emil Brunner [1934], in: Ders.: Vorträge und kleinere Arbeiten 1934–1935, hg. von Michael Beintker, Michael Hüttenhoff und Peter Zocher (GA, Abt. III/52), Zürich 2017, S. 429–527. Ders.: Nachwort. In: Schleiermacher-Auswahl, hg. von Heinz Bolli, München/Hamburg 1968, S. 290–312. Ders. – Maury, Pierre: Nous qui pouvons encore parler… Correspondance 1928–1956, introduced, translated, and ed. by Bernard Reymond, Lausanne 1985. Ders.: Offene Briefe 1935–1942, hg. von Diether Koch (GA, Abt. V/36), Zürich 2001. Beintker, Michael: Barths Abschied von „Zwischen den Zeiten“. Recherchen und Beobachtungen zum Ende einer Zeitschrift [2009], in: Ders.: Krisis und Gnade. Gesammelte Studien zu Karl Barth, hg. von Stefan Holtmann und Peter Zocher, Tübingen 2013, S. 86–107. Brunner, Emil: Die Mystik und das Wort: Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben, dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen 1924. Ders.: Die andere Aufgabe der Theologie, in: ZZ 7 (1929), S. 255–276. Ders.: Die Frage nach dem „Anknüpfungspunkt“ als Problem der Theologie, in: ZZ 10 (1932), S. 505–532. Ders.: Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, Tübingen 1934 (2., stark erw. Aufl., Tübingen 1935). Fischer, Hermann: Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002. Friedrich Gogartens Briefwechsel mit Karl Barth, Eduard Thurneysen und Emil Brunner, mit einer Einführung hg. von Hermann Götz Göckeritz, Tübingen 2009. Gogarten, Friedrich: Die Krisis der Kultur, in: ChW 34 (1920), Sp. 770–777; Sp. 786–791 (Wiederabdruck: Anfänge der dialektischen Theologie II, S. 101–121).
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Ders.: Zwischen den Zeiten, in: ChW 34 (1920), Sp. 374–378 (Wiederabdruck: Anfänge der dialektischen Theologie II, S. 95–101). Ders.: Karl Barths Dogmatik, in: ThR.NF 1 (1929), H. 1, S. 60–80. Ders.: Das Problem einer theologischen Anthropologie. Vortrag in Kopenhagen 1929, in: ZZ 7 (1929), S. 493–511. Ders.: Wider die Ächtung der Autorität, Jena 1930. Ders.: Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung, Jena 1932. Ders.: Einheit von Evangelium und Volkstum?, Hamburg 1933. Korsch, Dietrich: Art. Dialektische Theologie, in: RGG4 II (1999), Sp. 809–815. Pannenberg, Wolfhart: Art. Dialektische Theologie, in: RGG 3 II (1958), Sp. 168–174.
RELIGIÖSER SOZIALISMUS UND LUTHERRENAISSANCE ALS POLITISCHE THEOLOGIEN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Alf Christophersen 1. STREIT UM KOMPETENZBEREICHE Politik und Theologie sind, wenn auch oft nur untergründig, untrennbar miteinander verbunden und mit verschiedenen Akzenten gleichzeitig präsent. Theologische Texte, welcher Gattung auch immer, haben stets politische Implikationen. Beide Bereiche kommentieren, ergänzen und kritisieren sich wechselseitig im permanenten Ringen um zu gestaltende Gegenwart. In der Weimarer Republik werden unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen Konzepte einer dezidiert Politischen Theologie entwickelt. Im Zentrum politisch-theologischen Selbstverständnisses stehen mit leitenden Begriffen wie Reich Gottes und Zwei-Reiche-Lehre Religiöser Sozialismus und Lutherrenaissance, die sich gerade auch in konfliktären Debatten mit der Dialektischen Theologie profilieren. Wenn sie im vorliegenden Zusammenhang mit Blick auf einige ihrer maßgeblichen Protagonisten als charakteristische Ausformungen Politischer Theologie in der Weimarer Republik und dann auch im Nationalsozialismus in den Fokus genommen werden, bietet es sich an, vorab den verwendeten Oberbegriff selbst näher zu charakterisieren. Dies ist umso nötiger, da er über eine ausgeprägte Deutungsoffenheit verfügt und in den Weiten seiner theoretischen und praktischen Geschichte von Fliehkräften geprägt ist, die eine bis in die Gegenwart reichende ungebremste Dynamik gerade auch inhaltlicher Verschiebungen erkennen lassen. Trotz allem kennzeichnet die Rede von Politischer Theologie den Versuch, das In-, Mit- und Gegeneinander von Theologie und Politik begrifflich zu durchdringen, um somit nicht zuletzt auch die sich ausdrückenden Legitimitäts- und Geltungsansprüche zu konkretisieren. Mit der gegenüber seinem Lehrer Carl Schmitt (1888–1985) formulierten Absicht, „eine begriffliche Klärung in das Reden von politischer Theologie zu bringen“,1 hatte Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019) 1980 einige Thesen ausgearbeitet. Sie waren ein Beitrag zu der von Jacob Taubes (1923–1987) verantworteten Bad Homburger Tagung Politische Theologie III.2 Seine Kategorisierungsversuche bieten sich hier als problemorientierter Einstieg an, da mit ihnen zugleich auch Carl Schmitt aufgenommen werden kann, dessen Reflexionen zur Politischen Theologie – ob ausgesprochen oder nicht – alle weiteren Interpretationsversuche 1 2
Ernst-Wolfgang Böckenförde an Carl Schmitt, 29. Januar 1980, in: Mehring (2022): Böckenförde/Schmitt, Briefwechsel, S. 669f.; hier: S. 669. Mehrfach gedruckt, hier zitiert nach: Böckenförde (1983): Politische Theorie.
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Alf Christophersen
begleiten. Politische Theorie, die die Existenz Gottes auf die Glaubenswelten verlagere und somit ausblende, identifiziert Böckenförde als „virtuellen Atheismus“. Wenn aus sachlicher und methodischer Perspektive nur die „Verstandeserkenntnis“ Gültigkeit haben dürfe, laufe dies dann auf ein Problem zu, wenn gleichzeitig der „Anspruch“ erhoben werde, „hinreichende Grundlage für eine volle Erkenntnis politisch-sozialer Wirklichkeit und der Probleme politischer Ordnung zu sein“.3 Max Weber (1864–1920) sei es schließlich gewesen, reklamiert Böckenförde, der soziologisch motiviert, Legitimitätstypen und -glauben ergründet habe, als er „nach den Motivationen, inneren Antriebskräften des sozialen Handelns und den sie tragenden Vorstellungen und Überzeugungen“ fragte.4 Diese Perspektive lasse sich nicht einfach negieren, und so hätten „Religion, religiöse Glaubensüberzeugungen und Aussagen der Theologie wieder Einlaß in die wissenschaftlich aussagbare politisch-soziale Wirklichkeit“ gefunden.5 Um schließlich ihre sachliche Relevanz identifizieren zu können, sei es erforderlich, das ihnen jeweils eigene Selbstverständnis zu ergründen. Eine reine Außenperspektive, die „auf den sozial-funktionalen Aspekt“ begrenzt sei,6 reiche nicht aus. Vor diesem Hintergrund kommt Böckenförde auf Schmitts Politische Theologie von 1922 zu sprechen und unterstreicht den viel bemühten Satz, mit dem das dritte Kapitel einsetzt: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“7 Dieser Gedanke sei, kommentiert Böckenförde, nicht nur Ausdruck eines „Umsetzungsvorgang[es]“, sondern „er zeigte auch, wie wenig das sich ganz weltlich und wissenschaftlich verstehende moderne staatsrechtliche Denken der Theologie entronnen war, sondern statt dessen in Form des Begriffserwerbs von ihr lebte“.8 Um die Varianten politischer Theologie zu kategorisieren, hebt Böckenförde drei Typen voneinander ab: eine „juristische“, eine „institutionelle“ und eine „appellative politische Theologie“. Unter die erste Rubrik falle der genannte Ansatz Carl Schmitts, den Böckenförde als „Begriffssoziologie“ begreift, als „eine Soziologie juristischer, genauer: staatsrechtlicher Begriffe“,9 deren Selbständigkeit somit hinterfragt werde. Vertreter der zweiten Form verstünden unter einer politischen Theologie den „Inbegriff der Aussagen eines Gottesglaubens (einer inhaltlich näher bestimmten göttlichen Offenbarung) über den Status, die Legitimation, Aufgabe und evtl. Struktur der politischen Ordnung, einschließlich des Verhältnisses der politischen Ordnung zur Religion“.10 Im Christentum fände sich diese Form „sehr nachhaltig“, wenn auch nicht exklusiv.11 Über den Ordnungsgedanken kommen Institutionen wie die Kirche ins Spiel, deren Legitimitätsansprüche geprüft werden. Böckenförde führt etwa Augustin, Luther, Hegel oder Papst Leo XIII. an, verweist 3 4 5 6 7 8 9 10 11
A.a.O., S. 148. Ebd. A.a.O., S. 148f. A.a.O., S. 149. Schmitt (1990): Politische Theologie, S. 49. Böckenförde (1983): Politische Theorie, S. 149. A.a.O., S. 150. A.a.O., S. 150f. A.a.O., S. 151.
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aber auch auf das Zweite Vatikanische Konzil. Der dritte Typus lebe von einer „Interpretation der christlichen Offenbarung im Hinblick auf das von ihr geforderte Engagement der Christen und der Kirche für die politisch-soziale Ordnung (und deren Veränderung) als Verwirklichung christlicher Existenz“.12 Besonders betont werde ein gesellschaftskritischer Gemeinschaftsgedanke, der gegen individualistische Einengungen gerichtet sei. Insbesondere die „Theologie der Revolution“ und befreiungstheologische Ansätze hat Böckenförde hier vor Augen. Das Ethische dominiere. Es drücke sich in „Handlung und Aktion“ aus,13 hinter denen sachliche Begründungsmuster zurückbleiben könnten. Alle drei aufgezeigten Typen stünden in einem kritischen Wechselverhältnis zueinander. Eine von ihm konstatierte Abnahme der Bindungskraft institutioneller Strukturen sieht Böckenförde als Ursache für das verstärkte Hervortreten appellativer Momente. Das Verhältnis von Politik und Religion sei bleibend vom Streit um „Kompetenzbereiche von Kirche und politischer Ordnung“ geprägt. 14 Dieser Zustand werde stets dadurch bestimmt, dass es kaum möglich sei, die jeweiligen Anspruchssphären klar voneinander abzuheben. Erneut greift Böckenförde Carl Schmitt auf und bestimmt das Politische als „ein öffentliches Beziehungsfeld zwischen Menschen und Menschengruppen […], das durch einen bestimmten Intensitätsgrad der Assoziation oder Dissoziation gekennzeichnet ist, der sein ‚Material‘ aus allen Sach- und Lebensbereichen beziehen kann“.15 In seinen hier von Böckenförde rezipierten Überlegungen Der Begriff des Politischen hatte Schmitt „den Intensitätsgrad einer Verbindung oder Unterscheidung von Menschen“ festgehalten, der in seiner jeweiligen Erscheinungsform „politischen Situation[en] unterworfen“ und von der Freund/Feind-Unterscheidung bestimmt sei.16 Carl Schmitt reagierte in Politische Theologie II seinerseits auf die Aufnahme seiner Gedankengänge durch Böckenförde und zitierte zustimmend aus dessen Aufsatz Politisches Mandat der Kirche von 1969. Die Passage zum „Intensitätsgrad“ wird von Böckenförde auch hier aufgegriffen und mit der Einsicht flankiert: „Man entgeht dem Politischen daher nicht dadurch, daß man sich auf eine ‚neutrale Sachlichkeit‘, ein vor-politisches Naturrecht oder auf die ‚reine‘ Verkündigung der christlichen Heilsbotschaft zurückzieht. Auch diese Positionen werden, wenn sie in das Beziehungs- und Spannungsfeld des Politischen geraten, politisch relevante Positionen.“17
Böckenförde zieht aus dieser Diagnose den Schluss, dass sich die Kirche eng an ihren „Verkündigungsauftrag“ halten solle, der so oder so immer auch politisch sei, denn
12 13 14 15 16 17
A.a.O., S. 152. A.a.O., S. 153. A.a.O., S. 156. A.a.O., S. 157. Schmitt (1933): Begriff des Politischen, S. 21; bei Schmitt Hervorhebungen. Böckenförde (1969): Politisches Mandat, S. 104. Das Zitat bei Schmitt (1996): Politische Theologie II, S. 22 (dort wiedergegeben nach dem Erstdruck in Stimmen der Zeit 184 [1969], S. 361–373).
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Alf Christophersen „[d]er Versuch, dieses Handeln im Hinblick auf seine (möglichen) politischen Wirkungen noch einmal (über-) zu determinieren, würde zu einer Abkehr von dem eigenen Auftrag führen, indem das, was als mögliche Folge der Verkündigung sich ergeben kann, zum Ausgangspunkt für den Inhalt der Verkündigung gemacht wird.“
So drohe „[e]ine totale Politisierung“, die auf den „Verlust der Unbedingtheit kirchlicher Verkündigung“ hinauslaufen könne.18 Dies bedeute, ergänzt Böckenförde, dass es Situationen gibt, in denen eine „unbedingte Verkündigung der christlichen Wahrheit“ gefragt sei, die nicht als „politische Überdetermination“ gelten könne. Als Beispiel nennt er Bischof Clemens August Graf von Galen (1878–1946) und sein Predigen gegen die Euthanasie. Grundsätzlich gibt Böckenförde allerdings zu verstehen, dass eine Kirche, die sich auf ihr „Hüter- und Wächteramt“ berufe, damit „in der Praxis oftmals überfordert“ sei.19 Daraus ergibt sich für den Juristen die Frage, ob sie nicht darauf verzichten und ihre eigene Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit stärker unterstreichen solle. 2. KIRCHE UND THEOLOGIE – „GRENZE DES STAATES“? Böckenfördes Verweis auf den Bischof von Münster zeigt, dass besondere Situationen dann doch ihre eigenen Gesetze haben können. Als eine entsprechende Herausforderung könnte, der Logik Böckenfördes folgend, wohl auch die Barmer Theologische Erklärung vom Mai 1934 angesehen werden, in der der Anspruch auf ein prophetisches Wächteramt ausdrucksstark in Erscheinung tritt. Schon ein Jahr zuvor hatte Karl Barth (1886–1968) in Theologische Existenz heute! die Notwendigkeit betont, keine allgemeinen Überlegungen zur gegenwärtigen politischen Situation anzustellen, sondern das Offenbarungswort Gottes selbst in den Mittelpunkt zu rücken und dann auch „Theologie und nur Theologie zu treiben“.20 Die „theologische Existenz“ bestimmt Barth als „Existenz in der Kirche“. Dort sei „man sich einig darüber, dass es dem Menschen gut ist und dass ihm in Zeit und Ewigkeit nur dies Eine gute sein kann, dem Worte Gottes anzuhängen von ganzem Herzen, von ganzer Seele“.21 Gegen die „Deutschen Christen“ gewandt, betont Barth den daraus erwachsenden Auftrag, keinen „anderen Idealen und Aufgaben nach[zu]gehen, die nun eben uns nicht aufgetragen sind“.22 An jedem einzelnen Tag sei das Wort Gottes „wahr und unentbehrlich. Darum kann die Kirche, kann die Theologie auch im totalen Staat keinen Winterschlaf antreten, kein Moratorium und auch keine Gleichschaltung sich gefallen lassen.“ Konsequent identifiziert Barth die Kirche und die Theologie als „Grenze des Staates“.23 Unter Aufnahme der Wächter-Metaphorik formuliert er: „In der ihm aufgetragenen besonderen Sorge muss der Theologe 18 19 20 21 22 23
Böckenförde (1983): Politisches Mandat, S. 105. Ebd. Barth (1933): Theologische Existenz heute!, GA III/49, S. 280. A.a.O., S. 283; vgl. S. 285. A.a.O., S. 360. A.a.O., S. 362.
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wach bleiben, ein einsamer Vogel auf dem Dach“.24 Barth nimmt an dieser Stelle aus dem fünften Bußpsalm 102 – Domine, exaudi – den Vers 8 auf: „Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.“ In der Theologischen Erklärung von Barmen rückt insbesondere die zweite, der Königsherrschaft Christi gewidmete These in den Vordergrund: Den Menschen werde die vollständige Sündenvergebung in Christus zugesprochen und dieser sei „so und mit gleichem Ernst […] auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“. Formuliert wurde hier ein sozialethischer Maßstab, dessen Gültigkeit zumal von denjenigen behauptet wird, die die Annahme vertreten, dass aus der Christologie heraus unmittelbare Konsequenzen für ein politisches Handeln ableitbar sind. Schon während der Ersten Bekenntnissynode blieb diese These nicht unwidersprochen. Es waren vor allem die Lutheraner, die polarisierend die fünfte These akzentuiert sehen wollten, der zufolge mit der Zwei-Regimenten-Lehre im Hintergrund die Aufgabe des Staates betont wurde, „in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“. Am 11. Juni 1934 erfolgte mit dem Ansbacher Ratschlag eine Reaktion aus dem Erlanger Luthertum. Werner Elert (1885–1954) zeichnete, unterstützt von Paul Althaus (1888–1966), verantwortlich. In der dritten These wurde das Gesetz Gottes ins Zentrum gerückt. Es begegne „in der Gesamtwirklichkeit unseres Lebens, wie sie durch die Offenbarung Gottes ins Licht gesetzt wird“. Nicht die Christologie und das Evangelium werden fokussiert. Vielmehr ist es das Gesetz, das in den Mittelpunkt gestellt wird. „Es bindet jeden an den Stand, in den er von Gott berufen ist, und verpflichtet uns auf die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse (d.h. Blutszusammenhang).“ Der sich hier ausdrückende Offenbarungsgedanke steht der ersten These der Erklärung von Barmen diametral entgegen, wurde dort doch unter Rekurs auf das Neue Testament Jesus Christus als alleiniger Herr behauptet, als das „eine Wort Gottes“, „außer und neben“ dem keine „andere[n] Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung“ anzuerkennen seien (These 1). Im Ansbacher Ratschlag sind es demgegenüber die „natürlichen Ordnungen“, die beschworen werden. In ihnen dokumentiere sich der Wille Gottes „in unserem Heute und Hier“. Er „bindet […] uns auch an den bestimmten historischen Augenblick der Familie, des Volkes, der Rasse, d.h. an einen bestimmten Moment ihrer Geschichte“ (These 4). Für Karl Barth waren dies unzulässige Verklärungen irdischer Größen, die er mit seinem exklusiven Verständnis der Offenbarung in Christus konterte – auch gegenüber Emil Brunner (1889–1966), dessen Ausführungen zu Schöpfungsordnungen und natürlicher Theologie in seinem Buch Natur und Gnade vom Mai 1934 Barth im Oktober des Jahres mit einem wohlbegründeten Nein! entgegentrat und sich so von seinem dialektisch-theologischen Weggefährten deutlich abgrenzte: „Man kann, mit wirklicher Theologie beschäftigt, an der sog. natürlichen Theologie immer gerade nur vorbeikommen wie an einem Abgrund, in den man, wenn man 24 A.a.O., S. 363.
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nicht stürzen will, nun einmal nicht hineintreten soll.“25 Brunners Ausführungen identifiziert Barth als „Alarmzeichen“,26 als Form einer zutiefst in den Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhundert verankerten Vermittlungstheologie, die für die „gegenwärtige Katastrophe“ verantwortlich sei.27 Wenn hier nicht massiv widersprochen werde, „wenn gerade hinsichtlich ‚Natur und Gnade‘ kein frischer Wind und Pfiff den Vermittlungen, von denen wir nun so lange gelebt haben, an denen wir nun beinahe gestorben wären, ein Ende“ mache, befürchtet Barth „noch größere […] Katastrophen“.28 Immer wieder wird von Barth der spannungsreiche Zusammenhang von natürlicher Theologie, Vernunft und Offenbarung oder auch Erkenntnis Gottes in der Geschichte kritisch aufgerufen: Konfliktpotential, das bereits zum Zerwürfnis innerhalb des Kreises um Zwischen den Zeiten führte, sich aber auch weiterhin Ausdruck verschafft in der Nähe zwischen Emil Brunner und gerade auch Emanuel Hirsch (1888–1972) auf der einen Seite, dialektisch-theologisch motivierten Thesen Barths und seiner Anhängerschaft auf der anderen.29 In seinem Anfang Januar 1934 mehrfach gehaltenen Vortrag Gottes Wille und unsere Wünsche führt Barth ausdrücklich in einem Atemzug die Begriffe „Anknüpfungspunkt“ (E. Brunner) und „Auffangsform“ (E. Hirsch) an, die als notwendig hingestellt würden, um „Gottes Wort in Jesus Christus zu hören und aufzunehmen“.30 Einer derartigen Theologie gegenüber kann es für Barth, stellt er ebenfalls 1934 im Vorwort zu seinem Heft Offenbarung, Kirche, Theologie heraus, „keinen Mittelweg“ geben,31 sondern nur eine Entscheidung für die eine oder die andere Position. Hirsch sei nicht dazu im Stande, biblisch-exegetisch oder „durch Anknüpfung an die kirchliche Tradition“ seine Theologie abzusichern. Kennzeichnend sei für diese vielmehr das „‚Wagnis‘, das heißt freie Spekulation oder Grübelei“.32 Ob Evangelium oder Luther – alles werde zu einer „willkürliche[n] Erfindung“ vermengt, es liege, kommentiert Barth süffisant, eine „Themapredigt ohne Text“ vor; doch bleibt der Rundumschlag nicht auf Hirsch beschränkt, sondern wird zugleich noch auf einen anderen Protagonisten der Zeit erweitert, handele es sich doch um eine „theologisch gehaltlose und alle theologischen Elemente entleerende Kairosphilosophie genauso wie die seines religiössozialen Antipoden Paul Tillich“.33 Barth traf mit seinem Urteil über die Gemeinsamkeiten zwischen Tillich (1886–1965) und Hirsch einen neuralgischen Punkt – gerade in einem Moment, an dem sich beide wenige Monate später über den Atlantik hinweg vehement über die Deutung der „deutschen Stunde“ und ihre 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Barth (1934): Nein!, S. 451. A.a.O., S. 440. A.a.O., S. 439. Ebd. Vgl. dazu auch kontextualisierend: Christophersen (2020): Theologische Signatur. – Zur Abgrenzungsfrage zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus vgl. Christophersen (2008): Kairos, bes. S. 3; S. 168f. Barth (1934): Gottes Wille, GA III/52, S. 103. Barth (1934): Vorwort, GA III/52, S. 227. Ebd. A.a.O., S. 227f.
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theologischen Begründungsmuster streiten sollten. Die erste These der Barmer Erklärung war dann durchaus auch an Paul Tillich und religiös-sozialistische Einheitsvisionen von Reich Gottes und gesellschaftspolitischer sowie ökonomischer Situation adressiert. 3. VOM WAGNIS DER ENTSCHEIDUNG Unter dem Titel Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung veröffentlichte Emanuel Hirsch 1934 Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahrs 1933. Einem „Geleitwort“ stellt er einen Gedanken Goethes aus den Maximen und Reflexionen voran, der das Selbstverständnis eines Zeitdiagnostikers und -gestalters erkennen lässt: „Über Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat“. Die folgenden Sätze Goethes entfallen bei Hirsch, mögen aber hier und da beim kundigen Lesepublikum mitgeklungen haben: „So geht es ganzen Nationen. Die Deutschen können erst über Literatur urteilen, seitdem sie selbst eine Literatur haben.“34 Reflexion will Hirsch als Handlung verstanden wissen. Denken begreift er als Grenzüberschreitung, die eine neue Wirklichkeit erschließt. Mit einem Kierkegaard-Zitat im Hintergrund, betont Hirsch elitär gestimmt, dass der Gegenwart im Wagnis der Entscheidung entgegenzutreten sei: „Siehe, das große Kriegsschiff bekommt seine Bestimmung erst zu wissen auf hoher See, die Schute weiß alles im voraus.“35 Konkrete Aussagen über Weg und Dynamik gegenwärtiger Prozesse sind somit kaum möglich und entsprechen auch nicht dem Wesen der „zerrissene[n] Wirklichkeit“.36 Doch die Suche nach Orientierung erweist sich für Hirsch als dringlich. Bestimmte Formen des Existenzialismus und die Dialektische Theologie hält er für gescheitert und begründet ihr Versagen mit einer Abstraktheit, in der die Begriffe von der Wirklichkeit losgelöst worden wären. Entscheidende Existenzfragen der „Zeitenwende“ seien somit unbeantwortet geblieben, der verlorene Krieg und Versailles ohne angemessene Reaktion. „Theologie der Krise“ und „junge[m] nationale[m] Luthertum“37 sei aber zunächst der Kulturprotestantismus gemeinsamer Gegner gewesen, mit seiner undifferenzierten „Einebnung des Christentums zum geschichtsmächtigen ethisch-religiösen Träger des gesamten Lebens in Volk, Staat und Kultur“.38 Wie aber angemessene Reaktionen ausfallen konnten, wurde konträr verhandelt. Vom „junge[n] Luthertum“ sei „die Anschauung Luthers von den zwei 34 Goethe (1989): Maximen und Reflexionen, S. 395. 35 Hirsch weist das Zitat nicht nach. Es stammt aus: Kierkegaard (1964): Erbauliche Reden, S. 91. Kierkegaard wertet die Schute dann durchaus anschließend noch auf, wenn er (von Hirsch nicht zitiert) fortfährt: „Und in geistigem Sinne ist nur der auf hoher See, welcher alles tun will, gleichgültig, ob er der Höchste oder der Geringste ist; die Schute ist der Kluge, gleichgültig ob er der Höchste oder der Geringste ist.“ 36 Hirsch (1934): Geistige Lage, S. 112. 37 A.a.O., S. 114; bei Hirsch hervorgehoben. 38 A.a.O., S. 112.
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Reichen oder Ordnungen“ als zentraler Deutungsschlüssel aufgegriffen worden.39 Dabei rückte, konstatiert Hirsch, der Eschatologiebegriff in den Vordergrund – und dies polarisierend: Die Krisentheologie habe die Absicht, „von einer eschatologisch bestimmten Stellung zur Lage her die ethische Stellung, das Verständnis des Wegs, [zu] finden und [zu] begrenzen“. Demgegenüber sei das junge nationale Luthertum darauf ausgerichtet, „eschatologischer Betrachtung nur Raum innerhalb einer ethischen Bindung“ zu verschaffen, und zwar „innerhalb des Gehorsams des, das man als das durch die Stunde vom Herrn der Geschichte Aufgegebne zu erkennen meinte“.40 Auf diese Weise sei es nur das Luthertum gewesen, das auf die Herausforderungen des Jahres 1918 adäquat eingehen konnte. Es habe den erforderlichen Bezug zum „Volkstum“ hergestellt, in dem die einzige Möglichkeit zur Rettung lag. „Im Volkstum, da ist die Grenze, mit der des Schöpfers Wille und Leben das menschlich-geschichtliche Leben bindet und entbindet. Wer dem nachdachte, dem wurde der Offenbarungsund Gnadenbegriff aus bloßer christologischer Verengtheit befreit: Gottes Geschichte kennt vorlaufende Offenbarung und vorlaufende Gnade.“ 41
Der nationale Kampf erhalte somit eine Legitimitätsgrundlage, die die „Theologie der Krise“ nicht zu geben vermöge. „Volk und Staat“42 erklärte Hirsch zu den entscheidenden Konstanten: „Evangelische Theologie und Kirche, und die gegenwärtige Stunde in Volk und Staat, sie gehören zusammen.“43 Hirschs Standortbestimmung erfuhr unmittelbaren und prominenten Widerspruch. Paul Tillich meldete sich in einem Offenen Brief aus New York zu Wort: Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage.44 Mit Nachdruck wandte er sich gegen die Identifizierung von göttlichem Willen und Machtergreifung als „Stunde des deutschen Volkes“, wie sie sein enger Freund Emanuel Hirsch propagierte und damit, kritisierte Tillich, die Kairos-Lehre in verhängnisvoller Weise instrumentalisierte. Die Einwürfe aus dem amerikanischen Exil sind nicht nur eine Abwehr der von Hirsch präsentierten Positionen, sondern geben zugleich auch Einblick in die Strukturen eigenen religiös-sozialistischen Denkens. Tillich hebt eine sakramentale und eine profetische Haltung voneinander ab, als „Unterscheidung zwischen der Heiligsprechung eines in Raum und Zeit Gegebenen und dem Heiligen, das im Sinne der Reichsgottesverkündigung Jesu ‚nahe herbeigekommen ist‘, also zugleich verheißen und gefordert ist“.45 Dieser eschatologische Bezug stellt ein wesentliches Moment der von Tillich in der frühen Weimarer Republik konzipierten Kairos-Lehre dar, die er jetzt zwischen der Theologie „des jungen nationalen Luthertums“ und Zugängen der „dialektischen Theologie“ verortet sehen will. Beiden gegenüber verkörpere die Kairos-Theologie „die prophetisch39 40 41 42 43 44 45
A.a.O., S. 115; bei Hirsch Hervorhebungen. A.a.O., S. 114. A.a.O., S. 117. A.a.O., S. 131. A.a.O., S. 134; aber auch S. 135; vgl. S. 153. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Christophersen (2008): Kairos, bes. S. 157–215. Tillich (1934): Theologie des Kairos, GWE 6, S. 151f.
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urchristliche Paradoxie, daß das Reich Gottes in der Geschichte kommt und doch über der Geschichte bleibt“. Eindeutig fällt Tillichs Urteil über Hirsch aus: „Du verkehrst die prophetisch-eschatologisch gedachte Kairos-Lehre in priesterlichsakramentale Weihe eines gegenwärtigen Geschehens.“46 Damit stelle Hirsch sich zwar „auf den Boden der religiös-sozialistischen Deutung des bürgerlichen Zeitalters“, ein wesentlicher Unterschied bestehe allerdings darin, dass der Religiöse Sozialismus „die Gegenwart als ein Ringen um das Kommende“ verstand, „in dem es für die Theonomie mehr Niederlagen als Siege gab und in dem ein gläubiger Realismus [...] davor bewahrte, romantisierend in irgend einem Ereignis die Erfüllung zu sehen“.47 Diese Differenz sehe Hirsch jedoch gerade nicht und befördere die absolute Wertung geschichtlicher Ereignisse – ablehnend das Jahr 1918, zustimmend 1933 – zu theologischer Gültigkeit. Dabei verwechsele er Propaganda und Theologie. Der Machtergreifung messe Hirsch heilsgeschichtlichen Rang bei und blende den dialektischen Charakter des Dämonischen aus, indem er an die Stelle eines gläubigen Realismus bruchlosen Enthusiasmus setzte.48 Hirsch selbst geht in seinen Vorlesungen zur Geistige[n] Lage auch auf die strukturelle Nähe zu seiner persönlichen theologischen Haltung ein: Religiöser Sozialismus und junges nationales Luthertum seien in einem ganz bestimmten Punkt verwandt, denn „der Glaube wagte“ bei beiden „eine geschichtliche Entscheidung“. Hirsch attestiert dem Gegenüber zudem die Leistung, im Kontakt mit „eine[r] christentums- und kirchenfeindliche[n] Bewegung“ zu einer selbstkritischen „Besinnung auf den Glauben im Unglauben“ gelangt zu sein, wodurch „eine Betrachtung des ganzen geschichtlichen Geschehens unter dem Gesichtspunkte des verborgen überall wirksamen Religiösen entzündet“ worden sei. Aus dieser Konstellation heraus sei dann auch das für Tillich spezifische Zeitkonzept hervorgegangen. „Die Meinung, in der großen Krise euramerikanischer Kultur wagend für eine kommende gegen eine untergehende Welt Stellung genommen zu haben, hat den Begriff des Kairos, der von Gott gegebenen fordernden geschichtlichen Entscheidungsstunde, erzeugt.“
Eine gewisse Dialektik kann nun darin erkannt werden, dass Hirsch an dieser Stelle prägende Rückwirkungen auf das Luthertum ausmacht, das im Konkurrenzkampf noch profitierte: Das „junge nationale Luthertum“ befreite sich im Ringen mit den religiösen Sozialisten aus „bürgerliche[r] Enge“, und seine geistigen Führer waren „lebendig genug [...], um sich ehrlich an den Nationalsozialismus als die geschichtliche Gestalt der von ihnen geforderten Entscheidung und als den Einsatz eines neuen deutschen Geschichtsalters zu geben“.49 Der Offene Brief Tillichs an Hirsch fand eine zeitnahe Reaktion in einem Schreiben an den Herausgeber des Deutschen Volkstums Wilhelm Stapel (1882– 1954). Er hatte 1932 seine Abhandlung Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus veröffentlicht und mit dem darin entfalteten Volksnomos-Begriff Theologen wie Hirsch und Gogarten in ihrer Andienung an die NS-Ideologie 46 47 48 49
A.a.O., S. 152. A.a.O., S. 152f. Vgl. a.a.O., S. 155. Hirsch (1934): Geistige Lage, S. 121.
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ein zentrales Theorieelement geliefert.50 Hirsch veröffentlichte in der Hanseatischen Verlagsanstalt den Brief als Teil des kleinen Buches Christliche Freiheit und politische Bindung. Massiv wendet er sich gegen Tillichs Behauptung, seine Kairos-Lehre übernommen und unzulässig auf die deutsche Stunde des Nationalsozialismus übertragen zu haben. Etwaige Gemeinsamkeiten hätten ihren Grund vielmehr in der von beiden geteilten Verankerung im Deutschen Idealismus.51 In Abgrenzung von Tillich identifiziert Hirsch die volkhafte Bindung seines Geschichtsdenkens nicht allein als Definitionszentrum der eigenen Positionsbestimmung in der Daseinsorientierung nach 1918, sondern geradezu als maßgeblichen Punkt der Unterscheidung von Freund und Feind im Intellektuellenkreis. Und die Anwendung des Distinktionskriteriums auf den konkreten Streitfall folgt umgehend: Tillich sei durch marxistisches Denken so deutlich beeinflusst gewesen, „daß er blind wurde für die eigentliche bindende und schöpferische Mitte alles irdischpolitischen Geschehens, für Volk und Staat als die Geschichtsmacht“. Die von Tillich vertretene „Dreiheit von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft“ zeige sich als dieser Macht unterworfen, weil sie „nicht in dem gleichen primären Sinne Gesetz des Daseins ist wie Volk und Staat“.52 An dieser Stelle untermauert Hirsch nun seine Konzentration auf den Volksgedanken mit dem Konzept eines „verborgenen Souveräns“, das bereits 1933 in der von ihm mitherausgegebenen Monatsschrift Glaube und Volk entfaltet, in Die gegenwärtige geistige Lage knapp erörtert, dann von Tillich angegriffen und im Brief an Stapel noch einmal verdichtet wird.53 Hirschs Souveränitätsgedanke ist ein Angriff auf die Weimarer Republik. In ihr würden die Bürger zur Obrigkeit erklärt und somit zum Souverän. Diese Staatsvorstellung empfindet Hirsch als Zumutung: „echt reformatorische Haltung dem Staate von Weimar gegenüber schlägt in Satire und Polemik um“. Was bleibe, hält Hirsch fest, sei ein sachlicher Umgang, der „sich an die gegebenen Spielregeln“ halte.54 Provoziert fühlte sich Hirsch allerdings dazu, ein eigenes Souveränitätsund Staatsverständnis zu entfalten, um somit eine Alternative benennen zu können: „So haben wir im Verhältnis zur Volkheit eben das gefunden, was die Reformatoren an ihrer Beugung unter die Obrigkeit fanden: ein von Gott als dem Herrn der Geschichte gesetztes Dienstverhältnis“.55 Der Dienstbegriff wird für Hirsch zu einem zentralen strategischen Instrument, um Bindung an das Volk und die ihm gegenüber bestehende Verpflichtung zu dokumentieren. Im betonten Rekurs auf reformatorischen Geist drückt er für ihn die im Gewissen verankerte, „verantwortliche[…] Haltung des freien Mannes“ aus, die auf die „Erfüllung der gegenwärtigen deutschen Stunde“ ausgerichtet sei.56 Der Gegner wird erneut klar benannt: „Niemand sah 50 51 52 53
Zu Stapel vgl. Christophersen (2021): Stapel und das Deutsche Volkstum. Vgl. Hirsch (1935): Christliche Freiheit, S. 23. A.a.O., S. 26f. Zu Hirschs Vorstellung vom „verborgenen Suverän“ vgl. v.a. auch Assel (1994): Aufbruch, bes. S. 258–263; ders. (2016): Hirsch, bes. S. 43f. (mit Anm. 3 zu Hirschs Rezeption von Carl Schmitt) und S. 50–53; Scheliha (2013): Protestantische Ethik, bes. S. 167–175. 54 Hirsch (1933): Vom verborgenen Suverän, S. 5. 55 Ebd. 56 A.a.O., S. 6.
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deutlicher, daß die demokratisch verstandene Volksuveränität [!] ein karikierender Mißbrauch der wahren Dienstbarkeit des Staats am Volke und seiner Sendung war.“57 Ein Obrigkeitsanspruch sei somit verwirkt. Von dieser Position aus „präge ich nun“, konstatiert Hirsch, „die Formel: das Volk […] ist der verborgene, und damit der wahre Suverän“. Ausdrücklich schließt Hirsch auch gegen „reformatorische Lehre“ das Mittel der Revolution nicht aus, um diese Einsicht politisch durchzusetzen: Sie sei „im äußersten Falle ein Notrecht, gegebene Staatsform zu zerbrechen, wenn es einen andern Weg, dem Volke zur Erfüllung seines Lebens und seiner Sendung zu helfen, nicht gibt“.58 Hirsch ordnet dem Staat das Volkstum über: „Nach den unzweideutigen Erklärungen des Führers“, erläutert er in der Geistige[n] Lage, „muß gerade dies als das eigentümliche der neuen deutschen Lebensverfaßtheit gelten, daß das StaatlichPolitische dem Volkstum als dem eigentlichen Träger der Kultur, dem wahren Quell alles menschlich-geschichtlichen Lebens, unterworfen wird“.59 Vom „durch Natur und Geschichte geprägten Blutbunde des Volkstums“ spricht Hirsch rassenideologisch konnotiert. In ihm begegne „ein letztes irdisch Gegebenes, das zu bewahren und zur rechten Entfaltung zu bringen höchste Aufgabe aller politisch Handelnden ist“.60 Diesem Volkstum gegenüber hätten sich „Staat und Staatsmann als Diener zu empfinden“.61 Hirsch unterstreicht somit die Relevanz des Volkstums als Letztinstanz. Dies untermauert er gezielt mit einem doppelten Souveränitätsbegriff. Ohne Zweifel sei der Staat Träger „offenbare[r] Suveränität“, er werde aber überschritten vom „verborgne[n] Suverän“ als dem „natürlich-geschichtliche[n] Volkstum“. Diesem gegenüber seien „Alle im Staate, Führende und Geführte, in ihrem Tun und Zielen verantwortlich“.62 Der unmittelbare Bezug auf den „verborgenen Souverän“ sei die Voraussetzung für „Kampf und Revolution“, und dies schon zu einer Zeit, „als der offenbare Suverän noch wider sie stand“. In seiner Verborgenheit bestimmt er „Wille und Gewissen der zum Volkstum Gehörenden“. Die Geschichte richte letztlich darüber, ob seinem Anspruch genüge getan worden sei. Mit Aufbruchs- und Ursprungsmetaphorik beschreibt Hirsch die Wende seiner Zeit. Es gehe um Umkehr und Neugestaltung. „Rechts- und Staatslehre“ sieht er herausgefordert, im permanenten Bezug auf das „Volkstum“, den Souverän in seiner Verborgenheit, „alle ihre saubern Formalbegriffe durch Öffnung der existentiellen Tiefe geschichtlicher Ursprünglichkeit in die Krise [zu] geben und neue Begriffe und Maßstäbe sich [zu] erringen“.63 Wenn der Staat als Souverän handele, komme es darauf an, darin „das natürlich-geschichtliche Volkstum als verborgne[n]
57 58 59 60 61 62 63
Ebd. A.a.O., S. 7. Hirsch (1934): Geistige Lage, S. 60. Ebd. A.a.O., S. 61. Ebd.; bei Hirsch Hervorhebungen. Ebd.
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Suverän“ zu wissen, der „das wahrhaft als bestimmend Anerkannte und das im Schauer der Ehrfurcht uns alle Verfügende sei“.64 In seinem Brief an Stapel wirft Hirsch dann Tillich vor, diesen Zusammenhängen gegenüber „blind“ zu sein.65 Er verkenne „Gesetz und Mitte des geschichtlichen Lebens“ in ihrer das Volk bestimmenden Gestalt. Dadurch gelange er zu einer „falschen Internationalität des Denkens und Lebens“, die „durch ufer- und haltlos werdende weltgeschichtliche Umblicke“ charakterisiert sei. 66 Auf diese Weise werde die „im Gesetz“ liegende bindende Kraft des „volklich-staatlichen Lebens“ verkannt und somit auch der „unbedingte[…] Primat des Politischen in der Erfassung der Wirklichkeitslage“.67 Tillich stelle sich im Gegensatz zu Hirsch nicht in den „Dienst“ des Volkes, sondern orientiere sich „am bewegten geschichtlichen Ganzen in ‚prophetischer‘“ Haltung – so erscheine er „als ein frei schwebender Einzelner“, der sich nur seiner „Intuition“ hingebe. Tillich richte sich auf eine „Überschau über den ganzen strömenden Lebenszusammenhang der Welt“ aus und verleihe so der „edelste[n] Gestalt des Individualismus und Intellektualismus der abgelaufnen Geschichtsepoche“ Ausdruck.68 In diesem Urteil erreicht Hirsch den äußersten Punkt rhetorischen Entgegenkommens und legt das Gewicht nun wieder auf die Differenz. Als „deutsche Lutheraner“ könnten er selbst und Stapel einen derartigen Individualismus, der auch durch die Hinwendung zum Marxismus nicht aufgehoben werde, nur verneinen; denn: „Die natürlich-geschichtliche Daseinsverflochtenheit ist uns mehr als Schicksal, das der prophetischen oder sonstigen freien Entscheidung sich darbietet.“ Es gebe ein anzuerkennendes „Gesetz der Wirklichkeit“ in Gestalt verpflichtender göttlicher Schöpfungsordnung.69 Im „Wagnis“ habe sich der Mensch auf Gott zu beziehen, so dass „sich das von Stunde und Lage Gebotne im freien Geführtwerden durch den göttlichen Geist zeigen läßt“.70 Tillichs Vorwurf, das Geschichtlich-Irdische mit einer priesterlich-sakramentalen Weihe auszuzeichnen, weist Hirsch mit Blick auf Luthers Freiheitsbegriff zurück: „Es ist eine Heiligung aus dem in Gotte freien Glauben dessen, der sich gebunden weiß, und nicht aus einer vom Mystagogen herabgeholten magischen Gnade.“ Luthers Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium hebt mit der Überwindung des Gesetzes durch das Evangelium die Bindung an das Irdisch-Geschichtliche hinsichtlich des Heils auf. „Die göttliche Liebe, die mir im Glauben
64 A.a.O., S. 65. Vgl. hier auch Assel (1994): Aufbruch, S. 261. Assel unterstreicht: Der „öffentliche Souverän, der dann im Namen des Volkes die prinzipielle Legitimität zum Bruch rechtsstaatlicher Legalität hat, wird je länger desto vorbehaltloser mit der Person des ‚Führers‘ Adolf Hitler (und seiner Vertreter in den jeweils untergeordneten Führungskreisen […]) identifiziert.“ Vgl. auch ergänzend ebd., S. 261f., Anm. 105. 65 Hirsch (1935): Christliche Freiheit, S. 26. 66 A.a.O., S. 27. 67 A.a.O., S. 28. 68 Ebd. 69 A.a.O., S. 29. 70 A.a.O., S. 30.
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sich schenkt, ist nicht gebunden an das mich umfangende göttliche Walten in Gesetz und Geschichte.“71 Das, „[w]as werden soll, ist nicht Gottes Reich, sondern das Reich der Deutschen, gebaut unter demütiger Anbetung des Herrn der Geschichte“.72 Es sei durchaus vertretbar, „die volkhaft-politische Ordnung als von Gott geheiligt“ zu betrachten „und sie dennoch hart und klar als eine irdisch-vergängliche Sache zu nehmen“.73 In der Geschichte will Hirsch keine zweite Offenbarungsquelle erkennen. Ihm, konstatiert er, mit Karl Barth und „Barmen“ und entgegen seiner Betonung „der lutherischen Lehre von den zwei Reichen“ das Gegenteil zu unterstellen, habe dazu geführt, dass „nun der Kairosphilosoph und die Bekenntniseiferer und Ketzerverfolger in Einer Front“ stehen. Tillich habe einen systematischen Denkfehler begangen, indem er die Aussagen Hirschs unter der Perspektive der ihm selbst vertrauten „Struktur des religiös vertieften Marxismus“ interpretiert habe.74 Dieser Versuch ignoriere aber Hirschs eigenen theologischen Kontext, der sein Fundament eben in der Zwei-Reiche-Lehre habe, die es verhindere, im Nationalsozialismus das „nahe herbeigekommen[e] oder ganz herbeigekommen[e]“ Reich Gottes auszumachen.75 Tillich ließ die Auseinandersetzung mit Hirsch nicht auf sich beruhen, sondern veröffentlichte 1935 im Mai-Heft der Theologischen Blätter noch einmal eine knappe Replik: Um was es geht. Antwort an Emanuel Hirsch. Erneut hebt Tillich seine Absicht hervor, den „dämonisierten Sakramentalismus“ zurückweisen zu wollen, „wie er in der deutsch-christlichen Theologie enthalten ist und dem Hirsch mit jedem Wort Vorschub geleistet hat“. Das Priesterlich-Sakramentale sei nicht per se zu verwerfen, allerdings dürfte es nicht „zur Schaffung von Ideologien und Weihung von Machtgebilden mißbraucht“ werden.76 Schon in seinem Offenen Brief zur Theologie des Kairos war Tillich auf Hirschs Rede von der „Blutsgemeinschaft“ eingegangen und hatte die suggestive Frage an ihn gerichtet, ob er „als Theologe“ tatsächlich dazu „berufen“ sei, „der sakramentalen Blutsgemeinschaft der Christenheit, die durch das Abendmahl gegeben ist, die natürlich-geschichtliche Blutsgemeinschaft überzuordnen“. Wäre es nicht eigentlich erforderlich gewesen, stellt Tillich in den Raum, „wenn Du die Ursprungsmacht des Blutes so stark hervorheben wolltest, die Grenze seiner Macht mit Hilfe der Abendmahlssymbolik herauszuarbeiten“?77 Unmittelbar im Anschluss stuft Tillich auch Hirschs Souveränitätsbegriff als indifferent ein. „Der ‚verborgene Souverän‘“, betont er, „ist eine mystische Realität, wenn er eine Realität ist. Niemand kann aus ihm eine konkrete Entscheidung ableiten. Jeder kann behaupten und bis zur Selbstaufopferung sich 71 A.a.O., S. 38. Vgl. Hirsch (1934): Geistige Lage, S. 163: Wir „spüren […], daß hinter der paradoxen Koppelung des Zeitlichen und Ewigen ein uns Verborgner steht, der frei ist zu und in allem. Weil Er da ist, als Ewigkeit in Zeit und Ewigkeit über Zeit, darum verfangen wir uns nicht in diesem Widerspruch, sondern leben und blühen aus ihm.“ 72 Hirsch (1935): Christliche Freiheit, S. 39. 73 A.a.O., S. 40. 74 A.a.O., S. 45. 75 Ebd. 76 Tillich (1935): Um was es geht, GWE 6, S. 215. 77 Tillich (1934): Theologie des Kairos, GWE 6, S. 167.
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dafür einsetzen, daß der je gegenwärtige offene Souverän dem verborgenen ungehorsam ist.“78 1934 versuchte Tillich auch, einem US-amerikanischen Publikum die theologisch-kirchliche Lage in Deutschland zu erläutern. Er unternahm dies vom Begriff des totalen Staates aus und charakterisierte dabei in knappen Zügen Hirschs Ausführungen zum „Blutbund“ und zum „verborgenen Suverän“. Diese Formulierungen untermauerten den „totale[n] Staat“, der, „geboren aus der Unsicherheit der geschichtlichen Existenz im Zeitalter des Spätkapitalismus, dazu bestimmt“ sei, „durch nationale Konzentration Sicherheit und Reintegration zu schaffen“. Er habe „die mystische Weihe empfangen und steht nun da, nicht nur als irdischer Repräsentant Gottes, wie ihn Hegel sah, sondern als wirklicher Gott auf Erden: ein Gott oder ein Dämon“!79 Der zentrale theologische Gegensatz zu Hirsch besteht für Tillich schließlich in der Interpretation der Lehre von den zwei Reichen. Wenn Hirsch hier ein Konzept vertrete, das von zwei deutlich kontrastierenden Sphären ausgehe und er dabei das eine Reich exklusiv auf die Innerlichkeit des Individuums und das andere genauso ausschließlich auf die politische und soziale Ordnung fixiere, entziehe er diese Ordnungen einer Kritik, die der Reich-Gottes-Erwartung entspringe. Die Kairos-Lehre sei von diesem zweiteiligen System klar abzuheben. Tillich formuliert abschließend und prägnant, dass sich das „Verhältnis von Theologie und Politik [...] niemals durch ein ‚und‘“ kennzeichnen lasse, sondern die Theologie immer als „‚Theologie der Politik‘“ auf ihrer kritischen Funktion beharren müsse.80 Nachdrücklich wendet er sich somit gegen alle Versuche, das Bedingte und das Unbedingte konturlos ineinander übergehen zu lassen. Beide sieht Tillich vielmehr in der Offenbarung verankert, die, wie er 1925 in seiner Dresdner Dogmatik-Vorlesung formulierte, „Durchbruch des Unbedingten in das Bedingte“ sei. „Sie ist weder Verwirklichung noch Zerstörung der bedingten Formen, sondern ihre Erschütterung und Umwendung.“81 Daraus ergab sich für Tillich in gewisser Stringenz die Frage, was nun genau durchbrochen werde, „was bricht durch, und wie bricht es durch“? Eine Antwort liegt schnell auf der Hand: „das System der in sich ruhenden Endlichkeit, die Sphäre der bedingten Formen, religiös gesprochen die Welt“.82 Das Unbedingte trifft, indem es sich offenbart, auf die Wirklichkeit und konfrontiert sie mit seinem Anspruch. Den Konsequenzen, mit denen sich dieser ausdrückt, und den verschiedenen Formen der Offenbarung im Spannungsfeld von revelatio naturalis und supranaturalis ging Tillich theologisch, religionsphilosophisch und soziologisch motiviert in immer neuen Anläufen nach – nicht nur in seinen Vorlesungen zur Dogmatik.
78 79 80 81 82
A.a.O., S. 168. Tillich (1934): Der totale Staat, GW 10, S. 132. Tillich (1935): Um was es geht, GWE 6, S. 216f. Tillich (1925): Dogmatik-Vorlesung, GWE 14, S. 19; bei Tillich hervorgehoben. Ebd.
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4. RELIGIÖSER SOZIALISMUS IM DEMOKRATIEEXPERIMENT WEIMARER REPUBLIK Paul Tillich beließ es nicht dabei, lediglich am Schreibtisch oder auf dem Katheder die sich wandelnde politische Lage in der sich nur mühsam etablierenden Weimarer Republik zu beschreiben, sondern er entwarf das System eines Religiösen Sozialismus, das auf den politischen Umbruch der Jahre 1918/19 antworten sollte, zumal in einem vielfältig traumatisierten, permanent am Rand des Bürgerkriegs lavierenden Land wie dem Deutschen Reich nach Weltkriegsniederlage und unvollendeter Revolution. Arbeiterbewegung und Kirchen begegneten sich hier unter den Krisenbedingungen einer ungeliebten Republik weithin verständnislos, ja argwöhnisch, nicht selten sogar feindselig. Die religiösen Sozialisten um Tillich mussten den Brückenschlag fast ohne Fundamente proben. Ihre Mission war es, die Gerechtigkeit des Reiches Gottes in der eigenen gegenwärtigen Gesellschaft Realität werden zu lassen. Und nichts bot sich dafür besser an als das neue Demokratieexperiment Weimarer Republik. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Weltkriegserfahrung. Sie beschäftigte nicht nur konservative Ordnungsdenker, wie Emanuel Hirsch oder Paul Althaus, sondern war – zumal in ihrer Klassenschranken sprengenden Wucht durch die Begegnung mit Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft – nicht weniger prägend für viele Vertreter eben dieses Religiösen Sozialismus. Die Einsicht, allererst durch den intensiven Kontakt mit soldatischen Kameraden aus denkbar disparaten Herkunftsmilieus die soziale Frage in ihrer Tiefe erfasst und damit zugleich die eigene Lebensaufgabe, ja Berufung entdeckt zu haben, wird für viele religiös-sozialistisch gestimmte Theologen zu einem immer aufs Neue reflektierten Aspekt der fortdauernden Kriegsprägung, so auch für Paul Tillich, der zu einer zentralen Figur der sich formierenden Gesinnungsgemeinschaft wurde. Das Konzept des Religiösen Sozialismus diente Tillich zur Behauptung einer gesellschaftsumbildenden Kraft der christlichen Religion.83 Die Kultur habe sich an der Religion als alles erschütternder und neu aufbauender Sinnwirklichkeit auszurichten. Arbeiterbewegung und traditionelle, im wesentlichen lutherische Kirchen, bildeten, resümierte Tillich rückblickend, ein kontroverses Gegenüber. Die „lutherische Seite“ beharrte darauf, dass nur staatliche Autorität dazu in der Lage sei, die Welt aus „den Händen des Teufels“ zu befreien. Sie widersprach jeder revolutionären Entwicklung. Die „Utopisten“ hingegen gingen von einer unmittelbar bevorstehenden Revolution aus. Die Verwirklichung des Sozialismus löse alle Probleme der Menschheit. „Zwischen diesen beiden Polen bewegten wir uns damals und versuchten, mit Hilfe gewisser Grundbegriffe eine Lösung zu finden.“84 Tillich nennt drei von ihnen: das Dämonische, den Kairos und die Theonomie. Die Kategorie des Dämonischen diente ihm dazu, die Strukturen des Bösen sowohl in Individuen als auch in Gesellschaftsgruppen offenzulegen. Das Dämonische bezeichnet die zer-
83 Vgl. zu Tillichs Religiösem Sozialismus auch: Christophersen (2005): Bultmann und Tillich, bes. S. 206–211. 84 Tillich (1963): Geschichte des christlichen Denkens, GWE 2, S. 197.
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störenden Kräfte, denen Tillich im Vergleich zu den schöpferischen ein Übergewicht beimaß. Indem sie zugleich schöpferisch und zerstörerisch wirkten, erwiesen sich die Strukturen der Gesellschaft als ambivalent und deutungsoffen. Eine „Erfahrungsgrundlage“ für diese Interpretation fand Tillich zum einen in der durch die Psychologie angeleiteten Beschreibung der „inneren Mächte“, die das Individuum bestimmten, zum anderen in der soziologischen Deutung der bürgerlichen Gesellschaft durch den Marxismus. Ein „Durchbruch des Ewigen in die Geschichte“ sei dann möglich,85 wenn es zu einer Aufdeckung und Bekämpfung der dämonischen Mächte komme; dies könne sich aber nur dann ereignen, wenn es auch einen entsprechenden Kairos gäbe. Untrennbar mit diesem Kairos verknüpfte Tillich den Theonomiegedanken, beabsichtige der Religiöse Sozialismus doch, eine theonome Gesellschaftsform aufzubauen. Während Autonomie von Tillich zunächst als ein „inhaltsleeres kritisches Denken“ bestimmt wird und Heteronomie als „Unterwerfung unter Autorität und Versklavung“, ziele die Theonomie darauf ab, „eine ganzheitliche Gesellschaft“ zu errichten.86 „Theonomie ist Wendung zum Unbedingten um des Unbedingten willen.“ Demgegenüber fokussiere sich die Autonomie auf das Bedingte. Theonomie und Autonomie stünden in einer dialektischen Spannung zueinander. Allerdings hob Tillich in seinem System der Wissenschaften 1923 heraus, „daß nur in der Einheit beider Richtungen alle Sinnerfüllung möglich ist. […] Der Kampf von Theonomie und Autonomie ist die tiefste Triebkraft des schöpferischen Geistprozesses; er ist der dialektische Stachel der Geschichte, der sie nie zur Ruhe kommen läßt.“87
Mit dem traditionsgesättigten Kairos-Begriff versuchte Tillich dieses Moment der Spannung zu erfassen. Für das Augustheft 1922 der Zeitschrift Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur hatte Carl Mennicke (1887–1958) die Funktion des Schriftleiters übernommen und es als Sondernummer der religiösen Sozialisten konzipiert. Unter der wie ein Fanal wirkenden Überschrift Kairos veröffentlichte Tillich hier einen semantisch hochgradig verdichteten „Aufruf [...] zu geschichtsbewußtem Denken, zu einem Geschichtsbewußtsein, dessen Wurzeln herabreichen in die Tiefen des Unbedingten, dessen Begriffe geschöpft sind aus der Urbeziehung des menschlichen Geistes und dessen Ethos unbedingte Verantwortlichkeit für den gegenwärtigen Zeitmoment ist“.88
Tragende Relevanz erhielt eine durch den Reich-Gottes-Gedanken in Markus 1,15 motivierte Politisierung der als sozialrevolutionär eingestuften Botschaft Jesu. Tillich bestimmt eine Entwicklung innerhalb des Reiches, genauer: eine Verbindung von Kairos und Fortschrittsgedanken im Religiösen Sozialismus. Er identifizierte sie heilsgeschichtlich als ein auf die Theonomie gerichtetes Voranschreiten. Bestimmend ist die prophetisch angekündigte, christologische Begründung des Kairos, der nur in Christus umfassend und sinnerfüllt zu verstehen sei. Im Rück-
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Ebd. A.a.O., S. 198. Tillich (1923): System der Wissenschaften, MW/HW 1, S. 245. Tillich (1922): Kairos, MW/HW 4, S. 53.
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blick auf diese Annahme einer sich realisierenden Eschatologie, die den Gegenwartscharakter des Reiches Gottes nachdrücklich akzentuierte, formulierte Tillich 1958: Der „Religiöse Sozialismus“ wandte „den Begriff des Kairos auf die gegebene Situation an. Er sah in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg einen partikularen Kairos und sah in ihm schöpferische Möglichkeiten für eine neue soziale Ordnung (wie auch für die Verwirklichung der Einzelperson in ihr). Aber der Religiöse Sozialismus glaubte nicht, daß ein zentraler Kairos gekommen sei und das Reich Gottes innergeschichtlich zur Erfüllung kommen würde. [...] Es gibt wohl immer wieder Kairoi in der Geschichte, aber keine Vollendung.“89
Den Religiösen Sozialismus verankerte Tillich 1923 in systematischen Erwägungen zu Grundlinien des Religiösen Sozialismus in der Prophetie. Sie spanne als „religiöse Einheit von Ethos und Geschichtsmetaphysik“ einen Bogen vom Einzelnen, über Kreise und Bewegungen bis hin zur Masse. Auf diese Prophetie sei der Religiöse Sozialismus fixiert. „Sie ist im Sozialismus selbst da, wenn auch vielfach verzerrt durch Reflexion, Rationalismus und Taktik.“90 Konsequent arbeitete Tillich seine religiös-sozialistischen Ideen aus und passte sie an die sich rasant verändernden gesellschaftspolitischen Konstellationen an. Nachdrücklich wies er 1931 in einem zusammenfassenden Artikel für die zweite Auflage der RGG darauf hin, dass es die zentrale „religiöse Aufgabe“ des an der „Seite des kämpfenden Proletariats“ stehenden Religiösen Sozialismus sei, „an der Aufdeckung und Bekämpfung der kapitalistischen Dämonie mitzuwirken“. In dialektischer Wendung gibt Tillich aber ebenfalls zu verstehen, dass eine „radikale religiöse Kritik“ stets auch „die im Sozialismus selbst sich vollziehenden Profanisierungen und Dämonisierungen“ im Auge haben müsse. Wenn sich der Religiöse Sozialismus entsprechend positioniere, sei er getragen von einer Reich-Gottes-Erwartung und habe sich dabei als differenzierungsstark zu erweisen: „Er lehnt ebenso die Identifizierung des Sozialismus mit dem Reiche Gottes ab, wie die religiöse Indifferenz gegenüber den innerweltlichen Gestaltungsaufgaben.“91 Die Grundspannung zwischen Erwartung und Erfüllung gelte es konsequent aufrecht zu erhalten. Das Reich Gottes, macht Tillich hier deutlich, realisiert sich in dieser Welt, wird aber nicht mir ihr identisch. Somit bleibt eine kritische Reserve bestehen, die dem Anspruch des Unbedingten an das Bedingte folgt. 5. BARTH, ALTHAUS UND DIE RADIKALITÄT DER RECHTFERTIGUNGSLEHRE Tillichs religiös-sozialistische Theorievorhaben, die dann auch im Mittelpunkt des Kairos-Kreises standen, der sich in Berlin um ihn bildete, wurden aus kirchenleitender Perspektive, aber auch von mancherlei Konkurrenzunternehmen aufmerksam beobachtet und kommentiert – und dies nicht nur, wie hier bereits verhandelt, 89 Tillich (1958): Kairos III, GW 6, S. 139. 90 Tillich (1923): Grundlinien des Religiö[sen] Sozialismus, MW/HW 3, S. 108. 91 Tillich (1931): Art. Religiöser Sozialismus, S. 644; bei Tillich Hervorhebungen.
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von Emanuel Hirsch. Das Wissen um die Notwendigkeit, zu den sozialen Fragen der Gegenwart produktiv und gestaltend Stellung nehmen zu müssen, war alles andere als ein marxistisches oder sozialistisches Alleinstellungsmerkmal. Dies lässt sich recht konstruktiv an Paul Althaus zeigen, der in den 1920er Jahren dazu ansetzte, zu einem maßgeblichen Vertreter der Lutherrenaissance zu werden. 1921 veröffentlichte Althaus unter dem Titel Religiöser Sozialismus eine kleine, programmatisch angelegte Schrift zu den Grundfragen der christlichen Sozialethik. Gleich zu Beginn stellt er heraus: „Man sagt: die praktischen Fragen der Christenheit sind an die Stelle der theoretischen, die Glaubenslehre ist hinter den Soziallehren zurückgetreten. Das ist nicht nur schief gesagt, sondern auch verkehrt gedacht. In Wahrheit führt das religiös-soziale Problem tief in die Glaubensfragen hinein. Es geht zuletzt um nichts Geringeres als um das Verständnis der Versöhnung und Erlösung, des Reiches Gottes und der Welt, der Geschichte und der ‚letzten Dinge‘.“92
Wer meine, das Adjektiv „religiös-sozial“ exklusiv in Anspruch nehmen zu können, gehe in die Irre. „Es gibt kein Christentum ohne Liebe, keine Liebe ohne Tat.“93 Neben anderen hebt Althaus Barth, Mennicke, Tillich und namentlich nicht genannte Mitglieder der „Neuwerk-Bewegung“ als besonders relevant und tiefgründig hervor. Vor Augen stünde ihnen „die schwere Problematik des religiös-sozialen Gedankens“ und sie hätten „einerseits die Überweltlichkeit des Christentums als Religion, andererseits die weitgehende Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen und politischen Lebens begriffen“. Insbesondere das Luthertum werde von ihnen mit dem Vorwurf konfrontiert, den Reich-Gottes-Gedanken nicht im neutestamentlichen Sinne als „eine faßbare, diesseitige Sozietät“ zu realisieren,94 sondern sich theologisch auf Rechtfertigung und Versöhnung zu fixieren. „Was bisher als Luthers großes Verdienst galt, die scharfe Trennung des Reiches Gottes und der Weltverfassung, die Grenzlegung zwischen Evangelium und Recht, Staat, Politik, erscheint jetzt als tiefster Schade. Es gibt keine Sphäre des Profanen, die nicht der Herrschaft Gottes unterworfen zu werden bestimmt wäre. Wirtschaftliche Bewegungen, politische Fortschritte gehören in die Geschichte des Reiches Gottes.“95
Mit diesen Überlegungen ruft Althaus die sich später auch terminologisch fixierende Zwei-Reiche-Lehre auf, aber mit dem Stichwort „Eigengesetzlichkeit“ auch einen zunächst vor allem von Max Weber verwendeten, dann vielfach übernommenen und ausdifferenzierten Begriff zur Kennzeichnung (bleibender) Spannung zwischen religiöser und weltlicher Sphäre.96 Karl Barths Gedanken zur Königsherrschaft Gottes und die Barmer Theologische Erklärung sind ohne die sich in ihnen
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Althaus (1921): Religiöser Sozialismus, S. 7. Ebd. A.a.O., S. 12. A.a.O., S. 12f. Zur Eigengesetzlichkeit vgl. v.a. Honecker (1976): Problem der Eigengesetzlichkeit; Huber (1983): Eigengesetzlichkeit; Breuer (2012): Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge, insbes. S. 269–348 (Kap. 6: Religiöse Gesellschaftsbeschreibung: Diskurse zur „Eigengesetzlichkeit“). Zur Zwei-Reiche-Lehre vgl. hier nur Nowak (1981): Zweireichelehre; dort bes. zu
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ausdrückende Opposition gegen mit Eigengesetzlichkeitsideen operierende Begründungsmuster nicht verständlich. Entschieden weist Althaus Versuche zurück, das Reich Gottes zu institutionalisieren, sei es doch vielmehr „die Herrschaft des Evangeliums in den Herzen“. 97 Keinesfalls könne es als „Weltordnung (d. h. Verfassung des wirtschaftlichen und politischen Lebens)“ aufgefasst werden. Aufgrund der Differenz zwischen „Liebe und Recht“ seien Formulierungen „wie ‚christliche Politik‘, ‚christlicher Völkerbund‘ innerlich unmöglich“.98 Die religiös-soziale Frage selbst hält allerdings auch Althaus nicht für irrelevant. Den Kapitalismus gelte es durchaus scharf zu kritisieren. Adolf Stöcker (1835–1909) sei ungerecht behandelt worden. „Das war die letzte von vielen verpaßten Schicksalsstunden.“99 Althaus ruft mit diesen Formulierungen nun eine ganz andere religiös-soziale Tradition auf, die von Barth und Tillich als Provokation aufgenommen werden musste – erst recht, wenn Althaus mit eher geringschätzigen Aussagen nachlegt: „Die Religiös-Sozialen stehen zum Teil in Gefahr, mit einem schnellen christlichen Dilettantismus in den schweren Fragen des wirtschaftlichen Lebens dreinzureden.“100 Das Gewissen rückt Althaus seinerseits als Instanz in den Vordergrund und bezieht es auf „Jesu Liebesgebot“,101 das auf die Gesinnung gerichtet sei. „Luthers Weg“, kommentiert Althaus, „hat seine Eigenart darin, daß der schroffe Dualismus von Reich Gottes und Weltverfassung, von Liebesethik und Staatsleben aufgestellt und dann doch im Handeln des Christen überwunden wird.“102 Wenn die Eigengesetzlichkeit als charakteristisch für das Luthertum angeführt werde, sei dies zu undifferenziert; denn: „Auch für das Gebiet des wirtschaftlichen und politischen Lebens kennt Luther eine sittliche Norm.“103 Diese sei aber nicht die Bergpredigt, sondern Naturrecht und positives Recht werden von Althaus ins Spiel gebracht, womit er, ohne es auszuführen, auf die Luther-Studien und Auseinandersetzungen Karl Holls (1866–1926), nicht zuletzt mit Ernst Troeltsch (1865–1923), rekurriert. Resümeecharakter hat schließlich die pointierte Feststellung: „Das Grundproblem der Sozialethik ist die Erkenntnis, daß der Christ wohl alle Zeit im Reiche Gottes lebt und handelt, aber nicht sein gesamtes Handeln als ein solches am Reiche Gottes verstehen kann.“104 Karl Barth setzte sich in einer ausführlichen und Grundsatzfragen berührenden Besprechung im Neuen Werk mit Althaus auseinander. Er nutzte die Gelegenheit
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Hirsch S. 113–115; Anselm (2006): Legitimation des Staates; Scheliha (2014): Zwei-ReicheLehre. Althaus (1921): Religiöser Sozialismus, S. 38. A.a.O., S. 39; vgl. a.a.O. S. 92f.: „Es gibt keine christliche Politik. Aber nationale Politik ist auch nicht widerchristlich. Sie ist […] der Gehorsam gegen den geschichtlichen Beruf des eigenen Volkes.“ A.a.O., S. 52. A.a.O., S. 58. A.a.O., S. 76. A.a.O., S. 77. A.a.O., S. 78. A.a.O., S. 90.
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auch, um seine eigene Position im religiös-sozialistischen Machtgefüge zu kennzeichnen.105 Dem nur wenig jüngeren Althaus begegnete Barth durchaus mit Respekt. Mit den Religiös-Sozialen sei Althaus „einig in dem allgemeinen Gedanken, daß es einen Willen Gottes nicht nur über die Haltung der Seelen, sondern auch über die Zustände gibt und ihm gegenüber keine ‚Eigengesetzlichkeit‘ der Zustände in einem letzten metaphysischen Sinne“.106 Als erfreulich wertet Barth den Umstand, dass Althaus darauf verzichtet, lutherisch geprägte Ansichten von Schöpfungsordnungen zu präsentieren. Er konstatiert zudem eine gewisse Übereinstimmung in der Akzeptanz „des relativen Rechtes einer […] mehr in der Richtung des Sozialismus orientierten Lebensordnung“107 und in der geteilten „Auffassung, daß die Stellung der Christen in der Gesellschaft grundsätzlich nur eine gebrochene sein kann“.108 Der trennende Unterschied liege aber im Gottesbegriff. Es entstehe bei Althaus der Eindruck, dass die Erbsünde nicht radikal genug verstanden wird, sondern bestimmte Ordnungsstrukturen (wie Staat und Volk) von ihr ausgenommen seien. Auch mit Blick auf die Christenheit als Gemeinwesen hält Barth Althaus für inkonsequent, da nicht entschieden genug. Was etwa unterscheide das äußere Weltfriedensreich vom inneren? Wieso ist das eine mit Skepsis zu betrachten, das andere nicht? „Wer lehrt uns denn auch nur einen Teil unseres Handelns als Handeln am Reiche Gottes zu verstehen?“109 Gezielt hält Barth Althaus Auslagerungsmanöver ins Seelische vor. „Es steht doch nicht so, daß der Geist der Bergpredigt und Jesu Liebesgebot, wenn auch nicht politisch-sozial, so doch seelisch mögliche, erreichbare und durchführbare Dinge wären?“110 Es existiere, antwortet Barth selbst, nur das eine Gericht, unter dem alles stehe. Sein „tiefe[s] Mißtrauen gegen den dunklen Zusammenhang zwischen lutherischer Innerlichkeit und lutherischer Weltlichkeit“ finde er bestätigt und unterstreicht: „Wer den Willen Gottes in so gefährliche Nähe des bißchen ‚Gesamtleben der Gemeinde‘ rücken kann, dem rückt er notwendig auch in die geradezu fatale Nähe von Geschichte, Natur und Schicksal: die psychologische Immanenz Gottes zieht die kosmische mit Notwendigkeit nach sich.“ Althaus zeige einen „Mangel an Distanzgefühl“.111 Barth will, so lautete sein entscheidender Vorwurf gegenüber Althaus, eine „Verdunkelung des kritischen Charakters der Begriffe ‚Gemeinde‘ und ‚Schöpfung‘“ erkennen. Letztlich liege, gibt er in einem Rundumschlag zu erkennen, eine „tiefe Unsicherheit des ganzen religiös-sozialen und nicht-religiös-sozialen Protestantismus gegenüber den Gedanken der Rechtfertigung und Sündenvergebung“ vor, „die in ihrer kritischen Kraft erkannt sowohl den Schlupfwinkel
105 Vgl. dazu Karl Barth an Paul Althaus, Göttingen, 14. April 1924, in: Jasper (2015): Paul Althaus, Karl Barth, Emil Brunner, S. 12f. mit Althaus an Barth, Rostock, 7. Mai 1922, in: a.a.O., S. 13f. 106 Barth (1922): Grundfragen der christlichen Sozialethik, GA III/19, S. 42f. 107 A.a.O., S. 43. 108 A.a.O., S. 45. 109 A.a.O., S. 53f. 110 A.a.O., S. 54. 111 A.a.O., S. 55.
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eines bloßen Herzens- oder Gewissenschristentums wie das potemkinsche Dorf eines ‚organisch-biologischen‘ Gemeindeganzen ausräuchern“.112 Allein die fortwährende Barmherzigkeit Gottes ermögliche es überhaupt, dass der Mensch bestehen könne. Konsequent meint Barth darin ein „tiefe[s] Recht des Luthertums gegenüber dem religiösen Sozialismus“ erkennen zu können: „Es weiß oder es meint doch zu wissen, was wir gelegentlich vergessen haben, daß all unser Tun umsonst ist auch in dem besten Leben.“113 Bei allem Lob, das in dieser Würdigung stecken mag, drückt sich in ihr vor dem Hintergrund der gesamten Rezension doch die deutliche Mahnung an das hier in Althaus personifizierte lutherische Gegenüber aus, eben diese Einsicht radikaler Vergeblichkeit, durch wie auch immer ethisch begründetes Handeln vor Gott bestehen zu können, nicht zu verwässern. Es sind umfassende, von Karl Holl dominierte Diskurszusammenhänge, die Paul Althaus bestimmen, wenn er sich intensiv mit dem Religiösen Sozialismus befasst. Auch in Holls für seine Schule und die Lutherrenaissance immens wirkmächtigem Luther-Band,114 der zunächst 1921 erschien und dann Erweiterungen erfuhr, drückt sich simultan das Ringen mit religiös-sozialistischen Deutungsmustern aus. So greift er gegen Ende seines am 6. März 1922 in Wittenberg gehaltenen Vortrages Luther und die Schwärmer die aktuellen Verhältnisse auf. Allgemeines Kennzeichen schwärmerischen Denkens sei, dass diese „Richtung in sich selbst keinen sichern Maßstab für ihre Forderungen“ habe: „Den Inhalt dessen, was sie verlangten, entnahmen die Schwärmer zu allen Zeiten der augenblicklichen wirtschaftlichen und politischen Lage.“115 Konturlosigkeit und Beliebigkeit attestiert Holl somit dem von ihm erörterten Phänomen, das durchgängig auf Endgültigkeit ausgerichtet sei. Wenn dabei das Reich Gottes errichtet werden solle, erweise sich der dahinterstehende „Gottesbegriff“ als wenig hilfreich, denn er „selbst war leer“ und „wies nicht einmal in eine sichere Richtung, geschweige daß er ein klares Ziel zeigte“. Bezüge auf das Naturrecht halfen hier kaum weiter, da es ebenfalls „nur ein Formbegriff“ sei, „der seinen Inhalt immer erst aus den bestimmten Nöten und Wünschen der Zeit gewinnt“.116 Die momentane Fassung schwärmerischer Weltbetrachtung und -gestaltung macht Holl im religiös-sozialen Zugriff aus, der sich Radikalität des Denkens auf die Fahnen geschrieben habe. Auch die Endgültigkeitsfrage werde noch einmal neu gefasst und relativiert. „Gott schafft, so erklärt man uns, nie etwas Endgültiges; er ist nie fertig, er fängt immer ganz von neuem an.“ Entscheidend werde der Wille des Menschen, das Reich Gottes zu errichten, als Ausdruck „einer völligen Umgestaltung der Dinge“. Paul Tillich und Karl Barth nennt Karl Holl, bei aller Gegensätzlichkeit, als Repräsentanten. Unmissverständlich urteilt er: 112 A.a.O., S. 56. 113 A.a.O., S. 57. 114 Vgl. zur Entstehung des Luther-Buches und zu seinem Rang für die Lutherrenaissance Assel (2021): Karl Holl, S. 79–111; vgl. Christophersen (2021): Umkämpfter Protestantismus, bes. S. 317f.; Wallmann (1978): Holl und seine Schule, bes. S. 20–25. 115 Holl (1922): Luther und die Schwärmer, S. 463; in diesem und den folgenden Zitaten bei Holl Hervorhebungen. 116 Ebd.
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Verborgen bleibe somit der positive Wille Gottes. „Der ‚Einbruch‘ gibt immer bloß die Verneinung.“ Auch Barths Verweis „auf das jenseitige Reich Gottes“ sei hier nicht weiterführend. Der Verneinungsaspekt bleibe bestehen. „Gott ist dann nur noch ein Name für die ewige Unrast und das Zickzack in der geschichtlichen Bewegung.“118 Wie unmittelbar Karl Holl den Puls der Zeit wahrnahm, zeigt sich in einer Anmerkung zu Paul Tillich. Mit Verweis auf den Vortrag Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, der gerade prominent in den Kant-Studien erschienen war, und vor allem auf den Beitrag zum Kairos aus dem Tat-Sonderheft von 1922, gibt Holl zu erkennen, dass sich in diesen Texten der „Ansatz“ auszudrücken scheine, „ein positives Verhältnis Gottes zur Zeit zu begründen“. Doch schränkt Holl umgehend ein: „Aber mehr als einen Ansatz vermag ich bis jetzt nicht wahrzunehmen.“119 Mit diesem kurzen Hinweis greift Holl treffsicher den neuralgischen Punkt auf, der in den Folgejahren im Zentrum heftiger Debatten stehen wird, wenn die Ansprüche von Lutherrenaissance, Dialektischer Theologie und Religiösem Sozialismus aufeinanderprallen und die natürliche Theologie zu einem entscheidenden Differenzmoment wird. Tillich gab gleich zu Beginn seiner von Holl angeführten Reflexionen zum Religionsbegriff schon einmal eindeutig zu verstehen, dass kein Spaziergang zu erwarten war; denn: „Die Paradoxie des Unbedingten ist nicht auflösbar.“120 LITERATURVERZEICHNIS Althaus, Paul: Religiöser Sozialismus. Grundfragen der christlichen Sozialethik, Gütersloh 1921. Der „Ansbacher Ratschlag“ zu der Barmer „Theologischen Erklärung“, in: Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Bd. 2: Das Jahr 1934, gesammelt und eingeleitet von Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen 1935, S. 102–104. Anselm, Reiner: Von der theologischen Legitimation des Staates zur kritischen Solidarität mit der Sphäre des Politischen. Die Zwei-Reiche-Lehre als Argumentationsmodell in der politischen Ethik des 20. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die theologisch-ethische Theoriebildung in der Gegenwart, in: Tim Unger (Hg.): Was tun? Lutherische Ethik heute, Hannover 2006, S. 82–102. Assel, Heinrich: Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935) (FSÖTh 72), Göttingen 1994. Ders.: Emanuel Hirsch. Völkisch-politischer Theologe der Luther-Renaissance, in: Manfred Gailus, Clemens Vollnhals (Hg.): Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im „Dritten Reich“, Göttingen 2016, S. 43–67.
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Ebd. A.a.O., S. 464. Ebd., Anm. 2. Tillich (1922): Die Überwindung des Religionsbegriffs, GW 1, S. 367.
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VOLKSKIRCHE IM BRENNGLAS Die Formierung pluraler kirchlicher Selbstbeschreibungen in der Weimarer Republik Benedikt Brunner 1. EINLEITUNG Die Zwischenkriegszeit war für den Protestantismus eine Zeit, in der wie in einem Laboratorium bestimmte Ansätze kirchlicher Selbstbeschreibung erprobt werden konnten. Wie Kirche in Zukunft sein müsse, war eine Frage, die die verschiedenen Verwerfungen, die die Revolution von 1918/19 mit sich brachte, als drängend und hochbrisant erscheinen lassen musste. Zur Rekonstruktion kirchlicher Selbstbeschreibung und der Analyse konfligierender zeitgenössischer Positionen eignet sich die Methode der Begriffsgeschichte, bzw. der Historischen Semantik.1 Der im Titel genannte Volkskirchenbegriff war in den protestantischen Selbstverständigungsdebatten der Weimarer Zeit omnipräsent, und zwar von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende – und im Übrigen auch darüber hinaus.2 Darum können hier nur zwei Schlaglichter auf Debatten geworfen werden, in denen der Volkskirchenbegriff wie in einem Brennglas konkurrierende Identitätskonzepte sichtbar werden ließ. Neben den Reaktionen auf die Revolution und den hieraus entstehenden Debatten über das Bekenntnis in der Volkskirche wird außerdem auf die Auseinandersetzung zwischen Karl Barth (1886–1968) und Otto Dibelius (1880–1967) eingegangen, die deutschlandweit intensiv diskutiert und wahrgenommen worden ist und als ein Stellvertreterkrieg über die volkskirchliche Identität der evangelischen Kirchen verstanden werden kann. 2. VOLKSKIRCHE ALS RETTUNGSANKER UND ZANKAPFEL – DIE FRÜHEN WEIMARER JAHRE Die Bedeutung der traumatischen Erfahrungen der Novemberrevolution für den Protestantismus und die Situation der Kirchen sind in jüngerer Zeit verschiedentlich einer genaueren Betrachtung unterzogen worden. In Niedersachsen, wie im Übri-
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Vgl. die Einleitung des Bandes. Vgl. Brunner (2020): Volkskirche; sowie als Gesamtschau auf das 20. Jahrhundert ders. (2021): Jahrhundert der Volkskirche.
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gen auch andernorts, begannen die Diskussionen über die Nachkriegsordnungen allerdings schon früher, im Jahr 1917. Ernst Rolffs (1867–1947) und Johannes Meyer (1869–1957) publizierten 1918 einen Band, der verschiedene Aspekte der anstehenden Zukunftsaufgaben diskutierte.3 Hier finden sich eine Reihe von Themen besprochen, die die Debattenlage nach dem Krieg bestimmen sollten. Der Hannoveraner Superintendent Karl Wöhrmann (1859–1945) fragte beispielsweise danach, welchen Aufgaben die Kirche sich nach dem Krieg zu stellen habe. Er sah große Probleme auf die Kirchen zukommen, die insbesondere mit der Reintegration der Soldaten in die Gesellschaft zu tun hätten.4 Der Osnabrücker Pastor August Pfannkuche (1870–1929) diskutierte bereits die drängende Frage, wie sich das Verhältnis von Kirche und Staat in der Folgezeit weiterentwickeln und welche Auswirkungen dies für die Kirche haben könnte.5 Ein eigener Abschnitt beschäftigte sich mit den Voraussetzungen, die für ein erfolgreiches Wirken der Kirchen in der Zukunft gegeben sein müssten. Mit dem Peiner Superintendenten Friedrich Schultzen auf der einen und dem Göttinger Theologieprofessor Arthur Titius (1864–1936) auf der anderen Seite, formulierten Vertreter der Rechten (Schultzen) sowie der Linken (Titius) was sie voneinander erwarteten.6 Ein letzter, ausführlicher Abschnitt diskutiert dann die einzelnen Aspekte des Arbeitsprogramms der Kirche nach dem Kriege, etwa im Hinblick auf die Predigt (Johannes Meyer) sowie Bildungs- und Erziehungsfragen. Gerade Titius sollte in den Diskussionen über die Volkskirche noch eine überregional wichtige Rolle spielen.7 Unter dem Eindruck von Kriegsniederlage und Revolution wurde dann also, wie sich schon territorialkirchengeschichtlich zeigen ließ, ein erheblicher kirchlicher Selbstfindungsprozess in Gang gesetzt.8 Mit dem Begriff der Volkskirche wurde dabei in fast allen kirchlichen Gruppierungen der Versuch unternommen, die unterschiedlichen Ausrichtungen zu integrieren und die Kirche für die Zukunft zu rüsten. Ihnen galt er als Rettungsanker, um möglichst viel von den großkirchlichen Strukturen und Einflussmöglichkeiten aus der Zeit des Kaiserreichs über diese Zäsur hinüberretten zu können. Um die Frage des Bekenntnisses einer möglichen Volkskirche kam es zu einer ersten großen Kontroverse; es sollte schnell klar werden, dass sie sich mindestens genauso gut als Zankapfel eignete. Ausgelöst wurde diese Auseinandersetzung durch einen Vorschlag der Münsteraner Theologen Karl 3 4 5 6 7 8
Vgl. Rolffs/Meyer (1918): Zukunftsaufgaben. Rolffs war Pastor in Osnabrück, Meyer Professor für Praktische Theologie in Göttingen. In dem Band findet sich die Crème de la Crème der niedersächsischen Theologie und Kirchenleitungen versammelt. Vgl. Wöhrmann (1918): Aufgaben. Vgl. Pfannkuche (1918): Kirche. Später schlug Pfannkuche, erfolglos, das Modell des Kantons Basel für die deutsche Situation vor, vgl. ders. (o.J. [1919]): Baseler Kirchenverfassung. Vgl. Schultzen (1918): Bedingungen; Titius (1918): Was erwarten wir. Vgl. hierzu die bedauerlicherweise unveröffentlichte Dissertation von Henning (2008): Arthur Titius, S. 103–128; vgl. außerdem Rinker (2015): Arthur Titius. Vgl. zum Folgenden auch Brunner (2020): Volkskirche, S. 65–86. Für ein weiteres landeskirchliches Beispiel vgl. jetzt die Beiträge in Schneider (2021): Unterwegs. Vgl. aber auch die autobiografischen Erinnerungen Paul Fleischs (1878–1962) auf diese Zeit, Fleisch (1952): Erlebte Kirchengeschichte, S. 90–96.
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Heim (1874–1958) und Otto Schmitz (1883–1957). Beide kann man als Vertreter der Gemeinschaftsbewegung ansehen, zu der sie sich in unterschiedlicher Intensität zugehörig fühlten. 1919 hatten sie einen Aufruf publiziert, in dem sie die Bildung einer freien evangelischen Volkskirche forderten. Dieser erschien um die Jahreswende 1918/19 gleich an mehreren Orten, zuerst aber in der Zeitschrift Licht + Leben.9 Datiert waren die Ausführungen auf den 15. November 1918, also sechs Tage nach Ausbruch der deutschen Revolution.10 Ähnlich wie die liberale Gruppe um Martin Rade (1857–1940) bezeichnen die Autoren das anzustrebende Kirchenideal als freie evangelische Volkskirche, „die alle bestehenden Landeskirchen umfaßt und doch die geschichtliche Eigenart der Einzelkirchen unangetastet lässt, soweit sie sich dem Ganzen einfügt“.11 Im Folgenden präsentieren sie einige Änderungsvorschläge für das kirchliche Handeln. So sei den Einzelgemeinden eine sehr viel höhere Bewegungsfreiheit einzuräumen als bisher. In politischer Hinsicht sei absolute Neutralität zu wahren, was ihrer Ansicht nach auch bedeute, dass „jedes Glied der Kirche, einschließlich der Gemeindeleiter, jeder politischen Partei angehören“ könne.12 Anders aber lägen die Dinge im Inneren der Kirche, sie dürfe kein Sprechsaal für entgegengesetzte Glaubensüberzeugungen sein, sondern vielmehr „ein Organismus von ausgeprägter Eigenart“ bzw. eine „Glaubensgemeinschaft“.13 Hier wird also explizit auf das organische Denken Bezug genommen. „Der Augenblick der Trennung von Kirche und Staat wird die Feuerprobe für die evangelische Christenheit Deutschlands sein. Es wird sich dabei herausstellen, wie viel oder wie wenig evangelische Volksgenossen da sind, denen das Bekenntnis zu Christus so viel wert ist, daß sie mit Freuden bereit sind, Opfer dafür zu bringen, auch wenn dieses Bekenntnis keine staatliche Bedeutung mehr hat.“14
Damit kommen Heim und Schmitz zu dem besonders kontroversen Punkt des Bekenntnisses innerhalb einer so gedachten Volkskirche. Sie äußern die Hoffnung, dass „in der Stunde des Zusammenbruchs der Staatskirche eine große Schar deutscher Christen sich aus freier Überzeugung um das neutestamentliche Grundbekenntnis ‚Jesus ist der Herr‘ [!] sammeln wird […]“.15 Denjenigen, die dem urchristlichen Bekenntnis nicht von Herzen zustimmen könnten, raten Heim und Schmitz an, eigenständige Verbände neben der Kirche zu gründen. Man müsse den Versuch wagen, ohne den staatlichen Bekenntniszwang auszukommen. Viele würden nämlich die in dieser Kirche zugestandenen Freiheiten als Schwierigkeiten empfinden. Um diese Bedenken zu entkräften, versuchen 9 10 11 12 13 14 15
Die Zeitschrift wurde von der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland herausgegeben. Hierbei handelt es sich um eine christliche Missionsgesellschaft, die Gemeinschaftsgruppen aus landeskirchlichem und freikirchlichem Kontext miteinander verband. Vgl. Heim/Schmitz (1918): Volkskirche. Zu Rades Position vgl. Rade (1918): Was sollen, was wollen wir. Heim/Schmitz (1918): Volkskirche, S. 576. A.a.O., S. 577. Beide Zitate ebd. Ebd. [Im Original gesperrt, BB]. Ebd. [Im Original gesperrt, BB].
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sie nachvollziehbar zu machen, dass dieses Bekenntnis nur scheinbar freier sei als die bisherigen: „In Wahrheit schließt er [der Glaube, ‚Jesus Christus sei mein Herr‘, BB] eine größere Gebundenheit in sich als irgend ein anderes Bekenntnis. Denn er bindet den ganzen Menschen mit seinem Wollen und Denken an Christus.“16
Abschließend betonen Heim und Schmitz, dass „sofort“ gehandelt werden müsse.17 Alle evangelischen Männer und Frauen sollten zusammenkommen, um über die kirchliche Lage zu beraten und den hier vorgelegten Vorschlag zu überprüfen. Diejenigen, die dem Aufruf in ihren Grundzügen zustimmten, sollten dann wiederum einen „Evangelischen Rat der Kirchenfreunde“ bilden, Keimzellen der hiervon auszugehenden „Volkskirchenbewegung“.18 Arthur Titius wurde schnell zu einem der führenden Köpfe dieser einflussreichen, wenn auch einigermaßen kurzlebigen Initiative. Für den Göttinger Theologieprofessor war die Volkskirche ein geeignetes Vehikel, um das Christentum auch in Zukunft als einen prägenden Kulturfaktor zu positionieren.19 Die beiden Verfasser ließen dem Aufruf schnell Taten folgen. Am 5. Januar 1919 fand in Elberfeld eine „vertrauliche Beratung der Kirchenfrage“ statt, zu der sich Theologen und Nicht-Theologen verschiedenster Gruppen zusammenfanden.20 Vertreter der Inneren Mission, der Gemeinschaftsbewegung sowie liberale Theologen wie Martin Rade und Arthur Titius kamen hier zusammen. Auch der eher konfessionell-lutherische Generalsuperintendent der westfälischen Provinzialkirche, Wilhelm Zoellner (1860–1937),21 der sich insbesondere an der Diskussion über die „kirchliche Gewissensfreiheit“ beteiligt hatte,22 nahm daran teil.23 Da man jedoch weder in der Frage des Bekenntnisses noch hinsichtlich der Neugestaltung der Kirchenverfassungen zu Klärungen kam, schloss die Versammlung mit einem Plädoyer für eine umfassende Volkskirchenbewegung des „lebendigen Kirchenvolkes“, die gemeinsam mit den bestehenden Organen zusammenarbeiten solle.24 Die Bekenntnisfrage schlug in praktisch allen kirchenpolitischen und theologischen Lagern hohe Wellen, und zwar auch noch in den folgenden Jahren. Dies galt insbesondere für die Gemeinschaftsbewegung selbst, in deren Kontext diese Bemühungen ihren Ursprung hatten. In der Redaktion von Licht + Leben waren beispielsweise „[f]ast täglich […] Zuschriften ein[gegangen], deren Verfasser/innen sich
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A.a.O., S. 579 [Im Original gesperrt, BB]. Vgl. ebd.; Heim (1919): Schicksalsstunde; Heim (1918): Die Not, S. 118f. Vgl. Heim/Schmitz (1918): Volkskirche, S. 579. Vgl. Titius (1919): Evangelisches Christentum als Kulturfaktor. Vgl. Schmitz/Heim (1919): Geburtstag S. 26f. Vgl. Philipps (1985): Wilhelm Zoellner. Schmitz/Heim (1919): Geburtstag, S. 26. Ebd. A.a.O., S. 26f.
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einverstanden erklären mit den Grundzügen dieses Aufrufes“.25 Von einer einheitlichen Zustimmung der Gemeinschaftskreise konnte jedoch keine Rede sein.26 Insbesondere die Zeitschrift von Karl Möbius (1878–1962),27 Auf der Warte, positionierte sich hier sehr kritisch. Möbius selbst trug Anfang 1919 die Gefahren des „neuen“ Bekenntnisses zusammen. Bedenkenswert war für ihn vor allem die absichtliche Unklarheit der Formel, um damit „den Liberalismus mit in die neue Volkskirche hinüberretten zu können.“28 Dass es jedem selbst überlassen werden sollte, was er unter dem Bekenntnis verstehen könne, habe er „aufs Tiefste erschrocken“ zur Kenntnis genommen.29 Während man bislang noch mit gutem Gewissen Teil der zumindest theoretisch am Bekenntnis orientierten Landeskirche bleiben konnte, sah er diesen Status durch das Münsteraner Bekenntnis fundamental in Frage gestellt: „Ich frage […], ob nicht ein Zusammenschluß aller Christgläubigen in einer Bekenntniskirche viel tiefere und gesegnetere Wirkungen in unserem Volke auslösen würde, als in einem Sammelsurium, genannt Volkskirche, unterzugehen, welche Dreiviertel ihrer Kraft in Versuchen verbrauchen wird, unüberbrückbare Gegensätze im eigenen Lager auszugleichen.“ 30
Was hier Bekenntniskirche genannt wird, meint nichts anderes als eine Freikirche, auch wenn Möbius nicht weiter auf organisatorische Fragen eingeht. Auf diesen Punkt geht wiederum Theodor Haarbeck (1846–1923), der Vorsitzende des Gnadauer Verbandes, in seiner Erwiderung kritisch ein. Die in den Gemeinschaftskreisen kursierende Alternative zur Volkskirche „wäre einfach ein erweiterter Gemeinschaftsverband oder eine Freikirche im engsten Sinne des Wortes. Unsere Gemeinschaftsverbände hätten in ihr keinen Platz und keine Aufgabe, und die ‚draußen‘ würden für uns kein Missionsobjekt mehr sein wollen, nachdem wir sie von der ‚Kirche‘ ausgeschlossen haben“31.
Das erklärte Ziel der Mission ist seiner Ansicht nach also gerade in einer Volkskirche möglich, nicht aber in einer mit engen Grenzen versehenen Freikirche. Haarbeck macht sich für das von Heim und Schmitz vorgeschlagene Bekenntnis stark, habe die Kirche doch ein unerschütterliches und unabänderliches Bekenntnis, nämlich eben diesen Jesus.32
25 Spörri (1919): Künftige Volkskirche. 26 Für einen instruktiven zeitgenössischen Beitrag von einer wichtigen Figur der hannoverschen Kirchengeschichte vgl. Fleisch (1921): Stellung der Gemeinschaftsbewegung, sowie zuvor schon Fleisch (1918): Gemeinschaftsbewegung in Niedersachsen. 27 Möbius war Buchhändler und Vorsitzender der Schleswig-Holsteinischen Gemeinschaftsbewegung. 28 Möbius (1919): Jesus der Herr. 29 A.a.O., S. 6. 30 Ebd. 31 Haarbeck (1919): Volkskirche oder Bekenntniskirche, S. 2. 32 Im Übrigen nimmt er sie auch dezidiert gegen Vorwürfe in Schutz, wie sie beispielswiese von Karl Möbius geäußert worden sind, ebd.: „wer die Professoren Schmitz und Heim kennt, der weiß, daß sie nur aus heiligen Motiven und aus brennender Liebe zu den Seelen die Tür auch für solche offen lassen wollen, die mit Christus noch nicht ganz gebrochen haben.“
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Es bestehe kein Gegensatz zwischen Bekenntnis- und Volkskirche, denn letztere „ist nicht gleich dem bekennenden Volk, sondern sie umfaßt das Volk, das zu der bekennenden Kirche gehören will“.33 Wie viele andere der Gemeinschaftsbewegung verbundene Personen denkt Haarbeck an eine Abstufung innerhalb der offenen Volkskirche. Jeder, der das Bekenntnis – und damit sind in erster Linie die historischen Bekenntnisse des Protestantismus, allen voran die Confessio Augustana gemeint – „aus Überzeugung zu dem seinigen macht“,34 erlange dadurch Kirchenmündigkeit, während gleichzeitig nur die ausgeschlossen blieben, die selbst diesen Schritt vollziehen wollten.35 Auf den Einwand, ob es nicht doch besser wäre, auf die Volkskirche zu verzichten und stattdessen einen „Zusammenschluß von wirklichen Bekennern“ zu gründen,36 führt er an, dass auch dieses Unterfangen vor Problemen stehe. Denn wer wolle denn kontrollieren, wie der einzelne glaubt und zu welcher Art von Bekenntnis er sich stellt? Vor allem ist es aber das große Potenzial zur Missionierung, das ihn für die Volkskirche eintreten lässt. Man sei „verpflichtet, die Tür allen zu öffnen, die noch nicht endgültig mit Christus und dem Evangelium gebrochen haben“.37 Die Volkskirche wird also in der Interpretation der Gemeinschaftsbewegung zur Missionsgelegenheit. Diese Argumentation, keinen auszuschließen, der nicht aus eigenen, freien Stücken aus der Kirche austritt, weil man ihn noch für das Evangelium gewinnen könne, wirkt im Grunde bis in die Gegenwart fort. Insgesamt war die mit dem Volkskirchenbegriff assoziierte Möglichkeit, Einfluss zu nehmen im Sinne der Kirche, respektive des Christentums, ein großer gemeinsamer Nenner, auf den sich ganz unterschiedliche Gruppierungen einigen konnten. Im Hintergrund steht hierbei die Idee einer Kirche für das (ganze) Volk. In liberalen Kreisen, die zur Avantgarde der Volkskirchenbewegung in dieser Zeit gehörten, wurde die Bekenntnisfrage sowie insbesondere der Münsteraner Vorschlag intensiv diskutiert. Wenn beispielsweise Martin Rade „Jesus der Herr“ als „einmütiges Bekenntnis des deutschen kirchlichen Protestantismus“ bezeichnete, so war dies sicher mehr als Zustimmung und Plädoyer zu verstehen, denn als eine Feststellung. Dieser Vorschlag sei „von allen Vorschlägen und Vorarbeiten […] der originellste, einschneidendste und frömmste“.38 Rade gibt allerdings zu bedenken, ob man es nicht eher vermeiden sollte, von Bekenntnissen zu sprechen.
33 Ebd. 34 Ebd. 35 In diesem Zusammenhang ist auch die Arbeit Ludwig Thimmes (1873–1966) zu sehen: Thimme (1925): Kirche, Sekte und Gemeinschaftsbewegung. 36 Haarbeck (1919): Volkskirche oder Bekenntniskirche, S. 2. Damit korrigiert Haarbeck die Schlussfolgerung Möbius‘, dass der Gnadauer Verband nur in der Volkskirche bleiben wolle, wenn diese den Bekenntnisstand wahre, zumindest tendenziell. Vgl. Möbius (1919): Gnadauer Verband; vgl. auch Haarbeck (1919): Stellung zur Kirche. 37 Haarbeck (1919): Volkskirche oder Bekenntniskirche, S. 3. 38 Rade (1919): Jesus, Sp. 147, dort auch das vorherige Zitat im Satz. Auch Friedrich Niebergall (1866–1932) griff in diese Diskussion ein, vgl. Niebergall (1919): Jesus; ders. (1919): Für die Volkskirche. Vgl. zu diesem Sarx (2016): Volkskirche und Volkserziehung.
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Die Bekenntnisschriften könnten schon deswegen keine wirklichen Bekenntnisse mehr sein, da sie der Gemeinde nicht bekannt wären. Diese bekenne vielmehr ihren Glauben im Gottesdienst, sowie durch die Teilnahme am Abendmahl und an den Kasualien, im besten Fall noch durch einen öffentlich wahrnehmbaren Lebenswandel.39 Die „Sammellosung“ von Heim und Schmitz gehe aber an diesen individuellen Glaubensbekenntnissen der Gemeinde gerade vorbei, da sie sich auf etwas ganz und gar von politischen Rahmenbedingungen Unabhängiges beziehe und die Herzen und Gewissen der Mitglieder nicht ausreichend berücksichtige. Auch wenn sein Optimismus insgesamt verhalten ist, hofft Rade dennoch, dass sich eventuell ein Deutscher Evangelischer Kirchentag den Münsteraner Vorschlag zu eigen machen könnte, dem oben angemahnten Schwachpunkt zum Trotz. Was sich allerdings in jedem Fall als schädlich erweisen würde, wäre „das Markten, Streiten und Deuten, für den kirchenpolitischen und kirchenrechtlichen Gebrauch“.40 Dies blieb allerdings nicht aus. Die bekenntnisorientierten Gruppen, also vor allem die Lutheraner, aber auch reformierte Theologen, standen dem Münsteraner „Bekenntnis“ skeptisch gegenüber. Die Vereinigung der Bekenntnisfreunde in der Hannoverschen Landeskirche etwa drückte ihre Bedenken besonders radikal aus. Die Volkskirche könne zur Teufelskirche werden, wenn „der Unglaube offen und ungehindert auftreten und sein Unwesen treiben darf“.41 Titius Glaube an die vereinigende Wirkung der Volkskirche gelangte also bereits in der eigenen Landeskirche an seine Grenzen. In der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung erschienen 1919 gleich mehrere Aufsätze, die sich entschieden für eine Beibehaltung der Bekenntnisse in der entstehenden Volkskirche einsetzten. Nach lutherischer Lehre gebe es einen engen Zusammenhang zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche.42 Für erstere sei es „von entscheidender Bedeutung, daß sie auf das lautere Evangelium sich gründe“.43 Kirche könne gemäß der Confessio Augustana nur dort entstehen, wo das Evangelium rein gepredigt werde.44 Abschließend zitiert der Verfasser den Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Sachsen, Ludwig Ihmels (1858–1933), dahingehend, „daß die Volkskirche bei aller grundsätzlichen Weite zugleich Bekenntniskirche sein“ müsse.45 Ihmels war Vertreter des Neuluthertums und profilierte sich mit zahlreichen Positionierungen, die die Bedeutung und den
39 Rade (1919): Jesus, Sp. 148: „Die Gemeinde bekennt, indem sie den Gottesdienst besucht, die Lieder mit singt, mit betet, die Predigt hört, zum heiligen Abendmahl geht, taufen, konfirmieren, trauen, begraben läßt, Pfarrer und Presbyter wählt und je nachdem [!] öffentlich ein christliches Leben führt.“ 40 A.a.O., Sp. 150. 41 Vereinigung der Bekenntnisfreunde in der hannoverschen Landeskirche (1921): Die Volkskirche eine Christuskirche oder – Teufelskirche. 42 Vgl. Kunze (1919): Der Bestand der Kirche, Sp. 141. Johannes Kunze (1865–1927) war ein lutherischer Theologe und Professor in Greifswald. 43 Ebd. 44 Kunze zitiert CA VII. 45 Ihmels (1918): Zukunft, zitiert nach Kunze (1919): Der Bestand der Kirche, Sp. 160.
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Wert des lutherischen Bekenntnisses für die kirchliche Neuorientierung hervorhoben.46 Weitestgehend unumstritten sei, dass man im Bereich der Landeskirchen an der Volkskirche festhalten wolle.47 Er stellt jedoch auch klar, dass es ohne Bekenntnis keine Kirche geben könne: „Hier scheint mir für alle, welche die Volkskirche wollen, ein Doppeltes feststehen zu müssen. Einmal allerdings dies, daß die Volkskirche freilich darauf rechnen muss, daß zahlreiche ihrer Mitglieder zum Bekenntnis eine mehr oder weniger gebrochene Stellung einnehmen. Sodann aber, daß die Volkskirche gleichwohl auch allen diesen nur so dienen kann, daß sie Bekenntniskirche bleibt.“48
Auf diesem Wege sollten „alle Glieder der Gemeinde […] in den ganzen Reichtum des Evangeliums, wie er im kirchlichen Bekenntnis ausgeprägt wird“ hineingeführt werden.49 Ihmels Lavieren, also der Versuch, den Wert des Bekenntnisses zu betonen, ohne dadurch aus der Volkskirche eine Freikirche werden zu lassen, scheint typisch für die Äußerungen lutherisch-konfessioneller kirchenleitender Persönlichkeiten gewesen zu sein. Auffällig ist jedenfalls, dass er keine Lösungen anbietet für das Kernproblem, die hierarchischen Abstufungen innerhalb der Volkskirche.50 Sekundiert hat Ihmels der Praktische Theologe Gerhard Hilbert (1868–1936) aus Rostock. Der „Kampf um die Geltung des Bekenntnisses innerhalb der Volkskirche“, so diagnostiziert er im Oktober 1919, stehe unmittelbar bevor.51 Hilbert ist der Überzeugung, dass man zunächst klarstellen müsse, was man unter Kirche verstehe, ehe man mehr zu der Entscheidung zwischen Volkskirche oder Bekenntniskirche sagen könne. Seiner Definition zufolge ist Kirche die Gemeinschaft derer, die an Jesus Christus glauben. Konstitutiv sind der Glaube und das Bekenntnis zum Glauben.52 Über diese – sich auf ein berühmtes Luther-Zitat beziehende – Aussage hinausgehend, ist die Kirche seiner Ansicht nach als „Gesinnungs- und Arbeitsgemeinschaft“ zu verstehen,53 die für ihre Arbeit ein Bekenntnis brauche. Ein Verzicht darauf würde geradezu „kirchensprengend“ wirken. 54 Ebenso wichtig sei es, auch das Wesen der Volkskirche genauer zu bestimmen, da dies unter „bibel- und bekenntnistreuen Gliedern der Kirche“ oftmals missverstanden werde. 55 Es erklärt
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Diese Position wird auch deutlich in Ihmels (1919): Evangelischer Glaube. Vgl. Ihmels (1919): Wirren, Sp. 619. A.a.O., Sp. 639. Ebd. Für eine ähnlich gelagerte Position ließen sich auch die Beiträge Theodor Kaftans aus dieser Zeit heranziehen, der dazu aufforderte, die Kirche ihrem Wesen entsprechend zu verfassen, vgl. Kaftan (1920): Wie verfassen wir. Zu ihm und diesen Debatten vgl. außerdem Brunner (2021): Was nun? Zu dieser Kritik vgl. Bunke (1919): Freie evangelische Volkskirche. Hilbert (1919): Volkskirche, Sp. 930; vgl. auch ders. (1919): Unsere Kirche. Vgl. Hilbert (1919): Volkskirche, Sp. 931. Hilbert stimmt hier mit Ihmels völlig überein: „Ohne Bekenntnis kein Glaube, und darum auch ohne Bekenntnis keine Kirche. Gibt die Kirche das Bekenntnis auf, so gibt sie sich selbst auf.“ A.a.O., Sp. 947. Vgl. ebd., sowie Sp. 948. Ebd.
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sich für ihn vor allem aus dem „Gegensatz zur Freiwilligkeitskirche“:56 Das Beharren darauf, Volkskirche sein und bleiben zu wollen, blieb trotz der inhaltlichen Differenzen im Einzelnen ein gemeinsamer Referenzpunkt aller theologischen und kirchenpolitischen Richtungen in den Landeskirchen. Fragt man nach dem Ertrag der Diskussionen im Hinblick auf die kirchlichen Verfassungen, so muss man eindeutig festhalten, dass Entscheidungen für die Bekenntnisbindung getroffen worden sind, ohne damit die volkskirchliche Offenheit der Kirchen aufzugeben. Dabei wurde der Versuch unternommen, die Bedeutung der Gemeinden zu stärken, ohne dass damit die Bedeutung der Kirchenleitungen eindeutig geschwächt worden sei. Einerseits sahen alle kirchlichen Gruppierungen die Stärke des Volkskirchenbegriffs darin, dass es ohne Wenn und Aber eine einflussreiche Kirche sein und bleiben würde, die viele Menschen mit ihrer Botschaft erreichen könne. Andererseits brach bereits unmittelbar nach der Revolution der Streit darüber los, wie diese Kirche zu konstituieren sei, was hier am Beispiel der Bekenntnisfrage gezeigt worden ist.57 3. ECCLESIA TRIUMPHANS ODER DÄMONIE – VERABSOLUTIERUNG UND FUNDAMENTALKRITIK DER VOLKSKIRCHE Nachdem sich die evangelischen Landeskirchen Verfassungen und Kirchenordnungen gegeben hatten, begann auch für sie eine Zeit relativer Stabilität.58 Die Kirchen waren zwar, wie die Weimarer Reichsverfassung eindeutig klarstellte, keine Staatskirchen mehr, sondern regelten ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich. Zugleich waren sie aber noch immer Körperschaften des öffentlichen Rechts und daher in verschiedener Hinsicht rechtlich privilegiert, weshalb man bekanntlich eher von einer „hinkenden“ Trennung sprechen kann.59 Da man sich institutionell also in den neuen Rahmenbedingungen nolens volens eingerichtet hatte, stritt man innerkirchlich zum Teil heftig darüber, welche Schlussfolgerungen man daraus ziehen wollte. Grosso modo lassen sich dabei zwei unterschiedliche Einstellungen hinsichtlich der Positionierung zur Volkskirche ausmachen. Auf der einen Seite gab es eine triumphalistische Strömung im deutschen Protestantismus, die von einem „Jahrhundert der Kirche“ sprach,60 wobei der Triumphalismus keine Selbstbezeichnung, sondern ein Vorwurf anders über die Kirche denkender Gruppierungen gewesen ist. Diese warnten auf der anderen Seite vor der Dämonie der Kirche, also dem allzu 56 Ebd. In Niedersachsen unterstrich der schon genannte Johannes Meyer in einer Reihe von Beiträgen die Bedeutung der Gemeinden für den kirchlichen Neubau, vgl. Meyer (1918): Gemeindegedanke, S. 21–25.; ders. (1919): Gemeinde; ders. (1921): Kern der Gemeinde. 57 Vgl. Fix (2019): Kirchliche Ordnung. 58 Vgl. Peukert (1987): Weimarer Republik; Brunner (2020): Von der Staats- zur Volkskirche. 59 Stutz (1926): Päpstliche Diplomatie, S. 54. Diese Beschreibung ist im Übrigen bis heute zutreffend, da das Grundgesetz die entsprechenden Artikel aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen hat, vgl. Großbölting (2013): Himmel, S. 50–55. 60 Vgl. Dibelius (1928): Jahrhundert der Kirche.
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großen Vertrauen in die sichtbare Kirche. Ohne dass hier ständig expressiv verbis von der Volkskirche gesprochen wird – vor allem Karl Barth benutzt den Begriff zu dieser Zeit kaum – geht es in der nachfolgend dargestellten Debatte doch ganz wesentlich um sie. Es kam zu einem Stellvertreterkrieg über die Volkskirche und das damit verbundene kirchliche Selbstverständnis. Für die zuerst genannte Position steht Otto Dibelius, der seit 1925 Generalsuperintendent der Kurmark war und mit seinem publizistisch sehr erfolgreichen Buch Das Jahrhundert der Kirche (1926) für die Wahrnehmung des seiner Ansicht nach großen Wirkungspotenzials der Kirche plädierte. In diesem Werk, das zu den am meisten gelesenen und diskutierten theologischen Büchern der Zwischenkriegszeit zählt,61 beschreibt Dibelius im ersten von vier Büchern die Geschichte der Kirche vom Vorabend der Reformation bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in einem Parforceritt auf gerade einmal 65 Seiten. Bemerkenswert ist vor allem seine Bewertung der Revolution von 1918/19, die einen ganz anderen Ton anschlug, als denjenigen, den man sonst aus protestantischer Feder zu hören gewohnt war. „[…] man spürt: die Zeit der Träume und der Utopien ist vorbei. Die Arbeit an der Kirche hat jetzt sicheren Grund. Ecclesiam habemus! Wir haben eine Kirche! Wir stehen vor einer Wendung, die niemand hatte voraussehen können. Das Ziel ist erreicht! Gott wollte eine evangelische Kirche! Seinem Willen mußten beide dienen, die da aufbauen und die da zerstören wollten.“62
Das euphorische „Ecclesiam habemus!“ gehörte sicher zu den am häufigsten und deutlichsten kritisierten Stellen im Jahrhundert der Kirche. Im zweiten Buch führt Dibelius so etwas wie eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lage der Kirche durch. Er plädiert dafür, dass man die Kirche als ein „soziologisches Problem“ wahrnehmen müsse; die Definition der Confessio Augustana, zu der er sich unumwunden bekennt, sei für die Gegenwartsanalyse der Kirche nicht in gleicher Weise nützlich.63 In der konkreten Umsetzung beschreibt er die Kirche dann als eine „selbstständige Lebensform“, die sich im Unterschied zur Sekte dadurch auszeichne, dass man in sie hineingeboren werde.64 Schon an dieser kurzen definitorischen Anmerkung wird deutlich, dass Dibelius die Volkskirche meint, wenn er von der Kirche spricht. Neben Faktoren wie dem Bekenntnis und des Kultus sowie dem umfassenden Erfassungsanspruch der Volkskirche, kommt das Bischofsamt als neuer Aspekt hinzu, der nicht nur in reformierten Kreisen zu erheblichem Widerspruch führte.65 Geradezu idealtypisch wird zudem das Merkmal der missionierenden, auf eine „Durchchristlichung“66 abzielenden Volkskirche im Jahrhundert der
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Vgl. Fritz (1998): Dibelius, S. 187–264 für eine ausführliche Diskussion. Dibelius (1928): Jahrhundert der Kirche, S. 77. Vgl. Dibelius (1928): Jahrhundert der Kirche, S. 81f. Vgl. a.a.O., S. 86f. Dibelius reagierte darauf, wie auch auf andere Kritiken in ders. (1928): Nachspiel, S. 59–86. Vgl. Dibelius (1928): Jahrhundert der Kirche, S. 130f: „Nicht um Verkirchlichung der Kultur, sondern nur um eine Durchchristlichung kann es sich handeln.“
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Kirche ausgeführt.67 Im dritten Buch, dem der „Umschau“, vertritt Dibelius die These einer weltweiten „Welle der Kirche“, die sich global über die europäischen bzw. westlichen Nationen erstrecke. Er ist dabei in seinem Optimismus kaum zu überbieten: „Das ist das Jahrhundert der Kirche. Daß in Deutschland eine evangelische Kirche ins Leben tritt, ist nicht Zufall. Es ist nicht Einzelschicksal des deutschen Volkes. Es ist eine Auswirkung weltumspannender Zusammenhänge. Die junge evangelische Kirche Deutschlands wird emporgetragen von einer Welle der Kirche, die spürbar ist auf der ganzen Welt!“68
Von dieser Sichtweise ist auch das „Buch der Ziele“ geprägt. Die Kirche müsse sich vor allem an der Bibel orientieren, als evangelische Kirche müsse sie „Kirche der Bibel sein“.69 Ferner nennt er die Belebung des Bekenntnisses, wobei er vor allem die Relevanz des Apostolikums für die erneuerte evangelische Kirche betont. Begleitet werden sollte dies von einem umfassenden, von starkem Missionsgeist belebten Kulturprogramm. Dibelius‘ positiver, euphorischer Grundton wurde auch von anderen vertreten, etwa von Johannes Schneider (1895–1970), dem Herausgeber der Kirchlichen Jahrbücher. Dieser hatte für das Jahr 1929 zur Kirchliche[n ] Zeitlage notiert: „‚Die evangelische Kirche hat die ungeheure Bedrohung ihres Daseins lebenskräftig überwunden‘, so schreibt mit vollem Recht Präses D. Wolff in dem Sammelwerk: ‚Zehn Jahre deutscher Geschichte 1918-1928‘. Es hat doch in der Tat eine Zeit gegeben, da ihr – wenigstens ihrem äußeren Organismus – buchstäblich die Zerschlagung drohte, eine Zeit, in der der Atheismus sich schon brav und bieder anschickte, ihr die Leichenrede zu halten. […] Das ‚Volk‘ war eigentlich zuerst merkwürdig still, wie gelähmt, all das Erlebte sofort zu fassen. Aber dann merkte man doch, daß es noch ein ‚Kirchenvolk‘ gab. […] Gezeigt hat sich, daß der religiöse Gedanke doch tiefer in der deutschen Volksseele verwurzelt war, als nach außen hin in Erscheinung trat. Das heilige ‚Dennoch‘ hat sich durchgesetzt. Bewährt hat sich das, was wir empirische Kirche nennen, sowohl in seiner Dauerkraft als auch in seiner Elastizität. Die Kirchenführung des letzten Jahrzehnts war ein Meisterstück.“70
Karl Barths Reaktion auf diesen Text, den er stellvertretend für eine größere Tendenz heranzieht, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es sei ein zum Himmel schreiender Skandal, schrieb er 1930 in einem polemischen Artikel unter dem Titel Quosque tandem...?, dass die deutsche evangelische Kirche andauernd diese Sprache rede. Während die evangelische Kirche schon heute von einer finsteren Wolke des Misstrauens umgeben sei, freuten sich die Führer der Kirche über das Häuflein „Kirchenvolk“, das allsonntäglich zu ihren Füßen sitze, ohne dabei zu verstehen, dass es sich auch hier nur noch um ein Restvertrauen handele, das ebenfalls schon sehr bald verschwinden könne. Diese Art der „Führung“ – Barth setzt
67 Etwa a.a.O., S. 130: „Die Kirche ist Mittel zum Zweck, die Kirche ist das Instrument, mit dem der Wille Jesu auf Erden vollstreckt werden soll. […] Die Kirche kann nie Selbstzweck sein. […] Nicht Siege der Kirche sollen erkämpft werden, sondern Siege Jesu Christi!“ 68 A.a.O., S. 141. 69 A.a.O., S. 207. 70 Schneider (1925): Kirchliche Zeitlage, vgl. auch die kritische Edition bei Barth (1994): Quosque tandem…?.
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Anführungszeichen – sei schon deswegen unerträglich, weil sie in solchen Aussagen vor allem nur sich selber wolle, und dies im Anspruch, die Sache Gottes zu vertreten.71 Zwar könne ein tüchtiger Reklame-Chef wohl zu Recht so sprechen wie Schneider, für die Kirche sei dies aber schlichtweg empörend. Man könne nicht Gott dienen und mit Teufel und Welt Rückversicherungen eingehen. Nichts würde helfen, auch kein „Jahrhundert der Kirche“, auf das sich Barth hier ausdrücklich bezieht. Es ist wenig überraschend, dass auch Barths Ausführungen nicht unwidersprochen blieben, ja sogar zu heftigem Widerspruch führten.72 Ähnlich erging es Barth mit seinem 1931 gehaltenen und im selben Jahr in Zwischen den Zeiten veröffentlichten Vortrag Die Not der evangelischen Kirche, der insofern für den hier dargestellten Zusammenhang aufschlussreich ist, als Dibelius sehr zeitnah auf ihn replizierte, beide Positionen also hier in einer sehr engen Auseinandersetzung standen.73 Die Not der evangelischen Kirche sei, so Barth, eine doppelte: Sie bestehe zunächst in ihrem Wesen. Genau in dieser Not der Kirche, die wesensmäßig ein Teil von ihr sei, „wohnt die Verheißung, der Segen, die Herrlichkeit der evangelischen Kirche“.74 Der Christ müsse von ihr mitbetroffen sein, an ihr mitleiden und mittragen und „nichts sonst“.75 Die zweite Form bestehe in der Not um ihre heutige Existenz. Diese ist für Barth nun gerade nicht ihr wesensmäßig und darum auch nicht unabänderlich. „Gegen sie kann und muss seitens eines Jeden, der zur evangelischen Kirche Ja sagt, Nein gesagt und diesem Nein entsprechend gedacht, geredet und gehandelt werden.“76 Entscheidend sei aber auch, dass man gegen diese Art der Not etwas unternehmen könne. Beide Nöte stünden in einem Zusammenhang, der darin bestehe, dass die Ablehnung der ersten Not die zweite überhaupt erst hervorrufe.77 Barth baut seinen Kirchenbegriff christozentrisch auf. Es sei „unauslöschlich bezeichnend für das Wesen der evangelischen Kirche: dass sie Kirche unter dem Kreuz ist“.78 „Evangelische Kirche weiß: Das, wovon sie lebt (wenn sie lebt) und was sie anzubieten hat (wenn sie etwas anzubieten hat!), ist Gottes Verheißung. Gottes in Christus erfüllte, d.h. aber vollständig und endgültig gewordene, abschließend ausgesprochene Zusage. Gott haben heißt für uns in der Zeit und nicht in der Ewigkeit lebende Menschen: seine Zusage haben und durch sie in Anspruch genommen sein. Diese Zusage ist der Besitz der evangelischen Kirche.“ 79
Von dieser Zusage müsse die Kirche zeugen. Etwas anderes habe sie nicht anzubieten, die Kraft und die Wirkung dieses Zeugnisses „sind nicht in ihrer Macht und 71 Vgl. Barth (1994): Quosque tandem…?, S. 531. 72 Vgl. nur Schian (1920): Karl Barth, Sp. 207: „Barth hat also nicht recht. Vielmehr lädt er eine schwere Schuld auf sich, wenn er dauernd unsere gesamte kirchliche Arbeit, abgesehen von der Verkündigung des Wortes Gottes, als ‚Betrieb‘ bekämpft.“ 73 Zur Vorgeschichte der Vorträge vgl. die Einleitung in Barth (2013): Vorträge, S. 64–73. 74 Barth (1931): Not, S. 73f. Zu Barths Ekklesiologie vgl. Großhans (2016): Kirche. 75 Barth (1931): Not, S. 74. 76 A.a.O., S. 74f. 77 A.a.O., S. 75. 78 Ebd. 79 A.a.O., S. 83f.
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sind ihr nicht offenkundig“80. Worin sieht Barth die Kirche, hinsichtlich ihrer zweiten Not am meisten gefährdet? Zunächst empfiehlt er die „Flucht vor der Sichtbarkeit der Kirche“, sei es doch seiner Ansicht nach unerträglich, dass diese sich immer wieder „in Sichtbarkeit, in Bestimmtheit, in jener ganzen Menschlichkeit“ als Verkörperung des Versöhnungsangebots Gottes mit den Menschen ansehen würde.81 Mit vielen Zeitgenossen weiß Barth sich darin einig, dass man sich so „das Göttliche nicht vermenschlichen, das Unbedingte nicht dämonisieren, den Geist nicht verdinglichen“ lassen wolle.82 Das Interesse an der Kirche gehe fast vollständig in der Kritik an derselben auf. Aber auch die Kritik gehe nahezu vollständig in dem Wunsch auf, dass die Kirche als Kirche bestenfalls gar nicht mehr sichtbar in Erscheinung trete, sondern so etwas wie eine „Kirche des Geistes“, eine „Unsichtbare Kirche“ werde.83 Während die Flucht vor der Sichtbarkeit sich gegen die liberalen Kulturprotestanten richtet, die von der sichtbaren Kirche Abstand nehmen, bzw. diese als nicht notwendig ansehen – eine Position, die Barth im Übrigen ablehnt84 – zielt die zweite Gefahr, die Flucht in die Sichtbarkeit der Kirche, explizit auf den kolportierten Triumphalismus von Schneider und Dibelius ab: „Es steht heute so in der evangelischen Kirche, dass der Eifer, das Nachdenken und die Liebe der wirklich in der Gegenwart Lebenden, der Jugend und derjenigen unter den Älteren, die die Zeichen und den Zug der Zeit verstanden haben, gerade ihrer Sichtbarkeit gelten. Kein Wunder: die Erschütterungen der Kriegs- und Nachkriegszeit hatten ja nichts weniger und nichts anderes als das Dasein der evangelischen Kirche ernstlich zum Problem gemacht.“ 85
Die Kirche habe, was Barth durchaus konzediert, vor existenziellen Fragen gestanden. Zusätzlich habe das ganze Volk in seiner aufs Stärkste empfundenen Bedrängnis nach einer „lebendigen handelnden Kirche oder sagen wir: nach einer aktiven religiösen und moralischen Leitung“ geschrien.86 Folgt man den Herausgebern des Bandes der Vorträge und kleinere[n] Arbeiten 1930-1933, Michael Beintker, Michael Hüttenhoff und Peter Zocher, so beziehen sich dann weitere Punkte von Barths Gegenwartskritik auf Dibelius‘ Jahrhundert der Kirche. Hinzugekommen sei, „dass das Wort ‚Schicksal‘ auf einmal wieder einen tiefen ernsthaften Klag zu bekommen begann, bei Christen, Juden und Heiden. Es kam hinzu, dass gerade in dieser zerrissenen Zeit auffallend Viele und Verschiedene allen Ernstes behaupteten, so oder so das Wunder der ‚Gemeinschaft‘ erlebt zu haben.“87
Unbenommen wie eng diese einzelnen Faktoren miteinander zusammenhängen, in der Gegenwart sei aufs Neue der Wille zur Sichtbarkeit der Kirche erwacht, wofür 80 81 82 83 84 85 86 87
A.a.O., S. 84. Die beiden Zitate a.a.O., S. 90. Ebd. A.a.O., S. 92. Vgl. ebd. A.a.O., S. 96. A.a.O., S. 97. A.a.O., S. 98.
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Dibelius‘ programmatische Titelwahl vom Jahrhundert der Kirche an dieser Stelle als Beispiel für die innerprotestantischen Entwicklungen hergenommen wird. Ans Ende seines Aufsatzes stellte Barth einen Fragenkatalog hinsichtlich der Art von Rhetorik, die er so scharf kritisierte. Als erstes sei zu fragen, warum man sich des Stichworts der Sichtbarkeit überhaupt bediene. Sei es nicht schon ein ernstes Problem, „dass die Wendung nach rechts innerhalb der Kirche wieder einmal so genau zusammenfällt mit allerlei entsprechenden Weltbewegungen derselben Zeit?“88 Die zweite Frage Barths beschäftigt sich mit den Forderungen nach einem Öffentlichkeits- und Tatwillen der evangelischen Kirche. Es sei entscheidend, was im Einzelnen an die Öffentlichkeit gebracht und was getan werden solle.89 Auf diese Frage antworte man meist, dass die Kirche das Evangelium habe. Barth mahnt hier zu mehr Demut, wenn die Sichtbarkeit der Kirche nicht nur durch die „Schar in ihrer Geistlichkeit offenbar sehr reicher, mit vollen Händen aus einem wohlgefüllten Schatz austeilender Leute“ begründet sein solle.90 Im vierten Fragekomplex spricht Barth dann das differierende Evangeliumsverständnis an. 91 Man müsse Acht geben, dass die evangelische Kirche, bestrebt die ganze Welt zu gewinnen, nicht an ihrer Seele Schaden nehme und zu einer schlechten Kopie der römischen Kirche werde.92 Fünftens fragt er danach, ob die Machtfrage – gemeint ist die Konkurrenz mit der römisch-katholischen Kirche – nicht zum entscheidenden Interesse kirchlichen Handelns geworden sei? Das Streben nach Macht, nach Sichtbarkeit im Allgemeinen führe dazu, dass das Wesen der Kirche preisgegeben werde. „Wäre es nicht an der Zeit und wäre es nicht schließlich auch praktischer und im besten Sinn realistischer, wenn die Kirche wieder anfinge, wirklich am Ersten nach dem Reiche Gottes zu trachten?“93 Zuletzt stellt Barth die enge Verbindung von Christentum und Volkstum in Frage. Diese sei heute zum eigentlichen Kriterium kirchlicher Orthodoxie geworden: „Meint man wirklich, es gebe irgend eine nationale Not und Hoffnung, die die Kirche berechtige, in dieser Weise fremdes Feuer auf den Altar zu bringen? Sollte nicht schließlich auch und gerade einem ernsthaft nationalen Denken die Erwägung möglich und notwendig sein, dass das, was das deutsche Volk heute nötig hat, die Existenz einer evangelischen und gerade nicht einer deutsch-evangelischen Kirche ist? Aber freilich, wie sollte das Spiel mit dem fremden 88 A.a.O., S. 101. Und er fragt dann weiter: „Handelt es sich denn bei der neu zu betonenden Sichtbarkeit der Kirche wirklich so einfach um Geschichte, Schicksal, Wirklichkeit, soziologische Notwendigkeit, Gemeinschaft, Gestalt, Ordnung, Gegebenheit, Leibhaftigkeit und wie die Schibboleths des neuen Realismus alle heißen mögen?“ Seiner Ansicht nach solle in der Kirche vielmehr „die Situation des mit dem gekreuzigten Christus konfrontierten Menschen“ (ebd.) sichtbar werden. 89 A.a.O., S. 102: „Warum kümmert man sich offenbar nur um die Existenz der Kirche als solche, um Charakter, Öffentlichkeit, Tat der Kirche an sich und gar nicht um das Was, dessen Existenz man will?“ 90 A.a.O., S. 104. 91 A.a.O., S. 105. 92 Vgl. a.a.O., S. 106f. 93 A.a.O., S. 109 [Hervorhebung im Original, BB]. Vgl. zu dieser Thematik bereits Piper (1929): Machtwillen.
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Feuer nicht notwendig sein, wenn man die Sichtbarkeit der Kirche um ihrer selbst willen begehrt und die Frage nach dem Zentrum, nach der Substanz der Kirche beharrlich offen lässt? Irgend etwas Fremdes, heute dieses, morgen vielleicht jenes, wird dann notwendig diesen leeren Raum ausfüllen müssen.“94
Zusammenfassend würden diese sechs in den Fragen genannten Bewegungen eine Flucht in die Sichtbarkeit beschreiben, die entschieden abzulehnen sei. Sechs Tage nach Barth, am 6. Februar 1931, sprach Dibelius in der Neuen Aula der Berliner Universität. Er plante, entsprechend seiner ursprünglichen Absicht in Ergänzung zu dem Vortrag Barths,95 eine theologische Rechtfertigung der sichtbaren Kirche zu bieten. Grundsätzlich gebe die Lehre Barths von der Kirche Luthers Kirchenbegriff richtig wieder. Als Leib Christi sei die Kirche dort, „wo Wort und Sakrament sind; die Aufgabe der Kirche [ist] das Wort vom Kreuz und immer nur wieder das Wort vom Kreuz“.96 Da es aber im Unterschied zur Zeit Luthers keine christliche Obrigkeit mehr gebe, sei die Kirche nun aufgefordert „aus christlicher Liebe zu tun, was ihr als Kirche eigentlich zu tun nicht zusteht“.97 Wie weit dürfte die Kirche in ihrem Tun gehen? In seiner theologischen Grundlegung beschränkt sich Dibelius darauf, den biblischen Befund herauszustellen, dass „die Arbeit der verantwortlich helfenden Liebe wesensnotwendig zur Kirche gehört“.98 Dafür, dass sie arbeite und kämpfe, habe sich die Kirche „unserer Tage“ nicht zu entschuldigen, denn sie „wäre nicht mehr Kirche Jesu Christi“,99 wenn sie nicht mehr arbeiten und kämpfen würde. Abschließend ging Dibelius auf die fünf Barthschen Fragen ein, die ihm bekannt waren.100 Auf den ersten Einwand entgegnet er, dass die Kirche nicht isoliert neben dem sonstigen geistigen Leben der Menschheit stehe.101 Bezüglich des zweiten Fragekomplexes unterstreicht Dibelius seine Überzeugung, dass sich der Wille zur Öffentlichkeit „aus der Verantwortung der Kirche für die Verkündigung des Evangeliums mit unentrinnbarer Notwendigkeit“ ergebe.102 Für unseren Zusammenhang ist hier schließlich noch seine Erwiderung auf die Frage hinsichtlich des von Barth so bezeichneten Bindestrichchristentums von Bedeutung. Der kurmärkische Generalsuperintendent sieht eine Übereinkunft in der Ablehnung der Parole 94 Barth (1931): Not, S. 113. 95 Dibelius (1931): Verantwortung, S. 5: „Was ich über die Verantwortung der evangelischen Kirche zu sagen habe, war als Ergänzung zu dem gedacht, was Karl Barth über die Not der evangelischen Kirche ausführen würde. Nicht als Antwort. Es ist zwar eine sehr bequeme Position, wenn man das letzte Wort hat. Aber es wäre nicht ritterlich, diese Position auszunutzen – zumal einem Mann gegenüber, dessen Bedeutung für die notwendige Selbstbesinnung der evangelischen Kirche ich sehr ernst zu würdigen weiß.“ 96 A.a.O., S. 10. 97 A.a.O., S. 13 [Im Original gesperrt, BB]. 98 A.a.O., S. 21 [Im Original gesperrt, BB]. 99 Ebd. 100 Die vierte Frage wurde erst nach Dibelius‘ Vortrag hinzugefügt. 101 Vgl. a.a.O., S. 28: „Verhängnisvoll wird diese Einstellung erst dann, wenn sie zu dem Schlusse führt, daß die Kirche eine Kulturerscheinung sei wie andere auch und daß ihre inneren Bewegungen unter den Kategorien der Kulturgeschichte restlos begriffen werden können.“ 102 A.a.O., S. 29.
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„deutsch, deutsch und nochmal deutsch, und daneben auch christlich“,103 die in der Kirche nichts verloren habe. Das Entscheidende sei aber, dass die evangelische Kirche in die „Schöpfungsordnung des Volkstums“ hineingestellt sei,104 „daß sie mit ihrem Volke lebt, mit ihrem Volk leidet, für ihr Volk kämpft und für ihr Volk betet. Denn die Verantwortungen der evangelischen Kirche gehen, wie wir gezeigt haben, auf das Volk, mit dem sie verbunden ist.“105 Dibelius hält daran fest, dass die nationalen Kirchen mit einem bestimmten Volk verbunden sind und eine, wenn auch nicht ausschließlich, so doch in erster Linie auf dieses Volk bezogene Aufgabe haben.106 Er schließt dann mit nicht geringem Pathos: „Der Dank für dies Geschenk unseres Gottes ist es, der uns immer wieder aufs Neue den Ruf erheben läßt, um den wir alle sammeln möchten, die mit uns dem Gekreuzigten dienen wollen: ecclesiam habemus! Wir haben eine Kirche!“107
Barth replizierte in einem Nachwort, das nach der Veröffentlichung von Dibelius Text erschien, auf dessen Ausführungen.108 Er äußerte hier sein „tiefstes Befremden“,109 das der Vortrag bei ihm ausgelöst habe. Zu den meisten Punkten führt er hier nochmals aus, dass beide keinesfalls so nah beieinander stünden, wie Dibelius dies an einigen Stellen darstellen wolle. Besonders gegen das „ecclesiam habemus!“ wendet er sich dabei, indem er unterstreicht, dass es keine Mitte zwischen seiner und der Position Dibelius‘ gebe, sondern nur ein klares Entweder-Oder: „Ich protestiere jedenfalls für mich selbst im Voraus gegen jedes Geschichtsbild, das mir eine andere Stellung zuweist als die des ganzen Protestes gegen das ganze, die Sprache von D. Dibelius redende Kirchentum. ‚Ecclesiam habemus‘ – Sie haben recht, Herr Generalsuperintendent, eben darum kann ich mich gegen die heute noch ungebrochene Herrschaft Ihres Geistes und Ihrer Art in der Kirche nur auflehnen. Ich hoffe auf einen anderen, neuen Tag der deutschen evangelischen Kirche.“110
Wie insbesondere die hier zuletzt angeführten Äußerungen deutlich machen, kam es in dieser Auseinandersetzung nicht zum Konsens, sondern eher zu einer ostentativen Betonung der eigenen Überzeugungen. In der kirchlichen Publizistik wurde
103 A.a.O., S. 31. 104 Ebd. 105 Ebd. Auch eine Invektive auf die Nationalität Barths bleibt nicht aus, wenn Dibelius großmütig konzediert: „Wir machen dem Deutsch-Schweizer keinen Vorwurf daraus, daß er das, was da in deutschen Herzen vorgeht, nicht in der Tiefe mitempfinden kann.“ (a.a.O., S. 32). 106 Wohl direkt gegen Barth und die von ihm vertretene theologische Richtung wendet sich der Vorwurf, dass durch „zersetzende, theoretische Rechthaberei“ (ebd.) das neue Verantwortungsgefühl sofort wieder zerstört werden könne. 107 Ebd. 108 Dort notiert Barth, Dibelius Vortrag habe acht Tage nach seinem stattgefunden. Vgl. Barth (1931): Not, S. 114. 109 Ebd. 110 A.a.O., S. 122.
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der Disput zunächst intensiv weitergeführt.111 Er geriet jedoch schon bald, spätestens ab Sommer 1932, durch die Erfolge der „Deutschen Christen“ insofern in ein neues Stadium, als diese gleichsam unter radikalisierten Vorzeichen „ihren“ Volkskirchenbegriff in die Diskussion einbrachten.112 4. AUSBLICK UND SCHLUSS Bei den Auseinandersetzungen zwischen Dibelius und Barth handelt es sich um eine Art Stellvertreterkrieg zweier kirchlicher Positionen, die sich gegenseitig als jeweils ausschließend wahrnahmen. Ersterer stellte das Potenzial der neuen Situation stark in den Vordergrund. Und auch wenn der Begriff der Volkskirche erstaunlicherweise in seiner Schrift nicht fällt, enthielt sie doch zahlreiche durchaus typische Charakterisierungen derselben, wenn auch mit bestimmten Spezifika, wie einer starken Betonung des Bischofsamtes. Barth hingegen lehnte eine solche Haltung als Triumphalismus ab und rekurrierte auf die Unverfügbarkeit Gottes, die einen leichtfertigen Umgang mit der Kirche als eine in der Welt arbeitende Institution verbiete. Allerdings war auch unter den Kritikern der Position von Dibelius niemand bereit, die privilegierte Stellung der evangelischen Landeskirchen, die sie über die Revolution hinübergerettet hatten, von sich heraus aufzugeben. Einigkeit fand man übergreifend in der Abgrenzung von freikirchlichen Konzepten, die mit der Aufgabe von vermeintlichem oder tatsächlichem Einfluss einhergegangen wären. In der Frage des Bekenntnisses agierte man ähnlich. Selbst besonders bekenntnistreue kirchliche Leitungspersönlichkeiten wie Ludwig Ihmels wollten die Zutrittsschwellen zur Kirche nicht in einer Weise erhöhen, die sie zu einer Freikirche gemacht hätten. Leichter konnte man indes Bekenntnis- und Volkskirche miteinander in Verbindung bringen und entwickelte erste Modelle der Zugehörigkeitsformen in ihr, lange vor allen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen.113 Es konnten in diesem Beitrag nur zwei Schlaglichter durch das Brennglas geworfen werden, es gäbe eine ganze Reihe von weiteren Aspekten, die man mit der begriffsgeschichtlichen Methode anhand der Volkskirche untersuchen könnte und die auch bereits untersucht worden sind. Bei der Volkskirche handelt es sich um einen evangelischen Grundbegriff, weil ohne ihn gewisse Debatten über das kirchliche Selbstverständnis, ihr Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft sowie binnenkirchliche Auseinandersetzungen kaum geführt werden konnten.
111 Schian (1931): Ecclesiam. Vgl. zuvor schon die Kritik an Barth von Hein (1927): Quid sit ecclesia; ders. (1927): Tertium datur; ders. (1927): Dämonie. 112 Vgl. Brunner (2019): Ein Volk, ein Reich, eine Kirche? 113 Vgl. aus diesen Debatten nur Dahm (1979): Verbundenheitsmodell.
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ZWISCHEN KRIEG UND FRIEDEN Diskussionen des deutschen Protestantismus in der Weimarer Republik. Folgerungen für die Friedensethik der Kirchen heute1 Reinhard Gaede 1. ZUM VERHÄLTNIS ZWISCHEN KIRCHE UND GESELLSCHAFT Über der Frage nach der Stellung des deutschen Protestantismus zum Problemkomplex Krieg und Frieden 1918–1933 stößt die zeitgeschichtliche Untersuchung auf ethische Konfessionen, die sich als Nationalprotestantismus und christliche Friedensbewegung gegenüberstanden – ungefähr parallel zu den politischen Fronten: Nationalkonservative bzw. Völkische und Demokraten bzw. Sozialisten – und sich gegenseitig im Namen des Christentums bzw. der protestantischen Tradition widersprachen. Die widerspruchsvolle Auslegung der biblischen, christlichen, protestantischen Tradition in der jüngsten Vergangenheit stellt die Systematische Theologie, insbesondere die Friedensethik, vor schwierige Aufgaben. Eine empirisch-analytische Fragestellung stößt zunächst auf das Dilemma der Institution Kirche. Ihrer Botschaft von der Menschenliebe Gottes, die in Worten und Taten bezeugt werden soll, steht ihre gesellschaftliche Funktion der Legitimation von Herrschaftsinteressen gegenüber. Für die Weimarer Zeit war es geradezu ein Symbol der Kräftekonstellation, dass zum Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Nürnberg 1930 Generalleutnant a. A. Woldemar Graf Vitzthum von Eckstädt (1863–1936) gewählt wurde, der seine Eignung für dieses Amt mit einer vierzigjährigen Tätigkeit als Offizier (komm. General XII. Armeekorps) begründete. Das Bündnis von Thron und Altar war zum Bündnis von Nation und Altar weiterentwickelt worden. Der Gedanke des christlich-deutschen Volkstums sollte dabei demokratische und sozialistische Ideen einschränken oder ausschließen, und die Bindung der Kirche an Adel, Militär, Kreise der Wirtschaft und des Großgrundbesitzes wie des wohlhabenden Bürgertums zeigte sich in der Zusammensetzung ihrer repräsentativen Organe überaus deutlich. Angehörige der mittleren und unteren Beamten, Angestellte, Arbeiter und Bauern waren in den
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Vgl. Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden; ders. (2018): Sternstunden – Erfüllte Zeit; ders.: Sternstunden – Macht der Liebe; ders. (1976): Die Stellung des deutschen Protestantismus zum Problem von Krieg und Frieden während der Zeit der Weimarer Republik; Holl (1976): Die deutsche Friedensbewegung in der Weimarer Republik.
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Regierungen der deutschen evangelischen Landeskirchen überhaupt nicht vertreten.2 Eine gefährliche Eigendynamik kann der Bereich der Militärseelsorge entwickeln. Über die Weimarer Zeit hinaus ist für Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich oder die USA unter anderem das Problem geblieben, dass trotz Trennung von Staat und Kirche weiterhin eine staatlich organisierte, finanzierte und teilweise reglementierte Militärseelsorge besteht. Es zeigt sich darin ein Interesse der Staatsmacht und ihrer Eliten aus Regierung, Administration, Militär und Polizei, Regionalregierungen und parlamentarischen Vertretungen an solchen Wirkungen der Kirche, die die bürgerlichen Tugenden und die Wehrbereitschaft fördern können. In der Weimarer Republik wie in der Bundesrepublik bewirkte eine Reihe von Verfassungselementen die Unabhängigkeit der Militär-Kirchen von den Landeskirchen und die Integration in den militärischen Bereich: Damals die Unterordnung des Feldpropstes und der Militärpfarrer unter das Reichswehrministerium und die militärischen Befehlshaber, heute die Parallelität der hierarchischen Strukturen; damals die Stellung der Militärpfarrer als Reichsbeamte, heute ihr Doppelstatus; damals wie heute die Exemtion der Militärgemeinden, denen synodale Vertretungsorgane fehlen. Militärseelsorge wurde nicht vom kirchlichen Gesamtauftrag her als Seelsorge an einer gesellschaftlichen Gruppe verstanden, sondern den Forderungen und Interessen staatlicher Machteliten gemäß geregelt. Wenn in der Evangelischen militärkirchlichen Dienstordnung von 1929 auf Drängen sowohl des Feldpropstes als auch der Reichsregierung die Selbständigkeit der Militärkirche besiegelt war, konnte das die Spannungen zwischen dem Militär und den demokratisch-sozialistischen Parteien nur verstärken. Eine Integration der Kirche in den Militärbereich lässt sich heute nur durch Aufbau einer Militärseelsorge von der Gemeinde her, durch Verflechtung der Militärseelsorge und Soldatengemeinde mit der Gesamtkirche auf allen Ebenen vermeiden. Erst so könnte der Konflikt zwischen Wehrdienst und Friedensdienst innerhalb der Kirche öffentlich ausgetragen werden, ohne dass eine selbständige Militärkirche durch unkritische Loyalität zum Militär dieses in einem Gegensatz zu radikal-demokratischen, sozialistischen und pazifistischen Gruppen bestärkt.3
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Vgl. Balzer (1973): Klassengegensätze in der Kirche, S. 39; Röhr (1972): Neue Literatur zum religiösen Sozialismus, S. 153f.; vgl. auch bei Karlheinz Lipp die Rezension des Büchleins Die Religion ist in Gefahr aus der Feder des Pfälzer religiös-sozialistischen Pfarrers Oswald Damian, der in der engen Verflochtenheit von Staat und Kirche den Grund dafür sieht, dass Kriege mit scheinbar christlichen Argumenten gerechtfertigt wurden: „Wir klagen sie [sc. die Kirche] an, dass sie durch religiöse Glorifizierung des Krieges eine grauenhafte Verwirrung in den Köpfen der Gläubigen angerichtet hat, dass sie das Widergöttliche vergöttlicht, das Unheilige heilig gesprochen hat.“ Lipp (1995): Religiöser Sozialismus und Pazifismus, S. 118. Vgl. die Fallstudie Die Struktur der Evangelischen Militärseelsorge bei Huber (1973): Kirche und Öffentlichkeit, S. 220–294; zudem die Analyse und Dokumentation von Kubbig (1974): Kirche und Kriegsdienstverweigerung in der BRD. Eine Reform der Militärseelsorge haben der Bund der Religiösen Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands und der Versöhnungsbund verlangt, vgl. Versöhnungsbund (2021): Friedensauftrag und Militär.
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Die Versuchung der Institution Kirche ist damals wie heute die gleiche: Benutzen der Staat und seine Eliten die Kirche zur Legitimation und Stärkung von Herrschaftsinteressen und -verhältnissen, so fordert auf der anderen Seite die Kirche den Staat auf zur Mithilfe beim Durchsetzen religiöser Normen. Insgesamt gesehen, zeigt sich eine permanente Differenz zwischen Anspruch bzw. Selbstverständnis der Kirche und den Organisationsprinzipien, die oft zugunsten der geltenden Organisationsprinzipien aufgelöst wird. Das wirkt sich insbesondere so aus: - Die Verpflichtung der Kirchen gegenüber Leitbildern von Frieden und Gerechtigkeit wird in moralischen Appellen beteuert, in ihren strukturellen Bedingungen aber nur eingeschränkt durchgesetzt. - Kirchliche Gruppen, die an den Leitbildern von Frieden und Gerechtigkeit orientierte Aktionen initiieren, werden einerseits als kirchliche Vertretungen anerkannt, da in ihrem Handeln die Sendung der Kirche verwirklicht wird, andererseits werden sie isoliert und an den Rand gedrängt, weil ihr unmittelbarer Einfluss der gesamten Institution Schwierigkeiten bereiten könnte. - Die These von der politischen Neutralität der Kirche, begründet in jenem „dunklen Zusammenhang von lutherischer Innerlichkeit und lutherischer Weltlichkeit“,4 wirkt als Verbandsideologie, die Störungen des Kultus vermeiden und Polarisierungen verhindern soll. Abgesehen von ihrer Falschheit – die Weimarer Zeit prägte den Spottvers: „Die Kirche ist politisch neutral, aber sie wählt deutschnational“5 –, verhindert diese These nicht nur eine Reflexion über den Missbrauch der Kirche zur Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen, sondern sie behindert die Kirche noch bei ihrem Auftrag, für Frieden und Gerechtigkeit öffentlich einzutreten. Zeigt so die Vorherrschaft der Organisations- und Integrationsprinzipien, dass die Kirchen keine Garanten einer Friedensordnung sind, lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass sie es werden können. Wie schon Otto Baumgarten (1858–1934) und Martin Rade (1857–1940) sowie andere liberale Demokraten und religiöse Sozialisten nach der November-Revolution 1918 sahen, ergibt sich die Chance einer Neuorientierung weniger als Ergebnis theologischer Reflexion als vielmehr hauptsächlich aus dem allmählichen Verlust Herrschaft legitimierender Funktionen.6 In der spätkapitalistischen Gesellschaft ist die Geltung religiöser Deutungsschemata eingeschränkt. Die Funktion der Herrschaftslegitimation wird von Wissenschaft und Technik als den bestimmenden Produktivkräften und den ihnen zugeordneten gesellschaftlichen Formationen übernommen.7 Die Kirche wird immer weniger als dem Staat gegenüberstehende Hoheitsmacht und immer mehr als Verband begriffen. Dieser ist jedoch im Unterschied zu anderen Großorganisationen nicht unmittelbar in den Prozess gesellschaftlicher Produktion, Reproduktion und Erhaltung eingebunden. Bei einer fälligen Neubestimmung der Funktion der Kirche könnte ihre bisher überlagerte 4 5 6 7
Barth (1922): Grundfragen der christlichen Sozialethik, S. 163. Vgl. Lepp (2019): Protestantismus und Politik, S. 48. Vgl. Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden, S. 84–90. Vgl. Habermas (2020): Technik und Wissenschaft als Ideologie.
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Tradition kritischer Normen zum Zuge kommen. Statt in der Stabilisierung von Herrschaft könnte sie ihre Funktion in der Anregung gesellschaftlicher Lernprozesse sehen, die auf Emanzipation gerichtet sind, wenn wirklich die christliche Botschaft befreiende Wahrheit ist. Sie hätte die Möglichkeit, ihr Interesse an der Überwindung von Not, Gewalt und Zwängen, das aus der Verkündigung von Gottes Reich erwächst, auch gesellschaftskritisch zu formulieren und in Aktionen zu bekunden, nachdem die Möglichkeiten der Legitimation und Stabilisierung bestehender Verhältnisse zum Schaden der eigenen Glaubwürdigkeit längst verbraucht sind.8 Eine Gesellschaft, die aggressive Modelle anerkennt, wird auch aggressive Kinder hervorbringen. Über das Potential der Gewalt sollte nach den zeitgeschichtlichen Erfahrungen ebenso wie nach neueren sozialpsychologischen Versuchen (Milgram, Mantell, Schmidt-Mummendey) keine Illusion mehr vorherrschen. Kognitive Gewohnheiten und Reaktionsgewohnheiten, die, verbunden mit Hinweisreizen, zu aggressivem Verhalten beitragen, entstehen nicht zufällig.9 Zu den verantwortlichen Agenten der Sozialisation gehören auch die Kirchen. Überdies erstreckt sich ihr Einfluss nicht nur auf Primärgruppen, sondern wirkt im Zusammenhang des gesamtgesellschaftlichen Sinnsystems. 2. ZUR FRIEDENSETHIK DER KIRCHEN Der Nationalprotestantismus hielt nach dem Ersten Weltkrieg immer mehr daran fest, den Krieg als menschliche Normalsituation zu erklären. Vor dem Hintergrund der Lehre vom unerbittlichen Machtkampf der Staaten war die Frage von Krieg und Frieden schnell entschieden. Das Motto Notwehr im Großen wurde Formel für die Apologie christlicher Kriegsbeteiligung. Die frühere Lehre vom gerechten Krieg wurde zur Lehre von der Selbstbehauptung der Staaten erweitert. Für den Christen sei der Krieg sittlich gerechtfertigt, wenn er politisch richtig sei, als ein Akt der Selbstbehauptung eines Volkes in seiner Kulturaufgabe. In der naturalistischen Interpretation galt der Krieg als großes „Examen der Weltgeschichte“.10 Recht wurde definiert als „ein lebendiges, in der Lebenskraft und geschichtlichen Tüchtigkeit wurzelndes“.11 Pläne für kriegerische Eroberungen konnten auf Vorstellungen vom Recht des Tüchtigen später im Dritten Reich zurückgreifen. Die christliche Friedensbewegung dagegen wollte einen Zwang zum Frieden rational und moralisch einsichtig machen. Mit Immanuel Kant (1724–1804) meinte man: Trotz böser Gesinnungen gebe es doch das Interesse an der Erhaltung des Lebens. Triebfeder für den Frieden zwischen Staaten sei der Eigennutz, und das Interesse am Handel sei mit dem Krieg unvereinbar. Ehemalige Offiziere verwiesen 8
Vgl. Huber (1973): Kirche und Öffentlichkeit, S. 632–645; Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden, S. 248. 9 Vgl. Schmidt-Mummendey (1972): Bedingungen aggressiven Verhaltens; Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden, S. 249. 10 Seeberg (1920): System der Ethik, S. 261. 11 Althaus (1929): Art. „Krieg und Christentum“, Sp. 1308.
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auf den kommenden Krieg als Vernichtungskrieg, in dem sich die Zivilbevölkerung nicht mehr schützen ließe. Für Leonhard Ragaz (1868–1945), den Vorsitzenden der religiös-sozialistischen Internationale, begründete sich das Wirken für den Frieden in seiner Hoffnung auf Gottes kommendes Reich. Die Avantgarde der Herrschaft Gottes habe sich an die Spitze des gesellschaftlichen Kampfes für Frieden und Gerechtigkeit zu setzen. Siege gebe es, weil Er siege. Die Furcht der Orthodoxie und des Pietismus vor der Vermischung von Gottes- und Menschenwerk sah Ragaz in einer falschen Alternative begründet: „Beides ist wahr, dass Gott allein es tut, und dass er nichts tun will und kann ohne uns. Man darf sagen, [...] dass einige wenige treffliche Menschen und Führer es vermöchten, die Welt zum Frieden zu bringen, und man kann ebenso gut sagen, auch die gewaltigste und lauterste Menschenkraft vermöge nichts, wenn Gott nicht seinen Creator Spiritus [Schöpfer Geist] wehen lasse.“12
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) schließlich erklärte den Frieden als einzig anzuerkennenden Normalzustand. Der heutige Krieg sei „schlechthin vernichtend“, „vernichtet Seele und Leib“.13 Deshalb lasse der Krieg sich nicht mehr in das theologische Denken von Ordnungen Gottes einfügen. Ordnung Gottes zu sein, komme vielmehr dem Frieden zu. Auch dem Gebot des zornigen Gottes nach sei der Friede „eine Ordnung der Erhaltung der Welt auf Christus hin“. Damit war den Nationalprotestanten der Begriff der Ordnung Gottes, mit dem sie den Krieg erklärten, entrissen – und der Friede erhielt die Anerkennung als „Erhaltungsordnung“ Gottes.14 Heute hat die Kirche diese Aufgabe: Eine Friedenspädagogik ebenso wie eine Friedensethik muss im Raum der Volkskirche entwickelt und vorgetragen werden, gerade im Bewusstsein gesellschaftlicher Verantwortung für den Frieden. Während die Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg und viele Äußerungen des Nationalprotestantismus 1918–1933 eine denkbar große Entfernung zu biblischen Friedensmahnungen und zu Bekenntnisschriften der Kirche zeigen, lassen heutige Denkschriften der Kirche eine Neuausrichtung erkennen. Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen war der programmatische Titel der Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland 5 aus dem Jahr 2007.15 Wichtige Aussagen lauteten: „Die Kirche tritt für den Frieden der Welt ein, indem sie zuallererst den Frieden Gottes bezeugt. [...] Dieser Friede umfasst den ganzen Menschen; in ihm kommt der Leib zu seinem Recht, die sozialen Beziehungen sind auf gegenseitige Zuwendung ausgerichtet, und in Dankbarkeit gegenüber Gott kann Lebensfreude wachsen“.16
12 13 14 16 16
Ragaz (1929): Sinn der Friedensbewegung, S. 31. Bonhoeffer (1932): Weltbundarbeit, S. 342. A.a.O., S. 341; vgl. Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden, S. 229. Rat der EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben. A.a.O., S. 37.
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Realistisch wird von der „menschlichen Natur“ gesagt: „Zum Menschen gehört die Sehnsucht nach Frieden ebenso wie die Neigung zur Rivalität bis hin zur Gewaltbereitschaft. Menschen sind zum Guten wie zum Bösen fähig“.17 „Richtung und Orientierung“, „Beauftragung“ erfahren Christenmenschen besonders im Gottesdienst: „Weil Gott in Christus Frieden stiftet, können Christenmenschen inmitten einer von Gewalt entstellten Welt aus diesem Frieden leben“.18 Bußfertig wird aber zugegeben, „dass Teile ihrer [der Kirche] eigenen Geschichte im Widerspruch zur Verkündigung Jesu von einer religiösen Überhöhung des Krieges gekennzeichnet und entstellt sind. Im Namen des christlichen Glaubens dürfen weder Heilige Kriege noch der Bellizismus propagiert werden. Wo Christen jedoch im Laufe ihrer Geschichte anders handelten, haben sie geirrt und sind an Gott und den Menschen schuldig geworden.“19
Ausdrücklich wird die „Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Menschenrecht“ anerkannt und sogar ihr „Vorrang auch gegenüber demokratisch legitimierten Maßnahmen militärischer Friedenssicherung oder internationaler Rechtsordnung“.20 Die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerer (sc. die Beratung von Kriegsdienstverweigerern) wird als kirchlicher Dienst ebenso wie die Seelsorge an Zivildienstleistenden anerkannt.21 Auf der anderen Seite wird „allen, die bereit sind, sich an der Ausübung von Waffengewalt zu beteiligen“, „ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein“ anempfohlen mit dem Ziel, „menschliches Leben zu schützen und internationales Recht zu wahren.“22 Friede und Gerechtigkeit wird in „unauflöslichem Zusammenhang“ gesehen23 und biblisches Zeugnis dafür entfaltet.24 „Dimensionen des gerechten Friedens“ sind nach dieser Denkschrift „Existenzerhaltung und Existenzentfaltung“,25 „Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit“,26 „Vermeidung von und Schutz vor Gewalt“,27 „Förderung der Freiheit“,28 „Abbau von Not“ als „Bewahrung der für menschliches Leben natürlichen Ressourcen“ und Verringerung von „Ungerechtigkeiten in der Verteilung materieller Güter und des Zugangs zu ihnen“.29 Schließlich gehört zur „personalen Würde [...] die Anerkennung kultureller Verschiedenheit“.30 Nach dem ersten Teil über „Friedensgefährdungen“, dem zweiten über den „Friedensbeitrag der Christen und der Kirche“ widmen sich der dritte und der vierte 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
A.a.O., S. 38. A.a.O., S. 39. A.a.O., S. 45. A.a.O., S. 62. A.a.O., S. 63. A.a.O., S. 73. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 74–77. A.a.O., S. 79. A.a.O., S. 80. A.a.O., S. 81. A.a.O., S. 82. A.a.O., S. 83. A.a.O., S. 4.
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Teil der Denkschrift dem Ausbau der internationalen Rechtsordnung. Wie in der Charta der Vereinten Nationen (UN) vorgezeichnet, ist eine „kollektive Friedenssicherung“ nötig. Menschenrechte müssen universal gelten und sind unteilbar. Soziale Gerechtigkeit ist „transnational“ zu verwirklichen, „kulturelle Vielfalt“ zu ermöglichen.31 Die traditionelle Lehre vom „gerechten Krieg“ (ius ad bellum: causa iusta, legitima potestas, recta intentio, ultima ratio, Verhältnismäßigkeit der Folgen) und der rechtmäßigen Kriegsführung (ius in bello: Verhältnismäßigkeit der Mittel) wird ersetzt durch eine Lehre von der „rechtserhaltende[n] Gewalt“. Dabei sollen aber die bisherigen „Prüfkriterien“ erhalten bleiben.32 Die „Grenzen rechtserhaltenden militärischen Gewaltgebrauchs“ werden so bestimmt: Nur eine „Art internationaler Polizeiaktion nach den Regeln der UN-Charta“ sei „denkbar“. Es wird somit gewarnt vor einer „nicht durch den UN-Sicherheitsrat mandatierten, sondern extralegal als Nothilfe gerechtfertigten Intervention durch einzelne Staaten oder Staatenbündnisse“.33 Demnach fehlte dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien, dem sog. Kosovokrieg (24. März bis 10. Juni 1999), die rechtliche Legitimation; die gute Absicht der humanitären Aktion allein reicht nicht. Die Denkschrift verschweigt allerdings das den Kriterien nahe liegende Urteil und beschränkt sich auf deren Nennung: Bei Versagen des UN-Sicherheitsrats durch Blockierung wären „militärische Nothilfemaßnahmen zumindest streng daraufhin zu prüfen, ob sie in der Folgewirkung das Kriegsächtungsprinzip der UN-Charta und die transnationale Rechtsdurchsetzung eher stärken oder schwächen“.34 Eine erfolgreiche Friedenspolitik sieht die Denkschrift in wirksamer Durchsetzung des Völkerrechts und propagiert in einem vierten Teil die Stärkung universaler Institutionen: der Vereinten Nationen,35 der nichtstaatlichen und parlamentarischen Akteure.36 In einem Abschnitt über „Europas Friedensverantwortung“ geht die Denkschrift auch auf die Rolle der NATO und der Bundeswehr ein und äußert Skepsis gegenüber dem Einsatz in Afghanistan: Dort „ist immer deutlicher erkennbar, dass militärischer Einsatz allein nicht Frieden, wirtschaftlichen Aufschwung und demokratisches Zusammenleben bewirkt, dass die Herstellung eines sicheren Umfelds und der Wiederaufbau gleichzeitig und nicht nacheinander zu verwirklichen sind“.37
Die Europäische Union wird als „epochale Friedensleistung“ gewürdigt.38 Kritische Bedenken gelten der Bundeswehr mit ihrer Neuausrichtung auf Auslandseinsätze. „Ein friedens- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept“ ist „noch nicht hinrei-
31 32 33 34 35 36 37 38
A.a.O., S. 99. A.a.O., S. 102. A.a.O., S. 114. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 125–133. Vgl. a.a.O., S. 134–137. A.a.O., S. 140. Vgl. a.a.O., S. 142–147.
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chend erkennbar“. Zudem brauchen die Einsätze „ein klares völkerrechtliches Mandat“ der Vereinten Nationen.39 In einem Abschnitt „Waffenpotentiale abbauen“ werden „Rüstungsexporte“ kritisiert: Sie „tragen zur Friedensgefährdung bei“. Konzepte für „Rüstungskonversion“ von christlichen Gruppen werden als „hilfreich“ bezeichnet.40 Die „Aushöhlung der Rüstungskontrolle“ wird kritisiert.41 Ebenso „Privatisierung staatlicher Sicherheitsaufgaben, Söldnertum und Paramilitärs“.42 Als „vorrangige Aufgabe“ im Konzept des gerechten Friedens wird „zivile Konfliktbearbeitung“ genannt. Einige Träger werden benannt: Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), Forum Ziviler Friedensdienst, Evangelischer Entwicklungsdienst/Dienste in Übersee, EIRENE. Als Beispiele für zu vernetzende Aktivitäten werden genannt: „Unterstützung und Aufbau von zivilen Strukturen in Konflikt- und Krisenregionen“, „Förderung und Aufbau demokratischer Strukturen und Rechtsorgane“, „Verständigung über Werte und Maßstäbe gesellschaftlichen Zusammenlebens“, „Einflussnahme auf politische Prozesse der Meinungs- und Entscheidungsbildung“, „Maßnahmen zur Deeskalation gewaltförmiger Konflikte“, „Netzwerkbildung und Förderung von Friedensallianzen“, „gezielte Öffentlichkeitsarbeit“, „bildungspolitische Maßnahmen“, „Demobilisierung und Reintegration von Exkombattanden“, „Förderung von Friedensforschung“. Ein letzter Abschnitt bezieht sich auf „menschliche Sicherheit und menschliche Entwicklung als Verbesserung der Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten“. Aufmerksamkeit gilt auch „Gewaltübergriffe[n] im Innern reicher Industrieländer.“ „Schutz vor Gewalt im Alltag der Menschen ist ein gemeinsames Bedürfnis Alteingesessener und Zuwanderer.“ Der Schluss der Denkschrift prägt den Zusammenhang vom Frieden im Inneren und Äußeren ein: „Der gewaltfreie Umgang mit Konflikten innerhalb der Industriegesellschaften ist gewissermaßen die Schule, in der Fähigkeiten gelernt werden, die es ermöglichen, mit den großen sozialen Herausforderungen der Welt in der Perspektive des gerechten Friedens umzugehen.“43
Während der Diskussion im Jahr 2014, Deutschland müsse in kriegerischen Konflikten mehr Verantwortung übernehmen, hat die Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD eine „kritische und konstruktive Reflexion des Afghanistan-Einsatzes“ vorgelegt;44 die Kammer der EKD wollte damit „Orientierungshilfen für zukünftige Einsätze der Bundeswehr […] geben“; darüber hinaus gehe es „um eine friedensethische und friedenspolitische Aufgabenbeschreibung und Orientierung für die Zukunft“, sagte der Ratsvorsitzende der EKD Nikolaus Schneider am 27. Januar 2014 auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Textes. „Der Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan hat uns neu deutlich gemacht, welche gesellschaftlichen und menschlichen Folgelasten mit militärischen Einsätzen verbun-
39 40 41 42 43 44
A.a.O., S. 149. A.a.O., S. 160. Vgl. a.a.O., S. 161–166. Vgl. a.a.O., S. 167–169. A.a.O., S. 193. Kirchenamt der EKD (2013): Selig sind die Friedfertigen.
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den sind: Tod und Verwundung, traumatisierte Soldatinnen und Soldaten und langfristige Prozesse der Vernarbung in den Biographien der Einzelnen, der Familien und der Gemeinschaften. Wir brauchen Orientierung im Umgang mit diesen Folgen militärischer Einsätze.“ 45
In der seit 2011 arbeitenden Kammer für Öffentliche Verantwortung sollten „unterschiedliche und sogar kontroverse Standpunkte bzw. Perspektiven“ abgebildet werden. So haben „Mitglieder, die sich der ‚Friedensbewegung’ verbunden fühlen, gemeinsam mit dem früheren Oberbefehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr an dem friedensethischen Papier gearbeitet.“ 46 Soweit das Statement des Ratsvorsitzenden damals. Die Stellungnahme bestätigt ein wesentliches Argument der Friedensdenkschrift: „Innerer Frieden lässt sich von außen nicht erzwingen.“47 „Jede Intervention muss nicht intendierte Folgen reflektieren: neue soziale und politische Spannungen ebenso wie den verstärkten Zusammenschluss regierungskritischer bzw. feindlicher Gruppen. Wie auch die Situation nach den Balkankriegen der 1990er Jahre zeigt, weisen Staatsund Wirtschaftsstrukturen, die von Interventionsmächten eingeführt werden, oft eine geringe Stabilität auf“.48
Auch wenn die völkerrechtlichen Grundlagen des Militäreinsatzes durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 2001, gestützt auf Kapitel VII der UN-Charta, gegeben und mit der Resolution 1386 der Einsatz einer internationalen Schutztruppe (ISAF) autorisiert waren, führt die Stellungnahme mit Recht eine lange Liste von Misserfolgen der militärischen „Friedenssicherung“ auf, wobei Leser*innen sich an beinahe tägliche Pressemeldungen von Terroranschlägen im Land erinnern können, ebenso von Korruption der Behörden, Betrug bei Wahlen, von Drogenhandel, Verletzung der Menschenrechte durch Kriegsfürsten. Die Friedensbewegung hatte deshalb wiederholt den Abzug der Truppen aus dem Land gefordert. US-Präsident Joe Biden hat am 14. April 2021 in einer Rede in Washington angekündigt, die verbliebenen 2.500 amerikanischen Soldaten vom 1. Mai an nach Hause zu holen und den Truppenabzug in enger Abstimmung mit den Verbündeten bis spätestens zum 11. September abzuschließen. Fast 160.000 Soldatinnen und Soldaten sind inzwischen am Hindukusch gewesen, 59 dort gestorben. Das deutsche Bundeskabinett hatte zwar bereits beschlossen, den Einsatz der deutschen Truppen in Afghanistan um zehn Monate zu verlängern – bis zum 31. Januar 2022. Nach der Rede des US-Präsidenten begann die Bundeswehr jedoch eilig mit dem Abzug. Bereits im Mai 2021 hatten die islamistischen Taliban, die bereits von 1996 bis 2001 im Land geherrscht hatten, schnell wieder viele Gebiete erobert. Die afghanische Armee gab viele Provinzhauptstädte fast kampflos auf, der afghanische Präsident floh Mitte August aus dem Land. Daraufhin eroberten die Taliban Kabul innerhalb weniger Stunden, drangen in den Präsidentenpalast ein und verkündeten
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Schneider (2014): Statement auf der Pressekonferenz. Ebd. Kirchenamt der EKD (2013): Selig sind die Friedfertigen, S. 182f. A.a.O., S. 52.
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ihren Sieg. Viele Afghanen – insbesondere solche, die mit den internationalen Truppen und der demokratischen Regierung zusammengearbeitet hatten sowie Frauen und Mädchen – befinden sich seither auf der Flucht, da sie sich vor Racheaktionen durch die Taliban und drakonischen Maßnahmen zur Durchsetzung der Vorstellung eines Gottesstaates fürchten. Eine etwa zwei Wochen andauernde Evakuierung von über 120.000 Ausreiseberechtigten begann. Im Land selbst herrschen heute extreme Armut und Benachteiligung von Frauen und Mädchen, denen Bildungschancen verwehrt werden.49 Die Debatte um Ausrichtung und Bewaffnung der Bundeswehr wird seit einigen Monaten kontrovers geführt. So auch die Frage, ob die Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen aus- und aufgerüstet werden solle. Jede Entscheidung über neue Waffensysteme ist auch eine politische Entscheidung über das Bild künftiger Konflikte und Kriege und über mögliche Einsatzszenarien von UN-Friedenstruppen. Wir brauchen Orientierung in der Frage, ob überhaupt oder für welche Krisenherde und Einsatzbedingungen wir unsere Soldatinnen und Soldaten gemäß Artikel 1 der UN-Charta (Ziele: Friede und internationale Sicherheit, Schaffung und Stärkung von freundschaftlichen interstaatlichen Beziehungen und Kooperationen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art sowie die Stärkung der Menschenrechte) als einzig legitimierte Möglichkeit ausrüsten. Am 7. Juli 2017 haben 122 Staaten bei den Vereinten Nationen in New York einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen verabschiedet. Damit stehen sie in Opposition zu den Atom-Mächten, die sich weigern, ihre Waffenarsenale unwiderruflich und vollständig abzurüsten. Leider hat Deutschland die Verhandlungen boykottiert. Wir müssen deshalb jetzt deutlich machen: Sobald der Vertrag in Kraft tritt, verstoßen die nukleare Teilhabe und die Lagerung der Atomwaffen in Büchel gegen Völkerrecht. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten vom 9. Juli 1996 bezüglich Atomwaffen befunden: Ihre Vernichtungskraft kann weder in Raum noch Zeit eingedämmt werden. Sie können die gesamte Zivilisation und das gesamte Ökosystem des Planeten zerstören.50 Am 22. Januar 2021, neunzig Tage nach der 50. Ratifizierung, nämlich durch den Staat Honduras, trat der Vertrag in Kraft. Diese Massenvernichtungswaffen stehen im Widerspruch zu zentralen Aussagen christlichen Glaubens, wie sie im Apostolischen Glaubensbekenntnis von der weltweiten Christenheit bekannt werden: - Die Schöpfung wird insgesamt bedroht; der Mensch ist stattdessen aufgerufen, „zu bebauen und zu bewahren“, was menschliches Leben sättigt. - Die Versöhnung durch Jesus Christus wird geleugnet, indem einer Abschreckung vertraut wird, die auf Angst beruht; wir sind stattdessen aufgerufen, den Frieden in Christus zu bezeugen. - Der verändernden Kraft des Heiligen Geistes wird jedes Vertrauen entzogen, indem im möglichen Feind das gesehen wird, was für immer vernichtet und auf
49 Vgl. Mielke (2022): Afghanistan. 50 Vgl. Deiseroth (1996): Atomwaffeneinsatz ist völkerrechtswidrig.
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Generationen hin geschädigt werden soll; stattdessen befreit der Heilige Geist dazu, umzukehren und Wege zu einer gemeinsamen Zukunft zu finden. Im Jahr 2014 schrieb Nikolaus Schneider, Vorsitzender des Rates der EKD, in der Materialsammlung Erinnern an den Ersten Weltkrieg: „In den vergangenen hundert Jahren haben die europäischen Kirchen eine erstaunliche Lernstrecke hinter sich gebracht. Sie reden nicht mehr von scheinbar ‚gerechten’ Kriegen, sondern sie stehen für den ‚gerechten Frieden’ und sind selbst in der Verständigung zwischen den Völkern Europas vorangegangen. [...] Wir sind dankbar für das Friedensprojekt ‚Europäische Union‘, das seit 1945 entwickelt wird. Doch in diesen Wochen und Monaten des Jahres 2014 stellen wir uns die bange Frage, ob Europa wirklich, nach den Schrecken zweier Weltkriege und der furchtbaren Schuld des Holocaust, den Friedensruf aus Gottes Wort gehört und verinnerlicht hat. Wieder werden in Europa Grenzen mit Gewalt verändert, und es droht eine neue Blockkonfrontation. Mehr denn je brauchen wir die Friedensbotschaft des Evangeliums, für den Frieden und Verständigung engagierte Christinnen und Christen und eine verantwortungsvolle Friedenspolitik. Möge die Erinnerung an eine große Katastrophe Europas uns ermutigen, eine weitere Katastrophe mit all unserer Kraft, Geduld und Leidenschaft zu vermeiden. Dazu helfe uns Gott!“51
Eine paradigmatische Institution zur Förderung des Friedens kann die Kirche werden, wenn sie ihr Verhältnis zu Initiativgruppen ändert, die als Zwischengrößen zwischen Person und Institution am ehesten zu exemplarischen Aktionen fähig sind. Ihr Handeln muss die Kirche als offiziösen Ausdruck kirchlichen Handelns akzeptieren. Gelegentlich wird sie durch eigene Funktionsunsicherheit schon dazu gedrängt. Allerdings müssen die Initiativgruppen ihre Kritik an der Kirche zunächst als Kritik in der Kirche formulieren. Sie lassen sich dann nicht von der Institution zu Alibizwecken missbrauchen und erhöhen ihre Wirksamkeit. Einige weitere Bedingungen für gesellschaftsveränderndes Handeln der Kirche im Dienst des Friedens sind u.a. - eine deutliche Unabhängigkeit der Kirchen von den Instanzen politischer Herrschaft; - die Bereitschaft der Kirchen zur mittelfristigen Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Verbänden, die die christlichen Normen der Solidarität mit allen Menschen, der Gerechtigkeit und des Friedens als ihre Grundwerte anerkennen; - der Verzicht der Kirche auf sach- und aufgabenfremde Privilegien, die sie in sichtbare Abhängigkeit des Staates bringen (staatliche Finanzierung und Organisation der Militärseelsorge, nicht aufgabengebundene oder nur historisch begründbare Staatsleistungen, Benutzung der Gesetzgebung als Instrument kirchlicher Forderungen etc.); - ökumenische Kooperation auf allen Ebenen. Nimmt die Kirche die Chancen wahr, die in ihrer Unabhängigkeit von den Instanzen politischer Herrschaft liegen, rückt auch das eigene Selbstverständnis, das auf eine transnationale Ethik zielt, in den Vordergrund. Es gehört zu den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, dass die Ekklesiologie mit zeitlosen Sätzen über das Wesen der Kirche nicht mehr auskommt, sondern ebenso Herkunft wie Praxis 51 Gottesdienstberatung Oldenburg (2022): Materialsammlung.
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der Kirche reflektieren muss. Die Identität der Kirche wird nur als geschichtlich vermittelt erfahren. Der Anspruch der Kirche, die Weltliebe Gottes in der Gemeinschaft und im Dienst der Brüder zu bezeugen, wird erst dadurch anerkannt, dass solches Tun und Reden sich ereignet. Kirche ist insofern Prozess der Sendung Christi. Es ist die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit, dass oft nicht in der offiziellen Kirche und von der Mehrheit ihrer Mitglieder, sondern an ihrem Rand von einer Minderheit die Sendung und der Auftrag der Kirche wahrgenommen wurden. Als Beispiele kirchlichen Handelns wurden deshalb in dem Buch Kirche–Christen–Krieg und Frieden gerade die Randgruppen der Kirche, die Gruppen der christlichen Friedensbewegung gewürdigt. Der Kirche heute dienen sie durch Beschämung und Ermutigung als Beispiele kirchlichen Friedensdienstes aus einer Zeit, als die Kette der Zeugen hielt, obwohl sie nur noch wenige Glieder umfasste. 3. ZUM VERHÄLTNIS VON THEOLOGIE UND KIRCHE Eine verhängnisvolle Rolle bei der Förderung militaristischen Denkens auch im Raume der Kirche spielte die Fehldeutung der lutherischen Lehre von der Eigengesetzlichkeit weltlicher Bereiche. Da in immer neuen Interpretationen der Gegenwart die lutherische Zwei-Reiche-Lehre im Sinne eines unkritischen Weltgegensatzes der Kirche verstanden wird und auch die These von der politischen Neutralität der Kirche sich großer Beliebtheit erfreut, sollte man zum Verständnis Luthers und zur Vermeidung von Missverständnissen die polemische Erwägung Ulrich Duchrows aufgreifen und von einer Drei-Reiche-Lehre sprechen: Den zwei Reichen Gottes, dem geistlichen und weltlichen Reich, steht das Reich des Bösen gegenüber.52 „Luther charakterisiert das weltliche Regiment einerseits negativ als Mittel gegen die sozialen Folgen der Sünde; andererseits bezieht er es positiv auf die Erhaltung der Schöpfung, auf die Durchsetzung von Gottes Schöpferwillen in der Welt. Kennzeichnend für das weltliche Regiment ist deshalb nicht, wie es zumeist dargestellt wird, die Gewalt; sondern das weltliche Recht ist der Bereich, in dem sich die menschliche Vernunft in der cooperatio hominis cum Deo bewähren soll.“53
Ebenso ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium parallel zur Unterscheidung von Reich des Bösen und Reich Gottes gebraucht, so dass nicht nur die Wirkung des Gesetzes, sondern auch des Evangeliums in den weltlichen Bereich hineinreichen. Schließlich hat Luther als Kennzeichen der reformatorischen Kirche außer der rechten Lehre des Evangeliums und dem rechten Gebrauch der Sakramente auch Einsicht in die Aufgaben von Welt- und Hausregiment genannt. In Summa: „Luther betrachtet den Bereich des weltlichen Regiments als Feld der Kooperation zwischen Christen und Nichtchristen auf der Basis der Vernunft. Doch wie Luther von seinem cooperatio-Gedanken aus das Zusammenwirken von menschlicher Vernunft mit dem Handeln Gottes 52 Vgl. Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden, S. 273. 53 Huber (1973): Kirche und Öffentlichkeit, S. 440.
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in politischen Institutionen behaupten kann, so steht für ihn auch die Liebe nicht im Gegensatz zur Vernunft, vielmehr erkennt die Vernunft erst von der Liebe aus die wahren Strukturen des weltlichen Regiments, die von der eigenen Person weg auf den Nächsten weisen. Deshalb hat auch die Predigt einen notwendigen Beitrag zur Erkenntnis der Aufgaben im weltlichen Regiment zu leisten, und zwar sowohl als Predigt des Evangeliums wie als Predigt des Gesetzes“. 54
In der Weimarer Zeit wurde die Lehre von der Eigengesetzlichkeit weltlicher Bereiche als Fehlinterpretation des Luthertums und Legitimation des Militarismus und Kapitalismus von der Reich-Gottes-Theologie falsifiziert. Nach dieser Theologie hat sich Kirche als Avantgarde der Herrschaft Gottes an die Spitze des gesellschaftlichen Kampfes für Frieden und Gerechtigkeit zu setzen, wobei Reich Gottes als Prozess der sich gegenüber dem Bösen durchsetzenden Herrschaft Gottes verstanden wird. Passivität wird durch den Gedanken vom Menschen als dem Mitarbeiter Gottes (1 Kor. 3,9) überwunden, so Leonhard Ragaz: „Er kann zwar das Reich Gottes nicht machen, aber er soll sich ihm zur Verfügung stellen“.55 Die Theodizeefrage wird so beantwortet, dass Aussagen über die Allmacht Gottes sich auf den Weltplan und die Vollendung des Reiches beziehen: Gottes Wille soll einmal vollkommen geschehen. Gott kommt, seine Macht ist im Werden. Inhumane Verhältnisse werden somit nicht mehr legitimiert. Gott ist das Argument der Hoffnung gegen diese Verhältnisse. Man kann aus den Verhältnissen den Willen Gottes nicht ablesen, er muss vielmehr in sie hineingetragen werden.56 Diese Theologie ist in der jüngsten Zeit unter anderem von Jürgen Moltmann weiterentwickelt worden.57 Ihre Bedeutung liegt nicht nur darin, dass sie Nähe zu gesellschaftlichen Fragestellungen zeigt und gesellschaftliche Lösungsmodelle mitdiskutiert. Innerhalb der Theologie wirkt der eschatologische Ansatz als Integration verschiedener Lehren, die nacheinander entwickelt wurden, sich in ihren Aspekten aber von der Eschatologie aus ergänzen: Die lutherische Zwei-Reiche-Lehre betonte die Notwendigkeit, Christen und Kirchen sollen sich an der vernünftigen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens beteiligen; die Liebe befähigt den Christen zum vernünftigen Einsatz für das Recht des Mitmenschen. Die Lehre von der Königs-Herrschaft Christi (Reformierte, Dialektische Theologie) betont: Die Grundlinien christlicher Existenz sind auch im Bereich von Staat und Gesellschaft für das Handeln des Glaubenden maßgebend, ebenso wie Verfassung und Handeln der Kirche für die Öffentlichkeit vorbildlich sein sollen. Das Konzept der gesellschaftlichen Diakonie bestimmt den Öffentlichkeitsanspruch der Kirche vom Dienstmodell aus.58 In der Verschmelzung von Mission und sozialkirchlicher Arbeit soll sich die Kirche für die arbeitenden Menschen in der technischen Massengesellschaft einsetzen. Dabei muss der Kampf mit Entfremdungserscheinungen von ständiger Kontrolle und Reformation der Institutio-
54 55 56 57 58
A.a.O., S. 452. Zit. nach Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden, S. 274. Vgl. ebd. Vgl. Moltmann (1989): Gerechtigkeit schafft Zukunft. Vgl. Wendland (1958): Die Kirche in der modernen Gesellschaft.
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nen begleitet werden. Ähnlich wehrt sich die Politische Theologie gegen die Privatisierung des Glaubens und bestimmt die Funktion der Kirche primär gesellschaftskritisch.59 Zu den politisch-gesellschaftlichen Zielen treten die Prädikate des Reiches Gottes wie Frieden, Freiheit, Freude, Gerechtigkeit in zugleich inspirierender wie kritisch-begrenzender Relation. Diese Relation ermöglicht der Kirche einerseits die Mitarbeit an schrittweiser und vorläufiger Verwirklichung dieser Ziele. Andererseits ermöglicht die Differenz von eschatologischer Bestimmung und geschichtlicher Vorläufigkeit befreiende Selbstkritik, die die Bedingung für Transformation und Veränderung ist. Freilich gibt es Hoffnung nur in der Kreuzesnachfolge. Scheitern und Gelingen, Leiden und Freude, Ohnmacht und Erfolg begreifen Christ*innen von Kreuz und Auferstehung Christi her. Sie erfahren ihren Weg in Konformität mit dem Weg Jesu (Röm 6,5; 8,29; Mt 10,38). Eschatologische Verkündigung spricht deshalb von der Gegenwart des Gekreuzigten, von der Gegenwart Gottes, welche die Dimensionen des Elends mit durchläuft und auf ihre Überwindung zielt. Erfahren wird Gott im Teufelskreis der Armut als gegenwärtiger Sinn, der Leben schenkt, im Symbol des Brotes, im Teufelskreis der Gewalt als Befreiung zu menschlicher Würde und Verantwortung, im Teufelskreis menschlicher Entfremdung als Erreichen menschlicher Identität und Anerkennung, im Teufelskreis der Naturzerstörung als Freude am Dasein und sinnvolle Lebensäußerung, im Teufelskreis der Sinnlosigkeit als Mut zum Leben.60 Die zeitgeschichtliche Untersuchung behandelte unter anderem das Nicäa der Ethik, die Bildung ökumenischer Einheit über Fragen des Dienstes 1925 in Stockholm.61 Als Anfang wurde deutlich, dass ethische Fragen in erster Linie zur Verständigung über Sinn und Ziel des Christentums drängen. Der Handlungsdruck, dem die ökumenische Christenheit ausgesetzt ist, hat seitdem zugenommen. Geahnt haben die Gruppen der Friedensbewegung während der Weimarer Zeit die gegenwärtigen Aufgaben einer zukünftigen Weltgesellschaft. Insofern sind sie ihrer Zeit voraus gewesen, sind sie mit uns und unseren zukünftigen Aufgaben gleichzeitig. - Im Zeitalter der Massenvernichtung ist „Friede nicht nur eine Frage der Humanität und Moral, sondern eine Frage der nackten Existenz“,62 d.h. Bedingung des Überlebens. - Frieden ist eine „Erhaltungsordnung auf Christus hin“, auf das hin, „was Gott einst selbst tun wird“.63 - Frieden entsteht aus der Kooperation von Staaten, „Rassen“ und Klassen, erklärten die Teilnehmer der Stockholmer Weltkirchenkonferenz 1925.64
59 60 61 62 63 64
Vgl. Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden, S. 275. Vgl. Moltmann (1972): Der gekreuzigte Gott. Vgl. Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden, S. 276. Haubach (1932): Abrüstung und Sicherheit, S. 185. Bonhoeffer (1932): Weltbundarbeit, S. 341. Vgl. Gaede (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden, S. 276.
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Frieden entsteht aus der kontrollierten Abrüstung der potenziellen Gegner und der Bildung einer Weltmeinung zugunsten des Friedens, äußerte der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen.65 - Frieden entsteht durch Lösung sozialer Konflikte. Es geht um Kontrolle des Eigentums, Beseitigung der Ausbeutung nicht nur der von Arbeitern im kapitalistischen Staat, sondern auch von indigenen Völkern in Entwicklungsgebieten durch kapitalistische Staatengruppen.66 Weder ein internationaler Friede noch ein sozialer Friede noch ein sozialer Weltfriede ist heute in Sicht. Abrüstung geht einher mit einer Erhöhung der Vernichtungskapazität verfeinerter Waffensysteme. Der soziale Friede kann erst entstehen, wenn Klassenkämpfe beendet und Klassenrückstände beseitigt sind. Der soziale Weltfriede hängt ab von der Lösung des Nord-Süd-Konflikts zwischen reichen und armen Staaten. 4. ZUR SUCHE NACH EINER NEUEN FRIEDENSUND SICHERHEITSORDNUNG
Nach dem Ende des Kalten Krieges zwischen den kapitalistischen Staaten im Westen und den ehemals kommunistischen Staaten Osteuropas ist eine Friedensdividende nicht spürbar. Eine Finanzmarkt- und Bankenkrise infolge trickreicher unseriöser Finanzprodukte und die dadurch ausgelöste Krise der Realwirtschaft in Europa und den USA wurde in eine Staatsschulden-Krise umgedeutet und mit Ausgaben-Programmen für die Rettung der Banken, d.h. der Aktionäre und Gläubiger, beantwortet, wobei die Verursacher der Krise und Profiteure geschont, die Allgemeinheit der Steuerzahler aber belastet wurde. Infolgedessen fehlen für den sozialen Bereich, für die Friedensarbeit in Konfliktzonen sowie für Entwicklungshilfe finanzielle Mittel. Dass durch Besteuerung hoher Einkommen Investitionen in diesen Bereichen möglich werden, war bisher nicht durch politische Mehrheiten organisierbar. Neue Gefahren entstehen weniger durch Staaten, die diktatorisch regiert sind und auf Eroberung fremder Länder sinnen, sondern eher durch schwache, zerfallende Staaten, die ihr Gewaltmonopol nicht mehr durchsetzen können und hilflos sind gegenüber der Privatisierung und der Kommerzialisierung der Gewalt Einzelner und einzelner Gruppen. Eine zusätzliche Gefahr stellt der Terrorismus islamistischer Gruppen, aber auch nationalistischer Extremisten dar. Nach der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) fanden im Jahr 2020 insgesamt 29 Kriege und bewaffnete Konflikte statt.67 Im Jahr 2014 hielt der Zerfall des syrischen Staates, ebenso die Kämpfe zwischen Regierung und Oppositionsgruppen sowie die Kämpfe zwischen Kurden und dem so genannten Islamischen Staat die Welt in Atem. Die vielen Flüchtlinge vor 65 Vgl. ebd. 66 Vgl. ebd. 67 Vgl. AKUF (2021): Kriegsgeschehen.
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den Kämpfen unterzubringen und zu integrieren, stellt die Staaten vor schwer lösbare Aufgaben. Der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion in bisher 14 unabhängige Nachfolgestaaten neben Russland seit 1991 hat Spannungen zwischen den Nationen deutlich werden lassen. Im Kaukasus-Krieg 2008 standen sich Georgien auf der einen Seite, Russland und die international nicht anerkannten Republiken Südossetien und Abchasien auf der anderen Seite in einem fünf Tage dauernden Krieg gegenüber. Südossetien hatte sich 1991 für unabhängig erklärt. Seither kam es mehrfach zu Kämpfen mit Georgien. 2006 stimmte die Bevölkerung in einem Referendum fast geschlossen für die Unabhängigkeit. Diese wurde aber weder von der internationalen Gemeinschaft noch von Georgien anerkannt. Abchasien errang 1992 seine Abspaltung von Georgien in einem blutigen Sezessionskrieg, der zwischen 1992 und 1993 zehntausenden Menschen das Leben kostete und 250.000 georgische Flüchtlinge zur Folge hatte. 1994 wurde unter Vermittlung der Vereinten Nationen ein Waffenstillstand vereinbart. Bislang sorgen 1.500 russische Soldaten als Friedenstruppe der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) für die Einhaltung des 1994 geschlossenen Waffenstillstandes zwischen Georgiern und Abchasien. Im KaukasusKrieg 2008 demonstrierte der russische Staat seinen Machtanspruch in der kaukasischen Region und verhinderte einen Eintritt Georgiens in die NATO.68 Moldawien, während der Auflösung der Sowjetunion seit 1991 unabhängig, wurde in seiner politischen Entwicklung durch den Transnistrien-Krieg wesentlich behindert. Nach einem Krieg von März bis August 1992 erreichte Transnistrien eine De-facto-Unabhängigkeit. Die nationalistische Führung Moldawiens hatte 1989 Russisch als zweite Amtssprache abgeschafft, was zur Entrüstung der russischsprachigen Minderheiten im Land führte. Die Kämpfe zwischen transnistrischen und moldauischen Einheiten dauerten und konnten unter Vermittlung Russlands und dessen dort stationierter 14. Armee schließlich beendet werden. Moldau verlor im Laufe des Konflikts endgültig die Kontrolle über Transnistrien.69 Bei der durch Russland unterstützten Separation der Krim und ihrer Aufnahme in die Russische Föderation im März 2014 sowie durch Abspaltung separatistischer Regionen im Osten der Ukraine verschärften sich die Spannungen, begleitet von wechselseitigen Sanktionen zwischen Russland auf der einen Seite und den USA und der Europäischen Union auf der anderen. Der Russisch-Ukrainische Krieg begann Ende Februar 2014 in Form einer verdeckten Intervention von Streitkräften der russischen Föderation auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Nach Besetzung des Parlamentsgebäudes von Simferopol erklärte das Parlament der Autonomen Republik Krim die Unabhängigkeit der Krim von der Ukraine, wenn die Bevölkerung bei einem Referendum am 16. März zustimme. Die Vertretung des krimtatarischen Volkes hatte das Referendum für illegal erklärt und zum Boykott aufgerufen. Auch die Regierung in Kiew sah einen Widerspruch zur ukrainischen Verfassung. Am 11. März 2014 wurde vom Parlament der Krim, die dem Referendum vorgreifende
68 Vgl. Kleinhans (2008): Die Außenpolitik Georgiens. 69 Vgl. Menn (2008): Konstruktion von Nation und Staat in Osteuropa.
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Unabhängigkeitserklärung der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol verabschiedet. Das Referendum vom 16. März sah eine Zustimmungsquote von 96,77 Prozent der Teilnehmenden bei 83,1 Prozent Wahlbeteiligung. Der russische Menschenrechtsrat bestritt das Ergebnis und sah für die Stadt Sewastopol nur eine Zustimmungsquote von 50 bis 60 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 30 bis 50 Prozent. Am 17. März stellte die Republik Krim einen Beitrittsantrag an die Russische Föderation. Mit der Ratifizierung des Beitrittsvertrags durch den russischen Föderationsrat am 21. März war die Eingliederung als Republik Krim in die russische Föderation aus russischer Sicht gültig. Die Ukraine erkennt dies nicht an, sondern betrachtet die gesamte Krim weiterhin als ukrainisches Staatsgebiet. Der UNSicherheitsrat erklärte das Referendum auf der Krim gegen die Stimme Russlands und bei Enthaltung Chinas am 15. März als ungesetzlich. Die UN-Vollversammlung erklärte das Referendum und die Sezession der Krim am 19. Dezember 2016 für ungültig. Nach UN-Angaben wurden von Beginn der Krimkrise bis Mai 2014 rund 10.000 Menschen vertrieben. Die Vertriebenen sind hauptsächlich Krimtataren, Ukrainer und Russen.70 In Belarus (Weißrussland) beanspruchte die Demokratiebewegung den Sieg der Präsidentenwahl vom 9. August 2020 für die Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja. Eine sehr starke, von Frauen dominierte Opposition protestierte gegen offensichtliche Fälschungen der Wahl und forderte den Rücktritt von Diktator Alexander Lukaschenko, Neuwahlen und Demokratie sowie die Freilassung der massenweise verhafteten Demonstrant*innen. Die instabile Lage erhöht die Abhängigkeit des diktatorischen Regimes von Russland. Die Europäische Union hat Sanktionen gegen die weißrussische Führung verhängt. Auch die Wahlbeobachtungsorganisation der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat massive Rechtsverletzungen und Folter in Belarus verurteilt und eine Wiederholung der Präsidentschaftswahlen gefordert. Etwa 6.700 Demonstrant*innen sollen festgenommen worden sein. Anfang September 2020 wurden Maria Kalesnikava und der Rechtsanwalt Maksim Snak, beide führende Mitglieder im Koordinierungsrat der Proteste, auf offener Straße entführt und in Untersuchungshaft gesteckt. Als Kalesnikava in die Ukraine abgeschoben werden soll, wehrte sie sich erfolgreich dagegen, indem sie ihren Ausweis zerstörte. Fast ein Jahr nach ihrer Festnahme wurde sie laut belarussischen Staatsmedien zu elf Jahren Haft verurteilt, Snak zu zehn Jahren. Beide sollen die Haft im Straflager verbüßen, Snak in einem mit verschärften Haftbedingungen. Es gibt gegen die Haft der Oppositionellen auch diplomatische Proteste der EU-Staaten. Die Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja floh nach Litauen. Eine Verfassungsänderung wurde schließlich von Präsident Lukaschenko ins Spiel gebracht, um den Protesten zu begegnen. Internationales Aufsehen erregte die Entführung einer Passagiermaschine der irischen Fluggesellschaft Ryanair auf dem Weg von Athen nach Vilnius. Am Flughafen wurden der belarussische Oppositionelle Raman Pratassewitsch und seine Freundin Sofia Sapega als angebliche Terroristen festgenommen.71 70 Vgl. Eitel (2021): The Russian annexation of Crimea 2014. 71 Vgl. Sapper/Weichsel (2020): Gewalt statt Macht; Bota (2021): Die Frauen von Belarus.
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Im September 2020 war ein Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien ausgebrochen. Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört – 85 Prozent der Bevölkerung Aserbaidschans sind schiitische Muslime – und mehrheitlich von christlichen Armeniern bewohnt wird, wurde bisher von armenischen Truppen kontrolliert und hatte faktisch einen autonomen Status. Die armenischen Truppen wurden von aserbaidschanischem Militär angegriffen. Auch die Türkei griff auf der Seite Aserbaidschans in die Kämpfe ein und entsandte von ihr bezahlte nahöstliche Milizen. Die Kriegsparteien hatten mehrere Waffenruhen gebrochen. Anfang November 2020 haben sich Aserbaidschan und Armenien auf einen von Russland vermittelten, fünf Jahre geltenden Waffenstillstand geeinigt. Laut Abkommen sind russische Truppen für die Kontrolle der Waffenruhe zuständig. Zwischen Bergkarabach und Armenien soll der Verkehr auf dem ebenfalls vom russischen Militär kontrollierten (Latschin-)Korridor überwacht werden. Weiterhin sieht das Abkommen einen Gefangenenaustausch und eine Rückkehr Geflüchteter vor. Zudem werden mehrere Gebiete an Aserbaidschan übergeben, was früher geflüchteten aserbaidschanischen Bewohnern die Rückkehr ermöglichen wird, in Armenien aber für intensive Proteste gesorgt hat. Das Abkommen erweitert den russischen Einfluss durch militärische Präsenz in der Region. Die Gefahr neuer Kriege zwischen den verfeindeten Nachbarstaaten könnte beispielsweise durch Dialoge im Bereich des Umweltschutzes verhindert werden, durch Austausch von Kulturangeboten etc. Ein Beispiel für Versöhnung und Kooperation war die Aktion von zwei Dorfgemeinschaften aus Armenien und Aserbaidschan, ihre Dörfer mit unangetasteten Häusern zu tauschen.72 Am 7. April 2014 wurde in Teilen der ukrainischen Oblast die Volksrepublik Donezk ausgerufen, nachdem eine Volksbefragung über staatliche Unabhängigkeit stattgefunden hatte. Nach Angaben der Wahlkommission hätten sich bei 81 Prozent Wahlbeteiligung eine Mehrheit von 96 Prozent für die Unabhängigkeit von der Ukraine ausgesprochen. Ukraine, EU und die Vereinigten Staaten bezeichneten das Referendum, das nach der Unabhängigkeitserklärung der Separatisten am 12. Mai erfolgte, als illegal. Am 21. Februar 2022 verkündete Präsident Wladimir Putin die Anerkennung der Volksrepubliken Lugansk und Donezk als eigenständige Staaten und ordnete eine Entsendung von Truppen in die von Separatisten kontrollierten Gebiete an. Ab Sommer 2021 zog Russland massiv Truppen an der ukrainischen Grenze zusammen. Seit dem 24. Februar 2022 folgt eine groß angelegte Invasion durch die russische Armee aus mehreren Richtungen. Die NATO verweigerte ein direktes Eingreifen, um Kämpfe zwischen dem Bündnis und Russland zu vermeiden. Zahlreiche Bündnisländer unterstützen die Ukraine aber mit Geld und Waffen. Bis zum 30. März flohen über vier Millionen Ukrainer vor den Kämpfen und vor russischem Bombardement ins Ausland. Besonders viele Menschen fanden Zuflucht in Polen und Moldawien. Seit April ist ein Teil großer und kleinerer ukrainischer Städte und ihre Infrastruktur zerstört. Russland, bisher noch Mitglied im UN-
72 Vgl. Hansen (2021): Die Außen- und Sicherheitspolitik der Republik Armenien.
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Menschenrechtsrat, steht international unter Anklage schwerster Verletzung der Menschenrechte.73 Damit steht Europa zwischen Krieg und Frieden. Eine neue Ordnung für Sicherheit und Frieden wird gesucht. Deeskalierende Maßnahmen sind deshalb notwendig, beispielsweise internationale Sicherheitsgarantien für eine ukrainische Neutralität. Beispiele zivilen Widerstands gab es sogar im Krieg: Marina Owsjannikowa unterbrach mit lautem Rufen und einem Plakat gegen den Krieg am 14. März 2022 die Hauptnachrichtensendung des russischen Staatsfernsehens. In der Ukraine stellten sich unbewaffnete Menschen Panzern und Militärfahrzeugen entgegen und verdrehten richtungsweisende Straßenschilder. Nach dem Krieg gehören Reparationszahlungen, Bestrafung von Kriegsverbrechen, Hilfe für Menschen mit traumatischen Belastungen zu einer Friedensordnung. Aufnahme von Flüchtlingen, Städtepartnerschaften, persönliche Kontakte zwischen Menschen verfeindeter Nationen sind Schritte zum Frieden. Bei Haushaltsplanungen sind Maßnahmen zu berücksichtigen wie zivile Krisenprävention und -intervention, ziviler Friedensdienst, Mediation, internationale Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe, Diplomatie und Zivile Verteidigung. Dazu gehören zudem Mittel- und Beitragssteigerungen für die OSZE und die Vereinten Nationen sowie der Aufbau ständig verfügbarer interkulturell und in Entwicklung von Organisationen erfahrener Kräfte für internationale Polizeimissionen. Eine nachhaltige Sicherheitspolitik beruht schließlich auf folgenden Pfeilern: 1. gerechter Wirtschafts- und Lebensstil 2. nachhaltige Entwicklung der EU-Anrainerstaaten 3. Entwicklung einer globalen zivilen Sicherheitsarchitektur 4. resiliente Demokratie 5. Konversion der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie.74 Die Konflikte zeigen: Großzügig gewährte Autonomie für Minderheiten, Anerkennung der Grenzen des jeweiligen Staates, wirtschaftliche Zusammenarbeit und internationale Hilfe für wirtschaftlich schwache Staaten sowie demokratische Verfassungen sind Bedingungen des Friedens. Die Ausweitung von Einflusszonen durch Europäische Union und NATO kann von Russland als Nachfolgestaat der ehemaligen Weltmacht Sowjetunion als Demütigung angesehen und mit Vergeltungsmaßnahmen beantwortet werden, was zur Verschärfung von Spannungen führen kann. Vertrauensbildende Maßnahmen zwischen Staaten müssen an Stelle aggressiver nationalistischer Aktionen treten. Christ*innen sind aufgerufen, in Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens die Schöpfung zu bewahren, Ehrfurcht vor dem Leben zu haben.75 Christ*innen verkünden in dieser Welt zwischen Krieg und Frieden die Botschaft von der Versöhnung Gottes. Während jene Richtungen in Theologie und Kirche, die die Verantwortung der Kirche für internationales Recht, gesellschaftliche und politische Fragen ablehnen, biblische Gehorsamsforderungen auf den souveränen Nationalstaat 73 Vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hg.): Ukraine-Krieg 2022. 74 Vgl. Ekiba (2022): Frieden – Gerechtigkeit. 75 Vgl. Schweitzer (2017): Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben.
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übertragen und so die Vergötzung der Staatsräson, der Profit- und Wachstumsinteressen meist unwissentlich fördern, versteht die christliche Friedensbewegung und ökumenische Theologie Hungersnot und Wachsen des Vernichtungspotentials in der Welt als Folgen der Entfremdung des Menschen, als „Strukturen der Destruktion“,76 als soziale Dämonien (freilich als geschichtlich-reale, nicht als mythische Mächte verstanden). Ihnen gilt es zu widerstehen im Namen Gottes, des biblischen Gottes, der Partei ergreift für das, was als gelungenes Recht und verwirklichter Friede Leben möglich und menschenwürdig macht. LITERATURVERZEICHNIS Althaus, Paul: Art. „Krieg und Christentum“, in: RGG, Bd. 3, Tübingen 21929, Sp. 1306–1312. Balzer, Friedrich-Martin: Klassengegensätze in der Kirche. Erwin Eckert und der Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands, Köln 1973. Barth, Karl: Grundfragen der christlichen Sozialethik, in: Das Neue Werk, 4. Jg., 14/15 (1922), S. 461–472, abgedruckt in: Jürgen Moltmann (Hg.): Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1, München 1977, S. 152–165. Alice Bota: Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit, Berlin 2021. Bonhoeffer, Dietrich: Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit, in: Eiche 4 (1932), S. 334–344. Deiseroth, Dieter: Atomwaffeneinsatz ist völkerrechtswidrig. Der internationale Gerichtshof bezieht Position, in: Wissenschaft und Frieden 3 (1996), online unter: https://www.wissenschaft-undfrieden.de/seite.php?artikelID=1176 (Zugriff: 22. Februar 2022). Eitel, Peter: The Russian annexation of Crimea 2014: which role for surprise, especially for Germany?, Dissertationsschrift, Kiel 2021. EKD: Selig sind die Friedfertigen. Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik. Eine Stellungnahme der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, EKD Texte 116, Hannover 2013. Dies.: Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland, Gütersloh 2007. Ekiba: Frieden – Gerechtigkeit. Kirche des gerechten Friedens/Szenario Sicherheit neu denken, online unter: ekiba.de/frieden-gerechtigkeit/kirche-des-gerechten-friedens/szenario-sicherheitneu-denken. (Zugriff: 24. Februar 2022). Frieden-Fragen: Kriege weltweit, vom 09. Februar 2021, online unter: https://www.friedenfragen.de/entdecken/weltkarten/kriege-weltweit-2020.html (Zugriff: 10. Februar 2022). Gaede, Reinhard: Kirche – Christen – Krieg und Frieden. Die Diskussion im deutschen Protestantismus in der Weimarer Republik, Bremen 22018. Ders.: Sternstunden – Erfüllte Zeit. Predigten im Kirchenjahr I. Episteln und Altes Testament, Beau Bassin 2018. Ders.: Sternstunden – Macht der Liebe. Predigten im Kirchenjahr II. Evangelien und Apostelgeschichte, Beau Bassin 2018. Ders.: Die Stellung des deutschen Protestantismus zum Problem von Krieg und Frieden während der Zeit der Weimarer Republik, in: Wolfgang Huber, Johannes Schwerdtfeger (Hg.): Kirche zwischen Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte des deutschen Protestantismus, Stuttgart 1976, S. 373–422.
76 Tillich (2017): Systematische Theologie II, S. 69.
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RELIGION UND GESCHICHTE ALS ANTWORT AUF DIE MODERNE ENTPERSÖNLICHUNG Ricarda Huch: Eine außergewöhnliche Protestantin der Weimarer Republik Katharina Kunter „Nicht nur die erste Frau Deutschlands ist es, die man zu feiern hat, es ist wahrscheinlich die erste Europas“, lautet das vielzitierte Urteil Thomas Manns (1875– 1955), mit dem er 1924 Ricarda Huch (1864–1947) zum ihrem sechzigsten Geburtstag würdigte.1 Gehörte die Schriftstellerin, Historikerin und Religionsphilosophin Ricarda Huch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch zu den in der Öffentlichkeit bekannten Dichterinnen und Intellektuellen Deutschlands, sind ihr Name und ihr Werk heute längst nicht mehr geläufig. Dass sie nicht ganz in Vergessenheit geraten oder nur noch in Germanistenkreisen bekannt ist, hat allerdings wohl weniger mit der großen Wertschätzung Thomas Manns zu tun, sondern mit ihrer starken Präsenz in der öffentlichen Erinnerungskultur. Diese findet sich nicht nur in ihrer Geburtsstadt Braunschweig und in Jena, wo sie von 1936 bis 1945 lebte, sondern zugleich in Form von zahlreichen Ricarda-Huch-Straßen und RicardaHuch-Schulen in Deutschland, in Zürich und in Wien.2 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ricarda Huch ist dagegen bruchstückhaft und uneinheitlich. Während zu unterschiedlichen Aspekten ihres umfangreichen und breit gefächerten Gesamtwerkes seit den 1950er Jahren zwar kontinuierlich, aber doch vereinzelt, Forschungsbeiträge aus Germanistik, Philosophie, Theologie oder Religionswissenschaft erschienen, setzte erst in den letzten zwanzig Jahren eine partielle Historisierung ihrer Person, ihrer Biografie und ihres Werkes ein. Sie begann mit den Studien des amerikanischen Literaturwissenschaftlers James Skidmore und der Kulturhistorikerin Claudia Bruns,3 die sich vor allem auf Huchs Geschichtskonzeptionen und ihren historiographischen Ansatz in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren konzentrierten. Beide warfen einen neuen, kritischen Blick auf die Grande Dame der deutschen Literatur und verorteten sie zeitgeschichtlich als eine Repräsentantin der weit gefassten Strömung der Konservativen Revolution, die in ihren Werken den verlorenen Ersten Weltkrieg betrauerte, der Modernität und Pluralität der Weimarer Republik einen mittelalterlichen christlichen Reichsgedanken entgegensetzte und sich 1 2 3
Mann (2001): Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Zitat 770. Eine Übersicht über die deutschen Ricarda-Huch-Schulen gibt die Website: http://www. ricarda-huch.com/ricarda-huch-schulen/. Skidmore (2005): Trauma; Bruns (2000): Die Konservative Revolution, S. 5–33.
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somit zu einer Vertreterin der neuen politischen Romantik, und vielleicht auch der Neuen Rechten, entwickelte.4 Skidmore rechnet sie, in Anlehnung an Christopher Clarks Werk zur Entstehung des Ersten Weltkrieges Die Schlafwandler,5 zu den „intellectual sleepwalkers“.6 Er konstatiert zu Recht, dass ihre einzigartige Stellung als respektierte Frau der intellektuellen Elite Deutschlands dazu beitrug, dass sich Analysen zumeist auf die Verschränkung ihres privaten Lebens mit ihrem Werk konzentrierten, ihre historische Untersuchung und Einbindung in den sozialen-politischen Kontext der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch ausblendeten.7 So stehen ausführliche, differenzierte historische Darstellungen Huchs in den unterschiedlichen Epochen ihres Lebens – Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus – ebenso aus wie eine wissenschaftliche, in den historischen Kontext einbettende Biografie, eine Untersuchung unter einer Genderperspektive oder eine Analyse ihres Werkes unter emotionsgeschichtlichen Aspekten. Im Gegensatz zur kritischen Perspektive Bruns und Skidmores steht eine eher hagiographische und zugleich aktuelle geschichtspolitische Deutung, wie sie beispielsweise jüngst auf einer gemeinsamen Podiumsveranstaltung der FriedrichNaumann-Stiftung Mitteldeutschland und der Internationalen Martin-Luther-Stiftung Erfurt unter dem Titel Ricarda Huch – protestantische Liberale, Philosophin, Schriftstellerin vertreten wurde.8 Hier gingen die Podiumsteilnehmer von Huchs Austrittserklärung aus der Preußischen Akademie der Künste von 1933 aus, betonten ihre geistige Gegnerschaft zum Nationalsozialismus sowie ihre Unterstützung und spätere literarische Würdigung des Widerstandes in den 1940er Jahren in Jena.9 Daran anknüpfend wurde ihr Einsatz für Demokratie in Thüringen als Alterspräsidentin der Beratenden Landesversammlung Thüringens 1946 und ihre beim Schriftstellerkongress in Berlin 1947 geäußerte Kritik am Sozialismus der DDR hervorgehoben. Im heutigen Fraktionsgebäude des Thüringer Landtages in Erfurt werden Besucher mit einem Zitat von Ricarda Huch vom 12. Juni 1946 empfangen. 10 Die Thüringer Diskussion konzentrierte sich also auf die späte Ricarda Huch – bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war sie bereits 69 Jahre alt – und interpretierte diese als eine aufrechte, liberale Zeitgenossin des Bürgertums, die sich, an Luther orientierend und der Demokratie und der Freiheit verpflichtet, gegen die beiden großen deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts gestemmt habe.
4 5 6 7 8
Vgl. ebd. Clark (2014): Die Schlafwandler. Skidmore (2018): Huch´s First World War, S. 164. Vgl. ebd. sowie ders. (2005): Trauma of Defeat. An ihr nahmen u.a. die ehemalige Ministerpräsidentin Thüringens und Pfarrerin Christine Lieberknecht und die beiden Theologen und Pfarrer Christian Dietrich und Thomas Seidel, die sich beide seit den 1980er Jahren durch gemeinsame Aktivitäten in der kirchlichen DDR-Opposition kannten, teil. Die Diskussion ist im Facebook-Account der Friedrich-Naumann-Stiftung gespeichert unter: https://de-de.facebook.com/fnf.rbmd/videos/315727856590201/ (Zugriff: 14. März 2022). 9 Vgl. Huch (1997): Bilder deutscher Widerstandskämpfer (unvollendet). 10 Vgl. https://www.demokratie-geschichte.de/koepfe/2479 (Zugriff: 14. März 2022).
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Man kann an diesen beiden konträren Deutungen erahnen, dass die Biografie und das monumentale und vielschichtige literarische und historische Gesamtwerk Ricarda Huchs sowie die sie betreffende fragmentierte Forschungsliteratur eher offene Fragen als eindeutige Antworten zu einer angemessenen zeitgeschichtlichen Einschätzung enthalten. Es wäre an der Zeit, Huch in den Mittelpunkt eines größeren interdisziplinären Forschungsverbundes zu stellen, um voreingenommene, gleichwohl gängige Urteile über sie quellenfundiert und historisch differenziert diskutieren zu können: Etwa, ob und unter welchen Kriterien und aufgrund welcher Quellen sie eine Konservative, eine Nationale, eine Liberale, eine Demokratin, eine Republikanerin, eine Unpolitische oder auch eine Romantikerin war, worin sich ihr Protestantismus zeigte oder auch, ob und inwiefern sie als eine Vertreterin der Frauenemanzipation betrachtet werden kann. Auch hierzu gibt es widersprüchliche Einschätzungen, die von der Position, sie sei eine emanzipierte Frau und habe ein selbstbestimmtes Leben geführt, bis hin zu der Einschätzung, sie habe die idealistischen, antagonistischen Geschlechterkonstruktionen des 19. Jahrhunderts geteilt, reichen.11 Eva-Maria Gehler erinnert daran, dass Ricarda Huch zwar enge Freundschaften zu Vertreterinnen der Frauenbewegung gepflegt, aber das Frauenstimmrecht abgelehnt habe, denn sie sah darin „den Ausdruck einer dekadenten Zeit, in der die natürlich-göttliche Ordnung zwischen den Geschlechtern aus den Fugen geraten sei.“12 Ebenso traute sie den Frauen keine eigenen politischen Fähigkeiten zu; sie würden die Männer nur nachahmen statt selbst schöpferisch tätig zu werden.13 Dazu passt die jüngste Beobachtung Skidmores, dass sich Huch in ihren historischen Erzählungen vor allem auf die „Geschichte großer Männer“ konzentriert habe.14 Vor diesem Hintergrund wollen die folgenden Ausführungen mit einem an der Protestantismusgeschichte des 20. Jahrhunderts geschulten historischen Blick zur weiteren Beschäftigung und Erforschung von Ricarda Huch anregen.15 Dazu wird zunächst ein kurzer biographischer Überblick über Leben und Werk Ricarda Huchs gegeben und dann eine historische Einordnung ihres religionsbezogenen Werkes (Luthers Glaube [1916], Entpersönlichung [1921], Der wiederkehrende Christus [1926]) aus der Zeit der Weimarer Republik gegeben. Untersucht wird, wie sich dieses Werk in die Kulturgeschichte der Weimarer Republik einordnen, und was sich daraus für das Verhältnis Ricarda Huchs zum Protestantismus, zur Religion, 11 Vgl. Eigler/Kord (1997): Huchs Essay, S. 205. 12 Gehler (2010): Weibliche NS-Affinitäten, S. 227. 13 Diesen Satz formulierte sie allerdings direkt nach ihrer gescheiterten Kandidatur für die Deutsche Demokratische Partei. 14 Vgl. https://www.jamesmskidmore.com/skidpresentations/huchs-grosse-maenner (Zugriff: 14. März 2022). 15 Dieser Artikel entspricht in seinen Grundzügen dem Vortrag, der am 15. Juni 2021 als digitaler Vortrag unter dem Titel Beiträge von Protestant*innen zur Weimarer Kultur im Rahmen der Ringvorlesung Zwischen den Zeiten. Theologische, politische und ideengeschichtliche Konzepte in der Weimarer Republik an der Leibnitz Universität Hannover gehalten wurde. Ich danke Herrn Dr. Henrik Niether für die Anregung, mich für diesen Vortrag auf Ricarda Huch zu konzentrieren.
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zur Politik und zur Kultur der 1920er Jahre sagen lässt. Lebensgeschichtlich gehört die Zeit der 1920er Jahre zu ihrem sog. Spätwerk (1919 war Ricarda Huch 55 Jahre alt). Dieses war dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nun stärker als zuvor Philosophie, Religion und literarischer Geschichtsschreibung zuwandte. 1. BIOGRAFISCHER ÜBERBLICK: RICARDA HUCH 1864–1947 Die meisten literarischen und historischen Deutungen zu Ricarda Huch kommen nicht ohne Verschränkung mit ihrer bewegten Biografie und insbesondere nicht ohne Bezüge auf ihr insgesamt wohl als leidenschaftliches, aber unglücklich zu bezeichnendes Liebesleben aus. Man kann hierin ein Element von geschlechtsspezifischer Ungleichbehandlung sehen und fragen, ob es ihre schriftstellerische und intellektuelle Ausnahmeposition abwertet oder sogar bewusst oder unbewusst abwerten soll, wenn man ihr Werk fortwährend durch ihre Biografie interpretiert. Denn die biografisch gefilterte Linse verhindert die politische, religions- und ideengeschichtliche Wahrnehmung Huchs als Person der Zeitgeschichte und sorgt dafür, dass ihr in Standardwerken, beispielsweise zur Weimarer Republik oder zum Nationalsozialismus, lediglich eine aufzählende Rolle zugedacht wird. Zugleich kann ihre Biografie vor dem Hintergrund, dass sie aus den vorgezeichneten Formen einer zeitgenössischen weiblichen Bildungsbürgertumsbiografie – zumindest partiell – ausbrach, nicht negiert werden. Diese Ambivalenz mitdenkend, soll im Folgenden zumindest ein kurzer Überblick über wesentliche Lebensstationen Ricards Huchs gegeben werden. Huch wurde am 18. Juli 1864 in Braunschweig als drittes Kind ihrer Eltern Richard Huch (1830–1887) und Emilie Huch, geb. Hähn (1842–1883), in eine Großkaufmannsfamilie hinein geboren.16 Nachdem ihre Schwester Lilly Huch (1859–1947) 1879 den gemeinsamen Vetter Richard Huch (1850–1912) geheiratet hatte, entwickelte sich ein inneres Drama in der Familie, denn 1880 verliebte sich Ricarda Huch in ihren Schwager Richard Huch: ein Tabubruch und öffentlicher Skandal. Sie musste deshalb am 31. Dezember 1886 Braunschweig verlassen und wurde von ihrer Familie in die Schweiz, nach Zürich, geschickt. Dort legte sie das Abitur ab und konnte, weil in der Schweiz Frauen schon seit 1840 an den Universitäten studieren durften, 1888 mit dem Studium der Geschichte, Philologie, Philosophie an der Universität Zürich beginnen (zur selben Zeit war hier auch Rosa Luxemburg (1871–1919) eingeschrieben). Nach ihrem 1891 abgelegten Diplomexamen für das Höhere Lehramt wurde Huch als eine der ersten Frauen mit einer Dissertation zur Geschichte der Schweiz zum Dr. phil. promoviert. Anschließend arbeitete sie als Bibliothekarin in Zürich. Seit 1888 begann sie eigene Gedichte, Erzählungen und Dramen zu veröffentlichen. 1891 erschien ihr erster Gedichtband
16 Zur Biografie Ricarda Huchs siehe u.a. Lemke (2014): Huch, Summe des Ganzen; Dane/Hahn (2012): Denk- und Schreibweisen; Koepke (1996): Huch, Leben und Werk; Frommholz (1972): Huch, Ricarda, S. 705–708; Baum (1950): Leuchtende Spur; Bäumer (1949): Ricarda Huch.
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unter dem Pseudonym Richard Hugo, in dem sie wohl den Namen ihres Schwagers und den Vornamen Hugo von Hofmannsthals (1874–1929) vermischte. Fünf Jahre später gründete Huch als Lehrerin für Geschichte und Deutsch mit drei Freundinnen in Bremen ein Mädchengymnasium, zog dann aber schon kurz darauf, 1897/8, nach ihrer Heirat mit dem italienischen Zahnarzt Ermanno Ceconi (1871–1927) nach Wien und Triest. Die privaten Aufs und Abs, wie auch ihre Mobilität, hielten an: Nachdem 1899 ihre Tochter Marietta geboren wurde, lebte Huch von 1900 bis 1907 in München – in der Zahnarztpraxis ihres Mannes war auch Thomas Mann Patient. Huchs Ehe mit Ceconi wurde allerdings bereits 1906 geschieden – nach einem erneuten Liebeswirrwarr. Denn inzwischen hatte Ceconi eine Affäre mit ihrer Nichte Käthe Huch (1884–1971) begonnen, der Tochter ihrer Schwester Lilly und Richard Huchs, und aus diesem Anlass hatte Ricarda Huch 1905 wieder Richard Huch getroffen. Ricarda Huch hatte sich daraufhin von Ceconi getrennt; 1907 ging dann die Ehe zwischen ihrer Schwester Lilly und Richard Huch auseinander. Richard Huch war jetzt also wieder für Ricarda Huch freigeworden: Ricarda Huch zog zurück nach Braunschweig und heiratet dort Richard Huch. Das erwies sich jedoch nicht als die ersehnte glückliche Fügung; die Ehe wurde 1911 geschieden. Erneut reagierte Huch mit Wegreisen und Umzug – zunächst nach München, dann von 1916 bis 1918 in die Schweiz und dann bis 1927 wieder nach München. Aus ihrem wachen Interesse an der Tagespolitik, ihrer Sorge um den Weg Deutschlands nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und im Einsatz für die junge Generation entschied sie 1918, sich als Kandidatin der neugegründeten Deutschen Demokratischen Partei (DDP) für die ersten Reichstagswahlen in der Weimarer Republik aufstellen zu lassen. Ihre Kandidatur scheiterte jedoch – und nicht zuletzt mit dem Hinweis auf ihre schwierige Situation als alleinerziehende Mutter beendete sie damit ihren kurzen Ausflug in die Politik.17 Zugleich fand sie in der Preußischen Dichterakademie, in die sie am 26. Oktober 1926 als erste Frau aufgenommen wurde, einen neuen öffentlich-intellektuellen Resonanzraum. Ihre herausragende öffentliche Wirkung zeigte sich auch in der 1931 erfolgten Verleihung des renommierten Goethepreises der Stadt Frankfurt. Als sie jedoch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 aus Protest gegen diese und als ein Zeichen der Solidarität mit den ausgeschlossenen jüdischen Akademiemitgliedern ihren Austritt aus der Dichterakademie erklärte, war die Phase ihrer öffentlichen intellektuellen Wirkmächtigkeit beendet. Den anschließenden Vereinnahmungsversuchen der Nationalsozialisten versuchte sie zu entweichen, was zu finanziellen Einbußen, Einschränkungen ihrer Lebenssituation und auch Behinderungen ihrer Reisefreiheit führte.18 Seit 1927 lebte sie dann wechselweise, mittlerweile mit ihrer Tochter Marietta und ihrem Schwiegersohn, dem Juristen Franz Böhm (1895–1977), in Berlin, Heidelberg, Freiburg und Jena. Dort knüpfte sie Kontakte zu unterschiedlichen Personen aus Widerstandskreisen, deren Wirken und Biografien sie nach 1945 mit einem 17 Ausführlich Skidmore (2005): Trauma, Bezug auf Brief Huchs vom 4. Januar 1919. 18 Vgl. Gehler: Weibliche NS-Affinitäten, S. 247.
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Buch über Lebensbilder des Widerstandes ein literarisches und historisches Denkmal setzen wollte.19 Jena blieb bis zu ihrer Ausreise 1947 aus Thüringen nach Frankfurt, wo sie in der Nähe ihrer Tochter hatte bleiben wollen, ihr neues Zuhause; ein Ort, an dem sie nach eigenen Angaben „glücklich“ gewesen war.20 Am 27. November 1947 starb sie im Alter von 83 Jahren in Kronberg im Taunus; sie wurde auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beigesetzt. Ihr langes Leben war zum einen von einer intensiven literarischen Schaffenskraft gekennzeichnet, zum anderen aber auch von einer außergewöhnlichen Mobilität, von unzähligen Reisen in Europa, von vielfältigen Begegnungen, Beziehungen und Freundschaften, insbesondere zu Frauen. 2. RICARDA HUCHS WEIMARER WERK Huchs Hinwendung zu religionsphilosophischen Themen – Heike Fielmann nennt sie die „weltanschaulichen Schriften des Alterswerks“21 – begann in der Mitte des für sie überraschend hereingebrochenen Ersten Weltkrieges mit ihrer Schrift Luthers Glaube, die im Juni 1916 erschien.22 Hier näherte sie sich Martin Luther (1483–1546) aus der Sicht eines erfundenen Fragers in 24 Briefen an. Dafür wählte sie weder einen theologischen noch einen wissenschaftlich-objektiven, quellenkritischen Zugang – obwohl sie das als sachverständige, promovierte Historikerin gekonnt hätte. Stattdessen sollten ihre Leser die innere Zerrissenheit Luthers „spüren“ und ganzheitlich begreifen; es ging ihr also um ein mit literarischer Ästhetik formuliertes religiöses und emotionsgeschichtlich gestaltetes Erweckungserlebnis. Das war ein methodischer Zugang, der zum Widerspruch reizte. Ernst Troeltsch (1865–1923) etwa schrieb in einer Rezension über Huchs Luthers Glaube in der Vossischen Zeitung, dass sie Luther „untheologisch, aber durch und durch religiös“ gedeutet, jedoch zugleich die „religiöse Vorstellungs- und Ideenwelt Luthers […] mit der ganzen Unverantwortlichkeit, die schöne Frauen dem Realen gegenüber empfinden, umgedeutet und missverstanden“ habe.23 Die negative Lesart ihres Werkes wirkte lange nach: Der Theologe Rudolf Herrmann (1887–1962) urteilte zum Beispiel in dem erst 1971 posthum erschienenen Werk Luthers Theologie knapp und scharf über Huchs Luthers Glaube: „Sehr geistreich, aber auch sehr falsch.“24 Doch zugleich gehörte Ricarda Huch mit Luthers Glaube und ihren dann folgenden religionsphilosophischen und historischen Schriften der 1920er Jahre zu je-
19 Huch (1997): Bilder deutscher Widerstandskämpfer (unvollendet). 20 So in ihrem Abschiedsbrief aus Frankfurt an Annemarie Dahlet am 28. Oktober 1947 in: Baum, Marie: Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs, Tübingen 1950, S. 507, zitiert nach Wahl (2015): Fliegerangriff, S. 91. 21 Fielmann (2008): Mythos und Interpretation. 22 Huch (1916): Luthers Glaube, S. 24–30. 23 Troeltsch (1916): Rezension zu Huch, S. 171. Huch selbst nannte die Reaktionen auf Luthers Glaube enttäuschend, ebd. 24 Herrmann (1971): Luthers Theologie, S. 223.
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nen Intellektuellen der Weimarer Zeit, die nach neuen und eigenen historiographischen Wegen suchten. Ihr Anliegen war, Geschichte, Philosophie und als Fehlentwicklungen gedeutete Denk- und Lebensweisen der Gegenwart miteinander zu verschränken. Als Dichterin wählte sie dazu den klassischen Ansatz: den narrativen und subjektiven Zugang über das Individuum, oftmals große historische Persönlichkeiten. Diese waren oft – und zugleich im wörtlichen Sinne – Protestanten, weil sie sich aus einer Minderheitsposition reformerisch, revolutionär oder auch tragisch am Lauf der Geschichte beteiligt hatten. Luthers später als Kurzfassung verdichteter Ausspruch des „Hier stehe ich und kann nicht anders“, mit dem er 1521 sich weigerte, vor dem Wormser Reichstag seine Schriften zu widerrufen, bildete also ein wiederkehrendes Leitmotiv in Huchs Schriften. Mit ihm hatte sie bereits 1902 Franz Sternbald aus Ludwig Tiecks (1773–1853) Künstlerroman den Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand formulieren lassen.25 Mit ihren historischen Erzählungen war Ricarda Huch zwar keine Pionierin des wissenschaftlichen Historismus, sie gehörte aber in seine Entstehungsgeschichte hinein.26 Denn das, was wir heute als Historismus bezeichnen, befand sich damals in offener Entwicklung. Ernst Troeltschs Der Historismus und seine Probleme erschien 1922 und Die Entstehung des Historismus von Friedrich Meinecke (1862–1954), der die Phase des Historismus in gewisser Weise abschloss, erst 1936.27 Ricarda Huch, fast gleich alt wie Meinecke, las Troeltschs Historismus erst 1937 und wunderte sich daraufhin über die Naivität, mit der sie es zuvor gewagt hatte, historische Bücher zu schreiben. Gleichwohl, so meinte sie, würde sie sie auch heute wieder so schreiben.28 Luthers Glaube stand am Beginn einer kleineren Reihe von Veröffentlichungen, in denen sie in den kommenden zwanzig Jahren wie eine Archäologin philosophische, psychologische und kulturhistorische Schichten eines ihrer Deutung nach durch Modernisierung verschütteten protestantisch geprägten Christentums ausgrub und Religion als eine gefühlsorientierte, sozial-kollektive Alternative zu einer zunehmend industrialisierten und entmenschlichten Gegenwart gestaltete. Auch nach dem Ersten Weltkrieg blieb sie ihrer in Luthers Glaube begonnenen ästhetischen Praxis treu. Ihr 1919 erschienenes Werk Der Sinn der Heiligen Schrift bot weder eine historisch-kritische Auseinandersetzung oder bibelwissenschaftliche Suche nach historischer Wahrheit,29 sondern folgte ihrem philosophischen und 25 Huch (2018): Die Romantik, S. 114: „Niemals ein eigenes, starkes, lebendiges Gefühl zu haben, das einen unwiderstehlich hierin oder dorthin risse, sich niemals in der Sturmeshand eines Genies zu fühlen, mit dessen Götterstimme man ohne Besinnen, freudig, siegesgewiss Menschen und Gestirnen zum Trotz sagt: hier stehe ich und kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen. Anstatt dessen verdammt immer an sich zu zweifeln, auf den unentschlossenen, zögernden, freudlosen Verstand als Wegweiser angewiesen, immer nur Fragmente, Splitter, Gefühle von Gefühlen.“ 26 Vgl. hierzu ausführlich Skidmore (2005): Trauma. 27 Troeltsch (1922): Der Historismus und seine Probleme; Meinecke (1936): Die Entstehung des Historismus. 28 Ricarda Huch in einem Brief an Marie Baum am 23. November 1937 in: Baum, Leuchtende Spur, S. 383, hier zitiert nach: Roser (1998), Protestantismus und Marktwirtschaft, S. 89: „Wieder frage ich mich, ob es noch echte Religiosität gibt.-.. alles wird im Abstrakten aufgelöst.“ 29 Huch (1919): Sinn der Heiligen Schrift.
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literarischen Programm: nämlich in Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche (1844–1900), auf den sie sich am Anfang ihrer Schrift berief, den modernen, auf sich selbst und seinen Genius konzentrierten und vom Verstand durchdrungenen Menschen als einen von Gott entfernten und damit einsamen Menschen zu begreifen und ihn ganzheitlich für die oft als irrational empfundene Botschaft der Liebe zu öffnen.30 Wie in Luthers Glaube enthielt auch Der Sinn der Heiligen Schrift Grundzüge einer zeitgenössischen Zivilisationskritik, die Ricarda Huch in ihren in der Zeit der Weimarer Republik erschienenen Werken Entpersönlichung und Der wiederkehrende Christus weiter ausführen sollte. Die 1921 erschienene Schrift Entpersönlichung ließ sich sowohl als ein Empowerment für ein durch die Niederlage des Ersten Weltkrieges tief verwundetes deutsches Volk als auch als eine Ursachenanalyse lesen.31 Huch interpretierte den Ersten Weltkrieg als eine Probe Gottes für das deutsche Volk, das diese schlecht bestanden habe: „Gott gab uns die Gelegenheit, glorreich unterzugehen, und wir haben sie schmählich verloren, um das feige Leben zu retten. […] Wir gaben die Erklärung ab, den Weltkrieg verschuldet zu haben und deshalb Strafe zu verdienen, und versprachen, diejenigen, die unsere Feinde als strafwürdig bezeichnen würden, unsere ruhmvollsten Führer, ihnen zur Bestrafung auszuliefern. Freiwillig und eilig warfen wir uns in den schlammigen Abgrund der Schande.“32
Wie es zu diesem Untergang kommen konnte, lag für Huch auf der Hand: Es war die Konsequenz einer modernen Entwicklung, in der das Reich der persönlichen Beziehungen in einen unpersönlichen Staat umgewandelt wurde; in der die Naturalwirtschaft durch Geldwirtschaft ersetzt wurde.33 Luther lebte und dachte, so Huch, noch im mittelalterlichen Reich persönlicher Beziehungen; seine Reformation schuf ein neues Reich protestantischer Selbstverantwortung. Ausgehend von Francis Bacon (1561–1626) und von England und Frankreich aus erfolgte jedoch dann die Ausschaltung der Religion und die Durchsetzung der modern wissenschaftlichen Weltanschauung. Es begann die Entpersönlichung des Abendlandes. Der Industriestaat setzte sich durch und Völker, die sich „durch Handel, Gewerbe und Technik bereichern und zivilisieren, und die sich schließlich, wenn sie sich ganz von der grundlegenden bäuerlichen Schicht abtrennen, die Lebenssäfte abtrennen.“34 Der Irrtum des modernen Menschen, argumentierte Huch weiter, bestehe darin, dass „er glaubt, Einzelne könnten, indem sie sich freier äußern, persönliches Leben schaffen oder durch Verbindungen der Idee der Volksgemeinschaft dienen.“35 Für die Leser und Leserinnen war deutlich, welcher Weg aus der Weltkriegskatastrophe führen könne: Das Zurück zur Religion, in die agrarisch geprägte Gesellschaft, in die Zeit des protestantischen Christentums, in die auf persönlichen Beziehungen beruhende Zeit des Heiligen Römischen Reiches. 30 31 32 33 34 35
Vgl. Gesa (2005): Geschichtsdeutung und literarisches Verstehen, S. 40. Ricarda Huch (1921): Entpersönlichung. A.a.O., S. 215. Vgl. a.a.O., S. 12. A.a.O., S. 214. A.a.O., S. 224.
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Ihre groteske Erzählung Der wiederkehrende Christus,36 die 1926 erschien, führte diese Gedanken fort. In ihr zog Adelhart Luzius, Sohn eines Schmiedes, als eine imitatio Christi und eine Verkörperung der persönlichen Beziehungswelt mit einer sehr heterogenen Anhängerschar durch verschiedene Orte des Deutschlands der 1920er Jahre. Menschen waren für ihn keine Bausteine,37 doch seine Gegenspieler waren Personifikationen der modernen, entpersönlichten Welt: unter anderem der machtgierige Papst Gregor XIV. und der Superkapitalist Strowitsch, der aus einem Pfarrhaus stammte. Wie in George Groszs (1893–1959) im selben Jahr gemalten Gemälde Die Stützen der Gesellschaft waren Huchs Figuren in Der wiederkehrende Christus Repräsentanten zeitgenössischer Machtbesessenheit, die versuchten, Luzius für ihre eigenen Interessen zu instrumentalisieren. 38 Auf seiner Reise durch das neue Deutschland begegnete Huchs Luzius unterschiedlichen kulturellen und sozialen Repräsentanten des entpersönlichten, neuen Deutschlands. Luzius Ausstrahlung faszinierte, man sprach von „elektrischen Funken im Auge des Luzius“,39 doch seine Botschaft und Uneinnehmbarkeit fand im Zeitalter der neuen Massenmedien und der sprachlichen Verwahrlosung keinen Widerhall mehr. Am Ende entging er knapp der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Während die Zurückgebliebenen darüber sinnierten, dass man eine kleine Abhandlung über Luzius schreiben solle, um seine „Elektrizität“ zu erfassen, ging dieser „mit seinen Gefährten durch die schleierweiche Oktoberluft über die braune Heide, das Feuer der Liebe im Herzen.“40 In einer Welt, in der die christlichen Werte angesichts übermächtigen Egoismus, Wirtschaftsstrebens und Übertechnisierung keine Rolle mehr spielten, gab es also noch eine Hoffnung auf persönliche und individuelle Umkehr. Mit Der wiederkehrende Christus war Huchs literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Religion zunächst beendet, sie wandte sich nun historischen Erzählungen zu. Erst zwanzig Jahre später, 1946, kehrte sie in Urphänomene zu ihren religionsphilosophischen Überlegungen der 1920er Jahre zurück. 41 Hierin formulierte sie ein weiteres Plädoyer für eine religiöse Kultur, in der das Göttliche durch nicht umwertbare Werte sichtbar werden solle: etwa durch Blumen, Vögel, Bäume, Sterne oder die Kunst, die eine Brücke zu Gott schlügen, ebenso wie die Liebe, die Familie, Schönheit und der gestirnte Himmel.42 Die neuen politischen Freiheiten der Weimarer Republik eröffneten Huch trotz ihres vorangeschrittenen Alters neuen literarischen Schaffensraum. Neben den bereits dargestellten religionsphilosophischen Werken schrieb sie zwischen 1925 und 1930 mehrere umfangreiche historische Portraits und Darstellungen. So schuf sie beispielsweise 63 Portraits von überwiegend in Deutschland liegenden Städten, die in drei Bänden als Im alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte zusammengefasst 36 37 38 39 40 41 42
Huch (1926): Der wiederkehrende Christus. Vgl. a.a.O., S. 100. Vgl. auch Kunter (2019): Protestantismus und Kultur. Huch (1926): Der wiederkehrende Christus, S. 252. A.a.O., S. 253. Huch (1946): Urphänomene. A.a.O., S. 147.
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waren.43 Hier handelte es sich überwiegend um Städte des mittelalterlichen Deutschlands, von denen nicht wenige dann durch die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg ihre von Ricarda Huch beschriebene Atmosphäre und städtebauliche Einheit komplett verloren. Zugleich legte sie zwischen 1923 und 1925 drei historische Lebensbilder vor, nämlich über den russischen Revolutionär und Anarchisten Michael Bakunin (1814–1876),44 über den preußischen Staatsmann Freiherr von Stein (1757–1831)45 sowie über Friedrich Wilhelm von Bismarck („Graf Mark“ [1783–1860]) und die tragische Beziehung zu Auguste, Prinzessin von NassauUsingen (1778–1846).46 Mit der Veröffentlichung einer gestrafften Neuausgabe ihres zwischen 1912 und 1914 erschienenen, über 1.500 Seiten umfassenden Werkes Der große Krieg in Deutschland, einer Ausgabe ihrer gesammelten Gedichte und einer Auswahl aus ihren Werken, stand Ricarda Huch am Ende der 1920er Jahre auf dem Höhepunkt ihres literarischen Schaffens und Ansehens. In einem Brief an Gerhart Hauptmann (1862–1946) schrieb Thomas Mann, dass er der „klugen und bedeutenden“ Ricarda Huch den Literaturnobelpreis „von Herzen“ gönnen würde (um dann allerdings kurz darauf den Preis 1929 selbst in Empfang zu nehmen).47 Mit 1848 – Alte und neue Götter – Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland setzte sie schließlich ihre historischen Betrachtungen über die Schicksalsmomente und Wendepunkte in der deutschen Geschichte fort.48 Das Werk war im Kontext des 75jährigen Jubiläums der Paulskirchenversammlung entstanden und trug zu einer versachlichten Geschichtsschreibung der nationalen Bewegungen bei. Auch hier blieb Huch ihrem literarischen Gestaltungsprinzip treu, Geschichte durch die Perspektive der Menschen, die diese Veränderungen bewirkten, erzählerisch zu gestalten. Zugleich präsentierte sie eine historische Gesamtschau der deutschen Geschichte vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert. Sie beschrieb, wie sich Deutschland von einem agrarischen in ein industrielles Land gewandelt hatte und knüpfte damit an ihre zuvor formulierte Interpretation einer historischen Fehlentwicklung an: Diese war nach Huch eindeutig Bismarcks neuem Reich zuzuordnen, das die große geistigkulturelle Gestaltungskraft Deutschlands verloren hatte und sich lediglich als kleinbürgerlich, materialistisch und machtbesessen zeigte. Hier, in diesem neuen Reich, so schrieb sie am Ende ihres 1848er-Bandes, glaubten die Menschen nur noch an die sichtbaren, und nicht mehr an die unsichtbaren Dinge.49 Sie bestätigte damit ein Urteil, dass Ernst Troeltsch bereits 1916 zu Ricarda Huch und Luthers Glaube gefällt hatte, in dem er nämlich hervorhob, dass diese „großdeutsch“ empfinde und „die deutsche Genialität im alten Kulturdeutschland“ suche.50 „Die Kolonialdeutschen und das preußische System empfindet sie als etwas Fremdes und glaubt nicht 43 44 45 46 47 48 49 50
Huch (1917–1929): Im alten Reich. Huch (1923): Michael Bakunin. Huch (1925): Stein. Huch (1925): Graf Mark. Lahme (1925): Die Manns, FN 150. Huch (1930): Alte und neue Götter. Ebd. Troeltsch (1916): Rezension, S. 173.
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recht an die Bestimmung der Deutschen zum Weltstaat und Weltvolk“, fuhr er fort.51 3. RESÜMEE Ricarda Huch, die erste promovierte Historikerin Deutschlands52, war eine herausragende protestantische Intellektuelle und Schriftstellerin des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ihr facettenreiches Leben und Werk lassen sich nur schwer auf einen einzelnen Nenner bringen. Kulturgeschichtlich, philosophisch und geistig war sie fest in der deutschen Klassik, Romantik und im Idealismus verankert. Durch die Perspektive ihrer geschichtlichen Darstellungen zum Mittelalter, zum Dreißigjährigen Krieg, der Romantik und der 1848er-Bewegung betrachtete sie die Gründung des Deutschen Reiches, die Politik Bismarcks und die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Kaiserreiches mit großer Skepsis und Ablehnung. Die Triple Entente war für sie der Hauptauslöser des Ersten Weltkrieges,53 dessen Niederlage sie in den zeitgenössisch dominanten deutschen Schemata von Schmach und Verlust deutete. Für die ersten Reichstagswahlen in der Weimarer Republik kandierte sie für die neugegründete linksliberale DDP, scheiterte jedoch mit ihrer Kandidatur, und zog sich danach aus der Politik zurück. Sie wegen dieser Kandidatur deshalb als Liberale oder Demokratin zu bezeichnen, ist jedoch unzutreffend: Weder trat sie in ihren anschließenden Schriften als überzeugte und explizite Weimarer Demokratin hervor, die die neue politische Grundstruktur und den Pluralismus der Republik würdigte oder verteidigte, noch als eine, die mit den politischen Emanzipationsbewegungen der Zeit sympathisierte. Der Frauenemanzipation konnte sie kaum etwas Positives abgewinnen, auch wenn sie Frauen nicht grundsätzlich das Recht der Erwerbstätigkeit absprach, ein eigenes emanzipiertes Leben führte und mit emanzipierten Frauen befreundet war. Zwar betonte sie eine an Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen orientierte protestantische Selbstverantwortung, lehnte jedoch eine starke Orientierung an den individuellen Freiheiten, wie sie die DDP auszeichnete, ab, und bemühte sich auch nicht um einen auf Autonomie gründenden, modernen Verantwortungsbegriff. Das Kollektiv war ihr wichtiger als das Ich. Die Gesellschaft der Weimarer Republik beschrieb sie, etwa in Der wiederkehrende Christus, als eine sich weiterhin auf dem Weg der Entpersönlichung befindende, divergierende Gesellschaft. Juden und jüdische geistesgeschichtliche Beiträge würdigte sie in ihren Werken und trat 1933 aus Protest gegen den Ausschluss jüdischer Mitglieder aus der preußischen Dichterakademie aus. Zugleich enthielten ihre Schilderungen typisch christlich-antijüdische, und
51 Ebd. 52 Vgl. Paletschek (2007): Die Geschichte der Historikerinnen, S. 43. 53 Vgl. Huch (1923): Der Schlagwörter-Krieg.
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in den Äußerungen vor allem etwa ihres Protagonisten Bakunin auch ausführliche, explizit antisemitische Stereotypen, die eingehender Untersuchung wert wären. 54 Politisch setzte sie auf eine vermutlich aus ihrer Zeit in der Schweiz stammende föderalistische Grundüberzeugung: ein dezentrales Deutschland, von einem Monarchen regiert. Dieses sah sie am ehesten in der Zeit des Heiligen Römischen Reiches und in den deutschen freien Städten und Reichsstädten realisiert, denen sie in idealisierten Bildern ein literarisches Denkmal setzte. Dass sie sich nach Luthers Glaube ausführlicher mit Religion in ihren Werken der Weimarer Republik beschäftigte, lässt sich schließlich auch als eine Kritik an der von der DDP befürworteten Trennung von Kirche und Staat wie auch an der neuen religionsrechtlichen Verfasstheit von Religion in der Weimarer Reichsverfassung interpretieren. Dem Besitzanspruch und Karrieredenken machtbeflissener Kirchenfunktionäre trauerte sie nicht hinterher, wohl aber dem Zusammenbruch des Landesherrlichen Kirchenregiments, mit dem sich die Ganzheitlichkeit religiöser Kultur aufgelöst habe und Religion nun nur noch im Rahmen des Verstandes und der Wissenschaftlichkeit begriffen werden könne. Es greift wohl etwas zu kurz, wenn man hierin, wie Fielmann, eine Unzeitgemäßheit Huchs und ihr Werk als „romantisch-idealisierend“ postuliert und demgegenüber den „moralisch-rationale[n] Geist der Aufklärung“ absetzt. Im Zeitalter des Historismus und des Einzugs der wissenschaftlichen Theologie bot sie, literarisch gestaltet und an der Romantik geschult, einen inklusiven Begriff der christlichen Religion an: als eine Möglichkeit, das protestantische Christentum sowohl vom Verstand als auch vom Gefühl her zu begreifen und zu leben. Sie wollte biblische Mythen und historische Religion mit ihrer eigenen künstlerischen Methode vergegenwärtigen und als religiöse Wahrheit in der Gegenwart lebendig machen. Damit befand sie sich – wenngleich auch aus anderen Motiven und mit anderen Methoden – auf einem programmatischen Weg, der später mit Rudolf Bultmann (1884–1976) als Entmythologisierung der Bibel bekannt wurde.55 Nur nebenbei sei bemerkt, dass Rudolf Bultmanns Tochter Antje später in Jena Ricarda Huch kennenlernte und ihre Privatsekretärin wurde.56 Der Rückbezug auf die christliche Reichsidee war keine neue Idee Ricarda Huchs, die sie erst nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg entfaltete, sondern ein in ihrem Werk kontinuierlich auftauchender und verarbeiteter Gedanke. Neu war aber, dass sie damit in der Weimarer Zeit die Hoffnung auf Religion in Form des Protestantismus als einen Ausweg und eine Chance zur Erneuerung einer vom Weg abgekommenen Gesellschaft begriff. Sie schloss damit nicht nur an die Konservative Revolution an, sondern kann auch, gerade durch ihre vorhandene revolutionäre Sympathie, wie sie in Bakunin zum Ausdruck kommt, begründet als Jungkonservative betrachtet werden, wie das Claudia Bruns in ihrer Studie dargelegt hat. Im Gegensatz allerdings zu ihrem Schriftstellerkollegen Thomas Mann, der sich ebenfalls der Konservativen Revolution zugehörig fühlte, glaubte Ricarda Huch noch an das 54 Vgl. hierzu u.a. die Gedanken Bakunins zu Karl Marx in Huch (1923): Bakunin und die Anarchie. 55 Vgl. hierzu ausführlich Fielmann (2008): Mythos. 56 Ausführlicher Lemke (2014): Ricarda-Huch-Porträt, S. 113–125.
Ricarda Huch: Eine außergewöhnliche Protestantin der Weimarer Republik
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Veränderungspotential eines christlichen Protestantismus. Diesen wiederum hatte Thomas Mann spätestens mit seinen 1901 erschienenen Buddenbrooks bereits aufgegeben. LITERATURVERZEICHNIS Baum, Marie: Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs, Tübingen 1950. Bäumer, Gertrud: Ricarda Huch, Tübingen 1949. Bruns, Claudia: Ricarda Huch und die Konservative Revolution, in: Werkstatt Geschichte. Portraits, 9 (25/2000), S. 5–33. Clark, Christopher: Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 102014. Dane, Gesa/Hahn, Barbara (Hg.): Denk- und Schreibweisen einer Intellektuellen im 20. Jahrhundert: Über Ricarda Huch, Göttingen 2012. Dane, Gesa: Geschichtsdeutung und literarisches Verstehen. Ricarda Huchs Studie zum Dreißigjährigen Krieg, in: Geschichte(n) – Erzählen. Konstruktionen von Vergangenheit in literarischen Werken deutschsprachiger Autorinnen seit dem 18. Jahrhundert, hg. von Marianne Henn, Irmela von der Lühe, Anita Runge, Göttingen 2005, S. 38–52. Eigler, Friederike/Kord, Susanne (Hg.): The Feminist Encyclopedia of German Literature, Westport 1997. Fielmann, Heike: Mythos und Interpretation: Ricarda Huchs Versuch einer Rettung des christlichen Glaubens, Frankfurt a.M. 2008. Frommholz, Rüdiger: Huch, Ricarda, in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 705–708. Gehler, Eva-Maria: Weibliche NS-Affinitäten: Grade der Systemaffinität von Schriftstellerinnen im „Dritten Reich“, Würzburg 2010. Hermann, Rudolf: Luthers Theologie. Gesammelte nicht nachgelassene Werke, Bd. 1, Göttingen 1967. https://de-de.facebook.com/fnf.rbmd/videos/315727856590201/ (Zugriff: 14. März 2022). https://www.demokratie-geschichte.de/koepfe/2479 (Zugriff: 14. März 2022). https://www.jamesmskidmore.com/skidpresentations/huchs-grosse-maenner (Zugriff: 14. März 2022). http://www.ricarda-huch.com/ricarda-huch-schulen/ (Zugriff: 14. März 2022). https://www.thueringer-landtag.de/landtag/geschichte/ricarda-huch/ (Zugriff: 14. März 2022). Huch, Ricarda: Luthers Glaube. Briefe an einen Freund, Leipzig 1916. Dies.: Der Sinn der Heiligen Schrift, Leipzig 1919. Dies.: Entpersönlichung, Leipzig 1921. Dies.: Der Schlagwörter-Krieg, in: Süddeutsche Monatshefte, Februar/März 1923, S. 443–456. Dies.: Michael Bakunin und die Anarchie, Leipzig 1923. Dies.: Der wiederkehrende Christus, Leipzig 1926. Dies.: Urphänomene, Zürich/Freiburg 1946. Dies.: Im alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte, 3 Bde., Zürich/Leipzig 1927–1929. Dies.: Stein, Wien/Leipzig 1925. Dies.: Graf Mark und die Prinzessin von Nassau-Usingen. Eine tragische Beziehung, Leipzig 1925. Dies.: 1848 – Alte und neue Götter – Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Berlin/ Zürich 1930. Dies.: In einem Gedenkbuch zu sammeln … Bilder deutscher Widerstandskämpfer, hg. und eingeleitet von Wolfgang Matthias Schwiedrzik, Leipzig 1997. Dies.: Die Romantik. Ausbreitung, Blütezeit und Verfall, Grafrath 2018 (1899). Koepke, Cordula: Ricarda Huch: ihr Leben und ihr Werk, Frankfurt a.M. 1996.
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FRANZ ROSENZWEIG UND DAS NEUE DENKEN Susanne Möbuß Ein Blick auf die Schriften Franz Rosenzweigs versetzt uns unmittelbar in die Lage, Denken im Werden zu beobachten, wie es für die 1920er Jahre so charakteristisch ist. Denn auf den Krieg und seine Folgen gilt es zu reagieren, der in so vielfältiger Weise infrage stellt, was bisher für verbindlich gehalten wurde. Weihnachten 1917 wendet sich Rudolf Eucken (1846–1926), der zu den Vertretern der sog. Lebensphilosophie zählt, in der Frankfurter Zeitung an die Leserinnen und Leser und fasst in repräsentativer Weise die Stimmung jener Tage zusammen: „Nun hat der Krieg mit all den Aufgaben, die aus ihm erwachsen, uns aus allem trägen Behagen und aller Selbstzufriedenheit aufgerüttelt und er hat uns die Schranken der bisherigen Art deutlich erkennen lassen. Zugleich treibt er uns zu mehr Befassung mit dem Ganzen unseres Lebens und Wesens, er treibt uns, unsere Kraft zu verstärken, um in den Stürmen der Zeit bestehen zu können.“1
Auch das Denken sucht sich in den unterschiedlichen Ausprägungen neu auszurichten. Franz Rosenzweigs Werk ist dafür ein besonders anschauliches Beispiel. In dieser Zeit ist im philosophischen Kontext ein seinesgleichen suchendes Ringen um die Form zu beobachten, in der Gedachtes zur Sprache gebracht werden kann. Zeugnisse des dialogischen Denkens stehen neben Entwürfen der Sprachphilosophie, Texte der analytischen Philosophie neben Schriften zur Anthroposophie, phänomenologisch ausgerichtete Betrachtungen neben Darstellungen wissenschaftstheoretischer Ausrichtung. In dieser Vielfalt der Formen beginnt sich Existenzphilosophie zu positionieren, zu deren noch immer kaum zur Kenntnis genommenen Wegbereitern neben Hermann Cohen (1842–1918) vor allem Franz Rosenzweig (1886–1929) zählt. Wird nach einem verbindenden Element dieser verschiedenartigsten Artikulationen des Denkens gefragt, kann auf ein scheinbar unerschöpfliches Bedürfnis hingewiesen werden, den bestehenden philosophischen Diskurs zu ergänzen, zu erweitern und zum Teil sogar in seiner Gesamtheit zu erneuern. Dieses letzte Ziel wird nur im Rahmen der Existenzphilosophie verfolgt, der insofern in dem Tableau unterschiedlichster innovativer Ansätze sicherlich eine Sonderstellung zukommt. Und innerhalb dieser sich mit großer Leidenschaft präsentierenden Philosophie sind es vor allem zwei Denker, die nicht nur Neues Denken fordern, sondern ihr Vorhaben auch selbst kommentieren. Dass diese beiden Denker in einem Atemzug zu nennen sind, zählt ohne Frage zu den erstaunlichsten Details der modernen Philosophiegeschichte, denn gerade zwischen ihnen wäre eine gedankliche Nähe wohl am wenigsten zu erwarten. Es handelt sich um Franz 1
Eucken (1917): Die seelischen Forderungen der Gegenwart, ohne Seitenangabe.
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Rosenzweig und Martin Heidegger (1889–1976). Es können gewichtige Gründe angeführt werden, die gegen eine Erforschung dieser frappierenden Ähnlichkeit im Denken sprechen, trennt beide doch nicht nur ihr religiöser Hintergrund, sondern auch ihre politische und ideologische Biographie. Doch gerade unter Berücksichtigung dieser Unterschiedlichkeiten ist die Frage umso drängender, wie es möglich ist, dass ihr Denken teilweise so ähnlichen Ausdruck fand. Am deutlichsten wird diese Tatsache in ihrem Vorhaben, den Begriff der Erkenntnis durch jenen der Erfahrung zu ersetzen. Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen könnte kaum größer sein. Worin sah Franz Rosenzweig also das Charakteristikum und damit einhergehend das Versagen der Philosophie „von Jonien bis Jena“,2 also von den Vorsokratikern bis zum Deutschen Idealismus? Merkmal und Manko dieses Denkens bestehen seiner Auffassung nach im Gebrauch der Abstraktion als Methode. Vom Sinnlichen, das jeweils nur in einer bestimmten Situation und für eine begrenzte Dauer erfasst werden kann, ausgehend, besteht die Zielsetzung von Erkenntnis darin, Begriffe für dieses Sinnliche zu bilden, die ihrerseits wiederum als Grundlage der Bestimmung von Wahrheit dienen können. Zugespitzt könnte formuliert werden, dass sich das Erkenntnisstreben seiner Fundierung im Besonderen zu entledigen sucht, um reine Aussage des Allgemeinen werden zu können. Der unbestreitbare Vorzug einer solchen Arbeit der Abstraktion ist offensichtlich. Wir sind in der Lage, uns über die Bedingungen des Seins, das Gute an sich und das Wesen des Menschen auszutauschen, ohne dass uns dabei etwas Seiendes, eine gute Handlung oder ein einzelner Mensch vor Augen stehen müsste. Die Unabhängigkeit des philosophischen Denkens von seiner Fundierung ist damit auf ihrem Höhepunkt angelangt, den Franz Rosenzweig jedoch als Zeichen besorgniserregender Selbstverschränkung der Philosophie empfindet. Denn indem sie über das Instrumentarium der Abstraktion verfügt, distanziert sie sich nicht nur von ihrer Grundlage, sondern zugleich von jener Wirklichkeit, für die sie seiner Überzeugung nach zu sprechen hätte. Dieses ist die Wirklichkeit des Einzelnen, der sich eben nicht im Begriff des Menschen verflüchtigt sehen will, sondern der, in sehr schlichter Weise gefasst, in der Philosophie vorkommen möchte. Dieser Wunsch, als Individuum in der Besonderheit seiner je eigenen Situation reflektiert zu werden, wird gewiss nicht zufällig in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg laut. Für eine ganze Generation von Künstlern und Intellektuellen sind die Eindrücke dieser Zeit zu massiv, um verschwiegen zu werden, gleichzeitig aber auch zu überwältigend, um in traditioneller Formensprache ausgedrückt werden zu können. Denn darum geht es in Kunst und Literatur, Dichtung und Philosophie: Es soll ein Ausdruck des Erlebens gesucht werden. Für die Philosophie, die relativ schwerfällig auf einen solchen Einbruch unmittelbarer Dringlichkeit in das konstante Gleichmaß des Erkenntnisstrebens reagiert, bedeutet diese Suche eine außergewöhnliche Herausforderung. Denn sie wird plötzlich vor die Aufgabe gestellt, 2
Rosenzweig (1988): Stern, I, Einleitung, S. 13: „Die Einheit des Denkens also leugnet, wer, ... dem Sein die Allheit abspricht. Der ganzen ehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena wirft den Handschuh hin, wer es tut.“
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Ausdruck eben jener sinnlich vermittelten Erfahrung zu werden, die sie über viele Jahrhunderte verdrängte. Ausdruck der Erfahrung zu sein – das steht von nun an auf ihren Fahnen, zumindest für Denker wie Franz Rosenzweig oder auch Walter Benjamin (1892–1940). Benjamin formuliert 1918 sein Programm einer kommenden Philosophie und plädiert darin dafür, Erkenntnis auf den Begriff der Erfahrung zu gründen. In weitaus größerer Intensität erklärt es auch Rosenzweig zu seinem Ziel, eine Philosophie der Erfahrung entwerfen zu wollen und ist sich dabei durchaus bewusst, damit „des Denkens vollkommene Erneuerung“ zu fordern. Über sein eigenes Buch schreibt er vier Jahre später: „Sondern es ist bloß ein System der Philosophie. Und nun allerdings einer Philosophie, die dem Leser ... auch als solche das volle Recht zum Missfallen gibt, einer Philosophie nämlich, die nicht etwa eine bloße ‚kopernikanische Wendung‘ des Denkens herbeiführen möchte, nach der, wer sie vollzogen hat, freilich alle Dinge verkehrt herum sieht, aber doch nur die gleichen Dinge, die er auch schon zuvor sah, sondern seine, des Denkens, vollkommene Erneuerung.“3
Der Anspruch, der hier vertreten wird, ist erstaunlich. Ob er einzulösen war, konnte Rosenzweig selbst nicht mehr verfolgen. Mit Recht könnte eingewendet werden, dass der Begriff der Erfahrung bereits in früheren philosophischen Konzeptionen berücksichtigt wurde. Doch nun, in den 1920er Jahren, ist seine Denkbarkeit an eine unverzichtbare Bedingung geknüpft. Der Erfahrung soll Ausdruck verliehen werden, der sie als das darstellt, was sie ist: Das Erleben der existentiellen Situation des einzelnen Menschen. Für die Philosophie zeichnet sich hier ein Dilemma ab, das sie zu bewältigen hätte. Ihre Theorien beanspruchen allgemeine Gültigkeit. Wie soll sich in ihnen aber zugleich individuelle Erfahrung abbilden lassen? An diesem Punkt setzt das Denken Franz Rosenzweigs ein. Er geht das Wagnis ein, die Sprache der Philosophie in höchst unwissenschaftlich anmutender Weise als individuellen Ausdruck zu verstehen und bedient sich der ihm dabei zur Verfügung stehenden Spielräume in atemberaubender Entschlossenheit. 1921 erscheint sein einziges großes Werk Der Stern der Erlösung. Was wir darin beobachten können, ist in der Geschichte der philosophischen Literatur bis dahin einzigartig. Es ist der Beginn einer Graphisierung der Schrift, die dazu dienen soll, diese, obwohl in der fixierten Form eines Textes scheinbar gefangen, in größtmöglicher Weise dem lebendigen Geschehen der Sprache anzunähern. Ähnliche Ansätze finden wir – so überraschend dieser Befund auch ist − in den Werken von Martin Heidegger und in den Schriften der Postmoderne. Was ist nun mit dem Begriff der Graphisierung gemeint? Ein erstes unübersehbares Anzeichen findet sich bei der Betrachtung einzelner Seiten des Sterns der Erlösung, die typographisch in besonderer Weise gestaltet sind. Das Schriftbild am Ende eines Kapitels verjüngt sich zum Beispiel kontinuierlich, bis am Ende nur noch zwei Worte die Zeile einnehmen: „Ins Leben.“4 Es ist die sinnenfällige Versichtbarung 3 4
Rosenzweig (1925): Das neue Denken, S. 140. Rosenzweig (1988): Stern, III, III, Tor, S. 472: „Einfältig wandeln mit deinem Gott – die Worte stehen über dem Tor, dem Tor, das aus dem geheimnisvoll-wunderbaren Leuchten des göttlichen Heiligtums, darin kein Mensch leben bleiben kann, herausführt. Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben.“
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der Gewichtung, die Rosenzweig dem Theoretischen einräumt, das nur insofern Bedeutung beanspruchen kann, als es letztlich auf seine Aufhebung hinausläuft. Philosophie führt uns bis zu dem Punkt – auch im Text – an dem die theoretischen Aussagen nach ihrer Verwirklichung verlangen. Welch ein unfassbares Zeichen des Selbstverständnisses als Denker! Theorie ist keinesfalls Selbstzweck, sondern Instrument der Ermöglichung reflektierten Verhaltens im Sein. Der Denker beansprucht in dieser Sicht die Rolle des Übersetzers. Er überträgt die unmittelbare Erfahrung, auf die er sich berufen kann, in die systematische Sprache des Textes. Damit soll nicht gesagt werden, dass Erfahrung Sprache sei, sondern dass Sprache nach Rosenzweigs Überzeugung Erfahrung werden kann. Eine solche Auffassung muss in philosophischen Kreisen auf Ablehnung, zumindest aber auf Verwunderung stoßen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass nur drei Jahre zuvor Ludwig Wittgenstein (1889–1951) seinen Tractatus logico-philosophicus veröffentlicht und darin eine gänzlich andere Auffassung von Sprache und ihrer logischen Korrektheit formuliert.5 Da es momentan noch darum geht, dem Gedanken der Graphisierung der Schrift für einen kurzen Moment zu folgen, ist zu überlegen, wie Sprache Erfahrung werden kann. Indem das Wort nicht Zeichen ist, das in der Rede oder der Schrift für ein Bezeichnetes steht und es dort repräsentiert, sondern indem das Wort selbst Mitteilung einer ihm eigenen Bedeutung ist, so lautet die Antwort, die Rosenzweig nicht erläutert, sondern vorführt. Am anschaulichsten kann diese Sichtweise mit Blick auf den Begriff des Daseins vorgeführt werden. Dasein bezeichnet in philosophischer Terminologie die Seinsweise des Menschen. Damit reiht sich dieser Begriff in das Vokabular der Ontologie ein, die dazu dient, allgemeine Aussagen über verschiedene Modi des Seins, die in ihrer grundsätzlichen Gültigkeit gedacht werden, treffen zu können. Rosenzweig verwendet diesen Begriff, fügt ihm jedoch eine bei flüchtiger Betrachtung unscheinbar wirkende Ergänzung hinzu, indem er ihn als Da-sein schreibt. Genau das, was beim Sprechen geschieht, öffnet die neue Bedeutung dieses Begriffes. Das fast unmerkliche Innehalten, das der Bindestrich beim Lesen hervorruft, setzt innerhalb des Erscheinungsrahmens des Begriffes einen Raum frei, der im Begriff des Daseins aufgrund seiner Funktion, Abstraktes zu bezeichnen, wie hermetisch verschlossen erschien. Doch was bedeutet der Bindestrich? Er deutet Verbindung an, deutet auf Konträres, das in der einen Form des Wortes in Beziehung zueinander tritt. Konträr, nicht im Sinne absoluter Gegensätzlichkeit, sondern in der Weise unauflöslicher Bezogenheit, denkt Rosenzweig ewige und zeitliche Wirklichkeit. Ihre gegenseitige Verwiesenheit lässt sich seiner Überzeugung nach eben nicht erkennen, sondern erfahren, im Geschehen der Offenbarung wie auch im Verstehen des Seins. In dem winzigen Detail, das er dem Schriftbild des Begriffes Da-sein hinzufügt, drückt sich in einem einzigen Moment eine Wirklichkeitssicht von derart komplexer Natur aus, wie sie traditionellerweise in der Philosophie Gegenstand spezieller Erörterungen war. Das Besondere an dem Bild vom Da-sein besteht schließlich darin, dass seine Bedeutung nicht erkannt und damit Grundlage einer Aussage allgemeiner Gültigkeit werden kann. Vielmehr 5
Wittgenstein (2003): Tractatus logico-philosophicus.
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kann sie nur erfahren werden, im immer wieder von Neuem anhebenden Erleben der Beziehungsstruktur des Seins. Dessen Wahrheit ist nicht Gegenstand logischer Affirmation, sondern in jedem Augenblick erneut zu bestätigendes Faktum der Bezogenheit. Aus diesem Grunde schreibt Rosenzweig, dass Wahrheit nicht bewahrt, sondern bewährt werden müsse. In ersterem Sinn würde eine einmal fixierte Auffassung von Wahrheit zu bestätigen und damit letztlich nur zu reproduzieren sein. In letzterem Sinn kann von Wahrheit nur dann gesprochen werden, wenn ihre Bedeutung immer von Neuem beschrieben wird. Noch einmal begegnen wir seinem Gedanken, dass Theorie der Bewährung bedarf, um im Da-sein wirksam werden zu können. Hier könnte nun eingewendet werden, dass doch letztlich der Sinn theoretischer Aussagen im Bereich der Ethik von jeher darin bestanden hat, Anleitung zum Besseren zu sein. Ihre Bedeutung ist von Anfang an auf ihre praktische Umsetzung ausgerichtet. Worin unterscheidet sich dann Rosenzweigs Motiv der notwendigen Bewährung des Gedachten im Leben? Eine Definition des Guten im philosophischen Kontext trifft qua Definition für den Menschen schlechthin zu. Vom Begriff des Menschen distanziert sich Rosenzweig zugunsten des Bildes vom Einzelnen. Die alle Existenzphilosophie kennzeichnende Problematik zeigt sich auch hier. Denn es wird nun davon ausgegangen, dass eine theoretische Aussage allgemeiner Gültigkeit nicht das Handeln und Verhalten des Einzelnen in seiner je individuellen Daseinssituation motivieren kann. Ob diese Annahme zutrifft, kann hier nicht entschieden werden. Für Rosenzweig kommt es darauf an, nicht mehr zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden, da der mitgeteilte Gedanke bereits die ethische Qualität der existentiellen Bewegung verändert. Er wirkt im Verstehen und wirkt im Leben fort. Die erwähnte Graphisierung der Schrift trägt ihren Teil zu diesem Wirken bei. Denn um sie zu verstehen, muss sie nicht vor philosophischem Hintergrund reflektiert werden. Es genügt vielmehr der eine Blick, der im selben Moment erfahrbar werden lässt, worin die Bedeutung besteht. Eingangs wurde kurz auf die besondere Situation der 1920er und 1930er Jahre verwiesen, in der Künstler und Intellektuelle nach neuen Formen suchen, um ihrem Erleben Ausdruck verleihen zu können. Den reinen Ausdruck des Schmerzes sehen wir etwa in den Skulpturen von Käthe Kollwitz (1867–1945); den reinen Ausdruck einer ins Disparate zersplitternden Realität in den Gemälden von Franz Marc (1880–1916). Reiner Ausdruck soll auch die Philosophie sein, so verlangt es Franz Rosenzweig. Die ersten Seiten seines Sterns der Erlösung sind in diesem Sinne tatsächlich Ausdruck der Furcht, die den Menschen angesichts des Todes ergreift, der Not, in die er sich gestürzt findet, wenn er diesem Erleben nicht ausweichen kann. Sie sind Ausdruck der unsagbaren Enttäuschung, die der Mensch mit Blick auf die Philosophie empfindet, die zu all dieser Not ihr „leeres Lächeln“ zeigt,6 weil sie Ideen der Ewigkeit formuliert, wo der Mensch nur den einzigen Wunsch hat: „Er will bleiben.“ Es wäre jedoch eine einseitige Betrachtung, würde Rosenzweigs Werk ausschließlich als Ausdruck des Schmerzes gelesen. Es ist – und das wird mit Blick 6
A.a.O., I, Einleitung, S. 3.
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auf den Gedanken der Bezogenheit deutlich – ebenso sehr reiner Ausdruck der Seinserfüllung. Die Begriffe von Schöpfung und Sein setzt Rosenzweig synonym, und es ist nicht allein dieser Schritt, der ihn zu dem vielleicht wichtigsten Vordenker der Existenzphilosophie macht. Auch diese Philosophie, die sich in den 1920er Jahren zu entfalten beginnt, erhebt den Anspruch, Neues Denken zu sein. Es ist eine der Bruchstellen philosophiegeschichtlicher Forschung, das Verdienst Franz Rosenzweigs um die Buchstabierung dieses Denkens bis heute nicht in gebührendem Maße gewürdigt zu haben. Auf welche Aspekte seiner Konzeption müsste sich der Blick vor allem richten, wenn er dieser Bedeutung ein Stück des Weges folgen wollte? Er müsste die Gleichsetzung von Sein und Schöpfung betrachten, die Rosenzweig vornimmt. Damit nutzt er zwei Begrifflichkeiten, um aus jeweils eigenen Perspektiven Aussagen über den Menschen in der Welt treffen zu können. Die Schwierigkeit, die entstehen könnte, wenn ich das eine Mal den ontologischen Terminus des Seins verwende und das andere Mal von der göttlichen Schöpfung spreche, unterschätzt Rosenzweig keinesfalls. Für ihn ist es möglich, in dieser kühnen Gleichsetzung zu denken, weil er Sein nicht als Abstraktum begreift, sondern als Begriff des menschlichen Existenz-Raumes. Dieser ist durchwirkt vom Religiösen, daran zweifelt er nicht. Hier könnte sich allerdings eine Frage stellen. Warum wählt Rosenzweig zwei Begrifflichkeiten, um über diesen Raum sprechen zu können? Was kann seiner Auffassung nach Philosophie leisten und damit dem religiösen Denken zur Seite treten? Warum will er nach eigenen Worten seinen Stern der Erlösung nicht als jüdisches, ja nicht einmal als religiöses Buch verstanden wissen? Seiner Überzeugung nach wäre es schlichtweg unmöglich, sich für Philosophie oder religiöses Denken zu entscheiden, da beide Beschaffenheit und Möglichkeiten menschlicher Existenz aufzeigen. Es ist die Rückgewinnung der Vorstellung vom Sein als existentieller Raum, der seine Konzeption für existenzphilosophisches Denken bedeutsam werden lässt, und zwar nicht nur jener Form dieses Denkens, die sich in den 1930er Jahren entwickelt, sondern vor allem jener Form, die heute relevant werden kann. Es ist aber auch die Vorstellung vom Einzelnen, die Franz Rosenzweig zwar nicht begründet, aber im 20. Jahrhundert neu justiert. Interessanterweise beruft er sich dabei weniger auf Søren Kierkegaard (1813–1855), der im 19. Jahrhundert das Bild des Einzelnen zeichnete, der seine je individuelle existentielle Bewegung vollzieht. Stattdessen bezieht er sich auf das Denken von Arthur Schopenhauer (1788–1860), wenn er schreibt: „Schopenhauer fragte als erster unter den großen Denkern nicht nach dem Wesen, sondern nach dem Wert der Welt. ... So wurde der Mensch – nein, nicht der Mensch, sondern ein Mensch, ein ganz bestimmter Mensch, zu einer Macht über die – nein, über seine Philosophie.“7
Denn nur dieser einzelne Mensch ist der Erfahrung fähig und nur dieser einzelne Mensch hat ein Interesse daran, diese von philosophischem Licht erhellt zu sehen.
7
A.a.O., I, Einleitung, S. 8–10.
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Existentielle Bewegung deutet Franz Rosenzweig als ein beständiges Entwerfen des Sein-Könnens in die Zukunft – auch darin greift er späteren Deutungen, wie wir sie beispielsweise bei Karl Jaspers (1883–1969) oder Heinrich Barth (1890– 1965) finden werden, vor. Dabei deutet er die Zeitlichkeit, die als ein Kontinuum der Veränderung erscheinen könnte, nicht als physikalisch zu denkendes Medium der Erstreckung, sondern als immer von Neuem zu bestätigende Möglichkeit des Einzelnen, sein eigentliches Sein verwirklichendes Selbst zu sein. Eine existentielle Interpretation von Zeitlichkeit sieht in ihr die Abfolge beständiger Selbst-Setzungsmomente, die nicht automatisch aufeinander folgen, sondern jeweils individuell als bewusstes Umsetzen der Möglichkeitsstruktur des Seins geschaffen werden. Werden-Können, der Einzelne und der existentielle Raum – die drei wichtigsten Bestimmungen des Existenzdenkens sind damit im Stern der Erlösung vereint. Sie alle drei verknüpft Rosenzweig durch den alle weiteren Überlegungen tragenden Gedanken, der darin besteht, Erkenntnis durch Erfahrung zu ergänzen. Denn er will gewiss nicht das Wirken der Vernunft anzweifeln oder gar negieren. Nur lehnt er es ab, in jener Erkenntnis, die auf dem ausschließlichen Gebrauch der Vernunft basiert, den einzig legitimen Zugang zum Verstehen der Welt zu sehen. Denn dieses Verstehen setzt seiner Ansicht nach nicht erst auf der Ebene abstrahierenden und damit verallgemeinerbaren Wissens an, sondern es beginnt früher, viel früher, wie der Leser seines Sterns der Erlösung mit Staunen und Faszination begreift. Es beginnt beim Umgehen mit den Dingen, den jeweils einzelnen Objekten, die uns tagtäglich umgeben. Wann hätte es jemals zuvor eine Philosophie gegeben, die es wagt, sich der beliebigsten Form materiellen Seins in derart unverstelltem Blick zu nähern? Bisher war ihre Berücksichtigung nahezu verpönt, weil Dinge nicht nur die konkreten Beweise jener Wirklichkeit sind, die es im Ideellen zu überformen galt, sondern weil sie zudem zumeist durch ihren Gebrauchswert bestimmt werden und damit für eine philosophische Deutung als erkenntnistragende Elemente nahezu disqualifiziert wurden. Rosenzweig spricht sich für die Besonderheit des einzelnen Menschen aus, wenn er schreibt: „Der Mensch in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens, ... trat aus der Welt, die sich als die denkbare wußte, dem All der Philosophie heraus.“8 Damit scheint dieser Mensch dem philosophischen Blick aber für einen Augenblick zu entweichen, weil er nicht mehr in den gewohnten Parametern der Erkenntnis erfasst werden kann. Wäre Philosophie ein derart starres System, wie sie sich oftmals selbst präsentiert, wäre dieser Verlust nicht von vorübergehender, sondern von endgültiger Dauer. Rosenzweig steht also vor einer schwierigen Alternative: Entweder gibt er die philosophische Frage nach dem Einzelnen auf, weil sie in diesem Medium nicht mehr sinnvoll gestellt werden könnte, oder er spricht dem philosophischen Denken eine neue Kompetenz zu. Und genau das geschieht. Er zeigt, dass von der Welt zu sprechen nicht mehr bedeutet, vom Absoluten zu sprechen, sondern von dieser Welt, in der der Einzelne existiert. Von dieser Welt, in der wir leben, arbeiten und uns sorgen, Freude empfinden und Not erfahren. Von dieser Welt, in der wir ununterbrochen mit Dingen hantieren, die uns
8
A.a.O., I, Einleitung, S. 10.
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zu unbedeutend zu sein scheinen, um sie eines neuen, unverstellten Blickes zu würdigen. Über sie schreibt Franz Rosenzweig und greift damit weit über spätere Existenzphilosophie hinaus: „Die Welt besteht aus Dingen, .... Das Ding besitzt keine Standfestigkeit, solange es alleinsteht. Seiner Einzelheit, seiner Individualität ist es nur gewiß in der Vielheit der Dinge. Es kann gezeigt werden nur im Zusammenhang mit anderen Dingen“.9
Das Einzelne gewinnt nur Kontur im Zusammenhang. Diese fast allzu schlicht wirkende Aussage ist das Fundament einer philosophischen Beschreibung der Wirklichkeit. Denn genauso kann formuliert werden: Der Einzelne gewinnt nur im Zusammenhang Kontur. Nicht mehr als das Abbild einer Idee, sondern als dieser Einzelne, der werden kann. Hier bricht zweitausendjährige philosophische Überzeugung auf. Mit Blick auf die Dinge heißt es: „Das Ding hat auch als bestimmtes kein eigenes Wesen, es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen.“10 Was bedeutet diese Feststellung? Seit frühester Zeit basiert der Diskurs westlicher Rationalität auf der Vorstellung vom Wesen, das bestimmt, als was wir ein Seiendes erkennen. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Wesens-Definition des Menschen als animal rationale, als vernunftbegabtes Lebewesen. Wenn wir uns nur unserer Vernunft gemäß verhalten, entsprechen wir unserem Wesen, das unsere Besonderheit, unser Alleinstellungsmerkmal, wie es heute vielleicht heißen würde, kennzeichnet. So unterscheidet uns unser Wesen von jedem anderen Seienden. Und was macht Rosenzweig? Er konstatiert, dass wir ebenso wenig wie ein Ding über ein Wesen verfügen, sondern nur in unseren Beziehungen sind. Mit jedem Moment, in dem sich das Beziehungsgeflecht verändert, in dem wir uns zu den Menschen und Dingen unserer Welt verhalten, gewinnt unser performatives Wesen an Profil. Es ist ein unabgeschlossenes Sein im Werden, das hier in dieser Radikalität zum ersten Mal gedacht wird. Dieser Gedanke, nur in unseren Beziehungen zu sein, macht nicht an den Grenzen unserer Welt halt, sondern schließt alle Erfahrung des anderen grundsätzlich und unaufkündbar mit ein. Ist es Ironie oder pure Folgerichtigkeit, dass Franz Rosenzweig sein Postulat eines Neuen Denkens gerade hier, der dinglichen Realität des Einzelnen zugewandt, einlöst? Konsequent ist es allemal! Einzelner existiert mit Einzelnem, in diese einfachste Formel kann das Welt-Verständnis gefasst werden, mit dem wir uns hier konfrontiert sehen. Aus philosophischer Warte handelt es sich um einen Tabubruch, wird doch das Spezielle tatsächlich nur als die materielle Grundlage des Erkenntnisprozesses betrachtet, die ihre Funktion in dem Moment erfüllt hat, in dem sie sich in Abstraktion verflüchtigt. Denn das erkennende Interesse gilt der Wahrheit, nicht der Erscheinung, der Wahrheit, wie sie sich in der logischen Form der Aussage entfaltet, und nicht der Erscheinung, wie sie uns im Dasein begegnet. Ein solches Verständnis von Philosophie hat Rosenzweigs Überzeugung nach „um 1800 ihre selbstgestellte Aufgabe der denkenden Erkenntnis des All gelöst; indem sie 9 A.a.O., II, I, S. 148. 10 Ebd.
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sich selbst in der Geschichte der Philosophie begriffen hat, ist ihr nichts mehr zu begreifen übrig“.11 Dieses ist die Stunde des Neuen Denkens: „Soll von diesem Gipfel noch ein Schritt weiter geschehen, ohne zum Sturz in den Abgrund zu führen, so müssen die Grundlagen verrückt werden; es muss ein neuer Begriff von Philosophie aufkommen.“12
Dieser Begriff bringt es mit sich, „daß an Stelle des alten, berufsmäßig unpersönlichen Philosophentyps, der nur ein angestellter Statthalter der ... Philosophiegeschichte ist, ein höchst persönlicher, der des ... Standpunktphilosophen tritt.“13 Die Sorge, dass damit einer schrankenlosen Subjektivierung philosophischen Denkens der Weg bereitet werden könnte, wiegt nicht schwer genug, um Rosenzweig von dieser Sichtweise abzubringen. Denn es gibt ja noch das Objektive, das dem individuellen Erleben und Erfahren dadurch Halt und seiner grundlosen Zersplitterung Einhalt gebietet. Rosenzweig findet es in der Sprache und in der Erfahrung. Sprache ist Ausdruck des Erlebens, Erfahrung Ausdruck der Verwiesenheit im Dasein. Keine dieser beiden Weisen des Ausdrucks steht für sich und deutet etwa nur auf ein subjektives Geschehen. Vielmehr ist jeder Ausdruck Versichtbarungsgestalt eines anderen, das in der ganzen Dimension seiner Möglichkeit aufgenommen werden kann. Aufgenommen, nicht gedacht. Daher ist es für Rosenzweig unverzichtbar, am Selbstverständnis der Philosophie, wie es sich in den vergangenen Jahrhunderten darstellte, zu zweifeln und es von Grund auf neu auszurichten. Im Februar 1925 erscheint ein kurzer Text mit „einigen nachträglichen Bemerkungen zum Stern der Erlösung.“ In vollkommener Schlichtheit als Das Neue Denken überschrieben,14 weist er auf die „drei Grundbegriffe des philosophischen Denkens“ hin. Gott, Welt und Mensch sind diese Begriffe, die es in einer „erfahrenden Philosophie“ in ihrer Struktur der Bezogenheit aufzunehmen gilt. In herkömmlicher Weise würde stets nach einer Hierarchie zu fragen sein, zumindest nach einer Priorität, in der diese Begriffe erfasst werden. Religiöses und metaphysisches Verständnis geben wohl den anschaulichsten Beleg dafür, dass ein Erstes zu kennen ist, um das Folgende dessen Wesenheit entsprechend deuten zu können. Da Rosenzweig hier auf den philosophischen Kontext verweist, soll ein Beispiel aus diesem genannt werden. Das sich selbst denkende Denken der ersten Ursache, das Aristoteles (384– 322) in seiner Metaphysik beschreibt, wird zum Maßstab der Wesensbestimmung des Menschen, der als vernunftbegabtes Lebewesen gedacht wird. Eignet dem Ersten ungebrochene Aktualität, hat der Mensch seine Wesensmöglichkeit jeweils punktuell zu aktualisieren. In diesen Momenten ähnelt er, der sonst nur potenziell Denkender ist, dem Bildgeber seiner Wesensbestimmung. In einem Philosophieverständnis, das auf dem Gedanken der Erkenntnis beruht, tritt der Mensch in die zentrale Position. Denn er ist der Fragende, er ist das Subjekt, das sich der Welt als seinem Objekt zuwendet. Die Perspektive, in der dieses geschieht, bestimmt allein der Mensch. Gegen diese Sichtweise, die immer einen der 11 12 13 14
A.a.O., II, Einleitung, S. 116. Ebd. A.a.O., II, Einleitung, S. 117. Rosenzweig (1984): Das neue Denken.
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drei Grundbegriffe als richtungweisend für die Betrachtung der beiden anderen setzt, wendet sich Franz Rosenzweig nun entschieden. So will der erste Teil seines Sterns der Erlösung „... nichts lehren, als dass keiner dieser drei großen Grundbegriffe des philosophischen Denkens auf den andern zurückgeführt werden kann.“15 Jeder der drei Begriffe ist in sich selbst gegründet. „Auf die Frage nach dem Wesen gibt es nur tautologische Antworten. Gott ist nur göttlich, der Mensch nur menschlich, die Welt nur weltlich ... Wir wissen von allen gleich viel, gleich wenig.“16
Will Rosenzweig nun nicht mehr auf die Möglichkeit zurückgreifen, die Begriffe in einem Ableitungsverhältnis zu denken, da dabei stets die Selbstständigkeit zumindest eines Begriffes preisgegeben werden müsste, wird das Problem für ihn umso dringlicher, wie sie denn zu denken seien. In ihrer Bezogenheit, so antwortet er, im Geschehen ihrer Relationalität. „Gott, Welt, Mensch erkennen heißt erkennen, was sie in diesen Zeiten der Wirklichkeit tun oder was ihnen geschieht. Aneinander tun und voneinander geschieht.“17 Die Konzeption des Sterns versichtbart die drei Zeiten der Wirklichkeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ebenso wie die Geschehnisformen dieses Aneinander-Tuns. Bereits in der kurzen Betrachtung des Aspektes der Graphisierung des Textes, die sich in Rosenzweigs Schrift beobachten lässt, war sein unbedingter Wille sichtbar geworden, Denken nicht als ein Nach-Denken zu begreifen, wie es dem Stil klassischer philosophischer Abhandlungen seiner Ansicht nach entspricht. Dieser Ablauf, der die Bereitschaft des Lesenden fordert, dem Schreibenden zu folgen, endet in dem Moment, in dem dessen Ausführungen ihren endgültigen Abschluss gefunden haben. Auch hier setzt Rosenzweigs Verständnis der erfahrenden Philosophie an, die ein Miteinander im MitDenken stiften will und sich hierfür der verschiedensten sprachlichen Mittel bedient. Um die Schönheit dieses Gedankens nicht zu trüben, sei für den Moment die Frage ausgeklammert, ob denn nicht inszenierte Performativität, wie sie hier vorgestellt wird, letztlich doch wieder ein Akt der auktorialen Dominanz bleibt. Miteinander im Mit-Denken – genau das geschieht nach Rosenzweigs Überzeugung eben nicht im gelehrten Diskurs, sondern im „natürlichen Denken“, wie er es nennt. „Denken, das vom Menschen weiß und das sich dieses Wissen nicht mehr in idealistischem Selbstbetrug wieder aus den Fingern gleiten lässt, Denken, das vom Wechselverhältnis von Ich und Du ausgeht, statt wie alles frühere Denken vom Es oder vom Ich“.18
Auf die außerordentliche Bedeutung, die diesem Gedanken zukommt, kann in diesem Zusammenhang lediglich hingewiesen werden. Es zählt zu den Erscheinungen intellektueller Standortbestimmung in den 1920er Jahren, dass der traditionellen Vorstellung einer Autonomie des erkennenden Subjekts, die auf dessen Vernunftbegabtheit basiert, eine klare Absage erteilt wird. Denn man beginnt zu ahnen, 15 16 17 18
A.a.O., S. 144. A.a.O., S. 145. A.a.O., S. 150. Rosenzweig (1984): Cohens Nachlaßwerk, S. 230.
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dass die vermeintliche Gründungsdominanz menschlichen Ich-Bewusstseins auf einer Zirkularität beruht, die mit dem Rückgriff auf ein erst noch zu Begründendes erklären will, wie sich das Selbst des Menschen bildet. Die Gewissheit, hierfür auf ein Ich zurückgreifen zu können, dass sich in der Aktualisierung seiner Vernunft ständig als Denkendes reproduziert, ist nach Rosenzweigs Überzeugung eine jener philosophischen Ansichten, der es ein erneuertes Verständnis entgegenzuhalten gilt. Danach kann sich das Selbstbewusstsein nur in der Begegnung mit einem anderen – mit dem Du – auf sein Ich richten, das immer nur in Momenten dieser positiv zu verstehenden Konfrontation erkennbar wird. Mit dieser Auffassung steht er nicht allein. Innerhalb kürzester Zeit entstehen drei Werke, die für die Formulierung des dialogischen Denkens maßgeblich sein werden: Martin Bubers (1878–1965) Ich und Du im Jahr 1916,19 1921 Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung sowie 1918 Ferdinand Ebners (1882–1931) Das Wort und die geistigen Realitäten.20 Dieses Denken, für das alle drei Schriften vor unterschiedlichem religiösem Hintergrund werben, ist nicht nur als eine Reformbewegung innerhalb des philosophischen Diskurses und seiner Deutung menschlicher Subjektivität zu sehen. Sein ganzes Potential beginnt es erst eigentlich dort zu entfalten, wo es dezidierte Aussagen über die Prozesse der Bildung menschlicher Selbstbewusstheit in der Begegnung mit dem Anderen zu treffen gilt. Es ist der Kontext pädagogischer Reflexionen, in dem das dialogische Denken sich besonders deutlich auswirken wird. Denn dort greift Philosophie in der Weise in das Leben über, für die Franz Rosenzweig in unermüdlicher Entschlossenheit eintritt. An diesem Punkt angelangt weisen Deutungsmöglichkeiten in verschiedene Richtungen. Rosenzweigs Vorbereitung existenzphilosophischen Denkens ist eine von ihnen, die Frage, ob sich das Neue Denken im philosophischen Kontext erschöpft, eine andere. Zweifellos wären die Folgen, die sich aus einer Rezeption des rosenzweigschen Philosophiebegriffes ergeben hätten, gewaltig gewesen. Doch fand diese, vielleicht aufgrund der politischen Ereignisse, nicht wirklich statt. Möglichweise war sein Anspruch auf Erneuerung auch zu radikal, da er die Vorstellung der Wissenschaftlichkeit einer Disziplin Philosophie, wie er selbst konstatiert, untergräbt: „Ja, ist das noch Wissenschaft? Ist dieses Betrachten der Dinge jedes für sich und eines jeden in zahllosen Beziehungen, bald von jenem, bald von diesem Punkt aus, diese Betrachtung, deren Einheit höchstens in der Einheit des Betrachters liegt – ... noch Wissenschaft?“21
Eine weitere Frage stellt Rosenzweig in seinem Stern der Erlösung nicht und formuliert sie auch sonst nicht eigens, was aber auch nicht erforderlich ist, da er ihre Antwort in seinen weiteren Schriften gibt. Denn diese bilden eine einzige Stellungnahme in der Überlegung, ob das Neue Denken Philosophie sein muss oder vielmehr nur Philosophie sein kann. Im Juli 1921, demselben Jahr also, in dem der Stern der Erlösung publiziert wird, erscheint ein weiterer Text von Franz Rosenzweig, der seiner Form nach 19 Buber (2008): Ich und Du. 20 Ebner (1952): Gesammelte Werke, Bd. 1. 21 Rosenzweig (1988): Stern, II, Einleitung, S. 117.
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kaum unterschiedlicher sein könnte. Von seinem Verleger stammt die Idee, die Gedanken des Sterns auch dem Laien verständlich darzustellen. Die Schrift, die auf diese Anregung hin entsteht, trägt den Titel Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand.22 Darin entwirft Rosenzweig das Szenario von Diagnose und Therapie, die einem Menschen im Zustand der Erkrankung zuteilwerden. Gleich in der Einleitung wendet sich Rosenzweig an seine zu erwartenden Kritiker: „So werden Sie den alten, stets schleuderbereiten Bannstrahl der ‚Unwissenschaftlichkeit!‘ hervorholen und neben sich legen. Seien Sie unbesorgt – Sie werden ihn bald schleudern dürfen.“23 Selten wurde offensiver jenem Bannspruch, der über den philosophischen Gehalt eines Textes entscheidet, weil er philosophisch mit wissenschaftlich gleichsetzt, vorgegriffen. Die Ursache jenes Krankheitsbildes, das der Behandlung bedarf, besteht in der „vollkommenen Umkehrung der normalen Lebensfunktionen“,24 an denen das philosophische Denken im traditionellen Format Schuld trägt. Es mag befremdlich wirken, dass Rosenzweig von Krankheit und Normalität spricht, weil gefragt werden könnte, wo die Grenze verläuft, die eine vom anderen unterscheidet. Doch wird schnell erkennbar, wie diese Umkehrung zustande kommt. Unsere Lebensfunktionen erlauben es uns, uns in der Welt zurechtzufinden und auf die Anforderungen des Daseins reagieren zu können. Hier greift die Kritik, die bereits im Stern geäußert wurde. Philosophie seit ihren Anfängen versteht sich nicht als Unterstützung des Menschen in seiner existentiellen Situation. Vielmehr gilt sie dem Nachweis ewiger Ideen und absolut gültiger Wahrheitsaussagen. Ein wenig ähnelt der moderne Patient jenem Verunsicherten, dem Mose ben Maimon (1135–1204) im 12. Jahrhundert seinen Führer der Unschlüssigen widmet.25 Während es dort um die Frage nach einer möglichen Vereinbarkeit von Religiösem und Rationalem ging, steht in Rosenzweigs Sicht Philosophie insgesamt auf dem Prüfstand, da sie den Menschen seiner Weltrelation systematisch entfremdet. So verdoppelt sich seine Realität: in eine, in der nicht mehr zu leben, und eine, in der zu denken ist. Denn die philosophische Suche nach Erkenntnis lässt das Wissen um die Welt, die den Ort der Existenz bildet, als nichtig erscheinen. Bereits mit Blick auf die Darlegungen im Stern der Erlösung konnte auf die Bedeutung hingewiesen werden, die den Dingen zukommt. Diesen Gedanken greift Rosenzweig nun auf und fragt, was denn die Welt sei, in der wir existieren: „... die Welt ist – Etwas? ... Das klingt fast zu einfach, fast zu trivial. ... So antwortet man Kindern, deren Frage man los sein will.“26 Die Antwort ist jedoch keineswegs trivial, sondern sie bezeichnet, dass etwas ist, nämlich Mensch und Ding in derselben Unmittelbarkeit ihres Seins. Wie neu dieser Ansatz tatsächlich ist, wird sichtbar, wenn Rosenzweig auf die traditionelle Wesensdefinition des Menschen eingeht, die ihn von der Welt distanziert, weil nur er mit Vernunft begabt ist. Für ihn ist es unverzichtbar zu fragen: 22 23 24 25 26
Rosenzweig (1992): Büchlein. A.a.O., S. 24. A.a.O., S. 50. Maimonides (1995): Führer der Unschlüssigen. Rosenzweig (1992): Büchlein, S. 71.
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„Was überbrückt denn die Kluft zwischen Mir und der Welt? Ja, wie komme denn Ich als Weltteil, Weltbürger, der ich bin, dazu, einen Unterschied zwischen Mir und der Welt auch nur zu behaupten? Wie komme ich überhaupt dazu, ihr gegenüber noch etwas anderes sein zu wollen als Teil unter ihren Teilen?“27
Kann uns die ungeschützte Offenheit, mit der Rosenzweig in diesen schlicht anmutenden Worten den Idealisierungsbestrebungen der Philosophie entgegentritt, unberührt lassen? Sie sind unwissenschaftlich, keine Frage, aber deshalb sind sie nicht unphilosophisch, sofern der Maßstab des Neuen Denkens angelegt wird. Um noch einmal an die einleitende Unterscheidung zu erinnern: statt auf Erkenntnis zu zielen, soll dieses der Erfahrung gelten. Ihr wieder zu trauen, ist Ziel jener therapeutischen Maßnahmen, die im Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand empfohlen werden. Nun wäre es jedoch nicht ausreichend, die Hinwendung zur Welt, die im Grunde eine Rückkehr zu ihrer unmittelbaren Erfahrung ist, als ein Plädoyer für eine materialistische Weltsicht zu verstehen. Die Vielfalt, in der sich Teil zu Teil findet, führt zwar Einzelnes zu Einzelnem, doch deutet der Begriff der Welt, der ihre Denkbarkeit gewährleistet, auf Schöpfung und Sein gleichermaßen. Hier zeigt sich trotz aller angedeuteten Nähe zur Existenzphilosophie die entscheidende Differenz. Denn in den meisten ihrer Konzeptionen wird versucht, Sein ohne göttliche Einwirkung zu erfassen. Alle Fragen und Probleme, die sich aus einem solchen Anspruch ergeben, gilt es ausschließlich auf dem motivischen Grund des Seins-Denkens zu bewältigen. Philosophie in der Methodik des Neuen Denkens ist für Franz Rosenzweig niemals Selbstzweck. Sie dient vielmehr der Möglichkeit, die Gesamtweite des existentiellen Raumes in der Komplexität seiner Struktur erfassen zu können. Ein Wissenschaftsverständnis, das diese Einsicht nicht fördert, ist für ihn daher letztlich ein bedeutungsloses Streben. Und ein Denker, der sich in diesem Sinne der Wissenschaft verschreibt, wird seiner besonderen Verantwortung nicht gerecht. Diese besteht darin, den Menschen die Dimensionen des Existentiellen zu zeigen, die für Rosenzweig mit den Dimensionen des Religiösen deckungsgleich sind. Wissenschaft kann die Aufgabe, dieses Faktum zur Ansicht zu bringen, nicht erfüllen, da sie es versäumt, den einzelnen Menschen als denjenigen anzusprechen, der diese Dimensionen nicht nur erkennt, sondern sie erfüllt. So versteht sich Rosenzweig immer deutlicher als einen Lehrenden, der nicht Wissen vermittelt, sondern Erfahrung ermöglicht. Mit welcher intellektuellen Redlichkeit Franz Rosenzweig seine Überzeugung vertritt, ist etwa daran abzulesen, dass er eine ihm an der Berliner Universität angebotene Dozentur mit folgender Begründung ablehnt: „Es das Erkennen ist mir zum Dienst geworden. Zum Dienst am Menschen“.28 Gott, Welt und Mensch, die drei Grundbegriffe allen Denkens, wollte Rosenzweig so aufeinander beziehen, dass sie sich in den Formen der Vergegenwärtigung jeweils eigen und doch aufeinander verweisend zu erkennen geben. Denn es sind eben Begriffe, die nicht etwas bezeichnen, das sich der Bezeichnung als ein wesentlich Anderes fügt, sondern es sind Begriffe, in denen Wirklichkeit in dreifacher 27 A.a.O., S. 73. 28 Glatzer (1992) in seinem Vorwort zum Büchlein, S. 11.
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Weise erfahrbar wird. Deshalb nennt Rosenzweig sein Neues Denken auch „erfahrendes Denken.“ Weil Erfahrung gerade kein solitäres Erleben sein kann, sondern immer auf ein Anderes, das sich in der Erfahrung erschließt, verweist, ist das erfahrende Denken seiner Struktur nach dialogisches Denken. In seinem unbedingten Wunsch, Ausdruck der Erfahrung sein zu wollen, teilt Franz Rosenzweig zu einem bemerkenswerten Anteil die Bestrebungen, die sich in 1920er und 1930er Jahren vor allem in der bildenden Kunst zeigen. Für Philosophie ist dieser Anspruch ungewöhnlich und – wie leider hinzugefügt werden muss, unwillkommen. Denn der Blick auf die Rezeptionen des Sterns der Erlösung direkt nach seinem Erscheinen wie auch auf seine mögliche Wirkungsgeschichte zeigt, dass Rosenzweigs Neues Denken in so entschlossener Weise neue Wege der Welterfahrung zu ebnen sucht, dass eine Integration in den bestehenden Diskurs letztlich unmöglich gewesen ist. Doch es ist gut zu wissen, dass sich der Erfolg eines Denkens nicht nur an seiner akademischen Akzeptanz abschätzen lässt. Franz Rosenzweig erklärt: „Leben und Dasein decken einander – noch nicht.“29 Gerade, weil sich beide noch immer nicht decken, ist das Neue Denken so unverzichtbar, wie es im Jahr 1921 gewesen ist. LITERATURVERZEICHNIS Buber, Martin: Ich und Du (Mit einem Nachwort von Bernhard Casper), Stuttgart 2008. Ebner, Ferdinand: Gesammelte Werke, Bd. 1: Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente, hg. von Michael Pfliegler und Ludwig Haensel, Wien 21952. Eucken, Rudolf: Die seelischen Forderungen der Gegenwart, in: Frankfurter Zeitung, 25. Dezember 1917. Maimonides, Moses ben: Führer der Unschlüssigen, hg. von Adolf Weiß, Hamburg 21995. Rosenzweig, Franz: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984. Ders.: Das Neue Denken, in: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, S. 139–161. Ders.: Hermann Cohens Nachlaßwerk, in: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, S. 229–233. Ders.: Der Stern der Erlösung, Frankfurt a.M. 1988. Ders.: Das Büchlein vom gesunden und vom kranken Menschenverstand, hg. von Nahum Norbert Glatzer, Frankfurt a.M. 1992. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a.M. 2003.
29 Rosenzweig (1988), Stern, II, III, S. 249.
KONKRETE THEOLOGIE: KIRCHE, DOGMA, SAKRAMENT Eine Skizze zum Weg Erik Petersons Roger Mielke Erik Peterson (1890–1960) ist keine Gestalt in der vordersten Reihe des theologiegeschichtlichen Gedächtnisses – zumindest nicht in der Perspektive evangelischer Theologie. Ein ihn ehrender Sammelband aus dem Jahr 2011 nennt Peterson schon im Titel „Outsider“, bescheinigt ihm aber gerade als solchem eine erstaunliche „Präsenz“.1 Zu dieser Präsenz des Außenseiters in aktuellen Debatten und Diskursen soll im Folgenden einiges gesagt werden. Vorher aber einige Worte zum hier vorgelegten Beitrag: Dieser hat die Absicht, einen Zugang zu Person und Werk Petersons zu eröffnen. Der erste Teil soll in das Werk Petersons einführen am Leitfaden eines Zentralbegriffes, der schon im Titel dieses Beitrages betont wird: In Petersons Theologie geht es um Konkretion. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen wird ein Schlüsseltext Petersons stehen, sein Vortrag Was ist Theologie? aus dem Jahr 1925.2 In einem zweiten Teil wird es um Petersons Leben gehen und um seine oben angedeutete Aktualität und Präsenz. Der dritte Abschnitt wird sehr knapp einige zentrale Texte Petersons behandeln – vor allem mit dem Ziel, für eine eigene Lektüre dieser funkelnden Kostbarkeiten zu gewinnen, die im Übrigen kurz sind und gut zu lesen – der jüdische Religionswissenschaftler Jacob Taubes (1923–1987) schrieb einmal, Peterson sei ein „glänzender Stilist“, begabt mit einem Talent zur rhetorischen Eskalation.3 Im abschließenden und resümierenden Abschnitt geht es um die Frage, ob Erik Peterson, ursprünglich lutherischer Theologe und, aus Verzweiflung an seiner evangelischen Kirche, an Weihnachten 1930 in Rom zur römisch-katholischen Kirche übergetreten, als ein Lehrer für eine ökumenische Kirche der Zukunft verstanden werden kann, als ein Theologe, der für eine gemeinsame katholische Tradition der heute noch getrennten Konfessionen steht. Diese Frage steht auch in dem größeren Kontext dieses Sammelbands, der sich ja auch der Frage widmet, welche Ressourcen die Theologiegeschichte der 1920er Jahre noch birgt. Nicht nur an Peterson, vielleicht aber doch besonders an der Gestalt dieses „Outsiders“, beeindruckt, mehr noch als die zeitgebundenen Antworten, der Problemüberschuss, der auch über den historischen Graben von einhundert Jahren hinweg noch Kraft entfalten kann. Gerade mit Blick 1 2 3
Caronello (2012): Erik Peterson. Peterson (1994): Was ist Theologie? Taubes (1987): Ad Carl Schmitt, S. 14.
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auf die großen geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts werden die 1920er Jahre, wie in ähnlicher Weise übrigens die Zeit nach 1810, als Ära eines epochalen Wandels wahrnehmbar, in der sich, in vielfältigen Genealogien stehend, ein Problemknoten schürzte, der sich in den folgenden Dezennien wieder in die einzelnen Fäden auseinanderfaltete, die noch die geistige Signatur unserer Zeit formen. Manches davon beginnt gegenwärtig wieder zu sprechen. 1. DAS PROGRAMM EINER KONKRETEN THEOLOGIE In einem Brief vom 23. Juni 1925 berichtete Peterson von Bonn aus, wo er seit dem Wintersemester einen Lehrstuhl für Neues Testament und Kirchengeschichte innehatte, an Karl Barth (1886–1968) in Göttingen: „Lieber Herr Barth! Von der Bonner Theologenschaft aufgefordert, habe ich kürzlich einen Vortrag über die Frage Was ist Theologie? gehalten. Der Vortrag hat Skandal und Sensation hervorgerufen. Mit Scharren und Trampeln wurde er vor einem Publikum, das zu gleichen Hälften aus Katholiken und Protestanten bestand, zu Ende geführt. Ich halte das von mir Gesagte für das Beste, was ich bisher gemacht habe. In ca. 14 Tagen wird der Vortrag erscheinen und Ihnen zugehen.“4
Der Vortrag erschien dann tatsächlich im Sommer 1925 im Verlag Friedrich Cohen in Bonn, in einer renommierten Reihe, in der u.a. Martin Heidegger (1889–1976), Karl Mannheim (1893–1947), Max Scheler (1874–1928) und Helmuth Plessner (1892–1985) veröffentlichten. Redakteur dieser Reihe war Vittorio Klostermann (1901–1977), der später seinen eigenen Verlag gründete, der zu den einflussreichsten Publikationsorten deutschsprachiger Philosophie gehörte und gehört – etwa durch die Publikation der Heidegger-Gesamtausgabe. In dieser intellektuellen Liga spielte Peterson. Die Losung Konkrete Theologie ist Petersons Antwort auf die selbst gestellte Frage Was ist Theologie?. Theologie, so Peterson, ist, sofern sie überhaupt Theologie ist, konkret. Der Theologie seiner Antipoden warf Peterson vor, abstrakt zu sein. Damit meinte Peterson sowohl die liberale neuprotestantische Theologie, gegen die er sich in gemeinsamer Gegnerschaft mit Karl Barth und seinem Kreis verbunden wusste, als auch Barth selbst und die Anhänger der sog. Dialektischen Theologie. Liberale und Dialektische Theologie sind, nach Peterson, abstrakte Theologien. In welchem Sinne nun ist Theologie konkret und nicht etwa abstrakt? Hören wir Peterson selbst auf diese Frage antworten: „Die Theologie ist der konkrete Vollzug dessen, daß der Logos Gottes konkret von Gott geredet hat, so daß es also konkrete Offenbarung, konkreten Glauben und konkreten Gehorsam gibt.“5 Das heißt dann weiter so: „Theologie gibt es nur in der Zeit zwischen Christi erster und zweiter Ankunft. Das schließt weiter in sich, daß, so gewiß wie Christus bei seiner Ankunft einen Leib angenommen hat, um konkret in die Menschenwelt einzugehen, so konkret nun auch die Offenbarung Gottes den 4 5
Peterson (2009): Theologie und Theologen, Bd. 2, S. 221. Peterson (1994): Was ist Theologie?, S. 13.
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Menschen ‚auf den Leib gerückt ist’. Der objektive und konkrete Ausdruck aber dafür, daß Gott in der Menschwerdung den Menschen auf den Leib gerückt ist, ist das Dogma. Es ist so sehr der adäquate Ausdruck für diesen Sachverhalt, daß jede Wendung gegen das Dogma, wie sie etwa der Ketzer unternimmt, sinnvollerweise auch eine am Leibe des Ketzers vorgenommene Bestrafung im Gefolge hat.“6
Ein Plädoyer für die Ketzerverbrennung spricht Peterson hier aus, elegant formuliert zwar, aber nichtsdestoweniger gewalttätig, eine rhetorische Eskalation. Wozu dient Peterson dieser Gedankengang? Peterson insistiert darauf, dass Theologie ihren Grund im Dogma hat, das keineswegs, wie Adolf von Harnack (1851–1930) urteilte, eine hellenistische Umdeutung des schlichten Evangeliums von der Vaterliebe Gottes ist. Vielmehr ist das Dogma, nach Peterson, direkte Fortsetzung der Inkarnation des Logos, und damit eine auch leibhafte Inanspruchnahme des Menschen. „Sinnvollerweise“ (!) also sei der Irrlehrer und der Irrgläubige am Leib zu bestrafen – und nicht etwa nur in der diskursiven Arena der theologischen Debatte zu widerlegen oder im Rahmen eines kirchenamtlichen Lehrzuchtverfahrens zu untersuchen und zu sanktionieren. Für die theologischen Zeitgenossen lag gerade in dieser Provokation ein dankbar genutzter Ansatz für Anti-Polemik. Das zeigt etwa die Reaktion von Friedrich Gogarten (1887–1967) aus dem Kreis um Karl Barth. Er lässt eine Rezension von Was ist Theologie? in diesen Spitzensatz Petersons münden, um, ausgehend von dieser offenkundigen Absurdität, den Gegner ironisierend zu erledigen: Die Polizei werde ihn, Peterson, schon vor den Konsequenzen seiner eigenen Theologie bewahren.7 Karl Barth selbst war angefasster und bescheinigte Peterson in einem Brief an Rudolf Bultmann (1884–1976) vom 25. September 1925: „Ich habe lange nichts gelesen, was mich so angeregt und geärgert hätte wie diese glänzenden und in jeder Beziehung unverschämten Pamphlete…“.8 Aus der Sicht Barths, Bultmanns und weiterer Autoren der Dialektischen Theologie, etwa Georg Merz´ (1892–1959) und Friedrich Thurneysens (1888–1974), war Peterson ein Gefährte im Kampf gegen die Generation der eigenen theologischen Lehrer, gegen die Subjektivitätstheologie der liberalen Kulturprotestanten, verkörpert etwa in Adolf von Harnack, in der Schule Albrecht Ritschls (1822–1889), Wilhelm Herrmann (1846– 1922), Ernst Troeltsch (1865–1923) und anderen. Aber Petersons Zugehörigkeit zu dieser antiliberalen Kampfgemeinschaft war durchaus fraglich, denn Peterson wurde schon in den frühen 1920er Jahren „katholisierender Neigungen“ verdächtigt. Das Programm, das er auf den wenigen Seiten seines Vortrags Was ist Theologie? mehr polemisch skizziert als systematisch entfaltet, richtet sich zum einen gegen eine im schlechten Sinne „dialektische“ Theologie des Neuprotestantismus, die den Zugang zur theologischen Begriffsbildung
6 7 8
Ebd. Vgl. Peterson (2009): Theologie und Theologen, Bd. 2, S. 243. A.a.O., Bd. 2, S. 227. Neben Was ist Theologie? war das andere dieser „Pamphlete“ der in Zwischen den Zeiten, also der Zeitschrift der Dialektischen Theologie, ebenfalls 1925 erschienene Aufsatz Der Lobgesang der Engel und der mystische Lobpreis, jetzt: Peterson (1995): Lobgesang der Engel.
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über die religiöse Erfahrung oder gar über das Erlebnis zu gewinnen versuchte. Petersons Angriff richtete sich zum anderen aber auch gegen die Dialektische Theologie, der er vorwarf, „daß er [scil. der Dialektiker] vor lauter Ernstnehmen nicht zum Ernst kommt“, der eben darin liege, dass Gott auf „undialektische“ Weise gesprochen hat, indem der Logos Mensch geworden ist. „Undialektisch“ heißt hier im doppelten Sinne so viel wie „unzweideutig“: zum einen als Ereignis und zum anderen als sich auf das Ereignis beziehende Rede, weil man nicht gleichzeitig und in der gleichen Hinsicht sagen kann, dass Gott Mensch und dass er nicht Mensch geworden ist. Als Folie für diese Spitze gegen die Dialektische Theologie dient Barths berühmter Satz aus dem Vortrag Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie von 1922: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und NichtKönnen, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“9 Für Peterson sind derartige Paradoxien immer Frivolitäten, weil man mit ihrem Gebrauch nicht mehr ernst nehme, dass Gott leibhaft geredet hat. Dort aber, wo die Inkarnation ernst genommen wird, müsse gehorsam und daher mit Autorität und damit undialektisch geredet werden. Peterson stellt fest, dass „der realistische Charakter der theologischen Erkenntnis mit dem Realcharakter der Offenbarung in Verbindung steht.“10 Der „Realcharakter“ der Offenbarung Gottes in Christus führt aber dazu, dass jede dialektische, also schwebende und uneindeutige Redeform unstatthaft ist. Theologie gründet in der Autorität des menschgewordenen Gottessohnes und hat damit, wenn sie diesem gegenüber gehorsam ist, selbst Autorität: „Theologie gibt es nur unter der Voraussetzung der Autorität der Propheten und der Autorität Christi – mit anderen Worten, die in der Theologie sich manifestierende Autorität ist abgeleitete Autorität.“11 Dieser Gedankengang kann aber nur plausibel sein, wenn, neben dieser spezifischen Ortsgebundenheit der Theologie, ihrem Gewiesensein an den Ort der Inkarnation, auch die spezifische Zeitlichkeit der Theologie mitgedacht wird. Sie ist kein zeitloses Wissen, das wäre abstrakt, sie hat vielmehr ihr besondere, ihre konkrete, Zeit. Theologie hat ihre Zeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten einerseits und der Parusie, der Wiederkunft Christi, andererseits. Dies aber ist die Zeit der Kirche. In dieser Zeit gibt es das Dogma, für Peterson im Singular als der eine trinitarischchristologisch-pneumatologische Aussagezusammenhang, in dem die spezifische, abgeleitete Autorität der Kirche beruht. Und es gibt in der Zeit zwischen Himmelfahrt/Pfingsten und der Parusie das Sakrament, in welchem Präsenz des menschgewordenen und erhöhten Herrn unter der Bedingung seiner Abwesenheit widerfährt. Der konkreten Autorität der Kirche und dem konkreten Gehorsam der Gläubigen entspricht die konkrete, leibhafte, undialektische Präsenz Christi im Sakrament, die Realpräsenz, um es mit einem Kunstwort der Sakramententheologie zu bezeichnen. Peterson schließt: „Wenn Christus uns auch vom Gesetze frei gemacht hat, so doch
9 Barth (1929): Das Wort Gottes, S. 158. 10 Peterson (1994): Was ist Theologie?, S. 6. 11 A.a.O., S. 11.
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nicht vom Gehorsam. In dem Augenblick aber, wo das Dogma hinfällt, in demselben Augenblick verfallen wir wieder dem Gesetz.“12 An die Stelle der umgrenzten und gebundenen dogmatischen Autorität tritt dann nach Peterson eine nur scheinbar plausiblere moralische Autorität. 2. ERIK PETERSON: EINE BIOGRAPHISCHE SKIZZE Zunächst einige Bemerkungen zu Petersons Biographie: Am 7. Juni 1890 wurde Erik Peterson in Hamburg geboren und dort starb er auch am 26. Oktober 1960.13 Sein Vater war Inhaber einer gymnastisch-orthopädischen Heilanstalt, wir würden heute sagen Physiotherapeut, selbständiger Unternehmer von durchaus wohlhabend-respektabler bürgerlicher Statur. Seine Mutter, eine geborene Grandjean, hatte hugenottische Wurzeln. Erik Peterson absolvierte in den Jahren 1910 bis 1914 das Studium der Evangelischen Theologie in Straßburg, Greifswald, Berlin, Göttingen und Basel. Von 1914 bis 1924 wirkte er in Göttingen, wo er das Amt des stellvertretenden Inspektors im Theologischen Stift, dem Wohnheim der Theologischen Fakultät, versah. Inspektor war übrigens der bedeutende und wegen seiner späteren nationalsozialistischen Option berüchtigte Emanuel Hirsch (1888–1972), der Peterson in unversöhnlicher Gegnerschaft gegenüberstand. Peterson fand seinen geistlichen Ort im Pietismus der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV). Noch viel später hat er den Ernst der pietistischen Prägung als wesentlichen Einfluss für seine Konversion bezeichnet. Den Pietistenvätern und Gestalten der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts hat er in seinen Vorlesungen liebevolle Porträts gewidmet.14 Peterson wurde im Jahr 1920 in Göttingen promoviert und gleichzeitig habilitiert mit einer Arbeit zu antiken Inschriften, welche die Akklamation Heis Theos, also die Anrufung des einen Gottes, belegen. Erst 1926 veröffentlicht, gilt dieses Buch bis heute als ein Referenzwerk der Monotheismusforschung, das im Rahmen der Ausgewählten Schriften unter Federführung des Berliner Patristikers Christoph Markschies im Jahr 2012 in einer überarbeiteten, ergänzten und kommentierten Edition neu veröffentlicht wurde.15 Zeitgleich mit dem gerade erst auf den Lehrstuhl für reformierte Theologie nach Göttingen gewechselten Karl Barth wirkte Peterson in den Jahren 1920 bis 1924 als Privatdozent für Kirchengeschichte und Christliche Archäologie. 1924 wurde er nach Bonn auf einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Neues Testament berufen. Er fand dort Anschluss an einen Kreis katholischer Persönlichkeiten. Besonders wichtig wurde seine freundschaftliche Verbundenheit mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985), der seit 1921 in Bonn lehrte (bis 1928). Wichtige Texte dieser Zeit sind der oben besprochene Vortrag Was ist Theologie? und ein kleiner, im Jahr 1929 bei C.H. Beck in München veröffentlichter Traktat Die 12 13 14 15
A.a.O., S. 16. Vgl. zum Ganzen: Nichtweiß (1994): Erik Peterson. Vgl. Peterson (2009): Theologie und Theologen, Bd. 1, S. 353–553. Peterson (2012): Heis Theos.
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Kirche, in dem Peterson, inspiriert wohl auch von juristischen Kategorien des Schmittschen Dezisionismus, den „öffentlich-rechtlichen Charakter des christlichen Gottesdienstes“16 feststellt und „die Möglichkeit der Kirche zu dogmatischen Entscheidungen“ bekräftigt – in prononcierter Wendung gegen eine kirchenpolitische und theologische Gesamtlage, die nach Petersons Ansicht aufgrund der nach 1918 vollzogenen Trennung von Staat und Kirche zum Rückzug des Christentums in die Privatheit führe: „Die Kirche hört auf, eine ‚öffentliche‘ Größe zu sein“.17 Seine wachsende Distanz zur evangelischen Kirche ließ Peterson auch seine Lehrverpflichtung im Rahmen der evangelisch-theologischen Fakultät mühsamer werden, so dass er sich 1929 zunächst auf eigenen Wunsch beurlauben, im Jahr 1930 dann akademisch entpflichten ließ. Schon im Jahr 1928 hatte Peterson sich, inzwischen in München lebend, in der römisch-katholischen Kirche in den Katechumenenstand aufnehmen lassen. Nach zweijährigem Katechumenat wurde er katholisch getauft und die Konversion dann zu Weihnachten 1930 in Rom vollzogen. In den folgenden Jahren lebte er zwischen München und Rom, bis er 1933 die aus römischer Familie stammende Matilde Bertini heiratete und angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung, der Peterson in kompromissloser Ablehnung gegenüberstand, seinen Wohnsitz ganz nach Rom verlegte. Seiner universitären Wirkungsmöglichkeit verlustig gegangen, blieb Peterson in Deutschland präsent durch eine Reihe von Vorträgen, etwa auf Kongressen des Katholischen Akademikerverbands, aus denen weitere bedeutende Arbeiten hervorgingen: Der Traktat Von den Engeln (1935), der weiter unten zu besprechen ist; und der Traktat Zeuge der Wahrheit (1937), eine angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen besonders wirksame und aktuelle Besinnung auf die eigentümlich zentrale Rolle des Märtyrers in der Kirche. Peterson lebte zu jener Zeit in Rom ohne feste Stelle, als Konvertit nicht ohne Misstrauen gesehen, mit bald fünf Kindern in bitterster Armut. Eine Assistenzstelle am Päpstlichen Institut für christliche Archäologie wurde erst im Jahr 1947 in ein Extraordinariat umgewandelt, so dass Peterson ein geregeltes Einkommen zur Verfügung stand. Seine in den 1950er Jahren entstandenen historischen Arbeiten18 festigten Petersons Ruf als brillanter Gelehrter, so dass er 1956 noch einen Ruf auf ein Ordinariat erhielt. Nachdem Petersons Aufsätze der 1920er und 1930er Jahre 1951 als Theologische Traktate und eine Sammlung kleinerer Arbeiten 1956 als Marginalien zur Theologie im Kösel-Verlag in München publiziert worden waren, blieb Peterson auch durch Vortragstätigkeit weiter in Deutschland präsent. Auf einer dieser Vortragsreisen schloss sich sein Lebenskreis: Im Jahr 1960 starb Peterson in seiner Vaterstadt Hamburg.
16 Peterson (1994): Die Kirche, S. 253. 17 A.a.O., S. 255. 18 Unter dem Titel Frühkirche, Judentum und Gnosis. Studien und Untersuchungen im Jahr 1959 gesammelt auf Deutsch veröffentlicht: Peterson (1982): Frühkirche.
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3. ERIK PETERSON: ZUR PRÄSENZ DES AUßENSEITERS In der evangelischen Theologie ist Erik Peterson weithin vergessen. Aufmerksame Studierende begegnen ihm am ehesten noch in zwei Zusammenhängen: Zum einen in der Diskussion der Frage, ob und in welchem Ausmaß Peterson Einfluss hatte auf die Umgestaltung der Theologie Karl Barths von der Dialektischen Theologie der früheren 1920er Jahre hin zur Kirchlichen Dogmatik. Eberhard Jüngel brachte diesen Wandel auf die Formel „von der Dialektik zur Analogie“ und sah wesentliche Impulse für diesen Wandel von der Begegnung Barths mit Peterson in Göttingen in den Jahren 1923/24 ausgehen.19 Der andere Zusammenhang ist noch präsent, verblasst aber langsam. Er besteht über die bedeutenden Exegeten des Neuen Testaments Ernst Käsemann (1906–1998)20 und Heinrich Schlier (1900–1978).21 Beide waren Schüler Petersons in seiner Bonner Zeit. Schlier, bayerischer Lutheraner und Glied der Bekennenden Kirche, war ab 1945 Nachfolger auf Petersons Bonner Lehrstuhl, ging aber, wie Peterson, den Weg der Konversion und lehrte nach 1952 als Glied der Philosophischen Fakultät in Bonn. In der römischen Kirche wird der geborene Lutheraner und konvertierte Katholik Peterson ungleich höher geschätzt als in der evangelischen Kirche und Theologie. Die maßgebliche Monographie zu Leben und Werk Petersons, das monumentale Werk von Barbara Nichtweiß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, wurde von dem inzwischen verstorbenen Mainzer Bischof und Kardinal Lehmann (1936–2018) angeregt und begleitet.22 Die ebenfalls von Barbara Nichtweiß betreute und inzwischen schon weit gediehene Peterson-Werkausgabe wurde unter dem Patronat des Kardinals publiziert, der sich auch päpstlicher Aufmerksamkeit und Unterstützung sicher sein konnte: Joseph Ratzinger hat aus seiner ausdrücklichen Hochschätzung Petersons nie einen Hehl gemacht. Hoher Aufmerksamkeit erfreut sich Petersons Werk heute zudem im Feuilleton und in den Debatten insbesondere der Kulturphilosophie und der politischen Philosophie. Die andauernde Konjunktur der Politischen Theologie des berühmt-berüchtigten Staatsrechtlers Carl Schmitt lenkt Aufmerksamkeit auf die Querverbindungen von dessen Werk zu dem Erik Petersons.23 Peterson und Schmitt waren Kollegen in Bonn und über Jahre hinweg eng befreundet, bis es in den unterschiedlichen Stellungnahmen zum Nationalsozialismus Mitte der 1930er Jahre zum Bruch zwischen ihnen kam. Die Frage der Politischen Theologie ist keineswegs nur in deutschsprachigen Debatten präsent: Peterson wird in Frankreich etwa von Alain Badiou gelesen, einem der letzten Apologeten Stalins und Maos, der nach dem Verblassen aller revolutionären Hoffnungen mit Peterson in der Lektüre des Apostels die Verheißung des großen messianischen, transformativen Neuanfangs findet.24 In 19 20 21 22 23 24
Jüngel (1982): Dialektik zur Analogie; Nichtweiß (2005): Lebendige Dialektik. Röhser (2014): Der Neutestamentler Peterson. Schlier (1980): Erik Peterson; Bendemann (1995): Heinrich Schlier. Nichtweiß (1994): Erik Peterson. Schmitt (2009): Politische Theologie. Badiou (2018): Paulus.
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Italien liest Giorgio Agamben Peterson ebenfalls von links und findet in ihm die Legitimation und Projektion ökonomischer und politischer Macht in einer „Ökonomie des Himmels“,25 übrigens mit schärfsten Spitzen gegen Badiou.26 Peterson ist also in den Debatten der Gegenwart sehr präsent: bei Apokalyptikern linker und rechter Provenienz, bei konservativen römischen Katholiken, und auch bei überzeugten Ökumenikern.27 In der evangelischen Theologie allerdings gibt es Nachholbedarf. Warum gerade hier dieses Defizit? Nur sehr holzschnittartig lässt sich hier festhalten, dass wesentliche Elemente der Konstellation, auf die Peterson mit seiner Konversion reagiert hat, unverändert prägend sind für die Gestalt zumindest des landeskirchlichen deutschen Protestantismus, aber auch weiter Teile der Mainstream-Denominationen in der englischsprechenden Welt: Betonung der religiösen Subjektivität, Privatisierung des Glaubens, Auflösung der liturgischen Formen, schwindende Spiritualität, schwache Institutionalität und kritische Grundhaltung gegenüber der dogmatischen Bindung und Lehrverpflichtung. Von den einen wird Petersons Theologie als geistiges Rüstzeug für die politische Revolution gelesen, von den anderen als scharfes Antidot gegen modernistische Auflösungstendenzen der dogmatischen Substanz der evangelischen Kirche gepriesen. Er steht quer zum Niedergang einer kirchlichen Lehrautorität, quer zur Auflösung der Schriftautorität, quer zu einem Verständnis des Gottesdienstes, dass diesen im Gefolge Schleiermachers als darstellendes Handeln der Kirche versteht. Mit einem Wort: Peterson steht quer zu sämtlichen Prämissen des Neuprotestantismus, die nach dem Intermezzo der Bekennenden Kirche und ihrer Epigonen seit der 68erEpochenzäsur die kirchliche Gestalt des Protestantismus prägen. Die wesentlichen Stichworte von Petersons Theologie wirken in dieser Konstellation ähnlich provozierend wie sein oben dargestelltes Diktum zur Ketzerverbrennung. Peterson formuliert eine dezidiert dogmatische Theologie. Kirche ist für ihn dort, wo es das Dogma als verbindliche Lehre gibt und wo man Mut hat zur dogmatischen Entscheidung, die die Entscheidung Gottes für die Welt nachspricht. Petersons Theologie ist dezidiert Theologie als Schriftauslegung im Raum des biblischen Wirklichkeitsverständnisses zwischen der Erhöhung Christi und der Parusie. Diese Theologie hat ihr spezifisches Zeitregime, sie verortet sich selbst in der Vorläufigkeit, unter den Bedingungen des eschatologischen Vorbehalts: in Christus ist der neue Äon schon angebrochenen, der alte Äon ist überwunden, aber faktisch noch mächtig. Und: Petersons Theologie ist dezidiert liturgische Theologie: Er versteht den Gottesdienst als Festversammlung der himmlischen und der irdischen Kirche vor dem Thron Gottes, die Ekklesia als Vollversammlung der himmlischen und der irdischen Polis. Wird also doch das Katholische im Sinne des gemeinsam Christlichen und Ökumenischen sehr römisch buchstabiert? Ja, aber doch mit der wichtigen Einschränkung: mehr katholisch als römisch! Bei allem Sinn für die auch juridische,
25 Agamben (2007): Die Beamten des Himmels; ders. (2012): Die Zeit. 26 Amüsant und zusammenfassend: Lilla (2009): Lenins Nachfolger. 27 Stoll (2017): Öffentlichkeit der Christus-Krise.
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mehr öffentlich-rechtliche als privatrechtliche Dimension der Kirche, bewahrt Peterson einen starken Sinn für die Vorläufigkeit der rechtlichen Gestalt der Kirche. Er sieht, vermutlich auch angesichts seiner vatikanischen Frustrationserfahrungen der Jahre nach 1933, die Gefahr einer hierarchischen Verhärtung kirchlicher Strukturen, wenn sie unter den Einfluss säkularer Souveränitätstheorien geraten und nicht mehr durch eschatologische Spannung und liturgische Verankerung gleichsam geschmeidig gehalten werden. Peterson zeichnet nicht das Bild einer in der politischen und gesellschaftlichen Arena triumphierenden Kirche, sondern dasjenige einer Kirche, die in ihrer eigentlichen Gestalt in der Martyria, präzise: im Leiden der Märtyrer, aufleuchtet. 4. ZENTRALE TEXTE Gab es die Texte Petersons bis in die 1990er Jahre hinein nur als antiquarisch gehandelte Raritäten, sind sie heute in der seit 1994 maßgeblich von Barbara Nichtweiß betreuten Ausgabe der Ausgewählten Schriften neu zugänglich.28 Die beiden ersten Bände versammeln erweiterte Neuausgaben von Sammlungen der 1950er Jahre, in denen die wirkmächtigen Aufsätze versammelt sind.29 Eine weitere Abteilung sind die Ausgaben von Petersons zum größten Teil unveröffentlichten exegetischen Vorträgen und Vorlesungen, etwa Band 4 mit Texten zur Offenbarung, Band 5 zum Lukas-Evangelium und Band 6 zum Römerbrief.30 Die Bände 9,1 und 2 umfassen bedeutende Briefwechsel, etwa den mit Karl Barth, und theologiegeschichtliche Skizzen.31 Der Briefwechsel mit Carl Schmitt, sicher von ideengeschichtlich größtem Interesse, ist nicht ediert. Im Anschluss sollen nun in aller Kürze vier zentrale Texte Petersons vorgestellt werden, die gerade in ihrer Zusammenstellung den Einblick in die geistige Physiognomie Petersons ermöglichen. 4.1. Von den Engeln 193532 Peterson fand sich in den 1920er Jahren in einem geistigen Umfeld wieder, in dem es vielfältige Versuche gab, gegenüber einem naturwissenschaftlichen Positivismus und einem Historismus, der Wirklichkeit ebenfalls rein immanent verstand, eine Metaphysik der Transzendenz wieder zu gewinnen. Friedrich Wilhelm Graf und Kurt Nowak sprachen von einer „antihistoristischen Revolution“ als geistiger Signatur der Zeit.33 Von größter Bedeutung war dabei die Losung der Phänomenologie 28 Zu dieser Edition kritisch: Graf (2010): Rez. zu Erik Peterson. 29 Peterson (1994): Theologische Traktate; (1995): Marginalien zur Theologie. 30 Peterson (2003): Offenbarung des Johannes; ders. (2005): Lukasevangelium; ders. (2012): Brief an die Römer. 31 Peterson (2009): Theologie und Theologen. 32 Peterson (1994): Von den Engeln. 33 Vgl. Graf (1988): Die antihistoristische Revolution; Nowak (1987): Die antihistorische Revolution.
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Zurück zu den Sachen, die von der Intentionalität des Bewusstseins her einen Zugang zum nicht empirisch Zugänglichen erkundete und in diesem eine eigene Form von Gegenständlichkeit erkannte. Diese Ansätze arbeitete Peterson zu einer apokalyptischen Ontologie aus, einem Wirklichkeitsverständnis, das von einem ontologischen Realismus inspiriert war, der sich mit Hilfe von biblischen und dogmatischen Kategorien orientierte. Man kann von einem biblisch-trinitarischen Realismus sprechen, der sich etwa darin äußert, dass Peterson mit einer erfahrbaren Wirklichkeit himmlischer und dämonischer Mächte rechnete. Nur vor dem Hintergrund dieses Wirklichkeitsverständnisses lässt sich ein Werk wie das Buch Von den Engeln verstehen. Es spricht von einer eigentlichen Wirklichkeit, die größer und umfassender ist als die halbierte naturwissenschaftliche und auch geschichtswissenschaftliche Ontologie. Das Buch Von den Engeln, 1935 publiziert, wurde auch als Teil einer innerkatholischen Selbstverständigung verstanden, in der es um eine strikte Abgrenzung vom Nationalsozialismus ging, auch im Gegenüber zu Stimmen, die, scheinbar auf der Höhe der Zeit, eine Akkommodation an die nationale oder gar nationalsozialistische Ideologie erprobten.34 Das Buch Von den Engeln geht im Kern auf einen schon 1924 in Zwischen den Zeiten erschienen Aufsatz, Der Lobgesang der Engel und der mystische Lobpreis, zurück.35 An einer zentralen Stelle des Engelbuches schreibt Peterson: „Wenn die Kirche das irdische Jerusalem und seinen Tempel verlassen hat und sich auf der Wanderschaft nach dem himmlischen Jerusalem und seinem Tempel befindet, dann tritt sie notwendigerweise auch mit den Bewohnern der Himmelsstadt […] in eine durch den Kult vermittelte Beziehung. Alle Kulthandlungen der Kirche wären dann entweder als eine Teilnahme der Engel am irdischen Kult, oder umgekehrt, aller irdische Kult der Kirche wäre als ein Teilnehmen an dem Kult, der Gott im Himmel von den Engeln dargebracht wird, zu verstehen.“36
Peterson bestimmt das Evangelium als „Kunde von der Thronbesteigung Christi“,37 als Anbruch der eschatologischen Realität. Diese ist unter den Bedingungen der ersten Ankunft Christi und der vergehenden Zeit noch verborgen, sie ist „Mysterion“, als solches aber ausgespannt auf die zweite Ankunft Christi, auf die „Apokalypsis“. In der schon eschatologisch bestimmten Zwischenzeit zwischen erster und zweiter Ankunft Christi stehen der „alte Äon“ der geschichtlichen Zeit und der „neue Äon“ der durch Christi Königsherrschaft ausgezeichneten Zeit im Verhältnis des Konflikts, ja eines agonalen Gegeneinanders. Die Kirche existiert nur unter den Bedingungen dieser Agonalität – als schon eschatologische Größe in der Anteilhabe am himmlischen Gottesdienst und als noch politische Größe im Zusammenstoß mit den politischen Mächten der Welt, die als „totale“ Mächte selbst religiöse Qualität erlangen und gleichsam kultische Verehrung fordern. In diesem Denkmodell konnte Peterson dem Zugriff des nationalsozialistischen Terrors auf die Kirche eine geschichtstheologische Plausibilität abgewinnen – und gleichzeitig ein theologisch
34 35 36 37
Vgl. Flasch (2021): Katholische Wegbereiter. Peterson (1994): Von den Engeln; Peterson (1995): Marginalien zur Theologie. Peterson (1995): Der Lobgesang der Engel, S. 198f. Peterson (2012): Brief an die Römer, S. 13.
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inspiriertes und in „konkreten“ Praktiken, etwa im Gottesdienst, verankertes Widerstandspotential mobilisieren. 4.2 Briefwechsel mit Adolf Harnack und ein Epilog38 und Die Kirche aus Juden und Heiden39 Im Jahr 1932 veröffentlichte Peterson in der katholischen Zeitschrift Hochland einen Briefwechsel, den er mit dem Theologen Adolf von Harnack, der wohl bedeutendsten Gestalt der liberalen Theologie, im Jahr 1928 geführt hatte. Peterson versah den Briefwechsel mit einem ausführlichen Epilog, einer Art Kommentar, der auch so etwas wie eine Rechenschaft über den Grund seiner Konversion im Jahr 1930 sein sollte. Für diese Konversion, die im evangelischen und katholischen Deutschland durchaus Beachtung gefunden hatte, machte man von liberaler Seite den Einfluss Karl Barths mit verantwortlich, auch um Barth persönlich und theologisch gleich mitzuerledigen. Dem gegenüber wollte Peterson deutlich machen, dass der Prozess, der zu seiner Konversion führte, schon länger gedauert und sich auch im Briefwechsel mit Harnack schon ausgesprochen hatte. Harnack selbst war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon zwei Jahre verstorben. Im Kern geht es in dieser, im Ton vornehm geführten, Auseinandersetzung um die Ekklesiologie, um Wesen und Gestalt der Kirche. Ausgehend von der Frage, ob die moderne exegetische Forschung nicht das protestantische Schriftprinzip destruiert und als untauglich im Gegenüber zum katholischen Traditionsprinzip erwiesen habe, geht das Gespräch der beiden Theologen an der Frage entlang, welches die Folge dieser Krise des Schriftprinzips sei. Kirche, so Harnack, sei im Kern zwischenmenschliche religiöse Gemeinschaft, die nicht durch eine äußere oder formale Autorität zustande komme, sondern vielmehr ausschließlich „durch das Erfahrungs- und Glaubenszeugnis erweckter Personen“, „das Resonanz und Licht in anderen Personen hervorruft.“40 Damit, so die Erwiderung Petersons, habe die Kirche allerdings die ihr eigentümliche Gestalt, ihre „kosmisch-religiöse Öffentlichkeit“ aufgegeben, sie sei zu einer privaten Vereinigung einzelner Erweckter geworden, zu einem großen „Konventikel“, schlicht: zu einer Sekte. Nach Peterson hängt die der Kirche eigentümliche Form der Öffentlichkeit an der „dogmatischen Lehrautorität der Kirche“, 41 wo diese dahingefallen sei, blieben nur drei Auswege: 1. der in die „Vernunft“, eine rationale Rekonstruktion der alten Glaubenswahrheiten; 2. die gemüthafte Spiritualität einer „säkularisierten Mystik“; 3. die „Tat“, also ein praktisches Christentum der Nächstenliebe.42 Alle diese Wege wurden schon in den 1920er Jahren beschrit-
38 39 40 41 42
Peterson (1994): Briefwechsel. Peterson (1994): Die Kirche aus Juden und Heiden. Peterson (1994): Briefwechsel, S. 179. A.a.O., S. 183. A.a.O., S. 189.
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ten, keiner führe aber, so Peterson, zu dem Ziel, die verloren gegangene Öffentlichkeit der evangelischen Kirche wiederherzustellen, sondern, sofern sie ernst genommen und zu Ende gegangen würden, „zurück“ in den Katholizismus. Im Jahr 1932 hatte Peterson seine persönliche und existentielle Antwort auf diese Aporie in Gestalt seiner Konversion schon zwei Jahre hinter sich. Eine sehr wesentliche ekklesiologische Frage wird in diesem Briefwechsel nicht angesprochen, liegt aber nahe, gerade mit Blick auf Petersons kompromisslose Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus: Was sagt Peterson vor dem Hintergrund seines Begriffes der Kirche über das Verhältnis von Kirche und Judentum? Seine Position in dieser komplexen Frage können wir hier nur andeuten. Im Jahr 1933, also noch zu Beginn der antisemitischen und antijüdischen Exzesse des Nationalsozialismus und des Schweigens der Kirche zu den ersten verbrecherischen Übergriffen, hielt Peterson während der Salzburger Hochschulwochen eine Reihe von Vorträgen, die noch im gleichen Jahr, ebenfalls in Salzburg, im Verlag Friedrich Pustet unter dem programmatischen Titel Die Kirche aus Juden und Heiden veröffentlicht wurden.43 Im Kern umfassen diese Vorträge eine Auslegung der Kapitel 9 bis 11 des Römerbriefes am Leitfaden des Verhältnisses „der Synagoge zur Ekklesia“.44 Peterson deutet den Weg der Apostel von den Juden zu den Heiden als einen Weg von der „natürlichen Ordnung“45 des Volkes zu der übernatürlichen, das heißt pneumatischen Ordnung, in der Jesus der Kyrios und „Herr im Kosmos“46 ist. Dieser Weg dementiere aber keineswegs die Erwählung und Berufung Israels, vielmehr mache er jeden Versuch unmöglich, ein natürliches Volkstum als erwählt an die Stelle Israels zu setzen. Peterson kommentiert diesen Versuch völkischer Ideologen so: „In der Weltzeit ist und bleibt Israel allein das auserwählte Volk und keines der Heidenvölker kann je in das Volk Gottes aufgenommen werden oder gar den Versuch machen, die Rolle des auserwählten Volkes noch einmal zu spielen.“47 Und Peterson beobachtet mit klarem Blick, was diejenigen, die sich an Israel vergehen, auch sich selbst und ihrem eigenen Volk antun: „Der Heide, der den Glauben verliert, ist gar nichts mehr. Der Jude, der nicht an Christus glaubt, gehört doch immer noch zu dem edlen Ölbaume Gottes. Die Worte des Heiligen Paulus (Röm 11,19-21) erfahren eine furchtbare Bestätigung in der Gegenwart. Die christlichen Völker, die ihren Glauben verlieren, verfallen […] einem Maße der Verwilderung und Verwahrlosung, das den Juden unmöglich ist.“48
Bei allen Grenzen auch dieser Sicht Petersons gab es nur wenige Stimmen, die schon im Jahr 1933 in dieser Weise lehrten. Seine Worte fanden bekanntermaßen eine wahrhaft entsetzliche Bestätigung.
43 44 45 46 47 48
Peterson (1994): Die Kirche aus Juden und Heiden. A.a.O., S. 143. A.a.O., S. 150. A.a.O., S. 161. A.a.O., S. 156. A.a.O., S. 168.
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4.3 Der Monotheismus als politisches Problem49 Der Traktat Der Monotheismus als politisches Problem, im Jahr 1935 bei Jakob Hegner in Leipzig erschienen, ist die wohl folgenreichste und, die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen übergreifend, bis heute wirkmächtigste Schrift Petersons. Am Ende eines rein im Feld der Patristik argumentierenden und von umfangreichen wissenschaftlichen Anmerkungen umrankten Textes findet sich die überraschend grundsätzliche und weitreichende Schlussfolgerung: „Doch die Lehre von der göttlichen Monarchie mußte am trinitarischen Dogma und die Interpretation der Pax Augusta an der christlichen Eschatologie scheitern. Damit ist nicht nur theologisch der Monotheismus als politisches Problem erledigt und der christliche Glaube aus der Verkettung mit dem Imperium Romanum befreit worden, sondern grundsätzlich der Bruch mit jeder ‚politischen Theologie‘ vollzogen, die die christliche Verkündigung zur Rechtfertigung einer politischen Situation mißbraucht.“50
Vielen Beobachtern ist aufgefallen, dass die Grundsätzlichkeit der Schlussfolgerung sich kaum aus der vorbereitenden Argumentation ergibt.51 In welchem Sinne, so muss Peterson befragt werden, hängt der Monotheismus, und damit ja auch das Selbstverständnis des christlichen Glaubens an den einen Gott zusammen mit einer missbräuchlichen politischen Ideologisierung und Legitimation von Herrschaft? Und anders gewendet: Ist der Glaube an den dreieinigen Gott von vornherein als Plädoyer für differenzierte Herrschaft und damit avant la lettre für so etwas wie Gewaltenteilung zu lesen, auch hier also als direkter Durchgriff vom Gottesbegriff in die Konzeptualisierung des Politischen? Liberalen Lesarten des Politischen wie der Religion läge diese Interpretation sehr nahe. Auf der Hand liegt, dass ein Gottesgnadentum früherer Zeiten von der These getroffen ist, dass der Monotheismus als politisches Problem erledigt sei, vor allem und nächstliegend aber die totalitäre Herrschaft des Nationalsozialismus. Eine grundsätzliche und wirkungsgeschichtlich eminent folgenreiche Frontstellung allerdings findet sich nur verborgen im Text, in der letzten Anmerkung, Nr. 168, die darauf hinweist, dass der Terminus „politische Theologie“ von Carl Schmitt „in die Literatur eingeführt worden“ sei.52 In der Tat lässt sich der Monotheismustraktat insgesamt als eine Auseinandersetzung mit dem Gesprächspartner und Weggefährten der 1920er Jahre verstehen, der inzwischen ebenso energisch wie opportunistisch Position für den Nationalsozialismus bezogen hatte. Dazu wird im Rahmen dieses Sammelbandes an anderer Stelle aus berufenem Mund mehr gesagt. Hier nur so viel: Schmitt hatte im Jahr 1922 das dritte Kapitel seiner kleinen Schrift Politische Theologie mit einem wirkungsgeschichtlich ungemein folgenreichen Satz eröffnet: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“.53 Diese Verhältnisbestimmung 49 50 51 52 53
Peterson (1994): Der Monotheismus als politisches Problem. A.a.O., S. 58. Vgl. Caronello (2018): Monotheismus. Peterson (1994): Monotheismus als politisches Problem, S. 81. Schmitt (2009): Politische Theologie, S. 17.
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kann man von zwei Seiten her lesen. Für Schmitt lädt sich das Politische mit theologischer Potenz auf – es wird im Verlauf der 1920er Jahre für ihn zum „Totalen“, von dem her die wesentlichen Konfliktlinien bestimmt werden. 54 „Inzwischen haben wir das Politische als das Totale erkannt…“ heißt es in der zweiten Auflage der Politischen Theologie.55 Das „Totale“ aber ist das Politische, weil es die nach Schmitt elementarste aller Unterscheidungen des sozialen Lebens einführt, die „Dissoziation“ von „Freund und Feind“.56 Man kann die Verhältnisbestimmung von Theologischem und Politischem aber auch, wie Peterson, vom anderen Ende her lesen, vom Glauben an den dreieinigen Gott und dem damit gegeben Rahmen für das Politische. Die Kraft dieser theologischen Bestimmung zeigt sich gerade, wenn das Politische vom Konflikt, oder gar vom Agon, dem prinzipiellen und totalen Konflikt her, gedacht wird, wie Peterson das an der Gestalt des Märtyrers durchführt. An der Gestalt des Märtyrers zeigt sich die Essenz des Politischen, das religiöse Verehrung beansprucht und damit öffentlich wird. Es zeigt sich am Leib des Märtyrers aber auch die „Glorie Christi“, wie Peterson in seiner Auslegung des Martyriums des Stephanus in Apg 7 zeigt.57 An dieser Alternative des Vorrangs des Politischen oder des Theologischen zerbrach die Freundschaft zwischen Peterson und Schmitt, dem Peterson Opportunismus, mangelnden Charakter und mangelnde Ernsthaftigkeit unterstellte.58 Wie nun lässt sich Petersons Alternative zum totalisierten Politischen beschreiben? Die Kirche ist für Peterson eine politische Größe sui generis gerade im Zusammenstoß mit den politischen Mächten der Welt, die als totale Mächte einen totalen Anspruch an den Menschen stellen und sich damit selbst religiös aufladen. Das Politische, das sich totalisiert, hört nach Peterson auf, politisch zu sein. Es stellt sich selbst an die Stelle der Herrschaft Christi. Genau diese Versuchung und ihre katastrophalen Folgen in den totalitären Ideologien seiner Gegenwart identifiziert Peterson in den altkirchlichen Auseinandersetzungen um eine Theologie der göttlichen Monarchia, die als eine Legitimation der Herrschaft der (christlich gewordenen) Cäsaren dienen sollte. Er tat dies derart provozierend und treffend, dass Schmitt sich noch 35 Jahre nach der Auseinandersetzung des Jahres 1935 und dem Bruch mit Peterson veranlasst sah, mit einer eigenen Schrift auf Petersons „Erledigung“ zu antworten und ihn darin der Legendenbildung zu zeihen: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie.59
54 55 56 57 58 59
Vgl. Mielke (2019): Das Politische als Passion. Schmitt (2009): Politische Theologie, S. 43. Schmitt (1991): Der Begriff des Politischen, S. 27. Peterson (1994): Zeuge der Wahrheit, S. 108. Dazu Mielke (2012): Eschatologische Öffentlichkeit, S. 87, Anm. 54. Schmitt (2017): Politische Theologie II.
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4.4 Fragmente Noch auf eine letzte Textgattung soll hier hingewiesen werden. Mit seinen an der Schnittstelle zwischen dogmatischer und historischer Theologie angesiedelten kurzen, und doch so gewichtigen Aufsätzen hat Peterson sicher seine stärkste Wirkung erzielt. Vom Umfang her nehmen exegetische Vorlesungen und historische Arbeiten vor allem zu patristischen Themen allerdings die Hauptrolle in Petersons Schaffen ein. Die Vorlesungen wurden erst im Rahmen der Ausgewählten Schriften publiziert und auch die historischen Abhandlungen sind heute nur noch von wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung. Petersons Schaffen beschränkt sich aber nicht darauf. Er war auch ein geistlicher Schriftsteller von Rang. Einige dieser Texte sind von ihm selbst schon in Druck gegeben worden unter dem programmatischen Titel Fragmente, andere wurden in der Neuausgabe der Marginalien zur Theologie hinzugefügt.60 Programmatisch ist der Titel Fragmente deswegen, weil dieser Begriff für den dezidiert antisystematischen Theologiebegriff Petersons steht.61 Dass Theologie letztlich nur im Genus des Fragments formuliert werden kann, ist für Peterson ein existentieller Reflex der Tatsache, dass die Worte der Wissenschaft in einer fragmentierten Welt artikuliert werden. Sie sind wenig mehr Ordnungsfetzen zwischen dem Stückwerk des politischen Agon einerseits und der Vollkommenheit und Schönheit der ewigen Welt Gottes andererseits. In einer Widmung an den Verleger Jakob Hegner (1882–1962) zu dessen 70. Geburtstag im Jahr 1952 schreibt Peterson: „Ein gütiges Schicksal hat Sie davor bewahrt Kommerzienrat zu werden, und mich, Geheimrat zu werden. Wir sind beide Paröken in dieser Welt geworden und wissen darum, dass uns die Parökie für den Himmel bewahrt und für das ewige Leben jugendlich erhält, dann, wenn die Existenz aufhören und das Leben beginnen wird. Dann werden wir die Talare unserer Gelehrsamkeit zerreißen, und die abscheulichen – den Menschen entehrenden – Worte der Wissenschaft, werden nicht mehr über unsere Lippen kommen.“62
Theologie im Genus des Fragments bezieht sich aber auch auf Petersons „Metaphysik der Macht“,63 wie sie transparent wird in dem bedeutenden geschichtstheologischen Fragment,64 das sich an seinem Ende auf die biblische Gestalt des Judas bezieht. Judas verriet Jesus für dreißig Silbergroschen an die politischen (und religiösen) Machthaber. Dieser Judas wurde, so die Pointe der Auslegung Petersons, in der „historischen Dialektik“ zerrieben, die zwischen Macht und Geld waltet: „Die Frage, ob er der Verräter sei, kommt für Judas beim Mahle zum Ausdruck. Vor dem Mysterium (Sakrament), als es ausgeteilt wurde, wurde er dämonisch, das heißt der Herrscher des ‚gegenwärtigen Äons‘ fuhr in den Leib dessen ein, der sich der Lust des Dialektischen in dem Augenblick hingegeben hatte, in dem sich der neue Äon im Sakramente, unter der Gestalt der heiligen Eucharistie zu realisieren begann. Im sakramentalen Kommen des Königreiches ist die 60 61 62 63
Peterson (1995): Marginalien zur Theologie. Dazu ausführlicher Mielke (2019): Das Politische als Passion, S. 455–459. Peterson (1995): Jakob Hegner, S. 139. Zur Metaphysik der Macht vgl. Petersons Auslegung der lukanischen Versuchungsgeschichte, Lk 4, in: Peterson (2005): Lukasevangelium und Synoptica, v.a. S. 131–136. 64 Vgl. Peterson (1995): Marginalien zur Theologie.
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Roger Mielke Möglichkeit der historischen Dialektik endgültig aufgehoben. Es ist die Aufgabe der Kirche, durch das Sakrament das Historische in das Eschatologische aufzulösen. Die Aufhebung des ‚Historischen‘ ist also nicht ein Akt der Gnosis, sondern der im Sakrament sich realisierenden Menschwerdung Gottes.“65
Im Sakrament also liegt für Peterson das concretissimum: undialektische, durch und durch affirmative Präsenz der Wirklichkeit Gottes. In diesem Fragment werden die politischen Frontstellungen der Theologie Petersons deutlich: Nicht die ökonomisch determinierte marxistische Dialektik, nicht die hegelsche (in Petersons Lesart „gnostische“) Dialektik, die der Selbstverwirklichung des absoluten Geistes innewohnt, und erst recht nicht die pompöse „nominalistische“ Symbolik des Nationalstaates entziffern die Rätsel der Weltgeschichte, sondern die „im Sakrament sich realisierende Menschwerdung Gottes.“ Und nicht anders als dem Judas wird jedem Menschen auch heute noch die Frage gestellt, ob er sich von Macht und Geld in ihren unterschiedlichsten Gestalten will verzehren lassen – oder aus sakramentaler Präsenz leben wird, durch welche die Dialektik von Macht und Geld endgültig überwunden ist. 5. PETERSON: EIN LEHRER FÜR EINE ÖKUMENISCHE KIRCHE DER ZUKUNFT? Diese Einführung in die konkrete Theologie Petersons soll abgeschlossen werden mit einer aktualisierenden Schlussreflexion, die den Raum historisch ausgerichteter Präsentation verlässt und nach so etwas wie Petersons bleibendem Vermächtnis fragt. Könnte Peterson, der Konvertit, der seine bedeutendsten Arbeiten der Spannung zwischen den Konfessionen verdankte, die Konfessionen auch verbinden, nicht trennen? Könnte Petersons Theologie ein Orientierungspunkt sein für eine Kirche, die sich konfessionsübergreifend unter dem Druck umfassender sozialer, ökonomischer, technischer und politischer Wandlungsprozesse in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt wandelt? In der Summe also: Könnte Peterson zu einem Lehrer für eine ökumenische Kirche der Zukunft werden? Die Hürden für einen gegenwärtigen Zugang zu Petersons Denken sind, wie beschrieben, hoch. Muss man im Rückblick nicht feststellen, dass Harnacks Position aus dem Jahr 1928 den Lauf der Dinge und auch die Rolle von Kirche und Religion genauer beschreibt? Kann Rückzug auf eine formale Autorität, des Dogmas oder der Kirche, gegenwärtig zum christlichen Glauben ermutigen? Oder bleibt nicht wirklich nur das „Erfahrungs- und Glaubenszeugnis erweckter Personen, das Resonanz und Licht in anderen Personen hervorruft“,66 wie es Harnack Peterson gegenüber geltend machte? Die konkrete Theologie, um die es Peterson ging, wäre ja genau auf eine derart erfahrungsgesättigte, im persönlichen Leben verankerte Gestalt des Glaubens bezogen. Abstrakte Theologie, die nur in höchst verdünnter Form
65 A.a.O., S. 146. 66 Peterson (1994): Briefwechsel, S. 179.
Eine Skizze zum Weg Erik Petersons
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sich auf Erfahrung bezieht und auch kaum zu Erfahrung hinführt, gibt es gegenwärtig ja mehr als genug. Und doch bleiben die Anfragen Petersons erwägenswert. Die drei Schwundformen kirchlicher Praxis und theologischer Reflexion, die Peterson Harnack gegenüber geltend macht, sind ebenfalls bleibend aktuell: Rationalistische Reduktionen des Christlichen, diffuse und selbstzentrierte Spiritualität, Flucht ins Engagement, unterfüttert mit moralistischer Rhetorik. Diesen Schwundformen des Christlichen hält Peterson einen starken Ruf in die Mitte entgegen – und mit diesem Ruf artikuliert Peterson bleibend Wichtiges und Unverzichtbares. Bei aller Hellsichtigkeit, die Peterson für die Versuchungen und Zumutungen des Totalitären bewiesen hat, bleibt noch ein weiteres Warnzeichen aufzurichten: Für die diskursiven Praxisformen des Politischen, für einen liberalen Pluralismus der Möglichkeiten hatte Peterson in den Auseinandersetzungen seiner Zeit nichts übrig. Er proklamiert zwar die Freiheit der Kirche und des Glaubens von den Legitimitätsanforderungen des totalitär gewordenen Politischen, hat aber für individuelle Freiheit kaum Platz. In diesem Sinne ist Peterson radikal antimodern. Aber er ist es doch auf eine Weise, die nur unter den pluralistischen Bedingungen der Moderne und ihrem Blick für Gewaltenteilung, für die Differenzen des Politischen und des Religiösen möglich ist. Wenn wir diese deutliche Grenze Petersons mit bedenken, lässt sich in drei Thesen knapp zusammenfassen, in welchem Sinne von Peterson zu lernen ist: 1. Im Zentrum der Kirche steht die Selbstvergegenwärtigung Gottes in Wort und Sakrament. Diese Selbstvergegenwärtigung hat immer auch eine organisationale Gestalt. Diese aber wandelt sich, so wie sich die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen und Kontexte wandeln. Im Zentrum steht nicht die organisationale Selbstbehauptung, sondern die getroste, durch und durch affirmative, oder „assertorische“ (Luther), Zuversicht der undialektischen Gegenwart Gottes. 2. Die apokalyptische Weltsicht Petersons erinnert daran, dass die Kirche nicht in und schon gar nicht von einem stabilen politischen Arrangement lebt. Zwischen Pfingsten und der Parusie lebt sie vielmehr in einer agonalen Welt konkurrierender Geltungsansprüche. Sie darf nicht mit Beifall, sie muss dagegen mit Widerspruch rechnen, und, ohne die Lage der Christenheit zumindest in Europa dramatisieren zu wollen, mit Verfolgung – daran erinnern die Märtyrer. Den konkurrierenden Geltungsansprüchen gegenüber wird sich die Kirche auf die spezifische Quelle ihres Lebens und ihrer Vollmacht zu besinnen haben, nicht auf ihre tatsächliche oder vermeintliche Macht im politischen System. Wenn sie diese genuine Quelle ihrer Autorität vernachlässigt, oder es gar verlernt aus ihr zu schöpfen, wenn sie somit ihre Differenzfähigkeit aufgibt, wird sie in den Widersprüchen dieser Weltzeit, der historischen Dialektik zerrieben. 3. Für die theologische Aufgabe gilt mit Peterson, dass sie bleibend auf die kirchlichen Kernpraktiken (Apg 2,42: Lehre der Apostel, Gemeinschaft, Brotbrechen, Gebet) bezogen bleibt und nur in diesem Bezug das ihr Aufgetragene bearbeiten kann. Theologie expliziert die Implikationen der kirchlichen Kernpraktiken und bleibt darin auf kirchliche Lehre und auf das trinitarisch-christologische Dogma bezogen.
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Roger Mielke
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Eine Skizze zum Weg Erik Petersons
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CARL SCHMITTS POLITISCHE THEOLOGIE Entwurf, Umschrift und Rückblick Reinhard Mehring 1. THEMA Die Lage der christlichen Kirchen ist aktuell wieder schwierig. Seit Jahren beklagen sie massive Austrittswellen und die Loyalität der bekennenden und praktizierenden Mitglieder wird durch diverse Skandale arg belastet. So wird seit einigen Jahren der sexuelle Missbrauch im Kirchenamt intensiv thematisiert, und die Auseinandersetzungen führen auch zu grundsätzlichen Infragestellungen des Papstprimats und des Amtes der Priester und Bischöfe. Im Frühjahr 2021 hat der Münchner Kardinal Reinhard Marx, selbst nicht durch Vorwürfe belastet, institutionelle Verantwortung für die Rolle der Kirche im Missbrauchsskandal übernommen und um seinen Rücktritt gebeten, den der Papst aber abgelehnt hat. Der Papstprimat in der Frage des Amtsverzichts ist ein wichtiger Aspekt der Theologie des Amtes, im Sinne Schmitts eine Souveränitätsfrage und ein Fall von Politischer Theologie. Carl Schmitt (1888–1985) hat in seinem Essay Römischer Katholizismus und politische Form 1923 zwar auf eine starke Theologie der Kirche verzichtet,1 die Kontinuität ihrer autoritären Form der Kirche über Krisen hinweg aber wortgewaltig beschworen. Mit seinem Spätwerk Politische Theologie II war er der – Erik Petersons (1890–1960) – „Legende von der Erledigung“ jeder Politischen Theologie – mit der Zwischenüberschrift sprach er anspruchsvoller noch von einer „endgültigen theologischen“ Erledigung – entgegengetreten und hatte die „Aktualität“ seines Konzepts als Antwort auf einige Kritiker exemplarisch erneut betont.2 Schmitts Politische Theologie spielte im Diskurs der alten Bundesrepublik seit den 1960er Jahren eine beachtliche Rolle.3 Die Verteidigung seines Standpunkts ließe sich heute vielleicht in eine positive apologetische Strategie ummünzen: Schmitt hatte die Kirche als complexio oppositorum begriffen und auf die Kraft der Kirche zur Reintegration diverser Standpunkte gehofft; eine solche Erneuerung der Kirche aus der Kritik ist heute vielleicht erneut vonnöten. Schmitts Werk wurde vor und nach 1933 und 1949 in der katholischen Rezeption nicht nur massiv kritisiert und verworfen, sondern öfters auch grundsätzlich zustimmend vertreten. Einer der wichtigsten Vertreter einer positiven Rezeption 1 2 3
Schmitt (1923): Römischer Katholizismus und politische Form. Schmitt (1970): Politische Theologie II. Schmitt (1979): Politische Theologie.
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Reinhard Mehring
von Schmitts Politischer Theologie war innerhalb des bundesdeutschen Katholizismus Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019), der seit 1953 im lebenslangen Gespräch mit Schmitt stand. Der umfangreiche Briefwechsel (über 450 Briefe) ist ein zentrales Dokument der bundesdeutschen Rechtswissenschaftsgeschichte wie der innerkatholischen Kontroversen um das 2. Vatikanum und die „Glaubensfreiheit“.4 Böckenförde liberalisierte Schmitts Politische Theologie sehr grundsätzlich und konsequent zwar von einer dezidierten Option für die „Glaubensfreiheit“ ausgehend, die Schmitt nur für „Zeiten der Unmittelbarkeit“ und des „Ausnahmezustands“ konzediert hatte, in denen die Macht und Autorität der Institution zerfallen ist, stimmte Schmitt aber in einigen kirchenkritischen Positionen zu und suchte den Begriff der Politischen Theologie als grundbegrifflichen Orientierungsposten in der Diskussion zu halten. Mit frühen Interventionen richtete er sich gegen die dogmatische Orientierung der Kirche an einem scholastischen „Naturrecht“ und die institutionelle Reservation einer „Neutralität“ der Kirche in der Staatsformenfrage, die sich nicht von der „Glaubensfreiheit“ ausgehend der modernen Demokratie und staatsbürgerlichen Verantwortung des katholischen Laien öffnete. Böckenförde kritisierte das – ohne nähere Thematisierung der Rolle Schmitts – Anfang der 1960er Jahre in einer wegweisenden Kontroverse am historischen Sündenfall des Reichskonkordats von 1933, des Arrangements der deutschen Bischöfe und Kirche mit Hitler. Böckenförde gehörte zu den Wegbereitern kritischer Aufarbeitung der Rolle der katholischen Kirche und des deutschen Katholizismus im Nationalsozialismus und setzte dieses Engagement mit dem Erscheinen von Schmitts Spätwerk Politische Theologie II auch in die begriffspolitische und systematische Option für den Schlüsselbegriff Politische Theologie um. Schmitts Begriff und Konzept Politischer Theologie wurde nach der linkskatholischen Rezeption in den 1970er Jahren seit den 1990er Jahren – auch von mir – wieder intensiv diskutiert. Der folgende Text entwickelt eine biographische Annäherung und Kontextualisierung, erörtert dann Schmitts antisemitische Umdeutung der Politischen Theologie für den „totalen Staat“ und schließt mit Ausführungen zu der Letztschrift Politische Theologie II. 2. MAX WEBER ALS FRÜHE QUELLE Schmitts radikales und exzentrisches Leben ist heute durch zahlreiche Nachlasseditionen – u.a. Briefwechsel und Tagebücher – über weite Phasen detailliert bekannt. Zwar hat Schmitt sich selbst als Katholik verstanden und seinem Werk in bestimmten Phasen und strategischen Situationen einen katholischen Rahmen und eine katholische Gesamtrichtung gegeben, ein kirchentreuer und frommer, praktizierender Katholik war er aber niemals. Für den Briefwechsel mit Böckenförde lässt sich pointiert von Fake-Katholizismus sprechen: Schmitt mimte ein Stück weit den frommen Katholiken. Im Umgang mit der ganzen Familie Böckenförde trat er in ein integres katholisches Milieu ein, das er in seiner eigenen Herkunft vielleicht 4
Mehring (2022): Welch gütiges Schicksal.
Carl Schmitts Politische Theologie
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gesucht, aber nicht gefunden hatte. Seine frühen Tagebücher zeigen viel Distanz zum familiären Herkunftsmilieu. Für die Schulzeit lässt sich keine starke Kirchenbindung belegen: Schmitt war kein Messdiener, entschied sich gegen das Hebräische für die englische Sprache und wollte, soweit wir wissen, niemals Theologie studieren. Schon früh findet sich dagegen ein starkes ästhetisches Interesse an der literarischen Avantgarde. Schmitt war ein akademischer Überflieger: Mit 21 Jahren schon war er mit einer umfangreichen juristischen Dissertation Über Schuld und Schuldarten promoviert. Im juristischen Referendariat schrieb er dann nebenbei weitere grundlegende juristische Monographien sowie – zusammen mit seinem jüdischen Jugendfreund Fritz Eisler (1887–1914) – mit dem Buch Schattenrisse eine Satire auf den zeitgenössischen Kulturbetrieb. Damals befreundete er sich mit dem expressionistischen Avantgardisten Theodor Däubler (1876–1934), über dessen Nordlicht-Dichtung er 1916 bereits eine schmale – evtl. über die Bekanntschaft mit Franz Blei (1871– 1942) publizierte – Monographie verfasste, die als kritische Stellungnahme zum Ersten Weltkrieg, ästhetisches und apokalyptisches Credo betrachtet werden kann. Schmitt rettete sich damals vor dem Fronteinsatz, dem sein engster Jugendfreund Eisler bei Kriegsbeginn zum Opfer gefallen war, in die Münchner Heeresverwaltung und führte ein Doppelleben als Soldat in der Etappe und Bohèmien in Schwabinger Intellektuellenkreisen. Er hatte einigen Umgang mit religiösen Publizisten und Literaten wie Theodor Haecker (1879–1945), befreundete sich aber vor allem mit dem Literaturkritiker und Publizisten Franz Blei, der einer der wichtigsten literarischen Vermittler der Avantgarde war und einen intellektuellen Oppositionskatholizismus vertrat. Schmitt las damals im breiten Umfang religiöse Schriftsteller: ob Kierkegaard, Dostojewski oder Bernanos. Die einzelnen Nachweise müssen hier nicht geführt werden, das publizistische Milieu „zwischen den Zeiten“ wird in unserem Sammelband breit ausgeleuchtet. Biographisch scheint Schmitt jedenfalls erst „freischwebenden Intellektuellen“ und Publizisten – wie Blei, Haecker und auch Hugo Ball (1886–1927) – näher begegnet zu sein, bevor er in den 1920er Jahren in seiner Bonner Zeit verstärkt auch mit zünftigen Theologieprofessoren – wie Wilhelm Neuss (1880–1965) und Erik Peterson, Karl Eschweiler (1886–1936) oder Hans Barion (1899–1973) – Umgang pflegte. Aus der frühen Bekanntschaft mit Blei resultierte Schmitts zeitlebens einzige starke scholastische Erwägung bzw. katholische Rechtfertigung der Sichtbarkeit der Kirche.5 In Bleis esoterischer Zeitschrift Summa veröffentlichte er 1917/18 eine erste eigene Summe seines Denkens, indem er in einer Art Altarbild oder TextTriptychon seine „scholastische Erwägung“ gegen einen „geschichtsphilosophischen Versuch“ profilierte und diese Gegenbilder durch eine rechtsphilosophische Verhältnisbestimmung von „Macht und Recht“ vermittelte. Es ließe sich hier bereits ein polemischer Vorbehalt gegen starke dogmatische Bekenntnisse herauslesen, der mit der Konfrontation von „Scholastik“ und „Geschichtsphilosophie“, Mit-
5
Schmitt (2005): Die Sichtbarkeit der Kirche.
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Reinhard Mehring
telalter und Neuzeit, gegeben ist. Dessen systematischer Kern ist Schmitts souveränitätstheoretische Auslegung der „normativen Kraft des Faktischen“: Schmitts These, dass souveräne Macht Anerkennung verdient und zum Rechtsanspruch wird, wenn sie einen kritischen Ausnahmezustand entscheidet und einen Normalzustand stabilisiert.6 Schmitts Triptychon ist auch in der essayistischen und satirischen Anlage ein starkes Credo: Stets wird Schmitt sich in polemischer Opposition zum Zeitgeist positionieren. Seine laientheologische „Erwägung“ verzichtet dabei sehr weitreichend auf einen akademischen Apparat und Referenzen an die zeitgenössische Dogmatik und „Scholastik“. Sie betont mit ihrem theologischen Rückgang auf die „Menschwerdung Christi“ auch bereits einen „Vorbehalt“7 und „Unterschied von konkreter und sichtbarer Kirche“.8 Schmitt rechtfertigt also nicht die gegenwärtige Anstaltskirche und Haltung des deutschen Katholizismus von 1917, sondern eine Utopie von Kirche. Seine Summa-Publikationen sollen hier aber nicht weiter ausgedeutet werden, zumal die Entstehungsumstände der Texte nicht geklärt sind und aus der Münchner Zeit 1915 bis 1921 insgesamt nur relativ wenige biographische Quellen bekannt sind. Schmitts Tagebuch bricht Ende 1915 fast vollständig ab und setzt erst 1921 mit der Berufung nach Greifswald und 1922 dann nach Bonn wieder intensiv ein. Für die Stellung zum Katholizismus gibt seine Anfang 1919 erschienene Monographie Politische Romantik zwar einigen Aufschluss;9 sie lässt sich mit der Verdammung „politischer Romantik“ auch als Abgrenzung vom Mehrheitskatholizismus deuten, polemisiert gegen katholische Romantik-Aktualisierungen durch Autoren wie Othmar Spann (1878–1950) und Jakob Baxa (1895–1979); Schmitt meidet damals, auch mit seiner großen Monographie über Die Diktatur von 1921, aber schon aus berufungsstrategischen Rücksichten explizite starke Positionierungen im zeitgenössischen Diskurs. Er positioniert sich lieber indirekt im Spiegel geistesgeschichtlicher Parallelen und bezieht hier innerhalb seiner Programmschrift Politische Theologie 1922, in der Linie einer „Gegenrevolution“, vor allem die Identifikationsmaske oder Persona des spanischen Diplomaten und Publizisten Juan Donoso Cortés (1809–1853),10 der den Zeitgenossen – wie dem heutigen Diskurs – fast unbekannt ist und mehr durch Schmitts Zuschreibungen wirkt. Diese CortésMaske lässt sich vor allem als Identifikation eines Außenseiterstandpunktes lesen: als Bekenntnis zur „Gegenrevolution“, Laientheologie, zum politischen Katholizismus und zur „Diktatur“. Schmitt lernte Donoso Cortés als Autor erst 1920 kennen. In der Politischen Romantik ist er noch nicht erwähnt, obgleich die Disjunktion von politischer Romantik und Gegenrevolution sich dort bereits abzeichnet. Schmitt rezipierte historische Autoren oft nicht in dogmatischer Absicht, sondern als perspektivische Spiegel und Facetten historischer Konstellationen und Parallelen. Spätestens seit der Politischen Theologie profilierte er dabei eine Parallele 6 7 8 9 10
Vgl. Mehring (2021): Carl Schmitts Gegenrevolution, S. 23–41. Schmitt (2005): Die Sichtbarkeit der Kirche, S. 447. A.a.O., S. 450. Schmitt (1925): Politische Romantik. Mehring (2021): Carl Schmitts Gegenrevolution, S. 102–127.
Carl Schmitts Politische Theologie
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zwischen der Lage um 1848 und nach 1918/19, nachdem er schon in der Politischen Romantik, dort mit einem Exkurs zu David Friedrich Strauss (1808–1874), eine „große Parallele“ zur urchristlichen Zeitenwende gezogen hatte. Da Schmitt später explizit von der „großen Parallele“ zur urchristlichen-römischen Zeitenwende spricht, lässt sich seine Spiegelung der Gegenwart in den Konstellationen von 1848 auch als „kleine Parallele“ bezeichnen. Es ließe sich allenfalls annähernd zusammentragen, was Schmitt alles in München an religions- und kirchengeschichtlicher und -rechtlicher Literatur gelesen und gekannt hat. Sein Nachlass ist hier sehr lückenhaft. Als Jurist hat er sich niemals als Kirchenrechtler verstanden und staatskirchenrechtliche Fragen gemieden.11 Ein Anwalt und „Kronjurist“ der Kirche wollte er nicht sein. Seine Politische Theologie skizziert eine begriffsgeschichtliche und „begriffssoziologische“ These: Schmitt konstatiert einen Theorie- und Terminologietransfer von der Kirche zum Staat, der mit einem Übergang der politischen Ordnungsleistung und Souveränitätskraft von der Kirche zum Staat verbunden ist. Die Entwicklung seiner Souveränitätslehre lässt sich an der Abkehr vom Neukantianismus zeigen,12 die sich der Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914), einer anschließenden Binder-Kritik und Ausführungen zu Erich Kaufmanns (1880–1972) Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie ablesen lässt, die 1922 in der ersten Fassung der Politischen Theologie noch zu finden, später aber gestrichen sind. Für die Entwicklung seines Konzepts verweist Schmitt auch auf Kelsens dogmatische Erörterungen des Konnexes von Staatsform und Weltanschauung. Biographisch betrachtet war in der Münchner Zeit aber auch die Begegnung mit Max Weber (1864– 1920) und dessen Religionssoziologie wichtig, die Schmitt niemals näher akademisch explizierte. Der Umfang der biographischen Kontakte zu Weber ist zwar nicht näher bekannt; zweifellos hat Schmitt aber Vorlesungen und Vorträge gehört und an Webers letztem „Dozentenseminar“ teilgenommen. Die ersten drei Kapitel seiner Politischen Theologie erschienen in der von Melchior Palyi (1892–1970) organisierten Erinnerungsgabe für Weber. Das letzte Kapitel „Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution“, mit dem Schmitt sich in die Cortés-Nachfolge und Reihen der „Gegenrevolution“ stellt, entstand dagegen erst später in Greifswald und Bonn und markierte den Schritt über Weber und den „soziologischen“ Beobachterstandort hinausgehend in die appellative, intervenierende Politische Theologie. Direkte Referenzen an Webers Werk finden sich bei Schmitt nur selten; er zitiert Weber fast nie. Ausführungen zum „Großinquisitor“, im Essay Römischer Katholizismus und politische Form, scheinen zwar auf die Münchner Rede Politik als Beruf anzuspielen. In der Politischen Theologie schreibt Schmitt gegen Weber, dass das staatliche Souveränitätsmonopol „richtigerweise nicht als Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern als Entscheidungsmonopol juristisch zu definieren ist.“13 Besondere Verweise auf Weber waren innerhalb der Erinnerungsgabe für Weber aber eigentlich 11 Mehring (2021): Carl Schmitts Gegenrevolution, S. 265–280. 12 A.a.O., S. 23–41. 13 Schmitt (1979): Politische Theologie, S. 20.
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überflüssig; Schmitt meidet den expliziten Bezug, im Zitat bereits anklingend, auch der anderen juristischen Perspektive und Adressierung wegen. Seine spärlichen Referenzen verwundern dennoch, wofür in starker Deutung auf die konfessionelle Distanz zum säkularisierten Protestanten zu verweisen wäre. In der Korrespondenz mit Böckenförde wie im Spätwerk Politische Theologie II kritisiert Schmitt wiederholt Webers Transposition des Charisma-Begriffs aus dem Kirchenrecht Rudolph Sohms (1841–1917); er spielt Sohm gegen Weber aus, um einen Vorbehalt gegen die personalistische Engführung des Charisma-Begriffs zu signalisieren. Damit distanziert er sich auch von einem schnellen Kurzschluss von Weber auf Schmitt, wie er seit der – von Habermas übernommenen – Mommsen-These von der „legitimen Schülerschaft“ geläufig war.14 Sein Einspruch gegen diesen naheliegenden Kurzschluss von Webers „plebiszitärer Demokratie“ auf Schmitts Diktaturkonzept ist hermeneutisch beachtlich. Wiederholt bezieht Schmitt sich im Werk auf Webers Rechtssoziologie. Nähere Bezugnahmen auf die Religionssoziologie fehlen dagegen völlig. Weber schrieb seine Abhandlungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen bekanntlich als Gegenprobe zu seinen berühmten Studien über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Den ersten Band seiner Gesammelten Aufsätze hat er noch selbst zusammengestellt und durch die Vorbemerkung, Einleitung und Zwischenbetrachtung grundsätzlich konturiert.15 Die drei Bände erschienen posthum 1920/21. Studien zum Konfuzianismus und Taoismus, Hinduismus und Buddhismus sowie zum antiken Judentum und den Pharisäern liegen vor. Marianne Weber (1870–1954) bemerkte dazu als Herausgeberin im dritten Band: „Die Vollendung dieses Werkes war dem Verfasser nicht vergönnt. Er wollte das antike Judentum noch durch die Analyse der Psalmen und des Buches Hiob ergänzen und dann das talmudische Judentum darstellen. […] Dann sollten Abhandlungen über das Frühchristentum und den Islam den Kreis schließen.“16
Eine Darstellung des Katholizismus hatte Weber dagegen offenbar nicht geplant. Der alte Schmitt bemerkte dazu 1971 im Interview: „Aber Max Weber hat ja merkwürdigerweise überhaupt kein … Er wusste nichts von Katholizismus. Das war für ihn ein ästhetisches Phänomen. Er hat ja alle möglichen Religionsgesellschaften, alttestamentliches Judentum, Buddhismus, Brahmanismus – die Soziologie aller Religionen: Puritanismus, fabelhaft, Calvinismus usw. Warum? Das meinem Geschmack nach interessanteste und, sagen wir mal, auffälligste, aufdringlichste soziologische Phänomen, der römische Katholizismus, die ganze Entwicklung von der Katakombe bis zum Tridentinum – er hat das gar nicht perzipiert.“17
Schmitts Schweigen zu Webers Religionssoziologie liest sich wie eine Retourkutsche, die durch die konfessionellen Vorbehalte gegen Webers soziologische Neutralisierung und Säkularisierung des Charisma-Begriffs verstärkt ist. Ein Fazit
14 15 16 17
Mehring (2021): Carl Schmitts Gegenrevolution, S. 132–136. Weber (1920): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. I. Weber (1921): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III, S.V. Hertweck/Kisoudis (2010): Solange das Imperium da ist, S. 57.
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der universalgeschichtlichen Gegenprobe auf die Protestantismusstudien, eine Antwort auch auf Nietzsches Genealogie der Moral, war Webers Zwischenbetrachtung, die das Theodizeeproblem als normativen Kern religionsgeschichtlicher Rationalisierung pointierte und in einer „Typologie der Askese und Mystik“ „Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“ unterschied. Schmitts berühmte Rede über Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, die eine „Stufenfolge der wechselnden Zentralgebiete“ oder Politikfelder politisierender Neuzeit unterschied, ließe sich als Adaption dieser Zwischenbetrachtung und Transposition von Webers vergleichender Religionssoziologie in die Säkularisierungsdynamik der Neuzeit deuten. Schmitt distanziert sich hier ausdrücklich von der „Kulturuntergangsstimmung“ der vorangehenden Generation,18 für die er Troeltsch, Weber und Rathenau nennt, spricht aber am Ende auch von der Kraft der „Askese“ und „neuen Elite“, die als Herrschaft ein neues „Zentralgebiet“ positiv besetzt. Wie Weber verbindet er Religions- und Herrschaftssoziologie miteinander, wenn er schreibt: „Alle neuen und großen Anstöße, jede Revolution und jede Reformation, jede neue Elite kommt aus Askese und freiwilliger oder unfreiwilliger Armut, wobei Armut vor allem den Verzicht auf die Sekurität des status quo bedeutet. Das Urchristentum und alle starken Reformen innerhalb des Christentums, die benediktinische, die franziskanische Erneuerung, das Täufertum und das Puritanertum, aber auch jede echte Wiedergeburt mit ihrer Rückkehr zu dem einfachen Prinzip der eigenen Art, jedes echte ritornar al principio, jede Rückkehr zur unversehrten, nicht korrupten Natur erscheint vor dem Komfort und Behagen des bestehenden status quo als kulturelles und soziales Nichts.“19
Dies liest sich wie eine Ergänzung zu Webers Religionssoziologie, die die Religionsdynamik des Mittelalters bis zur frühen Neuzeit von den Mönchsbewegungen her betrachtet und diesen Bewegungen eine Art revolutionäres Naturrecht urchristlichen Erneuerungsbewusstseins unterstellt. Mit dem Verweis auf die „unfreiwillige Armut“ signalisiert Schmitt dabei auch leise autobiographische Identifikation. Dieses Bild der katholischen Religionsdynamik ließe sich durch den früheren Essay Römischer Katholizismus und politische Form ergänzen, der für die Neuzeit weniger von Erneuerungsbewegungen als von einer autoritären und gegenrevolutionären Abwehrschlacht gegen die atheistischen und anarchistischen Herausforderungen der Moderne spricht. Dabei sieht Schmitt im Frühsozialismus durchaus auch urchristliche Impulse. Forschungen zum Saint-Simonismus hat er im Schülerkreis wiederholt angeregt. 3. WEITERE QUELLEN: FRANZÖSISCHER RECHTSKATHOLIZISMUS, JÜDISCHE FREUNDE UND EHEDRAMA Schmitts „katholisches“ Credo wurde bislang jenseits universitätstheologischer Anregungen verortet. Franz Blei und Max Weber scheinen für dieses Credo anregender gewesen zu sein als der damals gängige Neuthomismus und die Scholastik. 18 Schmitt (1963): Der Begriff des Politischen, S. 92. 19 A.a.O., S. 93.
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Schmitt selbst verwies für die katholische „Gegenrevolution“ auf französische und spanische Autoren: Bonald, de Maistre und vor allem Juan Donos Cortés. Wie erwähnt ließe sich eine ganze Reihe neuerer religiöser Publizisten ergänzend anführen. Eine erste ideengeschichtliche Ausbuchstabierung dieser Linie findet sich bei Waldemar Gurian (1902–1954), der in den frühen Bonner Jahren engen freundschaftlichen Umgang mit Schmitt hatte und nach einem persönlichen Streit und Schmitts rechtsintellektueller Radikalisierung zu einem erbitterten Gegner wurde. Gurians 1929 erschienenes Buch Die sozialen und politischen Ideen des französischen Katholizismus 1789/1914 ließe sich hier vor allem nennen,20 das mit Lemenais auch bereits einen Autor anführt, der als Vorläufer der Action Franςais zu betrachten ist. Schmitt stand Anfang der 1920er Jahre auch in einem strategisch interessierten Kontakt mit Ernst Robert Curtius (1886–1956), der einer der wichtigsten Vermittler der französischen „Wegbereiter“ eines nationalisierten, romkritischen Katholizismus war. Autoren wie Bernanos, Maurras oder Barres hat Schmitt intensiv gelesen. Der Briefwechsel mit Ernst Jünger (1895–1998) bezeugt für spätere Jahre dieses ausgeprägte Interesse an den neueren französischen Autoren. Hannah Arendt (1906–1975) beschrieb in ihrem berühmten Buch über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft die publizistische Formierung des französischen Rechtskatholizismus in der Dreyfuss-Affäre als eines der Ursprünge und Elemente der nationalistischen und antisemitischen Radikalisierung, die in den Nationalsozialismus führte.21 Für Schmitt ist diese „gegenrevolutionäre“ Radikalisierung wichtig. Dabei ist besonders zu beachten, dass er seit frühen Studienzeiten im intensivsten freundschaftlichen Kontakt mit jüdischen Intellektuellen stand. Zu nennen sind hier vor allem seine Beziehungen zur Hamburger Verlegerfamilie Eisler, zu Fritz und Georg Eisler, seit der Münchner Zeit dann zu Ludwig Feuchtwanger (1885–1947), Moritz Julius Bonn (1873–1965) und anderen. Neben der zeitgenössischen religiösen Publizistik und dem engen Umgang mit jüdischen Intellektuellen ist Schmitts Ehedrama ein drittes Kraftfeld religiöser Dissidenz. Für die Entstehung des Katholizismus-Essays und die spätere Haltung ist es kaum zu überschätzen. Schmitt war seit 1912 mit einer Femme fatale liiert, die er unter den Bedingungen einer Kriegshochzeit 1915 heiratete. Erst in den späten Münchner Jahren wurde ihm langsam klar, das Carita Dorotić (1883–1968) betrügerische Identitätsangaben gemacht hatte; er hatte eine Hochstaplerin geheiratet, die sich als Gräfin ausgab und sich fünf Jahre jünger fälschte. Wie sein Mentor Hugo am Zehnhoff (1855–1930) damals sofort erkannte, hatte er eine Tänzerin aus dem „Tingel-Tangel“ geheiratet. Der anamnetische Klärungsprozess dieser Verblendung ist bis heute nicht näher aus den Quellen erschlossen. So ist bislang keinerlei Foto von Schmitts „Cari“ bekannt. In München erkannte Schmitt aber seinen Irrtum und leitete eine Nullifizierung seiner Ehe vor staatlichen und kirchlichen Instanzen ein. Während seine Ehe von staatlicher Seite dann tatsächlich nullifiziert
20 Gurian (1929): Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus. 21 Arendt (2008): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
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wurde, verlor Schmitt seinen Prozess vor den kirchlichen Gerichten in zwei Instanzen. Als er 1926 dann Duschka Todorović (1903–1950) heiratete, lebte er nach damaliger katholischer Auffassung im Konkubinat und war infolge seiner Wiederheirat bis 1950, bis zum Tode Duschkas, förmlich exkommuniziert. Der Essay Römischer Katholizismus und politische Form erschien 1923 und 1925 in zwei geringfügig abweichenden Fassungen in genau der Zeit, als Schmitt vor den kirchlichen Instanzen auf Nullifizierung seiner Ehe klagte. Für die zweite Fassung im Münchner Theatiner-Verlag erwirkte er ausdrücklich die kirchliche Imprimatur. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er damit auch strategische Hoffnungen verband. Nach dem Scheitern seines Scheidungsprozesses und seiner Exkommunikation verzichtete Schmitt dann lange fast vollständig auf „katholische“ Referenzen und Signale. Erst mit seinem literarischen Comeback in der frühen Bundesrepublik präsentierte er seine Schriften erneut im katholischen Gewand. Wie in den 1920er Jahren nahm ihm der Mehrheitskatholizismus dieses katholische Credo aber nicht wirklich ab; die katholische Rezeption war überwiegend negativ und sah in Schmitt mehr den Nationalsozialisten als den Katholiken. Schmitt reagierte erneut mit einer Abwendung vom katholischen Adressaten und Milieu. Die Politische Theologie II aktualisierte die Politische Theologie dann erneut jenseits des Mehrheitskatholizismus. Die intensiven Bemühungen der neueren Forschung, Schmitts konfessionelle Stellung zu klären, haben diese Distanz überwiegend bestätigt. Für die 1920er Jahre ist hier insbesondere Manfred Dahlheimer zu nennen,22 für die Geschichtstheologie vom Kat-echon etwa Felix Grossheutschi.23 4. THEOLOGIE DES HAKENKREUZES? ANTISEMITISCHE UMSCHRIFT Es wurde bereits erwähnt, dass Schmitt in den 1920er Jahren mit zahlreichen Theologen in näheren Kontakt trat. Zu nennen sind hier vor allem Wilhelm Neuss und Erik Peterson, Werner Becker (1904–1981), Heinrich Oberheid (1895–1977), Karl Eschweiler (1886–1936) und Hans Barion, ferner etwa Erich Pryzwara (1889– 1972), Ernst Barnikol (1892–1968), Wilhelm Stapel (1882–1954). Schmitts Gespräch mit Theologen, in den einzelnen Korrespondenzen bislang noch nicht ediert, zielte aber politisch eher auf einen Primat der staatlichen Souveränität und eine Depotenzierung des politischen Einflusses der Kirche. 1933 agierte Schmitt für die Gleichschaltung beider christlicher Kirchen unter dem Hakenkreuz. Von einem positiven Engagement für die politische Form der Kirche kann im Nationalsozialismus dann keine Rede mehr sein. Schmitts Rolle im Nationalsozialismus ist hier nicht umfassend zu erörtern. Zwar hatte Schmitt, wie erwähnt, lange vor 1933 schon jedes Engagement für die katholische Kirche begraben und auf einen katholischen Anstrich seines Werkes verzichtet; politische Gegner in der Polykratie des Nationalsozialismus ließen es
22 Dahlheimer (1998): Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus. 23 Grossheutschi (1996): Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon.
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sich aber nicht entgehen, Schmitt seiner „katholischen“ Schriften wegen als Katholiken anzugreifen und politisch zu verdächtigen. Schon deshalb mied Schmitt nach 1933 jedes positive Signal und Engagement in Richtung der christlichen Kirchen. Seine Rolle im Nationalsozialismus habe ich wiederholt dargestellt. 24 Ich unterscheide hier zwischen anfänglichen Hoffnungen auf eine Verfassungsfähigkeit des Nationalsozialismus, Bemühungen, dem Nationalsozialismus eine Art Verfassung vorzuschreiben und so die Lage in einen Normalzustand zu heben, sowie einer späteren Distanzierung von diesen Hoffnungen und Umstellung von einem institutionellen Konsolidierungsversuch auf eine antisemitische Rechtfertigung und Sinngebung nach dem 30. Juni 1934. Mit dem Freund-Feind-Mythos gesprochen wechselte Schmitt aus einer Optik des Normalzustands in eine Perspektive des Ausnahmezustands über, für die er seit dem Herbst 1934 von einer – institutionell nicht vermittelten, positivrechtlich nicht stabilisierten – „unmittelbaren Gerechtigkeit“ des Nationalsozialismus sprach und die er mit seinem Leviathan-Buch unter das Denk- und Schreckbild vom Leviathan stellte.25 In der Schmitt-Forschung ist diese „esoterische“ Deutung von Schmitts Konzept vom „Führerstaat“ nicht geläufig, weil es irrwitzig und unwahrscheinlich klingt, dass der Kronjurist des Nationalsozialismus relativ früh schon das Scheitern seiner Apologie erkannt und auf einen konfessionellen Mythos vom apokalyptischen Kampf gegen den „jüdischen Geist“ umgestellt habe. Diese These scheint mir aber für die Schriften nach dem 30. Juni 1934 bis zum Leviathan-Buch hermeneutisch geradezu zwingend. Diese Deutung ist hier philologisch nicht detailliert auszuführen; sie entscheidet sich nicht zuletzt an der Deutung des Leviathan-Buches von 1938, das nicht die naturrechtliche Philosophie des Hobbes, sondern den „Sinn und Fehlschlag“ des Symbols ins Zentrum stellt. Einleitend unterscheidet Schmitt zwei Auslegungsrichtungen des alttestamentlichen „Symbols“: die christlich-theologische und die jüdisch-kabbalistische Deutung; Schmitt interpretiert Hobbes’ Leviathan als Versuch einer „Wiederherstellung“ des christlichen Sinns des Symbols gegen die jüdische Auslegung, die sich aber, nach Schmitts pointierter und strategisch verzerrender Darstellung, in der „jüdischen“ Umdeutung von Hobbes Staatskonstruktion seit Spinoza durchgesetzt habe. Schmitts religiöse Deutung der Rezeptionswege des Leviathan-Symbols lässt sich als Retheologisierung der antisemitischen Rechtfertigung des Nationalsozialismus lesen, die in diversen Schriften bis 1936 entwickelt ist: vom frühen Artikel Die deutschen Intellektuellen über die ungeheuerliche knappe Kommentierung der Nürnberger Rassegesetze unter dem Titel Die Verfassung der Freiheit bis hin zur Tagung über Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist. Diese Texte wurden un-
24 Mehring (2009): Carl Schmitt, S. 304–436; ders. (2017): Denker im Widerstreit, S. 80–97; ders. (2021): Carl Schmitts Gegenrevolution, S. 227–275. 25 Schmitt (1938): Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes.
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längst 2021in einem Band Gesammelte Schriften 1933–1936 gebündelt wiederabgedruckt,26 sodass Schmitts krasseste Auslassungen in einer denkwürdigen Publikation inzwischen leicht greifbar sind. Die theologische Haltlosigkeit dieser Texte muss hier nicht weiter erörtert werden. Wichtig ist hier eigentlich nur, dass Schmitts Politische Theologie im Nationalsozialismus unter dem Primat eines polemischen Feindbegriffs zu einer Theologie des Antisemitismus führte, die den christlich-theologischen Anspruch geradezu pervertierte. In diesem Sinne schrieb Schmitt am 7. Mai 1933 an den befreundeten nationalsozialistischen Theologen Karl Eschweiler – und er notierte es in sein Tagebuch: „Das Hakenkreuz ist zurzeit die einzige Form des Kreuzes, vor der die Juden noch Angst haben. Das genügt mir auch theologisch.“27 Diese Theologie des Hakenkreuzes explizierte er als Symbol des Leviathan. 5. RÜCKBLICK: POLITISCHE THEOLOGIE II Nach dem Leviathan-Buch von 1938 publizierte Schmitt nur noch wenige Texte zu Hobbes. In seiner Besprechungsabhandlung Die vollendete Reformation stellte er 1965 von der antisemitischen Explikation auf eine positive christliche Deutung um.28 Seine Besprechungsabhandlung, von Böckenförde für die Zeitschrift Der Staat erbeten, entstand von der Auseinandersetzung mit der Hobbes-Dissertation des protestantischen Karl Barth-Schülers Dietrich Braun (1928–2014) angeregt.29 Schmitt trat damals mit Braun in eine intensive Korrespondenz ein, die inzwischen ediert ist.30 Brauns Dissertation hieß im Obertitel: Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth. Sie nahm die mythologischen Motive theologisch nicht weniger ernst als Schmitt und zielte auf eine protestantische Kritik der politischen Mythologie des Thomas Hobbes. Schmitt sah sich hier in seiner „theologischen“ Perspektive angemessen gesehen und gewürdigt. Die Abhandlung und die bedeutende Korrespondenz mit Braun motivierten ihn auch zur finalen Auseinandersetzung mit Peterson, mit der Schmitt in die Debatten der Zwischenkriegszeit zurückkehrte. So schreibt er am 4. März 1965 an Dietrich Braun anlässlich der Übersendung seiner Besprechungsabhandlung: „Ich war einige Jahre mit dem Theologen Erik Peterson befreundet. Diese Freundschaft ist an dem Problem der „politischen Theologie“ zerbrochen. Noch heute erregt mich die dreiste Behauptung Petersons, daß jede politische Theologie durch das Dogma von der Trinität unmöglich geworden sei. In Wahrheit ist durch dieses Dogma sowohl die politische Theologie der Reformation (und des Dualismus von geistlicher und weltlicher Gewalt) wie auch die geschichtsphilosophische, hochpolitische Lehre von den 3 Reichen (von Joachim de Fiore bis zu Hegel und Marx) überhaupt erst möglich geworden.“
26 27 28 29 30
Schmitt (2021): Gesammelte Schriften 1933–1936. Schmitt (2010): Tagebücher 1930 bis 1934, S. 438. Schmitt (1965): Die vollendete Reformation. Braun (1963): Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth. Braun/Eichhorn/Mehring (2022): Erst Leviathan ist der Ausdruck vollendeter Reformation.
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Die schwierige Letztschrift Politische Theologie II ist als „Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie“ eine autoritative Leseanweisung und Selbstinterpretation, analog etwa zu Nietzsches Ecce homo. Die verschlungene Schrift antwortet auf vielfältige Debatten und Gespräche der 1960er Jahre, die sich im Rahmen eines Aufsatzes kaum entwirren lassen. Ganz buchstäblich ist sie eine Antwort auf Peterson, Blumenberg und den befreundeten Kanonisten Hans Barion, dem sie zum 70. Geburtstag gewidmet ist. Sie zielt dabei auch auf die „gegenwärtige Aktualität der Erledigungs-Legende“ und Kritiker wie Hans Maier, Ernst Feil (1932– 2013) und Ernst Topitsch (1919–2003). Aber auch auf die gegenwärtige „Theologie der Befreiung“ bzw. Revolution und Autoren wie Johann B. Metz (1928–2019), Hans Küng (1928–2021) oder Jürgen Moltmann bezieht Schmitt sich kritisch. Schmitt flankiert seinen Rückblick auf seine einstige theologiegeschichliche Lage also mit einem starken Aktualitätsanspruch. Die Lage vor 1933 skizziert er erneut säkularisierungsgeschichtlich: Er knüpft den altüberlieferten Staat-KircheDualismus an die vormodernen Verhältnisse und spricht für die Lage in Weimar von einem Übergang der Politisierungsdynamik in den Bereich der „Gesellschaft“. Diesen Weg der Politisierung vom Staat zur Gesellschaft hatte er früher etwa in seiner Broschüre Hugo Preuß sowie im ersten Kapitel der Schrift Der Begriff des Politischen schon beschrieben. Er erweitert die säkularisierungs- bzw. verfassungsgeschichtliche Perspektive, Überlegungen aus Die vollendete Reformation aufnehmend, nun zu einem „modernen Kirche-Staat-Gesellschafts-Problem“;31 Böckenförde wird daran anknüpfen. Schmitt schreibt: „Der Bereich der Gesellschaft ergriff beides [Kirche und Staat] und löste die Unterscheidung auf. So entstand für den deutschen Protestantismus eine Situation, in der evangelische Theologen die Krisis der Religion, der Kirche, der Kultur und des Staates und schließlich überhaupt als das Wesen des Protestantismus erkannten, eine Erkenntnis Bruno Bauers, die seit 1848 vom Marxismus überschattet worden war.“32
Der Verweis auf Bauer (1809–1882) ist, nebenbei bemerkt, ein Beleg für Schmitts Spiegelung von zeitgenössischen Kontroversen in historischen Parallelen.33 Manche Bemerkungen über Bauer zielen eigentlich auf Zeitgenossen. Schmitt verweist auf Petersons Briefwechsel mit Adolf von Harnack (1851–1930), der für die Abwendung der Weimarer Krisentheologie vom älteren liberalen Protestantismus und Historismus steht. Harnack hatte damals in Bonn Vorlesungen über Die Entstehung der christlichen Theologie und des kirchlichen Dogmas gehalten,34 die 1927 umgehend publiziert wurden und die Schmitt damals in Bonn als „Schwanengesang“ des Liberalismus wahrnahm. Im Rückblick erinnert er an seine damaligen Gespräche mit Peterson, dem Trauzeugen seiner Wiederverheiratung, und nennt weitere Namen (Dempf, Gurian, Becker); er situiert Peterson in der protestantischen Krisentheologie und erklärt dessen – damals schon heftig abgelehnte – Konversion zum Katholizismus als Eskapismus und Flucht vor der Krisenerfahrung. Das zeige 31 32 33 34
Schmitt (1970): Politische Theologie II, S. 23. A.a.O., S. 19. Mehring (2021): Denker im Widerstreit, S. 276–287. Harnack (1927): Die Entstehung der christlichen Theologie.
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sich, so meint Schmitt, auch in der Schmitt-Kritik; sie antworte eigentlich nicht auf die Programmschrift von 1922, sondern das spätere Engagement im Nationalsozialismus. Schmitt schreibt dazu: „Uns beschäftigt, wie gesagt, Petersons Abhandlung über den ‚Politischen Monotheismus’ aus dem Jahre 1935. Sie steht bereits wieder in einer neuen Krisensituation, die infolge der Totalitätsansprüche des 1933 zur Macht gelangten nationalsozialistischen Hitler-Regimes eintreten mußte.“35
Schmitts späte Antwort an den längst verstorbenen einstigen Bonner Freund rechnet Peterson vielfältige Verfehlungen und Ausflüchte vor: die Spiegelung des NS„Kronjuristen“ im spätantiken „Hoftheologen“ Eusebius, die „Erledigung“ des NSEngagements im Rückgang auf eine ältere Programmschrift von 1922, das „Mißverhältnis von Beweismaterial und Schlußthese“:36 die „Verabsolutierung zu einer allgemeinen Schlußthese.“37 Schmitt verteidigt seinen Ansatz also nicht in dogmatischer Systematisierung, sondern als Replik auf eine einseitige Lesart. Dagegen meint er trocken: „Es gibt viele politische Theologien, denn es gibt einerseits viele verschiedene Religionen und andererseits viele verschiedene Arten und Methoden der Politik.“38 In seinen weiteren kritischen Ausführungen zum „legendären Dokument“ und zur „legendären Schlußthese“ wird Schmitt vor allem auf Petersons Kritik des nationalsozialistischen Engagements antworten und dessen polemische Parallelisierung mit dem „Caesaropapisten“ Eusebius positiv umwerten. Die indirekte Kritik des Nationalsozialismus in der „großen Parallele“ mit der Spätantike kommt ihm gelegen, war Hitler doch kein Augustus. Die „Konfrontation Eusebius– Augustinus“ erklärt Schmitt für unhistorisch.39 Seine ganze Replik richtet sich gegen Petersons mangelnde verfassungsgeschichtliche Auffassung des Dogmas, sie mobilisiert die eigene „begriffssoziologische“ Methode gegen Peterson; in der Antwort auf Blumenberg deutet Schmitt dann einen eigenen Zugang zur trinitarischen Spekulation an. Die Hinwendung der modernen Theologie zur „politischen Christologie“ deutet er dabei als theologischen Reflex des modernen Individualismus und Liberalismus. In diesem Sinne schreibt Schmitt am Ende seiner Einführung: „Die sachlich-thematische Weiterführung meiner Schrift Politische Theologie von 1922 verläuft in einer Gesamtrichtung, die beim jus reformandi des 16. Jahrhunderts ansetzt, bei Hegel einen Höhepunkt findet und heute überall erkennbar ist: von der Politischen Theologie zur Politischen Christologie.“40
35 36 37 38 39 40
Schmitt (1970): Politische Theologie II, S. 23. A.a.O., S. 39. A.a.O., S. 42; vgl. 67f. Schmitt (1970): Politische Theologie II, S. 51. A.a.O., S. 88. A.a.O., S. 11.
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6. BÖCKENFÖRDE, MAIER UND DIE PROVOKATION DES SCHLÜSSELBEGRIFFS Dass Schmitt diese Gesamtrichtung vehement ablehnt und dies in seiner Antwort auf Blumenbergs Legitimität der Neuzeit kryptisch ausführt, habe ich an anderer Stelle gezeigt.41 Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Schmitt in seiner apologetischen Kritik nur indirekt, in distanzierenden Absetzungen, auf seine Rolle im Nationalsozialismus eingeht und von seiner antisemitischen Sinngebung und Theologie des Hakenkreuzes schweigt. Die Politische Theologie II ist eine überaus dichte und hermetische, anspielungsreiche Schrift. Die meisten Leser werden sie im ersten Zugriff umständlich und nahezu unverständlich finden. Dabei gibt Schmitt sich alle Mühe, seine Replik analytisch klar zu beschränken. Seine Einwände gegen Petersons kritische Methode sind auch gewichtig. Wollte man alle Aspekte und Nebenthemen mit der analytischen Akribie dieser „Legende“ bearbeiten, bedürfte es eines umfangreichen Kommentarbandes von vielfachem Umfang. So dürfte dem Leser bei erster Lektüre verborgen bleiben, dass Schmitts freundschaftliche Widmung der Schrift an Barion nicht ohne polemische Spitze ist; Schmitt respondiert Barions „Einreihung in das Gefolge eines Eusebius“ seinerseits mit einer Einreihung Barions in das Gefolge Petersons.42 Theologische Leser dürfte heute nicht zuletzt die neuere „Aktualität der Erledigungsthese“ interessieren. Der alte Schmitt wollte niemals rein historisch gelesen und historisiert sein, sondern bestand auf der Aktualität seiner Politischen Theologie und seines Begriffs des Politischen. In den 1960er Jahren besprach er die konfessionelle Lage des deutschen Katholizismus, im Prozess des 2. Vatikanums, innerhalb seines Kreises u.a. mit Barion und den Gebrüdern Werner und Ernst-Wolfgang Böckenförde. Seine extensive Wahrnehmung des damaligen theologischen Diskursfeldes ließe sich aus den Korrespondenzen und weiteren Quellen umfassend rekonstruieren, was zu mancherlei Entdeckungen und Überraschungen führen würde. Namentlich nennt Schmitt, wie erwähnt, Hans Maier, Ernst Feil, J.B. Metz, Topitsch und Blumenberg sowie weitere zeitgenössisch einschlägige Autoren. Der respektvolle Verweis auf Topitsch, Kelsen und Blumenberg mag manchen verwundern, bezeichnet aber auch das Niveau, mit dem Schmitt seine „Theologie“ renovierte und über die Verfassungsgeschichte hinaus für religionsphilosophische Fragen festhielt. Wer die Komplexität dieser Methode, den abgründig sarkastischen und ironischen Ton auch meditieren mag, lese etwa die Einführung in die Politische Theologie II langsam und laut. Blumenberg und Topitsch sind nicht nur Gegner, sondern auch philosophische Innovatoren des Standards, den Schmitts letzte „Legende“ intoniert. Im Kontext des Böckenförde-Gesprächs interessiert hier aber nicht zuletzt die Absetzung von Hans Maier, der den Terminus Politische Theologie zurückgewiesen hatte: „Die theologische Autorität und der wissenschaftliche Kronzeuge Maiers
41 Mehring (2017): Carl Schmitt, S. 311–336; 337–349. 42 Schmitt (1970): Politische Theologie II, S. 28.
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ist Erik Peterson.“43 Maier und Böckenförde werden in dieser terminologiepolitischen Frage unterschiedlicher Meinung bleiben und sich damit zu Kirche und Staat divers anders positionieren: Während Böckenförde mit Schmitt weiter grundbegrifflich von Politischer Theologie sprach, lehnte Maier den Begriff konsequent ab.44 Die Entstehungsgeschichte der Politischen Theologie II und ihre Wirkung ist hier nicht zu rekonstruieren. Böckenfördes Dankesbrief vom 25. Oktober 1970 sei dafür nur stellvertretend zitiert. Böckenförde schreibt: „Es ist nun schon einige Wochen her, seit mich vom Verlag Duncker & Humblot die ‚Politische Theologie II‘ erreichte. In der Ruhe des Sonntags habe ich heute noch mal wesentliche Teile gelesen, und möchte Ihnen zum Erscheinen dieses Buches herzliche Glückwünsche aussprechen. In der hervorragenden Ausstattung, die der Verlag dem Buch gegeben hat, – der ruhige und sparsame Satzspiegel lädt förmlich zur nachdenklichen Lektüre ein – präsentiert sich der wichtige Inhalt sehr eindrucksvoll. Durch den Untertitel sind auch meine Bedenken gegen die Titel-Parallelisierung zur ‚Politischen Theologie (I)‘ hinfällig. Die Encadrierung des Themas und des Gegenstandes der Auseinandersetzung ist großartig gelungen, und die Erledigung der Legende von der Erledigung jeder polit. Theologie erhält dadurch eine ganz besondere Überzeugungskraft. Das Thema ist nun in der Tat (wieder) offengehalten, und Sie haben m. E. zugleich den Beweis geführt, daß es ein Thema ist, das nie enden wird: geistlich und weltlich sind im einzelnen Menschen als dem Geschöpf Gottes verbunden und lassen sich daher nicht nach Gegenstandsbereichen und nicht ein für alle mal abgrenzen und entspannen; das können nur noch Naturrechtstheologen, wie vielleicht Kardinal Höffner meinen, aber dort fehlt auch jedes Problembewusstsein vom Begriff des Politischen.Die Auseinandersetzung mit Blumenberg im ‚Nachwort’ halte ich für besonders wichtig und positions-klärend. Ich hoffe, dass sich an die 7 Thesen am Ende des Nachworts eine Diskussion anschließen wird. Hier ist erst deutlich geworden, was die Novitas-These und Legitimierung der Neuheit aus sich selbst heraus eigentlich bedeutet und welche Folgen sie hat. Ob Blumenberg diese ‚Feind-Erklärung‘ annehmen wird?“
Es ist hier nicht auszuführen, wie klar Böckenförde hier, nach intensiven Gesprächen mit Schmitt, zentrale Aussagen der Schrift anspricht. Als Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift Der Staat bemühte er sich in den folgenden Jahren um einen kompetenten Rezensenten. Am 12. Februar 1971 berichtete er Schmitt dazu: „Auf meine Anfrage bei Hans Maier, ob er bereit sei, Ihre ‚Politische Theologie II’ zu besprechen, hat er mit in Fotokopie beiliegendem Schreiben geantwortet, auf das ich ihm mit ebenfalls beiliegender Durchschrift geantwortet habe. Dieser Brief ist, wie ich glaube, ein gutes Zeichen für die stille, aber nachhaltige Wirkung, die von der Politischen Theologie II ausgeht, und ich hoffe, dass durch meine Antwort Herr Maier doch noch zur Übernahme der Rezension bewegt wird.“
Maier lehnte eine Besprechung aber ab, und auch Christian Meier und Jacob Taubes (1923–1987) schrieben nicht die gewünschte Besprechung. Auf meine Anfrage, weshalb er die Rezension nicht übernommen habe, teilte Hans Maier am 20. Februar 2021 per Mail freundlich mit: „Ich sage ganz offen: Seitdem ich Schmitts Aufsatz ‚Der Führer schützt das Recht’ gelesen und seine Attacken auf jüdische Kollegen kennengelernt habe, war ich einfach unfähig, mich mit 43 A.a.O., S. 31f. 44 Vgl. Maier (2007): Politische Religionen.
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Reinhard Mehring ihm zu beschäftigen – obwohl viele, darunter Böckenförde und Peter Häberle, ihn genial nannten. Deshalb habe ich auch Böckenfördes Wunsch nach einer Besprechung der ‚Politischen Theologie II’ nicht erfüllt.“
Böckenförde hat das ganze Ausmaß von Schmitts nationalsozialistischer und antisemitischer Belastung damals gewiss nicht annähernd gekannt und erst mit den neueren Quelleneditionen zur Kenntnis genommen. Schmitt ließ sich auf sein NSEngagement nicht ansprechen und hätte den Kontakt bei massiven „Tabuverletzungen“ abgebrochen. Das Hobbes-Buch hat Böckenförde aber schon früh gelesen und Schmitt dazu am 21. November 1956 geschrieben: „Habent sua fata libella. Ebenfalls im rechtsgeschichtl. Institut fand ich Ihr Hobbesbuch (nicht sekretiert!) aus der Bibliothek von Herbert Meyer – mit dem handschriftl. Vermerk: vom Verf. – und ‚Positionen und Begriffe’ aus der Bibliothek von Prof. Heinrich Mitteis. Das Buch über Hobbes habe ich mit großem Interesse gelesen, auch die von Ihnen in Plettenberg seinerzeit apostrophierten ‚bösen Stellen’. Ihre Stellung zu den Juden ist mir, wenn ich das sagen darf, immer noch ein Rätsel; aber es kommt mir nicht zu, Ihnen dieserhalb irgendeine Frage zu stellen.“
Böckenförde rekatholisierte Schmitt und interpretierte dessen Antisemitismus deshalb auch lange als radikale Variante des traditionalen katholischen Antijudaismus. Schmitts NS-Engagement bearbeitete er in den frühen 1960er Jahren aber bereits in seinen Hochland-Aufsätzen zum Arrangement des deutschen Katholizismus nach dem Reichskonkordat. Schmitt hat diese Anstöße begrüßt, weil er sich hier in seiner Haltung als Katholik entschuldigt fand. Eingangs wurde gesagt, dass Böckenförde stets die Position der Glaubensfreiheit gegen Schmitt bezog und von diesem liberalen Standpunkt ausgehend gegen die überlieferte Neutralitätsthese für die Öffnung der Kirche zur Demokratie optierte. Seine Rezeption von Schmitts Politischer Theologie und seinem Begriff des Politischen zielte auf die staatsbürgerliche Verantwortung und das Engagement des katholischen Laien. Es ist hier nicht weiter zu diskutieren, ob und wie Schmitts Konzept Politischer Theologie heute erneut fruchtbar sein kann. Schmitts Politische Theologie II verdeutlichte jedenfalls den „begriffssoziologischen“ Anspruch, theologische Dogmengeschichte mit politischer Verfassungsgeschichtsschreibung zu verknüpfen. Darin liegt einerseits zwar eine historisierende Depotenzierung, andererseits aber auch eine hermeneutische Auszeichnung der Theologie als Explikationsform humanen Selbstverständnisses. LITERATURVERZEICHNIS Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich 122008. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche, 3 Bde., Freiburg 1988/ 1990. Braun, Dietrich: Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth, Teil 1: Erwägungen zu Ort, Bedeutung und Funktion der Lehre von der Königsherrschaft Christi in Thomas Hobbes’ „Leviathan“, Zürich 1963. Braun, Martin/Eichhorn, Mathias/Mehring, Reinhard (Hg.): „Erst Leviathan ist der Ausdruck vollendeter Reformation“. Briefwechsel Carl Schmitt/Dietrich Braun (1963–1966), Berlin 2022.
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Dahlheimer, Manfred: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus 1888–1936, Paderborn 1998. Grossheutschi, Felix: Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon, Berlin 1996. Gurian, Waldemar: Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus 1789/1914, Mönchengladbach 1929. Harnack, Adolf von: Die Entstehung der christlichen Theologie und des kirchlichen Dogmas. Sechs Vorlesungen, Gotha 1927. Hertweck, Frank/Kisoudis, Dimitrios (Hg.): „Solange das Imperium da ist“. Carl Schmitt im Gespräch 1971, Berlin 2010. Koenen, Andreas: Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995. Maier, Hans: Politische Religionen. Gesammelte Schriften Bd. II, München 2007. Mehring, Reinhard: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009. Ders.: Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität, Freiburg 2017. Ders.: Carl Schmitt, Politische Theologie (1922), in: Michael Kühnlein (Hg.): Religionsphilosophie und Religionskritik. Ein Handbuch, Berlin 2018, S. 512–524. Ders.: Carl Schmitts Gegenrevolution, Hamburg 2021. Ders. (Hg.): Welch gütiges Schicksal. Ernst-Wolfgang Böckenförde/Carl Schmitt: Briefwechsel 1953–1984, Baden-Baden 2022. Peterson, Erik: Theologische Traktate (Ausgewählte Schriften Bd. 1), Würzburg 1994. Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923. Ders.: Politische Romantik, München 21925. Ders.: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938. Ders.: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963. Ders.: Die vollendete Reformation. Bemerkungen und Hinweise zu neuen Leviathan-Interpretationen, in: Der Staat 4 (1965), S. 51–69. Ders.: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970. Ders.: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 31979. Ders.: Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung, in: Ernst Hüsmert, Gerd Giesler (Hg.): Carl Schmitt: Die Militärzeit 1915 bis 1919, Berlin 2005, S. 445–452. Ders.: Tagebücher 1930 bis 1934, hg. von Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2010. Ders.: Gesammelte Schriften 1933–1936 mit ergänzenden Beiträgen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2021. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. I, Tübingen 1920. Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. III, Tübingen 1921.
KAMPFBEGRIFF SCHÖPFUNGSORDNUNG Die Kontroverse zwischen Otto Piper und Alfred de Quervain am Ende der Weimarer Republik Marco Hofheinz 1. EINLEITUNG: DIE LEHRE VON DEN SCHÖPFUNGSORDNUNGEN – EINE KONFESSIONELLE EIGENTRADITION IM DEUTUNGSZUSAMMENHANG DER KONSERVATIVEN REVOLUTION? Zu den üblich gewordenen konfessionellen Zuordnungen in der Theologiegeschichte gehört die Zuweisung der sog. Lehre von den Schöpfungsordnungen zum (Neu-)Luthertum des 20. Jahrhunderts. Dem Reformiertentum hingegen wird eine Distanz zu derselben in der Regel zugesprochen.1 Als Ausnahme gilt Emil Brunner (1889–1966),2 der im Jahr 1932 einen Entwurf mit dem programmatischen Titel Das Gebot und die Ordnungen vorlegte.3 Dementsprechend wird üblicherweise im (sozial)ethikgeschichtlichen Gedächtnis festgehalten: Bei der Schöpfungsordnungslehre handelt es sich um eine „vor allem in der lutherischen Tradition entwickelte Lehre“.4 So subsumiert etwa Hans-Richard Reuter besagte Lehre unter der „Ambivalenz des Luthertums“.5 Ehe, Volk, Rasse, Staat, Wirtschaft etc. kamen im Luthertum als „solche statisch und unveränderlich vorgegebene[n] Ordnungen in Betracht“,6 die theologisch als Schöpfungsordnungen qualifiziert wurden, „das heißt als natürlich vorgegebene Gemeinschaftsformen, die je nach eigenen Gesetzen funktionieren.“7 Wolf Krötke hielt bereits vor einigen Jahrzehnten ebenfalls fest: „Die Frage nach so etwas wie ‚Schöpfungsordnungen‘ ist in unserem [dem zwanzigsten; M.H.] Jahrhundert von dem Versuch belastet, den Nationalsozialismus theologisch rechtfertigen zu wollen. Wenn Barth auf ‚Schöpfungsordnungen‘ zu sprechen kam, dann stand ihm zeitlebens vor Augen, was ‚lutherische‘ Theologen wie Paul Althaus, Werner Elert, Friedrich Gogarten, 1 2 3 4 5 6 7
„Eine reformierte Ordnungsethik“ identifiziert Frey (1989): Ethik des Protestantismus, S. 193. Vgl. Brunner (1978): Gebot und Ordnungen, S. 329. Zur Entwicklung der reformierten Theologie im 20. Jahrhundert in Deutschland vgl. Plasger (2005): Reformed Theology, S. 50–68. Haag (1996): Nachdenklich handeln, S. 147; Körtner (2019): Evangelische Sozialethik, S. 353, weist darauf hin, dass diese „(neu)lutherische [Lehre] auch von reformierten Theologen“ vertreten wird. Reuter (2015): Grundlagen, S. 52. Ebd. Ebd.
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Marco Hofheinz Emanuel Hirsch und viele andere in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts über die Geschichte, das Volk, die Rasse, den Boden, den Führer als Ausdruck der Ordnung Gottes gesagt haben.“8
Rückblickend auf den Kirchenkampf während der nationalsozialistischen Herrschaft hat sich die konfessionelle Differenzierung und Zuordnung der lutherischen (Schöpfungs-)Ordnungslehre als Gegenüber zur reformierten Lehre von der Königsherrschaft Christi etabliert. Es handelt sich, bei Lichte betrachtet, um eine Modifikation der Konstellation Zwei-Reiche-Lehre und Königsherrschaft Christi.9 Damit wird die Ordnungstheologie der Tradition der Zwei-Reiche-Lehre zugeordnet und durchaus eine gewisse Opposition bzw. Alternative aufgemacht.10 Der Begriff Schöpfungsordnung war bis in die unmittelbare Nachkriegszeit populär. Ab den 1960er Jahren ist dann der soziologische Begriff der Institution an die Stelle dieses theologisch höchst anfälligen Begriffs getreten,11 um insbesondere die menschliche Gestaltungsoffenheit der Ordnungen bzw. Institutionen zu betonen.12 Heute beruft sich im (sozial-)ethischen Diskurs so gut wie niemand mehr auf Schöpfungsordnungen.13 In der Weimarer Republik allerdings wurde der Begriff und der sich dahinter verbergende Korridor an Deutungsmöglichkeiten heftig diskutiert. Er erlebte damals, nach zarten Anfängen im 19. Jahrhundert, sein eigentliches Aufkommen. Es handelte sich, wenn man so will, um einen politischen Kampfbegriff, um den auf dem theologischen Diskursfeld hart gestritten wurde. In konservativen Kreisen, aber – wie wir sehen werden – nicht nur dort, bediente man sich seiner, zumal er in programmatischer Hinsicht antirevolutionär (reaktionär) anschlussfähig zu sein schien. Entschieden politisch-linke Vertreter, die religiös-sozialistische Theoriekonzepte befürworteten, vermieden oder opponierten offen gegen ihn. Paul Tillich (1886–1965) etwa, der den Leitbegriff Kairos14 in der Weimarer Republik politisch popularisierte,15 kritisierte die Vorstellung von zeitlosen, unveränderlichen sozialen Ordnungen als „Ursprungsmythos“.16 Es gebe keine ewigen, unveränderlichen sozialen Ordnungen im Sinne ontisch-metaphysischer Entitäten.
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Krötke (1994): Schöpfungsordnungen. Dort mit Belegen zu allen genannten Theologen, die sich affirmativ auf Schöpfungsordnungen beriefen. Vgl. Hofheinz (2021): Art. Theologische Ethik, S. 110f.; Honecker (1995): Sozialethik, S. 21; ders. (1990): Einführung, S. 296; Fischer (2002): Theologische Ethik, S. 61. Vgl. Honecker (1998): Themen der Ethik, S. 79. Wesentlichen Anteil an der theologischen Einführung des Institutionenbegriffs hatte Wolf (1988): Sozialethik, S. 168–257; vgl. Brinkmann (1997): Theologische Institutionenethik. Vgl. Fischer (2002): Theologische Ethik, S. 60; Honecker (1990): Einführung, S. 291. Herms (1994): Schöpfungsordnung, S. 431–456, hat freilich diese Lehre zu erneuern versucht. Er versteht das Bestehen der Bedingungen, die den Vollzug endlicher Freiheit ermöglichen, als Schöpfungsordnung, wohlgemerkt im Singular. Vgl. Tillich (1987): Kairos, S. 53–72; Korsch (1996): Dialektische Theologie nach Karl Barth, S. 30. Vgl. Christophersen (2008): Kairos; Leonhardt (2017): Christentum, S. 326–352; Schellong (1982): Augenblick, S. 127–129. Vgl. Honecker (1990): Einführung, S. 297; Körtner (2019): Evangelische Sozialethik, S. 353.
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Der Begriff Schöpfungsordnung gehört also unmittelbar in die Raum- und Zeitdeutungskämpfe der Weimarer Republik hinein. Er greift in den Bereich des Politischen ein und deutet Raum und Zeit, nach Immanuel Kants transzendentaler Ästhetik die „reinen Formen der Anschauung“,17 zum einen als geordnet und zum anderen als auf göttliche Schöpfertätigkeit zurückgehend. Der Gebrauch dieses Begriffs wirkt in seinem jeweiligen Situationsbezug in der Regel stabilisierend, was den status quo betrifft, damit aber zugleich abgrenzend gegenüber revolutionären Umtrieben, mit Ausnahme natürlich der sog. Konservativen Revolution, zu deren konzeptionellem Instrumentarium er sich rechnen lässt. Im theologischen Kontext der Konservativen Revolution entfaltete er auch seine eigentliche Deutungsmacht.18 Wie sehr der Schöpfungsordnungsbegriff in die politische Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts und vor allem das besonders ergiebige Untersuchungsterrain der Weimarer Republik hineingehört, zeigt sich an der im Folgenden dargestellten Kontroverse zwischen Otto A. Piper (1891–1982) und Alfred de Quervain (1896– 1968). Bei beiden Theologen handelt es sich um damals junge Nachwuchsethiker, die am Beginn ihrer akademischen Karrieren standen und um ihre eigenen Positionen in den Wirren unruhiger Zeiten und diversifizierter Anschauungen rangen. Interessanterweise gehören beide unterschiedlichen Konfessionen an: Dem aus Thüringen und dem Bürgertum stammenden Lutheraner Piper steht der aus einer Schweizer Pfarrersdynastie stammende Reformierte de Quervain gegenüber. Beide haben hugenottische Wurzeln, Piper mütterlicherseits und de Quervain väterlicherseits. Dass, wie wir noch sehen werden, ausgerechnet der Lutheraner Piper dem Reformierten de Quervain vorwirft, die Lehre von den Schöpfungsordnungen zu vertreten, mutet vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten konfessionellen Zuordnung paradox, geradezu grotesk an. Darauf wird noch näher einzugehen sein. 2. BIOGRAPHISCHE UND WERKGESCHICHTLICHE HINTERGRÜNDE DER KONTROVERSE Kontroversen waren das besondere Metier der Weimarer Republik – auch im Wissenschaftsbetrieb.19 Die Polarisierung etwa der Parteienlandschaft und der Weltanschauungen spiegelte sich in dieser Dominanz wider: „Während der kurzen Zeit ihrer Existenz verdichteten sich die Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Staates, um die Neuorientierung von Wirtschaft und Wissenschaft, kulturellem Leben und gesellschaftlicher Ordnung“. 20
Das gilt auch für die Kontroverse, die im Folgenden näher betrachtet werden soll, nämlich die zwischen Alfred de Quervain und Otto A. Piper. Unmittelbarer Anlass 17 Kant (1990): Kritik der reinen Vernunft, B33–B73. 18 Vgl. Breuer (1995): Anatomie der Konservativen Revolution; ders. (2010): Die Radikale Rechte; Sontheimer (2000): Antidemokratisches Denken (1962); Stern (2005): Kulturpessimismus. 19 Vgl. Ruddies (2007): Flottierende Versatzstücke, S. 76. 20 Christophersen (2009): Gesprengte Geschichte, S. 12.
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war die Basler Habilitationsschrift de Quervains Die theologischen Voraussetzungen der Politik. Grundlinien einer politischen Theologie, die im Jahr 1931 im Furche-Verlag (Berlin) erschien.21 2.1. Biographische und werkgeschichtliche Hintergründe Alfred de Quervains22 Nach der Matura am Freien Gymnasium Bern und dem Theologiestudium in Bern, Basel, Marburg und Berlin war der am 28. September 1896 in La Neuville am Bielersee geborene Pfarrersohn Alfred de Quervain zunächst nicht ins Pfarramt gegangen, sondern hatte sich sehr bewusst im Osten Berlins zu Beginn der 1920er Jahre der Sozialarbeit gewidmet. Er setzte sich mit dieser vorläufigen lebensgeschichtlichen Entscheidung in ein kritisches Verhältnis zur theologischen Tradition seines konservativen Elternhauses. Zu seinen Lehrern gehörten vornehmlich liberale Geister, neben Adolf von Harnack (1851–1930), dem Wortführer der liberalen Theologie, u.a. der der religionsgeschichtlichen Schule zuzurechnende Alttestamentler Bernhard Duhm (1847–1928) und Paul Natorp (1854–1924), ein Repräsentant des Marburger Neukantianismus, sowie der Basler Kirchengeschichtler Paul Wernle (1872–1939), der dem Religiösen Sozialismus nahestand. Auch die Existenzphilosophie von Karl Barths (1886–1968) Philosophenbruder Heinrich (1890– 1965) hat ihn nachhaltig beeinflusst.23 Dass sich der junge de Quervain der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin unter Leitung von Friedrich Siegmund-Schultze (1885–1969) anschloss und Sozialarbeit in den Arbeiter- und Elendsvierteln im Osten Berlins leistete, war betonter Ausdruck seiner religiös-sozialistischen Überzeugung, die ihn als „kritische[n] Wahrheitssucher“24 in die unmittelbare Nähe von Leonhard Ragaz (1868–1945) und Hermann Kutter (1863–1931), den beiden religiös-sozialistischen Vorkämpfern in der Schweiz, stellte.25 De Quervains Aufgabe bestand darin, ganz im Sinne von Siegmund-Schultzes Verknüpfung von Sozialarbeit mit internationaler Verständigung und Versöhnung, Verbindungen zum französischen Protestantismus herzustellen, wozu de Quervain aufgrund seiner deutsch-französischen Zweisprachigkeit besonders geeignet war. Zugleich flankierte er in Berlin seine (berufs-)praktischen mit theoretisch-geistesgeschichtlichen Studien zur Philosophie (bei Paul Tillich), Rechtsphilosophie und politischen Geschichte. Doch ausgerechnet während dieses sozialen Engagements entdeckte er die Kirche als Ort der Gemeinschaft stiftenden Suche nach dem göttlichen Ursprung menschlichen Lebens und damit einhergehend auch das Pfarramt als Perspektive für sich persönlich.26 21 Quervain (1931): Voraussetzungen. 22 Zu beidem vgl. Castanyé (1981): Theologie Alfred de Quervains, S. 17–29; Göllner (1997): Gemeinde, S. 23–25; 110–114; 197–199; ders. (2005): Alfred de Quervain, S. 105–131. 23 Vgl. Göllner (1997): Gemeinde, S. 41–44; 54f. 24 Göllner (2005): Alfred de Quervain, S. 109. 25 A.a.O., S. 109f. 26 So a.a.O., S. 109.
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Nachdem er, inzwischen in Frankfurt am Main in der ältesten Hugenottengemeinde Deutschlands im Pfarramt, seinem einstigen kirchengeschichtlichen Lehrer Paul Wernle27 sein kleines Büchlein über Johannes Calvin (1509–1564) geschickt hatte,28 antwortete dieser am 29. Dezember 1925 in einem Brief: „Ich hatte freilich manchmal grosse Mühe, mir meinen früheren Schüler Alfred de Quervain als den Verfasser dieser Schrift vorzustellen. Jener steht vor meiner Seele als Ursprung eines jungen Revolutionärs, Sozialisten, Antimilitaristen, Freiheitsapostels; von all dem ist in Ihrem Calvinbüchlein wenig oder nichts mehr zu entdecken.“29
Wernles Verwunderung ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass reformationsgeschichtliche Studien eher zum wissenschaftlichen Profil der Lutherrenaissance und der Dialektischen Theologie, nicht hingegen zu dem des Religiösen Sozialismus zu gehören schienen, de Quervain demnach also die Fronten gewechselt hatte. Wie kam es zu diesem Wandel, der fast wie eine subita conversio vom Saulus zum Paulus anmutet? De Quervain hat darüber in einem Briefentwurf vom 15. Mai 1922, der vermutlich an Karl Barth30 adressiert war und auf dem offiziellen Briefpapier der von Siegmund-Schultze herausgegebenen Zeitschrift Die Eiche niedergeschrieben wurde,31 Rechenschaft abgelegt: „Hatte ich im Idealismus eine kritische Besinnung auf das Ganze des Lebens gesehen, also eine Besinnung auf das Wesen der Humanität, so sah ich bald ein, dass auch sie nur dann richtig gewertet und verstanden wird, wenn ihre Grenze erkannt wird. Das war mir schon damals klar, wie ich mein Examen machte. Ich meinte aber, dass es keiner besonderen Institution bedürfe, um auf diese Grenze, auf Gott hinzuweisen, da sie doch allgemein menschliche Angelegenheit ist und mit dem heutigen religiösen Erlebnis soviel oder so wenig zu tun hat wie mit jeder übrigen Kulturerscheinung. Meine Arbeit in der Grossstadt, gerade auch ihre soziale Seite, hat mir aber den Sinn der Kirche wieder näher gebracht.“32
Wenn man sich freilich de Quervains Calvin-Studie genauer anschaut, so wird man sich deren politischer Dimensionierung schnell bewusst. Sein politisches Interesse war keineswegs erloschen, es hatte sich nur – nach dessen eigenem Eindruck – weiterentwickelt. De Quervain setzte während seiner gesamten pfarramtlichen Tätigkeit in Frankfurt (1923–1926), Stuttgart (1926–1928) und in seiner Heimatstadt La Neuveville (1928–1931) seine intensiven theologischen Studien fort. Schließlich qualifizierte sich de Quervain wissenschaftlich im Wintersemester 1928/29 mit
Zu Wernle vgl. Kuhn (1997): Theologisch-historische Leidenschaften, S. 135–158. Quervain (1926): Calvin. Zit. nach Göllner (2005): Alfred de Quervain, S. 110. Zu Barths Verhältnis zu de Quervain vgl. Freudenberg (2012): Alfred de Quervain, S. 213; 226; ders. (2011): Reformierte Theologie, S. 399. Lessing (2004): Geschichte 2, S. 121–147; 368– 388, rechnet de Quervain mit Hermann Diem, Helmut Gollwitzer, Hans Joachim Iwand, Walter Kreck, Heinrich Vogel, Otto Weber und Ernst Wolf zu den Barthschülern. Insbesondere zu Beginn des Kirchenkampfes war die Beziehung zu Barth wohl recht eng (vgl. R. Hess [2003]: Stimme, S. 3–26). Während der Barmer Synode wohnte Barth bei der Familie de Quervain in Elberfeld, so Göllner (2005): Alfred de Quervain, S. 119. 31 So Göllner (1997): Gemeinde, S. 24. 32 Zit. nach Göllner (2005): Alfred de Quervain, S. 110f.
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einer an der Universität Wien vorgelegten und von Josef Bohatec (1976–1954)33 betreuten Dissertation über Gesetz und Freiheit;34 1930 habilitierte er sich in Basel mit der bereits genannten Arbeit. Sie entstand aus Vorlesungen und Vorträgen und wurde durch zwei kleinere Arbeiten ergänzt.35 Für de Quervain waren in dieser Zeit Carl Schmitt (1888–1985) und Gustav Radbruch (1878–1949) die wichtigsten Gesprächs- und Korrespondenzpartner, ein Umstand, der nachdrücklich für Irritationen in der Betrachtung sorgen sollte.36 Noch im selben Jahr, als die Habilitationsschrift erschien, kehrte de Quervain nach Deutschland zurück und trat eine Pfarrstelle in der Niederländisch-reformierten Gemeinde in Elberfeld an. Damit begann ein neuer Lebensabschnitt für ihn, der in den Kirchenkampf37 und die nationalsozialistische Herrschaft hineinmünden sollte.38 Er erlebte in diesen, seinen „theologisch produktivsten“39 Jahren als reformierter Schweizer in Deutschland den Untergang der Weimarer Republik. 2.2. Biographische und werkgeschichtliche Hintergründe Otto A. Pipers40 Der Weg des am 29. November 1891 im thüringischen Lichte geborenen und früh in der Jugendbewegung höchst aktiven Apothekersohns Otto A. Piper war in der Weimarer Zeit geprägt von der Verarbeitung seiner traumatischen Kriegserfahrungen: „Krieg ist unter allen Umständen Sünde.“41 So lautete das persönliche Resümee des jungen Kriegsfreiwilligen Piper, der 1917 „mit vollkommen zerrütteter Gesundheit“42 die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges verließ. Die Narben des Krieges trug Piper zeitlebens. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war damit zugleich auch seine persönliche Katastrophe, die sein theologisches und politisches Denken prägte.43 Piper schrieb – auch vor dem Hintergrundgrund seiner persönlichen Fronterfahrungen und als Angehöriger der sog. „Frontgeneration”44 – rückblickend im Jahr 1934: „The New Theology, or the theology of the younger generation […] starts from the War experience.”45 33 Vgl. Körtner (1998): Calvinismus und Moderne, S. 36–60; Hofheinz (2021): Calvin in Feudingen?, S. 128–150. 34 Quervain (1930): Gesetz und Freiheit. 35 Vgl. Quervain (1931): Theologie und politische Gestaltung; ders. (1932): Gesetz des Staates. 36 Vgl. Lindenlauf (2016): Königsherrschaft, S. 140f. 37 Zum Kirchenkampf in Wuppertal siehe Vorländer (1968): Kirchenkampf in Elberfeld. 38 Zu de Quervain im Kirchenkampf vgl. Scholl (1988): Alfred de Quervain, S. 79–83; 112–116; Hess (2003): Stimme, S. 3–26; Freudenberg (2012): Alfred de Quervain, S. 211–226; ders. (2011): Reformierte Theologie, S. 385–400. 39 Göllner (2005): Alfred de Quervain, S. 117. So auch ders. (1997): Gemeinde, S. 110. 40 Vgl. zu dem einleitenden Abschnitt zu Otto A. Piper: Hofheinz/Riechmann (2018): Revolution und Kirchenkampf, S. 15f. Siehe zu Piper insgesamt: Graf (2011): Lutherischer Neurealismus. 41 Piper (1920): Thesen, These 8. 42 Heidemann (1987): Fühlung, S. 106. 43 Vgl. Piper (1930): Die Krise der Kriegsteilnehmergeneration. 44 Vgl. Peukert (1987): Die Weimarer Republik, S. 26. 45 Piper (1934): Recent Developments, S. 59.
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Akademisch tat er sich in den 1920er Jahren trotz zahlreicher Publikationen sehr schwer, Fuß zu fassen. Nach dem zweiten theologischen Examen (1918) wurde er 1920 mit einer Studie zu Schleiermachers Reden bei Carl Stange (1870–1959) in Göttingen zum Lizentiaten promoviert.46 Noch im selben Jahr erfolgte die Ernennung zum Privatdozenten für Systematische Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen, doch dauerte es nahezu eine Dekade, die Piper in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen erlebte, bis er 1930 eine Stelle als ordentlicher Professor an der Universität Münster bekam, und zwar als Nachfolger Karl Barths,47 dessen Lehrstuhl nach seinem Weggang nach Bonn neubesetzt werden musste. Die Publikation von Pipers zweibändigen Grundlagen evangelischer Ethik (1928/30)48 war karrieretechnisch sehr förderlich im Gegensatz zu seinem politischen Engagement. Theologisch gilt er als schwer einzuordnen.49 Piper gehörte zu den wenigen Theologen im deutschen Protestantismus, die den politischen Umbruch 1918 und die Weimarer Republik nicht als Machtübernahme der sog. Reichsfeinde (USPD und SPD) ablehnten, sondern als Chance begriffen. Dabei wandelte sich sein „zunächst diffuser, auch für völkische Ideologeme offener revolutionärer Sozialismus [...] zunehmend zu einer reformistischen Politikkonzeption“.50 Als im März 1930 die letzte Weimarer Große Koalition unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller (1876–1931) scheiterte,51 verstand Piper die daraufhin erfolgende Einsetzung des ersten Präsidialkabinetts Heinrich Brüning (1885–1970) als Übergang zu einer „verschleierte[n] Diktatur“.52 Zugleich beteiligte er sich lebhaft an der Suche nach Auswegen aus der tiefgreifenden Strukturkrise des parlamentarischen Weimarer Systems, ohne dem Irrglauben zu verfallen, den Rechtsstaat auch ohne Demokratie erhalten zu können.53 Als Piper zum 30. September 1933 aufgrund des § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ohne Angabe näherer Gründe als Theologieprofessor der Universität Münster entlassen wurde, führte er selbst beim Abschied 1933 folgende Gründe an, die sein Wirken erschwert hätten: sein Eintreten für Demokratie und Versöhnung der Klassen auf der Grundlage des Sozialismus, sein Engagement für internationale Verständigung auf religiöser Grundlage, seine Mitwirkung in der ökumenischen Arbeit, seine guten Kontakte nach Frankreich sowie seine längeren Aufenthalte ebendort.54
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Piper (1920): Das religiöse Erlebnis. Zu Pipers Verhältnis zu Barth vgl. Niether (2021): Eine reale oder vitale Dialektik, S. 109–133. Piper (1928): Die Grundlagen evangelischer Ethik, Bd. 1. So Lessing (2004): Geschichte 2, S. 332. Graf (2011): Lutherischer Neurealismus, S. 332. Vgl. Reichel (2018): Der tragische Kanzler. Piper (1931): Demokratie, S. 100. Graf (2011): Lutherischer Neurealismus, S. 340. Auch wenn man Grafs flächige Einschätzung als zu weitreichend beurteilen mag, wird man sicherlich fragen müssen, inwiefern Piper am „Wiedererstarken autoritärer Formen“ partizipierte. Vgl. Schellong (1982): Augenblick, S. 105. 54 Vgl. dazu Neuser (1991): Evangelisch-theologische Fakultät, S. 74–77.
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Piper gehörte in einer Zeit der verbreiteten christlichen Abneigung gegen die demokratische Rechts- und Regierungsform zum Weimarer Kreis verfassungstreuer Hochschullehrer, bekannte sich als solcher offen zur Demokratie, war Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund und seit 1927 deutscher Delegierter der Weltkirchenkonferenz (Faith and Order) in Lausanne; seit 1928 arbeitete er im Evangelisch-Sozialen Kongress mit. „So gibt es doch heute für den Christen eine Pflicht zur Demokratie“,55 stellte Piper vor dem 38. Evangelisch-Sozialen Kongress fest. Seit 1928 war er Sprecher der Jungevangelischen Bewegung. Besonders hervorzuheben ist die für sich sprechende Tatsache, dass Piper als vermutlich einziger deutscher Hochschullehrer der Zwischenkriegszeit die theologische Ehrendoktorwürde einer französischen Fakultät erhielt,56 nämlich im Jahr 1930 die der Pariser Faculté libre – eine nachdrückliche Würdigung seines Engagements für eine deutsch-französische Aussöhnung in ökumenischen Gremien.57 Auch muss erwähnt werden, dass Piper mit einer jüdischen Frau, die zum Christentum konvertierte, verheiratet war. Das verbindet ihn ebenfalls mit de Quervain, dessen Frau auch jüdische Wurzeln hatte.58 3. PIPERS KRITISCHE REZENSIONEN ZU DE QUERVAINS FRÜHEN SCHRIFTEN ZUR POLITISCHEN ETHIK 3.1. Ideologie und Politik. Pipers erste Rezension Unter dem Titel Ideologie und Politik. Eine Auseinandersetzung mit A. de Quervain veröffentlichte Otto Piper aus seiner Position als Münsteraner Professor in der Zeitschrift Evangelisch-Sozial eine ausführliche Rezension zu de Quervains Basler Habilitationsschrift Die theologische Voraussetzung der Politik. Dabei dürfte er sich durchaus des Umstandes bewusst gewesen sein, dass er aus dem akademischen Lehramt, de Quervain indes aus dem Pfarramt heraus schrieb. Eingangs würdigt er das Buch aufgrund seiner „seelsorgerlichen Art“ als eine Schrift,59 die „besondere Beachtung“ verdiene, da sie „durch Auseinandersetzung mit den wichtigsten politischen Bewegungen der Gegenwart zu einem theologisch begründeten politischen Standpunkt“ zu kommen bemüht sei.60 Beides erweise sich als unabdingbar für eine politische Ethik theologischer Provenienz: der Bezug auf die Gegenwart bzw. die
55 Piper (1931): Demokratie, S. 95. 56 Vgl. Heidemann (1987): Fühlung, S. 107f. 57 „[I]n herzlicher Dankbarkeit und Verbundenheit“ widmet Piper der evangelisch-theologischen Fakultät in Paris seine Schrift Piper (1933): Gottes Wahrheit. 58 So Freudenberg (2011): Reformierte Theologie, S. 388; ders. (2012): Alfred de Quervain, S. 215; vgl. hierzu auch die Artikel zu Piper und de Quervain (2014) in: Ludwig/Röhm (2014): Evangelisch getauft – als Juden verfolgt, S. 270f.; 280f. 59 Piper (1932): Ideologie und Politik, S. 7. 60 A.a.O., S. 4.
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Berücksichtigung ihrer politischen Bewegungen und eine eigene genuin theologische Begründung des politischen Standpunktes. Mit diesem Doppelakzent ist eine Ellipse umschrieben, um deren beiden Pole Pipers gesamte Auseinandersetzung mit de Quervain kreist, nimmt er doch eine doppelte Abgrenzungsbewegung bei de Quervain wahr: gegenüber dem katholischen Naturrecht61 und der aktivistischen Mystik, die im Religiösen Sozialismus, namentlich bei Paul Tillich, vertreten werde. Kennzeichnend für de Quervains eigene Position sei sein „Ansatz beim Schöpfungsbegriff“.62 Es gehe ihm also darum, „den Menschen als Geschöpf Gottes anzusehen, das heiße: als geschichtlichen Menschen, der volkshaft und staatlich-politisch bestimmt sei, der einen ‚Stand‘, einen Beruf habe, und der in familienhaften und klassenmäßigen Verbänden lebe. Zu dieser Auffassung stehe im Widerspruch der Individualismus, der Freiheit und Erlösung in der Abstreifung all dieser Bindungen suche. Geschöpf sein heiße unter dem Gesetz des Schöpfers stehen, und das erlaube uns unter gar keinen Umständen eine dieser Bindungen zu ignorieren. Es gebe keinen höheren Wert, um deswillen jene geopfert werden dürften. Freilich dürften sich jene Bindungen auch keine Eigengesetzlichkeit anmaßen, der Christ lebe in ihnen als einer, der auf seine Auferstehung warte.“63
Piper sieht freilich bei de Quervain nicht die Ausrichtung auf die mit der Auferstehung einhergehende neue Schöpfung als federführend an, sondern das Beharren auf Einordnung in die Ordnungen. Das leitende, die eigentliche Deutungsmacht besitzende Paradigma sei kein eschatologisches, sondern ein schöpfungs-, ja ordnungstheologisches. Piper wirft de Quervain daher „christlichen Konservativismus“ vor.64 Dieser zeige sich auch, wenn jener die Koordinaten seines Denkens in recht typologischer Manier anhand der Auseinandersetzung mit vier Gegenwartsbewegungen bestimme, nämlich a) dem Liberalismus (mystischer Individualismus, der Glaube an das autonome Ich), b) dem Religiösen Sozialismus, der „sich als Kirchenersatz anbiete und Heil und Erlösung verspreche“,65 c) dem christlichen Konservativismus (Stahl, von Gerlach, Vilmar u.a.), den de Quervain mit „einer gewissen Freundlichkeit“ behandle,66 dem er dann aber vorwerfe, „[e]r wolle christlich sein, aber er nehme im Grunde den Menschen in seiner Vernünftigkeit, nicht den von Gott erwählten Menschen zum Ausgangspunkt“,67 d) dem jungen naturalistischen Konservativismus, dessen Anliegen „um die Erhaltung des Volkstums“ de Quervain verdächtigerweise besonders würdige.68 De Quervain gelangt nach Pipers Einschätzung zu einem situationsethischen, um nicht zu sagen dezisionistischen Plädoyer, das die ethische Urteilsbildung im
61 62 63 64 65 66 67 68
Vgl. Quervain (1930): Gesetz und Freiheit, S. 90–122. Piper (1932): Ideologie und Politik, S. 5. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 6. Ebd. Ebd. Zu Pipers eigenem Volk- und Staatsverständnis vgl. den zeitgleich erschienenen Aufsatz Piper (1932): Von der Liebe.
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jeweiligen politischen Entscheidungsfall weder aposteriori noch apriori stark mache. Diese Einschätzung de Quervains prädiziert Piper als „außerordentlich wertvoll: […] Hier wird nicht einfach, wie es heute so oft geschieht (bei den Volkskonservativen und dem Christlichen Volksdienst ebenso wie bei vielen religiösen Sozialisten), ein im Voraus bestehender politischer Standpunkt mit Hilfe theologischer Begriffe zu sanktionieren gesucht, sondern trotz der offensichtlichen Sympathien des Verfassers für die Volkskonservativen wird hier das Politisieren und die Politik selbst zu einem ernstlichen theologischen Problem.“69
Trotz dieses großen Verdienstes zeige sich jedoch auch eine Problematik bei de Quervains Behandlung der Politik, die gleichsam in abstracto, nämlich in Auseinandersetzung mit den politischen Weltanschauungen statt der gegenwärtigen praktischen Politik, erfolge.70 Deren politische Entscheidungen seien aber in Wirklichkeit keine politischen, sondern ideologische Entscheidungen, wie am Beispiel der jungnationalen Bewegung Wilhelm Stapels (1882–1954) und seinem Verständnis von „Volksnomos“ und totalem Staat zu erkennen sei.71 Der politische Nutzen prävaliere in den politischen Entscheidungen. Der pragmatische und der theologische Standpunkt aber würden bei de Quervain auseinandergerissen.72 De Quervain würde sich mit seiner Thematisierung der Weltanschauungen nur auf der Ebene der Ideologien bewegen73 und diese dann „durch einen unmittelbaren Glaubensgehorsam ersetzen“ wollen.74 Die Ebene der politischen Pragmatik, gleichsam jenseits der Ideologiekritik und der Befähigung zu derselben, blende de Quervain hingegen aus. Das ausschlaggebende politische Motiv sei jedoch nicht die Durchsetzung einer bestimmten Weltanschauung, sondern „die Erringung der politischen Macht“.75 Piper führt aber noch ein zweites Bedenken an, das die Thematik dieses Beitrages, nämlich die Lehre von der Schöpfungsordnung, unmittelbar betrifft. Bei Piper heißt es dazu: „Durch Quervains Buch zieht sich im Geheimen die Meinung, es gäbe so etwas wie eine evangelische politische Weltanschauung. Gewiß er ist sehr zurückhaltend, er möchte nicht so etwas wie ein christliches System der Politik geben, aus dem jeder ohne weiteres die rechten politi-
69 Piper (1932): Ideologie und Politik, S. 7. 70 Vgl. ebd. 71 Zu Stapel vgl. Kurz (2007): Nationalprotestantisches Denken; Weinrich (2013): Die bescheidene Kompromisslosigkeit, S. 401–405. 72 Vgl. Piper (1932): Ideologie und Politik, S. 8. 73 In der Rezension zu de Quervains flankierendem Bändchen Das Gesetz des Staates heißt es bei Piper dazu: „Er [de Quervain; M.H.], der so sehr darauf bedacht ist, die lebendige Wirklichkeit in den Blick zu bekommen, übersieht, dass seine ‚zeitlosen‘ Ideologien nur ein Versuch sind, die eigene geschichtliche Lage zu überspringen, in der eben auch der Theologe immer nur von einem geschichtlichen Standpunkte aus zur Politik reden kann. Statt dessen verfährt de Quervain so, als ob es der Mensch in seiner Hand hätte, ob er liberal oder konservativ eingestellt sein will, ob er mehr an seine Eingliederung in die Gemeinschaft oder mehr an die Verteidigung seiner Persönlichkeit gegen die Gemeinschaft bedacht sein will.“ Piper (1932): Der wirkliche Staat, S. 930. 74 Piper (1932): Ideologie und Politik, S. 10. 75 A.a.O., S. 7f.
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schen Maßnahmen ableiten könnte. Aber die Art und Weise, wie hier vom Schöpfungsgedanken Gebrauch gemacht wird, ist nur von seinem naturalistischen Konservativismus her verständlich. Quervain folgt, wenn er von Schöpfung redet, der Linie, die von Brunstädt, Althaus, Gogarten und Schreiner gezogen worden ist (mit entgegengesetztem Ergebnis auch von Wünsch) und die ihren Ursprung bei Hegel und Troeltsch hat, nicht aber, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, bei Luther.“76
Piper bemüht sich, Luther selbst von der Lehre von den Schöpfungsordnungen freizusprechen und die Traditionslinie zwischen ihm und der Lutherrenaissance zu kappen, ja gegen diese zu wenden. Es geht hier also auch um die Entfaltung der Deutungsmacht im Blick auf Luther, mithin um sein legitimes Erbe, das die Lutherrenaissance für sich beanspruchte. Im Gegensatz zu deren Weltbild sei Luthers, so Piper, christozentrisch. Luther notiert etwa in seiner ersten Psalmenvorlesung: „Christus finis omnium et centrum“.77 Hier hat das theologische Denken Piper zufolge Einkehr zu halten und von hier aus auch den entscheidenden Einwand gegen die Lehre von den Schöpfungsordnungen zu artikulieren: „Von der Schöpfung wie von der Vollendung der Welt wissen wir deshalb nur so viel, als wir in Christus erkennen. Als der Erlöser bekennt sich Christus zu seiner Welt, aber eben als zu einer, die der Erlösung bedarf. Wir haben deshalb zwar ein Recht, in dieser Welt und gerade auch in ihren Ständen und Ordnungen Gottes Willen zu finden. Aber wir haben eben kein Recht, diese Welt und ihre Stände als die reine Offenbarung seines Willens anzusehen.“78
Das theologische Problem der Schöpfungsordnungen ist demzufolge nicht einfach nur ein ontisches, sondern zugleich ein noetisches, das Christus betrifft. Von der Schöpfung lässt sich in einem theologisch qualifizierten Sinne nur christologisch und weil christologisch darum entschieden eschatologisch reden. Genau dieses eschatologische Paradigma, das die Schöpfung im Lichte der Erlösung betrachtet, werde durch die überkommene Rede von Schöpfungsordnungen untergraben: „Aber freilich muss in der evangelischen Ethik das Allgemeine von der Erlösung her gesehen werden, d.h. aber eben gerade nicht, wie im Jungen Konservativismus und seiner Verwendung des Schöpfungsbegriffes, in seinem Sein, sondern seiner Bestimmung.“ 79
Diesen Grundsatz sieht Piper bei de Quervain unterlaufen: „[W]eil er [de Quervain; M.H.] sie [die Welt; M.H.] nicht vom Erlöser her sieht, sondern vom Schöpfer her, gelangt er zu bedenklichen Konsequenzen.“80 Diese würden in eine eigene politische Weltanschauung münden, über eine distinkt christliche Politik hinaus, die de Quervain letztlich vom Politiker, auch vom säkularen, fordere: „Gläubige Unterordnung unter Gott bedeutet ihm [de Quervain; M.H.] Ehrfurcht vor dem schöpfungsmäßigen Sein. Das aber soll in der Gebundenheit des Menschen an Familie, Stand, Klasse, Volk und Staat liegen. Hierbei wird aber unversehens diese Gebundenheit selbst mit der Bejahung einer bestimmten Weise der Gebundenheit gleichgesetzt. [...] Dabei ist doch an sich gar nicht gesagt, dass etwa in der Umgestaltung des Volkes mit Hilfe des Klassenkampfes 76 77 78 79 80
A.a.O., S. 8. Luther (1885): WA 3, 368, 22. Piper (1932): Ideologie und Politik, S. 8. A.a.O., S. 9. Ebd.
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Marco Hofheinz weniger Ehrfurcht vor dem Schöpferwillen steckt als in seiner Umgestaltung mit Hilfe der Staatsautorität oder im freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte. Ungewollt läuft diese Grundlegung doch auf die Empfehlung einer bestimmten Politik hinaus.“81
Als Gegenprogramm zu einer christlichen Politik fordert Piper: „Die Kritik der Weltanschauungen muss eine immanente Kritik sein. Sie darf also nicht mit dem Rüstzeug der Theologie, sondern muss mit den Mitteln der Erfahrungswissenschaften und der Philosophie erfolgen. […] Zugleich aber muss der Seelsorger schärfer als es bei Quervain geschieht, darauf hinweisen, dass all diese politischen Weltanschauungen als menschliche Deutungen ihr relatives Recht haben, das Auseinandersetzung mit dem Gegner, nicht aber unkritische Verurteilung verlangt, und dass diese Auseinandersetzung nur da eine christliche Auseinandersetzung ist, wo man durch seine eigene Anschauung hindurch das Erlösungsziel im Auge hat.“82
3.2 Der wirkliche Staat und die Ethik. Pipers zweite Rezension Für Piper ging die Auseinandersetzung mit de Quervain, die im Verlauf der Rezension zunehmend an Schärfe gewann, mit einer zweiten Rezension in eine neue Runde. Diese verfasste Piper unter dem Titel Der wirkliche Staat und die Ethik für Martin Rades Die Christliche Welt noch im selben Jahr zu de Quervains kleiner, seine Habilitationsschrift flankierenden Schrift Das Gesetz des Staates (1932).83 Damit widmete sich Piper vertiefend der Konzipierung einer der konkreten Ordnungen durch de Quervain, nämlich dem Staat. Piper geht dort ganz analog zu seiner ersten Rezension vor und startet mit einer Würdigung: „De Quervain hat sich in dankenswerter Weise um die theologischen Voraussetzungen der Politik bemüht und er hat dadurch sicher manchem einen Dienst leisten können, der im Eifer der Politik sein Christsein ganz vergessen hatte. In einer neuen kleineren Schrift hat sich de Quervain nun noch speziell zum Problem des Staates geäußert. Er macht hier den Versuch, von protestantischer Seite aus die Bemühungen fortzusetzen, die Carl Schmitt vom Boden des katholischen Dogmas aus begonnen hat.“84
Nach dieser Würdigung benennt er kurz zur Einordung die Abgrenzung de Quervains vom ordnungstheologischen Entwurf Wilhelm Stapels: „Die politische Ethik kann sich nicht aus der Eigengesetzlichkeit eines Staates heraus entwickeln.“85 Hier liegt der tiefe Konsens zwischen de Quervain und Piper. Auch den „Seelsorger de Quervain“ lobt Piper erneut. Dennoch nehme der Ordnungsbegriff auch in diesem Parergon de Quervains eine zentrale Stellung ein. So gehe er offenkundig ordnungstheologisch von einer
81 Ebd. 82 Ebd. Hier zeigen sich im Übrigen Berührungspunkte zur Position Paul Tillichs. Lessing (2004): Geschichte 2, S. 332–338, ordnet beide theologiegeschichtlich einander zu. 83 Quervain (1932): Gesetz. 84 Piper (1932): Der wirkliche Staat, S. 927. 85 A.a.O., S. 928.
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„prästabilierte[n] Harmonie der Lebensordnungen“86 aus, „die alle aufeinander bezogen wären“87 und insofern in ihrem Gesamt in „bester“ Ordnung seien. Ansonsten aber berücksichtige de Quervain, wie Piper kritisch im Sinne einer doppelten Botschaft einwirft, „hier wohl an Tillich geschult – die geschichtliche Dynamik des Gemeinschaftslebens.“88 Das „ansonsten“ impliziert die Kritik, dass dies eben in de Quervains Argumentation nicht durchgehend der Fall sei. Wiederum versuche de Quervain zwar, auch in diesem Werk die Schöpfungstheologie kritisch in Anschlag zu bringen, wenn er etwa den „geschöpflichen Charakter des Lebens“ hervorhebe und die „Gehalte menschlich-geschöpflichen Lebens“ als Grenze des Staates bestimme.89 Eine Begründung aber für solche Aussagen liefere de Quervain nicht, sondern es bleibe bei einem „weil Gott das so wolle“.90 Piper findet dies „peinlich“.91 Auch an seiner affirmativen Bezugnahme auf die Ich-Du-Lehre Friedrich Gogartens sei Kritik zu üben,92 da de Quervain nolens volens den Standpunkt des Naturrechts vertrete, zumal er diesem auch noetische Valenz („Offenbarungserkenntnis“) zuspreche.93 Hinsichtlich des Naturrechtes gelte indes: „Das Christentum lässt das Naturrecht gelten, aber es ordnet es den Zwecken der hereinbrechenden Gottesherrschaft unter.“94 In ihrem Kern besagt nun Pipers Kritik ganz seiner ersten Rezension entsprechend: „Bei de Quervain ist durch die naturrechtliche Grundlegung die große Spannung zwischen den natürlichen Gemeinschaften und der Gottesherrschaft verschwunden. Seine Ethik stellt ohne Zweifel auf naturrechtlichem Gebiet einen wesentlichen Fortschritt dar gegenüber dem Dogmatismus vieler politischer Ethiker, denn sie ist viel beweglicher und wirklichkeitsnäher. Aber Gott ist hier eben nur ein Ideogramm für den Ursprung; es ist de Quervain nicht gelungen, die
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A.a.O., S. 929. Ebd. A.a.O., S. 930. Im Original bei de Quervain (1932): Gesetz, S. 47. Piper (1932): Der wirkliche Staat, S. 930. A.a.O., S. 931. Vgl. dazu Weinrich (1980): Der Wirklichkeit begegnen, S. 131–212. Vgl. speziell zu Gogartens völkischer Theologie ders. (2013): Kompromisslosigkeit, S. 399–401; Schellong (1982): Augenblick, S. 119–122; ders. (1983): Jenseits, S. 292–315. Fernerhin zu Gogartens politischer Theologie Dietz (2019): Krisis und Geschick, S. 261–263. 93 Vgl. Piper (1932): Der wirkliche Staat, S. 930. Piper identifiziert in der komparatistischen Perspektive des ökumenischen Abgleichs einen „verhängnisvollen Fehler“ (ebd.) bei de Quervain: „De Quervain übersieht offenbar, dass die konkreten Normen, die wir unter Anleitung jenes Naturrechtes bilden, in unaufhebbarer Abhängigkeit von unserer Subjektivität, vor allem unserer persönlichen Weltanschauung stehen. Er macht dagegen aus seiner persönlichen Weltanschauung selbst ein Moment der Norm. Die Katholiken sehen im allgemeinen an diesem Punkte klarer, und auf katholischer Seite würde man deshalb nicht so leicht in de Quervains Fehler verfallen, die christliche Front als solche mit der gegen Demokratie und ‚westlichen Individualismus‘ zusammenfallen zu lassen, oder das naturhaft geschichtliche Ereignis der Volkswerdung mit der Beugung unter Gottes Willen gleichzusetzen. Es ist eine der bedauerlichen Inkonsequenzen de Quervains.“ 94 A.a.O., S. 931. Vgl. zum Naturrecht auch Piper (1946): What Is Natural Law?, S. 459–471.
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Marco Hofheinz Ethik von der zentralen Erkenntnis des Glaubens, nämlich der Erlösung und der neuen Schöpfung in Jesus Christus her zu begründen.“95
Bedenken meldet Piper fernerhin gegenüber de Quervains Staatsbegriff an. Zwar wolle dieser nicht von einem konstruierten Idealbegriff eines Staates ausgehen, er tue dies de facto aber doch, bleibe insbesondere in seinen Ausführungen über die Schweiz ideologisch,96 indem er die Wirklichkeit des Staates, und d.h. für Piper die Machtinteressen, nicht in den Blick nehme, ja auch keinen Wesensbegriff im Blick auf den Staat präge. Durch seinen Idealbegriff aber „schweben alle seine [de Quervains; M.H.] Erörterungen in der Luft.“97 Piper hält dagegen: „[D]er wirkliche Staat ist Herrschaft einer Gruppe oder Schicht über die anderen Glieder des Staatsvolkes, bei der die Wahrung der Interessen der Regierenden mit dem relativen Vorteil für die Regierten verbunden ist.“98 Den entschiedenen Widerspruch Pipers erntet de Quervain für seine „eigentümlich freundliche Beurteilung der Eingriffe und Angriffe des nationalistischen Politikers gegen eine pazifistische Kirche.“99 An dieser Stelle scheint bei Piper ein besonderer Nerv getroffen zu sein, geht es hier doch um sein eigenes und das kirchliche Selbstverständnis.100 Der Pazifist Piper kann die Unterstellung de Quervains, die Staatsmänner besäßen besseres Wissen um das Wort Gottes, nicht auf sich beruhen lassen und wendet mit Verve ein: „Sowenig ich bestreiten will, dass unter Umständen der Politiker oder Staatsmann über Fragen der christlichen Ethik ein zuständiges Urteil abgeben kann, so abwegig erscheint es mir, wenn man heute den Kampf des Nationalismus gegen den christlichen Pazifismus meint als Abwehr einer unkritischen ‚christlichen Sittlichkeit‘ durch ein kritisches gläubiges Wissen rechtfertigen zu können. Das würde nur dann zutreffen, wenn Staat und Kirche auf einer Ebene ständen. Das gilt aber von der Kirche höchstens soweit, als sie organisierte Gemeinschaft ist, gerade aber nicht von ihr als Verkündigerin des Wortes Gottes. Denn der Politiker streitet als Politiker um die Macht, nicht um Gottes Wort. Seine Politik ist also niemals auf die Herausstellung des wahren Glaubensverständnisses gerichtet. Und der Kampf des politischen Nationalismus gegen den christlichen Pazifismus ist eben deshalb niemals nur dialektisch gemeint, sondern direkt politisch. Denn der Politiker wird alles bekämpfen, was ihm in den Weg tritt. Darum wird ihm Gottes Wort als Gericht über alles Menschliche immer ein Hindernis sein. Der Gegensatz zwischen Staat und Kirche ist nicht nur ein einmaliges Ereignis, sondern im Wesen des Staates begründet, und er wird auch durch ein Staatskirchentum nur verdeckt, aber nie aus der Welt geschafft.“101
Hier ist Pipers eigene Bestimmung des Staats-Kirchen-Verhältnisses mit Händen zu greifen. Piper wendet sich gegen ein Staatskirchentum und eine erzwungene Harmonie zwischen beiden. Er setzt vielmehr eine durch und durch spannungsvolle Beziehung voraus. Als ehemaliges USPD-Mitglied war er diesbezüglich besonders 95 96 97 98 99 100
Piper (1932): Der wirkliche Staat, S. 931. Vgl. a.a.O., S. 929. Ebd. Ebd. Piper (1932): Der wirkliche Staat, S. 929. Etwa zeitgleich zu seinen Rezensionen veröffentlichte Piper das Plädoyer Piper (1932): Abrüstung als religiöse Verpflichtung, S. 273–279. 101 Piper (1932): Der wirkliche Staat, S. 929.
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sensibilisiert, kam es doch in Preußen während der Novemberrevolution unter Adolph Hoffmann, dem Mitbegründer der USPD, zum Versuch, Kirche und Staat radikal zu trennen,102 was kirchlicherseits als Verdrängung aus dem öffentlichen Leben empfunden wurde.103 Piper geht explizit auf die Weimarer Verhältnisse ein, wenn er sich für die konkrete Verkündigung der Kirche und damit eine politische Kirche ausspricht, die sich nicht von allen notwendigen Entscheidungen fernhält. Er rekurriert dabei gezielt auf das Signalwort der Dialektischen Theologie, nämlich das „Wort Gottes“, das als Reizwort in den Diskursen fungierte: „Gottes Wort trifft den Empfänger nur, wenn es in seine Lage hineingesprochen wird, und darum muss evangelische Verkündigung notwendig konkret sein. Die Kirche, die heute z.B. nicht zu der herrschenden Wirtschaftsordnung Stellung zu nehmen wagt, sagt vielleicht erbauliche Dinge über die Wirtschaft. Aber sie sagt eben nicht Gottes Wort, sondern das Wort ängstlicher Menschen. Und wenn die Kirche heute zu dem latenten – o dass er noch latent wäre! – Bürgerkriege schweigt, so zwingt sie Gott, an ihrer Stelle die Steine reden zu lassen. Das konkrete Wort der Kirche ist freilich keine politische Entscheidung für Hakenkreuz oder Sowjetstern, wohl aber eine Entscheidung gegen den Ungehorsam für die Beugung unter Gottes Wort. […] Ohne diesen Mut zur Konkretheit wird durch solche Schriften, wie die de Quervains nur erreicht, dass trotz aller allgemeinen Hinweise auf die Sündigkeit des Menschen die Vertreter bestimmter politischer Tendenzen beglückt feststellen zu können meinen, dass sie die eigentlichen Sachwalter Gottes sind.“104
4. ÜBERZOGENE KRITIK? ZUR BEURTEILUNG DES EINSPRUCHS PIPERS GEGEN DE QUERVAINS FRÜHE POLITISCHE ETHIK 4.1. Die mutmaßliche Reaktion de Quervains auf Pipers Einspruch Leider ist uns keine Reaktion de Quervains auf Pipers ausführliche und mit großer Schärfe vorgetragenen Rezensionen bekannt. Insofern will es als unpassend erscheinen, von einer Kontroverse zu sprechen. Doch auch wenn keine direkte Replik de Quervains bekannt ist, dürfen wir sicher sein, dass er die Rezensionen sehr bewusst wahrgenommen hat. Im Anhang zu de Quervains Schrift Das Gesetz des Staates ist ein Pressespiegel mit „Presseurteilen über ‚Die theologischen Voraussetzungen der Politik‘“ abgedruckt.105 Neben anderen Statements aus neun verschiedenen theologischen Zeitschriften wird Piper als einziger Verfasser namentlich erwähnt und ein kurzes Statement aus seiner Rezension gewissermaßen als Appetizer abgedruckt. Es ist freilich recht spekulativ, über de Quervains Reaktion zu mutmaßen. 102 Vgl. Wehler (2008): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 439. 103 Leonhardt (2017): Christentum, S. 319–323; Busch (2019): Mit dem Anfang anfangen, S. 67– 84. 104 Piper (1932): Der wirkliche Staat, S. 931f. 105 Vgl. Quervain (1932): Gesetz, S. 71f.
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Gleichwohl wird man davon ausgehen dürfen, dass de Quervain sich über die Heftigkeit der Ausführungen Pipers in der Sache gewundert haben wird. Vermutlich fiel Pipers Rezension nach de Quervains Wahrnehmung überpointiert, ja unfair aus, da er selbst sich im initialen Anliegen doch mit Piper einig wusste. So zeigt sich bereits in seiner Habilitationsschrift sowohl eine Ablehnung des Erkenntnisweges der natürlichen Theologie106 als auch eine Skepsis gegenüber der Theologie eigengesetzlicher Schöpfungsordnungen,107 die er beide nicht nur mit Karl Barth, sondern eben auch mit Otto Piper teilte.108 Warum aber dann diese Attacken Pipers? Die heutigen theologisch informierten Lesenden sind wahrscheinlich nicht weniger erstaunt als de Quervain es damals vielleicht war. Dies liegt freilich daran, dass wir beide Rezensionen perspektivisch, d.h. ex post lesen und zwar im Wissen um die strenge christologische Konzentration in de Quervains wirkmächtigem ethikgeschichtlichen Beitrag zum Kirchenkampf, für den er später bekannt wurde. Schließlich war er es, der „den ersten ethischen Gesamtentwurf unter dem Leitgedanken der ‚Königsherrschaft Christi‘ vorlegte und damit gleichermaßen stil- und begriffsbildend wirkte“.109 Dass ausgerechnet er mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, ordnungstheologisch zu argumentieren und der Lehre von den Schöpfungsordnungen erlegen zu sein, verwundert, da es nicht ins theologiegeschichtliche Schema passen will. Und dass ausgerechnet ein Lutheraner diesen Vorwurf lancierte, verwundert nicht weniger. Nach gängiger konfessionsbezogener Zuordnung scheinen die Rollen hier vertauscht zu sein. An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, eine Apologie de Quervains zu liefern und ihn gegenüber ungerechtfertigten Vorwürfen Pipers in Schutz zu nehmen. Gegenüber der Versuchung, de Quervain vorschnell rein zu waschen, gilt es zunächst einmal die hermeneutische Aufgabe wahrzunehmen. Dazu gehört die Realisierung, dass de Quervain in der Zeit der untergehenden Weimarer Republik selbst noch ein Suchender war, der um seine theologische Position rang, welche er dann im Kirchenkampf fand und von da aus ausbaute: „Diese Unmöglichkeit, den Ethiker Alfred de Quervain insbesondere in den zwanziger Jahren einer abgesicherten Position und dem zugehörigen Lager zuzuordnen, hat denn auch verschiedentlich zu Irritationen geführt“.110 Die dargestellte Kontroverse bewegt sich also, was biographisch-werkgeschichtlich bedacht sein will, im Bereich von de Quervains Frühwerk. Freilich zeigt sich auch hier schon – wie in allen Phasen seines Œuvres – seine politische Intention und auch die Absicht kristallisiert sich hier heraus, die politische Dimension der Theologie im Verstehenshorizont einer 106 Vgl. Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 40–59; vgl. im Spätwerk de Quervains auch ders. (1942): Heiligung, S. 198–200. 107 Vgl. Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 132–134. Fernerhin: ders. (1942): Heiligung, S. 307–334; ders. (1945): Kirche, Volk, Staat, S. 284–289. Vgl. auch Kreck (1990): Grundfragen, S. 113f., der sich in seiner Kritik an der Lehre von den Schöpfungsordnungen neben Karl Barth explizit auf Alfred de Quervain beruft. 108 So Lindenlauf (1988): Karl Barth, S. 451. 109 Lindenlauf (2016): Königsherrschaft, S.29; vgl. a.a.O., S. 126. So auch ders. (1988): Karl Barth, S. 450. 110 Göllner (2005): Alfred de Quervain, S. 112.
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(dialektischen) Theologie des Wortes Gottes sowie der reformatorischen Tradition und damit gegen sonstige Weltanschauungen zur Sprache zu bringen.111 Apropos Weltanschauung: Piper kritisiert de Quervain dafür, das weltanschauliche Moment der praktischen Politik überbewertet zu haben und damit de facto politikfern auf ideologischer Ebene zu agieren. Politikgeschichtlich steht wohl de Quervains Wahrnehmung der Parteiendemokratie der Weimarer Republik dahinter. Es war damals durchaus gängig, die Parteien gewissermaßen als starre Weltanschauungsagenturen zu betrachten.112 De Quervain dürfte sich freilich darin von Piper intentional missverstanden fühlen, dass sich seine Ausführungen nicht für, sondern gegen die Prävalenz der Weltanschauung richten und er vielmehr deren Dekonstruktion anstrebe. Dass sich die Parteien primär als Weltanschauungsparteien verstehen, war also keine normative, sondern stattdessen eine deskriptive Aussage, die er im Einklang mit und im selben Interesse wie Piper vollzog. Die Kritik richtet sich mit anderen Worten gegen den verpanzerten Parteienstaat in Weimar, den er durchaus als deplorablen Zustand wahrnahm, und dies nicht aus einem polemisch-antidemokratischen Affekt heraus, sondern aus einem ernsten Interesse an einer lebensfähigen, kompromissbereiten Demokratie. Der theologischen Ethik kommt in dieser weltanschaulich-parteilichen Gemengelage nach de Quervain eine überaus kritische Aufgabe zu: „Sie muss verfestigte Orientierungen des Handelns aufbrechen, seien diese Verfestigungen nun ideologischer, weltanschaulicher, moralischer oder auch verfahrenstechnischer Natur. […] In ‚Die theologischen Voraussetzungen der Politik‘ hat de Quervain diese kritische Aufgabe an allen politischen Weltanschauungen durchgeführt, die in der Weimarer Republik praktische politische Bedeutung hatten, weil sie einer oder mehreren Parteien als Orientierung dienten.“113
De Quervain dürfte sich jedenfalls darüber gewundert haben, dass Piper ihm eine unzureichende Wesensbestimmung des Staates vorwarf, da es ihm doch gerade darum ging, den Staat aus einer ontologischen Wesensbestimmung herauszulösen und funktional zu erfassen, d.h. von seiner Aufgabe her, für Recht zu sorgen, also im Dienst an der Rechtsordnung. Freilich kann man fragen, ob bei de Quervain – auch in seinem Spätwerk – die staatsmetaphysische Frage nach dem Wesen des Staates tatsächlich endgültig überwunden ist, zumal er auch in seiner Ethik (II/1: Kirche, Volk, Staat) noch durchaus ontologisch nach dem Wesen des Staates114 und auch der Herrschaft Christi über den Staat fragt. 115 Bei de Quervain durchbrechen die Antworten jedoch mehr und mehr die traditionelle Fragestellung.116
111 112 113 114 115 116
So auch Lindenlauf (2016): Königsherrschaft, S. 332f. So Göllner (1997): Gemeinde, S. 46. Göllner (2005): Alfred de Quervain, S. 116. Vgl. Quervain (1945): Kirche, Volk, Staat, S. 196. Vgl. a.a.O., S. 210. So zutreffend Lindenlauf (1988): Karl Barth, S. 454.
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4.2. Das gemeinsame theologische Anliegen: Die Verbindung von Schöpfung und Erlösung Am stärksten dürfte sich de Quervain bei Pipers eigentlichem Anliegen missverstanden gefühlt haben, nämlich Schöpfung und Erlösung nicht voneinander zu separieren, Schöpfung also nicht als creatio originalis zu verabsolutieren. Dass der erste Glaubensartikel nicht vom zweiten und dritten Artikel lösbar ist, betont de Quervain in seiner Habilitationsschrift in der Tat nachdrücklich und verbindet auch Geschöpflichkeit und Auferstehungshoffnung engstens miteinander.117 Geschöpfliche Existenz und eschatologische Hoffnung gehören für de Quervain untrennbar zusammen: Der Mensch, der ganz Geschöpf ist, sei „zugleich hingerichtet auf die völlige Erlösung“.118 De Quervain gebraucht das Calvinsche Verständnis von Heiligung als Neuschöpfung durch den Geist Gottes und den Geist Christi, um dem theologisch Rechnung zu tragen. Aber nicht nur in ontischer, sondern auch in noetischer Hinsicht zeigt sich hier eine trinitarische Konnexion in den Begründungszusammenhängen. Explizit heißt es bei de Quervain: „Von der Erkenntnis der Sünde, der Offenbarung, der Erlösung aus gelangen wir auch zur Erkenntnis von Gottes Schöpferwillen.“119 Die Schöpfungslehre wird bei de Quervain also durchaus auch noetisch an die Themen der Christologie rückgebunden. Bei Lichte betrachtet, zeigt sich bei ihm eine durchgängig trinitarische Einbettung seiner Rede von der Schöpfung.120 Der Vorwurf Pipers scheint sich hier gleichsam in Luft aufzulösen. Zu vermuten steht allerdings, dass er sich gar nicht gegen de Quervain direkt richtete, sondern an jene theologischen Zeitgenossen, die sich – anders als de Quervain – mit ihrer Lehre von der Schöpfungsordnung des Vorwurfs schuldig machten. Dabei ist vor allem an die Vertreter der Lutherrenaissance zu denken. Nicht anders wird es de Quervain beim Vorwurf Pipers ergangen sein, eine Lehre der „Schöpfungsordnungen“ zu vertreten. Er selbst hat sich gewiss nie als ein solcher Repräsentant verstanden. Die Selbstwahrnehmung differiert hier erheblich von der Fremdeinschätzung. In der Tat setzt de Quervain den Begriff „Schöpfungsordnungen“, den er in seiner Habilitationsschrift nur an dieser, also einer einzigen Stelle gebraucht, in Anführungszeichen.121 Jedoch referiert er in diesem Zusammenhang die Reformatoren, seine eigentlichen Gewährsmänner. Er sieht sie den „Gehorsam gegenüber Eltern und Obrigkeit“ predigen.122 Und im direkten Anschluss bemerkt er: „In diesem Zusammenhang wurde der Mensch an die ‚Schöpfungsordnungen‘ Gottes erinnert, wurde sein Individualismus gerichtet, wurde seinem eigenen Schöpfertum entgegengetreten. Heilig, gottwohlgefällig ist nicht die freie Persönlichkeit, sondern der Mensch in seinem Stand und Beruf. Was heute geschieht, wo Obrigkeit und Familie, Stand und Beruf in der Auflösung
117 118 119 120 121 122
Vgl. Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 41–45; ders. (1931): Theologie, S. 8. Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 44. A.a.O., S. 41. So auch Göllner (1997): Gemeinde, S. 56. So Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 133. Ebd.
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begriffen sind, das ist ein Zurückgehen auf die ‚Ur-Gegebenheit‘, auf ‚die unmittelbare Schöpfung‘: auf das Volk. Darin äußert sich der Gehorsam des Menschen, dass er als Volksglied lebt. Heilig und Gott wohlgefällig ist nicht die auf sich gestellte Persönlichkeit, sondern das Volk als unmittelbare Schöpfung Gottes und der einzelne als Glied seines Volkes. So etwa würde der Volkskonservative heute reden und sein Anliegen vertreten.“ 123
Im Kontext der sog. Konservativen Revolution kam es, wie Quervain richtig sieht, zu einer regelrechten „ideologische[n] Hypostasierung“ des Volksbegriffs.124 Es handelt sich also um ein Referat, das de Quervain präsentiert und nicht einfach seine eigene Meinung. Kritisch kann de Quervain etwa einwenden: Wer „sich auf sein völkisches Sein zurückzieht“, wer Gottes Wort und Vernunft „aus einer völkischen Gegebenheit ableitet und damit die Möglichkeit der Begegnung, der Aussprache, des Dienstes außerhalb des völkischen Zusammenhangs leugnet, der reißt das Geschöpf vom Schöpfer los, der entzieht sich dem Worte des Schöpfers“.125 Es kann somit eine „kritische Reserve gegenüber dem für die völkische Weltanschauung zentralen Begriff des Volkes und gegenüber der mit der völkischen Weltanschauung verbundenen kirchenpolitischen Position“126 bei de Quervain beobachtet werden. Und dennoch fällt ins Auge, wie geradezu „liebevoll“ er den volkskonservativen Protest darstellt: „Die Anschauung der Persönlichkeit im christlichen Konservativismus ist gekennzeichnet durch Sicherheit und Überlegenheit. […] Geschichtliches Leben ist nicht Gedanke, nicht Tat des Menschen, wird uns gesagt, sondern Setzung Gottes, Setzung der Natur. An der Geschichte zerbricht die selbstgewisse, in sich gefestigte Persönlichkeit, zerbricht der Wille, der das Leben meistern will. Das ist es, was der naturalistische Konservativismus eindrucksvoll heute geltend macht. Seine Losung lautet also: Es schafft nicht der Mensch das Volk, sondern es lebt der einzelne durch das Volk und im Volk, von Gnaden des Volkes, von Gnaden dessen, der die Völker schuf.“127
Verräterisch für de Quervains geradezu romantisches Gesellschaftsbild ist folgende Eingabe: „Der bodenständige Mensch – zu allererst der Bauer, aber auch der Arbeiter, meist zu allerletzt der Großstadt-Intellektuelle – spürt, dass seine Lebenswurzel getroffen werden soll, dass sie getroffen wird. So steht er im Kampfe um die volksgemäße Sitte, um das volksgemäße Recht, um die volksgemäße Religion. Die individualistisch und aufklärerisch missbrauchte und verbrauchte Menschheitsidee hat ihre kritische Bedeutung eingebüßt. Sie muss vom eigenen Volke und seinem Freiheitskampfe aus neu verstanden werden.“128
Eindeutig greift de Quervain auf das konservative Ordnungsdenken zurück. Sein Plädoyer für einen „christlichen Konservativismus“, welcher den geschöpflichen Zusammenhang menschlicher Wirklichkeit wahren soll, macht hier deutlich erkennbare Anleihen. Für de Quervain steht fest: „Die Strukturen, in die sich der 123 A.a.O., S. 133f. 124 Nowak (1987): Die antihistoristische Revolution, S. 146. Vgl. zum Volksbegriff bei Emanuel Hirsch die Ausführungen bei Leonhardt (2017): Christentum, S. 326–331. 125 Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 154. 126 Göllner (1997): Gemeinde, S. 96. 127 Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 132f. 128 A.a.O., S. 134.
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Mensch damit einfügt, können, insofern sie Gegebenheiten sind, welche die Ordnung der Schöpfung reflektieren, selbst als Ordnungen bezeichnet werden.“129 Es lässt sich mithin im Hinblick auf de Quervains ordnungstheologische Anleihen konstatieren: „Mit der Berufung auf solche Ordnungen stimmt de Quervain in eine Tendenz politischer Ethik seiner Zeit ein, die sich nicht auf das Luthertum beschränkte und die auch die Vertreter der Theologie des ‚Wortes Gottes‘ beeinflusste.“130 Freilich lassen sich bei de Quervain auch gewisse Absetzungsbewegungen beobachten.131 Diese betreffen zum einen eine sich auf die Ständelehre stützende Ordnungstheologie: „De Quervain sieht darin aber das ästhetisch-metaphysische Missverständnis der Ordnungen menschlichen Zusammenlebens, das aus den Ständen ontologische Gegebenheiten macht. Statt die Ordnungen in dieser Weise naturalistisch aufzufassen und sie in eine ebenfalls naturalistische geschichtliche Weltanschauung einzubauen, will er sie eben geschichtlich verstehen.“ 132
Statt von Schöpfungsordnungen zu sprechen, nimmt de Quervain hier die Geschichtlichkeit der geschöpflichen Existenz in den Blick und versteht die Ordnungen als diejenigen sozialen Bezüge, in denen man lebt, welche zugleich die Orte einer bestimmen Lebensweise darstellen, an denen auf Gottes je konkretes Gebot gehört und ihm im Gehorsam entsprochen wird.133 Familie, Volk, Staat, Stand, Beruf und Klasse identifiziert de Quervain dementsprechend als „Kennzeichen unserer Geschöpflichkeit“,134 nicht als Schöpfungsordnungen. Die Absetzungsbewegung zur Lehre von den Schöpfungsordnungen betrifft zum anderen den Rekurs auf die Zwei-Reiche-Lehre, mithin die Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment Gottes, zur Legitimation einer sog. Eigengesetzlichkeit weltlicher Strukturen.135 Diese Gefahr sieht de Quervain deutlich und grenzt sich von ihr ab. Es ist folglich eine charakteristische und signifikante Doppelbewegung des Zugleichs von Negation und Affirmation, Nähe und Distanz, Abgrenzung und Vereinnahmung in der Rezeption ordnungstheologischer Denkmuster bei de Quervain zu beobachten. 4.3. Abschließende Beurteilung De Quervains Stellung zur Ordnungstheologie und insbesondere zur Lehre von den Schöpfungsordnungen ist mit anderen Worten differenziert und dialektisch zu beurteilen. Sie entzieht sich einer schlichten Eindeutigkeit und hinterlässt insgesamt einen zwiespältigen Eindruck: Es scheint fraglich, „ob seine Kritik der politischen Ideen der kritischen Funktion des Wortes Gottes gerecht wird oder sich nicht doch 129 130 131 132 133 134 135
Lindenlauf (2016): Königsherrschaft, S. 136. Ebd. Vgl. Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 50f.; 56f. Göllner (1997): Gemeinde, S. 52. Vgl. de Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 47; 49. Vgl. Göllner (1997): Gemeinde, S. 52. Quervain (1931): Voraussetzungen, S. 47. Vgl. Reuter (2015): Grundlagen, S. 64; Huber (1985): Folgen christlicher Freiheit, S. 33–70.
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mit einem partikularen konservativen und antiliberalen Standpunkt identifiziert, der zudem einer vergangenen Gesellschaftsordnung verpflichtet ist“. 136 De Quervain ist gewiss vor allzu eilfertigen Vorverurteilungen in den Schutz zu nehmen. Dennoch zeigt sich: „Dass de Quervain sich während der Weimarer Republik im Kontext der gängigen konservativen Kritik des Liberalismus bewegte, ist unzweifelhaft.“137 De Quervains „latenter Traditionalismus und Konservativismus“ gehört in der Tat zum Profil seines Frühwerkes und dürfte dessen Rezeption durchaus erschwert haben.138 Das „romantisch-konservative Gesellschaftsbild“ der frühen Schriften de Quervains fügt sich hier ein,139 wenngleich er später versucht hat, es für demokratische Mechanismen im säkularen Rechtsstaat zu öffnen. Jedoch spricht er – was Piper anstößig erscheint – den Politiker unter impliziten konstantinistisch-staatskirchlichen Prämissen unterschwellig als membrum ecclesiae an.140 Einer Christianisierung politischer Strukturen redet er indes nicht das Wort. Er setzt die Kirchenzugehörigkeit des politischen Adressaten jedoch ebenso voraus wie die Zugehörigkeit der politischen Sphäre zur Herrschaft Christi. Die erstgenannte Prämisse teilt Piper nicht. Er rechnet verstärkt mit säkularen Voraussetzungen in einem weltanschaulich neutralen Rechtsstaat wie der Weimarer Republik, die er aus vollem Herzen bejaht. Piper hat mit der ihm eigenen Sensibilität de Quervains „anti-liberales, konservativ-romantisches, organologisches Gesellschaftsbild“141 bemerkt und mit der ihm eigenen Entschiedenheit auch dagegen protestiert. Seine Entschiedenheit neigt zu einer gewissen Überpointierung, die unfair und maßlos zu werden droht. Man merkt, wie sehr Piper selbst in seiner eigenen politischen Existenz beund getroffen ist. Was de Quervains Gesamtwerk betrifft, so ist indes zu berücksichtigen, dass „de Quervains theologische Arbeit der folgenden Jahre bis zum Ausbruch des Weltkrieges eine Neuorientierung erkennen lässt. Sie wird zweifellos durch die politischen Ereignisse beschleunigt, ist jedoch nicht nur als Reaktion auf eine veränderte Situation zu begreifen, sondern erwächst aus der Reflexion der Theologie auf die ihr immanente christologische Begründung.“142 Es waren gewiss auch die Schwächen des eigenen, frühen Entwurfs, die de Quervain motivierten, sein Werk weiter zu entwickeln. Piper hat, wie gesagt, die Schwächen de Quervains recht schonungslos entlarvt und aufgespießt. Bei ihm finden wir eine klar gegen den Konservativismus der Ordnungstheologie ausgerichtete, der damaligen Gesellschaft geltende Deutungskompetenz wieder, die sich auch auf reformatorische Theologie und eher traditionelle Theologumena berufen kann. Piper lässt vor allem keinen Zweifel daran, dass er 136 137 138 139 140 141
So Lindenlauf (2016): Königsherrschaft, S. 137. Göllner (1997): Gemeinde, S. 88f. Lindenlauf (2016): Königsherrschaft, S. 334. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 335. Lindenlauf (1988): Karl Barth, S. 452; vgl. Castanyé (1981): Alfred de Quervain, S. 170–174; 182–189. 142 Lindenlauf (1988): Karl Barth, S. 141.
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den Begriff Schöpfungsordnung für theologisch illegitim erachtet. Er sah sich offenbar genötigt, seinen Widerspruch sehr massiv zu artikulieren. Auch dies ist indes ein Indiz dafür, wie sehr nicht nur die Politik, sondern auch die auf die Politik reflektierenden Geisteswissenschaften, unter ihnen die Theologie, an der polarisierten Kultur der damaligen Zeit partizipierten. 5. NACHBEMERKUNG Gewiss gehört die Kontroverse zwischen Piper und de Quervain nicht zu den großen, aggressiv ausgefochtenen Intellektuellenfehden der Weimarer Republik, die eine ganz eigene Konfliktqualität aufweisen. Dennoch zeigt sich hier im Kleinen, im – wenn man so will – theologischen Mikrokosmos, wie scharf – zum Teil im Ton und in der Sache – auch zwischen Vertretern solcher Positionen gefochten wurde, die bei aller Differenz breite Schnittmengen aufweisen. In solchen Gefechten spielten Kampfbegriffe wie der der Schöpfungsordnung eine entscheidende Rolle. Sie fungierten als Reizworte in den Diskursen und mobilisierten – in Zustimmung wie Ablehnung. In ihnen ging es um die Ausprägung der Umgestaltungsprozesse der Gesellschaft, die theoriebasiert auf ein geistesgeschichtliches Fundament gestellt werden sollten. Den Kampfbegriffen eignete dabei polarisierende Kraft. Es mag zunächst paradox klingen, im Blick auf die sog. Konservative Revolution von einem Kampfbegriff Schöpfungsordnung zu sprechen, zumal diesem Begriff aufgrund seiner konservativen Stoßrichtung zunächst nichts so fern zu liegen scheint wie das Revolutionspathos. Die Paradoxie dieses Kampfbegriffes partizipiert an jener Paradoxie, die bereits dem etablierten Begriff Konservative Revolution zu eigen ist, der wie eine contradictio in adiecto anmutet. Die durchgeführte Untersuchung hat gezeigt, dass die Instrumentalisierung des Kampfesbegriffes Schöpfungsordnung quer zu gängigen konfessionellen Zuordnungen erfolgte. Ein Lutheraner wie Otto Piper konnte ihn ebenso entschieden ablehnen, wie ein Reformierter wie Emil Brunner sich zustimmend auf ihn berufen konnte. Alfred de Quervain eignet sich indes – wie dargestellt – trotz seiner Nähe zur Ordnungstheologie nicht dazu, vereinnahmend als Repräsentant der Lehre von den Schöpfungsordnungen angeführt zu werden. Zu groß sind seine eigenen Absetzungsbewegungen. Und dennoch zeigt sein Beispiel auch, dass sich die Dialektische Theologie, der er zuzuordnen ist,143 vor dem Kirchenkampf nicht einfach zu einem Abbruchereignis gegenüber Ordnungstheologie und insbesondere der Lehre von den Schöpfungsordnungen stilisieren lässt. Noch ein abschließendes Wort zu den konfessionellen Zuordnungsgepflogenheiten: Gewiss wäre es konfessionspolitisch unfair, pauschal von einer konfessionellen Äquidistanz zur Lehre von der Schöpfungsordnung zu sprechen. Dass sie insbesondere im (Neu-)Luthertum vertreten wurde, ist unverkennbar, wenngleich auch einzelne reformierte Vertreter diese Konzeption aufgreifen bzw. positiv rezi-
143 Vgl. Göllner (2005): Alfred de Quervain, S. 113.
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pieren konnten. Ihr den Status eines identity markers hinsichtlich der konfessionellen Identität zuzubilligen, trifft gewiss nicht flächig auf das Luthertum zu, allenfalls das Neuluthertum und auch hier nur auf bestimmte Spielarten. Otto Piper ist als Positivbeispiel ein Gewährsmann dafür, dass sich solche simplifizierenden Zuordnungen als unzulänglich erweisen. Seine Stimme glich jedoch in der untergehenden Weimarer Republik leider zu sehr der eines einsamen Rufers in der Wüste (vgl. Mk 1,2f.). LITERATURVERZEICHNIS Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995. Ders.: Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945: Eine politische Ideengeschichte, Stuttgart 2010. Brinkmann, Gert Ulrich: Theologische Institutionenethik. Ernst Wolfs Beitrag zur Institutionenethik in der evangelischen Kirche nach 1945, NBST 20, Neukirchen-Vluyn 1997. Brunner, Emil: Das Gebot und die Ordnungen, Zürich 1978. Busch, Eberhard: Mit dem Anfang anfangen. Stationen auf Karl Barths theologischem Weg, Zürich 2019. Castanyé, Josep: Die politische Theologie Alfred de Quervains, BSHST 41, Bern u.a. 1981. Christophersen, Alf: Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, BHTh 143, Tübingen 2008. Ders.: Gesprengte Geschichte im Zeichen des Kairos, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 01/2009, S. 12f. Dietz, Thorsten: Krisis und Geschick. Friedrich Gogartens Lutherlektüre, in: LJ 86 (2019), S. 248– 271. Fischer, Johannes: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Forum Systematik 11, Stuttgart u.a. 2002. Freudenberg, Matthias: Alfred de Quervain und sein Konzept einer reformierten Ethik – dargestellt anhand von Wuppertaler Vorträgen und Predigten 1935–1938, in: Ders.: Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Theologie: Forschung und Wissenschaft 36, Berlin 2012, S. 211–226. Ders.: Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011. Frey, Christofer: Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, GTB 1424, Gütersloh 1989. Göllner, Werner: Alfred de Quervain (1896–1968), in: Wolfgang Lienemann, Frank Mathwig (Hg.): Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, S. 105– 131. Ders.: Die politische Existenz der Gemeinde. Eine theologische Ethik des Politischen am Beispiel Alfred de Quervains, Beiträge zur Theologischen Urteilsbildung 5, Frankfurt a.M. 1997. Graf von Krockow, Christian: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Göttinger Abhandlungen zur Soziologie 3, Stuttgart 1958. Graf, Friedrich Wilhelm: Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik, in: Ders.: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, S. 1–110. Ders.: Lutherischer Neurealismus. Eine Erinnerung an Otto Piper, in: Ders.: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, S. 329–341. Ders.: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011.
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AUTORINNEN UND AUTOREN Brunner, Benedikt, geboren 1986, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz (IEG), Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte. Christophersen, Alf, geboren 1968, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Bergischen-Universität Wuppertal. Gaede, Reinhard, geboren 1942, Dr. theol., ist Pfarrer i.R. und war von 1976 bis 1996 und von 2005 bis 2018 Redakteur und Schriftleiter der Zeitschrift Christin und Sozialistin, Christ und Sozialist (CuS): Blätter des Bundes der Religiösen Sozialist*innen Deutschlands e.V. Hofheinz, Marco, geboren 1973, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Leibniz Universität Hannover. Kunter, Katharina, geboren 1968, Dr. phil., ist Professorin für Kirchliche Zeitgeschichte an der Theologischen Fakultät Helsinki (Finnland). Lepp, Claudia, geboren 1965, Dr. phil., ist Leiterin der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte und apl. Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mehring, Reinhard, geboren 1959, Dr. phil., ist Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Mielke, Roger, geboren 1964, Dr. theol., ist Militärdekan am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz und Lehrbeauftragter für Systematische Theologie an der Universität Koblenz und für Ethik an der Universität der Bundeswehr München. Möbuß, Susanne, geboren 1963, Dr. phil., ist apl. Professorin am Institut für Philosophie der Leibniz Universität Hannover und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Niether, Hendrik, geboren 1979, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Theologischen Institut der Leibniz Universität Hannover, Lehrstuhl für Systematische Theologie. Zocher, Peter, geboren 1967, Dr. theol., ist Leiter des Karl Barth-Archivs in Basel.
Im Mittelpunkt steht die Neu(er)findung der protestantischen Theologie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vor dem Hintergrund der Geisteskultur der Weimarer Republik zwischen Kriegstraumata, Kulturpessimismus, technischem Fortschrittsglauben und demokratischem Aufbruch. Prominente Theologen wie Karl Barth, Paul Tillich und Emanuel Hirsch begannen in diesen Jahren ihre akademischen Karrieren, von den zeitgenössischen politischen und philosophischen Ideen ebenso beeinflusst wie von dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Kirche durch Säkularisierung und Pluralisierung. Die politisch-ideologische Aufladung der Zeit führte dazu, dass die theologischen Debatten von radikalen Deutungsund Glaubenskämpfen begleitet waren. Wohl nicht zufällig erhielt der Begriff der Politischen Theologie durch den Staatsrechtler Carl Schmitt in diesem Jahrzehnt seine Ausprägung. Die Autor*innen nehmen sowohl die Aneignung einzelner theologischer Kampfbegriffe als auch die Beziehungen geistesgeschichtlicher Akteur*innen in den Blick, um die in den jeweiligen Konstellationen erzeugten Denkräume zu erschließen.
ISBN 978-3-515-13374-6
9 783515 133746
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